Grammatik - Praxis - Geschichte
Festschrift für Wilfried Kürschner
0915
2010
978-3-8233-7604-0
978-3-8233-6604-1
Gunter Narr Verlag
Abraham P. ten Cate
Reinhard Rapp
Jürg Strässler
Maurice Vliegen
Heinrich Weber
Die Festschrift vereinigt rund fünfzig Beiträge zu den Gebieten Grammatik, Praxis und Geschichte, die zugleich die Tätigkeitsschwerpunkte von Wilfried Kürschner charakterisieren. Sie gliedert sich in die Sektionen "Phonologie, Morphologie, Syntax", "Semantik, Pragmatik, Textlinguistik", "Literatur und Sprache", "Sprachgeschichte und Sprachkontakt" sowie"Sprachvermittlung und Übersetzung". Würdigung und Werkeverzeichnis des Jubilars und Angaben zu den Beiträgern und Herausgebern runden den Band ab. Die meisten Autoren sind engagierte Teilnehmer und frühere Organisatoren des Linguistischen Kolloquiums sowie Kollegen und Schüler von Wilfried Kürschner aus der Universität Vechta, die Herausgeber haben die Linguistischen Kolloquien in Nijmegen (1972), Tübingen (1976), Bern (1996), Germersheim (1999) und Amsterdam (2004) organisiert oder mitorganisiert.
<?page no="0"?> Abraham P. ten Cate / Reinhard Rapp / Jürg Strässler Maurice Vliegen / Heinrich Weber (Hrsg.) Grammatik Praxis Geschichte F E S T S C H R I F T F Ü R W I L F R I E D K Ü R S C H N E R <?page no="1"?> Grammatik · Praxis · Geschichte <?page no="3"?> Grammatik · Praxis · Geschichte F E S T S C H R I F T F Ü R W I L F R I E D K Ü R S C H N E R Herausgegeben von Abraham P. ten Cate / Reinhard Rapp / Jürg Strässler Maurice Vliegen / Heinrich Weber <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6604-1 <?page no="5"?> Vorwort Mit Ende des Sommersemesters 2010 hat sich Wilfried Kürschner von seiner aktiven Tätigkeit als Professor für allgemeine Sprachwissenschaft und germanistische Linguistik an der Universität Vechta verabschiedet. Wir, die Herausgeber dieses Buches, nutzen als Freunde, Kollegen und frühere Organisatoren des Linguistischen Kolloquiums und Herausgeber von Kolloquiumsakten diese Gelegenheit, den Jubilar für sein vielfältiges Engagement zu ehren und ihm zu danken. Der Titel der Festschrift soll diese Vielfalt andeuten: „Grammatik“ steht für die Laufbahnschriften zur Komposition und Negation, aber auch für das „Grammatische Kompendium“ und vieles andere. „Praxis“ steht für das weit überdurchschnittliche Engagement in der Lehre, für die praktischen Studienbücher für Germanisten, Linguisten und künftige Lehrer, für das zweibändige Linguistenhandbuch, für die Tätigkeiten in der Vechtaer Selbstverwaltung und nicht zuletzt für die Förderung des Linguistischen Kolloquiums und seines Organisationskomitees fast von Anfang an. „Geschichte“ steht für das Interesse an der Geschichte der Sprachwissenschaft, für die deutsche Übersetzung und Edition der ältesten überlieferten griechischen Grammatik von Dionysios Thrax, für die Publikationen über Jacob Grimm u.a. Auch die Beiträge zur Geschichte des Linguistischen Kolloquiums sind hier zu nennen. Gleichzeitig gibt der Festschrifttitel auch an, in welchen Bereichen sich die Beiträge bewegen. Zunächst bildet die aktuelle Praxis des Evaluierens den Hintergrund, vor dem Wilfried Kürschner charakterisiert wird. Selbstverständlich gibt es eine Reihe von Aufsätzen zur Grammatik. Die Sektion „Phonologie, Morphologie, Syntax“ enthält u.a. Studien zu Aussprache und Schrift in Skandinavien und zu grammatischen Kategorien wie Präposition, Passiv oder Objekt in verschiedenen Sprachen. Die Sektion „Semantik, Pragmatik und Textlinguistik“ spannt den Bogen von Vergangenheitsdeutungen in Gedenkreden über pragmatische und textlinguistische Untersuchungen bis hin zu lexikalischen Analysen. In der Abteilung „Literatur und Sprache“ werden Dichter und Schriftsteller wie Herta Müller, Wolfram von Eschenbach, Bert Brecht u.a. in sprachlicher oder historischer Perspektive betrachtet. Die Sektion „Sprachgeschichte und Sprachkontakt bietet u.a. Untersuchungen zu frühneuhochdeutschen Verwaltungstexten, zur Bildung von Familiennamen in Westfalen, zur Mehrsprachigkeit in Schleswig und in Siebenbürgen, zur Rolle des Lateinischen, des Kaschubischen und des Deutschen in einer globalisierten Welt oder zu der Frage, nach welchen Kriterien Deutsch als einfach oder schwer gilt. In der Abteilung „Sprachvermittlung und Übersetzung“ geht es beispielsweise um den didaktischen Nutzen der Werbesprache oder um Fragen der maschinellen Übersetzung. Das Werkeverzeichnis des Jubilars und die Angaben zu den Autoren und Herausgebern runden den Band ab. Die Herausgeber haben die Arbeit unter sich aufgeteilt. H. Weber hat - in Verbindung mit R. Rapp - die vorbereitenden und organisatorischen Aufgaben übernommen. R. Rapp, A. ten Cate und M. Vliegen haben je ein Drittel der deutschsprachigen Beiträge redigiert. J. Strässler hat die englischen Beiträge bearbeitet und die Druckvorlage des ganzen Bandes hergestellt. Die Idee für die Festschrift entstand beim 44. Linguistischen Kolloquium im September 2009 in Sofia; entsprechend kurz war die Vorbereitungszeit. Als Beiträger haben wir Organisatoren und Freunde des Linguistischen Kolloquiums und Kollegen und Schüler aus <?page no="6"?> VI V ORWORT dem beruflichen Umfeld des Jubilars eingeladen. Wir entschuldigen uns, wenn wir jemanden vergessen haben, der mit guten Gründen eine Einladung erwarten konnte. Zu danken haben wir den Autoren, die ihre Beiträge kurzfristig einzureichen hatten. Besonderer Dank gilt Frau Marlies Völker aus Vechta für die Hilfe bei der Zusammenstellung der Listen und des Werkeverzeichnisses und Herrn Volker Schulz dafür, dass er uns seine beim Abschiedsfest vorgetragene „Evaluation“, das Werkeverzeichnis und das Foto von Wilfried Kürschner zur Verfügung gestellt hat. Ganz besonders danken wir dem Gunter Narr Verlag Tübingen für die Aufnahme der Festschrift in das Verlagsprogramm und seinen Mitarbeitern für die Unterstützung bei der Vorbereitung der Publikation. 16. August 2010 Abraham P. ten Cate, Reinhard Rapp, Jürg Strässler, Maurice Vliegen Heinrich Weber <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort v Evaluation V OLKER S CHULZ : Universitätsprofessor Dr. Wilfried Kürschner 1980-2010: 3 Eine tendenziell umfassende, personenbezogene, interne Evaluation Phonologie, Morphologie und Syntax P ER B ÆRENTZEN / A NNA H ØJGÅRD G ADEN : Präpositionen als spatiale 13 Ausdrucksmittel im Deutschen und Dänischen K URT B RAUNMÜLLER : Je komplizierter die Aussprache, desto unspezifischer 21 die Schreibung - Ein Essay zur Verschriftung der skandinavischen Sprachen A BRAHAM P. TEN C ATE : Sein oder Nichtsein in der Passivkonstruktion 29 O LGA G OWIN : The Acoustic Performances of Phonetic Segments in Oral Speech 41 G ÖTZ H INDELANG : Nominalkomposita mit -gespräch als Bezeichnungen für 43 Dialogtypen? C HRISTOPH K ÜPER : Der eine oder andere Gedanke zum Gebrauch von der ein 53 oder andere F LORIAN P ANITZ : Symmetric Asymmetries in English: the Use of each other vs. one another in Inaugural Addresses 61 E CKARD R OLF : Chomsky über das komplexe Symbol 69 E LISABETH R UDOLPH : nicht nur sondern auch - Gedanken zu einer flexiblen 77 additiven Variante der adversativen Kontrast-Formulierung mit Negation N ORIO S HIMA : Inneres Objekt als grammatischer 89 Transitivierungsmechanismus A NDRZEJ M. S KRZYPIEC : The Welsh Verb: Selected Morphosyntactic 97 Features K AZIMIERZ A. S ROKA : The Covert Direct Object in Hungarian: 105 A Comparative Analysis Semantik, Pragmatik und Textlinguistik K ATRIN B ETHGE : Dem Gedächtnis eine Sprache geben - Über die Deutung von 121 Vergangenheit in Gedenkreden S TOJAN B RA I : Wissensbestände und Textualität 129 K ÄTHI D ORFMÜLLER -K ARPUSA : Aorist oder Imperfekt an einem 137 kunstgeschichtlichen Beispiel <?page no="8"?> VIII I NHALTSVERZEICHNIS M ARINA F OMINA : A Cognitive Modeling Approach in Semantic Studies 141 K LAUS -D IETER G OTTSCHALK : Textlinguistische Auswertung von 147 Unterrichtsverläufen H ANS L ÖSENER : Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und 155 Benveniste T ATIANA D. S HABANOVA / L UIZA V. G AZIZOVA : Cross-linguistic Regularities of 167 Conceptualizing Space in Slavic, Germanic and Turkic Languages (Meaning of Source) W OLFGANG S UCHAROWSKI : Fachkommunikation - Kohärenz und Differenz 175 J ÓZSEF T ÓTH : Ereignis als komplexes Ganzes in unserer Vorstellungs- und 181 Erfahrungswelt (deutsch-ungarischer Vergleich) B ÄRBEL T REICHEL : Coherence Relations: Coherent Continuation Moves and 191 Functional-Pragmatic Coherence in Oral Accounts of Experience M ANFRED U ESSELER : Warum Diskursanalyse und warum Dispositivanalyse? 201 M AURICE V LIEGEN : Lexikalische Evidentialität: das niederländische blijken. 209 Ein evidenter Fall der Grammatikalisierung E WA EBROWSKA : Von der Linearität zur Nicht-Linearität in Texten 217 Literatur und Sprache K ARIN E BELING : Zuhause und sinnverwandte Wörter in zwei literarischen Texten 227 von Herta Müller J OACHIM K UROPKA : Der ‚Heimatdichter’ August Hinrichs und die Heimat Oldenburg 237 E DGAR P APP : Guilhem - Guillaume - Willehalm im Spannungsfeld zwischen 245 Christentum und Islam R OBERT R UPRECHT : Also Frieda heissen Sie... - Beobachtungen zum 253 dichterischen Schreiben G UDRUN S CHULZ : Luthers Sprachgestus in Brechts Texten - eine Annäherung 263 Sprachgeschichte und Sprachkontakt H ANNA B IADU -G RABAREK / J ÓZEF G RABAREK : Das Personalpronomen im 275 ältesten Teil des Schöffenbuches der Alten Stadt Toru / Thorn I OANA -N ARCISA C RE U : Aspekte des linguistischen Kontakts in Siebenbürgen 283 K ENNOSUKE E ZAWA : Zwei Studien zur Gabelentzschen Grammatik 289 S YLWIA F IRYN : Zur Sprache von Protokollen der Generallandtage von 295 Königlich Preußen aus den Jahren 1527-1528 E LIN F REDSTED : Eine etwas andere Sprachgeschichte — über mediale 305 Diglossie bis zu den neuen Medien <?page no="9"?> I NHALTSVERZEICHNIS IX A LWIN H ANSCHMIDT : Die Festsetzung unveränderlicher Familiennamen bei den 315 Heuerlingen in der westfälischen Grafschaft Rietberg im frühen 19. Jahrhundert Ein Beitrag zur Entwicklung des Namenrechts C ÄCILIA K LAUS : Latinitas rediviva 325 M ARCUS N ICOLINI : Schulzeit und journalistische Berufsbiographien 333 E LISABETH P IIRAINEN : The Convergence of European Idioms and the So-called 343 Globalization R EINER P OGARELL : Kirche und Sprache 351 D ANUTA S TANULEWICZ : Measuring the Prestige of a Language: The Case 359 of Kashubian H EINRICH W EBER : Ist Deutsch heute einfacher als früher? Von einfachen, 367 komplexen und komprimierten Sätzen H ARALD W EYDT : Vom Mythos der schweren Sprache Deutsch. - Eine 377 Handreichung. Sprachvermittlung und Übersetzung T ADEUSZ D ANILEWICZ : Preconceptual Image Schemas and the Process 387 of Raising Language Awareness of an L2 teacher E VELINE E INHAUSER : „großartich“ - vom Nutzen der Werbung für den 395 Sprachunterricht N ATALIYA V. L YAGUSHKINA : On How to Recognize and Translate Allusions 403 in Russian and English R EINHARD R APP : Statistical Machine Translation with the COMTRANS System 409 J ÜRG S TRÄSSLER : No Future for Swiss EFL Students 419 Anhang Werkeverzeichnis von Wilfried Kürschner 429 Beiträger und Herausgeber 445 <?page no="11"?> Evaluation <?page no="13"?> Universitätsprofessor Dr. Wilfried Kürschner 1980-2010: Eine tendenziell umfassende, personenbezogene, interne Evaluation Volker Schulz 1 Vorbemerkungen Ende September 2010 verabschiedet sich der Universitätsprofessor Dr. Wilfried Kürschner, ordentlicher Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft/ Germanistische Linguistik (aus Verwaltungsvereinfachungsgründen in der Folge mit dem von ihm selbst verwendeten Namenskürzel „WK“ bezeichnet) nach genau dreißig Jahren Tätigkeit an der Universität Vechta in den Ruhestand bzw. - in seinem Fall wohl treffender formuliert - in ein Leben als Privatgelehrter. Dieses Jubiläum, das zugleich den Beginn eines völlig selbstbestimmten Lebens markiert, ist ein Anlass zum Feiern - und zum Nachdenken. Denn dreißig Jahre Professorentätigkeit sind beileibe kein Pappenstiel, das heißt - wie man dem Deutschen Wörterbuch des von WK heiß geliebten Duden-Verlags entnehmen kann - kein „Pappenblumenstiel“ oder „Stiel des Löwenzahns“, der zusammen mit seiner „im Wind verwehenden Samenkrone“ ein „Sinnbild für Geringfügiges“ ist. Nicht nur der Zeitraum von WKs universitärem Wirken, sondern auch die Intensität und die Reichweite seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor sind wahrlich kein Pappenstiel gewesen. Auf diese Berufsbezeichnung hat WK immer allergrößten Wert gelegt, auch auf den universitären Charakter der aus der ehemaligen „Pädagogischen Hochschule“ Vechta hervorgegangenen „Abteilung“ der Universität Osnabrück, die sich 1995 zur eigenständigen „Hochschule Vechta“ entwickelte und der jüngst endlich der Namen „Universität Vechta“ verliehen wurde. Als langjähriger Senatsbeauftragter für das Vorlesungsverzeichnis hat er dafür gesorgt, dass der unglückliche und - wie er selbst es nannte - „unordentliche“ Begriff „Hochschule Vechta“ in jedem einzelnen der von ihm zwischen 1995 und 2005 redigierten Vorlesungs- und Personalverzeichnisse auf der Titelseite mit der prägnanten Erläuterung „Wissenschaftliche Hochschule des Landes Niedersachsen mit Universitätsstatus“ versehen worden ist. Auf diesen Universitätsstatus hat er auch sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit gepocht. Er wollte nie nur „Hochschullehrer“, sondern ein vollwertiger - und möglichst ein herausragender - Universitätsprofessor sein. In seiner Eigenwahrnehmung war er dies auch stets. Sein Eintritt in den sogenannten Ruhestand erscheint als geeigneter Anlass, um dieses Selbstbild von WK zu überprüfen und seine Gesamtleistung als Vechtaer Universitätsprofessor zu würdigen. Dies soll nicht in der Form einer „Laudatio“ erfolgen, d.h. einer auf die reine Forschungsleistung beschränkten Lobrede. Derartigen Laudationes aus berufenem Munde, d.h. aus dem Kreis der engeren Fachkollegen WKs, kann und soll hier nicht vorgegriffen werden. Es soll aber auch nicht in Form einer drögen Darstellung des akademischen Werdegangs WKs von seinen Studienzeiten bis zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand erfolgen. Vielmehr habe ich mir zum Ziel gesetzt, an dieser Stelle eine neuartige - ich vermeide den zeitgeistigen Begriff „innovative“ - Spielart der Evaluation, und damit des Texttyps Evaluationsbericht, vorzustellen und auf WK anzuwenden. Dieser neuartige Typ von Evaluation unterscheidet sich von den seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren an deutschen <?page no="14"?> V OLKER S CHULZ 4 Hochschulen ins Kraut geschossenen sogenannten „Forschungsevaluationen“ und „Lehrevaluationen“ in dreierlei Hinsicht. Während diese sich jeweils auf ein einziges Wirkungsfeld der in einem Fach oder Institut tätigen Hochschulmitglieder beschränken und deren Leistung als Kollektiv mittels der mehr oder minder hellsichtigen Blicke einer heterogenen und nicht immer durchgängig kompetenten Gutachtergruppe von außen beurteilen, zeichnet sich die von mir propagierte „tendenziell umfassende, personenbezogene, interne Evaluation“ dadurch aus, dass, so weit wie nur irgend möglich, der gesamte Wirkungskreis eines einzelnen Universitätsprofessors von innen heraus betrachtet und bewertet wird, das heißt dass dieser Evaluation eine aus enger kollegialer Nähe und aus vielfältigen gemeinsamen Erfahrungen erwachsene persönliche Vertrautheit mit dem Evaluationsgegenstand, der hier eine Person ist, zugrunde liegt. Diese „interne“ Sicht ist dazu angetan, sowohl die Gefahr jeder Selbstevaluation, nämlich Idealisierung und Illusion, als auch die Gefahren der Fremdevaluation, nämlich Pseudo-Objektivität, auf Grund selektiver Berücksichtigung der verfügbaren Datenbasis und Unkenntnis wichtiger Kontexte und Referenzgrößen, sowie zum Teil inadäquate Bewertungskategorien zu vermeiden. Andererseits kann auch die „Innensicht“ keine Objektivität für sich beanspruchen. Keine Art von Evaluation ist eine naturwissenschaftlich exakte Leistungsmessung. Bei der Premiere dieses neuartigen Typs von Evaluation, die Sie nunmehr miterleben werden, ist die Innensicht, das heißt der Blick von Insidern auf das Evaluationsobjekt, zugegebenermaßen insofern besonders subjektiv, als ich ich diese Evaluation in Einsamkeit und Freiheit, also allein und ohne Beratung durch andere Insider, vorgenommen habe. Auf der anderen Seite kann ich für mich reklamieren, dass ich das Evaluations-Objekt, den Universitätsprofessor WK, so genau kenne wie wahrscheinlich niemand sonst: Als anglistischer Literaturwissenschaftler an der Universität Vechta war ich fünfundzwanzig Jahre lang Professor des einzigen philologischen Nachbarfachs der Germanistik, gehörte durchgängig demselben Fachbereich bzw. Institut an, war langjähriger Weggefährte WKs in Hochschulselbstverwaltungsgremien und in der Hochschulpolitik, und als Kollege, Mitstreiter und Freund stets ein enger Vertrauter, der sein Wirken als Universitätsprofessor in Vechta aus nächster Nähe und in all seinen Facetten miterlebt hat. 2 Evaluationsbericht Der Versuch, das dreißigjährige Wirken von WK an der Universität Vechta möglichst vollständig zu erfassen und zu bewerten, setzt zunächst eine Besinnung auf die dabei zu berücksichtigenden Wirkungsfelder des Professors an der deutschen Universität des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts voraus, d.h. derjenigen Arbeitsbereiche, in denen er seine Leistungen erbringt. Eine derartige Besinnung führt zunächst zu der Einsicht, dass man bei Professoren - genauso wie bei Schülern - zwischen „Pflichtfächern“ und „Wahlfächern“ unterscheiden kann. Als „Pflichtfächer“ bezeichne ich jene Arbeitsfelder, die dem deutschen Universitätsprofessor per Hochschulgesetz als Dienstaufgaben zugewiesen sind, als „Wahlfächer“ jene Arbeitsfelder, die er sich - entsprechend seinem Selbstverständnis als Universitätsprofessor - darüber hinaus selbst sucht und auf denen er über den engeren Bereich der eigenen Universität hinaus wirkt. Dieses Nebeneinander von Pflichtfächern und Wahlfächern sowie die von WK bei jeder Gelegenheit betonte Vorliebe für die Leistungsbewertung mit Hilfe von Noten haben mich <?page no="15"?> U NIVERSITÄTSPROFESSOR D R . W ILFRIED K ÜRSCHNER 1980-2010 5 dazu bewogen, die Evaluationsergebnisse in Form eines Zeugnisses darzustellen. In dem Ihnen vorliegenden - noch unvollständigen - Zeugnis (s. Anhang) sind die für WK relevanten Pflicht- und Wahlfächer aufgeführt, wobei beide - anders als in Schulzeugnissen - mehrheitlich in Teilbereiche ausdifferenziert sind. In die noch leeren Kästchen können im weiteren Verlauf und auf der Basis meiner Ausführungen die angemessenen Noten, mit deren Hilfe die Extensität und Intensität von WKs Wirken auf den verschiedenen Arbeitsfeldern bewertet werden soll, von Ihnen selbst eingetragen werden. Mit diesem Verfahren trage ich dem rhetorischen Grundsatz der Spannungserzeugung ebenso Rechnung wie dem didaktischen Grundsatz der Partizipation der Adressaten. Schon ein flüchtiger Blick auf das (noch notenfreie) Zeugnis lässt die außergewöhnliche Bandbreite von wissenschaftlichen Aktivitäten erkennen, die WK, in der Regel über größere Zeiträume hinweg, manchmal durchgängig, in seinen Wahlfächern entfaltet hat. Die Voraussetzungen für eine derart ungewöhnliche (positive) „Hyperaktivität“ sind in seinem Fall unter anderem: eine außergewöhnlich große (nicht nur) wissenschaftliche Neugierde, hohes Verantwortungsbewusstsein, eine schier unerschöpfliche Arbeitskraft und Schaffenslust sowie Organisationstalent, Kritikfähigkeit, Sorgfalt, Selbstdisziplin, Extrovertiertheit, Fähigkeit zum Teamwork, Führungsqualitäten und eine selbst unter Germanisten ungewöhnliche „Sicherheit im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache“. Besonders hinweisen möchte ich bei Wahlfach 6 auf die zahlreichen Vorträge bei wissenschaftlichen Tagungen im Inland und im Ausland, aber auch bei den Vechtaer Ringvorlesungen, aus denen ein Großteil seiner Aufsätze hervorgegangen ist; auf die (Mit-)Organisation zahlreicher Jahrestagungen des sogenannten „Linguistischen Kolloquiums“ und die (Mit-)Herausgabe der entsprechenden Tagungsbände, sowie der Reihe Linguistik International, und die (Mit-)Herausgabe der Tagungsbände der „Vechtaer Universitätsschriften“, in denen die Ringvorlesungen, in überarbeiteter Form, publiziert wurden, von Band 4 (1988) bis Band 25 (2010); und auf die zweibändige Dokumentation Linguisten-Handbuch (1221 S.) aus dem Jahr 1994, ein unentbehrliches bio-bibliographisches Nachschlagewerk für Sprachwissenschaftler. Bei Wahlfach 7 möchte ich darauf hinweisen, dass die meisten Wissenschaftler sich mündlich und schriftlich ausschließlich an ihre Studenten und an ihre Fachkollegen, die sogenannte scientific community, wenden. WK dagegen hat stets ein geradezu missionarischer Eifer getrieben, sprachwissenschaftliche Erkenntnisse auch außerhalb des universitären Lehrbetriebs und des Wissenschaftsbetriebs zu verbreiten. Die Angaben bei Wahlfach 8 sprechen für sich: Nur wer über eine Kombination von besonderen Fähigkeiten verfügt, wird wieder und wieder in akademische Führungspositionen gewählt, obwohl er keineswegs ohne ,Kanten‘ ist und insofern unbequem, als er auch von anderen ein Mindestmaß der Eigenschaften und Fähigkeiten erwartet, die er selbst reichlich aufweist: Umsicht, konzeptionelles Vermögen, Sorgfalt, Fleiß, Verantwortungsbewusstsein, persönliche Autorität, logisches Denken, Kooperationsbereitschaft. Zu Wahlfach 9 möchte ich anmerken, dass WK zur Führungsriege der oppositionellen Gruppierung „Forum Universität“ während der autokratischen Rektoratsjahre des Psychologen Jürgen Howe gehörte. Die Aktivitäten dieser Gruppierung, der vor allem Professoren und Studenten angehörten und in der WK sich vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit profilierte, trugen maßgeblich dazu bei, dass Howe schließlich sein Amt verlor. <?page no="16"?> V OLKER S CHULZ 6 Über die für die Wahlfächer 6-9 zu vergebenden Noten ist nicht viel nachzudenken: viermal die EINS. Es folgen nun noch einige Erläuterungen und Präzisierungen zu WKs Leistungen in den Pflichtfächern sowie die Bekanntgabe der jeweiligen Note. Zu 1: Forschung: Zwar überlasse ich die inhaltliche Würdigung von WKs Büchern und Aufsätzen der sprachwissenschaftlichen Zunft, aber ich möchte wenigstens Titel und Seitenumfang der ersteren sowie die Zahl und die Hauptthemengebiete der letzteren nennen. WKs Habilitationsschrift Studien zur Negation im Deutschen wurde zwar in den siebziger Jahren geschrieben, aber erst im Berichtszeitraum veröffentlicht (1983) und in der Fachwelt überwiegend positiv bis begeistert aufgenommen. Ein nachhaltiger (auch Verkaufs-)Erfolg wurde dann das aus einem Bändchen von gerade mal 63 Seiten (Grammatische Grundbegriffe in systematischer Anordnung) aus dem Jahr 1988 hervorgegangene 166-Seiten-Buch Grammatisches Kompendium. Systematisches Verzeichnis grammatischer Grundbegriffe von 1989, das im Jahre 2008 die 6. Auflage erlebt hat und inzwischen 302 Seiten umfasst. Auch das im Untertitel als „Studienbegleiter für Germanisten“ apostrophierte Taschenbuch Linguistik hat sich von 111 Seiten im Jahr 1994 mittels mehrmaliger Überarbeitung auf 221 Seiten in der 3. Auflage 2007 entwickelt, nicht zuletzt durch eine eingehende und praxisorientierte Einbeziehung der durch die neuen Medien veränderten Studienbedingungen und -techniken. Neben diesen beiden vor allem auf die Bedürfnisse aller Germanistik-Studenten zugeschnittenen Bänden hat WK im Jahr 2001 eine Studie zur Rechtschreibreform unter dem Titel Neue Rechtschreibung kompakt (121 Seiten) veröffentlicht, eine Frucht seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Fragen der Rechtschreibung in Forschung und Lehre. Die schiere Anzahl, aber auch die thematische Spannweite der von WK in den dreißig Jahren seiner Vechtaer Tätigkeit in wissenschaftlichen Zeitschriften, in Sammelbänden und in Festschriften veröffentlichten Aufsätze ist staunenerregend. Ich habe in seinem eigenen Literaturverzeichnis für die Jahre 1980 - 2009 nicht weniger als 49 Aufsätze gefunden, davon drei zusammen mit Kollegen verfasste. Die wichtigsten Themenfelder sind: Grammatik, Rechtschreibung, Geschichte der Sprachwissenschaft. Auf allen diesen Gebieten gilt WK in seiner Zunft als Koryphäe. Einer der gewichtigsten und längsten seiner Aufsätze ist ein „Essay über die von Jacob Grimm und Wihelm Grimm verfassten Teile des Deutschen Wörterbuchs“ (2003) mit 55 Seiten, mein persönlicher Favorit ist ein Aufsatz mit dem schönen, kurzen Titel „Über es“ (2000) mit 11 Seiten. WKs Gesamtleistung im Pflichtfach „Forschung“ bewerte ich mit der Note EINS. Zu 2: Universitäre Lehre: WKs Forschungsleistung ist umso beachtlicher, als sie bei gleichzeitigem hohem Engagement für die universitäre Lehre im Massenfach Germanistik erbracht worden ist. Als einziger Lehrstuhlinhaber im Bereich der Sprachwissenschaft fühlte sich WK Semester für Semester zum Abhalten aller zentralen Lehrveranstaltungen - Vorlesungen, Hauptseminare, aber auch Einführungsseminare - verpflichtet; lediglich die Proseminare durften auch Mitarbeiter, allerdings nach seinen genauen Direktiven, übernehmen. <?page no="17"?> U NIVERSITÄTSPROFESSOR D R . W ILFRIED K ÜRSCHNER 1980-2010 7 Auch wenn WK alle laut Studien- und Prüfungsordnungen zu berücksichtigenden Teilgebiete der Germanistischen Linguistik in Lehrveranstaltungen behandelte, legte er gemäß dem von ihm gelebten Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre, aber auch gemäß den für künftige Lehrer besonders wichtigen Teilgebieten der germanistischen Sprachwissenschaft ein besonderes Schwergewicht auf Grammatik und Rechtschreibung. Viel Spaß hat ihm selbst und interessierten Studenten verschiedener Fächer daneben die Lehrveranstaltungsreihe „Einblicke in fremde Sprachen“ gemacht. Hier ging es jeweils nicht um das Erlernen, sondern um die linguistische „Erkundung“ einer unbekannten, oft exotischen Sprache. Als „Reiseführer“ setzte WK dabei gern ausländische Studenten mit muttersprachlicher Kompetenz ein. Die Tatsache, dass Studienanfänger in der Germanistik in den neunziger Jahren zunehmend Schwierigkeiten mit der deutschen Grammatik hatten, brachte ihn auf die Idee, einen mehrstufigen Kurs „Elementarlatein“, später: „Eurolatein“, zu entwickeln und in das Curriculum des Bachelor-Studiengangs zu integrieren. Hier lernten Germanistik-Studenten vor der Folie der fremden Sprache die Strukturen der eigenen Sprache kennen, daneben auch die Wurzeln und den kulturellen Hintergrund vieler Fremdwörter. Wegen der stets dünnen Personaldecke im Gebiet der Germanistischen Linguistik hat sich WK Semester für Semester dazu veranlasst gesehen, aus Gründen der, wie man heute sagt, „Qualitätssicherung in der Lehre“, freiwillig zusätzliche Lehrveranstaltungen, weit über sein Lehrdeputat hinaus, anzubieten. Inzwischen hat er nicht weniger als 99 derartiger Deputat-Überstunden angesammelt. Für Gotteslohn. Sicher ein einsamer Rekord! Der von WK gepflegte Stil der universitären Lehre ist stets eine Verbindung von ernsthafter Unterrichtung über die Grundstruktur des jeweiligen Sachgebiets sowie seiner einzelnen Komponenten und von amüsanter Auflockerung, nicht zuletzt mittels selbsterfundener, oft spielerisch-komischer Beispiele, gewesen. Seine stets gute Laune, sein ausgeprägter Sinn für Systematik und seine aufrichtige Bemühung um Verständlichkeit haben ihn zu einem motivierenden und zugleich überaus beliebten Lehrenden gemacht, dessen Sprechstunde so nachgefragt gewesen ist, dass er sie erst verdoppelt und zuletzt vervierfacht hat. Auch das ist meines Wissens einsamer Rekord. Seine grundsätzliche Studentenfreundlichkeit zeigte sich auch daran, dass er regelmäßig bei der Betreuung der Fachpraktika im Massenfach Germanistik ausgeholfen hat, wenn diese von den zuständigen Fachdidaktikern allein schlechterdings nicht geleistet werden konnte. WKs Gesamtleistung im Pflichtfach „Universitäre Lehre“ bewerte ich mit der Note EINS. Zu 3: Prüfungen und Korrekturen: Wie schon beim Pflichtfach „Universitäre Lehre“, so soll auch beim Nachbar-Pflichtfach „Prüfungen und Korrekturen“ zunächst auf das für Angehörige anderer Fächer schier unvorstellbare Arbeitspensum hingewiesen werden, das WK Jahr für Jahr unverdrossen, wenn auch gelegentlich zähneknirschend, bewältigt hat. Seit der Umstellung auf den Bachelor-/ Master-Studiengang hat allein die Zahl der von ihm korrigierten Klausuren pro Semester jeweils zwischen ca. 300 und ca. 500 gelegen, gelegentlich sogar noch höher. Nur ein außerordentlich gesunder, belastbarer, kompetenter, disziplinierter und in seinen Beruf vernarrter Professor bricht unter einer solchen Last nicht irgendwann zusammen. <?page no="18"?> V OLKER S CHULZ 8 WKs Gesamtleistung im Pflichtfach „Prüfungen und Korrekturen“ bewerte ich mit der Note EINS. Zu 4: Nachwuchsförderung: Bei der Beurteilung von WKs Leistung in diesem Pflichtfach muss zunächst berücksichtigt werden, dass das Gros der Germanistikstudenten in Vechta das Berufsziel Grund-/ Haupt-/ Realschullehrer anstrebt, also in der Regel eine lediglich pragmatische Haltung gegenüber dem Wissenschaftsfach Germanistik einnimmt. Unter den wenigen anderen Studenten - das heißt vor allem den Gymnasial- und Magisterstudenten - ist es WK über die Jahre hinweg immer wieder gelungen, einzelne für eine Promotion zu motivieren und sie dann erfolgreich zu betreuen. Sein unbestechlicher Blick für wissenschaftliche Qualität hat andererseits zum Abbruch eines Dissertations- und zweier Habilitationsvorhaben geführt; dieser Blick war wohl am Anfang dieser beiden Vorhaben durch allzu viel Menschenfreundlichkeit und Optimismus vernebelt gewesen. WKs Gesamtleistung im Pflichtfach „Nachwuchsförderung“ bewerte ich mit der Note ZWEI. Zu 5: Zusammenarbeit mit dem nicht-wissenschaftlichen Personal: Diese Dienstobliegenheit des Professors ist zwar im Hochschulgesetz nicht explizit geregelt, ergibt sich aber de facto in jedem Fall. Besonders wichtig und intensiv ist die Zusammenarbeit mit nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei jenen Professoren, die, wie das bei WK dreißig Jahre lang durchgängig der Fall war, leitende Positionen in der Hochschulselbstverwaltung innehaben. Hier ist Autorität gefragt, die sich nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus der Person herleitet, aber auch ein persönlicher Beitrag zu einem guten Betriebsklima. In beiderlei Hinsicht war WK kraft seines Selbstbewusstseins, seiner grundsätzlichen Menschenfreundlichkeit, seiner Zuverlässigkeit und nicht zuletzt seines heiteren Naturells eine Idealbesetzung. WKs Gesamtleistung im Pflichtfach „Zusammenarbeit mit dem nicht-wissenschaftlichen Personal“ bewerte ich mit der Note EINS. Die von mir durchgeführte tendenziell, umfassende, personenbezogene, interne Evaluation hat ergeben, dass sich WK nicht nur in vielfältiger Weise um die Universität Vechta verdient gemacht hat, sondern auch, dass seine professorale Gesamtleistung als HERVORRAGEND zu bewerten ist. Sein Notendurchschnitt berechtigt ihn zur Aufnahme eines Zweitstudiums auch in Numerus-Clausus-Fächern wie z.B. Psychologie oder Informationswissenschaften. <?page no="19"?> U NIVERSITÄTSPROFESSOR D R . W ILFRIED K ÜRSCHNER 1980-2010 9 ZEUGNIS Universitätsprofessor Dr. Wilfried Kürschner 1980 - 2010 A: Pflichtfächer 1. Forschung • Bücher • Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften, in Sammelbänden und in Festschriften 2. Universitäre Lehre • Umfang der universitären Lehre • Hauptgebiete der universitären Lehre • Stil der universitären Lehre • Sprechstunden • Beteiligung an der Betreuung von Fachpraktika 3. Prüfungen und Korrekturen • Umfang der Prüfungen und Korrekturen • Stil der mündlichen Prüfungen 4. Nachwuchsförderung • Betreuung von Doktoranden • Betreuung von Habilitanden 5. Zusammenarbeit mit dem nicht-wissenschaftlichen Personal <?page no="20"?> V OLKER S CHULZ 10 B.Wahlfächer 6. Beteiligung am Wissenschaftsbetrieb • Referate und Rezensionen • (Mit-)Organisation von Tagungen • Vorträge bei Tagungen • Vorträge bei Ringvorlesungen • Beteiligung an Kooperationen/ Austauschprogrammen mit anderen Universitäten • (Mit-)Herausgabe von Sammelbänden • (Mit-)Herausgabe von Reihen • Dokumentationen • Übersetzungen 7. Öffentlichkeitsarbeit • Vorträge vor nicht-akademischem Publikum • Veröffentlichungen in nicht-wissenschaftlichen Zeitschriften und Zeitungen (Aufsätze und Leserbriefe) 8. Hochschulselbstverwaltung • Beteiligung an der Hochschulselbstverwaltung auf allen Ebenen, von der Ebene des Faches bis zur Ebene der Hochschulleitung • Langjährige Wahrnehmung besonders verantwortungsvoller und arbeitsintensiver Positionen: als Fachsprecher, Dekan, Fachbereichsratsbzw. Institutsmitglied, Institutsdirektor, Rektor, Senatsmitglied, Mitglied und Vorsitzender diverser Senatskommissionen, Mitglied und Vorsitzender diverser Berufungskommissionen, Senatsbeautragter für das Vorlesungsverzeichnis,für den Datenschutz und für die Organisation von Immatrikulations- und Examensfeiern, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Grundordnung 9. Hochschulpolitik • Vechtaer Vertreter des Hochschullehrerverbandes • Beteiligung an hochschulpolitischen Maßnahmen (Demonstrationen, Resolutionen, Protestbriefe an das Wissenschaftsministerium, Pamphlete, Leserbriefe etc. während diverser Krisenzeiten der Universität Vechta) <?page no="21"?> Phonologie Morphologie Syntax <?page no="23"?> Präpositionen als spatiale Ausdrucksmittel im Deutschen und Dänischen Per Bærentzen und Anna Højgård Gaden 1 Einleitung Vor etwa fünf Jahren erhielten wir die Aufforderung, uns an der Publikationsreihe Spatiale Relationen - kontrastiv zu beteiligen. 1 Die Reihe präsentiert - in onomasiologischer Perspektive - pro Band ein Sprachenpaar mit den jeweiligen Möglichkeiten, spatiale Relationen auszudrücken, und zwar ausgehend vom Deutschen und seinen Adpositionen und Adverbien und mit einer jeweils anderen Sprache als kontrastierender Partnersprache. Wir waren bereit, an dem Band Deutsch - Dänisch mitzuwirken, und fingen an, uns über die Prinzipien für die Beschreibung spatialer Relationen Gedanken zu machen. Da für alle Bände der geplanten Reihe ein bestimmter methodischer Ansatz und ein bereits feststehendes Beschreibungsmodell zu benutzen war, erübrigten sich zum Teil die Gedanken, die wir uns gemacht hatten, aber im vorliegenden Beitrag wollen wir nun die Chance wahrnehmen und unsere Vorstellungen von damals skizzieren. Selbstverständlich enthält das Folgende auch vieles, was in den erwähnten Band Eingang gefunden hat. Wir beschreiben hier einige Fälle, in denen eine spatiale, d.h eine räumliche Relation mittels einer Präposition evt. zuzüglich anderer sprachlicher Mittel ausgedrückt wird. 2 Relationen, Relate und Relationsausdrücke Eine spatiale Relation umfasst drei Relate. Zwei von ihnen werden als Teilnehmer 1 und Teilnehmer 2 bezeichnet. Das dritte Relat ist die Umwelt, inmitten derer sich die Teilnehmer 1 und 2 befinden. Die Umwelt bleibt im Text meist unerwähnt und ist nur implizit mitzudenken. Eine spatiale Relation setzt sich aus drei Teilrelationen zusammen und wird durch einen Relationsausdruck spezifiziert. Der Relationsausdruck enthält immer eine Präposition, welche - bisweilen mit einem Adverb zusammen - die Art der Relation ausdrückt, und meist auch ein Verb, welches einen Prozess nennt. Wenn im Relationsausdruck ein Verb vorhanden ist, ist Teilnehmer 1 entweder dessen Subjekt oder dessen Objekt. Teilnehmer 2 ist das Relat, das von der Präposition regiert wird. In den Beispielen (1) bis (3) ist Teilnehmer 1 das Bild und Teilnehmer 2 die Wand. Der Relationsausdruck ist in (1) und (2) hängen + an + Kasus. Teilnehmer 1 ist in (1) Subjekt des Intransitivums hängen und in (2) Objekt des gleichlautenden Transitivums. Wenn im Relationsausdruck kein Verb vorhanden ist, wie es in (3) der Fall ist, kann man das Verb sein mitverstehen, als dessen Subjekt dann Teilnehmer 1 zu sehen ist. Teilnehmer 2 wird in allen Fällen von der Präposition an regiert. (1) Das Bild(1) hängt an der Wand(2) (2) Peter hängt das Bild(1) an die Wand(2) (3) Peter betrachtet das Bild(1) an der Wand(2) Das Bild(1) ist an der Wand(2) 1 Die Reihe Spatiale Relationen - kontrastiv wird von Maxi Krause (Caen) herausgegeben und erscheint im Julius Groos Verlag, Tübingen. Der Band Deutsch - Dänisch von Maxi Krause und Per Bærentzen ist für 2010 vorgesehen. Das allen Bänden zugrunde liegende Beschreibungsmodell basiert vor allem auf Marcq (1988). <?page no="24"?> P ER B ÆRENTZEN UND A NNA H ØJGÅRD G ADEN 14 Wie vorhin erwähnt setzt sich eine spatiale Relation aus drei Teilrelationen zusammen. Die primäre Teilrelation ist die spatiale Beziehung des Teilnehmers 1 zu Teilnehmer 2, also in (1) bis (3) die spatiale Beziehung des Bildes zur Wand. Die beiden anderen Teilrelationen, die sich als sekundär betrachten lassen, sind die spatiale Beziehung des Teilnehmers 1 bzw. des Teilnehmers 2 zu Relat 3, also die spatiale Beziehung des Bildes bzw. der Wand zur Umwelt. 3 Beschreibungsparameter Für die Beschreibung der spatialen Relationen benötigen wir einen adäquaten Beschreibungsapparat, d.h. geeignete Begriffe oder Parameter. In diesem Beitrag können wir nur eine geringe Teilmenge aller spatialen Relationen beschreiben, hoffen aber, dass wir zeigen können, wie man vorgehen kann. Für die hier zu beschreibenden Fälle ziehen wir vier Parameter heran: Bewegungsstatus, Distanztypus, Varianz und Zeithorizont, die alle für die primäre Teilrelation, die spatiale Beziehung des Teilnehmers 1 zu Teilnehmer 2, relevant sind. Für die beiden sekundären Teilrelationen ist allein der Bewegungsstatus relevant. 3.1 Bewegungsstatus Der Parameter Bewegungsstatus bezieht sich darauf, ob ein Relat im Verhältnis zu einem anderen Relat eine räumliche Verschiebung erfährt oder nicht und sich damit als bewegt bzw. unbewegt kategorisieren lässt. Der Bewegungsstatus bezieht sich zum einen auf das Verhältnis der Teilnehmer 1 und 2 zur Umwelt. Es bestehen drei Möglichkeiten: Die Teilnehmer 1 und 2 können der Umwelt gegenüber entweder beide bewegt sein oder sie können beide unbewegt sein, oder Teilnehmer 1 kann bewegt sein, während Teilnehmer 2 unbewegt ist. Der Bewegungsstatus bezieht sich zum anderen auf das Verhältnis des Teilnehmers 1 zu Teilnehmer 2. Es bestehen zwei Möglichkeiten: Teilnehmer 1 kann gegenüber Teilnehmer 2 entweder bewegt oder unbewegt sein. Die Umwelt selbst lässt sich stets als unbewegt betrachten. 3.2 Distanztypus und Varianz Die Parameter Distanztypus und Varianz beziehen sich allein auf das spatiale Verhältnis des Teilnehmers 1 zu Teilnehmer 2. Sie gehören eng zusammen. Es werden zwei Distanztypen unterschieden, nämlich Kontakt und Nähe. Der Parameter Varianz bezieht sich darauf, dass ein zwischen Teilnehmer 1 und Teilnehmer 2 vorliegender Distanztypus entweder bewahrt oder geändert wird und somit entweder invariant oder variant ist. Falls ein Distanztypus geändert wird, handelt es sich entweder darum, dass Teilnehmer 1 einen Kontakt bzw. eine Nähe zu Teilnehmer 2 neu etabliert, oder darum, dass Teilnehmer 1 einen bestehenden Kontakt bzw. eine bestehende Nähe zu Teilnehmer 2 aufhebt. 3.3 Zeithorizont Der Parameter Zeithorizont bezieht sich allein auf das spatiale Verhältnis des Teilnehmers 1 zu Teilnehmer 2 und ist nur in den wenigen Fällen relevant, in denen Teilnehmer 1 einen Kontakt oder eine Nähe zu Teilnehmer 2 etabliert. In solchen Fällen lässt sich der etablierte Kontakt bzw. die etablierte Nähe, was den Zeithorizont betrifft, entweder als dauernd oder als vorübergehend kategorisieren. <?page no="25"?> P RÄPOSITIONEN ALS SPATIALE A USDRUCKSMITTEL 15 4 Statische und dynamische Relationsausdrücke Wie oben erwähnt enthält der Relationsausdruck eine Präposition, welche - bisweilen mit einem Adverb zusammen - die Art der Relation ausdrückt, und meist auch ein Verb, welches einen Prozess nennt. Es gibt sowohl statische und dynamische Relationen als auch statische und dynamische Prozesse. Diese Unterschiede werden durch verschiedene sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht. Z.B. lässt sich im Deutschen bei Präpositionen mit doppelter Kasusrektion der Unterschied zwischen statischer und dynamischer Relation durch die Kasuswahl ausdrücken: In dem Wald in den Wald. Das Dänische drückt diesen Unterschied auf andere Weise aus, denn im Dänischen weisen die Substantive nur zwei verschiedene Kasusformen auf, nämlich Genitiv mit dem Flexiv -s und Nicht-Genitiv mit dem Flexiv -Ø, und somit lässt sich nicht entscheiden, ob der Satz han gik i skoven als ‘er ging im Walde’ oder ‘er ging in den Wald’ zu interpretieren ist. Die Disambiguierung erfolgt häufig mithilfe von Adverbien, die über eine statische Flexionsform mit dem Flexiv -e und eine dynamische Flexionsform mit dem Flexiv -Ø verfügen. Solche Adverbien sind u.a. ude-ud; inde-ind; oppe-op; nede-ned; henne-hen; fremme-frem; ovreover; omme-om; hjemme-hjem. Dementsprechend ist die Relation in dem Satz han gik ude i skoven eindeutig statisch, in dem Satz han gik ud i skoven eindeutig dynamisch. In beiden Sprachen gibt es Verben, die statische Prozesse (z.B. schlafen, sove; sitzen, sidde) ausdrücken, und andere, die dynamische Prozesse (z.B. laufen, løbe; setzen, sætte) ausdrücken, und wiederum andere, die in dieser Hinsicht neutral sind (z.B. kleben, klæbe). 5 Übersicht Auf der Basis der vier Parameter ergeben sich folgende Möglichkeiten: I. Teilnehmer 1 und 2 sind gegenüber der Umwelt beide unbewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 unbewegt ist und somit gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus bewahrt. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. II. Teilnehmer 1 ist gegenüber der Umwelt bewegt, Teilnehmer 2 dagegen unbewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 bewegt ist. Dabei kann Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 entweder einen Distanztypus bewahren oder ändern. A. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. B. Teilnehmer 1 ändert gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus. Die Änderung besteht entweder darin, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen (neuen) Distanztypus etabliert oder einen (bestehenden) Distanztypus aufhebt. a. Teilnehmer 1 etabliert einen Kontakt zu Teilnehmer 2. . Der etablierte Kontakt ist dauernd. . Der etablierte Kontakt ist vorübergehend. b. Teilnehmer 1 etabliert eine Nähe zu Teilnehmer 2. . Die etablierte Nähe ist dauernd. . Die etablierte Nähe ist vorübergehend. c. Teilnehmer 1 hebt einen Kontakt zu Teilnehmer 2 auf. d. Teilnehmer 1 hebt eine Nähe zu Teilnehmer 2 auf (und etabliert eine Ferne). <?page no="26"?> P ER B ÆRENTZEN UND A NNA H ØJGÅRD G ADEN 16 III. Teilnehmer 1 und 2 sind gegenüber der Umwelt beide bewegt. Dabei kann Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 entweder unbewegt oder bewegt sein. 1. Teilnehmer 1 ist gegenüber Teilnehmer 2 unbewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus bewahrt. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. 2. Teilnehmer 1 ist gegenüber Teilnehmer 2 bewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus ändert und dabei entweder einen (neuen) Distanztypus etabliert oder einen (bestehenden) Distanztypus aufhebt. a. Teilnehmer 1 etabliert einen Kontakt zu Teilnehmer 2. . Der etablierte Kontakt ist dauernd. . Der etablierte Kontakt ist vorübergehend. b. Teilnehmer 1 etabliert eine Nähe zu Teilnehmer 2. . Die etablierte Nähe ist dauernd. . Die etablierte Nähe ist vorübergehend. c. Teilnehmer 1 hebt einen Kontakt zu Teilnehmer 2 auf. d. Teilnehmer 1 hebt eine Nähe zu Teilnehmer 2 auf (und etabliert eine Ferne). 6 Beispiele I. Teilnehmer 1 und 2 sind gegenüber der Umwelt beide unbewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 unbewegt ist und somit gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus bewahrt. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. Deutsch: Stat. Präp. + stat. Prozess: er lag am Boden die Vase steht auf dem Tisch der Kaugummi klebte unter dem Tisch Dänisch: Präp. + stat. Prozess (+ stat. Adv. -e): han lå (nede) på gulvet vasen står (henne) på bordet tyggegummiet sidder fast (nede) under bordet b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. Deutsch: Stat. Präp. + stat. Prozess: er wohnt an / hinter / neben der Kirche das Flugzeug schwebte über der Stadt er schlief unter dem Tisch Dänisch: Präp. + stat. Prozess (+ stat. Adv. -e): han bor (henne) ved / bag kirken flyveren svævede (oppe) over byen han sov (nede) under bordet II. Teilnehmer 1 ist gegenüber der Umwelt bewegt, Teilnehmer 2 dagegen unbewegt. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 bewegt ist. Dabei kann Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 entweder einen Distanztypus bewahren oder ändern. A. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. <?page no="27"?> P RÄPOSITIONEN ALS SPATIALE A USDRUCKSMITTEL 17 Deutsch: Stat. Präp. + dyn. Prozess + dyn. Adv.; Dyn. Präp. + dyn. Prozess: über + Akk.: die Katze kletterte an der Birke hinauf / hoch / hinunter sie liefen in der Stadt herum die Spinne kroch quer über den Tisch Dänisch: Präp. ad / over + dyn. Prozess + dyn. Adv.; Präp. + dyn. Prozess + stat. Adv.: katten klatrede op / ned ad birketræet de løb rundt (inde) i byen edderkoppen løb hen over bordet b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. Deutsch: Stat. Präp. + dyn. Prozess: an + entlang; Neutr. Präp. + dyn. Prozess: sie spazierten am Fluss entlang sie liefen um den Garten Dänisch: Präp. + dyn. Prozess + Adverb langs / rundt: de spadserede langs med floden de løb rundt om haven B. Teilnehmer 1 ändert gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus. Die Änderung besteht entweder darin, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen (neuen) Distanztypus etabliert oder einen (bestehenden) Distanztypus aufhebt. a. Teilnehmer 1 etabliert einen Kontakt zu Teilnehmer 2. Der etablierte Kontakt kann dauernd oder vorübergehend sein. . Der etablierte Kontakt ist dauernd. Deutsch: Dyn. Präp + dyn. Prozess; Neutr. Präp. + dyn. Prozess: er hängte das Bild an die Wand er stellte die Vase auf den Tisch er legte das Geld in den Schrank er stellte die Stühle gegen die Wand sie band sich einen Kranz um den Kopf Dänisch: Präp. + dyn. Prozess + dyn. Adv. (-Ø); Neutr. Präp. + dyn. Prozess: han hængte billedet (op) på væggen han stillede vasen (hen) på bordet han lagde pengene (ind) i skabet han stillede stolene (op) mod væggen hun bandt en krans om hovedet . Der etablierte Kontakt ist vorübergehend. Deutsch: Dyn. Präp. + dyn. Prozess; Neutr. Präp. + Dyn. Prozess: er klopfte an das Glas er ist auf seine Brille getreten der Ball traf mich ins Gesicht der Ball flog durch das Fenster der Fahrer prallte gegen einen Baum Dänisch: Neutr. Präp. + dyn. Prozess: han slog på glasset han har trådt på sine briller <?page no="28"?> P ER B ÆRENTZEN UND A NNA H ØJGÅRD G ADEN 18 bolden ramte mig i ansigtet bolden fløj gennem vinduet billisten ramlede imod et træ b. Teilnehmer 1 etabliert gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. Die etablierte Nähe kann dauernd oder vorübergehend sein. . Die etablierte Nähe ist dauernd. Deutsch: Dyn. Präp. + dyn. Prozess: er rückte ans Fenster er stellte sich hinter die Tür der Dirigent trat vor das Orchester er setzte sich zwischen seine Eltern er rutschte ganz dicht an mich heran Dänisch: Neutr. Präp. + dyn. Prozess + dyn. Adv. (-Ø): han rykkede (hen) til vinduet han stillede sig (om) bag døren dirigenten trådte (hen) foran orkestret han satte sig (hen) mellem sine forældre han rykkede tæt (hen) til mig . Die etablierte Nähe ist vorübergehend. Deutsch: Stat. Präp. + dyn. Prozess + dyn. Adv. vorbei: sie huschte an ihm vorbei er schlüpfte bequem neben ihm vorbei in den Waggon eine dunkle Wolke zog über ihm vorbei Ochsenkarren quietschen hinter ihm vorbei wenn sich zwei Leute auf einem Flur unterhalten, geht man nicht zwischen ihnen vorbei Dänisch: Dyn. Präp. forbi + dyn. Prozess; Neutr. Präp. (+ stat. adv. -e) + dyn. Prozess + dyn. Adv. forbi: hun smuttede forbi ham han sneg sig forbi ham og ind i vognen en mørk sky trak forbi (oppe) over ham oksekærrer peb forbi (omme) bag ham når to mennesker står og snakker på gangen, går man ikke forbi mellem dem c. Teilnehmer 1 hebt einen Kontakt zu Teilnehmer 2 auf. Deutsch: Präp. aus / von + dyn. Prozess: er lief aus dem Hause er fiel von der Leiter Dänisch: Präp. af / fra + dyn. Prozess + dyn. Adv. (-Ø): han løb ud af huset han faldt ned af / fra stigen d. Teilnehmer 1 hebt eine Nähe zu Teilnehmer 2 auf (und etabliert eine Ferne). Deutsch: Präp. von + dyn. Prozess + dyn. Adv.: er rückte vom Fenster weg Dänisch: Präp. fra + dyn. Prozess + dyn. Adv.: han rykkede væk / bort(-Ø) fra vinduet <?page no="29"?> P RÄPOSITIONEN ALS SPATIALE A USDRUCKSMITTEL 19 III. Teilnehmer 1 und 2 sind gegenüber der Umwelt beide bewegt. Dabei kann Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 entweder unbewegt oder bewegt sein. 1. Teilnehmer 1 ist gegenüber Teilnehmer 2 unbewegt. Das bedeutet, dass Teilnehmer 1 und 2 sich in der gleichen Richtung und mit gleicher Geschwindigkeit fortbewegen. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus, also einen Kontakt oder eine Nähe bewahrt. a. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 einen Kontakt. In diesem Fall ist Teilnehmer 2 ein sich fortbewegendes Transportmittel, dessen sich Teilnehmer 1 bedient. Deutsch: Stat. Präp. + dyn. Prozess: er ritt auf dem Pferd davon; er fuhr im Auto davon. Dänisch: Stat. Präp. + dyn. Prozess: han red derfra på hesten; han kørte derfra i bilen b. Teilnehmer 1 bewahrt gegenüber Teilnehmer 2 eine Nähe. Teilnehmer 1 und 2 bewegen sich jeder für sich fort, aber in der gleichen Richtung und mit gleicher Geschwindigkeit. Deutsch: stat. Präp. + dyn. Prozess + Adv. her.: er lief hinter / neben / vor / zwischen den Eltern her Dänisch: Neutr. Präp. + dyn. Prozess + Adv. af sted: han løb af sted bag / foran / mellem forældrene 2. Teilnehmer 1 ist gegenüber Teilnehmer 2 bewegt. Das bedeutet, dass Teilnehmer 1 und 2 sich nicht mit gleicher Geschwindigkeit und/ oder nicht in der gleichen Richtung fortbewegen. Daraus folgt, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen Distanztypus ändert. Die Änderung besteht entweder darin, dass Teilnehmer 1 gegenüber Teilnehmer 2 einen (neuen) Distanztypus etabliert oder einen (bestehenden) Distanztypus aufhebt. a. Teilnehmer 1 etabliert einen Kontakt zu Teilnehmer 2. Der etablierte Kontakt kann dauernd oder vorübergehend sein. . Der etablierte Kontakt ist dauernd. In diesem Fall ist Teilnehmer 2 ein sich fortbewegendes Transportmittel, dessen sich Teilnehmer 1 bedient. Deutsch: Dyn. Präp. + dyn. Prozess: er sprang auf den fahrenden Zug er stieg in das langsam vorbei treibende Boot; Dänisch: Dyn. Präp. + dyn. Prozess: han sprang på toget, der allerede kørte han steg i båden, der gled langsomt forbi . Der etablierte Kontakt ist vorübergehend. Nicht belegt b. Teilnehmer 1 etabliert eine Nähe zu Teilnehmer 2. Die etablierte Nähe kann dauernd oder vorübergehend sein. . Die etablierte Nähe ist dauernd. Deutsch: Dyn. Präp. + dyn. Prozess: <?page no="30"?> P ER B ÆRENTZEN UND A NNA H ØJGÅRD G ADEN 20 der Meteorit flog auf die Erde zu er ritt seiner Frau entgegen die Polizei lief dem Dieb nach Dänisch: Neutr. Präp. + dyn. Prozess: meteoritten fløj mod jorden han red sin hustru i møde politiet satte efter tyven . Die etablierte Nähe ist vorübergehend. Deutsch: Stat. Präp.+ dyn. Prozess + dyn. Adv. vorbei: die beiden Maschinen flogen dicht an einander vorbei Dänisch: Dyn. Präp. forbi + dyn. Prozess: de to maskiner fløj tæt forbi hinanden c. Teilnehmer 1 hebt einen Kontakt zu Teilnehmer 2 auf. In diesem Fall ist Teilnehmer 2 ein sich fortbewegendes Transportmittel, dessen sich Teilnehmer 1 bedient. Deutsch: Präp. aus / von + dyn. Prozess: er sprang aus dem fahrenden Zug er fiel vom Rad, als er um die Ecke fuhr Dänisch: Präp. af + dyn. Prozess + dyn. Adv. (-Ø): han sprang (ud) af toget, mens det kørte han faldt (ned) af cyklen, da han drejede om hjørnet d. Teilnehmer 1 hebt eine Nähe zu Teilnehmer 2 auf (und etabliert eine Ferne). Deutsch: Dyn. Prozess + davon mit vorangestelltem Dativ: der Stürmer lief allen davon Dänisch: Dyn. Prozess + fra (mit potentiellem Starkdruck): angriberen løb frá alle de andre 7 Abschluss Im Voraufgehenden wurde zu zeigen versucht, wie ausgewählte spatiale Relationen sich beschreiben lassen. Neben den erwähnten Parametern könnten weitere Distinktionen von Bedeutung sein. Eine nicht unwichtige Eigenschaft des Teilnehmers 2 ist z.B. seine geometrische Gestalt, d.h. die Zahl seiner Dimensionen. Er kann ein Punkt ohne Dimensionen, eine eindimensionale Linie, eine zweidimensionale Fläche oder ein dreidimensionaler Körper sein. Die vielen weiteren Einzelheiten stehen aber auf einem anderen Blatt. Literatur Krause, Maxi und Bærentzen, Per (im Druck): Spatiale Relationen - kontrastiv: Deutsch - Dänisch. Tübingen: Julius Groos Verlag. Marcq, Philippe (1988): Spatiale und temporale Präpositionen im heutigen Deutsch und Französisch. Stuttgart: Hans-Dieter Heinz Verlag. <?page no="31"?> Je komplizierter die Aussprache, desto unspezifischer die Schreibung Ein Essay zur Verschriftung der skandinavischen Sprachen Kurt Braunmüller 0 Einleitende Bemerkungen Der folgende Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, die unterschiedlichen Arten der Verschriftung in den skandinavischen Sprachen und die daraus resultierenden Probleme in ihren wesentlichen Zügen darzustellen. Gerade die Abbildungsbeziehungen zwischen den Lauten und ihrer Verschriftung (sowie deren jeweiliger Normierung) haben den in dieser Festschrift zu Ehrenden in den letzten Jahren besonders beschäftigt wie auch persönlich umgetrieben. Da zu den Besonderheiten und Absurditäten der alten wie der neuen deutschen Rechtschreibung in dem zurückliegenden Jahrzehnt so viel, auch in der Tagespresse, geschrieben wurde, ist es vielleicht interessant, sich einmal die Abbildungskonventionen und die sich daraus ergebenden Probleme in den skandinavischen (d.h. nordgermanischen) Sprachen einmal genauer anzusehen. Es kann in dem zur Verfügung stehenden engen Rahmen keine umfassende Darstellung gegeben werden, vielmehr soll gezeigt werden, dass eine mehr oder weniger praktikable Lösung auch in einer aussprachefernen Orthografie liegen kann und nicht nur in einer möglichst direkten Abbildung der Lautung. Die Form des Essays wurde gewählt, weil auf den wenigen zur Verfügung stehenden Seiten keine gründliche wissenschaftliche Diskussion dieses sehr komplexen Gegenstandes unter Einbeziehung der einschlägigen Forschung gegeben werden kann. Was angestrebt wird, ist vielmehr eine deskriptive wie typologisch orientierte Darlegung der unterschiedlichen Prinzipien und Verfahrensweisen. 1 Fünf verschiedene Prinzipien 1.1 Im Folgenden werden typologisch unterschiedliche Verfahrensweisen bei der Abbildung von Lauten auf sprachliche Zeichen, genauer auf ein modifiziertes lateinisches Alphabet, vorgestellt, wobei zuerst die Fälle diskutiert werden, bei denen die Distanz zwischen diesen beiden Polen am größten ist, vergleichbar etwa mit der Orthografie des Englischen oder Französischen. Am Ende der Diskussion steht eine möglichst aussprachenahe Kodifizierung, die zwar nicht das (fast) ideale Prinzip wie z.B. im Finnischen erreicht, die sich aber doch am weitesten von allen skandinavischen Sprachen hinsichtlich ihrer früheren Aussprachezustände entfernt hat. 1.2 Es werden folgende fünf Fälle unterschieden: (1) die rekonstruierte, auf das Spätmittelalter zurückgehende Orthografie [Färöisch], (2) die historische Orthografie, die eine direkte sprachliche Kontinuität vorspiegelt [Isländisch], (3) die Kompromissorthografie, bei der Zugeständnisse an die Sprachgeschichte wie auch an die Nachbarsprachen gemacht wird [Dänisch], (4) die lokal angepasste Orthografie, bei der eine übernommene Schriftsprache (Dänisch) an die örtliche Aussprache graduell angenähert worden ist [norwegisches Riksmål/ Bokmål] sowie schließlich (5) eine historisch bereinigte und in etlichen Teilen an die derzeitige Aussprache angepasste Orthografie [Schwedisch]. Diese Kategorisierung vereinfacht und abstrahiert die zu beobachtenden Verhältnisse, trägt aber dennoch <?page no="32"?> K URT B RAUNMÜLLER 22 den grundlegenden Unterschieden und Kodierungsprinzipien ausreichend Rechnung. Es wird trotz der hier schon aufscheinenden großen Variationsbreite deutlich werden, dass bei allen skandinavischen Sprachen eine mehr oder weniger starke historische Ausrichtung zu beobachten ist. Eine Abkehr von diesem Bekenntnis zur eigenen Sprachgeschichte hätte u.a. auch Folgen für die unmittelbare wechselseitige Verstehbarkeit zumindest der festlandskandinavischen Sprachen untereinander. Für das Inselskandinavische ergäbe sich durch den Bruch mit der Sprachgeschichte auch ein Bruch in und mit der eigenen kulturellen Identität, die - mangels anderer Zeugnisse - im Wesentlichen auf der Überlieferung literarischer Denkmäler beruht. 2 Das Färöische: ein Beispiel für eine rekonstruierte Orthografie 2.0 Da das Färöische dialektal stark zerklüftet ist, war es schwierig, einen gemeinsamen Nenner für alle Varietäten zu finden. Der Hauptstadtdialekt von Tórshavn überwiegt zwar hinsichtlich der Sprecherzahl, jedoch leitet sich daraus kein Hegemonialanspruch für eine bestimmte Schreibung ab. 2.1 Im Bereich des Konsonantismus fällt auf, dass es einen Buchstaben, das ð, gibt, der in keinem Dialekt, wie zu vermuten wäre, als [ ð ] ausgesprochen wird, sondern der allein zur Bewahrung der etymologischen Zusammenhänge benötigt wird. (Eine überwiegend orthophone Schreibung wurde zu Beginn des 19. Jhs. auch zu etablieren versucht, sie konnte sich jedoch wegen des Bruchs mit der westnordischen Sprachgeschichte nicht durchsetzen.) Das ð trägt u.a. dazu bei, Homophone wie vera ‚sein‘ und verða ‚werden‘: [ 've a ] auseinander zu halten. Je nach Dialekt werden entweder Hiatusfüller, v oder j, eingefügt: [ 'm av v ] ‚Mann [N.Sg.mask.]‘. Extrem ist die Homophonie z.B. bei [ 've v ], das (a) vevur ‚Webstuhl‘ (mit historisch korrektem v), (b) vegur ‚Weg‘ und (c) veður ‚Wetter‘ bedeuten kann. Zur Bewahrung der paradigmatischen Zusammenhänge werden weder Palatalisierungen wie in geva ‚geben‘ [ ' e va ] vs. gav ‚gab‘ [ ' ] noch die sog. färöische Schärfung wie in brúgv ‚Brücke‘ [ ] vs. brýir [ ' ] wiedergegeben, ebenso wenig die Diphthongierungen von ll und nn zu [dl] bzw. [dn] (vgl. kalla ‚rufen‘: [ 'kaddla ] oder seinni ‚später‘: [ ' ]). 2.2 Im Bereich des Vokalismus werden die nach dem Spätmittelalter festzustellende Vokalverschiebung sowie die Umlegung der Quantität von den Phonemen auf die Silbe orthografisch nicht wiedergegeben: die neuen Diphthonge erscheinen in der Schreibung weiterhin als (alte) Langvokale: í/ ý; ú, ó, á: [ , , , a ], wobei es - je nach Silbenstruktur - noch zu Kürzungen kommen kann: fór ‚fuhr‘ vor keiner oder vor einfacher Konsonanz: [ 'f ], vor doppelter Konsonanz wie bei fólk ‚Volk‘ hingegen: [ 'fœœlk ]. Ebenso wenig werden der Itakismus und andere Zusammenfälle von Vokalen in der Schreibung berücksichtigt. Beide alten langen i’s, die auf í und ý zurückgehen, werden [ ] ausgesprochen wie auch a und æ zu [ a ] zusammenfallen, wobei überrascht, dass letztere ebenfalls nun diphthongisch realisiert werden. Ein genuines langes a, das als [a ] ausgesprochen wird, gibt es in den allermeisten Dialekten jedoch nicht, was aus typologischer Sicht sehr ungewöhnlich ist. Nur in Fremdwörtern, die in der Regel alle aus dem Dänischen stammen, wie z.B. tomatur, gibt es ein langes a. Lehnwörter verhalten sich wie native Wörter (vgl. hospital ‚Krankenhaus‘ mit [- a -]). Eine Ausnahme bilden die Dialekte der nordöstlichen Inseln, bei denen das alte a wie in bátur ‚Boot‘ [N.Sg.mask.] erhalten geblieben ist. Im Üb- <?page no="33"?> V ERSCHRIFTUNG DER SKANDINAVISCHEN S PRACHEN 23 rigen gilt, dass - wie in allen skandinavischen Sprachen mit Ausnahme des Dänischen - die Länge im Vokalismus heute durch die Struktur der Silbe bestimmt wird (Silbenbalance), was bedeutet, dass nach Langvokalen oder Diphthongen in der Regel nur kurze Konsonanten auftreten können. (Langvokale mit nachfolgender Doppelkonsonanz treten nur in den festlandskandinavischen Sprachen auf und sind, sofern es sich nicht um westnorwegische Dialektformen handelt, in der Regel morphologisch-paradigmatisch bedingt.) 2.3 Im Nebentonsilbenvokalismus sind z.T. Phonemzusammenfälle eingetreten, die sich jedoch nicht in der Schreibung niederschlagen: die vier unbetonten (auslautenden) Vokalphoneme e, i, u und a fallen, sofern keine distinktive, an der Schreibung orientierte Aussprache vorliegt, zunehmend in zwei Schwachtonphonemen zusammen: / e [< , ], a/ . Die wahrscheinlich durch den Kontakt mit der zweiten Landessprache Dänisch bedingte Vokalisierung von v vor / n/ und / l/ wie in havn ‚Hafen‘ oder in høvlar ‚Hobel [N./ A.Pl. mask.] wird ebenfalls orthografisch nicht angezeigt. 2.4 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Färöische eine stark historisierende Schreibung bekommen hat, die sich an keiner Varietät orientiert, aber dadurch neutral und landesübergreifend vereinheitlichend wirkt. Kein Dialekt - eine Standardaussprache gibt es nicht - dominiert über andere, und die rekonstruierte, quasi altwestnordische Orthografie wirkt historisierend und letzten Endes dadurch aus identitätsstiftend. 3 Das Isländische: die vorgespiegelte historische Kontinuität 3.0 In weiten Teilen ergeben sich Parallelen zum gerade Ausgeführten, wobei jedoch die schreibsprachliche Kontinuität auf Island eine echte und keine rekonstruierte bzw. nur eine vorgespiegelte wie beim Färöischen ist, das vom Spätmittelalter bis Ende des 18. Jhs. über keinerlei schriftliche Quellen verfügt, da das Dänische alle schriftsprachlichen Domänen eingenommen hat. Dies zeigt sich u.a. auch an bei Beibehaltung von zwei Buchstaben, für die keine lateinischen Äquivalente (z.B. Digraphe wie im Englischen) eingesetzt wurden, nämlich ð/ Ð [ ð ] und þ/ Þ [ ] (engl. th). Da es kaum außersprachliche Zeugnisse gibt, die sehr weit in die Vergangenheit zurückreichen, ist es für die isländische Kultur von zentraler Bedeutung, die nationale wie vor allem aber auch die kulturelle Identität durch eine (so gut wie) unveränderte Schreibung auszudrücken. Dazu passt auch der rigorose Purismus, der den öffentlichen (und damit kontrollierbaren) Sprachgebrauch beherrscht und in dem Fremdwörter kaum auftreten. Hierfür spielen auch morphologische Gründe eine Rolle, da alle neuen Wörter sich in die bestehenden Flexionsparadigmen einzupassen hätten, was sich in sehr vielen Fällen als schwierig gestalten würde. 3.1 Im Bereich des Vokalismus findet sich wiederum der Itakismus von ý mit í. Mittlere und tiefe (alte) Langvokale werden ebenfalls - wie schon beim Färöischen ausgeführt - diphthongiert: é [je] (! ), ó [ o ], „æ“ (später ) [ ] (dieser Buchstabe wurde auch im Mittelalter ohne Akut [´] als Längezeichen geschrieben) sowie á [ a ], während die (alten) hohen Langvokale als solche erhalten bleiben: [i, u], wobei die Länge, wie bereits ausgeführt, seit dem Spätmittelalter durch die sog. Silbenbalance gesteuert wird. 3.2 Interessant ist, dass infolge eben dieser Umlegung der Quantität von den Einzelphonemen auf die Silben lange und kurze Diphthonge entstanden sind. Die alte Vokalqualität wird nun jedoch distinktiv, nachdem die Quantität anderweitig, d.h. durch die Silbe, ge- <?page no="34"?> K URT B RAUNMÜLLER 24 steuert wird. Dies führt zunächst zu einer Verdoppelung des Phoneminventars: í/ ý: / i( )/ vs. i/ y: / ( )/ . Pari passu gilt dies auch für die anderen Phoneme, wobei jedoch bei diesen eine Opposition zwischen gelängten alten Kurzvokalen und diphthongierten alten Langvokalen auftritt, was zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Inventars im Vokalismus führt, zumal wenn man bedenkt, dass es sowohl Kurzwie Langdiphthonge gibt. Im Übrigen bleiben die drei aus dem Spätgermanischen stammenden alten Diphthonge weiterhin erhalten: ei/ ey [ei( )] (mit Itakismus) sowie au [ øy( ) ]. 3.3 Betrachtet man den Konsonantismus, ist zu sagen, dass hier im Prinzip ähnliche Abbildungsbeziehungen wie im Färöischen auftreten. Daher wird sich die nachfolgende Übersicht nur auf einige besonders interessante Fälle konzentrieren. Vorweg ist zu sagen, dass es im Gegensatz zu den Färöern keine Dialekte im traditionellen Sinne gibt. Was auf Island zu finden ist, sind großräumige regionale Aussprachetendenzen, die sich jedoch in keinem Fall in der Schrift niederschlagen. In der Hauptstadt Reykjavík wie im Südwesten Islands gibt es eine eher ‚weiche‘ (linmæli genannt) und im Norden eine eher ‚harte‘ (harðmæli) Aussprache, was sich besonders bei der Realisierung der Opposition zwischen aspirierten stimmlosen Verschlusslauten und stimmlosen Lenes zeigt: / p …/ vs. / …/ . Orthografisch nicht markiert werden die Palatalisierungen vor mittleren und hohen vorderen Vokalen im Anlaut: / c -; -/ . Generell ist für die skandinavischen Sprachen zu sagen, dass sich derartige Palatalisierungen nie in der Schreibung niederschlagen und sie deshalb eigens gelernt werden müssen. Besonders interessant ist die Entstehung einer Opposition zwischen stimmlosen und stimmhaften Nasalen und Liquiden wie z.B. bei lamba [G.Pl.neutr.] ‚(der) Lämmer‘ vs. lampa [Gen.Pl.fem.]‚ (der) Lampen‘: [mb -] vs. [- -] oder bei kemba ‚kämmen‘ vs. kempa ‚Held‘. Genau genommen liegt bei allen diesen Fällen eine Art allophonischer Betriebsunfall vor, d.h. es werden natürliche (regressive) Kontaktphänomene zu phonematischen Unterschieden, weil es dazu stimmhafte Gegenstücke ohne Assimilation gibt. Die Präaspiration vor langen Verschlusslauten (also vor pp, tt, kk) sowie den Verbindungen von p, t, k mit einem weiteren Konsonanten bleiben graphemisch unmarkiert: / hp, ht, hk …/ . Dieses Phänomen tritt, wenn auch in schwächerer Form, im Färöischen sowie - anders realisiert - auch im Jütischen beim sog. westjütischen Stoßton auf: katt[e] ‚Katzen‘: [ 'k a t ]. 4 Das Dänische als Beispiel für eine Kompromissorthografie 4.0 Aufs Ganze gesehen ist das Dänische durch die komplizierteste Zuordnung von Phonemen und Graphemen im skandinavischen Raum gekennzeichnet. Die Sprache hat sich seit dem Hochmittelalter hinsichtlich der Aussprache dramatisch verändert (und verändert sich noch), wobei die Schreibung dieser Entwicklung nur in relativ wenigen Teilen gefolgt ist. 4.1 Im Bereich des Vokalismus wird die Vierstufigkeit des Systems in der Orthografie nicht wiedergeben, obwohl es Ansätze dazu von Rasmus Rask (1826) gegeben hat, der zwischen offenem ö und geschlossenem ø in der Schrift differenzieren wollte, was sich jedoch nicht durchgesetzt hat. D.h. eine graphematische Unterscheidung zwischen halbgeschlossenen und halboffenen Vokalen, also zwischen / e, ø, o/ und / , œ , / wie u.a. in Wörtern wie dør (a) ‚sterben [Präs.]‘ und (b) ‚Tür‘ findet nicht statt, wohl aber bei z.B. ser ‚sehen [Präs.] u. sær ‚sonderbar‘ sowie bei ord ‚Wort(e/ Wörter)‘ und år ‚Jahr(e)‘. <?page no="35"?> V ERSCHRIFTUNG DER SKANDINAVISCHEN S PRACHEN 25 Am gravierendsten für das Abbildungsverhältnis von Laut und Schrift dürften wohl die elf (3 auf -i und 8 auf -u) meist versteckten Diphthonge sein. Hinzu kommen noch die - auch im Deutschen auftretenden - Vokalisierungen auf r. Als Beispiele mögen dienen: røg / øi / ,Rauch‘; regn / ain / ‚Regen‘; saglig ‚sachlich‘ - afgøre ‚entscheiden‘: / au-/ ; syv: / syu/ ‚sieben‘; peber / peu / … sowie urter: [ ' ] ‚Kräuter‘. Wollte man die Schreibung der aktuellen (umgangssprachlichen) Realisierung anpassen, wäre Dänisch interskandinavisch nicht oder kaum mehr verstehbar. Nicht markiert werden kurze gespannte (! ) Vokale sowie die Absenkung bestimmter Kurzvokale wie z.B. in frisk ‚frisch‘ vs. smed ‚Schmied‘: [-e-] (Neutralisierung gegenüber der Graphie) oder synder ‚Sünden‘: [ø -] vs. sønner ‚Söhne‘: [œ -] (Verschiebung gegenüber der Graphie). 4.2 Beim Konsonantismus fällt in erste Linie die sog. Klusilschwächung im In- und Auslaut infolge der starken Akzentballung auf der 1. Silbe auf, wobei zuerst Spiranten entstehen, die Schwächung dieser Konsonanten jedoch bis hin zum totalen Verlust gehen kann (vgl. pige ‚Mädchen‘ [ ' / > 'p i j / > 'p i / -]. Ähnliches gilt für -d- und - mit starken Einschränkungen - auch für -b-. Des Weiteren ist eine Verstärkung der ohnehin schon extremen Aspiration im Anlaut (wie z.B. in to [ 't - ] ‚zwei‘) bis zur Affrizierung bei anlautendem #tvor i wie in tidlig [ 't -] ‚frühzeitig‘ zu beobachten. Ein -Laut wie im Deutschen oder Englischen fehlt im Dänischen völlig, was bei Fremdwörtern wie sherry oder chokolade durch eine diphthongische sibilantische Konstruktion ([ s -]) zu kompensieren versucht wird. Für das charakteristische sog. weiche d, das nur in- und auslautend auftritt, gibt es kein eigenes Graphem und auch keine annäherungsweise Transkription: [ ] (vgl. das Schibboleth rød grød med fløde ‚rote Grütze mit Sahne‘). Dieser Laut entfällt in jütischen Dialekten, wie in ude [ 'u ] ‚draußen‘, oder wird in westdänischer Regionalsprache durch / j/ ersetzt: fodbold [ 'fojj b l ] ‚Fußball‘. 4.3 Allgemein unter Linguisten bekannt ist das Dänische wegen des Stoßtons (stød), der dem sog. harten Einsatz im Deutschen qualitativ entspricht, jedoch k e i n Grenzsignal darstellt, sondern im Wortinneren vorkommt, vergleichbar dt. Student Innen. Er wird orthographisch nicht eigens markiert, tritt jedoch vor -nd/ -ld-Verbindungen auf, wobei Voraussetzung ist, dass es sich um Einsilbler handelt, bei denen entweder der Vokal lang ist oder, bei kurzem Vokal, die sich anschließende Konsonanz stimmhaft ist. Die Platzierung des stød ist im letzteren Fall wie auch bei Diphthongen nicht klar; sie kann vor oder nach der stimmhaften Konsonanz liegen bzw. vorhanden oder abwesend sein. Ebenso wenig markiert wird der westjütische Stoßton (s. Ende 3.3) wie auch die tonalen Akzente in einigen östlichen südjütischen Dialekten, die bei folgenden Einsilblern bedeutungsunterscheidend sind, aber ebenfalls nicht graphemisch markiert werden: hus (a) [ 'hu s ] ‚Haus‘ vs. (b) [^ ^huu s ]. Alles in allem kann man sagen, dass das heutige Dänisch sich am weitesten und unsystematischsten von allen skandinavischen Sprachen hinsichtlich des Verhältnisses von Aussprache zu Graphie wegentwickelt hat. Viele Aussprachen sind „ususreguliert“, d.h. sie stellen nicht weiter ableitbare Sonderfälle dar, was nicht nur Ausländern Schwierigkeiten bereitet. 5 Das Norwegische: ein Beispiel für eine lokal angepasste Orthografie 5.0 Die Mehrheitssprache in Norwegen in ihren beiden Erscheinungsformen, dem nichtoffiziellen Riksmål sowie dem offiziellen Bokmål, geht (seit 1380) auf das Dänische als <?page no="36"?> K URT B RAUNMÜLLER 26 Schriftsprache zurück, das erst im 20. Jh. orthografisch an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und in seiner Schreibung in mehreren Schritten (1907, 1917, 1938, 1959, 1981 und 2005) an die Dialekte, z.T. auch an die zweite Schriftsprache(nform), das Neunorwegische (Nynorsk), angenähert wurde. Die Anpassungen machen, von direkten Übernahmen dialektaler Merkmale wie der (sehr inkonsequenten) partiellen Wiedereinführung des femininen Genus oder den verschiedenen Formen des bestimmten suffigierten Artikels auf -a (fem. Sing.: sola ‚die Sonne‘ / neutr. Pl.: åra ‚die Jahre‘) oder den Präterital- und Partizip II-Formen, ebenfalls auf -a (wie in vaska ‚wusch; gewaschen‘ vs. [konservativ, am Dänischen orientiert] vasket), einmal abgesehen, die seit dem Hochmittelalter in Dänemark aufgetretenen Schwächungen im in- und auslautenden Konsonantismus wieder rückgängig, weil die lokalen Dialekte in Norwegen diese Entwicklung nicht mitgemacht haben. 5.1 Beim Konsonantismus fällt als erstes auf, dass in- und auslautende / b, d, g/ wieder als / p, t, k/ ausgesprochen und später auch wieder so geschrieben werden (Beispiele: dän. pibe wird zu pipe ‚Pfeife‘, ude zu ute (allerdings noch mit zu [ ] palatalisiertem u) ‚draußen‘ und kage > kake ‚Kuchen‘. Diese Restituierungen gelten für die Orthografie generell, nicht jedoch hinsichtlich der Aussprache für das südlichste Norwegen, das seine Nähe zum Dänischen bis heute in der Aussprache in Teilen bewahrt. Die Palatalisierung von bestimmten Anlautkombinationen ist wesentlich eingeschränkter als im benachbarten Schwedischen und stellt gegenüber der Gebersprache Dänisch eine Neuerung dar, die wiederum als Anpassung an die örtlichen Aussprachegewohnheiten zu sehen ist. Anders als im Schwedischen lösen jedoch nur i-haltige Vokale vor bestimmten Anlautverbänden solche Veränderungen in der Aussprache aus. Indirekt sind sie orthografisch insofern markiert, als dass sie alle durch ein i oder j vor dem Nukleus oder im Nukleus selbst anzeigen, dass sich der vorangehende Konsonant(enverband) in seiner Aussprache verändert hat (vgl. Beispiele wie ski / i / ‚Schi‘, skje / e / ‚Löffel‘, kjøpe / x ø pe/ ‚kaufen‘, gjest / j st/ ‚Gast‘). Dabei kommt dem Norwegischen die Orthografie des Dänischen des 19. Jhs. zu Hilfe, bei der zwar, wie z.B. in einem Wort wie Kjøbenhavn, ein j auftaucht, das jedoch in der Gebersprache stumm ist, also nicht realisiert wird. Die ebenfalls in den meisten örtlichen, genauer den östlichen Dialekten auftretenden Reflexlaute [ , , , , ] werden in der Schreibung nicht als solche gekennzeichnet, weil die Varietäten im Westen Norwegens meist ein uvulares R haben und somit keine mit den dental-alveolaren Konsonanten / t, d, n, s, l/ phonetische Einheit bilden können. Dies ist nur mit einem apikalen r möglich. Doch auch hier gibt es viele Inkonsequenzen bei den Varietäten, die ein apikales r kennen. Als Überreste dänischer Aussprachegewohnheiten wird das d in auslautenden -rd#-Kombinationen nicht gesprochen (norweg. ord [ 'u r ], ähnlich wie dän. ord [ 'o ]). Es wird jedoch biphonematisch realisiert, wenn die Silbengrenze dazwischen verläuft, wie in verdig [ x v rd ] ‚würdig‘. Mitunter ist die Aussprache, je nach dialektaler Basis, auch schwankend: Norden ‚der Norden [sc. Skandinavien]‘ kann wie beim Simplexwort mit stummem d oder mit Retroflex [ ] ausgesprochen werden, was wiederum zeigt, wie inkonsistent die Aussprache des Norwegischen in Bezug sowohl auf die örtlichen Mundarten wie im Hinblick auf die ehemalige Gebersprache Dänisch ausfällt. Aber wenn die Dialekte (wie auch in der deutschsprachigen Schweiz) die Umgangssprache darstellen, fallen solche Abweichungen in einzelnen Details nur Ausländern auf, die versuchen, Norwegisch zu lernen. 5.2 Beim Vokalismus macht sich wiederum die lokale mundartliche Basis bemerkbar: in den westnorwegischen Dialekte fand die ostskandinavische Monophthongierung (per defi- <?page no="37"?> V ERSCHRIFTUNG DER SKANDINAVISCHEN S PRACHEN 27 nitionem) nicht statt, so dass es durchweg noch stein und nicht sten ‚Stein‘ oder haust und nicht høst ‚Ernte, Herbst‘ heißt. Wenn Formen wie stein auch ins Bokmål Eingang gefunden haben, ist der Grund in der Annäherung an die andere Schriftsprache, dem Nynorsk, zu suchen. Es wird also das Rad der sprachgeschichtlichen Entwicklung in einen vor-ostskandinavischen Zustand zurückgedreht, so dass man eigentlich von einer pseudohistorischen Orthografie sprechen müsste, denn Formen wie stein treten im Dänischen nach der Mitte des 10. Jhs. nicht mehr auf. Ansonsten ist noch darauf hinzuweisen, dass das Norwegische wegen seiner Leseaussprache in Bezug auf das Dänische nur fünf und keine 11 Diphthonge kennt, jedenfalls sofern man sich auf die östlichen Aussprachevarietäten beschränkt. Beim Nynorsk treten - trotz seiner plansprachlichen Züge - keine grundsätzlich neuen Phänomene hinsichtlich der Abbildungsbeziehungen von Aussprache und Schreibung auf. Es gab zwar Ansätze für eine stärker dialektal-historisierende Schreibung wie für eine aussprachenahe Graphie, die sich jedoch beide nicht durchsetzen konnten, nicht zuletzt deswegen, weil vermieden werden sollte, dass diese neue Schriftsprache zu einer weiteren Fremdsprache im eigenen Lande wird, was das genaue Gegenteil dessen gewesen wäre, was sein Schöpfer, Ivar Aasen, anstrebte. 6 Das Schwedische: ein Beispiel für eine historisch bereinigte und der Aussprache angepasste Orthografie 6.0 Zu Beginn des 20. Jhs. wurden viele (aber nicht alle! ) stummen Grapheme beseitigt, wie z.B. das h in hv-Verbänden oder w nach f wie in hvem > vem ‚wer‘ bzw. hafwer > har (was wegen der sprechsprachlichen Verkürzung von haver > har wiederum einen Sonderfall darstellt). Erhalten blieben jedoch die stummen h’s in Wörtern wie in hjul ‚Rad‘ (homophon mit jul ‚Weihnachten‘) oder das d in djävul ‚Teufel‘, obwohl es nicht ausgesprochen wird. Das w wurde allerdings vor kurzem wieder (! ) wegen der zahlreichen aus dem Englischen entlehnten Wörter ins Alphabet aufgenommen. 6.1 Im Bereich des Konsonantismus ähnelt das Schwedische dem Norwegischen weitgehend: es gibt keine Markierung von Retroflexlauten, da im Süden ein gutturales R gesprochen wird. Im Ostschwedischen, also im Finnlandschwedischen, gibt es zwar ein apikales r wie in Zentralschweden, es findet jedoch keine Verschmelzung mit nachfolgenden dentalen/ alveolaren Konsonanten statt, was wohl auf die Zweisprachigkeit der Sprecher zurückzuführen ist. Denn das Finnische kennt keine Klusterbildungen, vor allem keine im Anlaut, noch irgendwelche Konsonantenamalgamierungen, seien es Retroflex- oder palatalisierte Lautkombinationen. 6.2 Bei den Vokalen ist eine (meist) konsequente Durchführung der Palatalisierung von anlautenden Konsonanten(kombinationen) vor allen (! ) vorderen Vokalen, also vor / i, y, e, ø, / zu beobachten. ‚Hilfszeichen‘ wie das j im Norwegischen werden somit nicht benötigt, also: skepp [ ' p ] ‚Schiff‘, göra [ x jœ ra ] ‚tun, machen‘ oder gärna [ x jæ a ] ‚gern‘. (Die extreme Öffnung der Vokale vor r bleibt ebenfalls graphematisch unberücksichtigt.) Wie im Norwegischen und den anderen skandinavischen Sprachen bestimmt seit dem ausgehenden Mittelalter die sog. Silbenbalance die Verteilung der Längen und Kürzen in betonten Silben. Abweichungen dazu sind nur aus paradigmatisch-morphologischen Gründen zulässig und durchbrechen die mechanischen Verteilungsprinzipien zwischen Vokalen und Konsonanten, wie etwa bei fint [ 'fi nt ], das sich aus / fi n / + / -t/ zusammensetzt und <?page no="38"?> K URT B RAUNMÜLLER 28 keine Kürzung des Lexemvokals nach sich zieht (vs. fink [ 'f nk ] ‚Fink‘). Einsilbler auf -m wie rum [ 'r m ] ‚Zimmer‘ erhalten kein zweites m, was wohl auf die Frakturschrift zurückzuführen ist, bei der eine Verdopplung eines so mächtigen Buchstabens wohl als störend empfunden worden wäre. Bei der definiten Form tritt jedoch die Verdoppelung ein (rummet ‚das Zimmer‘). Sonderphoneme wie / / - und bei den Konsonanten / / und / / , in älteren Transkriptionen in der Regel als / ç / notiert - werden graphematisch nicht eigens bezeichnet. Das / / erscheint als u und / / sowie / / als nicht eigens markierte s(k)-Verbindungen bzw. als palatale k- und tj-Kombinationen. 6.3 Festzuhalten bleibt, dass das Schwedische zwar noch weit von einer idealen 1: 1-Zuordnung, wie sie etwa im Finnischen vorliegt, entfernt ist, es jedoch von allen anderen skandinavischen Sprachen diesem Ziel am nächsten kommt, was sich auch in einer relativ schnellen Erlernbarkeit für Ausländer widerspiegelt. 7 Fazit Die im Titel zum Ausdruck gekommene These wurde bestätigt, wobei gezeigt werden konnte, dass das Spektrum bei historisch gewachsenen, bisweilen auch künstlich geschaffenen Orthografien beginnt, und das etymologische (oder ein historisierendes) Prinzip entweder zu Legitimierung der eigenen Sprachgeschichte oder zur Aufrechterhaltung einer Tradition dient. Abgesehen von isl. ð/ þ wird nichts Sprachspezifisches durch die Orthografien ausgedrückt, was weitgehend der europäischen Praxis entsprechen dürfte. Weiterführende Literaturhinweise Braunmüller, Kurt (2007): Die skandinavischen Sprachen im Überblick. 3. rev. Aufl., Tübingen, Basel: Francke [gibt einen umfassenden Überblick über die Phonetik und Phonologie der skand. Gegenwartssprachen]. Haugen, Einar (1984): Die skandinavischen Sprachen. Eine Einführung in ihre Geschichte. Hamburg: Buske (engl. Original London: Faber & Faber 1976) [liefert eine historische Übersicht über die skand. Sprachen]. Pullum, Geoffrey K. and William A. Ladsusaw, (1986): Phonetic symbol guide. 2. Aufl., Chicago, London: The University of Chicago Press [zur Erklärung phonetischer Symbole]. <?page no="39"?> Sein oder Nichtsein in der Passivkonstruktion Abraham P. ten Cate Während spätestens seit Glinz (1952) ziemlich allgemein angenommen wird, dass das Deutsche zwei Passivparadigmata kennt, nämlich ein werden- und ein sein-Passiv, verwendet das Niederländische, das über ein vergleichbares Formeninventar verfügt, in Perfekt und Plusquamperfekt anscheinend nur das zijn-Passiv, vgl. (1a): 1 (1a) Hatsjepsoets mummie is gevonden. (1b) Hatschepsuts Mumie ist gefunden. Obwohl die Form mit dem Perfektpartizip geworden zur Verfügung steht (siehe 1c), findet man beim Googeln die Formen mit und ohne geworden im Verhältnis 1: 55.000, wobei is/ was gevonden geworden nur acht Vorkommen zählt, so dass die Perfektkonstruktion (1c) als obsolet zu betrachten ist. Das hat aber die niederländischen Schulgrammatiken für den Deutschunterricht nicht davon abgehalten, die Passivform mit geworden in diesen Zeitformen zum Ausgangspunkt zu wählen (s. Hartmann 2007). Schüler sollen sich nämlich bei der Übersetzung der Konstruktion ZIJN + 2. P ARTIZIP immer fragen, ob Ergänzung durch geworden möglich ist: wenn ja, wie in (1c), dann ist das Verb passivierbar und ist vorschriftsmäßig und ausnahmslos mit SEIN + WORDEN ins Deutsche zu übersetzen, wie in (1d): (1c) Hatsjepsoets mummie is gevonden geworden. (1d) Hatschepsuts Mumie ist gefunden worden. In (1e) würde Ergänzung durch geworden dagegen zu einem eindeutig ungrammatischen Ergebnis führen, so dass ZIJN + 2. P ARTIZIP hier ohne worden übersetzt werden soll: (1e) Hatsjepsoets mummie is binnengekomen *geworden. Hatschepsuts Mumie ist eingetroffen. Durch Übergeneralisierung wird die Regel auch bei der Übersetzung von Schlagzeilen angewendet, wo das Partizip worden gewöhnlich fehlt, vgl. (2a) und (2b): (2a) Drugskoerier in Peru aangehouden (2b) Drogenschmugglerin in Peru festgenommen worden Allein schon wegen der großen Seltenheit der niederländischen Konstruktion ZIJN + 2. P ARTIZIP + GEVONDEN ist das Vorgehen nach der Grammatikregel äußerst problematisch: Satz (1c) ist, obwohl grammatisch in Ordnung, kaum akzeptabel, er „riecht“ gewissermaßen nach Grammatikunterricht. Die automatische Rechtschreibkorrektur in der niederländischen Version des Textverarbeitungsprogramms Word fordert sofort auf geworden in (1c) zu streichen. Es ist auch kaum anzunehmen, dass Niederländer die Einsetzungsregel auf der Basis ihrer linguistischen Intuition korrekt anwenden können: vielmehr liegt der Beurteilung grammatisches Wissen über Passivierbarkeit zu Grunde, wodurch die Argumentation an Zirkularität leidet. Nicht berücksichtigt wird zudem, dass das sein-Passiv 1 Dieser Arbeit liegt ten Cate (erscheint a) zu Grunde. Bei einem Vortrag während des Magdeburger Kolloquiums zeigte sich Wilfried Kürschner an den besprochenen Phänomenen sehr interessiert, aber als homo grammaticus bedauerte er das Verschwinden des sein-Passivs aus den komplexen Tempora zutiefst. Siehe auch Kürschner (1989: 98f.). <?page no="40"?> A BRAHAM P. TEN C ATE 30 auch zum deutschen Formeninventar gehört, so dass auch (1b) eine mögliche Übersetzung von (1a) ist. Eine durchgehende buchstäbliche Übertragung der niederländischen Passivkonstruktion würde somit allenfalls zu einer Unterrepräsentierung der Form mit dem Passivpartizip worden führen. 1 Vergleich der deutschen und niederländischen Formen Wie aus den mit der Google-Suchmaschine im Internet gefundenen Sätzen (3) bis (5) hervorgeht, kommen Passivformen mit geworden im Niederländischen durchaus vor: (3) ... het aandeel is toch opgesplitst geworden in fortis en fortis rechten. ... die-Aktie-is-doch-aufgespalten-worden-in-fortis-und-fortis-Ansprüche (4) Violen ... zijn gebouwd geworden en worden nog steeds gebouwd in ... Europa. Geigen-sind-gebaut-worden-und-werden-noch-immer-gebaut-in-Europa. (5) Eerder waren we verdwaald geweest en gevonden geworden. Vorher-waren-wir-verirrt-gewesen-und-gefunden-worden. Satz (5) enthält das Verb vinden/ finden, auf das sich diese Untersuchung konzentriert. Wenn man auf die Verbindung gevonden geworden stößt, dann am ehesten in amtlichem, altmodischem oder archaischem und theologischem bzw. biblischem Sprachgebrauch, vgl. (6)-(9): (6) om een geschikte grond te vinden die zou dienen tot het oprichten van een eigen gemeentehuis (en) overwegende dat die grond niet gevonden geworden is, ... um-ein-geeignetes-Grundstück-zu-finden-das-würde-dienen-zum-Errichten-eines-eigenen- Gemeindehauses-und-erwägend-dass-dieses-Grundstück-nicht-gefunden-worden-ist (7) ... dat nu onlangs door seekeren soldaat in dit guarnisoen bescheijden, op deese stranden soude sijn gevonden geworden vijftig Spaanse matten, ... (1742) dass-nun-neulich-von-gewissem-Soldaten-in-dieser-Garnison-verlautet,-an-diesen-Stränden-würden-sein-gefunden-worden-fünfzig-Spanische-Matten,-... (8) Bij het bebouwen van den grond zijn daar onderscheidene huishoudelijke overblijfselen gevonden geworden, ... (1856) Beim-Bebauen-des-Grundstücks-sind-dort-verschiedene-Haushaltsreste-gefunden-worden,-... (9) ... en het bloed der profeten en der heiligen is in haar gevonden geworden, en van al degenen, die op de aarde zijn omgebracht. ...-und-das-Blut-der-Propheten-und-der-Heiligen-ist-in-ihr-gefunden-worden-und-aller-derer,die-auf-Erden-umgebracht-worden-sind. Die Seltenheit der geworden-Form im Niederländischen erklärt auch wohl das häufige Vorkommen von Regelverstößen, wenn geworden doch eingesetzt wird. So findet man nicht selten geworden statt der Infinitivform worden, etwa in (10)-(13): (10) Hij mag zeker gezien geworden. Er-darf-sicher-gesehen-geworden. (11) Tsja, Kessel ... In zo'n gat wil niemand dood gevonden geworden. Tsja,-Kessel-...-In-so-einem-Kaff-will-niemand-tot-gefunden-geworden. (12) Daarin kan geen grond gevonden geworden voor het oordeel dat ... Darin-kann-kein-Grund-gefunden-geworden-für-das-Urteil-dass-... (13) Dat RBC nóg nadrukkelijker de aanval ging zoeken mag niet anders dan normaal geworden gevonden. Dass-RBC-noch-nachdrücklicher-den-Angriff-ging-suchen-darf-nicht-anders-als-normal-geworden-gefunden. <?page no="41"?> S EIN ODER N ICHTSEIN IN DER P ASSIVKONSTRUKTION 31 Beispiel (12) entstammt einem Urteil des Raad van State (2005), eines der höchsten niederländischen Staatsorgane, und illustriert, dass Unsicherheit über die Passivformen auch in gebildeten Kreisen vorkommt. Sogar doppelter Gebrauch des Passivverbs werden kommt vor, wie in (14) und (15): (14) Aboutaleb is een nare man die niet serieus geworden gevonden word door zijn eigen volk. Aboutaleb-ist-ein-unangenehmer-Mann-der-nicht-seriös-geworden-gefunden-wird-von-seinemeigenen-Volk. (15) een vrouw wil bijzonder gevonden geworden worden eine-Frau-will-besonders-gefunden-geworden-werden Deutschsprecher haben vergleichbare Probleme mit der Passivkonstruktion, u.a. bei der Wahl zwischen worden und geworden, siehe (16)-(19): (16) Zuerst waren in den Vereinigten Staaten Ende August Spuren von LL601-Reis in Reiscontainern gefunden geworden. (17) Kein Stein bleibt auf dem anderen, bis die Verantwortlichen für den Korruptionsskandal gefunden geworden sind. (18) In Istanbul war eine Bombendrohung gegen das Flugzeug gefunden geworden. (19) Mein Benutzerbild ist unter Google gefunden geworden. Für doppelten Gebrauch des Passivverbs werden findet man ebenfalls Belege, so (20) und (21): (20) ... genug Leute eingeladen worden geworden, die zu diesem Thema etwas zu sagen haben. (21) ... die sind sogar für mich erfreulich und gewünscht geworden worden 2 Der Gebrauch der passivischen Tempusformen Wir werden im Folgenden der Frage nachgehen, in wieweit die verschiedenen Tempusformen der beiden Passivkonstruktionen im Deutschen und im Niederländischen gebräuchlich sind. (22) zeigt eine Übersicht der indikativischen Tempusformen des Passivs, eingeteilt nach sein- und werden-Passiv: (22) Das Paradigma von sein-/ zijn- und werden-/ worden-Passiv WERDEN -P ASSIV WORDEN - PASSIEF 1 P RÄSENS Das Messer wird gefunden. Het mes wordt gevonden. 2 P ERFEKT Das Messer ist gefunden worden. Het mes is gevonden geworden. 3 P RÄTERITUM Das Messer wurde gefunden. Het mes werd gevonden. 4 P LUSQ . Das Messer war gefunden worden. Het mes was gevonden geworden. 5 F UTUR I Das Messer wird gefunden werden. Het mes zal worden gevonden. 6 F UTUR II Das Messer wird gefunden worden sein. Het mes zal gevonden zijn geworden. SEIN -P ASSIV ZIJN - PASSIEF 7 P RÄSENS Das Messer ist gefunden. Het mes is gevonden. 8 P ERFEKT Das Messer ist gefunden gewesen. Het mes is gevonden geweest. 9 P RÄTERITUM Das Messer war gefunden. Het mes was gevonden. 10 P LUSQ . Das Messer war gefunden gewesen. Het mes was gevonden geweest. 11 F UTUR I Das Messer wird gefunden sein. Het mes zal gevonden zijn. 12 F UTUR II Das Messer wird gefunden gewesen sein. Het mes zal gevonden zijn geweest. <?page no="42"?> A BRAHAM P. TEN C ATE 32 Um einen umfassenden Eindruck von dem Gebrauch der Passivformen in den beiden Sprachen zu bekommen wurden im Internet die unter (23) und (24) aufgeführten Daten zu den Verben finden und vinden erhoben: 2 (23) Deutsche Passivformen mit finden und ihre Häufigkeit: 1 wird/ werden gefunden gefunden wird/ werden 17.500.000 45 3 wurde/ n gefunden-gefunden wurde/ n 19.900.000 52 2 ist/ sind gefunden worden gefunden worden ist/ sind 202.500 0.5 4 war/ waren gefunden worden gefunden worden war/ waren 80.200 0.2 weitere Formen mit gefunden worden 407.300 1.1___98.8 % 7 ist/ sind gefunden (minus worden) gefunden ist/ sind 407.000 1.1 9 war/ waren gefunden (minus worden) gefunden war/ waren 119.600 0.3 8 ist/ sind gefunden gewesen gefunden gewesen ist/ sind 6 0 10 war/ waren gefunden gewesen gefunden gewesen war/ waren 0 0 weitere Formen mit gefunden gewesen 390 0___ 1.4 % Insgesamt 38.616.996 (24) Niederländische Passivformen mit vinden und ihre Häufigkeit: 1 wordt/ worden gevonden gevonden wordt/ worden 1.960.000 51 3 werd/ en gevonden gevonden werd/ en 448.500 12 2 is/ zijn gevonden geworden gevonden geworden is/ zijn 1.030 4 was/ waren gevonden geworden gevonden geworden was/ warengevonden was/ waren geworden 7 weitere Formen mit gevonden geworden 397 ___ 63 % 7 is/ zijn gevonden gevonden is/ zijn 1.347.000 35 9 was/ waren gevonden gevonden was/ waren 86.600 2 8 is/ zijn gevonden geweest gevonden geweest is/ zijn 1030 10 was/ waren gevonden geweest gevonden geweest was/ warengevonden was/ waren geweest 1020 Weitere Formen mit gevonden geweest 0 ___ 37 % Insgesamt 3.845.584 Für manche Futurformen konnten keine zuverlässigen Daten gefunden werden. Futur-II- Formen nach den sein- und zijn-Paradigmas wurden überhaupt nicht angetroffen. Da Futurformen zudem häufig eher als modal denn als temporal zu bewerten sind, bleiben diese Formen hier unbesprochen. In beiden Sprachen kommen die Perfekt- und Plusquamperfektformen relativ selten vor, Plusquamperfektformen des sein-Passivs konnten sogar überhaupt nicht belegt werden. Beim sein/ zijn-Passiv wird von nur zwei Formen, nämlich den Präsens- und den Präteritumformen (ist/ war gefunden) ein nennenswerter Gebrauch gemacht, während für alle Tempusformen des werden/ worden-Passivs hinreichend Belege gefunden werden. Selbst- 2 Die Tabellen (23) und (24) zeigen das Ergebnis einer einfachen Datenerhebung mit Hilfe der Google- Suchmaschine, mit den bekannten Vor- und Nachteilen, die mit dem Gebrauch von Google zur Erhebung sprachlicher Daten verbunden sind. Zu nennen sind als Vorteile der schnelle Zugriff und die enorme Datenmenge, als Nachteile die Heterogenität der gefundenen Texte und die Rohheit der Daten, verursacht durch die beschränkten Suchmöglichkeiten. Durch den sich rasch ausdehnenden Umfang des im Internet vorhandenen Materials is das Ergebnis auch nur eine Momentaufnahme, die allerdings für die Entwicklungstendenzen repräsentativ sein dürfte. <?page no="43"?> S EIN ODER N ICHTSEIN IN DER P ASSIVKONSTRUKTION 33 verständlich kann man sich bei der grammatischen Beschreibung der verschiedenen Tempusformen der Passivkonstruktionen nicht auf die häufig vorkommenden Formen beschränken, aber die Daten zeigen, dass ein vollständiges Tempusparadigma des sein-Passivs eine Fiktion ist, ein grammatisches Konstrukt ohne Realitätsgehalt. Im Deutschen sind nicht weniger als 97 % der Passivvorkommen bei finden einfache Präsens- und Präteritalformen (wird/ wurde gefunden). Einfach heißt, dass das Passivverb einfach ist, denn das Passivprädikat besteht natürlich wohl aus mindestens zwei Verbformen. Es sieht so aus, als ob die Häufigkeit mit zunehmender Komplexität abnimmt: Prädikate mit bis zu vier Verbformen sind zwar theoretisch möglich, werden aber, anders als im Niederländischen, gewöhnlich kaum gebraucht, so z.B. war gefunden gewesen mit null Vorkommen. Bemerkenswert ist der große Abstand zwischen Präsens- (51 %) und Präteritalformen (12 %) im Niederländischen: Dies könnte dadurch erklären werden, dass Präsensformen sowieso deutlich mehr gefunden werden als Präteritalformen, nl. im Allgemeinen zwei bis drei Mal so oft. Befremdlich ist dann aber das relative Gleichgewicht im Vorkommen von Präsens- und Präteritalformen im Deutschen, nämlich 45 gegen 52 Prozent. Im Deutschen haben die Perfekt- und Plusquamperfektformen des Vorgangspassivs ( WERDEN + GE - FUNDEN WORDEN ) zusammen genommen mit 0.7 % eine relativ geringe Präsenz. Demgegenüber ist das Präsens des sein-Passivs ( SEIN gefunden) mit 1.1 Prozent etwas stärker vertreten, was aber auch hier wieder durch das relativ häufige Vorkommen der Präsensformen überhaupt erklärt werden kann. Auffällig ist die Häufigkeit der einfachen Formen des niederländischen zijn-Passivs (is/ was gevonden), sie stellen nämlich mit 35 % ein Drittel der Passivformen. Auch wenn diese Form im Niederländischen durch das Fehlen der Perfektform des geworden-Passivs potenziell eine höhere Gebrauchsfrequenz hat, bleibt ein großer Unterschied zu den deutschen ist/ war gefunden (worden)-Formen, die eine sehr viel geringere Gebrauchsfrequenz haben. Es wurde schon festgestellt, dass mit dem Partizip geworden gebildete Passivformen im Niederländischen äußerst selten sind, aber auch das Deutsche bevorzugt die Formen ohne das Partizip eindeutig: Die Formen ohne und mit worden kommen in unserer Übersicht des Verbs finden im Verhältnis 2: 1 zugunsten der wordenlosen Formen vor. D.h. dass zwar die Formen des werden-Passivs weitaus häufiger vorkommen als die des sein-Passivs, dass aber das Verhältnis gerade in den kritischen Fällen, wo die beiden Formen konkurrieren, eher umgekehrt ist! Abschließend und zusammenfassend kann zu den Daten unter (23) und (24) festgestellt werden, dass das werden-Passiv im Deutschen mit 99 % gegenüber nur 1 % für das sein- Passiv eindeutig bevorzugt wird. Im Vergleich aber sind die Perfekt- und Plusquamperfektformen mit worden (ist/ war gefunden worden) mit 0.7 % gegenüber den konkurrierenden Formen des sein-Passivs (ist/ war gefunden) mit 1.4 % um die Hälfte weniger frequent 3 . Alle anderen Formen des sein-Passivs sind so selten, dass sie praktisch als hypothetische Formen betrachtet werden sollen. Eine Überprüfung der gleichen Formen mittels des Suchfensters auf der Webseite www.blog.de, die im Allgemeinen Texte eines verhältnismäßig niederen Sprachniveaus 3 Delvaux (1996) beobachtet, dass die deutschen Formen mit worden relativ jung sind: vermutlich wurden sie von den Grammatikern des 17. und 18. Jahrhunderts (u.a. Schottel (1663) und Adelung (1782)) propagiert. Demnach würde das Niederländische einen Zustand repräsentieren, der einmal auch für das Deutsche galt. <?page no="44"?> A BRAHAM P. TEN C ATE 34 mit hoher umgangssprachlicher Nähe durchsucht, ergibt ein vergleichbares Bild. Passivformen kommen im Blogdeutschen im Vergleich zum Googledeutschen allerdings durchweg weit weniger vor und gefunden + SEIN -Formen mit mehr als zwei Verbformen (z.B. gefunden gewesen ist), die mit Google noch spärlich gefunden wurden, sind überhaupt nicht vertreten. Für die unter (23) aufgeführten Formen fanden sich folgende Werte: Kategorie 1) 1027 (44% der Passivvorkommen in Blog.de); 2) 891 (38 %); 3) 41 (1.8 %); 4) 30 1.3 %); (gefunden worden) 107 (7.7 %); 7) 155 (6,7 %); 8) 69 (3 %); Belege für 9), 10) und die Verbindung gefunden gewesen wurden überhaupt nicht gefunden. Aus dem sein-Passivparadigma können auf Grund der Häufigkeitsanalyse die Perfekt- und Plusquamperfektformen gestrichen werden, wodurch das Paradigma auf ein übersichtliches Präsens/ Präteritum-Paar zusammenschrumpft. Die quantitativen Daten liefern eine kräftige Unterstützung der Ellipsehypothese, durch die das sein-Paradigma ganz aus der grammatischen Beschreibung verschwindet. Außerdem wird das Präsens/ Präteritum- Paar als ein Perfekt-Plusquamperfekt-Paar enttarnt. Auch das Niederländische scheint diese Auffassung zu unterstützen, denn diese Sprache weist klaffende Löcher im worden- Paradigma auf, die nur durch die Formen mit ZIJN gestopft werden können. Tabelle (25) zeigt das Ergebnis dieser Reduktion: (25) Das deutsche und niederländische Passivparadigma P RÄSENS Das Messer wird gefunden. Het mes wordt gevonden. P ERFEKT Das Messer ist gefunden (worden). Het mes is gevonden. P RÄTERITUM Das Messer wurde gefunden. Het mes werd gevonden. P LUSQ . Das Messer war gefunden (worden). Het mes was gevonden. Im Folgenden werden neben den soeben erörterten quantitativen Gesichtspunkte die qualitativen Gründe für eine Vereinfachung des Passivparadigmas erörtert. 3 Kategoriebestimmung Maienborn (2007: 85f.) nennt die hier unter (26) vorgeführten vier verschiedenen Möglichkeiten zur Beschreibung des sein-Passivs: (26) (a) Das sein-Passiv als Vorgangspassiv-Ellipse; (b) Das sein-Passiv als eigenes Genus verbi; (c) Das sein-Passiv als Resultativum; (d) Das sein-Passiv als Kopula-Konstruktion. Anhänger von Option (a) sind laut Maienborn besonders ältere Beschreibungen, etwa Grimm (1837) und Behaghel (1924); (b) ist die seit Glinz (1952) in grammatischen Beschreibungen übliche Position 4 . Auch die Duden-Grammatik (2009, 552ff.) huldigt Auffassung (b), sie integriert aber auch, ebenso wie Zifonun u.a. (1997: 1808ff.), Standpunkt (c) („Resultativkonstruktion“), die von Litvinov/ Nedjalkov (1988) vertretene Möglichkeit; (d) ist ebenfalls mit (c) vereinbar, diese Variante wird insbesondere von Maienborn selbst vertreten. Zifonun u.a. 1997: 1821ff. besprechen die Kopulakonstruktion, lassen sie aber nur in solchen Fällen zu, wo das Partizip eindeutig in die Klasse der Adjektive übergegangen ist, z.B. bei un-Präfigierung (ungeöffnet). Auch die Duden-Grammatik er- 4 Allerdings nennt schon Blatz (1895, Bd 1: 570) „ein zweites mit sein gebildetes Passiv, welches das Bestehen eines dauernden Zustandes bezeichnet (Zustandspassiv) und in den verschiedenen Zeiten und Moden gebräuchlich ist …“. <?page no="45"?> S EIN ODER N ICHTSEIN IN DER P ASSIVKONSTRUKTION 35 kennt die Kopulakonstruktion an, aber nur bei lexikalisierten Partizipien wie begabt, bewegt, gerührt. Es handelt sich bei den vier Möglichkeiten um sehr diverse Auffassungen, die sowohl auf morphologische wie auf syntaktische und semantische Besonderheiten Bezug nehmen. In der Diskussion fehlt der temporale Gesichtspunkt völlig. In (27): (27) Das Messer ist gefunden. ist der verbale Teil als sein-Passiv ein Präsens, aber als elliptisches werden-Passiv laut Schema (22) als ein Perfekt zu bewerten. Als Präsensausdruck beschreibt (27) einen Sachverhalt, der zum Sprechzeitpunkt (tS) vorliegt, als Perfektausdruck wird der Sachverhalt als vor tS liegend beschrieben und beide Lesarten von (27) sind potenziell möglich. In beiden liegt durch die präsentische finite Verbform deiktischer Gegenwartsbezug vor. Wenn SEIN als Kopula bewertet wird, ist bei (27) natürlich nur die Präsenszuordnung möglich 5 . In vielen Beschreibungen (so u.a. ten Cate e.a. 2008: 120f.) wird die Grammatizität der Varianten unter (28) in Frage gestellt: (28a) Das Messer ist vor einer Viertelstunde gefunden. (28b) Das Messer ist von Wilfried gefunden. (28c) Das Messer ist vor einer Viertelstunde von Wilfried gefunden. Die Ergänzungen vor einer Viertelstunde und von Wilfried erzwingen eine verbale Lesart von gefunden, was an sich nicht als Indiz gegen eine nominale, adjektivische Zuordnung von gefunden in anderen Kontexten zu bewerten ist. Die Situation, dass eine Form sowohl nominale wie verbale Eigenschaften hat, kommt u.a. auch bei Nominalisierungen vor, die ebenfalls mit Dauerangaben verbunden sein können, obwohl es sich bei ihnen eindeutig um Substantive handelt, z.B. in die jahrelange Vernachlässigung unseres Institutsgebäudes. Auch kann eine Partizipialkonstruktion des hier besprochenen Typs gut attribuiert werden, wie in (28d): (28d) das vor einer Viertelstunde von Wilfried gefundene Messer Beispiele für Verbindungen eines Passivpartizips mit einer von-Phrase sind leicht zu finden, siehe (29)-(32): (29) kein Pop3 Server gefunden von Thunderbird (30) Ein Gedicht gefunden von Bernd Müller-Thederan (31) Sesterz des Antoninus Pius - gefunden von Schülerinnen/ Lehrer der Louise-Otto-Peters Schule Wiesloch (32) Fehler gefunden von JH am 16.6.2003 Nach Zeitadverbien finden sich regelmäßig Passivformen ohne worden, vgl. (33) und (34): (33) Die Räume sind seit Jahren an einen Arzt vermietet. (34) Bach war nach seinem Tode jahrzehntelang vergessen. Vorkommensbeschränkungen des sein-Passivs sind überhaupt schwer auszumachen. Maienborn (2007: 104) gibt als Beispiele kosten (‚einen Preis haben’) und freuen, die in sein- Passiven kaum akzeptabel seien, aber die auch kaum mit werden passiviert werden können. Maienborn nennt auch regnen, für das sie das in der Tat unakzeptable Beispiel (35a) gibt, aber einerseits ist das korrespondierende werden-Passiv (35b) auch unakzeptabel, 5 In ten Cate (erscheint b) wird gezeigt, dass auch bei den Passivformen Perfekt und Plusquamperfekt die Funktion des Präteritums übernehmen. <?page no="46"?> A BRAHAM P. TEN C ATE 36 während sich andererseits aber auch Beispiele für Verbindungen von SEIN + REGNEN finden lassen, die völlig akzeptabel sind, wie (36) und (37): (35a) *Es ist geregnet. (35b) *Es wird geregnet. (36) ... [sie] glauben, dass das dunkle Material aus dem All auf den Mond herabgeregnet ist. (37) Luxus, der vom Himmel geregnet ist Zwar erlaubt regnen in beschränktem Maße ein Objekt (Bindfäden, Hunde und Katzen, Auszeichnungen, Preise, Geschenke, Blut, Feuer, Absagen, Steine und offenbar auch Luxus), aber Passivierung ist nie möglich (*Preise werden geregnet): In (36) und (37) liegt das Perfekt des intransitiven Verbs regnen vor. Ellipse wird im Deutschen in bestimmten Fällen nicht akzeptiert, während im Niederländischen, wie vorher gezeigt wurde, so gut wie nie ein Partizip des Passivverbs worden erscheint, vgl. (38a) und (38b): (38a) De vier Amerikanen die bij het ongeluk zijn omgekomen zijn gisteren teruggevlogen naar hun land. (NOS-Nachrichten 02.03.2009) (38b) Die vier Amerikaner, die bei dem Unfall umgekommen sind, sind gestern in ihre Heimat zurückgeflogen (worden). Natürlich ist (38a) im Prinzip ambig zwischen einer transitiven Passivlesart und einer intransitiven Aktivlesart des Verbs terugvliegen, aber der Kontext sorgt dafür, dass die intransitive Lesart sofort als unpassend markiert wird. Im Deutschen führt in einer solchen Situation das Weglassen des Passivpartizips worden praktisch zu einem ungrammatischen Satz: in (38b) ist das Passivpartizip so gut wie unentbehrlich. Dazu noch ein vergleichbares Beispiel unter (39), selbstverständlich mit worden: (39) Am Wochenende waren 33 Leichen mit einer russischen Sondermaschine von Friedrichshafen aus nach Ufa zurückgeflogen worden. (Handelsblatt 08.07.2002) In (40) wäre worden dagegen unangebracht: (40) Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton hat ihren zweitägigen China-Besuch beendet und ist in die USA zurückgeflogen. (Ad hoc news 27.7.2009) Der Satz wird nicht als Passivkonstruktion verstanden: wenn diese Interpretation durch worden expliziert wird, wird Clinton als Objekt einer Handlung und damit gleichsam als passiver Gegenstand beschrieben, was eine unpassende Vorstellung ergibt. Während also worden in (39) kaum weglassbar ist, ist es in (40) kaum einsetzbar. Zumindest in Fällen, wo das Partizip des Passivverbs werden mögliche transitive und intransitive Lesarten desambiguiert, ist es unverzichtbar. Haeseryn (1997: im Weiteren zitiert als ANS) bemerkt zu den niederländischen Passivformen: „Das Passivperfekt besteht aus einer Form des Verbs zijn in Verbindung mit dem Passivpartizip des selbständigen Verbs“ (ANS 959f., Übers. tC), vgl. (41) und (42a): (41) Iemand had mijn portemonnee gestolen. Jemand-hatte-mein-Portmonee-gestohlen. (42a) Mijn portemonnee was gestolen. Mein-Portmonee-war-gestohlen. ANS bemerkt dann, „[das Partizip gestolen in (42a) gehört aber] nur scheinbar zum Hilfsverb zijn. Zijn kann als temporales Hilfsverb zum Partizip geworden betrachtet werden“, wie in (42b): <?page no="47"?> S EIN ODER N ICHTSEIN IN DER P ASSIVKONSTRUKTION 37 (42b) Mijn portemonnee was gestolen [geworden]. Mein-Portmonee-war-gestohlen-[worden]. Abschließend stellt ANS fest: „Standardsprachlich wird geworden gewöhnlich nicht ausgedrückt. … Der Gebrauch von geworden hat durch seine Überflüssigkeit etwas Umständliches.“ ANS scheint hier Anhänger der Ellipse- oder Defizithypothese zu sein, aber auf Seiten 1403f. wird trotzdem ein Unterschied ausgemacht: Passivsätze mit worden werden als agensorientiert gekennzeichnet und deshalb als „dynamisch passiv“ bezeichnet, während Passivsätze mit zijn resultatorientiert genannt werden und somit als „statisch passiv“ bezeichnet werden. Hier wird also mit „dynamisch“ und „statisch“ Anschluss an das Begriffspaar „Vorgangs-“ und „Zustandspassiv“ gefunden. Es liegt somit eine Widersprüchlichkeit in der Beschreibung vor, die zum Teil auch dadurch verursacht wird, dass nach der Defizithypothese die Ausdrücke is gestolen und was gestolen temporal ambig sind: defizitär sind sie Perfekt- und Plusquamperfektformen, während sie in dem dualen Schema als Präsens- und Präteritumformen des zijn-Passivs zu bewerten sind. Die Auffassung, dass es sich bei den Formen ZIJN + 2. P ARTIZIP um Perfekt- und Plusquamperfektformen des Passivs handelt, ist ziemlich allgemein, so auch Pollmann (1975) und Klooster (2001). Dieser Auffassung ist auch NEON zugetan, aber man erwägt auch die Möglichkeit einer Kopulakonstruktion. (43) ist ambig: (43) De winkel is gesloten. Der-Laden-ist-geschlossen. Die Ambiguität wird bei adverbialer Erweiterung aufgehoben: (43a) De winkel is al jaren gesloten. (Kopulakonstruktion) Der-Laden-ist-schon-seit-Jahren-geschlossen. (43b) De winkel is twee weken geleden gesloten. (Passiv) Der-Laden-ist-vor-zwei-Wochen-geschlossen-(worden). D.h., die in NEON (Siehe Literatur) auch besprochene Variante eines sein-Passivs wird offensichtlich für das Niederländische nicht in Erwägung gezogen, es liegt in jedem Nukleussatz (wie 43) latent ein Nebeneinander von sein-Passiv und Kopulakonstruktion vor. Das ist eine aussichtsreiche Position: In vielen Fällen wird man gar nicht entscheiden können, welche Art Konstruktion vorliegt, und schon gar nicht in einfachen Nukleussätzen ohne Kontext. Desambiguierend sind natürlich vor allem temporale Adverbien und Agensangaben, d.h. sie sind Indikatoren für eine verbale Lesart von SEIN + 2. P ARTIZIP - Konstruktionen. 4 Fazit Die niederländische Situation ist relativ einfach, denn im Niederländischen wird nur eine Passivform aktiv verwendet. Da somit keine Konkurrenz zwischen zwei Passivformen vorliegt, ist ZIJN + P ASSIVPARTIZIP die Perfektform des Passivs, aber diese Konstruktion kann u.U. durchaus auch als K OPULA + A DJEKTIV gedeutet werden, mit Präsenslesart. Auch für das Deutsche kann die hier oben geschilderte Annahme gemacht werden, nämlich dass eine Proposition mit SEIN + 2. P ARTIZIP potenziell ambig ist zwischen der Kopula- und der Passivlesart, aber damit ist die Frage des Bipassivs nicht gelöst, denn die beiden Formen konkurrieren. Maienborns Lösung des Problems ist, die Konstruktion ohne worden immer als Kopulaverbindung zu klassifizieren. Es ist aber logisch nicht auszuschließen, dass eine Kopulakonstruktion unabhängig von der Passivkonstruktion besteht <?page no="48"?> A BRAHAM P. TEN C ATE 38 (siehe dazu ten Cate (erscheint b)). Die Frage, ob neben dem Paradigma des werden-Passivs ein sein-Passiv-Paradigma besteht, entzieht sich somit einer einfachen Antwort. Dagegen spricht jedenfalls die hier empirisch nachgewiesene Unvollständigkeit des sein-Paradigmas, die als ein Indiz dafür zu bewerten ist, dass die sein-Formen verkürzte Passivformen sind. Dagegen spricht auch, dass Konstruktionen dieses Typs drei mögliche Lesarten hätten, nämlich als verkürzte werden-Passivform, als sein-Passiv oder als Kopulaverbindung, und das ist des Guten zuviel, um so mehr da eine sein-Konstruktion auch noch zwei verschiedene Tempusfunktionen zum Ausdruck bringen kann, wodurch sogar eine vierte Lesart möglich wird. Wenn etwas einfach beschrieben werden kann, sollte man, Ockhams Rasiermesser gehorchend, nicht die kompliziertere Lösung wählen, und allein schon deshalb scheint mir die Position eines durchgehenden werden-Passivs mit einer elliptischen Variante zu bevorzugen. Daneben kommt dann eine K OPULA + A DJEKTIV -Konstruktion vor, die in manchen Fällen von der elliptischen Variante des Passivs nicht oder nur schwer zu unterscheiden ist. Literatur Adelung, Johann Christoph (1782). Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache. Leipzig: Breitkopf. Behaghel, Otto (1924). Deutsche Syntax. Band II, Die Wortklassen und Wortformen. B. Adverbium. C. Verbum. Heidelberg: Winter. Bickel, Hans (2006). Das Internet als linguistisches Korpus. Linguistik online 28, 3/ 06 (www.linguistikonline.de/ ). Blatz, Friedrich (1895, 3. Auflage). Neuhochdeutsche Grammatik. 2 Bde. Karlsruhe: Lang. ten Cate, Abraham P., Lodder, Hans G., Kootte, André (2008, 3. Auflage). Deutsche Grammatik. Eine kontrastiv deutsch-niederländische Beschreibung für den Fremdspracherwerb. Bussum: Coutinho. ten Cate, Abraham P. (erscheint a). sein- und werden-Passiv im deutsch-niederländischen Sprachvergleich. (Vortrag auf dem 43. Linguistischen Kolloquium, Magdeburg, 11.9.2008). ten Cate, Abraham P. (erscheint b). Tempus und Diathese. (Vortrag auf dem 44. Linguistischen Kolloquium, Sofia, 9.9.2009). Delvaux, Peter (1996). Das Zustandsperfekt überhaupt. In: Runa, Revista Portuguesa de Estudos Germanísticos 26, 765-774. Duden. Die Grammatik. (2009, 8. Auflage). Mannheim: Dudenverlag. Glinz, Hans (1952, 3. Aufl. 1962). Die innere Form des Deutschen. Bern: Francke. Grimm, Jacob (1837). Deutsche Grammatik. Band IV. Göttingen: Dieterich Haeseryn, Walter J. M., Romijn, K., Geerts, G., de Rooij, J., van den Toorn, M.C. (1997, 2. Auflage). Algemene Nederlandse Spraakkunst (ANS). Groningen: Nijhoff. Hartmann, Tina (2007). Das Zustandspassiv als Problemquelle beim Erlernen des Deutschen als Fremdsprache. Eine kontrastive Betrachtung des Niederländischen und Deutschen hinsichtlich ihrer Analysemöglichkeiten der Formen von sein + Partizip II eines Verbs. Ms. Universität Groningen. Klooster, Willem G. (2001). Grammatica van het hedendaags Nederlands: een volledig overzicht. Den Haag: Sdu. Kürschner, Wilfried (1989). Grammatisches Kompendium. Systematisches Verzeichnis grammatischer Grundbegriffe. Tübingen: Francke (= UTB1526) Litvinov, Viktor P., Nedjalkov, Vladimir P. (1988). Resultativkonstruktionen im Deutschen. Tübingen: Narr. <?page no="49"?> S EIN ODER N ICHTSEIN IN DER P ASSIVKONSTRUKTION 39 Maienborn, Claudia (2007). Das Zustandspassiv. Grammatische Einordnung - Bildungsbeschränkung - Interpretationsspielraum. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 35.1, 83-114. Neon - Nederlands Online: neon.niederlandistik.fu-berlin.de. Pollmann, Mathijs M. W. (1975). Oorzaak en handelende persoon: de beschrijving van passieve zinnen in de Nederlandse grammatica. Nijmegen, Diss. Schottel, Justus Georg (1663). Ausführliche Arbeit von der teutschen Haubtsprache. Braunschweig: Zilliger. Zifonun, Gisela, Hoffmann, Ludger, Strecker, Bruno (1997). Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin: de Gruyter. <?page no="51"?> The Acoustic Performances of Phonetic Segments in Oral Speech Olga Gowin In order to analyze oral speech, it is vitally important to segment speech flow. There are different methods that can be used but the most widespread method is the segmentation of temporary and frequency areas, where the syllable is the basic unit. Potapova has been researching this type of speech segmentation for a number of years by examining various languages, such as German, English and Swedish. According to Potapova (Zlatoustova et al. 1997: 382), “a syllable is more reliable and independent of variation than phonemic systems because it allows for the simultaneous comparison of more data fragments. Syllables serve as a basis for determining sounds and their position in line with other units in connected speech”. The following acoustic indications are traditionally used when determining syllabic boundaries: the length of a vowel in a part of a word, the spectral (qualitative) indications of adjacent sounds, and the change in intensity on a segment. In addition, the following factors are taken into account: the articulation-acoustic features of a language, the presence or absence of an accent in a syllable, the acoustic stress of a syllable, and the position of a syllable in a phonetic word or in a phrase (cf. Potapova and Lindner 1991). For my research purposes, rhythmic structure (RS) was selected as the basic unit in oral speech segmentation. A rhythmic structure can be defined as “a minimal group of syllables united by one centralized accent” (Zlatoustova 1981: 63). In order to determine the boundaries of a rhythmic structure, it is necessary to know the physical characteristics of sounds. Length is the most important acoustic characteristic for determining the phonetic boundaries of a rhythmic structure (cf. Potapova 1986). It is expressed as a change in the relative length of a consonant and a vowel, divided by a pause. Intensity also plays an important role in determining word structure. The change in intensity at a word boundary, namely its recession, points at a presence of a word break. There are also several other factors that delimit a rhythmic structure (RS): “The pronunciation style of an utterance, the type of pronunciation, the role of a phonetic word in a superphrasal unit and the position of a phonetic word in a phrase” (Zlatoustova et al. 1997: 265) are taken into account in addition to the length (change in time), frequency of the main tone (FMT) and intensity. The syntagma was selected as a larger unit for the analysis of my research. It is defined as “a phonetic unit expressing a single semantic whole in the speech - thought process” (Scherba 1963: 86). The acoustic correlates of syntagmatic boundaries are determined by the following prosodic characteristics: the frequency of the main tone (FMT), intensity and length. Firstly, the change in the main tone (FMT) in a syntagma, which is the melodic contour of a syntagma, depends on the position of the syntagma in an utterance. Secondly, the level of intensity is determined by analysing the general range in intensity at the syntagmatic boundary within the rhythmic structure (RS) and also by the velocity of change in intensity at the boundary where the stressed vowels are found. Finally, the change in the length of syllables while segmenting depends on the rhythmic configuration of the rhythmic structure (RS) at syntagmatic boundaries. <?page no="52"?> O LGA G OWIN 42 Thus, the acoustic segmenting of continuous speech into smaller segments is a complicated process that depends on linguistic, physiological, psychological and a number of other factors. References Potapova, Rodmonga (1986): Syllabic phonetics of the German languages. Moscow: a higher school. (In Russian) Potapova, Rodmonga and Gerhart Lindner (1991): Features of a German pronunciation. Moscow: a higher school. (In Russian) Scherba, Leo (1963): Phonetics of the French language. Moscow: a higher school. (In Russian) Zlatoustova, Lubov (1981): Phonetic units of Russian speech. Moscow: MSU. (In Russian) Zlatoustova, Lubow, Rodmonga Potapova, Vsevolod Potapov and V. Trunin-Donskoi (1997): General and applied phonetics. Moscow: MSU. (In Russian) <?page no="53"?> Nominalkomposita mit -gespräch als Bezeichnungen für Dialogtypen? Götz Hindelang 1 Einleitung Wilfried Kürschner hat in den 70er Jahren mit seiner Dissertation und einer Reihe weiterer Veröffentlichungen gründliche Untersuchungen zur Nominalkomposition vorgelegt. Für seine Festschrift einen Beitrag zu einem Thema anzubieten, das mit Nominalkomposition zu tun hat, scheint also nicht abwegig zu sein. Allerdings soll im Folgenden nicht die Theorie der Nominalkomposition vorangebracht werden, es sollen vielmehr durch die Untersuchung von Komposita mit -gespräch als Grundwort Klärungen auf dem Gebiet der Dialoglinguistik vorbereitet werden; genauer gesagt soll das Verhältnis von Dialogtypen und dialogtypbezeichnenden Ausdrücken in den Blick genommen werden. Die Fragestellung des Aufsatzes liegt also an der Schnittstelle zwischen Wortbildungslehre und Dialoglinguistik. In einem ersten Schritt werden die verschiedenen Wortbildungstypen, bei denen -gespräch als Grundwort vorkommen kann, auf der Grundlage von Ortner (1991) vorgestellt. Als Materialgrundlage dient dabei zunächst das Cosmas-Korpus. Die Anfrage bei Cosmas für *gespräch ergibt ca. 4000 Zusammensetzungen. Trotz dieser großen Datenmenge verlässt sich die folgende Untersuchung aber nicht ausschließlich auf die Auswertung dieses Korpus. Zusätzlich wurde auch gefragt, welche Substantivkomposita mit -gespräch nach Ortner (1991) prinzipiell erwartbar sind. Für manche der Kompositatypen von Ortner (1991) gab es bei Cosmas kaum Belege. So führt Ortner (1991: 526) z.B. die Gruppe der Bewirkungskomposita wie Gruselfilm auf. (Ein Gruselfilm ist ein Film, der beim Betrachter Gruseln verursacht.) Für Komposita dieses Typs mit -gespräch gab es im Cosmas-Korpus nur ein Beispiel. Deshalb wurde im Internet nach weiteren möglichen Bildungen dieses Typs gesucht und Belege wie Gruselgespräch, Horrorgespräch, Kotzgespräch und Stressgespräch wurden gefunden. Wo eine Zuordnung der Belege aus dem Cosmas-Korpus zu den Wortbildungstypen bei Ortner (1991) nicht möglich war, wurden neue Typen vorgeschlagen. 1 In einem zweiten Schritt wird dann eine Untergruppe genauer betrachtet, bei der die erste Konstituente eine Handlung oder ein Handlungsziel nennt (z.B. Schlichtungsge- 1 In der Forschung haben sich Bak (1998) und Adamzik (2000) mit dem Problem der gesprächsbezeichnenden Ausdrücke und ihrer Gliederung auseinandergesetzt. Beide stützen sich bei ihren Untersuchungen auf eine Liste mit 862 gesprächsbezeichnenden Ausdrücken, die Franke (1990) als Anhang zu seinem Buch „Elementare Dialogstrukturen“ gegeben hat. Aus Platzgründen kann auf diese beiden Aufsätze hier nicht näher eingegangen werden. Es muss genügen, die zwölf Klassen von Benennungskriterien aufzuführen, die Bak (1998) vorgeschlagen hat. Er unterscheidet: Zweckbestimmung des Gesprächs (Überzeugungsdiskurs), Thema/ Inhalt des Gesprächs (Fußballgespräch), Teilnehmer des Gesprächs (Starinterview), Ort des Gesprächs (Straßendiskussion), Zeit des Gesprächs (Abendgespräch), Grund des Gesprächs (Krisengespräch), Art und Weise des Gesprächsvorkommnisses oder der Gesprächsführung (Blitzgespräch, Wechselgespräch), Benennung nach akustischen Faktoren (Zwitschergespräch), Medium der Gesprächsführung (Telefongespräch), Status bzw. der Qualität des Gesprächs (Nebengespräch, Scherzdebatte), Quantität bzw. Umfang des Gesprächs (Teilgespräch) und Wirkung des Gesprächs (Entspannungsgespräch). <?page no="54"?> G ÖTZ H INDELANG 44 spräch, Klärungsgespräch). Es wird die Hypothese aufgestellt, dass solche Wortbildungen als Kandidaten für dialogtypbezeichnende Ausdrücke in Frage kommen können. 2 Komposita mit -gespräch nach dem Gliederungsprinzip von Ortner (1991) Für die Beschreibung der Substantivkomposita bei Ortner (1991: 120) ist charakteristisch, dass die Konstituenten von Komposita als „Träger semantischer Rollen“ interpretiert werden. Solche Rollen sind z.B. „Agens-Actio“ (Polizei-Razzia), „Ursache-Wirkung“ (Feuerschaden), „Teil-Ganzes“, (Korbdeckel), „Ort-Actio/ Ereignis“ (Straßenschlacht) etc. Im Folgenden werden die Wortbildungstypen bei Ortner (1991) aufgezählt, bei denen Komposita mit -gespräch als Grundwort im Cosmas-Korpus oder im Internet belegbar sind. Die Zahl (in Klammern) nach dem Beleg gibt an, wie häufig das Kompositum im Cosmas-Korpus vorkommt. Beispiele ohne solche Angaben stammen aus dem Internet. Im Einzelnen werden angegeben: der Typ bei Ortner (1991) mit Kapitel und Seitenzahl, ein Beispiel mit Paraphrase a) und einige weitere Beispiele b). 1) Typ „Äquativ“: Qualifizierende Größe-qualifizierte Größe (Ortner 3.1, 161-169) a) Ausnahmegespräch (1): ein Gespräch, das eine Ausnahme ist/ bildet/ darstellt b) Grundlagengespräch, Mustergespräch, Routinegespräch (17) 2) Typ „Äquativ“: Spezies-Gattung (Ortner 3.4, 182-187) a) Klatschgespräch (2): ein Gespräch, das zur Sorte/ Art Klatsch gehört b) Audienzgespräch (2), Dialoggespräch (3), Diskussionsgespräch (18), Small-Talk- Gespräch (3) 3) Typ „Nominatorisch/ Appellativ“: Äußerung-Äußerungsform (Ortner 4.2, 193) a) Was-tust-du-wie-geht’s-Gespräch (1): ein Gespräch, das Was-tust-du-wie-geht’s lautet; ein Gespräch, in dem die Äußerungsform Was-tust-du-wie-geht’s vorkommt b) Jetzt-mal-unter-uns-Gespräch (1) 4) Typ „Komparational“: Vergleichsgröße-Verglichenes (Ortner 5.1, 196-203) a) Mammutgespräch: ein Gespräch, das so groß ist wie ein Mammut b) Bandwurmgespräch, Foltergespräch, Hammergespräch, Marathongespräch (4), Rahmengespräch (1), Schlüsselgespräch (1) 5) Typ „Substitutiv“: Äquivalent-Leistung (Ortner 7.2, 217) a) Zwanzigdollar-Gespräch (1): ein Gespräch, das zwanzig Dollar kostet b) 10000-Mark-Gespräch (1) 6) Typ „Figurativ“: Erscheinungsform-Masse/ Einzelgröße (Ortner 10.1, 225-228) a) Transkriptionsgespräch: ein Gespräch, das in Form einer Transkription vorliegt b) keine weiteren Beispiele 7) Typ „Konstitutional“: Masse/ Elemente-Konfiguration (Ortner 11.1, 238-242) a) Frage-Antwort-Gespräch (1): ein Gespräch, das aus Fragen und Antworten gebildet ist b) Frage-Gespräch (1) 8) Typ „Partitiv/ Soziativ“: Kollektiv-Element (Ortner 17.4, 363-367) a) Archiv-Gespräch (1): ein Gespräch, das zu einem Archiv gehört b) Korpusgespräch <?page no="55"?> N OMINALKOMPOSITA MIT - GESPRÄCH ALS B EZEICHNUNGEN FÜR D IALOGTYPEN ? 45 9) Typ „Themaorientiert“: Thema/ Inhalt-Ausdrucksform/ Veranstaltung 2 (Ortner 19.1, 386-395) 3 a) Sportgespräch (129): ein Gespräch, das den Sport zum Thema hat b) Atomgespräch (8), Bildungsgespräch (34), Ernährungsgespräch (2), Glaubensgespräch (310), Jugendgespräch (31), Kulturgespräch (100), Literaturgespräch (147), Musikgespräch (3), Steuergespräch (18), Umweltgespräch (20) etc. 10) Typ „Zielorientiert“: Bezugsrichtung-zielorientierte Größe 4 (Ortner 19.5, 405-414) a) Friedensgespräch (103): ein Gespräch, das auf Frieden abzielt, ausgerichtet ist b) Sicherheitsgespräch (31) 11) Typ „Referentiell“: Partner-Interaktion(sform)/ Relation (Ortner 19.6, 414-416) a) Arzt-Patienten-Gespräch (24): Gespräch, das ein Arzt mit Patienten führt b) Abgeordnetengespräch (13), Historikergespräch (3), Journalistengespräch (54), Kanzlergespräch (28), Pressegespräch (7670), SPD-Gespräch (38), SPIEGEL-Gespräch (27), Vieraugengespräch (307), Zeitzeugengespräch (165) etc. 12) Typ „Lokal“: Ort-Actio/ Ereignis (Ortner 21.5, 470-473) 5 a) Kneipengespräch (29): ein Gespräch, das in einer Kneipe stattfindet b) Ateliergespräch (35), Cafégespräch (19), Clubgespräch (8), Flurgespräch (5), Kamingespräch (401), Museumsgespräch (396) etc. 13) Typ „Temporal“: Zeitpunkt-Actio/ Ereignis (Ortner 22.4, 496-499) 6 a) Morgengespräch (26): ein Gespräch, das am Morgen stattfindet b) Abendgespräch (42), Feierabendgespräch (34), Herbstgespräch (81), Montagsgespräch (47), Ostergespräch (7), Wochenendgespräch (19) etc. 14) Typ „Temporal“: Dauer-Actio/ Ereignis (Ortner 22.12, 506) a) Fünfminutengespräch (1): ein Gespräch, das fünf Minuten dauert b) 18-Stunden-Gespräch (1), 20-Minuten-Gespräch (1), Fünfstundengespräch (1), Drei-Stunden-Gespräch (1) etc. 15) Typ „Konditional/ Okkasional“: Bedingung/ Anlass-Actio/ Ereignis (Ortner 23.4, 511- 513) a) Krisengespräch (906): ein Gespräch, das anlässlich einer Krise geführt wird b) Antrittsgespräch (13), Besuchsgespräch (1) Geburtstagsgespräch (5), Jour-Fixe- Gespräch (7), Erntedankgespräch 7 (1), Eröffnungsgespräch (8) 2 Viele Belege dieses Kompositionstyps beziehen sich auf Gespräch in der Lesart ‚organisierte Veranstaltung, in der über ein bestimmtes Thema gesprochen wird‘. 3 Kürschner (1974: 181) setzt für diesen Typ folgende Tiefenstrukturformel an: „THEMA A -OBJ B -{sei über}“. Als eines der Beispiele für diesen Typ führt er Koalitionsgespräch an. 4 Bei dieser Gruppe entstehen Zuordnungsprobleme. Einerseits hat diese Gruppe Ähnlichkeit mit der Gruppe 9), d.h. ein Sicherheitsgespräch kann auch nur ein Gespräch sein, das das Thema ‚Sicherheit‘ hat. Andrerseits überschneidet sich die Gruppe auch mit der Gruppe 20) (‚Actio-Mittel‘), bei der das Gespräch als Mittel für eine bestimmte Handlung oder zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses angesehen wird, wie z.B. in Versöhnungsgespräch oder Überzeugungsgespräch. 5 Kürschner (1974: 192) setzt für diesen Typ folgende Tiefenstrukturformel an: „LOC[-dyn] A -REL- N B “. Als eines der Beispiele für diesen Typ führt er u.a. Parlamentsdebatte an. Alternativ käme auch die Formel „LOC[-dyn] A -OBJ B - {stattfind}“ in Frage. Vgl. Kürschner (1974: 192 bzw. 172). 6 Kürschner (1974: 193) setzt für diesen Typ folgende Tiefenstrukturformel an: „TEMP A -REL-N B “. Als eines der Beispiele für diesen Typ gibt er Nachtwanderung an. 7 Hier gibt es Überschneidungen mit anderen Gruppen. Erntedankgespräch könnte auch der Gruppe 13) zugeordnet werden: Gespräch, das am Erntedanktag geführt wird, oder Gruppe 20): Gespräch, wodurch der Erntedank vollzogen wird. Ähnliche Zuordnungsprobleme gibt es auch bei Eröffnungs- <?page no="56"?> G ÖTZ H INDELANG 46 16) Typ „Kausal“: Grund/ Ursache-Folge/ Wirkung (Ortner 24.4, 517-521) a) Höflichkeitsgespräch (4): ein Gespräch, das aus Höflichkeit geführt wird b) Hassgespräch (1), Liebesgespräch (4) 17) Typ „Konsekutiv/ Kausativ“: Bewirkungskomposita (Ortner 25, 526-529) a) Tränengespräch: ein Gespräch, das Tränen verursacht b) Gruselgespräch, Horrorgespräch, Kotzgespräch, Mutgespräch (1), Stressgespräch 18) Typ „Modal“: Modalität-Actio (Ortner 27.3, 536-538) a) Kreisgespräch (9): ein Gespräch, das in einem Kreis durchgeführt wird b) Face-to-Face-Gespräch (2), Flüstergespräch (1), Kungelgespräch (1), Livegepräch (9), Open-End-Gespräch (2), Nonstop-Gespräch (1), Stehgespräch, Stegreifgespräch 19) Typ „Instrumental“: Mittel-Actio (Ortner 28.2, 542-545) a) Telefongespräch (2753); Telephongespräch (232): ein Gespräch, das per Telefon geführt wird b) Funktelefongespräch (5) Handygespräch (42), Handy-Gespräch (33), Mobiltelefongespräch (1), Mobilfunkgespräch (3), Walkie-Talkie-Gespräch (1) 20) Typ „Aktional“: Actio-Mittel (Ortner 31.13, 610-622) 8 a) Versöhnungsgespräch (86): ein Gespräch, das als Mittel der Versöhnung dient; Gespräch, mittels dessen man sich mit jemanden versöhnen will b) Beratungsgespräch (2415), Bewerbungsgespräch (1274), Informationsgespräch (1274), Klärungsgespräch (40), Planungsgespräch (96), Schlichtungsgespräch (176), Vermittlungsgespräch (160) etc. Damit sind die zwanzig Gruppen bei Ortner (1991) dargestellt, in die sich Komposita mit dem Zweitglied -gespräch einordnen lassen. Die Durchsicht der Wortformen im Cosmas-Korpus ergab, dass es vier Typen von Komposita mit -gespräch gibt, die sich nicht gut in die Klassen von Ortner (1991) einordnen lassen. Es sind dies − Komposita, die die Abfolge und Anordnung von Gesprächen zum Ausdruck bringen: Abschlussgespräch, Folgegespräch, Nachfolgegespräch, Seitengespräch, Schlussgespräch etc. 9 − Komposita, bei denen das Erstglied sich auf eine Handlung bezieht, während derer das Gespräch begleitend geführt wird: Behandlungsgespräch, Massagegespräch, Spaziergespräch − Komposita, bei denen das Erstglied sich auf eine Malzeit bezieht, während derer das Gespräch stattfindet: Dämmerschoppengespräch, Dinnergespräch, Frühschoppengegespräch. Dieses Kompositum könnte man auch 20) zuordnen: Ein Gespräch, womit etwas eröffnet wird. 8 Zu dieser Gruppe wurden bei der Analyse des Materials nur solche Komposita gezählt, bei denen das Erstglied eine Ableitung aus einem Verbalstamm bildet. 9 Zur Erfassung aller Komposita, die sich auf die Abfolge und Anordnung von Gesprächen beziehen, müsste man auch Bildungen wie Nachgespräch oder Vorgespräch mit einbeziehen, bei denen das Erstglied eine Präposition ist. (Vgl. Ortner (1991: 807-818)). Auf die Einbeziehung dieser Formen wird hier aus Platzgründen ebenso verzichtet wie auf Bildungen der Form Adv.+Substantiv (Vorabgespräch) und Adj.+Substantiv (Direktgespräch, Kurzgespräch). <?page no="57"?> N OMINALKOMPOSITA MIT - GESPRÄCH ALS B EZEICHNUNGEN FÜR D IALOGTYPEN ? 47 spräch, Frühstücksgespräch, Jausengespräch, Lunch-Gespräch. Verwandt mit dieser Gruppe ist auch die lexikalisierte Form Tischgespräch − Komposita, bei denen im Erstglied das Getränk genannt wird, das man während des Gesprächs konsumiert: Biergespräch, Schoppengespräch, Teegespräch, Kaffeegespräch. 3 Zwischenbilanz: Komposita mit -gespräch und Gesprächstypologie Die obige Auflistung der verschiedenen Komposita der Form N+N hat gezeigt, dass -gespräch als Zweitglied von N+N-Komposita voll an den Möglichkeiten der Wortbildung partizipiert. Dieser Befund wird natürlich nicht überraschen. Insbesondere die Gruppen 9) (Thema), 10) (Teilnehmer), 12) (Ort) und 20) (Mittel) sind sehr produktiv. So kann z.B. für jede Person oder Personengruppe, die an einem Gespräch teilnimmt, leicht ein entsprechender Ausdruck mit -gespräch gebildet werden. Deshalb tauchen Eigennamen von Personen, die an dem Gespräch beteiligt waren, häufig als Erstglied der Komposition auf (Gauck-Gespräch, Kinski-Gespräch, Bubis-Walser-Gespräch). Schon diese Beispiele zeigen, dass nicht jedes Kompositum mit -gespräch als Kandidat für die Bezeichnung eines Gesprächstyps in Frage kommt. Da es unüberschaubar viele Sprecher gibt, mit deren Eigennamen man Komposita mit -gespräch bilden könnte, müsste es auch ebenso viele Gesprächstypen geben. Ähnlich verhält es sich bei den Gruppen 9) (Thema), 13) (Ort) und 14) (Dauer). Es können prinzipiell unendlich viele Themen angesprochen werden, sie können an den verschiedensten Orten stattfinden und von unterschiedlichster Dauer sein. All das kann durch Komposita zum Ausdruck gebracht werden. Es ist nicht anzunehmen, dass jeder Ort, an dem gesprochen wird, oder jedes Thema, das verhandelt wird, die Annahme eines gesonderten Gesprächstyps rechtfertigt. Ist die Untersuchung von gesprächssortenbezeichnenden Ausdrücken für die Etablierung einer Gesprächstypologie nun völlig nutzlos? Ich glaube nicht. Man wird sich jedoch auf solche Gruppen von Komposita konzentrieren müssen, bei denen unterstellt werden kann, dass die so bezeichneten Gespräche eine ganz bestimmte innere Struktur besitzen. Diese Struktur kann dadurch determiniert sein, dass mit diesen Gesprächen ein bestimmtes Ziel angestrebt werden soll. Darüber hinaus wird man für einen Gesprächstyp postulieren dürfen, dass zumindest einer der Sprecher eine spezifische Kompetenz besitzt, die ihn zur Führung dieses speziellen Gesprächstyps befähigt. Von den oben aufgeführten 20 Typen von Komposita mit -gespräch als Zweitglied scheinen am ehesten die Mitglieder der Gruppe 20) als Kandidaten für eine nähere Untersuchung geeignet, ob sie als Bezeichnungen für Gesprächssorten gelten können. Das ist deshalb der Fall, weil hier im Erstglied die Handlung genannt wird, die im Gespräch oder durch das Gespräch vollzogen wird. Das mit der Handlung angestrebte Ziel wirkt strukturgebend auf den Verlauf des Gesprächs. Diese Gruppe 20) soll deshalb im Folgenden näher untersucht werden. 4 Komposita der Struktur ‚Actio-Mittel‘ Im Erstglied steht ein Ausdruck, der eine Handlung repräsentiert, die durch das Gespräch vollzogen werden soll. Oder das Erstglied bezeichnet ein Ziel bzw. Ergebnis, das durch ein Gespräch erreicht werden soll. Betrachten wir einige Beispiele: Anwerbegespräch, Diagnosegespräch, Kennenlerngespräch, Klärungsgespräch, Kündigungsgespräch, Motivationsgespräch, Orientierungsgespräch, Rechtfertigungsgespräch, Rekrutierungsgespräch, Schlichtungsgespräch, Überzeugungsgespräch. <?page no="58"?> G ÖTZ H INDELANG 48 Ein Anwerbegespräch führt der Sprecher Sp1, um seinen Gesprächspartner Sp2 zu etwas anzuwerben. Man könnte auch sagen, Sp1 versucht Sp2 anzuwerben, indem er ein Gespräch führt. Ein Diagnosegespräch führt Sp1, um bei Sp2 etwas diagnostizieren zu können; der Zweck eines Klärungsgesprächs ist es, etwas zu klären usw. Formal gesehen kommen im Erstglied Ableitungen aus Verbalstämmen mit -ung, -(at)ion, -e und -ing vor. − -ung: Ablenkungsgespräch, Begrüßungsgespräch, Bewerbungsgespräch, Eingliederungsgespräch, Einweisungsgespräch, Entlassungsgespräch. Erkundungsgespräch, Ermahnungsgespräch, Orientierungsgespräch, Personalentwicklungsgespräch, Problemlösungsgespräch, Prüfungsgespräch, Schlichtungsgespräch, Überzeugungsgespräch, Untersuchungsgespräch, Verlobungsgespräch, Versöhnungsgespräch, Vorstellungsgespräch, Zielvereinbarungsgespräch etc. (vgl. Wellmann 1975: 211) − -(at)ion: Agitationsgespräch, Explorationsgespräch, Evaluationsgespräch, Informationsgespräch, Inspektionsgespräch, Konversionsgespräch, Konsultationsgespräch, Kooperationsgespräch, Motivationsgespräch, Qualifikationsgespräch, Reklamationsgespräch, Selektionsgespräch, Supervisionsgespräch etc. (vgl. Wellmann 1975: 215) − -e: Ablösegespräch, Abnahmegespräch, Abwerbegespräch, Aufnahmegespräch, Auslesegespräch, Vergabegespräch, Vorbeugegespräch, Übergabegespräch etc. (vgl. Wellmann 1975: 234) − ø-Ableitungen: Flirtgespräch, Kaufgespräch, Trostgespräch, Verkaufgespräch etc. (vgl. Wellmann 1975: 229 - 234) − -ing (bei Fremdwörtern aus dem Englischen): Castinggespräch, Coaching-Gespräch, Clearinggespräch, Ratinggespräch, Recruiting-Gespräch etc. Im Folgenden werden die Bildungen auf -ung näher untersucht. Sie stellen den größten Teil der Komposita nach dem Muster „Actio-Mittel“ dar. Dabei soll jedoch die Betrachtungsperspektive verändert werden. Im Vordergrund steht nicht mehr die Beschreibung der internen Struktur der Komposita, sondern die Frage: Welche dieser Ausdrücke können möglicherweise als Bezeichnungen für Gesprächstypen gelten? Um von einem Gesprächstyp sprechen zu können, müssen einzelne Gesprächsverläufe oder Gesprächsexemplare bestimmte signifikante Ähnlichkeiten aufweisen. Aufgrund welcher Faktoren lassen sich solche strukturellen Übereinstimmungen nun erwarten? Wie schon oben erwähnt, wirkt die Tatsache, dass in einem Gesprächstyp ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, strukturbildend. Will z.B. Sp1 X verkaufen und Sp2 will X kaufen, dann müssen, wenn der Preis für X nicht vorher festgesetzt ist, notwendigerweise bestimmte sprachliche Handlungen vollzogen werden. Sp1 muss ein Angebot machen, Sp2 kann dies akzeptieren oder ablehnen. Er kann seinerseits ein Gegenangebot machen. Angebote und Gegenangebote können modifiziert werden. Am Ende muss das Akzeptieren eines möglicherweise modifizierten Angebots stehen oder es muss festgestellt werden, dass man sich doch nicht hat einigen können (vgl. Hundsnurscher 2001). Diese verschiedenen Züge werden, in unterschiedlicher Anordnung und Ausgestaltung, in allen Gesprächsverläufen nachweisbar sein, die sich aus der oben skizzierten Situation entwickeln. Man wird sie unter den Gesprächstyp ‚Aushandlungsgespräch‘ zusammenfassen können. Im Folgenden sollen nun eine Reihe von Komposita mit -gespräch als Zweitglied nach den Faktoren geordnet werden, die dafür verantwortlich sind, dass man bei den entsprechenden Gesprächen bzw. Gesprächsverläufen strukturelle Gemeinsamkeiten erwarten <?page no="59"?> N OMINALKOMPOSITA MIT - GESPRÄCH ALS B EZEICHNUNGEN FÜR D IALOGTYPEN ? 49 darf. Den größten Grad an Ähnlichkeit weisen Gespräche auf, die von außen her mehr oder minder normiert sind. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Gespräche, bei denen in Institutionen oder Organisationen immer wieder die gleichen kommunikativen Probleme professionell gelöst werden müssen. Nicht selten stehen diese Gespräche unter juristischen Vorgaben oder Rahmenbedingen und müssen schon von daher bestimmten Anforderungen hinsichtlich Ablauf und Inhalt genügen. In anderen Fällen wünscht eine Organisation, z.B. eine Firma, einen möglichst reibungslosen, kommerziell erfolgreichen oder sonst wie für sie günstigen Kommunikationsverlauf. Die Betriebe lassen deshalb ihre Mitarbeiter für bestimmte Gesprächsformen schulen. Die Mitarbeiter erwerben dadurch eine besondere Kompetenz, die sie dann in der aktuellen Situation realisieren. Da sie den erlernten Mustern folgen, werden auch die Gesprächsverläufe eine ähnliche Struktur haben. Aber auch wenn kein explizites Training vorausgeht, können sich durch die tägliche Praxis oder das Nachahmen von Vorbildern Routinen für die Bewältigung von bestimmten kommunikativen Problemen herausbilden. Die folgenden Komposita bezeichnen solche Gesprächstypen in verschiedenen Institutionen wie Betrieb, Militär, Gesundheitswesen, Schule und Hochschule: (i) Betrieb: Abmahnungsgespräch, Beurteilungsgespräch, Bewerbungsgespräch, Einstellungsgespräch, Kündigungsgespräch, Leistungsbeurteilungsgespräch, Personalentwicklungsgespräch, Trennungsgespräch, Vorstellungsgespräch, Wiedereinstellungsgespräch, Wiedereingliederungsgespräch, Zielvereinbarungsgespräch 10 (ii) Gesundheitswesen und psycho-sozialer Bereich: Abklärungsgespräch, Aufklärungsgespräch, Eheberatungsgespräch, Entlastungsgespräch* 11 , Familienberatungsgespräch, Überweisungsgespräch*, Untersuchungsgespräch (iii) Militär: Musterungsgespräch, Aushebungsgespräch 12 , Beorderungsgespräch 13 (iv) Schule, Hochschule: Prüfungsgespräch, Akkreditierungsgespräch (v) Polizei, Behörde: Einbürgerungsgespräch, Ermahnungsgespräch 14 , Vernehmungsgespräch, Verpflichtungsgespräch 15 . Betrachten wir nun folgende Beispiele: Begrüßungsgespräch, Drohungsgespräch*, Erpressungsgespräch, Beratungsgespräch, Rechtfertigungsgespräch, Vergebungsgespräch, Verschwörungsgespräch. Auch bei Gesprächen, die mit den hier aufgeführten Komposita bezeichnet werden, wird man erwarten dürfen, dass die entsprechenden Gesprächsverläufe ähnliche Strukturen aufweisen. Im Erstglied des Kompositums steht ein Ausdruck, der sich auf Eigenschaften des Gesprächs bezieht, die auf der illokutionären Ebene anzusiedeln sind. Das Kompositum Begrüßungsgespräch wird man erklären können als ein Ge- 10 All diese Ausdrücke sind in der Fachsprache des Personalmanagements feststehende Begriffe. Vgl. Kiesow (2004). Zu einer linguistischen Beschreibung der Zielvereinbarungsgespräche siehe Keller (1997). 11 ‚*‘ bedeutet, dass für dieses Kompositum kein Beleg im Cosmas-Korpus existiert. Der Beleg stammt aus dem Internet. 12 Aushebungsgespräch bezeichnet im Schweizerdeutschen eine ähnliche Gesprächsform wie im Hochdeutschen Musterungsgespräch. 13 Ein Beorderungsgespräch wird bei der Einberufung von Reservisten geführt. 14 Unter einem Ermahnungsgespräch versteht man eine besondere Maßnahme im Jugendstrafrecht. 15 In einem Verpflichtungsgespräch wird einem ehrenamtlichen Betreuer von einen Vormundschaftsgericht die Betreuung einer Person übertragen. <?page no="60"?> G ÖTZ H INDELANG 50 spräch, das zur Begrüßung dient. In diesem Fall wird also einer ganzen Sequenz von Äußerungen eine Illokution zugeschrieben. Ein Begrüßungsgespräch wird auch einzelne Sprechakte enthalten müssen, die im besonderen Maße als Vollzug eines Begrüßens gelten können. Ähnlich ist es bei einem Gespräch, das als Erpressungsgespräch bezeichnet wird. Einer der Sprecher wird von einem anderen mit Forderungen und Drohungen unter Druck gesetzt. Bei einem Rechtfertigungsgespräch darf man ebenso ganz bestimmte Strukturen erwarten. Sp1 sieht sich bestimmten Vorwürfen oder Beschuldigungen ausgesetzt und wird in dem Gespräch entsprechende Rechtfertigungen vorbringen, die von Sp2 dann akzeptiert oder hinterfragt bzw. abgelehnt werden. Bei all diesen Komposita wird man also annehmen dürfen, dass sie sich auf Gesprächstypen beziehen. Auch bei der folgenden Gruppe könnte es sich um Komposita handeln, die sich auf Gesprächstypen beziehen: Abstimmungsgespräch, Aushandlungsgespräch, Bekehrungsgespräch, Einigungsgespräch, Ermunterungsgespräch*, Überzeugungsgespräch, Verführungsgespräch, Versöhnungsgespräch. Hier haben entweder beide Sprecher die gemeinsame Intention, in dem Gespräch ein bestimmtes Ziel zu erreichen (Abstimmungsgespräch, Aushandlungsgespräch, Versöhnungsgespräch, Einigungsgespräch) oder einer der Sprecher hat die Absicht, bei seinem Gesprächspartner bestimmte perlokutionäre Effekte auszulösen (Bekehrungsgespräch, Ermunterungsgespräch, Überzeugungsgespräch, Verführungsgespräch). Der Ausdruck Ablenkungsgespräch bezieht sich zwar auch auf ein Gespräch, mit dem Sp1 bei Sp2 einen bestimmten Effekt erzielen will, hier liegt aber sicher kein Gesprächstyp zugrunde. Welche innere Struktur ein Ablenkungsgespräch hat, welche sprachlichen Handlungen Sp1 macht um Sp2 abzulenken, lässt sich nicht musterhaft festlegen. Abschließend soll eine Gruppe von Komposita vorgestellt werden, bei denen im Erstglied eine bestimmte kognitive Leistung genannt wird, die durch das Gespräch ermöglicht werden soll: Erkundungsgespräch, Klärungsgespräch, Orientierungsgespräch, Sondierungsgespräch, Auswertungsgespräch, Sichtungsgespräch, Erhebungsgespräch. Diesen Ausdrücken ist gemeinsam, dass die Sprecher im Gespräch versuchen, bestimmte Zusammenhänge und Tatsachen festzustellen. Das Ziel des Gespräches ist es, neue Einsichten und Kenntnisse zu erwerben. Auch hier wird man eine bestimmte Ähnlichkeit auf der Ebene der Gesprächsverläufe vermuten dürfen. Sie wird aber wahrscheinlich weniger klar ausfallen als bei den weiter oben aufgeführten Beispielen. 5 Fazit Die Darstellung der verschieden Komposita auf -gespräch dürfte gezeigt haben, dass es wenig sinnvoll ist, jeden gesprächsbezeichnenden Ausdruck als Repräsentanten eines Gesprächstyps anzusehen. Als heuristisches Verfahren in der Gesprächslinguistik ist die Untersuchung der verschiedenen Ausdrücke, mit denen man auf Gespräche referieren kann, jedoch sinnvoll. Insbesondere Bezeichnungen, in denen der Zweck eines Gesprächs zum Ausdruck kommt, sind ernstzunehmende Kandidaten für entsprechende Gesprächstypen. Ob dann tatsächlich ein Gesprächstyp vorliegt, kann natürlich nur die Analyse empirischer Gesprächsverläufe zeigen. <?page no="61"?> N OMINALKOMPOSITA MIT - GESPRÄCH ALS B EZEICHNUNGEN FÜR D IALOGTYPEN ? 51 Literatur Adamzik, Kirsten (2000): Bezeichnungen für Dialogsorten im Deutschen. In: Beckmann, Susanne / König, Peter-Paul/ Wolf, Georg (Hrsg.): Sprachspiel und Bedeutung. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer. 243-254. Bak, Yong-Ik (1998): Benennungsprinzipien der Gesprächsbezeichnungen im Deutschen. In: mejrková, Sv tla / Hoffmannová, Jana / Müllerová, Olga / Sv tlá, Jindra (Hrsg): Dialoganalyse VI. Referate der 6. Arbeitstagung. Prag 1996. Teil 1. Tübingen: Niemeyer. 551-558. Franke, Wilhelm (1990): Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion. Tübingen: Niemeyer. Hundsnurscher, Franz (2001): The grammar of bargaining. In: Weigand, Edda / Dascal, Marcelo (Hrsg): Negotiation and Power in Dialogic Interaction. Amsterdam: Benjamins. 77-90. Keller, Petra (1997): Der innerbetriebliche Zielvereinbarungsdialog als ergebnisorientiertes Führungsinstrument. Eine linguistische Analyse. Münster/ New York: Waxmann. Kiesow, Hans (2004): Kündigungsgespräche. Frankfurt: Redline Wirtschaft. Kürschner, Wilfried (1974): Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita. Auf der Grundlage generativer Transformationsgrammatiken. Tübingen: Niemeyer. Ortner, Lorelies et al. (1991): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Hauptteil 4, Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen). Düsseldorf: Schwann. Wellmann, Hans (1975): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Das Substantiv. Düsseldorf: Schwann. <?page no="63"?> Der eine oder andere Gedanke zum Gebrauch von der ein oder andere Christoph Küper 1 Das Phänomen Seit einiger Zeit gibt es kaum noch eine Sportsendung im Fernsehen, in der nicht ein interviewter Fußballspieler bedauert, nicht „das ein oder andere Tor“ geschossen zu haben, oder ein Trainer moniert, „der ein oder andere Spieler“ habe im Abstiegskampf den Ernst der Lage noch nicht so recht begriffen. Schien dieser Gebrauch von der/ die/ das ein oder andere anfangs noch primär in der Sprache des Sports zu finden, so hat er inzwischen epidemieartig übergegriffen auf weitere Bereiche; ja, selbst Wissenschaftler und Bischöfe sind, wie die folgenden Belege zeigen, infiziert. So schreibt ein Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Potsdam (aus nachvollziehbaren Gründen ohne Namensangabe): (1) Manche von uns [den Lehrbeauftragten] haben das „Glück“, aus wohlhabenden, akademisch geprägten Elternhäusern zu stammen, die die soziale Absicherung übernehmen; einige haben gut verdienende Ehepartner, die uns absichern, oder wir können uns zumindest für eine gewisse Zeit durch das ein oder andere Stipendium finanzieren. 1 Der inzwischen von seinem Amt zurückgetretene Augsburger Bischof Walter Mixa wird im Zusammenhang mit dem ihm gegenüber erhobenen und von ihm anfangs vehement bestrittenen Vorwurf, Kindern und Jugendlichen gegenüber körperliche Gewalt angewendet zu haben, auf der Titelseite der Welt vom 17. April 2010 mit dem Satz zitiert (2) Die ein oder andere Watschen kann ich nicht ausschließen. Dieser Gebrauch ist offensichtlich unabhängig vom Genus des Bezugsnomens. Ist es in (1) ein Neutrum, in (2) ein Femininum, so ist es in (3) ein Maskulinum: (3) „Bei uns arbeiten bereits jetzt frühere Nokia-Leute. Es ist daher wahrscheinlich, dass der ein oder andere Mitarbeiter aus Bochum bei uns unterkommt“, sagte Nancy Altkrüger von der Microparts-Öffentlichkeitsarbeit auf WAZ-Anfrage. 2 Aber auch ohne folgendes Nomen ist der/ die/ das ein oder andere zu finden, sei es, dass das Nomen bereits vorher erwähnt wurde wie in (4) oder dass - insbesondere in Verbindung mit dem maskulinen Artikel wie in (5) - auf nicht näher spezifizierte (nicht notwendigerweise männliche) Personen abgehoben wird wie bei dem Indefinitpronomen mancher: (4) Die Kirschen waren gut, auch wenn in der ein oder anderen ein Wurm drin war. (5) Der ein oder andere wird das schon mal erlebt haben. 3 2 Phrasenflexion im Deutschen? Was eigentlich löst bei einem Sprachwissenschaftler oder auch nur einem kritischen Sprachteilnehmer, der der/ die/ das ein oder andere (Was-auch-immer) hört, solch ein Un- 1 „Exzellente Lehre zu Dumpingpreisen. Ein offener Brief der Intelligenzija Potsdam“, Forschung und Lehre 4/ 10, S. 256. 2 WAZ vom 15.01.2008. 3 Beide Belege sind entnommen dem Internet: Wörterbuch für Redensarten, Redewendungen, idiomatische Ausdrücke, feste Wortverbindungen, http: / / www.redensarten-index.de/ suche.php. <?page no="64"?> C HRISTOPH K ÜPER 54 behagen aus? Zweifellos ist es die fehlende Flexionsendung nach ein. So wird der folgende Satz, mit dem in der genannten Ausgabe der Welt (ebenfalls auf der Titelseite) der Bundesverteidigungsminister zitiert wird, sicherlich als grammatisch korrekter empfunden als die Äußerung von Bischof Mixa: (6) Sie [die bei dem Anschlag in Afghanistan verletzten deutschen Soldaten] sind bereits wieder sehr stabil und der eine oder andere sogar zu Scherzen aufgelegt. Was aber hat es mit der fehlenden Flexionsendung in grammatischer Sicht auf sich? Die Vermutung, die einem metrisch oder zumindest literarisch versierten Sprachbenutzer in den Sinn kommen könnte, es handele sich hierbei um eine Elision wegen des Hiats, kann sogleich ad acta gelegt werden: Sollte der Hiat der Grund sein, müsste man auch Formulierungen hören wie *der erst und der zweit und der dritt erhalten einen Preis. Dies ist jedoch nicht der Fall; die Vermutung ist also abwegig. Wie aber steht es mit Ausdrücken wie ein und der-/ die-/ dasselbe oder sein/ ihr Ein und Alles? Wie bei der/ die/ das ein oder andere erhält das Wort ein keine Flexionsendung, sondern nur das durch die Konjunktion und bzw. oder damit verbundene Wort: ein und derselbe Mann die ein oder andere Frau ein und desselben Mannes (wegen) der ein oder anderen Frau ein und demselben Mann (mit) der ein oder anderen Frau ein und denselben Mann (gegen) die ein oder andere Frau Man könnte nun aufgrund dieses Tatbestandes schlussfolgern, dass hier etwas vorliegt, was es im Deutschen eigentlich nicht gibt, nämlich eine Phrasenflexion, d.h., das Anhängen eines Flexionssuffixes ans Ende einer syntaktischen Phrase anstatt ans Ende eines Wortes, ähnlich wie wir es aus dem Englischen kennen, wo ein Genitiv-s zum Beispiel an die Nominalphrase the King of England gehängt wird (the King of England’s crown) und nicht, wie im Deutschen (die Krone des Königs von England) an das Head von the King of England (*the King’s of England crown). Allerdings unterscheiden sich die deutschen Beispiele von dem englischen dadurch, dass sie eine Konjunktion enthalten, dass also unter syntaktischem Aspekt zwei Ausdrücke koordinativ miteinander verbunden sind: ein und derselbe, der ein oder andere. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein semantischer Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken: bei ein und derselbe liegt zwar eine syntaktische Koordination vor, aber beide Konjunkte referieren nicht auf zwei verschiedene Entitäten. So sind beide Fahrzeuge im folgenden Beispiel identisch: (7) Bei dem Auto, das gestern in Köln als gestohlen gemeldet wurde, und dem, das heute in Vechta gefunden wurde, handelt es sich um ein und dasselbe Fahrzeug. Die fehlende Flexionsendung nach dem ersten Konjunkt ein lässt sich somit semantisch durchaus begründen. Zumindest für uns heutige Sprachbenutzer klingt ein Satz wie (8) Bei Rotkohl und Blaukraut handelt sich um eine und dieselbe Kohlsorte. merkwürdiger als mit ein und dieselbe. 4 Somit bieten sich für die grammatische Analyse von ein und der-/ die-/ dasselbe zwei Möglichkeiten an: Entweder wir gehen hier in der Tat 4 Die Form mit flektiertem ein scheint die ältere zu sein. Herder (in Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Buch, Kap. 4) setzt das Bezugsnomen sogar in den Plural: „Wie kein getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es zurückfällt, nach einen und denselben Naturgesetzen wirket, so ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner [...].“ (zitiert nach Digitale Bibliothek, Band 125, Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 256058). Bis ins frühe <?page no="65"?> D ER EINE ODER ANDERE G EDANKE ZUM G EBRAUCH VON DER EIN ODER ANDERE 55 von einer Phrasenflexion aus oder wir fassen dies als einen idiomatischen Ausdruck auf (wie sein/ ihr Ein und Alles). Betrachten wir nun zum Vergleich die beiden folgenden Koordinationsstrukturen: (9) die Kanzlerin und die Vorsitzende der CDU (10) die Kanzlerin und Vorsitzende der CDU In (9) handelt es sich syntaktisch um die koordinative Verknüpfung zweier vollständiger Nominalphrasen; semantisch verweist jede davon auf eine eigene Person, d.h., die Kanzlerin und die Vorsitzende der CDU sind in dieser Formulierung nicht identisch. Anders liegt der Fall in (10): hier sind nicht zwei vollständige Nominalphrasen miteinander koordiniert, sondern - in der Terminologie der X-bar-Syntax, die für unsere Zwecke völlig ausreicht - zwei N-bar-Konstituenten, mit dem entscheidenden semantischen Unterschied zu (9), dass beide N-bar-Konstituenten nicht auf unterschiedliche Personen referieren, sondern dass die gesamte Nominalphrase eine einzige Person bezeichnet (nämlich Angela Merkel). Versuchen wir, dieses - vorläufige - Resultat auf die Analyse des infrage stehenden Ausdrucks der/ die/ das ein oder andere anzuwenden. Zwischen diesem Ausdruck und ein und der-/ die-/ dasselbe bestehen die folgenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Gemeinsamkeiten 1. Beide Ausdrücke bestehen aus zwei Konjunkten, die durch eine Konjunktion verbunden sind. 2. Beide Ausdrücke enthalten nur einen Artikel, der entweder im zweiten oder im ersten Konjunkt steht. 3. Das erste Konjunkt enthält keine Flexionsendung. Unterschiede 4. Unter dem referenziellen Aspekt unterscheiden sich ein und der-/ die-/ dasselbe und der/ die/ das ein oder andere. Schon die Konjunktion oder schließt normalerweise eine Identität der dadurch verbundenen Konjunkte aus; dies trifft noch mehr auf die Wortbedeutung von ander zu, die ja gerade auf die Nichtidentität mit einem vorher Genannten abhebt. Der Ausdruck ein und der- / die-/ dasselbe betont hingegen die Referenzidentität der beiden Konjunkte. 5. Während die Flexion des ein bei ein und der-/ die-/ dasselbe, wie oben ausgeführt, heute für uns ungewöhnlich bis abweichend klingt, ist die Form mit Flexionssuffix bei der/ die/ das eine oder andere (immer noch) die deutlich präferierte. 6. Auch ein zweiter Artikel lässt sich hier in bestimmten Kontexten (vgl. Kapitel 3 und 4) einsetzen: der eine oder der andere, während der Ausdruck *der eine und derselbe schon linguistischen Sternchencharakter hat. 3 Ein historischer Rückblick auf die Entwicklung von der/ die/ das ein oder andere Ich möchte hier die bisher allein synchron verfahrende Analyse unterbrechen und einen kurzen diachronen Überblick darüber geben, welches die historischen Vorstufen von der/ die/ das ein oder andere sind. Ich stütze mich dabei auf ein Textkorpus, und zwar den 20. Jahrhundert schwankt dann der Sprachgebrauch. Während noch Rilke die flektierte Form von ein benutzte („Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie durch einen und denselben Körper“, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge; zitiert nach ebd., S. 452068), findet sich unflektiertes ein schon bei Tieck („Alle Poesie, die geistliche abgerechnet, ist abscheulich; alle, die sich daran erfreuen, sind ewig verdammt, und kommen mit Shakespeare, Raffael, Lessing, vorzüglich aber mit Goethe, wenn der einmal stirbt, in ein und denselben Schwefelpfuhl“; Der junge Tischlermeister, zitiert nach ebd., S. 545415). <?page no="66"?> C HRISTOPH K ÜPER 56 Band 125 der Digitalen Bibliothek, Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. 5 Die Korpusanalyse zeigt nun folgendes: In den ältesten Belegen des Textkorpus sind sowohl ein als auch ander flektiert, keins der beiden Konjunkte enthält jedoch einen Artikel: (11) [...] und weiß nit was für einen Augenpfeil, Augenwinker, Augenschuß, Augenstrahl, Augenwurf, Augengruß auf eine oder andere Bürgers-Tochter geworfen, und also mehr Verdacht als Andacht spüren lassen. (Abraham a Santa Clara, Judas der Erzschelm, S. 2723) (12) Er als ein treflicher Herr / würde vielleicht sie nur auffs Eyß leiten / und auff eine oder andere Nacht freien wollen (Andreas Heinrich Bucholtz, Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules und der Böhmischen Königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte, S. 75381) Die beiden folgenden Beispiele unterscheiden sich von den beiden vorangehenden dadurch, dass das oder in exklusiver Bedeutung gebraucht wird, ohne dass dieser Bedeutungsunterschied lexikalisch (entweder oder) oder durch doppelte Hinzufügung des Artikels (die eine ... die andere) signalisiert würde: (13) [...] es fiele der Sieg auff eine oder andere Seite [...] (Bucholtz, a.a.O. , S. 78735) (14) [...] ob man eine Stadt mit Sturme oder durch Verständnüs einbekäme; ob man seiner Liebsten sich auf eine [„mit Sturme“] oder andere Art [„mit Verständnüs“] bemächtigte. (Daniel Caspers von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmañ, S. 370143) Auch Wieland gebraucht diese artikellose Koordinationsform noch häufig (im Korpus finden sich mehrere Belege von auf eine oder andere Art). Daneben treten aber zwei weitere Formen, eine mit bestimmtem Artikel im ersten Konjunkt (auf die eine oder andere Art), die andere mit bestimmtem Artikel im zweiten (auf eine oder die andere Art). Gemeinsam ist diesen Belegen, dass das oder in nicht-exklusiver Bedeutung gebraucht wird. Im folgenden Beleg jedoch hat das oder exklusive Bedeutung, und interessanterweise signalisiert Wieland das dadurch, dass er in beiden Konjunkten den bestimmten Artikel setzt: (15) [...] und eine Menge Leute erklärte sich mit der größten Hitze für die eine oder die andere Partei, ohne untersucht zu haben, wer recht habe [...] (Der Goldene Spiegel Oder Die Könige von Scheschian, S. 579562) 6 Während Lessing diese Form mit zweifachem Artikel unterschiedslos sowohl für nichtexklusives als auch für exklusives oder verwendet, bemüht sich Goethe offensichtlich um eine größere formale Stringenz: Bei nicht-exklusivem oder entscheidet er sich dafür, den bestimmten Artikel nur im zweiten Konjunkt zu setzen: (16) Man mag es besehen, wie man will, so werden es skandalöse Geschichten sein, auf eine oder die andere Weise skandalös und weiter nichts. (Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 173944) Bei exklusivem oder allerdings wählt Goethe, wie Wieland, vorzugsweise die Variante mit bestimmtem Artikel in beiden Konjunkten: (17) Die Blairischen Versuche sind mit Prismen und Objektivgläsern gemacht, aber beide Arten sind nicht deutlich voneinander abgesondert, noch ist die Beschreibung so gefasst, dass man wissen könnte, wann die eine oder die andere Weise zu versuchen eintritt. (Zur Farbenlehre, S. 176383) 5 Das Textkorpus umfasst über 600.000 Seiten von über 500 Autoren. Die in den folgenden Zitaten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich stets auf diese CD-ROM. 6 Im Korpus findet sich ein weiteres gutes Dutzend Belege von auf eine oder die andere Weise. <?page no="67"?> D ER EINE ODER ANDERE G EDANKE ZUM G EBRAUCH VON DER EIN ODER ANDERE 57 (18) Wie wir hie und da, und da und dort uns umsahn, wie wir endlich diesen Engel trafen, wie nicht mehr von Kommen und Gehen die Rede war, sondern wir uns entschließen mussten, entweder die eine oder die andere unglücklich zu machen [...]. (Stella, 3. Akt, S. 169747) In der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sich die Goethesche Systematik auch bei anderen Autoren wie Musäus, Moritz, Bettina Arnim, Brentano, Jean Paul, Heine, Mörike oder Herwegh. Insbesondere die Hervorhebung der exklusiven Bedeutung von oder durch die Verwendung des bestimmten Artikels in beiden Konjunkten wurde von einigen Autoren recht strikt befolgt. 7 Daneben aber gibt es eine Reihe von Autoren, die eben diese Form auch für nicht-exklusives oder verwenden, darunter Gotthelf, Raabe oder Rilke: (19) Sie sehen gern aus dem Fenster, eine Eigentümlichkeit aller der Leute, mit welchen sich auf die eine oder die andere Weise leicht leben lässt. (Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse, S. 439078) Aber auch einige der zuvor Genannten (z.B. Jean Paul, Heine, Keller) vermeiden diese Form nicht in aller Konsequenz. Um die Jahrhundertmitte setzte sich - bei Überschneidungen von einigen Jahrzehnten - die uns heute immer noch geläufige Form mit bestimmtem Artikel im ersten Konjunkt, flektiertem ein und artikellosem zweitem Konjunkt durch. Belege hierfür finden sich u.a. bei Stifter, Keller, C.F. Meyer, Storm oder Fontane. Hier zwei typische Beispiele: (20) [...] und die philiströsen Wundererklärer wurden selbstzufrieden belächelt, während man selbst immer das eine oder andere Wunder ausnahm [...]. (Keller, Das verlorene Lachen, S. 309584) (21) Und wie sie waren alle Kinder das eine oder andere Gemisch ihrer Eltern. (Stifter, „Bergmilch“, in: Bunte Steine, S. 520636) Dass in der zweiten Jahrhunderthälfte die von Goethe bevorzugte Form mit bestimmtem Artikel im zweiten Konjunkt außer Gebrauch gekommen oder zumindest unmodern geworden war, zeigen die im Korpus enthaltenen Belege von Storm. Storm, der in seinen Chroniknovellen (außer im Rahmen) eine bewusst archaisierende Sprache wählt, entscheidet sich in Zur Chronik von Grieshuus neben altertümlichen Flexionsformen auch für ebendiese Goethe’sche Form, während er sonst die ‚modernere’ Form verwendet: (22) Bald aber erhob sich eine oder die andere Hand und strich liebkosend über das Leichenhemde oder gar an die Wange des Leichnams selber, und ich hörete: [...] (S. 525498) Kurz vor der Jahrhundertwende tauchen dann in unserem Textkorpus die ersten Belege von der/ die/ das ein oder andere auf, und zwar in Fontanes Schach von Wuthenow (1883) einmal, in Kellers Alterswerk Martin Salander (1886) einmal, und in Otto Erich Hartlebens Tragödie Rosenmontag (1900) zweimal. Auffällig ist, dass es sich bei drei dieser Belege (Hartleben und Fontane) um direkte Rede handelt; nur bei Keller verwendet auch der Erzähler diese Form: (23) Ja ... Herr Kommerzienrat: Sie haben gewiß mit Hans noch das ein oder andere zu besprechen, [...]. (Otto Erich Hartleben, Rosenmontag, 2. Akt, 4. Szene, S. 235301) 7 Vgl. Jean Paul: nicht-exklusiv „[...] Antikritik gegen eine oder die andere Rezension“ (Hesperus oder 45 Hundsposttage, Viertes Heftlein, Vierte Vorrede, S. 294469); exklusiv „[...] Sein griechischer Widerwille gegen jedes Überschlagen der Waage auf die eine oder die andere Seite [...]“ (Vorschule der Ästhetik, 3. Abteilung, Kantate-Vorlesung, S. 299692). <?page no="68"?> C HRISTOPH K ÜPER 58 (24) [...] sei es, um für kurze Zeit und einzelne Geschäftsausführungen, wie er vorausgesagt, noch das ein oder andere Mal den Weg zu machen; [...]. (Keller, Martin Salander, Kap. 6, S. 308386 4 Zur Bedeutung von der/ die/ das eine oder andere Versucht man, die Bedeutung von der/ die/ das eine oder andere bzw. den älteren Varianten oder Vorstufen genauer zu ermitteln, etwa durch Paraphrasenbildung, stellt man sehr bald fest, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist. Am klarsten ist noch die Bedeutung bei exklusivem oder. Demgegenüber ist die Bedeutung von der/ die/ das eine oder andere bei nicht-exklusivem oder 8 in starkem Maße kontextabhängig. Insgesamt lassen sich mindestens die folgenden Bedeutungstypen ausmachen: 1. exklusives oder: ‚entweder der/ die/ das eine oder der/ die/ das andere’ Das Zutreffen des einen Konjunkts schließt also das Zutreffen des anderen notwendig aus, d.h., beide Konjunkte haben eine eigene Referenz, aber nur für ein Konjunkt gibt es einen Wahrheitswert. Diese Bedeutung liegt in den Beispielen (13) bis (15) sowie (17) und (18) vor. 2. ‚irgendeine nicht näher spezifizierte oder zu spezifizierende Entität’ Diese Bedeutung, die einen vorwiegend singularischen Charakter hat, liegt zum Beispiel vor in (19), (20) und (25): (25) Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß diese Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben würde, [...]. (Wieland, Geschichte des Agathon, S. 578883) 3. ‚jeweils eine, aber jeweils unterschiedliche Entität’ Diese Bedeutung hat singularischen Charakter in Bezug auf eine einzelne Entität, aber pluralischen in Bezug auf eine (angenommene) Gesamtheit dieser Entitäten. So geht es in (16) um mehrere „skandalöse Geschichten“, die jeweils auf unterschiedliche („eine oder die andere“) Weise skandalös sind, und in (21) „waren alle Kinder“ ein jeweils unterschiedliches („das eine oder andere“) „Gemisch ihrer Eltern“. Dieser Doppelaspekt von singularischer Bedeutung (jeweils einzelne Entität) und pluralischer Bedeutung (die Entitäten insgesamt) zeigt sich zum Beispiel an (6), dem Zitat des Bundesverteidigungsministers, wo das Verb sind sich nicht nur auf sie, sondern auch auf der eine oder der andere bezieht, was streng grammatisch nicht korrekt, aber semantisch einleuchtend ist. Auch die beiden folgenden Passagen von Storm machen diesen Doppelaspekt deutlich: (26) Als ich in meines Vaters Zimmer trat, stand er an einem seiner großen Bücherregale; ich hatte ihn oft so gesehen, das eine oder andere Buch hervorziehend, darin blätternd und es [das jeweils entnommene Buch] dann wieder an seinen Platz stellend; [...] (Ein stiller Musikant, S. 524351) (27) Ein paar Mal, da er unten im Kontor gesessen, hatte Hans Kirch das eine oder andere der Geschäftsbücher vor ihm aufgeschlagen, damit er von dem gegenwärtigen Stande des Hauses 8 Eben weil die Bedeutung hier so vage ist - der im Zusammenhang mit oder eigentlich zu erwartende Terminus ‚inklusiv’ würde die Bedeutung, die hier zur Debatte steht, nicht zutreffend beschreiben - habe ich bewusst die allgemeinere Bezeichnung ‚nicht-exklusiv’ gewählt. <?page no="69"?> D ER EINE ODER ANDERE G EDANKE ZUM G EBRAUCH VON DER EIN ODER ANDERE 59 Einsicht nehme, aber er hatte sie [sämtliche Bücher] jedes Mal nach kurzem Hin- und Herblättern wie etwas Fremdes wieder aus der Hand gelegt. (Hans und Heinz Kirch, S. 524351) 4. ‚ein paar’, ‚einige’ (jeweils mit Bezugsnomen im Plural) oder, wenn pronominal gebraucht, ‚mancher/ manche/ manches’; als Grenzfall auch ‚mindestens einer/ eine/ ein’ Dieses ist sicherlich die am häufigsten vorkommende Bedeutung von der/ die/ das eine oder andere, die auch in den Beispielen (2) bis (6), (11), (12) und (22) bis (24) vorliegt. In ähnlicher Weise wird auch dieser oder jener (außer bei deiktischem und anaphorischem Gebrauch) verwendet; nicht selten finden sich beide Ausdrücke sogar nebeneinander: (28) Die wendische Invasion habe nur den Charakter einer Sturzwelle gehabt, durch die oberflächlich das eine oder andere geändert, dieser oder jener Name slawisiert worden sei. (Fontane, Vor dem Sturm, Kap. 11, S. 124222) Wer diesen Eindruck in dieser Bedeutung gebraucht, will sich jedoch nicht auf irgendeine noch so vage Mengenangabe festlegen lassen. Die pluralische Konnotation wird zwar vom Hörer/ Leser meistens mit verstanden, aber vom Sprecher/ Schreiber streng genommen nicht mit behauptet. Als Minimalbedeutung ließe sich daher ‚mindestens einer/ eine/ ein’ angeben. Dass die Bedeutung von der/ die/ das eine oder andere eher in Richtung ‚weniger als ein paar’ tendiert, zeigt der folgende Beleg, in dem das ein’ oder andere in Opposition zu ein paar steht: (29) Übrigens sind ein paar der eingelegten Lieder nicht übel. Wir erhielten sie gestern. Victoire, du könntest uns das ein' oder andere davon singen. (Fontane, Schach von Wuthenow, Kap. 2, S. 129328) Eine Vertauschung im Text von das ein’ oder andere mit ein paar würde zumindest merkwürdig klingen: (29’) ? Übrigens ist das ein’ oder andere der eingelegten Lieder nicht übel. Wir erhielten sie gestern. Victoire, du könntest uns ein paar davon singen. 5 Syntax und Semantik Abschließend sei die anfangs begonnene synchrone Untersuchung wieder aufgenommen und auf die Frage eingegangen, ob sich eine Korrelation zwischen den unterschiedlichen sprachlichen Varianten, die wir vorgefunden haben, ihrer syntaktischen Struktur und den vorgeschlagenen semantischen Grundtypen feststellen lässt. Hinsichtlich der syntaktischen Strukturanalyse gehe ich dabei von der Prämisse aus, dass bei einer Koordination nur Konstituenten des gleichen Typs miteinander verbunden werden können. Da die Existenz zweier unterschiedlicher Entitäten, wie angedeutet, explizit nur bei exklusivem oder (Bedeutungstyp 1) behauptet wird, ist zu erwarten, dass für diesen Bedeutungstyp die Koordination zweier vollständiger Nominal- oder Pronominalphrasen die adäquate syntaktische Form ist, also zum Beispiel [[der eine] oder [der andere]] bzw. [[die eine e 9 ] oder [die andere Partei]]. Und in der Tat ist dies die Form, die hierfür seit Goethe bevorzugt verwendet wird, wenn sich auch nicht alle der untersuchten Autoren stringent daran halten, sei es, dass sie diese Form auch für nicht-exklusives oder verwenden (wie in (19)) oder dass sie exklusives oder nicht durch diese Form kennzeichnen (wie es insbesondere in den frühen Belegen der Fall ist). 9 Das ‚e’ bezeichnet eine empty category, d.h., es steht hier für Partei. <?page no="70"?> C HRISTOPH K ÜPER 60 Für die anderen Bedeutungstypen lässt sich in syntaktischer Hinsicht noch weniger eine klare Systematik erkennen. Die folgenden Formen sind im Textkorpus belegt: i. kein bestimmter Artikel in beiden Konjunkten; ein und ander sind beide flektiert wie in (11), (12) und (25) ii. bestimmter Artikel nur im zweiten Konjunkt; ein und ander sind beide flektiert wie in (16) und (22) iii. bestimmter Artikel nur im ersten Konjunkt; ein und ander sind beide flektiert wie in (20), (21) und (26) bis (28) iv. bestimmter Artikel in beiden Konjunkten; ein und ander sind beide flektiert wie in (19) v. bestimmter Artikel nur im ersten Konjunkt; nur ander ist flektiert wie in (23), (24) und (29) Die Formen (i) und (ii) sind heute nicht mehr gebräuchlich. (iv) wird, wie oben dargestellt, seit etwa 200 Jahren vorzugsweise für exklusives oder gebraucht. (v) ist (jedenfalls für mich) überraschenderweise älter als erwartet; dennoch ist es eine jüngere Variante von (iii) und kommt typischerweise in der gesprochenen Sprache vor. Ein syntaktischer Unterschied zwischen beiden lässt sich insofern ausmachen, als (iii) die Struktur (a) und (v) die Struktur (b) zugewiesen werden kann: (a) [der [[eine] oder [andere]]] (b) [der [{ein oder ander}e]] Nun ließe sich vermuten, dass diesem syntaktischen Unterschied auch ein semantischer entsprechen würde. Die flexivische Reduzierung von ein und die morphologische Verschmelzung zu {ein oder ander}e in (b) könnte die singularische Konnotation in den Vordergrund rücken. Soweit ich dies anhand der mir vorliegenden Belege beurteilen kann, scheint das jedoch nicht der Fall zu sein. Ob sich eine solche semantische Differenzierung zwischen (iii) und (v) in der Entwicklung befindet oder ob (v) langfristig (iii) ersetzt, wird die Zukunft zeigen müssen. Neuere Schüleraufsätze scheinen eher auf Letzteres hinzudeuten. <?page no="71"?> Semantic Asymmetries in English: the Use of each other vs. one another in Inaugural Addresses Florian Panitz 1 Introduction The scope of this study covers the use of one another vs. each other in the inaugural addresses of U.S. presidents. I will proceed on the assumption that the one another - each other contrast reflects a markedness distinction. It will be shown that the marked feature is INDIVIDUATION . This means viewing two or more potentially connected and continuous entities as discrete, discontinuous entities which are functioning independently of each other. INDIVIDUATION is connected to another feature, namely INTEGRALITY , which means perceiving potentially discontinuous entities in continuous time, space, or existence (see e.g. Talmy 2000: 448; Tobin 2002 183; Wierzbicka 1996: 239 ff.). In a sign-oriented approach, such features are taken to be invariant meanings which are directly reflected by context-dependent disourse messages on the text level (cf. Aphek and Tobin 1988; Tobin 1990, 1993). Furthermore, the INDIVIDUATION - INTEGRALITY system represents a case of minus-markedness in the sense of Waugh (1982), which means that INDIVIDUATION as a minus-marked feature unambiguously marks the exact opposite of plus-marked INTEGRALITY , by contrast to potentially neutral or “zero-marked” items. More specifically, it will be shown that in the pair each other - one another the marked item one another highlights individuality of the entities that are part of a conceptual setting while each other is neutral in this respect. Using the inaugural addresses by American presidents as a corpus also allows for some diachronic observations. 2 Previous approaches The relational reflexive pronouns each other and one another cover similar relations and similar semantic domains. They are therefore often seen as synonyms, as for instance in Webster’s: each other (pronoun): each of two or more in reciprocal action or relation (looked at each other). one another: [synonym] of each other Differences in usage are traditionally presented as tendencies only. Alternations involving each other and one another are either seen as representing idiolectal preferences in usage (in part semantically motivated) or as being stylistically motivated. For example, Swan (1995: 169) notes: In modern English most people normally use each other and one another in the same way. Perhaps one another is preferred (like one) when we are making very general statements, and not talking about particular people. In addition, the distinction between one another and each other is frequently attributed to the amount of persons, things, or entities involved in a situation. It is said that while each other usually involves two entities, one another may have more than two in its scope. <?page no="72"?> F LORIAN P ANITZ 62 Along these lines the Longman Dictionary of American English gives the following usage note: Some teachers prefer to use each other when talking about two people or things, and one another when talking about many people or things. … One another is also more formal than each other. This is exemplified by examples like the following: (1) The two leaders shook hands with each other. (2) All the leaders shook hands with one another. The fact that only two entities are involved as in (1) often becomes a matter of subjective focus rather than absolute quantity: (3) Apartments built on top of one another. In the last case the overall situation involves more than two entities, but the statement only focuses on a process involving two entities. On the text level one another presents itself as a marked item in terms of INDIVIDUATION : (4) [...] the elephants [...] pushed one another aside in their selfish panic, just like so many human beings. (King Solomon’s Mines, 29) The elephants are presented as individual entities here, hence dealing with the herd as a whole seems futile. By contrast, where each other refers to individuals or individual action this is frequently seen in light of properties that characterize these individuals as a group: (5) And all the men of the same rank were pitted against each other; [...] , and every man lived in terror of losing his job, [...] (The Jungle, 25) 3 The data The data base consists of the inaugural speeches of the U.S. presidents 1789-2008 from the data base of the Gutenberg project. These speeches have the advantage of usually dealing with recurring topics like ‘solidarity’, ‘disintegration of society’, or ‘freedom’, in other words issues that have to do with ‘individuation’ or ‘integrality’ as defined above. They also allow us to observe how reference to these topics has changed through time. Overall, we find 16 occurrences of one another and 30 occurrences of each other which are distributed in the following way: one another (total: 14) each other (total: 31) Jefferson 1801 1 Madison 1809 1 Adams, John 1797 1 Monroe 1817 1 Cleveland 1885 1 Monroe 1821 1 Johnson 1965 1 Adams, John Quincy 1825 4 Nixon 1969 2 Harrison, William Henry 1941 2 Nixon 1973 1 Polk 1845 2 Carter 1977 1 Pierce 1853 1 Bush, G. W. 2005 4 Buchanan 1857 1 Clinton 1993 1 Lincoln 1861 2 Clinton 1997 1 Grant 1869 1 Hayes 1877 1 Harrison, Benjamin 1889 2 Coolidge 1925 1 <?page no="73"?> S EMANTIC A SYMMETRIES IN E NGLISH : THE U SE OF EACH OTHER VS . ONE ANOTHER 63 Roosevelt 1933 1 Reagan 1985 3 Bush 1989 4 Clinton 1993 3 While each other occurs more frequently, both items tend to slightly “cluster” in the sense that while many addresses do not have any of the items at all (e.g. Obama 2008), there are accumulations of the items in relatively short text passages in others, particularly in more recent addresses, as e.g. one another in George W. Bush’s 2005 speech. Despite this tendency, Clinton’s 1993 address is the only one that includes both items (1 x one another; 3 x each other). On the basis of this data it seems reasonable to conclude that the use of the items is definitely not co-incidental. Rather, the items are deliberately chosen either as stylistic devices or for emphasis, with reference to particular contextual settings. 4 The analysis 4.1 One another In the corpus investigated one another is preferably used in contexts where a state of disintegration, separation, or alienation has to be overcome or where it potentially exists. Overcoming theses states marks a particularly difficult task, and the entities involved in the reciprocal relation or action are at least potentially regarded as non-integral, separate, and independent units. This particularly shows up in contexts where hostility or conflict is involved and where this leads to a call for a change (my italics): (6) How incredible it is that in this fragile existence, we should hate and destroy one another. (Johnson 1965) A typical discourse message in these contexts is “co-operation or trust in one another as a future perspective”: (7) We must once again have full faith in our country--and in one another. I believe America can be better. (Carter 1977) This is closely connected with “overcoming obstacles”: (8) We cannot, we will not, succumb to the dark impulses that lurk in the far regions of the soul everywhere. We shall overcome them. And we shall replace them with the generous spirit of a people who feel at home with one another. (Clinton 1997) (9) And let each of us reach out for that one precious quality government cannot provide a new level of respect for the rights and feelings of one another, a new level of respect for the individual human dignity which is the cherished birthright of every American. (Nixon 1973) Naturally, this is often presented as “necessary change”, connected with a resultant desirable state: (10) We cannot learn from one another until we stop shouting at one another [...]. (Nixon 1969) Such a state to be desired can also be presented as to be brought about by a higher authority: (11) [...] Government, which shall restrain men from injuring one another, …(Jefferson 1801) <?page no="74"?> F LORIAN P ANITZ 64 The desired situation is also likely to mark a break with present practices: (12) Moreover, if from this hour we cheerfully and honestly abandon all sectional prejudice and distrust, and determine, with manly confidence in one another, to work out harmoniously the achievements of our national destiny, we shall deserve to realize all the benefits which our happy form of government can bestow. (Cleveland 1885) Particularly the discourse message of “overcoming obstacles” plays a role in the accumulation of one another in George W. Bush’s 2005 address. In addition, “independence”, “respect (as a virtue)”, “freedom”, and “diversity” are signified here, and, again, “duty / obligation” (my italics): (13) [...] Liberty for all does not mean independence from one another. Our nation relies on men and women who look after a neighbor and surround the lost with love. Americans, at our best, value the life we see in one another, and must always remember that even the unwanted have worth. [...] Americans by choice and by birth, are bound to one another in the cause of freedom. We have known divisions, which must be healed [...] [...] our duty is fulfilled in service to one another. (George W. Bush 2005) 4.2 Each other Each other is both used in contexts where hostility / conflict plays a role and where co-operation, harmony or co-existence is involved. This underlines its status as an unmarked item having a wider range of applications compared to one another. Most notably, each other is used in contexts where states of disintegration, alienation or separation have already been overcome, or where the entities or persons involved in reciprocal actions are presented as integrated wholes. This induces discourse messages like “closeness”: (14) Nature has done so much for us by intersecting the country with so many great rivers, bays, and lakes, approaching from distant points so near to each other, that the inducement to complete the work seems to be peculiarly strong. (Monroe 1817) “Co-operation“ is also apparent: (15) [...] those who are elected [...] cooperate with each other in the support of the broad general principles, of the party platform, [...] (Coolidge 1925) This tends to be intensified as “mutual care”; note that one another is connected with “obligation” as signified by one another in the same context: (16) In serving we recognize a simple, but powerful, truth: we need each other, and we must care for one another. [...] (Clinton 1993) A more general discourse message represents “harmony”: (17) To a casual observer our system presents no appearance of discord between the different members which compose it. Even the addition of many new ones has produced no jarring. They move in their respective orbits in perfect harmony with the central head and with each other. (W. H. Harrison 1841) “Respect” is another relevant message: (18) [...] learn to estimate the talents and do justice to the virtues of each other. The harmony of the nation is promoted and the whole Union is knit together by the sentiments of mutual respect [...] (Adams 1825) <?page no="75"?> S EMANTIC A SYMMETRIES IN E NGLISH : THE U SE OF EACH OTHER VS . ONE ANOTHER 65 This is closely connected to “tolerance”: (19) In fact, I yearn for a greater tolerance, an easy-goingness about each other's attitudes and way of life. There are few clear areas in which we as a society must rise up united and express our intolerance. (Bush 1989) If there is hostility or conflict involved, “impact” becomes a typical message: (20) At the period adverted to the powers of Europe, after having been engaged in long and destructive wars with each other, had concluded a peace, which happily still exists. (Monroe 1821) It is thus characteristic of such contexts to involve conceptual closeness and even resulting “impossibility to separate or alienate” as discourse messages: (21) Physically speaking, we can not separate. We can not remove our respective sections from each other nor build an impassable wall between them. A husband and wife may be divorced and go out of the presence and beyond the reach of each other, but the different parts of our country can not do this. They can not but remain face to face, and intercourse, either amicable or hostile, must continue between them. (Lincoln 1861) Such closeness can have negative consequences. It may also result in a call for cooperation, negotiation, or tolerance. It can also be construed in terms of positive links or family resemblance, as in the following: (22) [...] this agitation [...] has alienated and estranged the people of the sister States from each other [...] (Buchanan 1857) On the negative side, closeness may result in difficulties or complex interrelations: (23) With respect to the two distinct races whose peculiar relations to each other have brought upon us the deplorable complications and perplexities which exist in those States, it must be a government which guards the interests of both races carefully and equally. (Hayes 1877) Note that there is is higher authority (government) that unites the fractions here. The assumed contrasts between each other and one another particularly show up where both items alternate in Clinton’s 1993 address (my annotations): (24) There is so much to be done. Enough, indeed, for millions of others who are still young in spirit, to give of themselves in service, too. In serving we recognize a simple, but powerful, truth: we need each other [mutual dependence], and we must care for one another [obligation; future perspective]. Today we do more than celebrate America, we rededicate ourselves to the very idea of America, an idea born in revolution, and renewed through two centuries of challenge, an idea tempered by the knowledge that but for fate, we, the fortunate and the unfortunate, might have been each other [mutual dependence]; an idea ennobled by the faith that our nation can summon from its myriad diversity, [...] (Clinton 1993) Again, one another is used where effort or overcoming obstacles plays a role while each other signifies interdependence. Applying the above analyses and identification of discourse messages to our corpus we get the following frequencies of occurrence: one another: effort/ overcoming obstacles and necessary change 4 call for a change respect / diversity 2 <?page no="76"?> F LORIAN P ANITZ 66 independence, hostility/ conflict, freedom, break with present practices, authority: 1 each each other: co-operation 4 division / divisiveness, (physical) closeness: 3 each responsibility, respect, overcoming hostility / conflict / dark impulses, hostility / conflict (connected with impact), family resemblance / group membership: 2 each tolerance, peace, mutual dependence, interdependence, impossibility to separate, hostility / conflict (w/ o impact), impact, harmony, complex interrelations and authority, communication, (obligation to) care: 1 each Sorting the messages by year of their first occurrence yields the following picture: one another: discourse messages year authority 1797 break with present practices 1885 hostility/ conflict 1965 call for a change 2x1968, 1973 respect / diversity 1973, 2005 effort/ overcoming obstacles and necessary change 1977, 1993, 1997, 2005 freedom 2005 independence 2005 each other hostility / conflict (connected with impact) 1809, 1825 (physical) closeness 1817, 1861 (metaphorized), 1985 impact 1821 overcoming hostility / conflict / dark impulses 1825, 1993 respect 1825, 1841 harmony 1841 peace 1845 responsibility 1845, 1853 family resemblance / group membership 1857, 1985 impossibility to separate 1861 co-operation 1869, 2x1889, 1925 complex interrelations and authority 1877 hostility / conflict (w/ o impact) 1925 interdependence 1933 communication 1985 division / divisiveness 3x1989 tolerance 1989 (obligation to) care 1993 mutual dependence 1993 From a diachronic perspective it seems interesting that most of the “authority” senses come from the 18 th or 19 th century. It is also interesting to note that each other is used in <?page no="77"?> S EMANTIC A SYMMETRIES IN E NGLISH : THE U SE OF EACH OTHER VS . ONE ANOTHER 67 individuation contexts as well, and that there is an accumulation of three such items in Bush’s 1989 address. This clearly qualifies the item as “zero marked” for individuation. The complete lack of the items in question here e.g. in Kennedy’s or Obama’s addresses and others shows that the use of the items largely depends on topics that render the discourse messages discussed here. References Aphek, Edna and Yishai Tobin (1988): Word Systems in Modern Hebrew: Implications and Applications. Leiden: E. J. Brill. Longman Dictionary of American English, 2 nd ed. (1997), White Plains, N.Y.: Addison Wesley Longman Swan, Michael (1995): Practical English Usage. Oxford: Oxford University Press. Talmy, Leonard (2000): Toward a Cognitive Semantics.Volume II: Typology and Process in Concept Structuring. Cambridge (Mas): MIT Press. 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Harris nicht gerade seltene Rede von Symbolen (vgl. dessen Structural Linguistics) womöglich an die Verwendung dieses Begriffs gewöhnt, hat Chomsky selbst den Begriff des komplexen Symbols ins Spiel gebracht. Dies ist, in Erweiterung seines Grammatikmodells von 1957, dem der Syntactic Structures, 1965 in den Aspects of the Theory of Syntax geschehen. Die durch das Aspects-Modell vorgenommene Erweiterung manifestiert sich oder kulminiert im Begriff des komplexen Symbols, ihm kommt mithin eine gewichtige Rolle zu; der Index der Aspects erwähnt 19 Seiten, auf denen vom komplexen Symbol die Rede ist. Spätestens mit dieser Erweiterung ist eine Situation heraufbeschworen worden, im Hinblick auf die sich Wilfried Kürschner einmal in Gestalt einer zweifachen Verneinung geäußert hat, als er in einer Fußnote zu seinen Studien zur Negation im Deutschen gesprochen hat von der „Unmöglichkeit, sich mit der generativen Transformationsgrammatik nicht zu befassen“ (Kürschner 1983: 126 (Fortsetzung der Anm. 1 von 125)). Von Symbolen ist bei Chomsky in mehrfacher Hinsicht die Rede: Die direkt oberhalb der einzusetzenden Wörter stehenden End-Elemente eines Baumdiagramms, die Elemente der sogenannten präterminalen Kette, sind als Kategoriensymbole aufzufassen. Neu war nun, dass diesen so etwas wie eine interne Struktur zukommen sollte, dass sie nicht mehr als atomare Einheiten angesehen wurden, sondern als aus Merkmalen bestehende, zusammengesetzte Einheiten. Zwar mag es als ein - aus der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung hervorgehendes - eher wissenschaftshistorisches Interesse erscheinen, aus dem heraus die Aufmerksamkeit auf das komplexe Symbol Chomskys gelenkt wird; doch darin kann eine Ergänzung erblickt werden zu den 38 in den Symboltheorien (vgl. Rolf 2006) unterschiedenen Verwendungen des Symbolbegriffs. Chomsky jedenfalls gehört zu denjenigen, die den Symbolbegriff im sprachtheoretischen Kontext verwenden, er steht mit seinem komplexen Symbol neben Aristoteles, der das Symbol des Symbols, Russell, der das unvollständige Symbol, und Wittgenstein, der das nicht wahrnehmbare Symbol zum Thema gemacht hat. Chomsky beobachtet seinen Gegenstand mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Ersetzungs- und Subkategorisierungsregeln. Was er mit dieser Unterscheidung zu erreichen beabsichtigt, das ist der Ausschluss bestimmter als unsemantisch zu bezeichnender Sätze. Chomsky denkt dabei weniger an solche Sätze wie ‚Triest ist kein Wien‘, in denen ein Eigenname (Wien) als Begriffswort vorkommt, was als Verletzung eines Kategorienerfordernisses verstanden werden könnte (vgl. Diamond 1979: 196ff.). Was Chomsky durch die Einführung der Subkategorisierungsregeln in sein Grammatikmodell und, damit einhergehend, durch Einführung der komplexen Symbole zu vermeiden sucht, dies sind widersinnige Sätze bzw. widersinnige Syntagmen. Es sind widersinnige Sätze bzw. Syntagmen insofern, als ihnen die Eigenschaft, wohlgeformt zu sein, abzusprechen ist, und zwar in semantischer, wenn auch nicht in syntaktischer, Hinsicht. An vollkommen, d. h. auch in <?page no="80"?> E CKARD R OLF 70 syntaktischer Hinsicht unsinnige Wortzusammenstellungen wie ‚Das Grün ist oder‘ denkt Chomsky augenscheinlich nicht. Chomsky geht es darum, eine bestimmte Art von widersinnig erscheinenden Sätzen aus dem Gegenstandsbereich der Syntax herauszuhalten. ‚Farblose grüne Ideen schlafen wütend‘, Sätze wie diese sind es, die ausgeschlossen, d. h. von der Grammatik nicht erzeugt werden können sollen. Ein Ausschlussbegehren wie dieses ist fünfzig Jahre zuvor schon einmal zum Tragen gekommen, damals in der Auseinandersetzung des frühen Wittgenstein mit seinem Lehrer Bertrand Russell. Von Wittgenstein in der Rolle des Lehrers wahrgenommen worden zu sein, wird alles andere als unproblematisch gewesen sein. Denn: „Es fand sich nicht leicht jemand, dem Wittgenstein jemals recht gegeben hätte. Er hatte die nur für ihren Besitzer angenehme Begabung, seine jeweiligen Einsichten für unumstößlich und endgültig zu halten und seinen Mitmenschen durch den damit verbundenen Eigensinn zuzusetzen.“ (Blumenberg 1987: 181). Bereits Russell hat Wirkungen von Manifestationen dieser Begabung zu spüren bekommen, Wittgenstein aber „wäre beinahe noch Schüler von [Ludwig] Boltzmann geworden, der sich ihm [allerdings] durch Freitod entzogen hatte.“ (Blumenberg 1997: 46) Im Frühjahr 1913 arbeitet Russell an einem Manuskript zur Erkenntnistheorie (Theory of Knowledge). Dem ihn in Cambridge besuchenden jungen Wittgenstein erzählt er, was ihn umtreibt, worum es ihm bei der Arbeit an seinem Manuskript geht. Wittgenstein, bereits Russells Typentheorie für verfehlt haltend, wendet sich nun gegen die letzterem vorschwebende Urteilstheorie. „Er fand schon die Idee abwegig.“ (Monk 1992: 98) Was genau der sich als „Russells Meister“ (ebd.: 79ff.) aufspielende „Tyrann“ (ebd.: 98) dagegen einzuwenden hatte, ist nicht sogleich klar, es ist zumindest präzisierungsbedürftig gewesen. Wäre es anders gewesen, hätte Wittgenstein seinen Brief an Russell von Mitte Juni 1913, in dem er das zwischen ihm, seiner Mutter und Russell arrangierte Treffen im Londoner Savoy Hotel bestätigte, nicht zum Anlass genommen zu versichern: „Meinen Einwand gegen Ihre Urteilstheorie kann ich jetzt genau ausdrücken“ (Wittgenstein 1980: 28). In den (im Anhang seiner Tagebücher 1914-1916 abgedruckten) Aufzeichnungen über Logik notiert Wittgenstein im Jahre 1913 in einfachen Worten, was er einzuwenden hat: „Die richtige Urteilstheorie“, fordert er, „muß es unmöglich machen, Unsinn zu urteilen.“ (Wittgenstein 1989: 191). Was Wittgenstein dabei unter Unsinn versteht, ergibt sich aus der folgenden Bemerkung: „Jede richtige Urteilstheorie muß es unmöglich machen, daß ich urteile, dieser Tisch federhaltere das Buch. Russells Theorie genügt dieser Bedingung nicht.“ (Ebd.: 202) Wittgensteins Beispiel stellt eine Verdichtung von Unsinn bzw. von Un- und Widersinn dar. Es exemplifiziert, was er ‚Unsinn‘ nennt, in multipler Form. Der erwähnte Beispielsatz enthält zwei Typen von Unsinn, die auseinanderzuhalten sind. Der eine Unsinnstyp beruht auf der Abwesenheit von Bedeutung, es ist ein Kandidat für reinen Unsinn, der andere Aspekt beruht auf einem Kategorienfehler (vgl. Diamond 1991: 96f.): So ist ‚Federhaltern‘ als desubstantivisches Verb im Deutschen nicht belegt; und von Tischen - und im Hinblick auf Bücher - sagt man die in dem obigen Beispielsatz ausgedrückte Aktivität nicht aus. Russell hatte sich mit seinem Manuskript aus einer - wenn auch nur persönlichen - Krise herausschreiben wollen. Zu jener Zeit ist er offenbar nicht selbstsicher genug gewesen, um den Invektiven des ihn tyrannisierenden Schülers gelassen zu begegnen. Er hat sich Wittgensteins Kritik jedenfalls sehr zu Herzen genommen. Schon am 19. Juni 1913, <?page no="81"?> C HOMSKY ÜBER DAS KOMPLEXE S YMBOL 71 dem Tag nach dem Treffen im Londoner Savoy Hotel, schreibt Russell an seine Geliebte, Lady Ottoline Morell: “‘All that has gone wrong with me lately came from Wittgenstein’s attack on my work’” (Monk 1996: 300); und noch drei Jahre später erinnert sich Russell in einem anderen Brief an dieselbe Adressatin an “Wittgenstein’s devastating criticisms of 1913, which, he told Ottoline, ‘was an event of first-rate importance in my life, and affected everything I have done since’.” (Ebd.: 452) Ist es Aufgabe einer Urteilstheorie, unsinnige Urteile der Wittgenstein vorschwebenden Art unmöglich werden zu lassen? Mit diesem Problem hat sich Russell, frustriert wie er gewesen sein wird, nicht mehr beschäftigt. Ein halbes Jahrhundert später aber taucht es, wenn auch in einem ganz anderen, obwohl ebenfalls krisenhaften Zusammenhang, erneut auf. Chomsky kann so verstanden werden, als reagiere er darauf: Mit der Einführung der Subkategorisierungsregeln und dem damit ins Spiel gebrachten komplexen Symbol begegnet er einer Krise des Sinns. Chomsky spricht allerdings weder von Unnoch von Widersinn. Was er vermeiden möchte, sind, wie bereits gesagt, unsemantische Sätze, Sätze, wie sie von seiner generativen Grammatik nicht sollen erzeugt werden können. Um ihre Erzeugung zu verhindern, führt er mit den Subkategorisierungsregeln einen neuen Regeltypus ein, den er den bis dahin das Feld allein beherrschenden Ersetzungsregeln an die Seite stellt. Der Unterschied: Die Ersetzungsregeln expandieren Kategoriensymbole, die Subkategorisierungsregeln führen komplexe Symbole ein. Natürliche Sprachen sind für Chomsky spezielle Symbolsysteme, und zwar nach wie vor (vgl. Chomsky 1969: 54 und 77 sowie Chomsky 2000: 12). Eine Grammatik, die einfache Phrasenstrukturbäume (P-Marker) generiert, „kann auf einem Vokabular von Symbolen aufgebaut werden, das sowohl Formative [...] [d. h. konkrete Wörter] als auch Kategoriensymbole (S, NP, V, usw.) umfaßt.“ (Ebd.: 90) Ein Mechanismus zur Generierung von P-Markern ist ein System von Ersetzungsregeln. Eine Ersetzungsregel hat die Form A Z/ X - Y, „wobei X und Y (möglicherweise leere) Ketten von Symbolen sind, A ein einfaches Kategoriensymbol und Z eine nicht-leere Kette von Symbolen ist.“ (Ebd.: 92) S ist das die Kategorie ‚Satz‘ repräsentierende „Anfangssymbol der Grammatik [...] und # ein Grenzsymbol (boundary symbol) (das als grammatisches Formativ betrachtet wird).“ (Ebd.) Eine Grammatik, die, ausgehend von dem Anfangssymbol S, durch die Anwendung von Ersetzungsregeln der Art S NP + VP und VP V + NP über phrasale Kategorien (wie NP und VP) und lexikalische Kategorien (wie N und V) sowie über solche Ersetzungsregeln wie N Peter und V lacht zu der Wortfolge ‚Peter lacht‘ vordringt, könnte unsemantische Sätze erzeugen, beispielsweise solche der von Wittgenstein perhorreszierten (Nonsense-)Art. Die neu einzuführenden Subkategorisierungsregeln sollen dies verhindern. Subkategorisierungsregeln dienen der näheren Charakterisierung lexikalischer Kategorien. Mit diesen Regeln kommen die komplexen Symbole (CS) ins Spiel. Bei Chomsky heißt es: „Die Symbole für lexikalische Kategorien (N, V, usw.) werden durch Regeln in komplexe Symbole analysiert, wobei jedes komplexe Symbol eine Menge von spezifizierten syntaktischen Merkmalen ist, ebenso wie jedes phonologische Segment eine Menge spezifizierter phonologischer Merkmale ist.“ (Ebd.: 111) Beispiele für Subkategorisierungsregeln sind: (i) N [+ N, ± Appellativum] (ii) [+ Appellativum] [± Individuativum]. <?page no="82"?> E CKARD R OLF 72 Regel (i) „legt fest, daß das Symbol N in einer Zeile einer Derivation durch eines der beiden komplexen Symbole [+ N, + Appellativum] oder [+ N, - Appellativum] zu ersetzen ist.“ (Ebd.) Regel (ii), auf der Grundlage der Konventionen für phonologische Regeln operierend, legt fest, „daß jedes komplexe Symbol Q, das bereits als [+ Appellativum] spezifiziert ist, durch das komplexe Symbol zu ersetzen ist, das alle Merkmale von Q enthält sowie entweder die Spezifikation [+ Individuativum] oder [- Individuativum].“ (Ebd.) Mit solchen Regeln, „die komplexe Symbole einführen und ausbauen, können wir [so Chomsky] die gesamte Menge der lexikalischen Kategorien erfassen.“ (Ebd.: 113) Die Basis-Komponente des Aspects-Modells erhält dadurch die folgende Gestalt: „Zusätzlich zu solchen Ersetzungsregeln, die auf Kategoriensymbole angewandt werden und grundsätzlich Verzweigungen bewirken, benutzen wir Ersetzungsregeln wie [...] [(i) und (ii)], die auf Symbole für lexikalische Kategorien angewandt werden und komplexe Symbole (= Mengen spezifizierter syntaktischer Merkmale) einführen oder auf ihnen operieren.” (Ebd.) Bei den Regeln der ersteren Art handelt es sich um Verzweigungen bewirkende Regeln, die Regeln der zweiten Art unterscheiden sich davon: Bei ihnen handelt es sich um Transformationsregeln (vgl. ebd.: 121). Außer dem Lexikon enthält die Basis-Komponente der Grammatik mithin (i) Ersetzungsregeln, „die nur kategoriale (nicht-komplexe) Symbole benutzen, [...] (ii) Regelschemata, die außer bei Kontextangaben nur lexikalische Kategorien enthalten und die komplexe Symbole benutzen.“ (Ebd.: 131) Eine Verzweigungsregel analysiert „ein Kategoriensymbol (category symbol) A in eine Kette von (einem oder mehreren) Symbolen, die entweder terminale oder nicht-terminale Kategoriensymbole sind. Eine Subkategorisierungsregel andererseits führt syntaktische Merkmale ein und bildet bzw. erweitert dadurch ein komplexes Symbol.“ (Ebd.: 145f.) So wie ein Kategoriensymbol ein Symbol für verschiedene konkrete Lexeme ist, so symbolisiert auch ein komplexes Symbol diejenigen Lexeme, die seiner Merkmalsmenge entsprechen. Chomsky unterscheidet drei Arten von Subkategorisierung: die inhärente, die strikte und die selektionale. Die inhärente Subkategorisierung ist kontextfrei, die beiden anderen Subkategorisierungsarten sind kontext-sensitiv. Regeln der inhärenten Subkategorisierung spezifizieren bestimmte syntaktische Kategorien mit Hilfe der ihnen zukommenden syntaktischen Merkmale. Strikte Subkategorisierungsregeln analysieren „ein Symbol nach einem kategorialen Kontext“ (ebd.: 127). Selektionale Subkategorisierungsregeln analysieren „ein Symbol (generell: ein komplexes Symbol) mit Hilfe syntaktischer Merkmale der Umgebungen, in denen es auftritt“ (ebd.). Regeln der letzteren Art gehen mithin aus einer Kombination der strikten mit der inhärenten Subkategorisierung hervor. Sie „drücken aus, was gewöhnlich ‚Selektionsbeschränkungen‘ (‚selectional restrictions‘) oder ‚Ko-Okkurrenz-Beschränkungen‘ (‚restrictions of co-occurrence‘) genannt wird.“ (Ebd.) Vor allem Regeln der letzteren Art helfen, ‚Unsinn‘ der Art zu vermeiden, der Wittgenstein vorschwebte und von dem er behauptet hat, dass Russells Urteilstheorie ihn nicht unterbinden könne. Die inhärente Subkategorisierung bezieht sich auf Substantive, die strikte und die selektionale Subkategorisierung bezieht sich auf Verben. Bei der inhärenten Subkategorisierung geht es darum, Substantive durch die ihnen zukommenden syntaktischen Merkmale zu spezifizieren. Ein Wort wie ‚Junge‘ z. B. wird durch die folgenden syntaktischen Merkmale näher charakterisiert: [+ N, + Appellativum, + Individuativum, +Belebt, + Mensch], ein Wort wie ‚Apfel‘ durch [+ N, + Appellativum, + Individuativum, - Belebt, - Mensch]. <?page no="83"?> C HOMSKY ÜBER DAS KOMPLEXE S YMBOL 73 Bei der strikten Subkategorisierung geht es darum, Verben durch die syntaktischen Kategorien, mit denen sie (in ihrer rechten Umgebung) verknüpft werden können, näher zu charakterisieren. Das Verb ‚essen‘ beispielsweise wird charakterisiert durch [+ V, + _ NP]. Bei der selektionalen Subkategorisierung werden Verben durch die syntaktischen Merkmale ihrer Umgebungen spezifiziert. Dass die Merkmale, mit denen die komplexen Symbole gleichgesetzt werden, von Chomsky als syntaktische Merkmale angesehen werden, ja dass er konsequent nur von syntaktischen Merkmalen spricht, ist auffällig. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen geht es Chomsky um die Frage, wie die Basis-Komponente der von ihm vorgestellten Grammatik vereinfacht werden könnte. Dies soll dadurch ermöglicht werden, dass die Subkategorisierungsregeln dem Lexikon inkorporiert werden. Dies geschieht durch die Hinzufügung einer Konvention, der zufolge „die kategoriale Komponente eine Regel A für jede lexikalische Kategorie A enthält, wobei eine fixiertes ‚Quasi-Symbol‘ (‚dummy symbol‘) ist. Dann erzeugen die Regeln der kategorialen Komponente P-Marker von Ketten, die aus mehrfachem Vorkommen von (Markierungen für die Positionen von lexikalischen Kategorien) und grammatischen Formativen bestehen.“ (Ebd.: 157, Übersetzung leicht korrigiert) „Die kategoriale Komponente kann damit sehr gut eine kontext-freie Konstituentenstrukturgrammatik [...] mit reduziertem Endvokabular [...] sein, das heißt, mit der Überführung aller lexikalischen Einheiten in das Symbol .“ (Ebd.: 158) Entsprechend sagt Jerrold J. Katz über die Normalform eines Lexikoneintrags, dieser enthalte „schließlich n Symbolreihen, die wir Lexikonlesarten nennen. Jede Lesart besteht aus einer Menge von Symbolen, die wir als semantische Markierungen bezeichnen, und einem komplexen Symbol, das wir Selektionsbeschränkung, S R, nennen.“ (Katz 1971: 141) Anders als Chomsky, der, wie erwähnt, durchgängig von syntaktischen Merkmalen spricht, spricht Katz von semantischen Merkmalen; und unter den auch von ihm als komplexe Symbole bezeichneten Begriffsrepräsentationen versteht Katz später zumindest etwas Umfangreicheres (vgl. Katz 1977: 62). Ob aber als Teil der Basis-Komponente der Grammatik oder als Teil des Lexikons betrachtet - mit Hilfe dessen, was die Subkategorisierung leistet, kann die Erzeugung unsemantischer Sätze unterbunden werden. Unterbunden werden kann dann z. B. die Erzeugung solch eines ‚unsemantischen‘ Satzes wie ‚Farblose grüne Ideen schlafen wütend‘. Doch wie ist ein solcher Satz eigentlich einzuschätzen? Ist er vollkommen uninterpretierbar? Ein Satz dieser Art ist zugegebenermaßen nicht leicht zu verstehen; aber sollte er gar nicht zu verstehen sein? Ist ein Satz wie dieser letztlich doch zu verstehen, wäre zu fragen, ob es Unsinn im Sinne uninterpretierbarer Sätze überhaupt gibt; ob es also wirklich gibt, was Wittgenstein einer Urteilstheorie abverlangt hat; oder ob Russell sich zu Unrecht ins Bockshorn hat jagen lassen. Chomsky äußert sich, dies mag überraschen, in den Aspects auch zum Phänomen ‚Metapher‘. Er bringt es mit der selektionalen Subkategorisierung in Verbindung. Gerade gegen diese Subkategorisierungsart wird in Gestalt des berühmt-berüchtigten Satzes ‚Farblose grüne Ideen schlafen wütend‘ verstoßen. Von Sätzen wie diesen sagt Chomsky: „Sätze, die Selektionsregeln durchbrechen, können oft metaphorisch interpretiert werden [...], wenn ein geeigneter, mehr oder weniger komplizierter Kontext zur Verfügung steht. Diese Sätze werden also offensichtlich in direkter Analogie zu solchen Sätzen interpretiert, die den fraglichen Selektionsregeln genügen. Wäre man gezwungen, Sätzen eine Interpre- <?page no="84"?> E CKARD R OLF 74 tation zuzuschreiben, die [...] die Regeln der strikten Subkategorisierung durchbrechen, würde man allerdings ganz anders verfahren.“ (Ebd.: 189f.) Man sieht, Chomsky weist der Metapher einen Ort zu, indem er sie mit seinen Selektionsregeln in Verbindung bringt; eine spezielle Metaphertheorie jedoch entwickelt er daraus nicht. Seine Überlegungen sind aber in Linguistenkreisen, insbesondere unter dem Einfluss von Uriel Weinreich, mit unübersehbaren Beschreibungserfolgen aufgegriffen worden. Das beste Beispiel dafür stellt das erste der beiden Bücher Samuel R. Levins zur Metapher dar. Ohne die Einführung des komplexen Symbols hätte es so etwas wie eine Merkmalstransfertheorie der Metapher wahrscheinlich nicht gegeben, ungeachtet dessen, dass sie später durch die Konzeptionstheorie der Metapher ersetzt worden ist (vgl. Levin 1977: 34 und Levin 1988: 95ff., s. dazu auch Rolf 2005: 177-186). Das komplexe Symbol ist in der generativen Grammatik nur vorübergehend diskutiert worden. Auch wenn es zur Unterdrückung unsemantischer Sätze dienen sollte, hat Chomsky es nicht als eine semantische Größe betrachtet, sondern als eine syntaktische: Die Merkmale, mit denen das komplexe Symbol gleichgesetzt wird, werden, wie erwähnt, von ihm als syntaktische Merkmale betrachtet. Von Semantik hat Chomsky bei der Einführung des komplexen Symbols offenbar ebenso wenig wissen wollen wie zuvor oder danach. „Bei Chomsky war (und ist) die Semantik als grammatische Komponente seit der Standardtheorie zwar vorgesehen, er steht semantischen Fragestellungen jedoch eher zögernd und skeptisch gegenüber“ (Kürschner 1980: 15, Anm. 15). Kein Wunder deshalb, wenn er die Semantik weiterhin für eher irrelevant hält, wie rückblickend zum Ausdruck kommt, wenn er sagt: “It is possible that natural language has only syntax and pragmatics; it has a ‘semantics’ only in the sense of the ‘the study of how this instrument, whose formal structures and potentialities of expression are the subject of syntactic investigation, is actually put to use in a speech community’, to quote the earliest formulation in generative grammar 40 years ago, influenced by Wittgenstein, Austin and others” (Chomsky 2000: 132). Doch Semantik hin oder her: Etwas mehr als eine Eintagsfliege ist es durchaus gewesen, Chomskys komplexes Symbol. Auch wenn er selbst nicht mehr von ihm spricht, andere tun es weiterhin. Dies jedenfalls gilt für Carl Pollard und Ivan A. Sag, die Begründer der Head-Driven Phrase Structure Grammar, die ihren Betrachtungen Subkategorisierungsrahmen zugrunde legen (vgl. Pollard/ Sag 1987: 67ff. und 1994, 23f.). Mit Blick auf solche Standard-Symbole wie S, NP und VP heißt es bei ihnen: “In addition to such standard symbols, it is convenient to use certain complex symbols as abbreviations for more specific types of phrases bearing certain values for one or more head features” (Pollard/ Sag 1987: 69). Literatur Blumenberg, Hans (1987). Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg, Hans (1997). Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Chomsky, Noam ([1965]/ 1969). Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Chomsky, Noam (2000). 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Nicht selten denken wir in Gegensätzen, um uns über einen Sachverhalt klar zu werden. - Der Satzverknüpfungstyp Kontrast mit der Hauptkonjunktion aber und der Konjunktion sondern nach einer Negation ist uns seit Kindertagen märchenhaft bekannt: (1) Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr. (Grimm 123) oder (2) Um Mitternacht kamen die Männlein herangesprungen und wollten sich gleich an die Arbeit machen; als sie aber kein zugeschnittenes Leder, sondern die niedlichenKleidungsstücke fanden, verwunderten sie sich erst, dann aber bezeigten sie eine gewaltige Freude. (Grimm 396) Nun ist in Märchen weniger mit nicht nur sondern auch zu rechnen als in anderen Kontexten. - Stets verfügbar für die moderne Sprache ist die Presse, für hier die Beispiele aus der Zeitschrift „Die Zeit“ stehen, und auch in unserer Wissenschaft lohnt sich das Nachschauen. An die diversen Korpus-Sammlungen, die heute teilweise ausführlich genutzt werden, bin ich nicht herangetreten. Auf selbst gebildete Beispiele zur theoretischen Erläuterung und auf ausführliche semantische Interpretationen habe ich verzichtet. Die Gedanken in dem folgenden Text sind locker aneinander gereiht, ohne nach einem erreichbaren Ziel zu streben, wie es sonst in wissenschaftlichen Aufsätzen eher üblich ist. 2 Deskriptives Die Kombination nicht nur sondern auch, hier meist kurz „Formel“ genannt, besteht aus zwei aufeinander bezogenen Teilen, von denen jeweils zwei Wörter auf verschiedene Weise enger zusammen gehören. Die Bipolarität zeigt sich zum einen darin, dass die Negation auf die Korrektur-Konjunktion sondern bezogen ist und dass sich die Fokus- Partikel nur auf die Additiv-Partikel auch bezieht. Zum anderen gehören im ersten Teil Negation und Fokus-Partikel zusammen, und im zweiten Teil Konjunktion und Additiv- Partikel, kurz gefasst: Negation + Partikel - Konjunktion + Partikel Als Ausgangspunkt kann die kürzere Strukturformel „Negation sondern“ angesehen werden, die als Funktionstyp „Korrektur“ zum Verknüpfungstyp „Kontrast“ gehört (vgl. Rudolph, 1996: 293-305). Dieser umfasst adversative und konzessive Relationen, von denen hier die adversative Relation wichtig ist. Durch die Negation am Anfang wird die <?page no="88"?> E LISABETH R UDOLPH 78 erste Aussage als nicht wahr deklariert. Dagegen wird der Aussageteil nach der Korrektur- Konjunktion sondern im zweiten Teil der Formel als wahr betrachtet. Kurz gefasst: nicht sondern = Aufhebung und Ersatz Im Verknüpfungstyp Kontrast wird also im Ergebnis anfangs ein Aussageinhalt als unzutreffend bezeichnet und dann durch den folgenden Aussageinhalt ersetzt. Die Korrektur- Konjunktion sondern agiert dabei als Signal für die Substitution, wie in (3) gezeigt: (3) Akins Geschichte ist nicht gebaut, da entwickelt sich nichts, sondern sie hangelt sich von Pointe zu Pointe. Gutes Kinohandwerk sieht anders aus. (Zeit 52/ 09: 62) Völlig anders verhält es sich in der Kombination nicht nur sondern auch. Hier bezieht sich die Negation ausschließlich auf die Partikel nur. Die Aussage des Satzteils mit nur bleibt wahr, negiert wird lediglich die Einzigartigkeit, die semantisch mit nur hervorgehoben ist. Wie (4) zeigt, folgt auf die Korrektur-Konjunktion sondern eine Ergänzung dadurch, dass mit auch ein weiterer Fakt als dazu gehörig hervorgehoben wird. (4) Ist die Beute gefangen, wird das Fleisch nicht nur unter allen Besatzungsmitgliedern aufgeteilt, sondern auch die Bootsbauer und Segelmacher an Land bekommen ihre Ration. (Zeit 53/ 09: 19) Mit nicht nur sondern auch werden zwei Aussageinhalte nebeneinander gestellt und ihre Existenz in der Wirklichkeit betont. Die Hervorhebung im zweiten Teil wirkt als Steigerung der Aussage. Kurz gefasst: nicht nur sondern auch = Erhaltung und Ergänzung Die Formel liegt in den mir bekannten indo-europäischen Sprachen vor, ohne dass sie in Grammatiken besondere Erwähnung findet. Lediglich in sehr umfangreichen Werken wie den Grundzügen von 1981 lässt sich ein Hinweis finden: Das mehrteilige Verknüpfungszeichen nicht nur sondern auch ist demgegenüber [d.h. gegenüber und] spezieller. In einer Satzverknüpfung des Typs nicht nur p´, sondern auch q´ wird signalisiert, daß das Gegebensein des Sachverhalts p bereits eine gewisse Erwartung erfüllt, daß diese Erwartung aber durch das gleichzeitige Gegebensein des Sachverhalts q noch übertroffen wird. p und q stellen gegenüber bloßem p eine Steigerung hinsichtlich der Erfüllung einer vorausgesetzten Erwartung dar. (Grundzüge 1981: 782) Auffallend sind allerdings zwei Besonderheiten. Zum einen ist die große Seltenheit des Vorkommens der Formel zu erwähnen. Zum anderen ist die Variabilität bemerkenswert: außer der Negation (nicht, kein) am Anfang können die übrigen Teile durch andere Wörter mit ähnlicher Bedeutung ersetzt werden. 3 Die einzelnen Teile der Formel - Partikel und Konjunktion Mit den Wörtern nur und auch unterscheidet sich die hier betrachtete Formel vom Korrekturtyp nicht sondern des Verknüpfungstyps "Kontrast". Für diese beiden Wörter, die in beiden Teilen der Formel an jeweils zweiter Stelle stehen, habe ich mich für die Bezeichnung „Partikel“ entschieden, ohne zu bestreiten, dass sie in anderen Kontexten auch als Adverbien verwendet werden können. Der Terminus „Partikel“ wird in Grammatiken und in der linguistischen Literatur nicht einheitlich verwendet. In einem Kapitel „Partikel im weiteren Sinn“ haben Hentschel und Weydt in ihrem „Handbuch der deutschen Grammatik“ (1990: 295-301) neben den bekannten Partikeln auch andere nicht flektierbare Wörter behandelt wie Präpositionen, <?page no="89"?> N ICHT NUR - SONDERN AUCH 79 Konjunktionen, Interjektionen und die Negation nicht. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich bei der engeren Auffassung bleiben und weder die Negation noch die Konjunktion sondern als Partikel ansehen. Die Bipolarität der Formel ist zunächst eine Feststellung der Form. Die Funktion der Hervorhebung des Aussagepaares innerhalb eines Textes mündet in eine unterschiedliche Gewichtung der beiden Fakten. (5) Mercedes-Benz Ingenieure brachten die Entwicklung so weit voran, dass die Antriebstechnik nicht nur kleiner und leistungsfähiger wurde, sondern auch bei Temperaturen bis minus 25 Grad Celsius zuverlässig arbeitet. (Zeit 52/ 09: 25) Der zweite Teil hat das stärkere Gewicht, angekündigt und betont durch die Partikel auch, die oft als Gradpartikel bezeichnet wird. Ohne mich auf eine Wortarten-Debatte einzustellen zu wollen, greife ich zurück auf eine frühere Beschäftigung mit Partikeln auf Tagungen, die Harald Weydt in Berlin veranstaltete. Im Aufsatz „Zur Klassifizierung von Partikeln“ (Rudolph 1979: 139-151) habe ich in Grammatiken geforscht und mit zwanzig Partikeln Klassifizierungvergleiche angestellt, in denen sich nur und auch gleich verhalten haben: sie können in Imperativsätzen vorkommen, vor nicht stehen und an die 1. Stelle des Satzes verschoben werden, auf Entscheidungsfragen können sie allerdings nicht antworten. Im Aufsatz „Partikeln in der Textorganisation“ (Rudolph 1989: 498 - 510) habe ich auf mögliche Funktionen von auch verwiesen und als übergreifende Bedeutung angenommen, dass auch stets „eine Einordnung von Aussagen in einen gemeinsamen Zusammenhang“ ausdrückt. Außerdem kann auch in argumentativen Passagen das zuvor Gesagte bestätigen und überdies einer Erklärung und Rechtfertigung dienen. Wie nicht anders zu erwarten, enthält das Handbuch der deutschen Konnektoren (Pasch/ Brauße/ Breindl/ Waßner 2003) mit seinen 800 Seiten eine Fülle von Hinweisen, Abgrenzungen, Bemerkungen und Interpretationen, denn es befasst sich ausdrücklich mit Konjunktionen, Satzadverbien und Partikeln. Die Autoren haben auf den letzten über hundert Seiten des Werkes benutzerfreundliche Angaben vermerkt. Allein 40 Seiten davon enthalten eine Liste aller behandelten Konnektoren in alphabetischer Reihenfolge mit Kurzklassifizierung, Angaben zur Position im Satz und Beispielen. Hinzu kommen 40 Seiten Literaturverzeichnis und 18 zweispaltige Seiten Sach- und Wortregister. Bei einer solchen Fülle ist es daher in einem Aufsatz unmöglich, auf Details der Darstellungen einzugehen oder eine unterschiedliche Meinung hervorzuheben. Wenn ich für die beiden Partikel der Formel, nur und auch, andere Bezeichnungen wähle als die Autoren des Handbuchs, hat das seinen Grund ausschließlich darin, dass hier von den möglichen Bedeutungen lediglich ein Ausschnitt vorliegt. Meine Entscheidung für die Bezeichnung „Fokus-Partikel“ für nur und „Additiv-Partikel“ für auch ist also arbiträr. Sie folgte der Funktion der beiden Partikel in der untersuchten Formel. (6) Wie vergänglich nicht nur der Ruhm, sondern auch das bewusste Leben eines Gerühmten sein kann, musste Westerwelle erfahren, als Professor Charles Kao („Nobelpris i fysik“) den festlich gedeckten Tisch A verließ. (Zeit 52/ 09: 68) Die Konjunktion sondern korrespondiert mit der Negation im vorhergehenden Satzteil. Die semantischen Einschätzungen sind für sondern nicht einheitlich (vgl. Kürschner 1981), und das liegt vermutlich daran, dass die Möglichkeiten der Anwendung nicht eindeutig aufgelistet werden können. Wie im Verknüpfungstyp „Kontrast“ markiert sondern auch in der Formel nicht nur sondern auch als Korrektur-Konjunktion an der Spitze den Beginn des zweiten Teils der <?page no="90"?> E LISABETH R UDOLPH 80 Formel. Nur gelegentlich ist die Formel auf zwei Sätze verteilt, dann steht sondern an der Spitze des zweiten Satzes. Meist aber befindet sich die Formel in einem einzelnen, allerdings oft gegliederten Satz. (7) In Amerika schien man das Problem elegant gelöst zu haben, indem man nicht nur Schlossern und Lehrern, sondern auch noch Putzfrauen und Erntehelfern hohe Kredite gab. (Zeit 3/ 10: 17) Hinzuweisen ist darauf, dass jeweils durch die Negation die Fokuspartikel nur in Abrede gestellt wird und dass nach der Korrektur-Konjunktion sondern mit der Additivpartikel auch Zusätzliches eingeleitet wird. Die Aussageinhalte bedeuten hier, dass beide Teile gelten: Es sind die erstgenannten Personen ebenso wie die an zweiter Stelle Genannten von der erwähnten Regelung betroffen. In Grammatiken ist sondern in Gegensatz zu aber gestellt (Helbig/ Buscha 1981: 422) mit der Bemerkung, dass es immer etwas Negatives durch etwas Positives ersetzt. Als Partikel im weiteren Sinn behandeln auch Hentschel/ Weydt (1990: 266/ 267) sondern als eine der adversativen Konjunktionen, und vor dem Beispiel Sie war nicht nur sehr klug, sondern auch außergewöhnlich attraktiv findet sich der Hinweis, dass sondern stehen muss, wenn bei der vorausgehenden Negation zusätzlich die Fokuspartikel nur steht. Schon im Wörterbuch der Gebrüder Grimm (1984, Bd. 16, Sp. 1585) wird erklärt, dass sondern im ausgebildeten Neuhochdeutschen den Gegensatz nach einem negierten Satzteil einleitet und an die Stelle von älterem sonder getreten ist. Es wird darauf hingewiesen, dass sondern auch nach Sätzen vorkommen kann, die sich in negierte Sätze umdeuten lassen. (vgl. Rudolph 2005: 191). 4 Vorkommen der Formel nicht nur sondern auch Die Formel ist mit ihren Varianten vielseitig einsetzbar und benötigt nicht zwei ganze Sätze, von denen einer den Anfang und der andere das Ende enthält. Häufiger begegnet die Formel innerhalb eines einzelnen Satzes, denn es handelt sich ja lediglich darum, mit der additiven Hervorhebung des zweiten Teils die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu gewinnen. (8) Dabei hätten nicht nur die Täter, sondern auch die nachfolgenden Proteste kritische Aufmerksamkeit verdient. (Zeit 4/ 10: 50) Solche kurzen Sätze sind allerdings selten. Sie sind aber ohne ihren Kontext eigentlich nur als grammatischer Beleg verständlich, dass nämlich der Leser zwei Fakten zu berücksichtigen hat, von denen das zweite Faktum dem Verfasser des Textes besonders wichtig ist. Nun ist die Suche nach zitierfähigen Belegen in schriftlichen Texten wegen ihres seltenen Vorkommens problematisch, dagegen steht die Überlegung, dass sie in argumentativen Passagen wie in der Zeitschrift „Die Zeit“ vielleicht eher anzutreffen sind als in der Literatur. (9) Dass Weine aus Deutschland nach dem Tief der siebziger und achtziger Jahre wieder weltweit gefragt sind, ist nicht nur auf den Klimawandel zurückzuführen, der den Weinbauern einen Jahrhundertjahrgang nach dem anderen beschert, sondern auch auf eine neue Generation bestens ausgebildeter, oft international erfahrener Weinmacher, die ein hohes Qualitätsbewusstsein pflegen. (Zeit 5/ 10: 63) In oralen Texten außerhalb von Theater und Vorträgen oder Vorlesungen die meist vorher schriftlich konzipiert sind ist mit der Formel kaum zu rechnen. Auch in politischen Reden oder im juristischen Diskurs ist sie vor allem ein Zeichen dafür, dass eine sorgfältige schriftliche Konzeption vorangegangen ist. In der vorliegenden Untersuchung <?page no="91"?> N ICHT NUR - SONDERN AUCH 81 sind orale Texte nicht berücksichtigt. Eine Suche in der Literatur ist nicht einfach, wenn es sich um heutige moderne Sprache handeln soll, denn je bekannter die Autoren, desto deutlicher ist ihr Personalstil. Dies zeigt ein kurzer Blick in die Literatur des 20. Jahrhunderts. (10) Kein Zweifel, damals war nicht nur er [der Pharao] besser aufgehoben gewesen, sondern auch das Land. (Th. Mann, Joseph, Bd, 3, 1034) Die Romantetralogie Thomas Manns aus den Jahren 1933 - 1943 über die Figur Joseph, der als jüngster Sohn des Patriarchen Jakob vermutlich um 1700 vor Chr. gelebt hat, bezieht sich auf einen Text der Genesis (1. Mose 37, 39-47 und 50). (11) Und als sie nun so durch die kaum gepflegten Zimmer gingen, in denen alles so geblieben war wie zu Silbers Zeiten, befiel nicht nur den kleinen Gelehrten an ihrer Seite, sondern auch sie selbst ein starkes Gefühl der Kuriosität, das sie sogleich zu bekämpfen suchte, indem sie erklärte, sie wolle zuerst zwar noch Ferien machen, dann aber die Wohnung hier einmal so richtig auf den Kopf stellen, ... (Frischmuth: 135) Barbara Frischmuth (geboren 1941) ist keine Autorin der kurzen Sätze. Dennoch ist (11) der einzige Satz mit der Formel nicht nur sondern auch in ihrem Roman „Die Mystifikationen der Sophie Silber“. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gehört zu zwei Jahrhunderten. Ihre ersten Bücher hat sie von Rumänien aus publiziert, seit 1987 lebt sie in Deutschland. In einem Essayband gab es zwar zahlreiche Vorkommen von sondern, die gesuchte Formel gab es nur einmal. Die allgemeine Angst der Menschen in einer Diktatur und das Misstrauen aller gegen alle ist ihr Thema, wie (12) in einem stark gegliederten Satzgefüge zeigt. (12) Weil der Verfolger nicht nur körperlich anwesend, sondern auch aus den intimsten Dingen heraus, die ihn personifizieren, beobachten kann, fühlt sich der Bedrohte, was immer er in seiner Wohnung mit sich und seinen Gegenständen tut, mit dem Verfolger Aug in Auge und beobachtet sich und ihn gleichzeitig. (Müller 2009: 139) In der modernen Literatur jüngerer Autoren kann es gelegentlich mit nicht sondern den Korrekturtyp des Satzverknüpfungsmusters Kontrast geben. Die additive Formel nicht nur sondern auch war in den durchgesehenen Büchern von Kaminer (Jahrgang 1967), Kehlmann (Jahrgang 1975) und Jenny (Jahrgang 1974) nicht zu finden. Nur bei Erpenbeck (Jahrgang 1967) und Orths (Jahrgang 1969) begegnete mir je ein Beispiel: (13) Jene aber, die vor ihrer eigenen Verwandlung ins Ungeheure aus der Heimat geflohen waren, wurden durch das, was sie von zu Hause erfuhren, nicht nur für die Jahre der Emigration, sondern, wie es ihr inzwischen scheint, auf immer ins Unbehauste gestoßen, unabhängig davon, ob sie zurückkehrten oder nicht. (Erpenbeck 116) (14) Am Nachmittag blieb ich länger in der Schule als alle anderen [Lehrer]. Nicht etwa nur, weil ich als Neuankömmling einen guten Eindruck hinterlassen wollte, sondern auch, um mich abzulenken und der Einsamkeit meiner entsetzlichen Bude zu entfliehen, die von der Schule für mich angemietet worden war, gegenüber dem Schulhof. (Orths 2009, 9) Selbstverständlich nutzen auch Linguisten in ihren Texten zuweilen die Möglichkeiten, mit der Formel Zusammenfassendes und Auffallendes hervorzuheben: (15) Zu diesem Diskurs gehören nicht nur die Texte und Reden der Nationalsozialisten, sondern auch alle Institutionen des Nationalsozialismus bis hin zu den Vernichtungslagern, in denen die Ausgrenzung in brutale Ausrottung umgesetzt wurde. (Hindelang 2006: 291) (16) Die bestehende Zeichenasymmetrie führt ähnlich wie in der Alltagssprache nicht nur zu vielfältigen Erscheinungen der Polysemie, sondern auch zu stark ausgeprägter Variabilität auf der <?page no="92"?> E LISABETH R UDOLPH 82 Ausdrucksebene, auf der sie sich in den verschiedenen Formen struktureller und lexikalischer Synonymie der Termini äußert. (Uesseler 2006: 182) (17) Nicht nur in Österreich werden sie [die nationalen Sprachbesonderheiten] verteidigt, wie im Fall der EU-Beitrittsverhandlungen, sondern auch in der Schweiz. (Ammon/ Hägi 2005: 51) Ein kurzer Blick soll der Frage gelten, in welchen Satztypen die Formel vorkommt. Grundsätzlich kann sie in allen Satztypen stehen. Selten ist sie in der Verbindung von zwei ganzen Sätzen wie in (4), häufiger innerhalb eines gegliederten Satzes bei einem Satz mit zwei Nebensätzen (14), einem Subjekt mit zwei Prädikaten wie in (5), (7), (12), (16), einem Subjekt mit zwei Akkusativ-Objekten (11), einem Subjekt mit zwei Adverbialen (13), (17), oder mit zwei Subjekten mit einem Prädikat wie in (6), (8), (10) und (15), oder auch mit zwei Adverbialen wie in (9). 5 Welche Varianten der Formel sind belegbar? Die verschiedenen Belege zeigen das Gemeinsame der Hervorhebung einer Teilaussage innerhalb eines Textes, in dem graphische Mittel durch Wechsel der Schrifttype oder Fettdruck nicht zur Verfügung stehen. Dies bindet sie an das geschriebene Wort, das auch auf die stimmliche Variation eines Sprechers zur Betonung verzichten muss. Andererseits haben sich eine Reihe von Varianten herausgebildet, die bei der Abfassung eines Textes genutzt werden können. Dies zeigen die Beispiele (13) mit einer Ersetzung von auch im zweiten Teil und (14), wo im ersten Teil nicht nur durch ein zwischengeschobenes etwa hervorgehoben scheint. Generell ist der Auftakt mit nicht nur offenbar das Signal dafür, dass es um eine zweiteilige Aussage geht, bei der neben den ersten Sachverhalt ein zweiter tritt. Dieser ist das eigentliche Mitteilungsziel und hat für den Produzenten der Aussage die größere Bedeutung. Daher verlangt dieser zweite Sachverhalt eine höhere Bewertung von der Seite des Rezipienten. In wenigen Fällen kann die Fokuspartikel nur im Vorderteil durch allein ersetzt werden. Dafür gibt es dann aber besondere Gründe: (18) Schuld daran [an einer Bedrohung] sind jedoch nicht allein muslimische Verbände, sondern auch eine Gesellschaft, die sich unter dem Deckmantel religiöser Toleranz lange nicht darum scherte, dass Teile ihrer muslimischen Nachbarschaft in Parallelgesellschaften abdrifteten. (Andresen/ Burgdorf 2008: 152) Wie immer ist dieses Beispiel in einen umfangreichen Kontext eingebunden, in dem auch vom Einfluss muslimischer Verbände auf das Verhalten von Jugendlichen und der Morddrohung an eine Muslimin berichtet wird, die zum Ablegen des Kopftuchs aufgerufen hatte. Die Partikel allein, die hier statt nur gewählt ist, verweist indirekt darauf, dass in unserer Öffentlichkeit mehrfach gerade den Verbänden die Schuld an Bedrohungen gegeben wird. Im zweiten Teil der Formel scheint es eher Abwechslung durch Varianten zu geben, es begegnen Gradpartikeln wie gleich (19), bereits (20) oder Adverbien der Qualität wie vor allem (21). (19) Sonos baut nicht irgendwelche Stereoanlagen, sondern sogenannte Multi-Room-Systeme. Damit kann man nicht nur ein Zimmer, sondern gleich die komplette Wohnung (sowie die darunter liegende) beschallen. (Zeit 5/ 10; 35) Die Partikel gleich ist nicht gleichzusetzen mit einer Zeitaussage im Sinn von ‚sofort“, es handelt sich vielmehr um die Verwendung als Gradpartikel etwa mit der Bedeutung von <?page no="93"?> N ICHT NUR - SONDERN AUCH 83 „sogar“, wie man es in der Umgangssprache als Steigerung häufiger vorfindet. (20) Nicht nur am vergangenen Wochenende, an dem Tief Daisy Deutschland Neuschnee und Sturm bescherte, sondern bereits seit Mitte Dezember können sich viele Reisende des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bahn vom Winter überfordert ist. (Zeit 3/ 10: 29) Eine Steigerung trotz Beibehaltung der Zeitbezogenheit der Partikel bereits liegt auch in (20) vor, wenn Mitte Januar ein Umstand bedauert wird, der mittlerweile vier Wochen anhält und der längst hätte behoben werden müssen. (21) In der Lindenallee, in der sonst Familienfeiern und Konzerte stattfinden, geht es nicht nur um technische Details, sondern vor allem um grundlegende Fragen. (Zeit 4/ 10: 31) Die Ersetzung der gewohnten Partikel auch im zweiten Teil der Formel durch ein betontes vor allem verweist in (21) auf das Grundlegende, von dem die Rede ist. Es geht in der Festhalle in Wolfenbüttel um die Frage der besorgten Anwohner, wo und wie der Atommüll der Asse gelagert werden soll und wie weit sie und ihre Familien von den Auswirkungen betroffen sein könnten. (22) Aber nicht nur die Volksabstimmung, in der eine Mehrheit die Rechte einer Minderheit beschneidet, ist erstaunlich. Erstaunlich ist auch der Umstand, dass Intellektuelle die Schweizer Entscheidung nicht nur gutheißen, sondern sie sogar feiern: als tapfere Widerstandshandlung gegen den allmächtigen Islam, als Fanal gegen die Gleichgültigen, die Feigen und Angepassten. (Zeit 52/ 09: 53) Das Erstaunen des Autors über die Volksabstimmung in der Schweiz gegen die Minarette ist in (22) doppelt benannt. Zweimal steht das Wort erstaunlich in zwei Sätzen direkt hintereinander. Obendrein gehört jeder dieser Sätze zu einem nicht-nur-Satzgefüge. Die jeweiligen Zweitsätze der nicht-nur-Formel haben hier ebenfalls ihre Besonderheit. Einmal fehlt die Konjunktion sondern, und einmal ist das auch nach der Konjunktion durch das semantisch stärkere sogar ersetzt. Für das sehr seltene Fehlen der Konjunktion lassen sich allerdings auch andere Vermutungen anstellen wie (23) zeigt, wo zwei parallele Sätze mit gleichlautendem betonten Anfang aufeinander bezogen sind: (23) Das sagen nicht nur afghanische und übernationale Aufbauhelfer, das predigen längst auch Nato- Generale vor Ort. (Zeit 3/ 10: 3) Eine eigene Interpretation verlangt wiederum ein fehlendes auch wie in (24), wo gestützt durch den brisanten Inhalt der zweite Teil der Formel nach dem isolierten sondern ein auffallendes Gewicht erhält: (24) Gewiss, der finale Einsatz einer Atomwaffe durch Iran hätte nicht nur für das Land, sondern die gesamte Welt verheerende Konsequenzen. (Zeit 6/ 10; 11) Dasselbe ließe sich auch für (25) annehmen, denn alles nach der Konjunktion ist stark betont. Hinzu kommt aber, dass es sich um ein längeres, stark gegliedertes Gefüge handelt: (25) Denn zu dem Angebot, das der Westen der Welt und die westlichen Staaten in ihren Verfassungen dem Bürger machen, gehört nun einmal, dass seine Freiheiten universell gelten sollen, nicht nur dem Angehörigen der eigenen, ursprünglich christlich geprägten Kultur, sondern jedem, der sich an Recht und Gesetz hält. (Zeit 6/ 10: 46) Bei einer im Grunde unbeteiligten Lektüre mit ausschließlichem Blick auf das Vorkommen einer Formel fällt dennoch auf, dass die Formel vollständig oder mit Kürzungen gerade dort vorkommt, wo es um die Schilderung politischer und teilweise auch kriegerischer Auseinandersetzungen geht. Dies zeigt sich abschließend noch einmal in (26). Das gegliederte Satzgefüge beginnt mit einem Stakkato aus drei relativ kurzen <?page no="94"?> E LISABETH R UDOLPH 84 Sätzen und setzt sich nach kurzem, durch ein Semikolon angedeuteten Atemholen fort in einer Variante der Formel, in der die übliche Fokuspartikel nur ersetzt ist durch allein und in den zweiten Teil das Zeitadverb oft eingeschoben ist. (26) Kriege schaffen sich stets ihre eigene Unübersichtlichkeit, sie sind nie bloß rational, auch die Vernünftigen können um den Verstand gebracht werden; Krieg zermürbt nicht allein den Gegner, sondern oft auch die eigenen Soldaten und die eigene Bevölkerung. (Zeit 3/ 10: 3) Wenn man davon absieht, dass es sich um Varianten der Gliederungsformel nicht nur sondern auch handelt, ist sie in (26) zweimal hintereinander eingesetzt, um eine grundsätzliche Auffassung adäquat und in fast durchgängig einfachen Worten zu formulieren. Das ist bemerkenswert für eine Aussageformel, die sich sonst durch ihr seltenes Vorkommen auszeichnet. Die Varianten zeigen hier aber, wie wichtig dem Autor eine Hervorhebung des Außergewöhnlichen eines Kriegszustandes ist, der sich nur mit einer bewussten Verallgemeinerung annähernd beschreiben lässt. 6 Funktionen von nicht nur - sondern auch Formeln aus einfachen wohlbekannten Wörtern scheinen also besonders gut dazu geeignet, in einem längeren und komplexen Satzgefüge den Teil hervorzuheben, der dem Autor besonders wichtig ist. Bei einem Blick auf die Häufigkeit des Vorkommens wird dann deutlich, dass es sich um eine seltene Formulierung handelt. Von allen Kontrast- Fügungen sind es weniger als 10 %, in denen eine sondern-Aussage auf eine Negation folgt, und nur einige davon gehören zu der gesuchten Formel nicht nur sondern auch. Bei der Suche nach guten anführbaren Beispielen, die sich ohne zusätzlichen Bericht über den Kontext leicht verstehen lassen, zeigte sich eine nicht erwartete Schwierigkeit Die Formel hat eine Reihe von Varianten, in denen die semantische Grundaussage "Erhaltung (= nicht nur) und Ergänzung (= sondern auch)" mit anderen Mitteln zum Ausdruck gebracht wird. Das geschieht gelegentlich durch Adverbien mit ähnlicher Bedeutung wie nicht allein statt nicht nur (18). Ganz für sich steht eine Formulierung wie nie bloß im ersten Teil der Formel wie in (26), wo es sich allerdings um die Auseinandersetzung mit einem in seiner Gefährlichkeit oft nicht zutreffend wahrgenommenen Zustand handelt. Anders scheint es im zweiten Teil zu sein. Neben einem Ersatz von auch wie in (19), (20) und (21) gibt es Erweiterungen wie in (22), wo eine Steigerung mit sondern sogar gewählt wird, während eigentlich ein auch genügen könnte, wenn es sich nicht um eine so brisante Frage wie den Umgang mit einer anderen Kultur handelte. Von der Struktur her gesehen bleibt die Formel nicht nur sondern auch ein Teil des Verknüpfungstyps Kontrast. Da sie aber meist, statt zwei ganze Sätze zu betreffen, innerhalb eines gegliederten Satzes lediglich Teile davon in Beziehung setzt, lohnte die gesonderte Betrachtung. Syntaktisch interessant ist die Beobachtung einer zur Hervorhebung von Aussageteilen verwendeten Formel, deren Bestandteile sonst andere Funktionen haben. Es ist also nicht verwunderlich, wenn Grammatiken die Formel nur gelegentlich oder sogar überhaupt nicht erwähnen. Sie ist etwas sperrig und klingt unvoreingenommenen Hörern und Lesern eher nach Beamten- und Verwaltungssprache. Es ist bemerkenswert, dass die zur Kontrast-Verknüpfung gehörenden Bestandteile nicht sondern dennoch dafür sorgen, dass das sehr seltene Vorkommen trotzdem nicht zu einem gravierenden Verständnisproblem führt. <?page no="95"?> N ICHT NUR - SONDERN AUCH 85 Nach meinem Eindruck wird die Formel in der Presse in argumentativen Texten ebenfalls zur Hervorhebung einer Teilaussage genutzt. Das kann gelegentlich gegen Ende der Argumentation sein oder zur Erinnerung an einen bekannten Fall auch in der Anfangsphase eines problematisierenden Aufsatzes. In jeder Hinsicht scheint der Eindruck berechtigt, dass die Formel einen Teil der Gesamtaussage hervorhebt und dass der additive Wert dabei im Vordergrund steht. Die Beispiele aus Literatur und Wissenschaft zeigen darüber hinaus, dass sich die Formel für zusammengefasste Formulierungen eignet, in denen etwas in Erinnerung gerufen wird oder zum Verständnis nützliche Nebenbemerkungen gemacht werden, die den Fluss der Aussage möglichst nicht unterbrechen. Aus den wenigen Beispielen, die wie alle Satzverknüpfungen in einen größeren Kontext eingebunden sind, geht dennoch ein generelles Merkmal hervor: Der fast immer gleichlautende Anfang mit nicht nur wirkt als Signal für den Rezipienten, dass zwei korrespondierende Aussageinhalte folgen, von denen der zweite nach Meinung des Produzenten entscheidend erscheint. Darin liegt der Unterschied zur Satzverknüpfung „Kontrast mit Negation“, die sich in den beiden Formeln zeigt: nicht - sondern = Aufhebung und Ersatz nicht nur - sondern auch = Erhaltung und Ergänzung 7 Ein Rückblick auf die Antike Es ist zu erinnern an das Lateinische, das auch nach dem Untergang des Römischen Reiches seinen Einfluss als Lingua Franca des schriftlichen Umgangs in Europa behielt. Daneben galt die alte griechische Grammatik des Dionysius Thrax aus dem 2. Jh. vor Chr. bis in die Neuzeit, was wegen ihres geringen Umfangs überrascht. Trotzdem enthält diese Grammatik einen Abschnitt über die Konjunktion als Wort, wo es heißt: Die Konjunktion ist ein Wort, das den Gedanken in einer bestimmten Anordnung verknüpft, und das das verdeutlicht, was in einer Äußerung nur implizit vorhanden ist. (vgl. Kürschner 1996: 209) In der Grammatik-Schreibung steht generell das Erlernen einer zweiten Sprache im Vordergrund des Unterweisungs-Interesses. Da in allen indo-europäischen Sprachen ein Text aus Sätzen und Satzgefügen entsteht, die von einer Sprache in eine andere übertragen werden können, lässt sich verstehen, dass Grammatiken ihren Schwerpunkt in Wort- und Satzbildung haben. In der Satzlehre war der altphilologische Einfluss von Dauer. Im Unterricht fanden die sogenannten Nebensätze bei Übersetzungsübungen besondere Aufmerksamkeit. Dementsprechend wurden sie in den Grammatiken ausführlich dargestellt, und die am Anfang der Nebensätze stehenden Konjunktionen wurden nach semantischen Gesichtspunkten gegliedert. Die vergleichsweise wenigen Konjunktionen von Hauptsätzen wie et, nam, sed waren von geringerem Interesse, sie wurden wie andere Wörter gelernt und angewendet. Diese aus pädagogischen Gesichtspunkten verständliche Vernachlässigung gerade der bei der Abfassung von Texten wichtigen parataktischen Konjunktionen hat sich auch für lange Zeit in der Linguistik niedergeschlagen. Die aus langjähriger Unterrichtserfahrung hervorgegangenen Werke wie die Lateinische Grammatik von Ellendt-Seyffert aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und das Repetitorium der lateinischen Grammatik und Stilistik von H. Menge (1874) haben Generationen von Altphilologen durch die Schulzeit begleitet. Menges längstes Kapitel befasst sich mit den Konjunktionen und darin ausführlich mit Konjunktionpaaren wie et et, cum tum, qua qua, tam quam und so auch mit non modo sed. In einer Anmerkung schreibt Menge: <?page no="96"?> E LISABETH R UDOLPH 86 Die Ausdrücke non modo, non solum, non tantum sed (oder verum) etiam sind untereinander gerade so unterschieden wie die deutschen nicht nur, nicht allein, nicht bloß sondern auch. (Menge 1874: 264, § 374) Bei Ellendt-Seyffert (1902: 190) findet sich nach einigem Suchen nach Erwähnung von tantum abest ut ut und ita non, adeo non ut die hübsche Bemerkung: „Für beides aber steht weit häufiger non modo non sed (verum) etiam (sed ne quidem).“ In einer neueren lateinischen Grammatik, die über hundert Jahre später erschien (vgl. Pinkster 1988) haben sich die strukturalistische Betrachtungsweise und aktuellere Forschungsgebiete zu Partikeln niedergeschlagen. Dann erscheint ein Beispiel für nicht nur sondern auch unter dem Titel „Fehlen eines Kerns und sog. ´substantivischer Gebrauch`“ aus Ciceros Orator: (27) a non Homero soli locus est ... aut Archilocho ... sed horum vel secundis vel etiam infra secundos (Es gibt nicht nur Raum für einen Homer oder Archilochos, sondern auch für jene, die hinter ihnen im 2. Rang oder sogar noch nach dem 2. Rang stehen) (Pinkster 1988: 136/ 137) 8 Abschließendes In kurzer Zusammenfassung lässt sich bemerken, dass die additive Variante des Satzverknüpfungstyps Kontrast in der Formel nicht nur sondern auch zwar selten, aber nicht elitär ist. Sie wird in Presse, Literatur und Wissenschaft genutzt und bereitet allgemein dem Verständnis keine Schwierigkeiten, wie ich durch Nachfragen bei Freunden und Bekannten erfahren habe. Literatur Andresen, Karen und Stephan Burgdorff (Hrsg.) (2008): Weltmacht Religion. Wie der Glaube Politik und Gesellschaft bestimmt. München: Goldmann. Erpenbeck, Jenny (2010 [2007]): Heimsuchung. München: btb. Frischmuth, Barbara (1979). Die Mystifikationen der Sophie Silber. München: dtv. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm. (1854-1957) Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel.[Nachdruck München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, 33 Bände] Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1937). Märchen der Brüder Grimm. München: Droemer/ Knaur. Grundzüge (1981). 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Festgabe für Alexander Beinlich. Emsdetten: Verlag Lechte, 350-360. Kürschner, Wilfried. (1996). Die Lehre des Grammatikers Dionysios. Übersetzt von Wilfried Kürschner. In: Swiggers, Pierre and Alfons Wouters: Ancient Grammar: Content and Context. Leuven. Paris: Peeters, 178-215. Kürschner, Wilfried und Reinhard Rapp (Hrsg.). (2006). Linguistik International. Festschrift für Heinrich Weber. Lengerich, Berlin et al. Pabst Science Publishers. Mann, Thomas. (1975-1978, [1934-1943]). Joseph und seine Brüder. 3 Bde. Frankfurt am Main: Fischer. Menge, Hermann. (1874). Repetitorium der lateinischen Grammatik und Stilistik. Wolfenbüttel: Zwißler. Müller, Herta. (2009). Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Orths, Markus. (2009). Hirngespinste. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. Pasch, Renate, Ursula Brauße, Eva Breindl, Ulrich Hermann Waßner (2003): Handbuch der deutschen Konnektoren. 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Zeit (2009/ 2010): 52/ 09, 53/ 09, 3/ 10, 4/ 10, 5/ 10, 6/ 10. <?page no="99"?> Inneres Objekt als grammatischer Transitivierungsmechanismus 1 Norio Shima 1 Einführung In diesem Beitrag werden sog. innere Objekte im Deutschen behandelt, unter denen in Anlehnung an Bußmann (2002: s.v.) „eine Art des Objekts“ verstanden wird, „das etymologisch mit dem Verb verwandt ist, von dem es abhängt“. Es handelt sich bei diesen Satzgliedern um Substantive im Akkusativ, die traditionell unter unterschiedlichen Bezeichnungen in verschiedenen Grammatiken beschrieben und erklärt sind: Akkusativ des Inhalts (Admoni 1960/ 1970, Brinkmann 1962/ 1971), innerer Akkusativ (Admoni 1960/ 1970), inneres Objekt (Bausewein 1990, Bußmann 2002, Duden-Grammatik 2005, Götze/ Hess-Lüttich 1989, Nobuoka/ Fujii 1972/ 1978, Zifonun et al. 1997), kognates Objekt (Bußmann 2002, Schwickert 1984) u.a. Gemeint sind damit Objekte wie in folgenden Beispielen: 2 (1) a. Er lebt ein trauriges Leben. (Brinkmann 1962/ 1971: 410) b. Sie kämpft einen schweren Kampf. (Götze/ Hess-Lüttich 1989: 94) c. Er schlief den Schlaf des Gerechten. (Schulz/ Griesbach 1960/ 1972: 220) d. Du hast einen temperamentvollen Tanz getanzt. (ibd.) e. Meine Großtante ist einen schlimmen Tod gestorben. (Duden 2005: 823) In der traditionellen Forschung der deutschen Grammatik versuchte man, diese Objekte angesichts ihrer auffälligen grammatischen Eigenartigkeiten vom üblichen Akkusativobjekt abzugrenzen und vielmehr als Angabe/ Adjunkt 3 zu identifizieren. In Anlehnung an Forschungsergebnisse aus erweiterter sprachtypologischer Perspektive (Jayaseelan 1988, Mittwoch 1998, Pereltsvaig 1998, 1999, 2002 u.a.) wurde jedoch in den bereits vorliegenden Forschungsergebnissen des Verfassers (Shima 2003a, 2003b, 2006) eine ‚Koexistenz‘-Möglichkeit angenommen und diskutiert, wobei sich die erfüllte Funktion des inneren Objektes in einem Satz aufgrund der Transitivitätstheorie von Hopper/ Thompson 1 Für wertvolle Kommentare und Ratschläge bedanke ich mich bei Prof. Malte Jaspersen und Ryoko Naruse-Shima recht herzlich. Der Beitrag enthält z.T. Ergebnisse meiner Forschungsarbeit, die durch Grant-in-Aid for Scientific Research (C) 19520372 und Kyoto Sangyo University Research Grants unterstützt worden ist. 2 Admoni (1960/ 1970) und Zifonun et al. (1997) beschränken das innere Objekt nicht ausschließlich auf das Objekt mit einem intransitiven Verb: „Mörderische Schlachten werden geschlagen“ (Zifonun et al. 1997: 1086). Es gibt ferner Forscher, die als solches auch dasjenige Objekt verstehen, das nicht nur etymologisch, sondern auch semantisch auf das Verb bezogen ist, von dem es abhängt: „Sie tanzten einen Walzer“ (Nobuoka/ Fujii, 1972/ 1978: 32). 3 In manchen wissenschaftlichen Untersuchungen (Schwickert 1984: 38, Zifonun et al. 1997: 1086, Shima 2006: 566 u.a.) sind passivische Sätze mit dem betreffenden Satzglied angegeben. Dies weist auf die andere Möglichkeit hin, dass das innere Objekt (zumindest teilweise) eine Eigenschaft der Ergänzung bzw. des Arguments besitzt. Diese kontroversen Forschungssituationen werden z.B. in der Duden-Grammatik (2005: 823) wie folgt zusammengefasst: „Allerdings besteht keine Einigkeit darin, ob auch das so genannte ‚innere Objekt‘ eine Ergänzung oder nicht eher eine Angabe (ein ‚freier Aktant‘) ist.“. <?page no="100"?> N ORIO S HIMA 90 (1980) 4 als grammatisches Mittel zur „Erzielung einer höheren Transitivität“ (Shima 2006: 572) betrachten lässt. 5 Ziel dieses Beitrags ist es nun, den vom Verfasser entwickelten vorgeschlagenen Transitivierungsmechanismus bei den inneren Objekten näher zu beleuchten und zu zeigen, dass dieser eine so substantielle Rolle in der deutschen Grammatik spielt, dass er auch in anderen grammatischen Konstruktionen im Deutschen zu finden ist. 2 Transitivierungsmechanismus bei innerem Objekt Ausgehend vom Vergleich eines einfach intransitiven Satzes mit einem entsprechenden, ein inneres Objekt enthaltenden Satz, spielen von den insgesamt zehn Hopper/ Thompsonschen Komponenten der Transitivität die vier Komponenten A, C, I und J eine entscheidende Rolle: Anzahl der Partizipanten, Aspekt, Betroffenheit des Objekts und Individuierung des Objekts. Sätze mit einem inneren Objekt enthalten ein Satzglied - einen im Verb semantisch verhüllten, jedoch morphosyntaktisch realisiertes Akkusativ - mehr, als ihre Entsprechungen ohne inneres Objekt (Komponente A). Der im Satz wiederholte Akkusativ weist angesichts seiner konkreten, referentiellen, singularischen und zählbaren Eigenschaften eine mehr oder weniger intensive Individuiertheit des Objektes auf (Komponente J) 6 und kann somit als eine Art ‚effiziertes Objekt‘ verstanden werden (Komponente I), solange der Akkusativ durch die vom Verb ausgedrückte Handlung erst zustande kommt. 7 Wenn dem so ist, müssen die Sätze mit dem inneren Objekt der Definition des effizierten Objekts zufolge einen telischen Aspekt aufweisen (Komponente C), d.h. irgendeinen semantischen Endpunkt besitzen oder implizieren, den das Objekt als Folge der vom Verb bezeichneten Handlung erreicht. Bezüglich der angegebenen vier Komponenten von Hopper/ Thompson (1980) weisen Sätze mit innerem Objekt in jeder Hinsicht eine relativ höhere Transitivität auf als entsprechende Sätze ohne das betreffende Satzglied, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass erstere transitiver sind als letztere und ferner dass das vorhandene innere Objekt die Funktion hat, die Transitivität im Vergleich mit dem entsprechenden Satz ohne inneres Objekt zu erhöhen. Dies kann auf einer Skala wie folgt schematisiert werden, wobei vom Transitivierungsmechanismus gesprochen wird, wenn sich die Lokalisation bestimmter Sätze durch grammatische Mittel systematisch von niedriger (rechts) zu hoher Transitivität (links) ändert: 4 Unter Transitivität verstehen Hopper/ Thompson (1980) einen Komplexbegriff von zehn Merkmalen bzw. Komponenten. Ein Satz kann umso transitiver werden, je mehr Komponenten hoher Transitivität er besitzt. Ihre Ansicht unterscheidet sich von der traditionellen Annahme, dass der Begriff disjunktiv und axiomatisch und die ‚transitiv‘-‚intransitiv‘-Dichotomie am gebräuchlichsten ist. 5 Laut Austin (1982) fungiert in australischen Sprachen die Konstruktion mit innerem Objekt nicht nur als Transitivierungsmechanismus wie beim Deutschen, sondern ist auch für die umgekehrte Funktion, nämlich den Intransitivierungsmechanismus, verantwortlich. 6 Das innere Objekt ist insofern als konkret, referentiell, singularisch und zählbar zu interpretieren, als es u.U. pronominalisiert, pluralisiert und passiviert werden kann: (i) Letzte Woche erst hat Bob Beamon einen neuen Rekordsprung gesprungen. Heute hat Carl Lewis ihn auch gesprungen. (Schwickert 1984: 40) (ii) Leider stirbt auch bei Rage die Akustik tausend Tode. (Mannheimer Morgen 19.12.1995) (iii) Der Traum war so schön geträumt. (Zifonun et al. 1997: 1086) 7 Vgl. z.B. ein Haus in der Phrase ein Haus bauen. <?page no="101"?> I NNERES O BJEKT ALS GRAMMATISCHER T RANSITIVIERUNGSMECHANISMUS 91 (2) Transitivitätsskala hohe Tr. -----------------------------------------------------------------------------niedrige Tr. Sätze mit Sätze ohne innerem Obj. inneres Obj. Es ist im Deutschen noch eine andere Art des Transitivierungsmechanismus denkbar. Beim Verb sterben ist nämlich neben der bereits oben diskutierten, „mit acc.- Ergänzung“ (Grimm/ Grimm 1935/ 1984: 2417) vorkommenden Verbindungsmöglichkeit auch ein Substantiv im Genitiv als syntaktische Verwirklichung des inneren Objektes möglich: 8 (3) Doch der gerade 50 Jahre alte Ehemann starb keines natürlichen Todes, sondern kam auf äußerst brutale Weise ums Leben: 22 Beilschläge auf den Kopf führten seinen Tod herbei. (Mannheimer Morgen, 12.12.1998; kursiv vom Verfasser) Nach dem Grimmschen deutschen Wörterbuch (1935/ 1984: 2418) bleibt die zweite Form des inneren Objektes, die diachronisch auf einen instrumental-kausativen Genitiv im Mhd. und dieser wiederum auf einen instrumentalen Dativ im Ahd. zurückgeführt wird, auch im Nhd. bei der Kombination des betreffenden Verbs mit den Substantiven todes und hungers „bis heute üblich“ (ibd.) bzw. noch gebräuchlich, wobei sie jedoch bereits „im freien gebrauch aber stark eingeschränkt“ (ibd.) ist. 9 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die angegebenen Verbindungen des jeweiligen Substantivs im Genitiv mit dem Verb sterben auch in DUDEN - dem großen Wörterbuch der deutschen Sprache (2000: s.v.) bestätigt werden können und dort als ‚gehoben‘ kennzeichnet werden, wobei sie noch demzufolge syntaktisch auf eine alltägliche Art und Weise realisiert werden können, d.h. mittels eines Adverbials 10 bzw. einer Präpositionalphrase: (4) a. eines sanften Todes (geh.; sanft) sterben b. an/ vor Hunger, (geh.: ) hungers sterben (verhungern) Angesichts dieser zweierlei Ausdrucksmöglichkeiten ergibt sich nun die Frage, ob sich die beiden Sätze tatsächlich nur durch das stilistische oder semantopragmatische Merkmal voneinander unterscheiden können. Im Unterschied zu den gehobenen Ausdrücken mit einem Satzglied im Genitiv besitzt das Verb in den üblichen Ausdrücken kein weiteres Satzglied im entsprechenden Satz, auf welches sich das Verb direkt bezieht oder welches unmittelbar vom Verb regiert wird. 11 Dies kann, unabhängig von der diachronischen 8 In Grimm/ Grimm (1935/ 1984: 2417f.) wird die Ansicht vertreten, dass die in diesem Beitrag fraglichen Substantive im Akkusativ und Genitiv zwar beide das Verb näher bestimmen, dennoch die Bezeichnung 'inneres Objekt’ sich nur auf das Substantiv im Akkusativ bezieht. Dies zeigt, dass sich die Funktion der beiden Substantive im Satz sicher gleicht, aber der Ursprung der jeweiligen syntaktischen Form doch unterschiedlich ist, was sich in der zweistufigen Diskussion des Transitivierungsmechanismus im vorliegenden Beitrag widerspiegelt. 9 Man findet z.B. unter dem Eintrag ‚Tod‘ in DUDEN (2000) folgende Beschreibung: „des Todes sein (geh. veraltend; sterben müssen)“. 10 Dies ist auch der Fall bei einem inneren Objekt im Akkusativ: „Er schläft einen tiefen Schlaf. = Er schläft tief. “ (Schwickert 1984: 42). 11 Im Hinblick auf die diesem Beitrag zugrunde liegenden kognitiv- und funktional-linguistischen Grundannahmen einer motivierten Beziehung zwischen Form und Bedeutung liegt der Schluss nahe, dass diese syntaktisch differenzierten Verwirklichungen eines Sachverhaltes u.U. zu möglichen grammatischen Unterschieden führen können, auch wenn diese zu fein und klein sind, um immer klar fassbar zu sein. <?page no="102"?> N ORIO S HIMA 92 Entwicklung, aus synchronischer Perspektive als vielfältiger Satzbauplan des Verbs verstanden werden: Die Verwendung eines Verbs in Verbindung mit einem Genitiv-Satzglied führt analog zu einigen anderen, im gegenwärtigen Deutsch noch gebräuchlichen Verben mit Genitivergänzung wie z.B. bedürfen, sich entledigen, gedenken, sich rühmen, u.a. zu einer stärkeren syntaktischen Einheit bzw. festen Verbindung des Verbs mit dem Substantiv im Genitiv, während bei der Verwendung eines Verbs ohne ein solches Satzglied, einfach weil im Satz entweder ein Objekt fehlt oder eine Präposition zwischengeschoben ist, eine solche Möglichkeit von vornherein nicht gegeben ist. Die Erkenntnisse über die Beziehung des Satzgliedes im Genitiv zum Verb werden zusätzlich verstärkt und motiviert durch diachronische Entwicklungen der deutschen Sprache. Zahlreiche Genitivergänzungen wurden im Laufe der Zeit durch Präpositionalgefüge und andere grammatische Markierungen ersetzt: (5) a. Wir schämen uns ihrer. Wir schämen uns wegen ihr/ ihretwegen. (Götze/ Hess-Lüttich 1989: 375) b. Ich erinnere mich an diesen Menschen/ (geh.: ) dieses Menschen (DUDEN 2000) 12 c. Vergiss nicht deiner Pflichten! (veraltet, noch geh.) (ibd.) Das Diskutierte kann aufgrund der Transitivitätstheorie dahingehend interpretiert werden, dass Sätze mit dem Substantiv im Genitiv eine relativ höhere Transitivität aufweisen können als solche mit einem Adverbial oder einer Präpositionalphrase, in denen das Verb entweder kein Objekt besitzt, das es grammatisch regiert, oder sich nur indirekt über eine Präposition grammatisch auf ein Substantiv bezieht. Wenn dem so ist, kann nun mit Recht daraus geschlossen werden, dass die schematische Darstellung unter (2) oben im Prinzip auch für den Fall des Substantivs im Genitiv gilt. 3 Transitivierungsmechanismus in der deutschen Grammatik In diesem Abschnitt wird diskutiert, ob der oben beschriebene Mechanismus der Transitivierung ausschließlich auf Konstruktionen mit innerem Objekt anwendbar ist. In einem solchen Fall wäre der Mechanismus sehr konstruktionsspezifisch und weniger signifikant. 13 Im Deutschen sind jedoch noch andere Konstruktionen vorhanden, in denen ein intransitives Hauptverb eines Satzes zusammen mit einem weiteren Satzglied im Akkusativ vorkommen kann. Diese nennt man in der Forschungsgeschichte wegen des auffälligen transitiven Musters der Konstituentenreihenfolge von S(ubjekt)-V(erb) - O(bjekt) - A(djektiv) transitive resultative Konstruktionen, deren Bedeutung so verstanden werden kann: Dadurch, dass das Subjekt die vom Verb bezeichnete Handlung vornimmt bzw. sich im entsprechenden Prozess befindet, steht das Objekt in dem vom Adjektiv bezeichneten Zustand. 14 12 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die ersetzbare Präposition nicht immer eindeutig, sondern manchmal regional ausgewählt wird: “(österr., schweiz.: ) Ich erinnere mich auf diesen Menschen” (DUDEN 2000). Dies weist darauf hin, dass die Ersetzung eines syntaktischen Mittels nicht nur rein semantisch, sondern auch von regionalen Sprachgewohnheiten bedingt ist. 13 Vgl. auch Anm. 5. Für Näheres zur sprachtypologischen Gültigkeit des inneren Objektes als Transitivierungsbzw. Intransitivierungsmechanismus sei auf Austin (1982) und andere, in Hopper/ Thompson (1982) enthaltene Forschungen hingewiesen. 14 Die resultativen Konstruktionen erwiesen sich in der neueren Forschung (Boas 2003, Gold- <?page no="103"?> I NNERES O BJEKT ALS GRAMMATISCHER T RANSITIVIERUNGSMECHANISMUS 93 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass wir als marginale, vom Prototyp weit entfernte Formen auch Beispiele wie in (6) trotz des jeweiligen vorkommenden intransitiven Hauptverbs zu derselben grammatischen Kategorie rechnen dürfen, wobei wiederum ein Transitivierungsmechanismus eine entscheidende Rolle zu spielen scheint: (6) 15 a. Er redete die Zuschauer müde. (Abraham 1995: 342) b. Peter tanzt seine Partnerin müde. (Steube 1994: 247) c. Er schreit sich heiser. d. Der Wecker hat sie wach getickt. (Pütz 1988: 186) e. Sie hustet seinen Nachbarn krank. (Rapp 1997: 97) Das Verb reden in (6a) ist beispielsweise zwar nicht ausschließlich intransitiv verwendet (vgl. 7a-b unten), die Auslassung des Adjektivs müde müsste jedoch, wie man aus Beispiel (7c) ersehen kann, zu einem ungrammatischen Satz führen, der dann aber durch Ergänzung einer semantisch passenden Präpositionalgruppe wieder grammatisch gemacht werden könnte (vgl. 7d). Relevant ist hier, dass die Hinzufügung einer Präposition allein ebenfalls in einem unerwünschten Satz resultieren müsste, wie es aus dem Beispiel (7e) ersichtlich ist: 16 (7) a. Der Lehrer redet. (Helbig/ Schenkel 1983: 409) b. Er redet die Wahrheit / kein Wort. (ebd.) c. *Er redet die Zuschauer . d. Er redet zu/ mit/ vor den Zuschauern. e. *Er redet zu/ mit/ vor den Zuschauern müde. Aus diesen sprachlichen Phänomenen kann nun in der Diskussion des Transitivierungsmechanismus geschlossen werden, dass ein Adjektiv in den transitiven resultativen Konstruktionen, wie ein inneres Objekt bei den Konstruktionen mit innerem Objekt, eine höhere Transitivität auslöst. Der Einsatz des Adjektivs im ursprünglich intransitiven Satz erhöht/ verstärkt also die Transitivität des Satzes dergestalt, dass sich die intransitive Eigenschaft des Hauptsatzes zu einer transitiven verändert, so dass entweder das Substantiv aus der Präpositionalphrase zu einem eigenständigen Akkusativobjekt angehoben oder verändert wird (Beispiele 6a-b) oder sogar in einigen Sonderfällen (Beispiele 6c-e) ein von den lexikalischen Informationen des Hauptverbs völlig unabhängiges Substantiv zum berechtigten Akkusativobjekt des Satzes wird. 17 Der dadurch erworbene berg/ Jackendoff 2004, Kaufmann/ Wunderlich 1998, Washio 1997 u.a.) nicht als einheitliche grammatische Konstruktionen, sondern als solche mit radial strukturierten Subtypen (Shima 2001) oder als „a family of subconstructions“ (Goldberg/ Jackendoff 2004: 563). 15 In den bisherigen Untersuchungsergebnissen des Verfassers (Shima 2001, 2010) wird aufgrund der Rektionsfähigkeiten des Hauptverbs von einer übergeordneten Dreiteilung der transitiven resultativen Konstruktionen ausgegangen. 16 Für Beispiel (6b) gilt im Prinzip die gleiche Diskussion: (i) *Peter tanzt seine Partnerin . (ii) Peter tanzt mit seiner Partnerin. (iii) *Peter tanzt mit seiner Partnerin müde. Bei den Beispiele (6c-e) ist den angegebenen Beispielen (6a-b) gemeinsam, dass die Auslassung des jeweiligen Adjektivs deren Ungrammatikalität bewirkt, eine ergänzbare sinngetreue Präposition scheint jedoch in den Fällen vielmehr schwer vorstellbar. 17 In ihrer Grammatik der deutschen Sprache betrachten Zifonun et al. (1997: 1114) mit Recht einen Teil der transitiven resultativen Konstruktionen als „Transitivierungskonstruktion“. <?page no="104"?> N ORIO S HIMA 94 Objektstatus des Substantivs im Akkusativ kann ferner angesichts der Tatsache bestätigt werden, dass die Sätze, auch wenn sie stilistisch nicht besonders schön klingen und sehr stark kontextbedingt sind, passivfähig sind und die Substantive im Akkusativ zu solchen im Nominativ geändert werden 18 : (8) a. Die Zuschauer wurden müde geredet. b. Seine Partnerin wurde müde getanzt. c. Sie wurde wach getickt. d. Sein Nachbar wurde krank gehustet. Erwähnenswert ist bei der erhöhten Transitivität der transitiven resultativen Konstruktionen mit ursprünglich intransitivem Hauptverb, dass eine verhältnismäßig höhere Transitivität einen weiteren Einfluss auf die Grammatik der deutschen Sprache ausüben kann: (9) a. Er hat den Käfer totgetreten. b. Er ist auf den Käfer getreten. (10) a. Er hat sich die Füße wund gelaufen. (Rapp 1997: 108) b. Er ist gelaufen. Aus den obigen Beispielen ersieht man bereits, dass auch die Auswahl des Hilfsverbs bei der Perfektbildung beeinflusst wird. Die ursprünglich intransitiven Verben treten und laufen fordern in der erwünschten Verwendung üblicherweise sein als Hilfsverb für das Perfekttempus (beide b-Sätze in Beispielen 9-10). Der Einsatz eines einen Resultatszustand des Akkusativobjektes denotierenden Adjektivs verursacht in den betreffenden Sätzen eine so hohe Transitivität, dass hier, wie bei Sätzen mit einem üblichen transitiven Verb, das Hilfsverb haben verwendet werden muss. 19 4 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurde ein verborgener grammatischer Mechanismus der Transitivierung im Deutschen erörtert und versucht, zu zeigen, was für eine Funktion zwei Varianten des inneren Objektes im Deutschen besitzen. Sie müssen zwar diachron auf verschiedene Quellen zurückgeführt werden, besitzen synchron jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie beide im Vergleich mit den ursprünglichen Sätzen ohne dieses Satzglied mit erhöhter Transitivität in den Sätzen vorkommen. Es wurde dabei angenommen, dass diese Gemeinsamkeit vielmehr der erfüllten Funktion des inneren Objektes zugeschrieben werden sollte, d.h. das innere Objekt fungiert im Satz als Transitivierer. Interessanterweise ist in der deutschen Grammatik ein solcher Transitivierer nicht ausschließlich auf das innere Objekt beschränkt. Im Teil der transitiven resultativen Konstruktionen, dessen Hauptverb ein intransitives Verb darstellt, fungiert als Transitivierer das resultative Adjektiv, wobei die etablierte Transitivität bei den resultativen Konstruktionen höher ist als die bei den 18 Die angegebenen Passivsätze wurden zuerst vom Verfasser gebildet und dann von drei MuttersprachlerInnen des Deutschen, die keine linguistischen Vorkenntnisse besitzen, überprüft und als grammatikalisch bewertet. 19 Hier spielt auch die Passivfähigkeit eine wichtige Rolle, wenn man in den transitivierten Sätzen von einem berechtigten Objektstatus der jeweiligen Substantivgruppe im Akkusativ spricht: (i) Der Käfer wurde totgetreten. (ii) Seine Füße sind wund gelaufen. <?page no="105"?> I NNERES O BJEKT ALS GRAMMATISCHER T RANSITIVIERUNGSMECHANISMUS 95 inneren Objekten, so dass die Auswahl des Hilfsverbs für die Perfektbildung bei ersteren, aber nicht bei letzteren beeinflusst wird, was schematisch wie in (12) unten zusammengefasst werden kann. Der in diesem Beitrag vorgeschlagene Transitivierungsmechanismus müsste selbstverständlich durch empirische Forschungen weiter überprüft, ergänzt und verbessert werden, wobei eine Korpusrecherche (Boas 2003, Macfarland 1995 u.a.) oder eine Verteilung von Verbklassen (Visser 1963) zur gezielten Recherche eine relevante Rolle spielen sollte. (12) Transitivitätsskala hohe Tr. -----------------------------------------------------------------------------niedrige Tr. Sätze mit Sätze ohne innerem Obj. inneres Obj. (Perfektbildung mit (Perfektbildung mit haben bzw. sein) haben bzw. sein) Sätze mit Sätze ohne resultativem Adj. resultatives Adj. (Perfektbildung mit (Perfektbildung mit haben) haben bzw. sein) Literatur Abraham, Werner (1995). Deutsche Syntax im Sprachenvergleich: Grundlegung einer typologischen Syntax des Deutschen. Tübingen: Narr. Admoni, Wladimir G. (1960/ 1970). Der deutsche Sprachbau. München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (3. durchgesehene und erweiterte Aufl.). Austin, Peter (1982): Transitivity and Cognate Objects in Australian Languages. In: Hopper, Paul J. und Thompson, Sandra A. (Hrsg.): Studies in Transitivity. Syntax and Semantics 15. New York: Academic Press, 37-47. Boas, Hans C. (2003). A Constructional Approach to Resultatives. Stanford: CSLI Publications. Brinkmann, Hennig (1962/ 1971). Die deutsche Sprache: Gestalt und Leistung. Düsseldorf: Schwann (2., neubearbeitete und erweiterte Aufl.). Bußmann, Hadumod (2002). Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner (3., aktualisierte und erweiterte Aufl.). DUDEN - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (2000). 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The Welsh grammars consulted include, inter alia, the following: Gramadeg Cymraeg Cyfoes (1976), Modern Welsh by King (1993), A Comprehensive Welsh Grammar by Thorne (1993) and A Welsh Grammar by Williams (1980). 2 The basic forms of Welsh verbs The basic forms of Welsh verbs are traditionally considered verb-nouns (or verbal nouns; in short: VN) because they happen to share certain features with nouns. They constitute a very interesting class, posing numerous problems to researchers (see, inter alia, Müller, 1999; Moss, 2007). However, in numerous recent works, verb-nouns are also labelled infinitives (cf. Skrzypiec, 1991). We should distinguish between a verb-noun and its stem to which tense endings are attached. King (2000: xx) gives several examples of verb-nouns and their stems: (1) canu (VN) - can- (stem) ‘sing’ agor (VN) - agor- (stem) ‘open’ rhedeg (VN) - rhed- (stem) ‘run’ sibrwd (VN) - sibryd- (stem) ‘whisper’ It should be remembered that the terms infinitive, verb and verb-noun (also spelt verbnoun) or verbal noun happen to be employed in different sources to refer to the same forms. 3 The Welsh tenses 1 According to authors of numerous grammars of Welsh (cf., e.g., King, 1993; Thorne 1993), the system of Welsh tenses comprises simple tenses and periphrastic temporal constructions. It is possible to distinguish the following simple tenses: − the Present Tense (praesens) − the Imperfect Tense (imperfectum) − the Perfect Tense (perfectum/ aorist) − the Pluperfect Tense (plusquamperfectum) − the Future Tense (futurum) 1 Sections 3 and 4 of this paper are largely based on Skrzypiec (1991, 1999). <?page no="108"?> A NDRZEJ M. S KRZYPIEC 98 As far as verb forms are concerned, Welsh verbs are conjugated for tense, aspect, person and number. Regular verbs have six tense forms for each person and number. Let us present the conjugation of the verb canu ‘sing’, for the third person singular: (2) can ‘he sings’ (praesens indic.) canai ‘he sang’ (imperfectum indic.), ‘(if) he had sung’ (imperfectum subiunc.) canith ‘he will sing’ (futurum) canodd ‘he sang’ (perfectum indic.) canasai ‘he had sung’ (plusquamperfectum indic.) cano ‘(if) he sang’ (praesens subiunc.) The verb bod ‘be’ has eight “morphological tenses”: ( 3) yw/ ydyw/ y, mae/ mae/ oes (praesens indic.) bydd (futurum, praesens indic. habitualis) oedd/ ydoedd (imperfectum indic.) byddai (imperfectum habitualis indic.) bu (perfectum indic.) buasai (plusquamperfectum indic.) bo/ byddo (praesens subiunc.) bai/ byddai (imperfectum subiunc.) In the set of the periphrastic constructions which can be classified as temporal constructions belonging to - or completing - the system of Welsh tenses, one can find, inter alia, the following elements: − Present: mae + yn + V − Imperfect Past: roedd + yn + V − Present Perfective: mae + wedi + V − Present Perfective Progressive: mae + wedi + bod + yn + V − Past Perfective: roedd + wedi + V − Past Perfective Progressive: roedd + wedi + bod + yn + V − Past Completive: fuodd + yn + V − Future Progressive: fydd + yn + V − Future Perfective: fydd + wedi + V − Future Perfective Progressive: fydd + wedi + bod + yn + V Let us now present examples of sentences illustrating the use of the Welsh simple tenses and periphrastic temporal constructions (Skrzypiec, 1991). Sentences (4) - (9) may serve as examples of the “morphological tenses” in which the stem can- ‘sing’ (initial c is mutated after the declarative sentence particle mi: gan-) is followed by an appropriate ending: (4) Mi ganodd Siôn gân ddel neithiwr. ‘John sang a nice song last night.’ (5) Mi ganith Siôn gân ddel yfory. ‘John will sing a nice song tomorrow.’ (6) Canith Siôn gân ddel rwan/ bob nos. ‘John sings/ is singing a nice song now/ every night.’ (7) Mi ganai Siôn gân ddel yfory. ‘John would sing a nice song tomorrow.’ (8) Mi ganai Siôn gân ddel neithiwr. ‘John sang a nice song last night.’ (9) Mi ganai Siôn gân ddel bob nos. ‘John used to/ would sing a nice song every night.’ <?page no="109"?> T HE W ELSH V ERB : S ELECTED M ORPHOSYNTACTIC F EATURES 99 Sentences (10) - (25) exemplify the use of the verb-nouns siarad ‘speak’ and canu ‘sing’ in periphrastic temporal constructions. (10) Mae Siôn yn siarad Saesneg. ‘John speaks English.’ (11) Roedd Siôn yn canu caneuon del neithiwr. ‘John sang nice songs last night.’ (12) Roedd Siôn yn canu yn y côr. ‘John used to sing in a choir.’ (13) Mae Siôn wedi canu cân del. ‘John has sung a nice song.’ (14) Mae Siôn wedi bod yn canu ers wythnos dwetha. ‘John has sun/ been singing since the last week.’ (15) Roedd Siôn wedi canu cân del. ‘John had sung a nice song.’ (16) Roedd Siôn wedi bod yn canu cân del. ‘John had been singing a nice song.’ (17) Mi fuodd Siôn yn canu cân ddel. ‘John sang a nice song.’ (18) Mi fydd Siôn yn canu cân ddel. ‘John will be singing a nice song.’ (19) Mi fydd Siôn yn canu bob bore. ‘John sings every morning.’ (20) Mi fydd Siôn wedi canu cân ddel cyn with o’r gloch. ‘John will have sung a nice song before eight o’clock.’ (21) Mi fydd Siôn wedi bod yn canu cân ddel yn y côr yma am ddwy flynedd cyn diwedd y mis. ‘By the end of this month John will have sung a nice song in the choir for two years.’ (22) Mi fyddai Siôn yn canu cân ddel. ‘John would sing a nice song.’ (23) Mi fyddai Siôn yn canu cân ddel yn y côr. ‘John used to/ would sing a nice song in the choir.’ (24) Mi fyddai Siôn wedi canu cân ddel. ‘John would have sung a nice song.’ (25) Mi fyddai Siôn wedi bod yn canu caneuon del. ‘John would have been singing nice songs.’ 4 Feature analysis We have already stated in the introductory section of this paper that we will make use of feature analysis to deal with the Welsh tenses. The following semanto-formal features will be employed in the description (Skrzypiec, 1991: 45ff.): − COND : CONDITIONAL (conditionalis) − PRAET : PRETERIT (praeteritum) − FUT : FUTURE (futurum) − PH : PHASE (phásis) − PF : PERFECTIVE (perfectivum) − IMPF : IMPERFECTIVE (imperfectivum) − PROG : PROGRESSIVE (progressivum) − HAB : HABITUAL (habitualis) Let us now explain the reasons why these features will be used in the description. The first feature, CONDITIONAL , should be taken into account because some conditional construc- <?page no="110"?> A NDRZEJ M. S KRZYPIEC 100 tions appear to refer to temporal relations. PHASE (phásis), a term used by Joos (1964: 138ff.), refers to the so-called perfectum aspect, which relates two points in time and expresses the result of a previous action (cf. the English perfect tenses). The presence of such features as PRETERIT , FUTURE , PERFECTIVE , IMPERFECTIVE , PROGRESSIVE and HABITUAL does not need any explanation as they have been employed as useful tools in the description of tenses and aspects by grammarian representing various perspectives. It should be stressed that PERFECTIVE and IMPERFECTIVE need not exclude each other, that is why these two features should be taken into account. The description of particular tenses and periphrastic temporal constructions is presented in Table 1 (N.W. stands for North Welsh, S.W. for South Welsh). Exponents Features Examples -odd -COND +PRAET -PH -IMPF <+PF> (4) -ith (1) (Colloquial) -COND -PRAET: +FUT -PH -IMPF (5) -ith (2) (Formal) -COND -PRAET: +FUT -PH -IMPF (6) -ai (1) (Colloquial) +COND -PRAET (7) -ai (2) (Formal) -COND +PRAET -PH +IMPF (8), (9) mae + yn + V -COND -PRAET -PH (10) roedd + yn + V (1) -COND +PRAET -PH +IMPF: +PROG (11) roedd + yn + V (2) (S.W.) -COND +PRAET -PH +IMPF: +HAB (12) mae + wedi + V -COND -PRAET +PH -IMPF (13) <?page no="111"?> T HE W ELSH V ERB : S ELECTED M ORPHOSYNTACTIC F EATURES 101 mae + wedi + bod + yn + V -COND -PRAET +PH +IMPF (14) roedd + wedi + V -COND +PRAET +PH -IMPF (15) roedd + wedi + bod + yn + V -COND +PRAET +PH +IMPF (16) fuodd + yn + V -COND +PRAET -PH +IMPF <+PF> (17) fydd + yn + V (1) -COND -PRAET: +FUT -PH +IMPF (18) fydd + yn + V (2) (N.W.) -COND -PRAET: -FUT -PH +IMPF (19) fydd + wedi + V -COND -PRAET: +FUT +PH -IMPF (20) fydd + wedi + bod + yn + V -COND -PRAET: +FUT +PH +IMPF: +PROG (21) fasai/ fyddai + yn + V (1) +COND +PRAET (22) fasai/ fyddai + yn + V (2) (N.W.) -COND +PRAET -PH +IMPF: +HAB (23) fasai/ fyddai + wedi + V +COND +PRAET (24) fasai/ fyddai + wedi + bod + yn + V +COND +PRAET +IMPF (25) Table 1: Feature analysis of selected Welsh tenses and periphrastic temporal constructions <?page no="112"?> A NDRZEJ M. S KRZYPIEC 102 Some constructions are characteristic of the formal variety of Welsh only, and others occur either in South or North Welsh. Details concerning the distribution of these constructions are found in Table 2 (Skrzypiec, 1991: 56f.). Table 2: Distribution of selected Welsh tenses and periphrastic temporal constructions 5 Welsh verbs and syntax The basic word order in Welsh is VSO, the modifying adjective and genitive noun follow the head noun, and relational words precede the noun (see, e.g., Fife and Poppe (eds.) 1991). If we take into consideration more than the three elements mentioned above (i.e. Verb, Subject and Object), the order is the following (Awbery, 1984: 261): (26) V + S + O + PP + Adv Let us illustrate rule (26) with the following examples (Awbery, 1984: 261): (27) Taflodd y ferch y bêl dros y gwrych. V S O PP ‘The girl threw the ball over the hedge.’ Geographical Distribution Exponents Formal Style South Wales North Wales V-odd + + + V-ith (1) - + + V-ith (2) + - - V-ai (1) +/ - + + V-ai (2) + - - mae + yn + V + + + roedd + yn + V (1) +/ - + + roedd + yn + V (2) - + - mae + wedi + V + + + mae + wedi + bod + yn + V +/ - + + roedd + wedi + V +/ - + + roedd + wedi + bod + yn + V +/ - + + fuodd + yn + V - + + fydd + yn + V (1) - + + fydd + yn + V (2) - - + fydd + wedi + V +/ - + + fydd + wedi + bod + yn + V - + + fasai/ fyddai + yn + V (1) +/ - + + fasai/ fyddai + yn + V (2) - - + fasai/ fyddai + wedi + V +/ - + + fasai/ fyddai + wedi + bod + yn + V - + + <?page no="113"?> T HE W ELSH V ERB : S ELECTED M ORPHOSYNTACTIC F EATURES 103 (28) Rhedodd y plant at y ty neithiwr. V S PP Adv ‘The children ran to the house last night.’ At this point, it would be interesting to see what generative grammar can offer the researcher interested in the periphrastic constructions. As an example let us take sentence (29) and its tree representation (Figure 1), which contains a form of bod ‘be’, wedi ‘after’ and a verb-noun (Awbery, 1984: 266). (29) Mae’r plant wedi darllen llyfr arall. be S after NV O ‘The children have read another book.’ (lit. ‘the children are after reading another book’) The tree presented in Figure 1 depicts the relationships between the particular constituents of sentence (29). What some linguists might object to is the use of the terms Subject and Object - instead of Noun Phrase - in this tree, which creates a terminological chaos as ’r plant ‘the children’ and llyfr arall ‘another book’ are indeed noun phrases. However, the employment of Subj and Obj in the tree is fully justified. What could be introduced is a modification of the nodes Subj and Obj (see Figure 2). S V Subj PP mae ’r plant P NP wedi S VN Obj darllen llyfr arall Figure 1: A tree representation of sentence (29) (Awbery 1984: 267) S V NP [Subj] PP mae ’r plant P NP wedi VN S NP [Obj] darllen llyfr arall Figure 2: A modified tree representation of sentence (29) <?page no="114"?> A NDRZEJ M. S KRZYPIEC 104 6 A final word Due to space limitations, it has not been possible to present the selected - and other - features of the Welsh verb in greater detail. However, I cherish the hope that in this paper I have managed to demonstrate how useful feature analysis is in the discussion of the Welsh tenses. References Awbery, G. M. (1984). “Welsh”. In: Peter Trudgill (ed.): Language in the British Isles. Cambridge: Cambridge University Press: 259-277. Fife, James and Erich Poppe (eds.) (1991). Studies in Brythonic Word Order. Amsterdam - Philadelphia: John Benjamins. Gramadeg Cymraeg Cyfoes (1976). Paratowyd gan Uned Iaith Genedlaethol Cymru, Adran Ramadeg “Cymraeg Cyfoes 3”. 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The main part of the illustrative material used in that earlier paper consists of fragments of the New Testament in the version of the modern ecumenical translation of the Bible into Hungarian (1983). Additionally, as semantic equivalents, corresponding fragments of the New English Bible (1970) are supplied. 0.1 This section will give a choice of the essential definitions and assertions put forward in Sroka (2007) (some of them going back to Sroka (1986)) to serve as a theoretical and descriptive background for the comparative analysis which is to be carried out in the present paper. (a) Verb forms with regard to verb paradigms: Verb Form A = an individual form belonging to Verb Paradigm A (the so-called subjective/ indefinite conjugation), e.g. szeret ‘(he/ she) loves/ / loves me.’ Verb Form B = an individual form belonging to Verb Paradigm B (the so-called objective/ definite conjugation), e.g. szereti ‘(he/ she) loves him/ her.’ (b) Types of the direct object (DO) with regard to the categories of objectivity and definiteness characterizing its base: DO 0 = DO / - objective, definite / = absence of the direct object DO 1 = DO / objective, + definite / = direct object in the 1 st / 2 nd person DO 2 = DO / + objective, definite / = direct object in the 3 rd person indefinite DO = DO / + objective, + definite / = direct object in the 3 rd person definite 1 This paper, under the title “The covert direct object in Hungarian” (without a subtitle), was originally presented at the 42nd Linguistics Colloquium, Rhodes, 27 30 September 2007; yet it was not submitted for publication in the Proceedings of that Colloquium. The paper given at the Colloquium contained two basic parts: (1) an account of the content of the present author’s earlier paper, “Verb form and covert direct object in Hungarian” (Sroka 2007), and (2) a comparative analysis of a set of Hungarian examples (mainly taken from the ecumenical translation of the Bible) together with parallel examples coming from the original Greek text of the New Testament and its translations into Latin (the Vulgate) and English (NEB). The Hungarian and English examples had already been used earlier for descriptive purposes in the paper of 2007. In the present paper, attention is focused on the comparative analysis and the material examined is extended to corresponding biblical fragments from another English translation (AV) and from two German translations (Einheits and GuteN). <?page no="116"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 106 Objectivity is connected with the category of person in such a way that, except the reflexive pronouns, the 1 st and the 2 nd persons give the value / - objective/ and the 3 rd person gives the value / + objective/ . The values of definiteness, / - definite/ and / + definite/ , depend on the type of pronoun (indefinite or definite) or the type of determiner accompanying the noun, e.g. egy or zero determiner give the value / - definite/ and a(z) gives the value / + definite/ . (c) Selection of a given form of the verb by a particular type of the direct object in text construction (encoding) (‘ ’ = selects): DO 0 Verb Form A, e.g. Péter szeret ‘Peter loves’ DO 1 Verb Form A, e.g. Péter szeret (engem) ‘Peter loves me’ Péter szeret téged ‘Peter loves you’ DO 2 Verb Form A, e.g. Péter szeret egy csinos lányt ‘Peter loves a pretty girl’ DO Verb Form B, e.g. Péter szereti a lányt ‘Peter loves the girl’ (for the two last examples see Stephanides 1974: 12) Péter szereti ( t) ‘Peter loves her’ (d) Types of the direct object with regard to its manifestation: Overt direct object = the direct object which is physically (segmentally) present, e.g. Péter szeret engem ‘Peter loves me’, Péter szeret egy csinos lányt ‘Peter loves a pretty girl’, or Péter szereti t ‘Peter loves her.’ Covert direct object or zero pronoun direct object = the direct object which is not physically (segmentally) present but is understood, e.g. Péter szeret ‘Peter loves me’ or Péter szereti ‘Peter loves her.’ Absent direct object = the direct object which is neither physically (segmentally) present nor understood, e.g. Péter szeret ‘Peter loves.’ (e) Some of the main points of description: Verb Form A occurs with the direct object (overt or covert) or without one. If it occurs with the overt direct object, then the object refers to the 1 st or the 2 nd person singular or plural or to the 3 rd person indefinite (e.g. valakit ‘someone’). If Verb Form A occurs with the covert direct object, then the object refers only to the 1 st or the 2 nd person singular or plural. Verb Form B occurs only with the direct object (overt or covert) which refers to the 3 rd person definite singular or plural. Since the zero pronoun in the role of the direct object is used as a formal exponent of the singular, only the segmental pronouns can be the formal exponents of the plural. In actual occurrence, the two types of formal exponents (i.e. zero pronoun and segmental pronoun), are not in mutual exclusion for the following reasons. First, the persons of the singular do not exclude the use of segmental pronouns; these pronouns appear, first of all, in the case of emphasis. Second, the persons of the plural do not exclude the zero pronoun; it appears when location by itself clearly indicates a given person. One can say, however, that, in the role of the direct object, the zero pronoun dominates in the singular, and the segmental pronoun dominates in the plural. In consequence, in text reconstruction (decoding), the verb form itself largely restricts the prospective overt, personal pronoun, direct object or covert direct object as to person. Verb Form A, e.g. szeret (...) points to the 1 st or 2 nd person, and Verb Form B, e.g. szereti <?page no="117"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 107 (...) points to the 3 rd person. Of course, additional characteristics are needed for distinguishing between the 1 st and the 2 nd person as well as between particular persons of the singular and corresponding persons of the plural. These characteristics follow from the functional use of the zero pronoun in contrast to the segmental personal pronoun and from the use of the information coming from the context and/ or speech situation. (f) Verb Paradigms A and B in the aspect of language economy In Sroka (2007), it is concluded that the existence of the subjective/ indefinite and objective/ definite ‘conjugations’, although non-economical from the point of view of the number of paradigms, largely contributes to the economy of the constructions consisting of verb and direct object. The economy consists in the use of zero, instead of a segmental personal pronoun, in the role of the direct object. Owing to this the constructions are segmentally shorter. Therefore, it is not true that the Verb Paradigms A and B in Hungarian are only the source of redundancy. Since, to a large extent, owing to their existence, the zero pronoun in the role of the direct object can frequently be used, and thus shorter expressions can be constructed, the two paradigms are also the source of economy. 0.2 The aim of the present paper is to show the phenomenon of the covert direct object in Hungarian in a comparative perspective. In the analysis, the following languages are, in addition to Hungarian, taken into account: Ancient Greek, Latin, English and German. The Hungarian text is considered in the aspect of its being a translation from Greek. It is also compared with the translations from Greek into the other languages. As regards the linguistic material which is the object of comparative analysis, it includes the same Hungarian and English examples which are used in the earlier paper, i.e. eleven examples from the New Testament translated from Greek (ecumenical translation of the Bible into Hungarian (1983) and the New English Bible (1970)) and two from a Hungarian-Polish dictionary but the examples coming from the Bible are enriched by parallel fragments from (1) the Greek original, (2) Latin translation (the Vulgate), (3) an earlier English translation, namely the Authorized Version (1611), and (4) two German translations: “Das Neue Testament: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift” (1980 (1990)) and “Die Bibel: Die Gute Nachricht in heutigem Deutsch”( 2 nd ed. 1982). Comparison of the Hungarian expressions with the corresponding expressions of the Greek original makes it possible to see whether, in the case of the phenomenon discussed, the structure of the former does, or does not, depend on that of the latter. Comparison with corresponding Latin, English and German expressions supplies additional clues to answering whether, along with the existence of Verb Paradigm A and Verb Paradigm B, the frequent occurrence of the covert direct object belongs to the characteristics which distinguish Hungarian from the Indo-European languages. The main part of the paper consists of sections devoted to the covert direct object in particular persons, i.e., successively, first, second and third in the singular and first, second and third in the plural. Each section contains one or more examples in all the languages discussed and each example is followed by a comparative analysis. 1 Covert direct object in the 1 st person singular (1) Mark 1: 40 Gr: [ $@ \ ] ^$| ~ ^ δ νασα με καθαρ σαι . <?page no="118"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 108 L: Et venit ad eum leprosus deprecans eum et genu flectens et dicens ei: ‹‹Si vis, potes me mundare››. H: Odament hozzá egy leprás, aki könyörögve és térdre borulva így szólt hozzá: „Ha akarod, meg tudsz tisztítani.” E (AV): And there came a leper to him, beseeching him, and kneeling down to him, and saying unto him, If thou wilt, thou canst make me clean. E (NEB): Once he was approached by a leper, who knelt before him begging his help. ‘If only you will,’ said the man, ‘you can cleanse me.’ G (Einheits): Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, daß ich rein werde. G (GuteN): Einmal kam ein Aussätziger zu Jesus, fiel vor ihm auf die Knie und bat ihn um Hilfe. »Wenn du willst«, sagte er, »kannst du mich gesund machen! « Analysis of example (1). The covert direct object in the Hungarian translation has as its Greek source the overt direct object με . It should be noted, however, that in the Hungarian text the direct object is connected with the infinitive megtisztítani but the exponent of the person of the covert direct object is placed in the finite verb tudsz (Form A), which governs the infinitive. In the translations into the other languages the overt direct object of the original is rendered as the same type of object, i.e. as L. me, E. me and G (GuteN): mich. In G (Einheits), there is no direct object because a different sentence structure is used. (2) John 5: 43 Gr: $ \ ~ @ @\, ο μ νετ @ ~ ~ , @ . L: Ego veni in nomine Patris mei, et non accipitis me; si alius venerit in nomine suo, illum accipietis. H: Én az Atyám nevében jöttem, mégsem fogadtatok be; ha más a maga nevében jön, azt befogadjátok. E (AV): I am come in my Father’s name, and ye receive me not: if another shall come in his own name, him ye will receive. E (NEB): I have come accredited by my Father, and you have no welcome for me; if another comes selfaccredited you will welcome him. G (Einheits): Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und doch lehnt ihr mich ab. Wenn aber ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, dann werdet ihr ihn anerkennen. G (GuteN): Ich bin im Auftrag meines Vaters gekommen, aber ihr weist mich ab. Doch wenn jemand im eigenen Auftrag kommt, werdet ihr ihn aufnehmen. Analysis of example (2). As in example (1), the covert direct object in the Hungarian text is connected with Verb Form A, which is fogadtatok be (where be is a verbal particle). It has as its Greek source the overt direct object . The Latin, English (AV) and both German translations keep the overt direct object of the Greek original. E (NEB) uses a different sentence structure (without a direct object). (3) Luke 7: 45 Gr: ϕ λημ μοι ο κ δωκας - ¡ ¢£’ ¤ ¥ @ @ ^ £ @¦ @\ @¨ . L: Osculum mihi non dedisti; haec autem, ex quo intravi, non cessavit osculari pedes meos. H: Te nem csókoltál meg, ez pedig mióta bejöttem, nem sz©nt meg csókolni a lábamat. E (AV): Thou gavest me no kiss: but this woman, since the time I came in, hath not ceased to kiss my feet. <?page no="119"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 109 E (NEB): You gave me no kiss; but she has been kissing my feet ever since I came in. G (Einheits): Du hast mir (zur Begrüßung) keinen Kuß gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküßt. G (GuteN): Du gabst mir keinen Kuß zur Begrüßung, sie aber hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin. Analysis of example (3). The covert direct object in the Hungarian text connected with Verb Form A, csókoltál meg (where meg is a verbal particle), has not as its source a direct object in the Greek original because in the latter, in the corresponding fragment, a different type of sentence structure is used. The Latin, English and German translations follow the sentence structure of the Greek text. (4) John 11: 41-42 Gr: ª @- @ . - ¡ ®-@ ª @¨ £ @¨ | ¯ , ¦ , @ κουσ ς μου . 42 $ ¡ ° ¦ @ ¡ μου κο , ¢ ² @ ¯ @ , ³ µ| µ ¢ ^ . L: Tulerunt ergo lapidem. Iesus autem, elevatis sursum oculis, dixit: ‹‹Pater gratias ago tibi quoniam audisti me. 42 Ego autem sciebam quia semper me audis, sed propter populum, qui circumstat, dixi, ut credant quia tu me misisti››. H: Elvették tehát a követ, Jézus pedig felemelte a tekintetét, és azt mondta: „Atyám, hálát adok neked, hogy meghallgattál. 42 Tudtam is, hogy mindig meghallgatsz, csak a körülálló sokaság miatt mondtam, hogy elhigyék, hogy te küldtél engem.” E (AV): Then they took away the stone from the place where the dead was laid. And Jesus lifted up his eyes, and said, Father, I thank thee that thou hast heard me. 42 And I knew that thou hearest me always: but because of the people who stand by I said it, that they may believe that thou hast sent me. 2 E (NEB): So they removed the stone. Then Jesus looked upwards and said, ‘Father, I thank thee; thou hast heard me. 42 I knew already that thou always hearest me, but I spoke for the sake of the people standing round, that they might believe that thou didst send me.’ G (Einheits): Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. 42 Ich wußte, daß du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, daß du mich gesandt hast. G (GuteN): Sie nahmen den Stein weg. Jesus blickte zum Himmel auf und sagte: »Ich danke dir, Vater, daß du meine Bitte erfüllst. 42 Ich weiß, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der Leute hier spreche ich es aus ¶ damit sie glauben, daß du mich gesandt hast.« Analysis of example (4). The covert direct object appearing twice in the Hungarian text is connected with Verb Forms A, meghallgattál and meghallgatsz (2 nd person singular). It 2 In this example from E (AV) the following expressions are put in ordinary italics: from the place, his, and it. These italics (in contrast to those in bold type used in this paper) have not been introduced by the present author but come originally from the AV text. This way the translators/ editors obviously intended to indicate that the expressions in question had no counterparts or no proper counterparts in the Greek original and were ‘added’ in the translation for the sake of grammatical correctness and/ or clarity. This shows how much attention the translators/ editors paid to the formal (compositional) faithfulness of the target text to the source text (see Sroka 2000: 261 and 2002: 283). In the present paper, for highlighting a fragment of an example, bold type is used, and within the highlighted fragment additional italics are employed for distinguishing a direct object. In such a highlighted fragment, the original AV italics are rendered by means of underscoring (see below, examples (9) and (13)). <?page no="120"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 110 has its source in the non-direct object appearing also twice in the Greek text. The verb κο ‘hear (comply with one’s request)’ combines with the genitive case (hence μου , and not με ). In the Latin, English, and German translations there is twice the overt direct object. Yet in G (GuteN), in the first instance, there is a paraphrase daß du meine Bitte erfüllst ‘that you have complied with my request’ and thus the overt direct object is a nominal expression connected with a verb different from that in the second instance. (5) M-LSz, p. 766 Megloptak a villamoson, (Polish: ) Okradziono mnie w tramwaju ‘I was robbed in the tram,’ literally: ‘(They) robbed me in the tram.’ Analysis of example (5). The example does not come from the Bible. It is relevant for the topic discussed because here the Hungarian sentence with the covert direct object connected with Verb Form A, megloptak (3 rd person plural), has as its counterpart in another language (in this case, Polish) a sentence with the overt direct object. 2 Covert direct object in the 2 nd person singular (6) John 1: 48 Gr: ^$ ~ · $ ¸ ; ¢ - ®-@ ¯ ~ @ ¹ @ σαι ² º ¼ \ ¥ ¯ . L: Dicit ei Nathanael: ‹‹Unde me nosti? ››. Respondit Jesus et dixit ei: ‹‹Priusquam te Philippus vocaret, cum esses sub ficu, vidi te››. H: Nátánáel megkérdezte t le: „Honnan ismersz engem? ” Jézus így válaszolt neki: „Miel tt Fülöp idehívott, lattam, hogy a fügefa alatt voltál.” E (AV): Nathanael saith unto him, Whence knowest thou me? Jesus answered and said unto him, Before that Philip called thee, when thou wast under the fig tree, I saw thee. E (NEB): Nathanael asked him, ‘How do you come to know me? ’ Jesus replied, ‘I saw you under the figtree before Philip spoke to you.’ G (Einheits): Natanaël fragte ihn: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. G (GuteN): Natanaël fragte ihn: »Woher kennst du mich? « Jesus antwortete: »Bevor Philippus dich aufforderte mitzukommen, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.« Analysis of example (6). The Hungarian covert direct object connected with Verb Form A, idehívott, has as its source the overt direct object in Greek ‘you (sing.).’ In the Latin, English (AV) and both German translations there is, as in the Greek text, the overt direct object. In English (NEB), a different construction (with the preposition to) is used. (7) Luke 14: 8-10 Gr: κληθ º @ $¦@\ , ¼ ½ ¼ | @ , @ @\ ¾ -^ @ \ ’ @, 9 […]. 10 ¢ ’ κληθ , @ \ ¢ ¦ @ @ , ³ ταν λθ κεκληκ σε @ £¿ , @ ¦ - ¢ ¸ @ […]. L: Cum invitatus fueris ab aliquo ad nuptias, non discumbas in primo loco, ne forte honoratior te sit invitatus ab eo, 9 […]. 10 Sed cum vocatus fueris, vade, recumbe in novissimo loco, ut, cum venerit qui te invitavit, dicat tibi: “Amice, ascende superius”; […]. H: Ha valaki meghív lakodalomba, ne ülj a f helyre, mert lehet, hogy nálad érdemesebb embert is meghivott. 9 […]. 10 Hanem ha meghívnak, menj el, ülj le az utolsó helyre, hogy amikor jön az, aki meghívott, így szóljon hozzád: Barátom, ülj feljebb! […]. <?page no="121"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 111 E (AV): When thou art bidden of any man to a wedding, sit not down in the highest room; lest a more honorable man than thou be bidden of him; 9 […]. 10 But when thou art bidden, go and sit down in the lowest room; that when he that bade thee cometh, he may say unto thee, Friend, go up higher: […]. E (NEB): When you are asked by someone to a wedding-feast, do not sit down in the place of honour. It may be that some person more distinguished than yourself has been invited. 9 […]. 10 No, when you receive an invitation go and sit down in the lowest place, so that when your host comes he will say, “Come up higher, my friend.” G (Einheits): Wenn du zu einer Hochzeit eingeladen bist, such dir nicht den Ehrenplatz aus. Denn es könnte ein anderer eingeladen sein, der vornehmer ist als du, 9 […]. 10 Wenn du also eingeladen bist, setz dich lieber, wenn du hinkommst, auf den untersten Platz; dann wird der Gastgeber zu dir kommen und sagen: Mein Freund rück weiter hinauf! G (GuteN): »Wenn dich jemand zu einem Hochzeitsmahl einlädt«, sagte er, »dann setz sich nicht gleich auf den besten Platz. Es könnte ja sein, daß eine noch vornehmere Person eingeladen ist. 9 […]. 10 Setz sich lieber auf den letzten Platz, wenn du eingeladen bist. Dann wird der Gastgeber kommen und zu dir sagen: ›Lieber Freund, komm, setz sich auf einen besseren Platz! ‹ […].« Analysis of example (7). The covert direct object in the Hungarian text appears three times. In the first instance, it is connected with Verb Form A, meghiv (3 rd person singular). In this case, it has not as its source a direct object in the Greek text, where the passive voice is used. The passive voice is found also in the translations into Latin, English (AV, NEB) and German (Einheits) and there is no direct object. In German (GuteN) the active voice is used and there is the overt direct object dich. In the second instance, the covert direct object in the Hungarian text is connected with Verb Form A, meghivnak (3 rd person plural). In that case, it has not as its source the overt direct object in the Greek text, either, for the same reason as in the first instance. The Latin, English (AV) and both German translations follow the Greek original in the use of the passive voice and there is no direct object. The English (NEB) translation uses the active voice but otherwise the construction is different and there is no direct object in the 2 nd person singular. In the third instance, the covert direct object in the Hungarian text is connected with Verb Form A, meghivott (3 rd person singular). Here, in turn, it has as its source the overt direct object in the Greek σε ‘you (sing.).’ The Latin and English (AV) translations keep the overt direct object of the Greek original. In the English (NEB) and both German translations a different construction is used and there is no direct object. (8) M-LSz, p. 482 Hogy hívnak? , (Polish: ) Jak si nazywasz? ‘What is your name? ’ literally: ‘What do they call you? ’, i.e., in Polish, ‘Jak ci nazywaj ? ’ Analysis of example (8). The example does not come from the Bible. Here the Hungarian sentence with the covert direct object has its counterpart in a Polish sentence with the overt direct object. It should be noted, however, that the Polish construction is reflexive while the Hungarian one is not. 3 Covert direct object in the 3rd person singular (9) Luke 11: 53-54 Gr: ¢ À @ @ ρξαντο @Á $ @Á ¹ @ ν χειν κα ποστοματ ζειν | , 54 ! "# $% @ @ @. <?page no="122"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 112 L: Cum autem inde exisset, coeperunt scribae et pharisaei graviter insistere et eum allicere in sermone de multis 54 insidiantes ei, ut caperent aliquid ex ore eius. H: Amikor [Jézus] kiment onnan, az írástudók és farizeusok elkezdték hevesen támadni, és sok mindenr l faggatni. 54 Aztán leselkedtek utána, hogy beszédében megfogják. E (AV): And as he said these things unto them, the scribes and the Pharisees began to urge him vehemently, and to provoke him to speak of many things: 54 Laying wait for him, and seeking to catch something out of his mouth, that they might accuse him. E (NEB): After he had left the house, the lawyers and Pharisees began to assail him fiercely and to ply him with a host of questions, 54 laying snares to catch him with his own words. G (Einheits): Als Jesus das Haus verlassen hatte, begannen die Schriftgelehrten und die Pharisäer, ihn mit vielerlei Fragen hartnäckig zu bedrängen; 54 sie versuchten, ihm eine Falle zu stellen damit er sich in seinen eigenen Worten verfange. G (GuteN): Als Jesus das Haus verlassen hatte, waren die Gesetzeslehrer und Pharisäer so aufgebracht gegen ihn, daß sie ihm von da an bei jeder Gelegenheit auflauerten, um ihn durch hinterhältige Fragen in eine Falle zu locken. Analysis of example (9). The covert direct object in the Hungarian text appears three times. In the first two instances, it is connected with the infinitives támadni and faggatni governed by Verb Form B, elkezdték (3 rd person singular), which shows that the covert direct object in question concerns the 3 rd person. In this case, in the Greek text, the first infinitive represents an intransitive verb and thus has no direct object; the overt direct object accompanies only the second infinitive. In the Latin text, the structure is analogous. In the English texts, each of the infinitives is accompanied by the overt direct object and, what is very important to note, in E (AV) the first him, since it is treated as “added” because it has no segmental counterpart in the Greek text, is put in italics (in the example presented above it is additionally underscored, italics being regularly used for highlighting the direct objects). 3 The German translations are compositionally different with regard to the original, to each other, and to the Hungarian text. In effect, in G (Einheits), the finite verb begannen governs only one infinitival phrase, ihn mit vielerlei Fragen hartnäckig zu bedrängen, in which ihn is the overt direct object; in G (GuteN) there is no direct object. In the third instance, the covert direct object, with its reference to the person of Jesus, in the Hungarian text has not as its source a direct object in the Greek original, where a different construction is used. A construction different from the Hungarian one is used also in the Latin text and there is no direct object referring to Jesus. In the English translations, the overt direct object is a counterpart of the covert direct object in the Hungarian text. The German translations differ, in their composition, from the Greek original, from each other, and from the Hungarian text: in G (Einheits) there is no direct object, and in G (GuteN), in spite of the difference mentioned, there is, as in the Hungarian text, the overt direct object, ihn, with its reference to the person of Jesus. 3 See above, note 2. <?page no="123"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 113 (10) Luke 2: 45-46 Gr: μ & ε ' ρ * ντε º ^ ® @\ ¼ ναζητο $ ντε . 46 $^ @ Â^ ε / ρον ~ Á ~ […]. L: et non invenientes regressi sunt in Ierusalem requirentes eum. 46 Et factum est post triduum invenerunt illum in templo [...]. H: De mivel nem találták, visszatértek Jeruzsálembe, és ott keresték. 46 Három nap múlva találták meg a templomban, [...]. E (AV): And when they found him not, they turned back again to Jerusalem, seeking him. 46 And it came to pass, that after three days they found him in the temple, [...]. E (NEB): As they could not find him they returned to Jerusalem to look for him; 46 and after three days they found him sitting in the temple […]. G (Einheits): Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. 46 Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; G (GuteN): Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. 46 Am dritten Tag endlich entdeckten sie ihn im Tempel. Analysis of example (10). The covert direct object in the Hungarian text appears three times. In the first instance, it is connected with Verb Form B, találták (3 rd person plural). In this case, its source in the Greek original is also the covert direct object, which is connected with the active participle ε º ρ ντε . The Latin text imitates the Greek original. In the English and German translations there is the overt direct object. In the second instance, the covert direct object in the Hungarian text is connected with Verb Form B, keresték (3 rd person plural). Here its source in the Greek text is the overt direct object ‘him’ following the active participle ναζητο ντε . As in the previous instance, the Latin text imitates the Greek original. In English (AV) and both German translations there is also the overt direct object but in English (NEB) there is a different construction and no direct object. In the third instance, the covert direct object of the Hungarian text is connected with Verb Form B, találták meg (3 rd person plural). Its source in the Greek text is the overt direct object following the verb ε ρον . The Latin text again imitates the Greek original. In the English and German translations there is also the overt direct object. 4 Covert direct object in the 1 st person plural (11) Paul 1 Cor 4: 12-13 Gr: λοιδορο μενοι @$@ , διωκ * μενοι ¢ , 13 δυσϕεμο μενοι @ […]. L: maledicti benedicimus, persecutionem passi sustinemus, 13 blasphemati obsecramus; […]. H Amikor gyaláznak, áldást mondunk, amikor üldöznek, t©rünk, 13 amikor rágalmaznak, jó szóval válaszolunk. E (AV): being reviled, we bless; being persecuted, we suffer it: 13 Being deflamed, we entreat: […]. E (NEB): They curse us, and we bless; they persecute us, and we submit to it; 13 they slander us, and we humbly make our appeal. G (Einheits): wir werden beschimpft und segnen, wir werden verfolgt und halten stand; 13 wir werden geschmäht und trösten. <?page no="124"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 114 G (GuteN): Wir segnen, wenn man uns verflucht; wir ertragen es, wenn man uns verfolgt; 13 wenn man uns beschimpft, antworten wir mit freundlichen Worten. Analysis of example (11). The covert direct object in the Hungarian text appears three times and is connected with Verb Forms A, gyaláznak, üldöznek, and rágalmaznak (3 rd person plural). In all the three cases, the corresponding verbs in Greek, λοιδορο μενοι , διωκ μενοι , and δυσϕεμο μενοι are passive participles functioning as temporal clauses and they exclude the presence of the direct object. The structure of the Latin text imitates that of the Greek. There are corresponding passive participle expressions, maledicti, persecutionem passi, and blasphemati functioning as temporal clauses; they exclude the presence of the direct object. The English translations show two different solutions. E (AV) is compositionally close to the Greek original. The Greek passive participles are rendered also as passive participles (although in the progressive form) functioning as temporal clauses; as passive expressions with monotransitive verbs they exclude the presence of the direct object. In E (NEB) the active voice is used and each of the verbs is accompanied by the overt direct object us. In G (Einheits) the corresponding expression is in the passive voice and for that reason there is no direct object. In G (GuteN) the active voice is used and each of the verbs is accompanied by the overt direct object uns. 5 Covert direct object in the 2 nd person plural (12) Matthew 10: 17-18 Gr: à @Ç ¡ ¢ ¢ ¸ | παραδ σουσιν $ \ ^ \ $|$ μαστιγ σουσιν 18 Â$ ¡ χθ ; σεσθε È @ µ @ @ @ . L: Cavete autem ab hominibus; tradunt enim vos in conciliis, et in synagogis suis flagellabunt vos; 18 et ad praesides et ad reges ducemini propter me in testimonium illis et gentibus. H: Óvakodjatok az emberektÊl, mert átadnak a törvényszékeknek, és megkorbácsolnak zsinagógáikban, 18 sÊt helytartók és királyok elé hurcolnak énmiattam, hogy bizonyságot tegyek elÊttük és pogányok elÊtt. E (AV): But beware of men: for they will deliver you up to the councils, and they will scourge you in their synagogues; 18 And ye shall be brought before governors and kings for my sake, for a testimony against them and the Gentiles. E (NEB): And be on your guard, for men will hand you over to their courts, they will flog you in the synagogues, 18 and you will be brought before governors and kings, for my sake, to testify before them and the heathen. G (Einheits): Nehmt euch aber vor den Menschen in acht! Denn sie werden euch vor die Gerichte bringen und in ihren Synagogen auspeitschen. 18 Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt, damit ihr vor ihnen und den Heiden Zeugnis ablegt. G (GuteN): Nehmt euch in acht vor den Menschen! Sie werden euch vor die Synagogengerichte stellen und in ihren Synagogen auspeitschen. 18 Um meinetwillen werdet ihr vor Machthaber und Könige gestellt, um auch vor ihnen, den Vertretern der fremden Völker, als Zeugen für mich auszusagen. Analysis of example (12). The covert direct object in the Hungarian text appears again three times. It is connected with Verb Forms A, átadnak, megkorbácsolnak and hurcolnak (3 rd person plural). <?page no="125"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 115 In the first two instances, the covert direct object in the Hungarian text has its source in the overt direct object, , in the Greek original. In the Latin and English translations there is also the overt direct object, L. vos and E. you. In both German translations, the overt direct object euch appears only with the first infinitive, bringen/ stellen, and thus with the second infinitive, auspeitschen, there is the covert direct object, which co-refers with the overt one. In the third instance, in the Greek original the passive voice is used and thus the direct object is excluded. The Latin, English and German translations also use the passive voice and similarly exclude the presence of the direct object. 6 Covert direct object in the 3 rd person plural (13) Luke 6: 1 Gr: Ë$^ @ ¡ ¦ @ µ @ | , τιλλον @Á - @ σθιον το < στ χυα ψ χοντε τα > χερσ . L: Factum est autem in sabbato cum transiret per sata, et vellebant discipuli eius spicas et manducabant confricantes manibus. H: Egy szombaton gabonaföldeken ment át, és tanítványai kalászokat tépdestek, tenyerük között morzsolták és ették. E (AV): And it came to pass on the second sabbath after the first, that he went through the corn fields; and his disciples plucked the ears of corn, and did eat, rubbing them in their hands. 4 E (NEB): One Sabbath he was going through the cornfield, and his disciples were plucking the ears of corn, rubbing them in their hands, and eating them. G (Einheits): Als er an einem Sabbat durch die Kornfelder ging, rissen seine Jünger Ähren ab, zerrieben sie mit den Händen und aßen sie. G (GuteN): An einem Sabbat ging Jesus mit seinen Jüngern durch die Felder. Die Jünger rissen Ähren ab, zerrieben sie in der Hand und aßen die Körner. Analysis of example (13). The covert direct object in the Hungarian text appears twice and is connected with Verb Forms B, morzsolták and ették (3 rd person plural). In this case, the covert direct object co-refers with kalászokat, which, carrying the value [+ objective, - definite], appears primarily as the direct object of Verb Form A, tépdestek. In the Greek original, there are two co-ordinated finite verbs, τιλλον ‘plucked’ and σθιον ‘ate,’ the first one with a covert direct object, and the second one with the overt direct object in the form of a nominal expression, το στ χυα ‘the ears of corn.’ The covert direct object of the first verb co-refers with the overt direct object of the second one. The second verb also governs the participial construction with the verb ψ χοντε , whose covert direct object co-refers with the overt direct object of the main verb. In the Latin translation, the finite verb vellebant ‘plucked’ appears with the direct object spicas ‘ears of corn’ and is followed by a co-ordinated finite verb manducabant, whose covert direct object co-refers with the overt direct object of the first verb. In turn, the verb manducabant governs the participial construction with the verb (participle) confricantes, whose covert direct object co-refers with the overt direct object of the first verb. Thus in both the Greek original and the Latin translation, there are, as in the Hungarian text, two cases of the covert direct object. 4 For the underscoring of the expressions them and their, see above, notes 2 and 3. <?page no="126"?> K AZIMIERZ A. S ROKA 116 As regards the English translations, in E (AV) there is the covert direct object with the verb did eat but the overt direct object them with the verb rubbing. In both cases there is co-reference with the overt direct object, the ears of corn, of the verb plucked coming first. In E (NEB) there is the overt direct object not only with the first verb, were plucking, this object being the nominal expression the ears of corn, but also, in the form of them, with each of the other two verbs, rubbing and eating. Similarly as in E (NEB), in the German translation G (Einheits) there is the overt direct object not only with the first verb, abrissen ‘plucked,’ this object being Ähren ‘ears of corn’, but also, in the form of sie, with each of the other two verbs, zerrieben and aßen. In G (GuteN) there is a different composition (an explanatory translation) but the three verbs remain, each being accompanied by the overt direct object: rissen Ähren ab, zerrieben sie, and aßen die Körner. 7 Conclusion 7.1 A comparative analysis has been applied to twenty five instances of covert direct object in Hungarian, twenty three of them coming from the ecumenical translation of the New Testament from Greek and two from a Hungarian-Polish dictionary. As regards the counterparts of the former in the Greek original, out of thirteen constructions containing the direct object there are only three instances of the covert, and as many as ten of the overt, direct object; in ten cases, the Greek constructions are different (for example, they are in the passive voice) and do not contain the direct object. This shows that the instances of the covert direct object in the Hungarian translation are not the effect of the influence of the Greek original but that, contrariwise, in the majority of cases, the covert direct object in the Hungarian text appears in spite of the fact that there is no such object in the Greek source. Therefore, in this respect, the Hungarian translation is fully independent from its Greek original and follows textual rules of current Hungarian. The structure of the expressions in the Latin translation, in almost each of the cases examined, imitates that of the Greek original. There are three instances of the covert direct object, eleven instances of the overt direct object, and nine cases of different constructions, which do not contain a direct object. The English Authorized Version is compositionally as close to the Greek original as the English grammar allows it to be. There is one instance of the covert direct object, fifteen instances of the overt direct object and seven cases of the absence of a direct object. The New English Bible is an explanatory and compositionally free translation. Hence in many cases the composition is different from that in the Greek original. In the cases examined there are fifteen instances of the overt direct object, eight cases of the absence of a direct object and no instance of the covert direct object. The German Einheitsübersetzung is not as compositionally free as the New English Bible but also contains constructions in which it differs from the Greek original. In the cases examined there is one instance of the covert direct object, eleven instances of the overt direct object and also eleven cases of the absence of a direct object. The German Gute Nachricht translation is explanatory and compositionally free. As in the previous German translation, there is, in the material examined, only one case of the covert direct object. There are sixteen instances of the overt direct object and six cases of the absence of a direct object. <?page no="127"?> T HE C OVERT D IRECT O BJECT IN H UNGARIAN : A C OMPARATIVE A NALYSIS 117 What has been described is shown also in the accompanying Table. Covert direct object Overt direct object No direct object (different construction) Total Hungarian 23 0 0 23 Greek 3 10 10 23 Latin 3 11 9 23 English (AV) 1 15 7 23 English (NEB) 0 15 8 23 German (Einheits) 1 11 11 23 German (GuteN) 1 16 6 23 Table: . Number of instances of the direct object of particular types corresponding to the 23 instances of the covert direct object in Hungarian 7.2 In view of the description given in Sroka (2007) and comparative analysis carried out in the present paper it is possible, at least tentatively, to conclude that the frequent occurrence of the covert direct object, along with its main source, i.e. the existence of the verbal paradigms (‘conjugations’), Verb Paradigm A (the subjective/ indefinite conjugation) and Verb Paradigm B (the objective/ definite conjugation) sensitive to objectivity (hence, to person) and definiteness of the direct object, belongs to the characteristics which distinguish Hungarian, a Finno-Ugric language, from Indo-European languages. References A. Sources of the linguistic material: biblical texts Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments. 2. durchgesehene Aufl. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1982 (1990). [= G (GuteN)] Biblia. 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In „zeitgenössischen Gesellschaften, die sich als historische erleben [...] und [...] die großen Daten der eigenen Geschichte an die Stelle der Daten des christlichen Gedenkens gesetzt haben“ (ebd.: 544), liefern die vielfältigen Erinnerungsorte 1 zahllose Gedenkanlässe. Dem öffentlichen Gedenken begegnet man zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformen, da es durch die Vermittlung von Identität das Fundament für Gemeinschaften legt und diese aufrechterhält (vgl. Brix 1997: 19). In politischen Auseinandersetzungen ist es von größter Wichtigkeit, das Bild von der Geschichte zu prägen und die Erinnerung zu besetzen. Präsentieren politische Akteure Bilder der Vergangenheit, die ihren politischen Interessen dienen, und gestalten das Gedenken politisch, so betreiben sie Geschichtspolitik. Dabei fungiert Sprache als ein Medium des Erinnerns, ist doch die Vergangenheit das „Resultat gedächtnisbasierter Kommunikation“ (Straub 2001: 45) und somit ein sprachliches Konstrukt. Ohne Sprache kann es keine Erinnerung und ebendeshalb keine Vergangenheit geben. Im Folgenden soll nach den politischen Einstellungen und Interessen gefragt werden, die dem öffentlichen Gedenken zugrunde liegen. Es wird aufgezeigt werden, wie politische Inhalte in Gedenkreden vermittelt werden, d.h. welche politischen Einstellungen in den Gedenkreden gezeigt und welche Erinnerungen geweckt werden. Dazu sollen in den nachfolgenden Ausführungen zunächst die Begriffe Kollektives Gedächtnis, Gedenken und Geschichtspolitik geklärt und die epideiktische Gedenkrede als politische Textsorte charakterisiert werden. Anschließend soll die exemplarische linguistische Analyse einer Passage aus Karl Carstens’ Volkstrauertagsrede aus dem Jahr 1977 veranschaulichen, wie die als geschichtspolitische Akteure auftretenden Gedenkredner diejenigen Bilder der Vergangenheit darbieten, die ihren politischen Interessen förderlich sind, und den Rezipienten Integrations- und Identifikationsangebote unterbreiten. 2 Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis Kybernetische Gedächtnismodelle, die das Gedächtnis als Archiv und Gedächtnisprozesse als Aufbewahrungsarbeit konzeptualisieren, haben mittlerweile an Akzeptanz verloren. Heutzutage werden Modelle favorisiert, die Gedächtnistätigkeit als Konstruktionsarbeit voller Dynamik verstehen: In dem sich wiederholenden Prozess des Erinnerns werden die 1 Die „lieux de mémoire“ sind nicht notwendigerweise fixierbare geographische Punkte wie Kriegsschauplätze, Museen, Friedhöfe oder Denkmäler, sie können ebenso ein Lied, ein Symbol oder eine historische Person sein. Auf jeden Fall sind sie symbolische Orte im Bewusstsein des Bürgers, „Kristallisationspunkte des nationalen Erbes [...], an denen sich das kollektive Gedächtnis festmacht“ (Nora 1995: 83). <?page no="132"?> K ATRIN B ETHGE 122 Erinnerungen jeweils neu konstruiert. Dabei ist jede Erinnerung eine Deutung der Vergangenheit, werden doch die Auffassungen eines zurückliegenden Geschehens „aus der Perspektive der Gegenwart von bestimmten Personen gebildet“ und sind „von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen und Interessen unmittelbar abhängig“ (Straub 2001: 45). Aus dieser prozessualen Perspektive ist Vergangenheit nichts objektiv Gegebenes, sondern als sprachliches Konstrukt das Ergebnis einer sich dem Gedächtnis verdankenden Kommunikation und damit Element der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/ Luckmann 1994). Das Gedächtnis ist kommunikativ und existiert stets in den von gruppenspezifischen Gegenwartsinteressen und Zukunftserwartungen gelenkten Varianten der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, welche im Prozess der Erinnerungsarbeit kontinuierlich an die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart angepasst wird. Aus diesem Grund finden „im Gedächtnistheater [...] ständig Premieren“ statt (Michel 1998: 5). Was für das individuelle Gedächtnis gilt, trifft erst recht auf das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft zu, das dem Einzelnen die Teilhabe an gemeinsamen Gedächtnisinhalten und Vorstellungen ermöglicht und damit sozialen Zusammenhalt erzeugt. Das kollektive Gedächtnis passt die Vergangenheit den aktuellen Bedürfnissen an und deutet sie immer wieder neu. Die Vergangenheit ist kein abgeschlossenes Gestern, sondern verändert sich laufend, indem jede Generation sie von neuem begreift und konstruiert: „Jede Generation schafft sich die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt“ (François/ Schulze 2005: 7). In diesem Prozess wandelt sich die so gar nicht vergangene, sondern höchst lebendige Vergangenheit in ein Reservoir aus Symbolen, aus dem das kollektive Gedächtnis identitätsstiftende Bezugspunkte wählt, um gegenwärtigen sowie zukünftigen Zielen der Gesellschaft Sinn zuzuschreiben (vgl. Hirsch 2003: 23). Gedenken ist ein feierliches, andachtsvolles Zurückerinnern, das als Prozess einer ritualisierten Äußerung in Erscheinung tritt, und zwar mittels öffentlicher Gedenkrituale und -zeichen bzw. an Festtagen. Es ist nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein emotionaler Vorgang, der von Affekten wie Trauer oder Bewunderung getragen wird und die kommemorierten Subjekte primär als Opfer bzw. Handelnde erscheinen lässt. Gedenken ist in diesem Sinne ein Zeichen aktiver Erinnerung. Beide Prozesse stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander: Das Erinnern ist ein offenes, diskursives und unabgeschlossenes Geschehen, während das Gedenken vom verbindlichen Ritus lebt. Das Erinnern entspricht einem Diskurs, Gedenken einem Ritus. „Wo ein gemeinsames Erinnern im Sinne eines im Idealfall raum- und zeitgleichen und oft rituellen Aktes angesprochen ist, verwenden wir den Ausdruck des Gedenkens“ (Linke 2005: 68). „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Die aus Orwells (1977: 34) Worten sprechende Erkenntnis, dass derjenige die Zukunft gewinnt und gestaltet, der die Erinnerung in Anspruch nimmt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet, liegt der Geschichtspolitik zugrunde. Die bei einer solch politischen Inanspruchnahme von Geschichte vermittelten Geschichtsbilder bringen nicht nur das Vergangene zum Ausdruck oder sind schlichtweg Vorstellungen über Zeit, vielmehr transportieren sie Werte, Normen und Identitätskonzepte. Sie sind zu einem Großteil das Resultat einer politischen Interaktion, deren Intention es ist, Geschichtsbildern ein bestimmtes Gepräge zu verleihen (vgl. Holl 2003: 248). Konkurrenzen und Konflikte um Erinnerungsinhalte verdeutlichen, dass es weniger um die Geschichte in ihrer Faktizität als um eine sinnhaft gedeutete Vergangenheit und damit um Prozesse der Identitätsstiftung, politischer Mobilisierung und <?page no="133"?> D EM G EDÄCHTNIS EINE S PRACHE GEBEN 123 gesellschaftlicher Integration geht. Die Art und Weise, wie Geschichte benannt, strukturiert und ausgedeutet wird, gewinnt in diesem Zusammenhang stark an Bedeutung. Zunächst einmal dient das geschichtspolitische Heraufbeschwören einer gemeinsamen Geschichte der Konstituierung nationaler Identität und somit der Festigung der politischen Gemeinschaft. Insbesondere das Gedenken an die Gefallenen, die für eine politische Gemeinschaft starben, eignet sich für die Identitätsstiftung. Zweitens wird aus der Interpretation der Vergangenheit Orientierung für das Handeln in der Gegenwart abgeleitet. So erwächst aus der Deutung der Toten als Opfer eine Verpflichtung, in deren Sinne zu handeln und gleichsam ihr „Werk“ zu vollenden. Schließlich erfüllt Geschichtspolitik die Aufgabe, die politische Ordnung, einzelne Institutionen und aktuelle Politik zu legitimieren (vgl. Wolfrum 1999). 3 Die epideiktische Gedenkrede als politische Textsorte Klein (2000: 751) charakterisiert die Gedenkrede als einen mündlich vorgetragenen Text mittleren bis größeren Umfangs, der zumeist auf der Grundlage eines detailliert ausgearbeiteten Manuskripts wiedergegeben wird und subsummiert die Gedenkrede unter die Textsortenklasse „konsensorientierte Rede-Textsorten“. Ihre Emittenten sind überwiegend Politiker in führenden Positionen, Adressaten sind das Publikum der Gedenkveranstaltung bzw. die über die Massenmedien vermittelte politische Öffentlichkeit. Behandelt werden politisch und ethisch bedeutsame Geschehnisse der Vergangenheit, in Deutschland sind dies vor allem Ereignisse, die im Zusammenhang mit NS-Verbrechen und dem Zweiten Weltkrieg stehen. Als Grundfunktion der Gedenkrede benennt Klein das gemeinsame Erinnern an Vergangenes als Mahnung für Gegenwart und Zukunft. Über die Wahrheit und Richtigkeit des Gesagten besteht ein weitgehend rituell prätendiertes Einvernehmen von Emittent und Adressaten. Sprachlich ist die Gedenkrede durch ihren gehobenen, teilweise feierlichen Stil, die deutlichen Anteile ethischen und expressiv-evaluativen Vokabulars, eine weitgehende Unschärfe der Begriffe sowie den Einsatz metaphorischer Wendungen und die ausgeprägte Verwendung von Konsenswörtern und Sprachsymbolen gekennzeichnet. Charakteristisch sind Sprechhandlungstypen wie das Mahnen, Warnen, Auffordern, Bekennen, Versprechen sowie Loben und Tadeln. Gedenkreden, die dem „integrativen Sprachspiel“ Grünerts (1983: 45ff.) zuzuordnen sind, erfüllen die Aufgabe, kollektiv geteilte Werthaltungen zu artikulieren, kommunikativ Beziehungen zu gestalten und sich gemeinsam geteilter Einstellungen zu vergewissern (vgl. Girnth 2002: 102.). Um den genannten Funktionen dieser politischen Textsorte gerecht zu werden, muss der Redner „sich überzeugend als öffentliches Sprachrohr der Gruppe [...] empfehlen, für die er spricht und die sich und ihre Einstellungen in seiner Rede [...] wiedererkennen können [muß], soll sie sich durch ihn authentisch repräsentiert fühlen“ (Kopperschmidt 1994: 271). Konstitutiv für die epideiktische Rede ist also die Einstellungsübereinstimmung zwischen Festredner und Publikum. Bei öffentlichen Gedenkveranstaltungen praktizieren die Redner laut Oehler (1992: 122f.) „eine Form öffentlichen Nachdenkens über Geschichte“, die der „historischen Selbstvergewisserung von Gesellschaften“ diene. Dabei begrenzen ihre feierliche Form und der Anspruch auf allgemein gültige Aussagen den Diskurs und bedingen eine strikte Konsensorientierung. Historischer Streit, Debatten und Auseinandersetzungen sind in der Gedenktagsrhetorik nicht vorgesehen. Das oberste Prinzip für das Verfassen einer Trauerbzw. Gedenkrede lautet seit der Antike: „De mortuis nil nisi bene.“ Diese lateinische Sentenz ist ein teils expliziter, teils <?page no="134"?> K ATRIN B ETHGE 124 impliziter Orientierungstopos von Gedenkreden. Die Präsenz der Toten lässt daher für heikle Themen wie Schuld oder Beteiligung an Kriegsverbrechen keinen Raum. Der gedenkende und sinnstiftende Redner wählt neutrale bzw. vorsichtige Formulierungen und vermeidet Explizitheit - zum einen aus Rücksichtnahme auf die Öffentlichkeit und das Publikum, in dem sich auch ehemalige Kriegsteilnehmer und trauernde Hinterbliebene befinden. Zum anderen lässt er wegen des „zuhörenden Auslands“ - Gedenkreden sind wie alle öffentlichen politischen Reden mehrfachadressiert - in seinen Ausführungen diplomatische Vorsicht walten. 2 4 Carl Carstens’ Rede zum Volkstrauertag 1977 Die im Bonner Plenarsaal vom damaligen Bundestagspräsidenten Karl Carstens gehaltene Rede zum Volkstrauertag 3 steht unter dem unmittelbaren Einfluss der Geschehnisse rund um die Kulmination der inneren Unruhen im sogenannten deutschen Herbst. Das von terroristischen Handlungen der RAF geprägte Jahr erschütterte die Republik in ihren Grundfesten. In bewusster Abgrenzung von der Heldenverehrung früherer Tage bekräftigt Carstens: Niemand kann heute mehr den Soldatentod verherrlichen wollen. Diese Zeit ist für immer vorbei. Wenn schon das Sterben in den beiden letzten Kriegen in Europa vielfach schrecklich war, in einem dritten Krieg in Europa würde es angesichts der Entwicklung moderner Waffen noch unvergleichlich grauenhafter sein. Daher vereinigen sich unser aller Anstrengungen in dem Ziel, den Ausbruch eines neuen Krieges zu verhindern. Das ist auch der eigentliche und einzige Sinn des soldatischen Dienstes in unserem Lande, nämlich einen Krieg zu verhindern. Aber der Soldat kann diese Aufgabe glaubhaft nur erfüllen, wenn er bereit ist, für die Sache des Friedens sein Leben zu opfern. Wir verlangen daher von unseren Soldaten diese Bereitschaft zum letzten und höchsten Opfer. Wir verlangen von unseren Soldaten Tapferkeit, Kameradschaft und Ritterlichkeit. Das sind hohe, ja höchst menschliche Eigenschaften. (S. 1054) Carstens nutzt den Topos der externen Bedrohung, um die Notwendigkeit einer Abschreckungspolitik für die Sicherung des Friedens zu begründen: Ein dritter Krieg in Europa wäre im Vergleich zum bisher Erlebten „unvergleichlich grauenhafter“. Mit Hilfe der negativen Deontik des komparativisch gesteigerten Adjektivs grauenhaft zeichnet der Redner einen locus terribilis. Mit dieser düsteren Zukunftsvision warnt Carstens im Hinblick auf den Kalten Krieg vor den Gefahren eines nächsten Weltkrieges. Er signalisiert seine Schlussfolgerung durch das konsekutive Verweiswort daher: Man werde alles daran setzen, diese Gefahr abzuwenden. Die Verhinderung eines weiteren Krieges sei der „einzige Sinn des soldatischen Dienstes“. Vornehmste Aufgabe der Bundeswehr sei die Abwehr einer Kriegsgefahr. Aus diesem Kontext leitet der Redner die nachträgliche Legitimation des Handelns der kommemorierten Gefallenen her - die Werte, für die sie starben, bewahren angesichts der gegenwärtigen Bedrohung ihre Gültigkeit, denn auch 2 Vgl. Burkhardt (1996), der auf die innenwie außenpolitische Adressierung politischer Gedenkreden hinweist. Im Idealfall müsse eine Rede auf „innen- und außenpolitische Empfindlichkeiten“ Rücksicht nehmen. 3 Carstens, Karl (1977). Mahnung und Verpflichtung der Opfer. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 15.11.1977 (116), S. 1053-1056. Der Volkstrauertag, der in seiner heutigen Form die Erinnerung an die Toten beider Weltkriege und die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wachhalten soll, ist die Transformation des seit 1922 begangenen Gedenktages für die Getöteten des Ersten Weltkrieges, der im Nationalsozialismus zum „Heldengedenktag“ umcodiert wurde. <?page no="135"?> D EM G EDÄCHTNIS EINE S PRACHE GEBEN 125 heute müssten Soldaten traditionelle Werte wie Opferbereitschaft und Pflichtbewusstsein zeigen. Zwar betont Carstens, man könne den soldatischen Tod nicht mehr verherrlichen, der Redner kann diese Aussage jedoch mit Blick auf die Veteranen und Angehörigen nicht uneingeschränkt lassen, denn das hieße, die Gefallenen der beiden Weltkriege seien als unfreiwillige victims „umsonst“ gestorben. Ihr Tod wäre ein sinnloser und damit nicht mehr zu rechtfertigender. Angesichts des Schmerzes und der Trauer über die massenhaften Verluste in den Weltkriegen ist diese Sinnverweigerung jedoch nicht möglich. Zentral nicht nur für diesen Abschnitt, sondern für die gesamte Rede ist das Lexem „Opfer“, das sich vom mittellateinischen Wort operari (spenden) bzw. offertum (Opfergabe) ableitet und eine im Lateinischen ausgedrückte zweite Bedeutung des Opfers im Sinne von sacrificare (heilig machen) unterschlägt. Die im Englischen und Französischen mögliche Unterscheidung von sacrifice (kultisches Opfer) und victim (Erleiden eines Schadens oder Verlustes) wird im Deutschen nicht gemacht. Der ambivalente Ausdruck Opfer bezeichnet hier sowohl den aktiven, selbstbestimmten Einsatz des eigenen Lebens als auch das passive und wehrlose Objekt von Gewalt (vgl. Behrenbeck 1996: 71ff.). Carstens darf die Werte, für welche die Gefallenen starben, nicht desavouieren. Aus diesem Grund stellt er die Leitbilder von Kameradschaft, Pflichterfüllung und Opferbereitschaft als zeitlose Grundbedingungen soldatischen Tuns dar. Die Hinterbliebenen sollen getröstet und der Beruf des Soldaten - mit Blick auf die thematisierte Bundeswehr - als sinnvoll und notwendig dargestellt werden. Die Gefallenen werden in ihrer zuvor ausgeübten Funktion als Soldaten bestätigt; ihre Rolle bleibt damit unangreifbar, und das Prinzip des „Nihil nisi bene“ wird gewahrt. Eine weitere Schlussfolgerung aus den vorherigen Behauptungen zieht der Redner, wenn er äußert, „der“ synekdochisch partikularisierte „Soldat“ müsse bereit sein, sein Leben zu opfern, d.h. ein sacrifice „für“ den Frieden zu bringen. Das in früheren Reden zwischenzeitlich zurückgetretene sacrifice-Opfer tritt bei Carstens wieder gleichberechtigt neben das victim-Gedächtnis. Mit dem Begriff des Opfers wählt der Redner ein Lexem aus dem semantischen Feld, das durch Begriffe wie Märtyrer, Prozession, Wallfahrt, heilige Stätte etc. besetzt ist, und überträgt ein religiöses Muster auf Krieg und Gewalt. Sakralisierung sei, so Eschebach (2005: 48f.), ein geradezu klassischer Modus des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod in der Moderne. Gerade im Hinblick auf Krieg und Tod stellten Prozesse der Sakralisierung ein Vokabular bereit, welches das Unheil gleichsam bändige und sich in einer sinnvollen, scheinbar überirdisch legitimierten Ordnung auflösen lasse. Die anaphorische Wiederholung des „Wir verlangen“ verstärkt die Eindringlichkeit der in dieser Passage formulierten Foderungen. Gefordert werden neben „Tapferkeit“, „Kameradschaft“ und der antiquiert anmutenden „Ritterlichkeit“ vor allem die „Bereitschaft zum letzten und höchsten Opfer“. Eine solche Forderung muss mit einem Euphemismus beschönigt werden - der Tod des Einzelnen sei das „höchste“ und damit das wertvollste „Opfer“. Zentrales Anliegen seiner Rede ist jedoch die Bewertung der terroristischen Aktivitäten des Jahres 1977, die er mit dem Unwertwort „Terrorismus“ sowie der negativen Deontik des Verbums „heimsuchen“ und des Adjektivs „sinnlos“ aufs Schärfste verurteilt. Um die emotionale Zustimmung seiner Rezipienten zu erlangen, benennt er nicht nur das pauschale Hyperonym „Terroropfer“, sondern unterscheidet in einer Akkumulation die Opfer nach ihren Berufen, um ihnen eine Identität zuzuordnen. Sie alle seien „hingemordet“ worden. Das Präfix „hin-“ versieht das ohnehin negativ konnotierte Verb „morden“ zusätzlich mit dem Sem ,besonders heimtückisch und brutal’. In dieser <?page no="136"?> K ATRIN B ETHGE 126 moralisch-appellativen Passage wird das Handeln der Terroristen als unmoralisch verurteilt und angeklagt: Und wir gedenken heute schließlich der erschütternden Ereignisse, die unser Land in jüngster Zeit heimsuchten; wir gedenken auch heute der Opfer sinnlosen und alles zerstörenden Terrorismus. Polizeibeamte, Kraftfahrer, Diplomaten, Piloten, Richter, ein Generalbundesanwalt, führende Männer der Wirtschaft wurden hingemordet. (S. 1055) Der Redner expliziert die verpflichtende Logik der sacrifice-Opferdeutung: Sie sind alle für uns gestorben. Damit die Gefahr, die jeden von uns bedroht, vermindert und eingedämmt werden kann, haben sie ihr Leben lassen müssen. Sie haben sich in diesem Sinne für uns geopfert. Die meisten unserer Mitbürger sehen es so, und daraus folgt etwas sehr Wesentliches: Wenn wir den Tod eines Menschen als Opfer begreifen, erhält er einen tiefen Sinn. Nicht nur, daß wir der Opfer und ihrer Angehörigen in Hochachtung und Mitgefühl gedenken. Nein, wir werden darüber hinaus unsererseits durch den Opfertod verpflichtet, nämlich zusammenzustehen, um die Wiederholung dieser entsetzlichen Vorgänge zu verhindern. Ebenso wie uns das Opfer der Kriegstoten verpflichtet, alles zu tun, um künftig den äußeren Frieden zu wahren, verpflichtet uns das Opfer des Terrorismus, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um den inneren Frieden in unserem Lande wiederherzustellen. (S. 1055) Carstens begründet den Tod der Ermordeten als ein sacrifice-Opfer, das die Toten „für“ die „Eindämmung“ der terroristischen Gefahr gebracht hätten, und unterstellt ihnen damit unzulässigerweise eine gewisse Freiwilligkeit oder Intention. Er betont, die Terrorismusgefahr bedrohe jeden Einzelnen - implikatiert wird damit: „Da sich niemand mehr sicher fühlen darf, sollten wir kollektiv den Terrorismus bekämpfen.“ Die Sprechhandlung ist somit als ein Aufruf zu verstehen, gegen die Terroristen vorzugehen bzw. die staatlichen Maßnahmen gegen den Terrorismus zu befürworten. Carstens nutzt seine Gedenkrede am Volkstrauertag nicht nur, um der Kriegstoten ehrend zu gedenken, sondern gleichzeitig betreibt er Politik, indem er ganz deutlich Stellung zum RAF-Terrorismus in Deutschland bezieht, diesen verurteilt und klar zu erkennen gibt: „Wir lassen uns nicht terrorisieren.“ Er sendet damit Signale an die Bevölkerung, aber auch an die „mithörenden“ Terroristen. Es gelte, den als Naturgewalt metaphorisierten Terrorismus „einzudämmen“. Der gedenkende Politiker analogisiert die Bedeutung der Kriegstoten mit der der Terroropfer: So wie sich Erstere für den „äußeren Frieden“ opferten, so gaben die Opfer des Terrorismus ihr Leben für den „inneren Frieden“. Carstens argumentiert mit dem Topos der inneren Stabilität, einer inhaltlichen Variante des Gefahren-Topos: „Weil die Stabilität des Staates, die innere Sicherheit, der gesellschaftliche Frieden gefährdet ist, müssen bestimmte Entscheidungen / Handlungen getroffen/ ausgeführt werden“ (Wengeler 2003: 331). Infolge einer Inversionslogik kann der Redner behaupten: Das Bewußtsein der Bürger unseres Landes, in einer Gemeinschaft zu leben, ist durch diese Terroranschläge gestärkt worden, übrigens nicht nur der Bürger unseres Landes, sondern der großen Mehrheit der Bevölkerung in allen Ländern. Wir empfinden uns in diesen Wochen nicht nur als eine pluralistische Gesellschaft, in der jeder einzelne oder jede Gruppe für sich einen möglichst großen Vorteil zu erlangen sucht, sondern wir empfinden uns als Partner, als eine Notgemeinschaft, die aufgerufen ist, die höchsten Werte - die Unversehrtheit des Lebens jedes Bürgers, seine menschliche Würde, seine Freiheit - zu schützen. Wir sind uns bewußt geworden, daß die Terroranschläge nicht nur dem Leben und der Freiheit einzelner unter uns gelten, sondern unserer Lebensordnung selbst, unserem Gemeinwesen, welches eine bestimmte Wertordnung verkörpert. (S. 1055f.) Die Nation wird im oben stehenden Absatz als eine Schicksals- oder Leidensgemeinschaft dargestellt, die durch die Bedrohung ihrer Werte - das sind die Hochwertwörter <?page no="137"?> D EM G EDÄCHTNIS EINE S PRACHE GEBEN 127 „Unversehrtheit des Lebens“, „menschliche Würde“ und „Freiheit“ - nicht geschwächt, sondern in ihrem Zusammenhalt gestärkt wird. Die Bedrohungssituation, die sich laut Carstens nicht nur für den Einzelnen, sondern die gesamte Gemeinschaft ergebe, wird mit diesem Deutungsmuster der Umkehrung in eine zu begrüßende Stärkung der gesellschaftlichen Grundordnung uminterpretiert. Die vermeintliche Schwächung des Staates erweise sich als seine Stabilisation. In dieser Stärkung der Gemeinschaft läge auch der Sinn des Opfers, das Buback und die anderen Toten „für“ die deutsche Gesellschaft erbracht hätten. 5 Fazit Jedes Vergangenheitsbild transportiert einen Gegenwartsbezug. Zwar konnte die Erinnerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr mit dem „Opfer“ für das Vaterland Sinnstiftung betreiben, aber auch nach Kriegsende wurde die Erinnerung an die Toten politisch instrumentalisiert. In Carstens’ Gedenkrede tritt der Zwiespalt zwischen einer Ablehnung des Krieges und der positiven Würdigung soldatischer Leistungen deutlich zutage. Der Redner vermeidet einen direkten Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit und setzt den soldatischen Tod mit den Angehörigen und der Heimat, nicht aber mit dem „Dritten Reich“ in Verbindung. Neben der Bekräftigung von militärischen Tugenden wie Kameradschaft und Pflichterfüllung widmet sich Carstens den Problemen der Gegenwart, vorrangig der Bedrohung für die Gesellschaftsordnung durch den Terrorismus. Dieser wird mithilfe einer Inversionslogik zur gemeinschaftsstiftenden und integrierenden Kraft für die als Schicksalsgemeinschaft begriffene Nation umgedeutet. Die Legitimierung des demokratischen Staates erfolgt demnach nicht mehr nur unter Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch durch einen Gegenwartsbezug. Literatur Behrenbeck, Sabine (1996): Der Kult um die toten Helden. Vierow: SH-Verlag. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas (1994): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. Main: Fischer. 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Das Ergebnis ist - um auf ein etwas bionisch angehauchtes metaphorisches Vokabular auszuweichen - eine Affinität, ein Magnetismus, eine Gravitationskraft, eine Zentripetalität zwischen diesen Elementen, ähnlich den chemischen Elementen in der Natur, die sich miteinander zu größeren Strukturen verbinden. Auf der Textebene wird dies durch das Kohäsionsprinzip erzielt, wonach Sätze zu transphrastischen Einheiten/ Mikrotexten (Moskalskaja 1984: 18) und diese wiederum zu Texten miteinander verknüpft sind. Dabei ist aus der Sicht dieses Beitrags wichtig und soll schon eingangs hervorgehoben werden: Kohäsion kann sowohl grammatisch als auch semantisch und pragmatisch realisiert werden (Sandig 2006: 372). Außerdem ist zu unterscheiden: Dieses Miteinander und Nacheinander von Baukomponenten und ihr Aufeinanderbezogensein im Text ist einerseits erwartet, üblich, „bequem“ (Polenz 1988: 346) und stellt im Sinne der Natürlichkeitstheorie (Orešnik 2004) einen Normalfall 1 (Sandig 2006: 364) dar, andererseits können die Beziehungen zwischen den einzelnen Textkomponenten auch unregelmäßig, inkongruent sein, weil zwischen ihnen, mindestens auf den ersten Blick, keine (grammatischen, semantischen und pragmatischen) Solidaritäten nachvollziehbar sind (Kallmeyer et al. 1980: 122, 127). Einige dieser unverträglichen Relationen zwischen den einzelnen Komponenten sollen im Folgenden unter die Lupe genommen werden. Im Grunde genommen handelt es sich um die globale Fragestellung: Wie viel Kohäsion braucht Kohärenz oder mit anderen Worten, um die Akzente ein wenig zu verschieben, wie viele Kohäsionsmängel verträgt die Kohärenz? (Fix 1998) Einleitend soll die (interphrastische) Satzebene (1) behandelt werden, um anschließend auf die Textebene (2) überzugehen. Es handelt sich dabei um eine komplexe Problematik, daher kann hier ausschließlich auf einige ausgewählte Phänomene eingegangen werden. Vor dem Hintergrund einer solchen Fragestellung und bei der Analyse solcher Unregelmäßigkeiten drängt sich freilich auch die Frage auf, wie diese von dem Kommunikationsadressaten aufgenommen werden. Kommen die Rezipienten bei der Rezeption mit ihrem sprachlichen Wissen aus oder müssen sie auf andere Wissensquellen zurückgreifen? Die an der Kommunikation Beteiligten verfügen zum Glück nicht nur über das sprachliche Wissen, dass zu der Einschätzung beiträgt, ob ein Textsegment oder gar ein ganzer Text den grundlegenden Forderungen nach sprachlicher Korrektheit gerecht wird, sondern auch über andere Wissensarten (Wissensbestände), die es ermöglichen, in kritischen Fällen, wo die Textoberfläche nicht kohärent scheint, Informationen einzuholen, aufgrund derer die „defekten“ Stellen überbrückt werden. Im Folgenden wird eben dieses Verhältnis zwi- 1 Standardfall/ default (de Beaugrande/ Dressler 1981) <?page no="140"?> S TOJAN B RA I 130 schen sprachlicher Unvollständigkeit einerseits und der Leistung verschiedener Wissensarten andererseits thematisiert. Dabei wird von den folgenden Wissensarten ausgegangen: sprachliches Wissen (Systemwissen, Textsortenwissen und Kommunikationswissen), Sachwissen (thematisches Wissen oder Fachwissen), Kontextwissen bzw. Situationswissen und allgemeines (enzyklopädisches) Wissen (vgl. Ernst 2008: 231 ff.). 1 Die Satzebene In Anlehnung an Jung (1990: 50) könnten die Beziehungsmittel, die einzelne Satzkomponenten zur Satzstruktur zusammenfügen, die folgenden sein: Fügungseigenschaften der Wörter und ihre grammatischen Charakteristika, die Flexion und Kongruenz, die Satzgliedstellung und die Prosodie. Unter den Fügungseigenschaften der Wörter ist u.a. die Verbvalenz zu verstehen. Sie bestimmt die Satzstruktur. „ Das Prädikat ist die Seele des Satzes “ , kommentiert Heringer (1989: 110). Jedoch: Was entsteht, wenn diese kanonischen Strukturen verletzt und Sätze elliptisch werden? (Kürschner 1993: 252 ff.) Die Ellipsen können usuell sein und müssen nicht unbedingt kommunikative Probleme bereiten, z.B. Situationsellipse (Fleischer/ Michel 1977: 178): Komme gleich. (Zettel an der Tür.) Allgemeines Wissen ermöglicht hier eine problemlose Entzifferung der Bedeutung. Es gibt aber auch okkasionelle Ellipsen (wie z.B. die Erregungsellipse), die unerwartet sind und expressiv wirken und eigentlich schon an der Grenze zu Aposiopesen anzusetzen sind: Da möchte man doch …! Richtig verstehen kann man die Bedeutung solcher Ellipsen, in denen die Emotionen eine wichtige Rolle spielen (Sandig 1986: 110), nur, wenn man neben dem sprachlichen Wissen auch über das entsprechende Situationswissen verfügt. Noch mehr Rezeptionsaufwand (Wissensaktivierung) erfordern die sog. Anakoluthe/ Satzbrüche: „Da habe ich wohl ungefähr, haben meine Eltern wohl, ungefähr drei, vier Jahre war ich wohl, da sind wir nach Klein Kussewitz gezogen“ (Fleischer/ Michel 1977: 187). Hier geht es darum, dass unpassende syntaktische Strukturen unter Beibehalten der inhaltlichen Kontinuität repariert oder völlig ausgewechselt werden. Nicht nur für den Textproduzenten, sondern auch für den Textrezipienten ist das eine Herausforderung, weil die fehlenden Kohäsionsmittel in Gedanken ergänzt werden müssen. Ein weiterer syntaktischer „ Konstruktionsfehler “ , der eine gewisse Diskontinuität in der Semiose als kommunikativem Rezeptionsprozess verursachen kann, ist das Zeugma, wenn also bei mehrdeutigen Verben die jeweilige semantische Variante auch eine andere syntaktische Bindung eingeht und komische Effekte auslösen kann: Er ergriff den Koffer und die Flucht. Ein Stolperstein für die Nicht-Muttersprachler und ihre Sprachkompetenz (Sprachwissen! ) ist unter dem Gesichtspunkt von Deutsch als Fremdsprache auch die Unterscheidung der Valenz des Verbs und der Valenz der entsprechenden Nominalisierungen: begeistern: Sie konnte sich nie für die Mathematik begeistern. begeistert: Die Jugendlichen waren von dem Rockkonzert begeistert. <?page no="141"?> W ISSENSBESTÄNDE UND T EXTUALITÄT 131 Begeisterung: Seine Begeisterung über die Entwicklung der Wissenschaft war unbegrenzt. Automatische Übertragung der Valenzeigenschaften von einer Wortart (z.B. Verb) auf eine andere Wortart (z.B. Nomen oder Adjektiv) würde hier zwangsläufig zu Fehlern führen. Die durch Flexionseigenschaften gestiftete formale Übereinstimmung zwischen einigen Komponenten im Satz, z.B. zwischen Subjekt und Prädikat - die sog. Kongruenz - weist ebenfalls Besonderheiten und Abweichungen auf, z.B. die Synesis - die bedeutungsmäßige Übereinstimmung (Helbig/ Buscha 2001: 536): Regen und Wind trieben die Leute nach Hause. Regen und Wind trieb die Leute nach Hause. Beide Kongruenzvarianten sind zulässig, wobei die zweite auf den ersten Blick einen Verstoß gegen die Regel bedeutet, dadurch aber expressiv wirkt (Schilderung einer dramatischen Szene - schlechte Wetterbedingungen als einheitlicher Begriff) und somit eine stilistisch motivierte Abweichung darstellt. Eine solche Analyse bedarf schon eines höheren Grades des sprachlichen Wissens (Ernst 2008: 233). 2 Auch im Bereich der Semantik stößt man auf teilweise Inkongruenzen zwischen den einzelnen Komponenten von Syntagmen. Phraseme (jm. fällt/ rutscht das Herz in die Hose) weisen bekanntlich den höchsten Grad gegenseitiger Abhängigkeit der Konstituenten auf, ihre „Gesamtbedeutung kann nicht aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile … erschlossen werden“ (Ernst 2008: 121). In Kollokationen (ein strenger Lehrer) sind diese inneren Beziehungen weniger intensiv, die Bedeutung des Syntagmas ist durch die Bedeutung der einzelnen Komponenten motiviert. Besonders interessant sind die semantischen Verhältnisse in sog. Funktionsverbgefügen (Kürschner 1993: 112), in denen die Funktionsverben mit stark reduziertem semantischem Gehalt (z.B. bringen, machen, nehmen) durch ihre geringe Begriffsintension sehr häufig verwendet werden können, was jedoch bei der Entschlüsselung ihrer jeweiligen Bedeutung unabdingbar das Kontextwissen voraussetzt. Darauf macht in ihrem fundierten Beitrag zu fast deckungsgleichen Besonderheiten ähnlicher Konstruktionen im Englischen Marjeta Vrbinc aufmerksam: The highly frequent words …. are often difficult, or impossible, to define out of the typical contexts in which they occur idiomatically. But when the language users think of a word out of context, it cannot be the delexicalized meaning that comes to their minds first, so that the ‘foremost’ meaning cannot be the most frequent (Vrbinc 2004: 63). Oder mit den Worten von Hans-Jürgen Heringer: “Ein Funktionsverb hat eine andere Bedeutung als das entsprechende Vollverb, die Bedeutung kann also kippen” (Heringer 1989: 109). In freien Fügungen kommt es hingegen nur auf die semantische Verträglichkeit einzelner Komponenten an (ein strenger Lehrer vs. * ein strenger Tisch). In allen obigen Fällen ist sprachliches Wissen gefragt, ohne das die Bedeutung nicht entschlüsselt werden kann. Doch semantische Unverträglichkeiten können bisweilen auch sinnvoll sein. Dann reicht das sprachliche Wissen allein nicht aus, um solche Unregel- 2 Aus Platzgründen wird hier auf die Erörterung der Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Satzgliedfolge verzichtet. <?page no="142"?> S TOJAN B RA I 132 mäßigkeiten entsprechend zu deuten. Hinzu treten muss auch das kommunikative Wissen oder gar das Textsortenwissen. Solche semantischen Inkongruenzen findet man in verschiedenen Stilfiguren, wie etwa im Oxymoron beredtes Schweigen (von Polenz 1988: 325). Derartige semantische Inkompatibilitäten liegen auch den Sprungtropen zugrunde und sorgen für metaphorische Bedeutungsverschiebungen. Die Kollokation mit dem Partizip schreiend, etwa in ein schreiendes Kind wird zur Synästhesie in schreiende Farben oder gar zur personifizierend angehauchten Metapher schreiende Ungerechtigkeit. 2 Die Textebene Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Texte aus den einzelnen mikrotextuellen Komponenten durch vier Prinzipien zusammengefügt werden. Es geht um das Prinzip der Rekurrenz, der Konnexion, der Auslassung und der Entfaltung (Bra i / Fix/ Greule 2007: 5). Im Folgenden werden vor dem Hintergrund der Betrachtung von „Unregelmäßigkeiten“ (Betten 2008, 195) daraus vier Prinzipien etwas genauer beleuchtet: Die Konnexion und die Auslassungen sowie die Textmustermischungen und unerwarteten Wendungen als zwei Untertypen des Entfaltungsbauprinzips, bei dem „sich … in Teilschritten ein großer thematischer Zusammenhang vor unseren Augen entfaltet“ (Bra i / Fix/ Greule 2007: 121). Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Fragestellung gewidmet, welche Wissensarten bei der Kohärenzstiftung des Textes notwendigerweise aktiviert werden. 2.1 Konnexion Im Bereich der Konnexion (explizite Verknüpfung von Äußerungen mit eigens diesem Zweck dienenden Konnektoren) ist auf asyndetische Konstruktionen hinzuweisen. Jede Reduktion des Ausdrucksmaterials birgt in sich die Möglichkeit oder Gefahr einer mehrdeutigen Auslegung der semantischen Relationen zwischen den einzelnen Bauelementen des Syntagmas. Mehrere Lesarten sind die Folge, die vor allem in literarischen Texten wünschenswert sind, in Sachtexten anderer Kommunikationsbereiche jedoch auch zu Problemen führen können (Amtssprache, Rechtsprechung usw.). Das soll an einem einfachen Beispiel demonstriert werden. Die Abwesenheit von expliziten Verknüpfungswörtern (Polenz 1988: 345) im Satzpaar Er hat Thüringen mehrmals besucht. In Eisenach ist er noch nicht gewesen. lässt mehrere Deutungen der semantischen Abhängigkeitsbeziehungen zu, und zwar restriktive (mögliche Subjunktion allein), adversative (mögliches Konjunktionaladverb dagegen) und konzessive (mögliches Konjunktionaladaverb trotzdem) Interpretationen (Helbig/ Buscha 2001: 563). Die Auflösung der vorhandenen Mehrdeutigkeit hängt damit zusammen, wie gut der Rezipient die Vorgeschichte, die Situation kennt (vor allem in münd- <?page no="143"?> W ISSENSBESTÄNDE UND T EXTUALITÄT 133 licher Kommunikation) bzw. mit den kontextuellen Zusammenhängen vertraut gemacht werden konnte (vorwiegend in schriftlicher Kommunikation). 2.2 Auslassungen Jede Auslassung von notwendigen Textkomponenten bedeutet für den Rezipienten eine kognitive Anstrengung, weil er von seinen verschiedenen Wissensvorräten - manchmal auch selektiv - mehr aktiv zusammentragen muss, um einen kohärenten Textzusammenhang zu erzielen (Bra i 1994). Ein besonderer Aspekt von Auslassungen entsteht in der funktionalen Satzperspektive bei indirekten Rhematisierungen. In einem Text über Papst Johannes Paul II. (Wojtyla) lesen wir (Spiegel 23/ 02/ 177) Der Pole Karol Wojtyla …. kann in vielen Zungen reden. Und einige Sätze weiter: … antwortet der 263. Nachfolger des Petrus stereotyp …. In diesem nachfolgenden Textsatz ist also in einem an sich thematischen Teil eine komprimierte rhematische Information enthalten, dass nämlich der Papst Karol Wojtyla der 263. Nachfolger des Petrus war. Solche Nebenbei-Prädikationen (Sandig 2006: 375; von Polenz 1988: 143) werden nicht selten durch Unterstellungen manipulativ missbraucht, wie etwa im kurzen Dialog HERR: Sie haben das Gedicht Deutung eines allegorischen Gemäldes von Robert Gernhardt viel schöner aufgesagt als Christian Quadflieg. ICH: Was? ? Christian Quadflieg hat Deutung eines allegorischen Gemäldes von Robert Gernhardt aufgesagt? ? HERR: Nö in dem indirekt eine Handlung (das Aufsagen eines Gedichtes durch C.Q.) angenommen wird, ohne dass dies wahr gewesen wäre. (Aus Die Zeit (29/ 09/ 51: Pooh´s Corner; Meinungen eines Bären von sehr geringem Verstand; von Harry Rowohlt). 2.3 Textmustermischung Bei Textmustermischungen geht es darum, dass ein Textmuster als Anweisung für die Bildung eines einer Textsorte angehörigen Textes unerwartet so durcheinandergebracht wird, dass in einem Token (Kürschner 1993: 34) als Textexemplar „konventionelle formulative Mittel … gemischt werden“ (Fix 2008: 162). Vor allem kommt dies häufig und evident in der Werbesprache vor. Hier ließe sich eine Parallele zur Satzebene ziehen. So wie für die Satzstruktur die Valenz des im Satz enthaltenen Verbs ausschlaggebend ist, so ist es das Textmuster - eine Art Textvalenz, das die Struktur des Textes gewissermaßen im Voraus fixiert. Und auch hier kann es, wie auf der Satzebene, Verstöße gegen diese Richtschnur geben. Ein Text wird z.B. aus Elementen gebaut, die verschiedenen Textmustern angehören, es kommt also zu einer Kontamination. Interessant scheint der folgende kurze Text aus der Wochenzeitschrift Die Zeit, in dem die lexikalischen Felder zweier Domänen, der Wirtschaft und des Theaterwesens, sich überschneiden und in dem die häufig verantwortungslose Handlungsweise der Banker als schlechtes Theater angeprangert wird: <?page no="144"?> S TOJAN B RA I 134 Wörterbericht Darsteller Eine erfreuliche Meldung: Die darstellenden Künste sind reicher geworden. Denn zu den Mimen, Tänzern und Sängern haben sich die Finanzexperten gesellt. Ein zwangsläufiger Schritt eigentlich, die Märkte performen ja längst, doch da geht es nur rauf und runter. Der Finanzmensch dagegen meint es ernst mit der Kunst. Einen Kreditbedarf rechnet er nicht mehr einfach aus, nein: Er stellt ihn dar. Er ist ein echter Krisenkreditdarsteller. Ja, für ein heiteres Betteldramolett wird der Banker gern zur Rampensau. Aber bühnenreif muss er sein. Sonst sagt der Bankintendant zum Arcandormann: Nicht darstellbar. Tja, liebe Insolvenzskribenten, wenn man dramaturgisch so schlampig arbeitet! Aber Opel kehrt ja auf die Bühne zurück, Continental, vielleicht Quelle… Der Spielplan ist rappelvoll. Vorhang auf! (Aus Die Zeit 29/ 09/ Feuilleton 56.) 2.4 Unerwartete Wendungen Abschließend soll hier ein ganzer Text als Beispiel dafür genommen werden, dass Textkomponenten auf den ersten Blick nicht ganz zusammenpassen, dass der Erzählduktus eine „unerwartete Wendung“ (Sandig 2006: 478) nehmen kann, die sich jedoch als sinnvoll und sogar sehr effektvoll herausstellen kann. Die kleinen Schiffe Mein Sohn Matthes schenkte mir zwei kleine Schiffe. Sie sind aus goldenem Stanniolpapier und haben eine besondere Eigenart: Niemand sieht ihnen an, dass sie Schiffe sind. Gekrümmte Papierblättchen. Wenn ich es nicht von Matthes erfahren hätte, so wüßte auch ich nicht, daß es zwei Schiffe sind. „Wozu hast du die Goldpapierfetzchen auf dem Bücherregal? “ werde ich gefragt. „Laßt sie liegen; es sind zwei Schiffe! “ Die Schiffe werden auf dem Bücherbord bleiben, bis der älter gewordene Matthes mir etwas anderes dafür hinstellt. Ich denke an mein erstes Gedicht. Es war ein Fetzchen bekritzeltes Papier, und niemand wollte es als Gedicht gelten lassen. (Aus: Erwin Strittmatter, Schulzenhofer Kramkalender, Aufbau-Verlag 1972, Berlin und Weimar, S. 13.) Die ersten vier Absätze sind eine Erzählung, die für sich allein schon als abgeschlossen gelten könnte. Aus dem Erzählten kann man ein pädagogisches Prinzip herleiten, das lauten könnte: Obwohl das, was Kleinkinder machen, manchmal nach nichts aussieht, muss man ihre Leistungen anerkennen, um ihre Innovationslust anzuregen. Auf diesen pädagogischen Diskurs stößt eine andere Domäne, nämlich die des künstlerischen Schaffens. Auch hier gibt es Anfänger, die ungeschickt und unbeholfen sind. Der Autor zieht in Form einer Reminiszenz Parallelen zu seinem künstlerischen Werdegang. So nimmt die Textsorte Kurzerzählung eine plötzliche Wende und wird zu einer komplexen Metapher, zu einer Parabel mit dem auf beide Textkomponenten zutreffenden Tertium Comparationis, das in der semantischen Relation der Konzessivität zu sehen ist: Obwohl unsere Tätigkeit auf den ersten Blick manchmal sinnlos scheinen mag, lässt sich daraus nach einer gewissen Zeit doch ein tieferer Sinn erschließen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss der Rezipient verschiedene Erfahrungen und Wissensbestände aktivieren. 3 Zusammenfassung und Ausblick Eine regelmäßige Linearität in der Textgestaltung ist eher eine Illusion. Massenweise stößt man in verschiedenen Textsorten auf Inkompatibilitäten, die jedoch nicht immer Norm- <?page no="145"?> W ISSENSBESTÄNDE UND T EXTUALITÄT 135 verletzungen sein müssen, sondern häufig gewisse stilistische Funktionen erfüllen und z.B. hyperbolische, euphemistische, ironisierende, erklärende und korrigierende, unterhaltende und humoristische, verfremdende Wirkung haben können. Die Unterscheidung des Fehlerhaften vom funktional Begründbaren erfordert beim Rezipienten einiges an Wissen. Aber auch im Bereich des tolerierbaren Abweichens von der Norm kann nur ein Rezipient, der in der Lage ist, seinen (aktiven) Anteil an der Kohärenzbildung des Textes beizusteuern, alle Schattierungen des nicht explizit Ausgesagten erkennen, sich aber zugleich auch vor dilettantischen Überinterpretationen schützen. Das scheint auch in der Fremdsprachendidaktik von großer Relevanz zu sein. Den Fremdsprachenlernenden muss ein adäquates Normgefühl beigebracht werden, also auch die Einsicht, dass Normen u.U. verletzbar sind und sein dürfen. Auf der anderen Seite gilt: Es ist also ein Vorteil, daß wir nicht nur auf die unterdeterminierten (komprimierten und/ oder implikativen) Ausdruckweisen der ökonomischen Routinesprache angewiesen sind, sondern bei Bedarf auf explizitere Formulierungsweisen zurückgreifen können, z.B. zur Klärung sprachlicher Mißverständnisse oder Unklarheiten, zur Aufdeckung sprachlicher Verschleierungen. Die expliziteren Umformulierungstechniken verdienen es - heute mehr denn je - gelehrt, beherrscht und angewandt zu werden. (von Polenz 1988: 29). Dass dies ein Postulat ist, das in der Auslandsgermanistik ganz besonders groß geschrieben werden muss, braucht an dieser Stelle nicht gesondert betont werden. Ihm blieb in seinem Schaffen auch der Jubilar treu. Literatur Beaugrande, Robert-Alain de / Dressler, Wolfgang U. 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ELOPE, Studies In The English Language And Literature In Slovenia, Ljubljana: Slovene Association For the Study Of English, 61-78. <?page no="147"?> Aorist oder Imperfekt an einem kunstgeschichtlichen Beispiel Käthi Dorfmüller-Karpusa Zu der Festschrift für Wilfried Kürschner möchte ich mich gern mit einem kleinen Beitrag über einige interessante Besonderheiten des Altgriechischen beteiligen. Temporale und aspektuelle Relationen in Texten haben mich schon lange Zeit beschäftigt, hier jedoch möchte ich nur einige spezifische Beispiele vorbringen und diskutieren. Die Vermittlung solcher Informationen übernehmen, wie bereits den Anhängern der Stoa klar war, das Verb bzw. die Tempora des Verbs. Im Altgriechischen sind die Haupttempora der gemäß Harald Weinrich erzählten Welt das Imperfekt und der Aorist (Weinrich 1964). Trotz der bestimmten Besonderheiten des Aorists ist die Hauptrolle beider Tempora die Lokalisierung der betreffenden Sachverhalte in der Vergangenheit des Produzenten, d.h. vor dem Intervall der Produktion. Diese Funktion wird durch das Augment sowie durch die präteritalen Endungen des Verbs angedeutet. Der morphologische Unterschied zwischen den beiden Tempora, die darüber hinaus auch aspektuelle Informationen vermitteln, ist der Präsensbzw. der Aorist-Stamm oder anders gesagt der imperfektive bzw. der perfektive Stamm des Verbs (Comrie 1976, Dorfmüller-Karpusa 1983, 1988, Leiss 1992, Schrodt & Dornhauser 2003, Sioupi 2009). Ein Sachverhalt wird als ‚perfektiv’ beschrieben, wenn er als ein einziges Ganzes empfunden wird, ohne Berücksichtigung seiner verschiedenen Phasen. Dagegen wird ein Sachverhalt als ‚imperfektiv’ beschrieben, wenn der Sprecher die innere Struktur dieses Sachverhalts berücksichtigt. Eine präzisere operationale Festlegung ... unterscheidet eine’ imperfektive’ von einer’ perfektiven’ Sachverhaltsbeschreibung dadurch, dass im ersten Fall ein Referenzsachverhalt gefunden werden kann, der innerhalb des’ imperfektiv’ beschriebenen Sachverhalts liegt, während im zweiten Fall dies nicht möglich ist. (Dorfmüller-Karpusa 1983: 231-232). Ein häufig in der Literatur herangezogenes Beispiel ist " $ vs. " $ (beides: er herrschte als König). Dabei wird die Proposition er herrschte als König bei " $ (Imperfekt) als eine andauernde Handlung in der Vergangenheit präsentiert. Hingegen wird sie bei " $ (Aorist) als eine abgeschlossene Handlung dargestellt, ohne die Dauer des Herrschens zu berücksichtigen. In diesem Fall deutet also das Imperfekt die Dauer an, während der Aorist einen Punkt zum Ausdruck bringt. Bernard Comrie findet anstatt der Punktualität, die durch perfektive Formen vorgetäuscht wird, folgende Metapher zutreffend: Since the notion of a point seems to preclude internal complexity, a more helpful metaphor would perhaps be to say that the perfective reduces a situation to a blob, rather than to a point: a blob is a three dimensional object, and can therefore have internal complexity, although it is nonetheless a single object with clearly described limits (Comrie 1976: 18). Im Rahmen der relativ jüngeren Disziplin, der Textlinguistik, sprechen wir jedoch von Vordergrund- oder Hintergrund-Information (Weinrich 1964, Hopper 1979). So übernimmt das Imperfekt die Vermittlung von Hintergrund-Informationen, während der Aorist als Protagonist z.B. in einer Narration die Vordergrund-Informationen vermittelt. Und dies empfindet auch jeder natürliche Sprecher des Griechischen heute. Wie Paul J. Hopper in seinem Artikel Aspect and Foregrounding in Discourse schreibt: <?page no="148"?> K ÄTHI D ORFMÜLLER -K ARPUSA 138 But approached from the discourse level, these semantic functions turn out to have a uniform pragmatic goal: They suggest a reduced assertion of the finite reality of the event. The devices used in backgrounding indicate events which are either contemplated or, if initiated, are not completed because they are ongoing, stative, or repeated (Hopper 1979: 237-238). Dieselbe Thematik wurde vor vierundachtzig Jahren durch den Altphilologen Jacob Wackernagel folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Man kann höchstens, wenn man einen Unterschied machen will, gelegentlich feststellen, dass durch den Aorist mehr die Hauptmomente einer Reihe von Handlungen oder Vorgängen bezeichnet werden, während die Einzelausführung im Imperfekt gegeben wird (Wackernagel 1926: 183). Wenn ich über Besonderheiten des Aorists schreibe, meine ich hauptsächlich den gnomischen Aorist, wobei in diesem Fall die aspektuellen Informationen gegenüber den temporalen überwiegen. Der beschriebene Sachverhalt gehört dann nicht allein der Vergangenheit, sondern er übernimmt den modalen Status des Wirklichen ohne temporale deiktische Funktion. Wie könnte man aber die Verwendung des einen oder des anderen Tempus erklären, d.h. %& < oder %& @ bzw. \^ _ oder \^ ` auf Künstlerinschriften, wobei der einzige Kotext der Name des Künstlers als agens der Handlung ist? Plinius, der in seiner Naturalis historia eine Antwort auf diese Frage zu geben versucht, interpretiert dieses Phänomen folgendermaßen: Der Künstler verwendet Imperfekt, um zum Ausdruck zu bringen, dass er sein Werk noch nicht vollendet habe. Das Imperfekt führe somit auf die Bescheidenheit des Künstlers zurück. Nach fast zweitausend Jahren äußert sich Wackernagel über diese Problematik folgendermaßen: Wenn der Künstler das Imperfektum %& < setzt, so erzählt er von seiner Arbeit; wenn er den Aorist %& @ gebraucht, so konstatiert er sie als Faktum. Also %& < bedeutet Arbeit tat an diesem Werk der und der, während der Aorist %& @ heißt der und der ist der Verfertigter (Wackernagel 1926: 181). Er stützt seine These mit Hilfe zahlreicher Weihinschriften, in denen angegeben wird, welchem Gott das jeweilige Stück gewidmet ist. Auf diesen steht ausschließlich der Aorist {|@} oder |@} u.ä., was zu übersetzen ist mit er bzw. sie widmete. Bei Weihungen handelt es sich allein um das Faktum des Darbringens. Hier bewegen wir uns im Gebiet der Pragmatik, denn eine der Hauptfragen dieser Disziplin ist: Welche Eigenschaften der Situation sind dafür bestimmend, dass gewisse sprachliche Ausdrücke gewählt werden, andere nicht? Was bedeuten die sprachlichen Ausdrücke - nicht als linguistische Strukturen, sondern als Äußerungen in diesem Typ von Situation? (Linke et al. 1994: 177). Greift man in dieser Weise über die temporalen und aspektuellen Informationen hinaus, benötigt man Wissen über die Welt, in welcher der beschriebene Sachverhalt zum Tragen kommt. Dieses Wissen ist im Wesentlichen dem Kotext bzw. dem Kontext zu entnehmen. Da aber bei den Künstlerinschriften keine derartigen Informationen mitgeliefert werden, ist bzw. war man verpflichtet, interpretativ die jeweilige Text-Welt zu rekonstruieren und insbesondere die Einstellung des Produzenten, der mit seiner sprachlichen Handlung seinem/ seinen Rezipienten in dieser äußerst zerdehnten Situation (Ehlich 1984) seine Botschaft vermitteln möchte. Eine solche Rekonstruktion auf der Basis aspektueller und temporaler Informationen, die angefangen von Plinius bis heute unternommen wird, scheint eine plausible Antwort auf dieses interessante Rätsel zu geben. <?page no="149"?> A ORIST ODER I MPERFEKT 139 Literatur Comrie, Bernard (1976): Aspect. Cambridge: Cambridge University Press Dorfmüller-Karpusa, Käthi (1983): Temporalität, Theorie und Allgemeinwissen in der Textinterpretation. Hamburg: Buske. - (1988): Temporal and Aspectual Relations as Text-Constitutive Elements. In: Petöfi, Janos S. (ed.). Text and Discourse Constitution. Berlin: Walter de Gruyter, 134-169. Ehlich, Konrad (1984): Zum Textbegriff. In: Rothkegel, Annely / Sandig, Barbara (Hrsg.). Text - Textsorten - Semantik. Linguistische Modelle und maschinelle Verfahren. Hamburg: Buske, 9-25. Hopper, Paul J. (1979): Aspect and Foregrounding in Discourse. In: Givon, Talmy (ed.). Discourse and Syntax (Syntax and Semantics 12). New York: Academic Press, 213-241. Leiss, Elisabeth (1992): Die Verbalkategorien des Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter. Schrodt, Richard / Donhauser, Karin (2003): Tempus, Aktionsart/ Aspekt und Modus im Deutschen. In: Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin, New York: de Gruyter, 2504-2525. Sioupi, Athina (2009): „Result and the (im)perfective”. Hand-out presented at the 9 th International Conference on Greek Linguistics. 29.-31.10.2009. Chicago, USA. Wackernagel, Jacob (1926): Vorlesungen über Syntax. Basel: Birkhäuser. Weinrich, Harald (1964): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart: Kohlhammer. <?page no="151"?> A Cognitive Modeling Approach in Semantic Studies Marina Fomina 1 Introduction The present paper is concerned with cognitive modeling of the lexical representation of concepts. In particular, we shall focus on the EMPTY SPACE phenomenon in the English speaking culture. The concept EMPTY is represented by a cluster of English synonyms - the words empty, free, blank, spare, unoccupied, vacant and void. This particular research into the language conceptualization of EMPTY SPACE is based on a semantico-cognitive approach. This approach deals with the correlation between semantic and cognitive processes. It assumes that semantic analysis is to be followed by cognitive interpretation of revealed semantic data which in turn results in a cognitive model of a concept (Popova, 2007: 9). The investigation revealed that there is a number of relevant features which should be considered as the basis for distinguishing the words mentioned above. These are: 1) the speaker represents space (S) as two- / three-dimensional physical space; 2) the speaker represents space (S) as functional, mental / psychic, time / life space or a set thereof; 3) the type of a potential and actual filler (X) for space (S) (humans, animates / inanimates, nonphysical (abstract) objects); 4) the physical space (S) is incomparable with its filler (X) in size (S is much bigger than X); 5) some subject (Y) is not authorized formally to participate in a given event (P) within a functional space (S); 6) there is a potential initiator (Y) of some activity within a functional space (S); 7) an agent position in a functional space (S) is not filled; 8) whether functional, mental / psychic, time / life space (S) is available for some activity; 9) the speaker is unable to perceive a nonphysical (abstract) object (X) within a mental / psychic space (S); 10) whether space (S) is expected to be filled with some objects (which normally belong to it). The system of semantic components reveals cognitive mechanisms responsible for the speaker’s choice of a particular lexical unit to define an object conceived of as EMPTY SPACE . This particular esearch made it possible to provide cognitive structures of the words empty, free, blank, spare, unoccupied, vacant and void (Fomina, 2007; 2009a; 2009b). The cognitive interpretation of the revealed semantic data resulted in a cognitive model of the concept EMPTY . To illustrate the procedure of semantic analysis, let us dwell upon the cognitive structure of spare. <?page no="152"?> 142 M ARINA F OMINA 2 Cognitive Structure of Spare If we consider dictionary entries for spare, we shall see that this adjective is defined as “unused, extra” (NHOD), “kept in reserve, as for possible use; being in excess of present need” (MCD), “available for someone to use” (CCALED). We shall develop these ideas to get a more detailed definition of spare. I argue that spare conveys the information that the speaker conceives some physical / abstract object either as 1) functional space (S) with an unfilled agent position or as 2) time space (S) available for some activity (X). Physical objects defined by spare are commonly duplicated by similar objects being in current use. The main function of the objects characterized by the adjective is to substitute them for previously used ones or meet an increased demand for the objects if required (in case of possible breakage, loss, wear-out, shortage of currently used objects, etc.) - cf. There were no spare seats so we had to stand. The statement conveys the information that there were no extra objects (seats) to supply the audience’s demand - all the objects (seats) were already in use. An object characterized by spare may have the status of being kept in reserve for an indefinitely long time and even keep the status while being used (e.g., a spare tyre, a spare room, a spare part, etc.). In this case the status is that of an attached characteristic, a permanent attribute of the object. Yet in the context of some events the status may as well be ascribed to an object on a temporary basis - cf. a spare chair, a spare seat, a spare room (in a hotel), etc. The presupposition of this use of spare is the assumption that there should be a potential initiator of some activity within the functional space of the object defined by spare. This semantic component of spare makes it impossible to use the adjective in existential sentences (there-sentences) - cf. *There were a few spare seats in the carriage, *There was only one spare bed in the hospital ward. Existential sentences convey the information that S (e.g., a carriage, a hospital ward) has X (e.g., spare seats, spare bed), whereas there is not necessarily any indication of the subject who aims to use X. Thus the meaning of there-structure conflicts with the meaning of the word spare. Yet in sufficiently broad contexts specifying the subject existential sentences with spare cease being qualified as unacceptable, e.g. The spare chair in his office was occupied by a woman of about thirty dressed in an elegant black outfit, Carson moved two bound runs of American Cinematographer magazine off the office’s only spare chair so that he could sit down, I preferred to cross the ferry to the hotel on the other side, and found there was a spare bed though not a spare room. In this usage spare can scarcely be substituted by the words empty, free, blank, unoccupied, vacant and void, cf. Their companion, in his 20s, had an old, noisy van with a smiling face logo on the spare tyre. vs. *… empty / *free / *blank / *unoccupied / *vacant / *void tyre, Carson moved two bound runs of American Cinematographer magazine off the office's only spare chair so that he could sit down. vs. *… empty / *free / *blank / *unoccupied / *vacant / *void chair, <?page no="153"?> A C OGNITIVE M ODELING A PPROACH IN S EMANTIC S TUDIES 143 I preferred to cross the ferry to the hotel on the other side, and found there was a spare bed though not a spare room. vs. *… empty / *free / *blank / *unoccupied / *void bed …* empty / *free / *blank / *unoccupied / *void room. Let us now dwell on the use of spare qualifying time space by considering the following utterances, in which the speaker conceives S as time space: Since starting my new job, I’ve had very little spare time, In Hamble village, their first precious spare hours were spent not in the pubs but in the Tesco's supermarket watching shoppers walking up to overburdened shelves and putting all manner of goods in their baskets. These statements convey the information that there are some time intervals available for some activity (X) that does not relate to the protagonist’s job duties (e.g., watching shoppers). The word spare qualifying time space is similar to free to a certain extent. When I replaced spare with free the above sentences were graded as acceptable and preferred, cf. Since starting my new job, I’ve had very little spare time. … I’ve had very little free time, In Hamble village, their first precious spare hours were spent not in the pubs but in the Tesco's supermarket. … their first precious free hours … The investigation revealed that the adjective spare qualifying a functional / time space (S) performs the functions of an attribute, whereas the predicative function is not characteristic of spare, e.g. The spare bedroom is on the second floor, There’s no spare room in here for another desk, He’s studying music in his spare time, *The room is spare, *Her days were spare, *The seat is spare. The occurrence of spare solely in attributive constructions can be accounted for by the fact that the adjective conveys the information about an immanent characteristic of the object defined by this word. This characteristic is conceived of as a permanent status of the object that is attached to the object and cannot be attributed to it. According to our study all the adjectives except spare - empty, free, blank, unoccupied, vacant and void - may qualify an object construed as mental / psychic space. The use of spare implies that the object (physical / nonphysical) is commonly duplicated by similar objects being in current use. The protagonist can barely be expected to have an “unused, extra” (NHOD), “kept in reserve” (MCD) heart which is typically conceived of as spiritual, emotional and moral core of a human being, cf. *The experience had left him with a spare heart. To sum up, the cognitive structure of the adjective spare that reveals cognitive mechanisms responsible for the speaker’s choice of this particular lexical unit to define an object conceived of as EMPTY SPACE gets the following representation. The adjective spare conveys the information that: <?page no="154"?> 144 M ARINA F OMINA 1) space (S) is represented as functional space; 2) an agent position in a functional space (S) is not filled; 3) there is a potential initiator (Y) of some activity within a functional space (S); 4) an object represented as functional space (S) belongs to a set of objects that have some characteristics in common; 5) space (S) may also be represented as time / life space available for some activity. 3 A Cognitive Model of the Concept EMPTY The cognitive interpretation of the revealed semantic data resulted in a cognitive model of the concept EMPTY visually presented below (table 1). I distinguish three basic ways of EMPTY SPACE conceptualization. Consider the group of components relevant when describing the first basic way of EMPTY SPACE conceptualization: 1) space (S) is represented as two-dimensional physical space; 2) space (S) is represented as three-dimensional physical space; 3) a potential or actual filler (X) for space (S) is represented by humans or animates; 4) a potential or actual filler (X) for space (S) is represented by physical two-dimensional objects; 5) a potential or actual filler (X) for space (S) is represented by physical, three-dimensional objects; 6) physical space (S) is incomparable with its filler (X) in size (S is much bigger than X); 7) physical S is expected to be filled with some objects (which normally belong to it). The group of components relevant when describing the second basic way of EMPTY SPACE conceptualization: 1) space (S) is represented as functional space; 2) some subject (Y) is not authorized formally to participate in a given event (P) within a functional space (S); 3) an agent position in a functional space (S) is not filled; 4) a potential or actual filler (X) for space (S) is represented as an activity; 5) functional space (S) is available for some activity; 6) there is a potential initiator (Y) of some activity within a functional space (S); 7) an object represented as functional space (S) belongs to a set of objects that have some characteristics in common; 8) functional S is expected to be filled with X. Components relevant when describing the third way of EMPTY SPACE conceptualization: 1) space (S) is represented as mental / psychic space; 2) the speaker is unable to perceive a nonphysical (abstract) object (X) within a mental / psychic S; 3) mental / psychic space (S) is available / not available for some activity; 4) mental / psychic S is expected to be filled with X; 5) space (S) is represented as time / life space; 6) time / life space is available for some activity; 7) time / life space is expected to be filled with X. In the last analysis, the cluster of English synonyms - the words empty, free, blank, spare, unoccupied, vacant and void - can be split into two groups. Empty, blank and void fall into the first group of adjectives and may be used to qualify an object conceived as physical space (the first basic way of EMPTY SPACE conceptualization), while the words of the second group - vacant, unoccupied, free and spare - define an object represented as functional space (the second basic way of EMPTY SPACE conceptualization). All the adjectives may qualify an object construed as mental / psychic or time / life space (the third basic way of EMPTY SPACE conceptualization) except the word spare that cannot qualify mental / psychic space. <?page no="155"?> A C OGNITIVE M ODELING A PPROACH IN S EMANTIC S TUDIES 145 Table 1: Cognitive Model of the Concept EMPTY. I argue that the explication of the concept EMPTY in the English speaking culture is rather precise and definite. The study revealed that there are as many as twenty-two components which should be considered as the basis for distinguishing the synonyms. I relate such a detailed language representation to the complexity of EMPTY SPACE conceptualization. Online Dictionaries Collins COBUILD Advanced Learner's English Dictionary (CCALED). http: / / traduko.lib.ru/ Macquarie Concise Dictionary (Australia’s online dictionary) (MCD). http: / / www.macquariedictionary.com.au/ Newbury House Online Dictionary (NHOD). http: / / nhd.heinle.com/ 1 In this case we found real utterances with unoccupied that revealed the corresponding semantic feature in the semantic structure of the adjective though the informants assessed the sentences as unacceptable. Conceptualization Semantic component empty1 blank1 void empty2 blank2 vacant unoccupied free spare 1 + + 2 + + 3 + + 4 + + 5 + + 6 + I 7 + 1 + + + + 2 + 3 + 4 + 5 + + 6 + 7 + II 8 + + + 1 + + + + + + @ (+) 1 + 2 + 3 + + 4 + + + + @ (+) 1 5 + + + + + + + 6 + + III 7 + + + + + <?page no="156"?> 146 M ARINA F OMINA References Fomina, Marina A. (2007). Konceptualizacija ”pustogo” v anglijskom jazyke (empty, free, blank, spare, unoccupied, vacant i void). In: Vestnik MGLU. Jazykovoe bytie cheloveka i etnosa: Psiholingvisticheski~ i kognitivnij aspekty. Serija Lingvistika. Vypusk 541: 272-281. Fomina, Marina A. (2009a). Universal’nye koncepty v kognitivnoj interpretacii. In: Larisa G. Vikulova, Olga A. Souleimanova, Nataliya V. Lyagushkina (eds.): Sovremennye lingvisticheskie paradigmy: fundamental’nye i prikladnye aspekty: Sbornik nauchnyh statej po materialam Tret’ih chtenij pamjati O.N. Seliverstovoj (17 oktjabrja 2008 g.). Moskva: MGPU: 230-239. Fomina, Marina A. (2009b). Fenomen ”pustogo” prostranstva v anglijskoj lingvokul’ture. In: Alexandra A. Vorozhbitova (ed.): Lingvoritoricheskaja paradigma: teoreticheskie i prikladn aspekty: Mezhvuzovskij sbornik nauchnyh trudov. Vypusk 14. Sochi: RIO SGUTiKD: 179-186. Popova, Zinaida D.; Sternin, Iosif A. (2007). Osnovnye cherty semantiko-kognitivnogo podhoda k jazyku. In: Vladimir I. Karasik; Iosif A. Sternin (eds.): Antologija konceptov. Moskva: Gnozis: 7 - 9. <?page no="157"?> Textlinguistische Auswertung von Unterrichtsverläufen Klaus-Dieter Gottschalk In textlinguistischen Seminaren hat der Autor nicht nur einen Brückenschlag zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft angestrebt, wie in der Festschrift für Heinrich Weber dargestellt (Gottschalk 2006). Studierende für das Lehramt haben zudem literarische Textanalysen zur pädagogischen Vorbildung genutzt und Textgemeinsamkeiten zwischen Lehrsituationen und literarischen Werken analysiert. Andererseits lassen sich Mitschriften von Unterrichtsverläufen als Texte strukturieren. Im ersteren Fall dienen literarische Texte als mögliche Spiegelbilder von Wirklichkeit. Im letzteren Fall erstellen die zukünftigen Lehrenden Mitschnitte und erörtern komplexe Textstrukturen linguistisch. Seminararbeiten und wissenschaftliche Arbeiten zum Staatsexamen tragen zu den Textkorpora für dieses Projekt bei. Seit Anbeginn sorgt die Berücksichtigung von Sinclair/ Coulthard (1975) für vergleichbare Ergebnisse. In Arbeitskreisen und Tagungen mit Fremdsprachendidaktikern an Hochschulen und Studienseminaren wurden Ansätze und vorläufige Ergebnisse erörtert. 1 Literarisches Vorspiel Zur Einübung in die Analyse von Interaktionen bieten sich Dramen an, sozusagen zur pädagogischen Vorbildung für die spätere Analyse von Lehrsituationen. Die Studierenden werden so an die Textgemeinsamkeiten zwischen Unterrichtsverläufen und literarischen Werken herangeführt. Soweit Unterrichtsbesuche und Lehrproben während des Studiums vorgesehen sind, können textlinguistisch-semiotische Literaturanalysen die didaktisch-pädagogischen Studien ergänzen oder im philologischen Fachstudium eine gewisse Vorbereitung auf die Lehrsituationen im künftigen Beruf leisten. Denn literarische Texte können den Blick für die Strukturen von Gesprächen öffnen und später pädagogische Orts- und Rollenbestimmung erleichtern. Als hochschuldidaktischen Vorzug lassen sich so die Fachsprachen von Literaturwissenschaft, Linguistik und Didaktik auf einen gemeinsamen Lehrgegenstand beziehen. So bleibt es den einzelnen Studierenden nicht überlassen, eigenständig die drei Fachrichtungen zu integrieren. 1.1 Semiotisch-kommunikative Fähigkeiten Einige für den schulischen Literaturunterricht anerkannte Ziele lassen sich auf das Sprachstudium übertragen: Auch der zukünftige Sprachlehrer soll an Texten seine semiotischkommunikativen Fähigkeiten ausbilden. Als Lehrer wird er ja Texte erzeugen, analysieren und bewerten, und zwar sind solche Texte dann seine eigenen Lehreräußerungen, die Lehrtexte und mündliche sowie schriftliche Schüleräußerungen. Die Textlinguistik und Semiotik fördern sein theoretisches Bewusstsein für Faktoren, die am kommunikativen Handlungsspiel mitwirken oder es gar konstituieren. Das Modell berücksichtigt drei Ebenen für das Verstehen des Verstehens von Texten (vgl. Gottschalk 2010): Zuoberst steht der Metatheoretiker und überschaut die mittlere Ebene mit ihrer Vielzahl von Theorien zur Semiotik, Pragmatik, Linguistik usw. Diese Theorien bieten auf der mittleren Ebene das Rüstzeug für die Analyse von Textsituationen. Auf der unteren Ebene befinden sich Textproduzent(en) und -rezipient(en); sie verleihen <?page no="158"?> K LAUS -D IETER G OTTSCHALK 148 dem Text Struktur nach ihren persönlichen oder gemeinsamen Aufmerksamkeitsfoki. Von der mittleren Ebene aus analysieren wir keine statischen Textstrukturen sondern Strukturierungsvorgänge bei den Textproduzenten und -konsumenten in ihren jeweiligen Situationen. Simulativ können Studierende sich schon auf ihr Berufsfeld einstellen und in einer Drama Group pädagogische Situationen fremdsprachlich durchspielen, wobei sich das Stück und ihr Verhalten nach bestimmten Gesichtspunkten verändern (lassen). Bei unterschiedlichen Eingaben ändert sich der Verlauf der gespielten Handlung, und die Teilnehmer der unteren Modellebene können auf der mittleren Ebene Rückschlüsse ziehen, wie sie z.B. durch ihr erzieherisches Verhalten den Verlauf des Klassengeschehens beeinflussen. Trotz aller Kritik an Sinclair / Coulthard (auf der metatheoretischen Ebene) lassen sich ihre Methoden immerhin auch auf Dramen anwenden. Selbst ein nicht optimales Beispiel für didaktische Dramenanalyse mag noch aufweisen, was sich im Erziehungswesen ereignen kann. Shaws Saint Joan vermag unter didaktischem Fokus einige Gemeinsamkeiten mit Situationen im Unterricht zu vermitteln: Shaw versucht, den Leser (im Vorwort) und das Publikum zu überzeugen; Warwick und Cauchon erteilen einander Unterricht in Geschichtsphilosophie; Joan erzieht den Dauphin; der Prozess gegen sie ähnelt einem Verfahren beim Jugend- oder Vormundschaftsgericht, wo es nur um das Wohl der Unmündigen gehen soll. Am Beispiel des Inquisitors lässt sich erörtern, wie Sprache und Verhalten einander widersprechen können: Eine semiotische Beschreibung von gespielten Szenen ermöglicht es, den schizophrenen Zwiespalt zwischen sprachlich geäußerter Fürsorge und im Verhalten angedeuteter Feindseligkeit in falsch angelegten erzieherischen Verhältnissen aufzudecken wie eben in Joans Prozess mit dem Ziel ihrer Umerziehung durch Bekehrung. Stoff für semiotische Analysen liefern bei entsprechender medientechnischer Ausrüstung Mitschnitte von Filmen und Fernsehen. Der BBC-Fernsehkurs für Anfänger Follow Me mit bekannten Schauspielern regt die Englischlernenden ebenfalls zu semiotisch angelegten Rollenspielen an (vgl. Gottschalk 1980, 1982). Ähnlich dem Geschehen auf der Bühne kann ein Unterrichtsgespräch auf zwei Arten von Textempfängern abgestimmt sein. Für Referendare ist wesentlich, dass sie im Unterricht mit den Schülern sowie zum Mentor oder Gutachter sprechen. Dies playing to the gallery entspricht den Interaktionen auf der Bühne zwischen den dargestellten Charakteren und solchen von der Bühne mit dem Publikum. In Saint Joan richtet Shaw scheinbar spontane Bühnengespräche an sein Publikum - im Happening wirkt diese Kunst dann echt spontan. (Auch im Vorwort pflegt Shaw den Ton des Einzelgesprächs mit seinem Leser.) Durch literarische Textanalysen lässt sich das theoretische Bewusstsein für Textstrukturen in der Lehrsituation oder für das kommunikative Handlungsspiel im Klassengespräch vorbereiten. Für die Rolle des Textproduzenten lässt sich zum Beispiel verallgemeinern: Wie es den lehrerbezogenen Unterricht gibt, so kennen wir den erzählerbezogenen Roman und auch neuere Dramen, wo ein Erzähler in den Handlungsablauf eingreift. 1.2 Unterrichtssituation Für den situationsgebundenen Unterricht (situational teaching) im frühen Sprachunterricht plant der Lehrer seine Übungssätze gleichsam realistisch als Bestandteile eines Situations- und Textzusammenhangs. Er plant also den Text als spontanes Übungsgespräch voraus. Und da dient ihm die Lehrerfrage ganz wesentlich dazu, die Weichen für das Gespräch zu <?page no="159"?> T EXTLINGUISTISCHE A USWERTUNG VON U NTERRICHTSVERLÄUFEN 149 stellen; er muss um die Vielfalt illokutionärer Rollen wissen, denen interrogative Äußerungen dienen (z.B. mit oder ohne please, vgl. Sadock 1974: 120ff). Linguisten üben auch an der literarischen Textanalyse semiotisch-pragmatische Beschreibungen. Dabei gehen wir auf der unteren Modellebene davon aus, dass der Autor Shaw ebenso wie seine Bühnenfiguren Texte produziert und strukturiert, und dass sein Publikum ebenso wie die Bühnenfiguren Texte aufnimmt und strukturiert. Die auf der unteren Ebene beschreibbaren Strukturierungsvorgänge sind so vielfältig wie die Zahl der Textproduzenten und Rezipienten, so dass unterschiedliche Deutungen je nach Situation der Strukturierenden möglich sind. Was der Lehrer für den Unterricht als Übungssätze textet, sollen Lernende im situational teaching als spontane situationsgebundene Äußerungen auffassen, während der Mentor oder Hospitant auf die Einbettung von Übungssätzen achtet. 2 Unterrichtsgespräch Im fremdsprachlichen Anfangsunterricht herrscht zumeist der Typ des wiederholenden Gesprächs vor. Allmählich bildet sich dann das freie Unterrichtsgespräch heraus. Im Erwachsenenunterricht an der Volkshochschule finden sich jedoch häufig auch die false beginners; sie ziehen es oft vor, den pattern drill bruchstückhaft aufzulockern und in freiere, nicht unbedingt korrekte Äußerungen umzuleiten. Lässt man sich vom Informationsgehalt der Äußerungen leiten, so enthält das wiederholende Gespräch durchaus viel Informatives für die Lernenden, denn ihnen geht es nicht nur um den Inhalt des einmal verstandenen Textes, sondern auch um die phonetische, lexikalische und grammatisch-syntaktische Korrektheit ihrer Äußerungen und damit um das formale feedback ihres Kursleiters. Im wiederholenden Gespräch bedeutet die Korrektur beziehungsweise ihr Ausbleiben (gedeutet als Zustimmung, gegebenenfalls semiotisch mit Kopfnicken bewertet) eine wesentliche Information im Unterricht. Als Beispiel einer Textanalyse dient ein Mitschnitt aus dem Englischunterricht an der Volkshochschule. Die Studierenden konnten beim Kursabend hospitieren und die Situation beobachten, in welcher der mitgeschnittene Text entstand. Im Seminar erörterten wir dann zuerst den Lektionstext 11A aus Hoffmann, Mepham (1980) Englisch für Sie und analysierten ihn textlinguistisch wie jeden anderen herkömmlichen Text. Danach untersuchten wir das Unterrichtsgespräch. Ein semiotischer Bezug besteht zwischen einer Skizze und dem Drucktext: Im Vordergrund sieht man einen Mann und an der Haustüre eine Frau; aus der Haustüre quillt Qualm. An vier Hausfenstern zeigen sich vier Personen bei unterschiedlichen Tätigkeiten. Family Life Mr Brown is coming home from the office. His wife is at the door. SHE: Hello, Bill! HE: Hello, darling! - Where are the children? SHE: Oh - Dick is upstairs. HE: Is he doing his homework? SHE: No, he isn’t. He’s painting the walls of his room red. HE: Good heavens! - And what’s Ann doing? SHE: She’s writing letters to her favourite pop stars. HE: Oh, dear! - What’s that terrible noise upstairs? SHE: That’s Bob. He’s trying to learn the trumpet. HE: Oh, no! Not the trumpet! - What’s the baby doing? SHE: He’s crying, as usual. HE: And what’s Grandpa doing? SHE: He’s watching television. HE: Well, that’s fine. But what’s that smell, darling? SHE: What smell? - Oh, dear, my meat is burning! Der Titel gehört textlinguistisch nicht in den emischen schriftlichen Text, weil er normalerweise keine Information liefert, die als Substituendum für den Text dient; d.h. der Text <?page no="160"?> K LAUS -D IETER G OTTSCHALK 150 knüpft nicht ausdrücklich an den Titel an und substituiert etwa Family durch this family / they. Allerdings liefert der Lesetext mit dem Titel den Rahmen durch den Oberbegriff Family für das hyponyme Wortfeld home, wife, children, baby, Grandpa. Bei der freien mündlichen Einführung des Textes bietet sich der Oberbegriff Family als neues Wort nicht so gut an für den Auftakt, weil das Wort auf Deutschsprachige phonetisch fremder wirkt als sein Schriftbild. Ohne den Titel wird der Text emisch verkettet, denn Mr Brown wird durch HE / his substituiert und his wife durch SHE. Wird der Titel zum Textabschluss eingeführt, ist er Zusatzinformation; er fasst nur noch zusammen: etwa etisch This is the Brown family and their life, their family life. Als Überschrift lädt er jedoch zu einer Aufgabe ein, nämlich zur emischen Auffächerung des Oberbegriffs Family (etwa: A family; who are the family? ). 2.1 Strukturierungsansätze Die Mitschrift der Unterrichtseinheit zu 11A verdeutlicht, dass sich der Abend an der VHS wie ein Gesprächsverlauf strukturieren lässt. An dem Gespräch beteiligen sich Dozent D und Kursteilnehmer KT. Die Einheit beginnt mit einem Gliederungssignal Now. Es folgen eine Vorstrukturierung der Unterrichtssituation und eine weitere Fokussierung Do you know Mr Brown? Zudem wird der Textneubeginn emisch ausgewiesen mit a story. D: Now, I want to read a story to you. Do you know Mr Brown? Mr Brown is coming home from the office. He is back from the office now. He is coming home from the office. Where is he coming home from? KT: Mr Brown is. D: No, no. Not ‘who is coming home’, but ‘where’ is he coming home from? KT: He is coming home from the office. D: What’s Mr Brown doing? KT: He’s coming. Die Frage nach Mr Brown setzt seine Person als eingeführt voraus und ermöglicht den großen Textzusammenhang mit der Anfangslektion 1A, wo der Name deiktisch eingeführt wurde: Who is this? - This is Mr Brown. Dort sah er jedoch noch anders aus. Auch der Name von Bill und Bill’s wife sind bekannt. D bezweckt mit seiner Frage Where...? eine Wiederholung der ing-Form als grammatische Übung, die ihm zugleich eine Information zu KTs Satzverständnis liefert: Obwohl die eigentliche Aufgabe idiomatisch gelöst wurde, bewertet D die Verwechslung von where und who negativ. D belässt es nicht bei einem Missverständnis zwischen Gesprächspartnern sondern nutzt das Textgenre Unterrichtsgespräch zu einer deutlichen Korrektur. D lässt den Gesprächspartner also nicht auflaufen, lässt auch nicht den Gesprächsfaden abreißen. D verzichtet an dieser Stelle auf eine Belehrung darüber, wie das Missverständnis zwischensprachlich entsteht durch die Wortpaare where : who / wer : wo mit phonetischen Anklängen zwischen where : wer und graphischer Ähnlichkeit von who : wo. Die erste Antwort in idiomatischer Kurzform ermöglichte es, den Verständnisfehler zu entdecken; die zweite ausführliche Antwort führt die Substitutionskette fort und hätte den Fehler verdeckt. Andererseits weisen Substitutionsanalysen eben Textkohärenz in den Bewusstseinsvorgängen von Textproduzenten und -konsumenten nach. So fragt ein KT nach dem Lehrervortrag von 11A: I’ve a question. Warum heißt es „He’s crying, the baby“? Müsste es nicht heißen „It’s crying“? KT hat durch Sprachvergleich die Substitution gut beobachtet. Seine Frage zu Beginn eines kaum noch kommunikativen, sehr redundanten Aussprachedrills verdeutlicht, dass für Anfänger auch mehrmalige Wiederholung informativ ist und manchem KT zu besserem Textverständnis verhilft. <?page no="161"?> T EXTLINGUISTISCHE A USWERTUNG VON U NTERRICHTSVERLÄUFEN 151 Auf der Übungsebene des Sprachdrills werden vorgefertigte Texte wiederholt und in Kettenfragen sowie passende Antworten umgesetzt. Im Mitschnitt finden sich jedoch auch ständig Texte zur eigenen Situation eingelagert, auch wenn es darum geht, schnell ein Wort zu erklären, Unverständnis zu signalisieren oder über Rückfragen Verständnis festzustellen. In diesem Sinn dient selbst schematisches Frage-Antwort-Spiel nach der Vokabeleinführung nicht nur dem Einprägen, es ist auch eine der Klassensituation angepasste Form des Rückversicherns, ob der Gesprächspartner verstanden hat, worum es geht. Das kann in ein freieres Gespräch überleiten: D: All right. Now, questions about us. What are we doing here? KT: We learn English. D: Are you doing your homework? KT: Yes. D: No you aren’t. You do your homework at home, but we are not doing it here. So, are you doing your homework? KT: Yes, but not … D: No, you are not. … Die Gliederungssignale All right zum Abschluss des bisher Gesagten und Now zum Auftakt setzen die kommende Auseinandersetzung zwischen KT und D vom bisherigen Drill ab. Eigentlich geht es D um die grammatische Übung mit der Verlaufsform; der Gegensatz zum einfachen Präsens ergibt sich aus dem Disput mit KT. Vielleicht wäre here now hilfreich gewesen. Nun glaubte sich KT persönlich, nicht sprachlich, missverstanden. Dem Sprecher und den übrigen KT wurde allerdings in der Sprechsituation am erlebten Beispiel klar, auf welchen Bestandteil ihrer Situation sich die Äußerung von D bezog. Ein kontrastiv zu klärendes, sprachliches Missverständnis ergab unterschiedliche Textstrukturierungen bei KT und D. Nachdem der Unterschied zwischen den Verbformen und deren Verwendung im Englischen geklärt wurden und der Gegensatz zum Deutschen erläutert war, verarbeitete die Gruppe den Vorgang noch einmal, als die Bandaufnahme das Gespräch wiederholte. Diese Text- und Zeitschlaufe gab die ehemals neue Information zwar als vorgegebene alte Information im Unterricht wieder, aber das Hörverständnis löst eine mit- und nachvollziehende Textproduktion aus gemäß motortheoretischen Annahmen, also ein stummes Mitsprechen beim Zuhören (vgl. Gottschalk 1978). 2.2 Fragen zur didaktischen Umsetzung Auf einer Fachdidaktikertagung wurde der Autor als Referent gefragt nach der textlinguistischen Andersartigkeit eines fremdsprachendidaktischen Textes im Unterschied zu einem muttersprachlichen Text. Entgegen der Annahme, dass es eine Textsorte Fremdsprachenunterricht gebe, stellte er fest, dass er keine formalen Kriterien für eine Textsorte Unterrichtsgespräch gefunden habe. Unterrichts- und andere Gespräche unterschieden sich graduell, wobei Extreme wie Wiederholungs- und Ergänzungsdrill durch Redundanz und geringen Informationswert markiert seien; allenfalls einfacher Drill könnte bei gehäufter Wiederholung eine eigene Text(unter)sorte markieren. Deshalb teile er für den Erwachsenenunterricht nicht die Befürchtung, dass der Lehrer durch recht enge Gesprächsführung im Anfangsunterricht zwangsläufig spätere freie Äußerungen erschwere oder gar unterbinde. Da seine Seminare textlinguistisch und nicht fachdidaktisch ausgerichtet seien, gälten diese Feststellungen aber nur beschränkt. Auf die Frage, ob man das gleiche textlinguistische Beschreibungsinstrument z.B. Harweg (1968) - sowohl auf die Beschreibung eines sorgfältig strukturierten schriftlich konzipierten Textes wie auch bei der Erfassung eines freien Gesprächs oder eines Gesprächs im Unterricht zugrunde legen könne, antwortete der Referent, grundsätzlich sei es <?page no="162"?> K LAUS -D IETER G OTTSCHALK 152 möglich, Substitutionsanalysen und andere textlinguistische Verfahren ähnlich fruchtbar auf mündliche wie schriftsprachliche Texte anzuwenden. Nur bezögen sich freie und Unterrichtsgespräche deiktisch stärker auf die außersprachliche Äußerungssituation als schriftlich konzipierte Texte. Wegen der größeren Bedeutung der pragmatischen und semiotischen Dimension bei der Textanalyse von Gesprächen seien Videoaufzeichnungen ratsam. Bei Nachschriften von Bandaufnahmen seien phonetische Kennzeichnungen und Pausenangaben zumindest durch Hinweise auf die Aufnahmen zu ergänzen. 3 Semiotik Palmer (1965: 84f)) warnte vor falsch gebrauchter ing-Form im Unterricht: The simple present does … cause difficulty to the teacher of English, at least if he tries to illustrate the verb forms situationally; for in order to illustrate the use of the present progressive, he is likely to perform actions and describe them: Now I am opening the door. Now I am writing on the blackboard. The natural reaction of a native speaker in these situations would be to use the simple form, not the progressive, but teachers are warned not to use this form, as it will confuse the pupils. What is wrong here is not the form - but the situation. For the teacher is demonstrating and ought to use the simple form; but he is pretending not to be demonstrating, but acting in a ‘normal’ non-demonstrating type of situation. The classroom unfortunately creates a situation (that of demonstration) in which the progressive would not normally be used, and, therefore, cannot be taught naturally. It is obviously necessary to use artificial situations in teaching, but … [they] can only create confusion. Der Lehrtext Family Life bietet zwei sinnvolle Verwendungen für die grammatische Übung: Nachdem die grammatische Struktur eingeführt worden ist, kann der Text mündlich vorgetragen und später an Hand der Illustration geübt werden oder die Illustration (Haus, Zimmer, Bewohner, Elternpaar) lässt sich vor dem Text beschreiben. In der Mitschrift leitet D situationsgerecht über zum neuen Lehrstoff: We are doing something else now. ... Look, there is a letter for you. Can you read it? … Is she reading a letter now? KT: Yes. D: Is she reading the letter in English? KT: Yes, she is. Dann werden semiotisch skizzenhaft an der Tafel Vokabeln (neu) eingeführt. Im Verlauf des weiteren Gesprächs werden Tätigkeiten geraten: D: What’s Grandpa doing? KT: He is reading the newspaper… KT: He is drinking beer… KT: He is smoking … KT: He is writing a letter to some friend. KT: To Grandma. Danach liest D den Text bei offenen Büchern vor, es folgen Kettenfragen nach den dargestellten Personen und ihren Tätigkeiten sowie später eine Zusammenfassung bei offenem Buch. 3.1 The Proof of the Pudding Is in the Eating Für den Verlauf einer Unterrichtseinheit ist nicht das Lehrbuch verantwortlich; seine Lehrtexte strukturieren jedoch den Unterricht vor, wobei der Lehrer als Textproduzent den Lehrbuchautor wesentlich ergänzt. Die Analyse von Unterrichtsverläufen kann einiges über die Güte eines Lehrwerks aussagen, nämlich wie weit es eine zusammenhängende Textproduktion im Unterrichtsgespräch fördert. Durch Medienverbund bietet zum Beispiel Follow Me für das -ing-Präsens eine reichhaltige semiotische Textkomponente von Bildern. Die Verlaufsform wird in der Grundsituation geübt, indem ein Sprecher nach unsichtbaren Handlungen fragt What are they / is she doing? , z.B. im Geräuschquiz und am Telefon: Kassetten vermitteln Geräusche, Videos die zu benennenden Handlungen. Da die Fernsehsendung diese Lektion 10 eingeführt hat, verzeichnet unsere Mitschrift des Be- <?page no="163"?> T EXTLINGUISTISCHE A USWERTUNG VON U NTERRICHTSVERLÄUFEN 153 gleitkurses eine am Lehrbuch ausgerichtete Abfolge von Rollenspielen. D greift kaum ein für phonetische Korrekturen, solange die KT das engmaschige Netz von akustischen und visuellen Stimuli in ihren Übungen abwandeln. Erst Improvisationen zur Transferübung About you und ein neues Geräuschquiz verlangen wieder freiere Textproduktionen und bringen Unsicherheit sowie Sprünge in die Vertextungsstrategien der KT. Der Einfallsreichtum der Lehrbuchautoren hat die Umsetzung von graphischen, bildlichen und akustischen Textvorgaben in eine Abfolge von kurzen Rollenspielen und Unterrichtsgesprächen gesichert; die KT beherrschen die geeigneten Vertextungsstrategien; KT und D äußern sich zügig und ziemlich sicher. In It’s Up To You G2 bietet Lektion 9 die Übung Look and Listen in bunten Bildern und, mit getrenntem Begleittext, einen aufschlussreichen Kalauer zum Gebrauch der -ing- Form für Präsens und Futur in einem Telefongespräch: Jim: What are you doing? Tom: I’m speaking on the phone to Jim Evans. Jim: Don’t be silly! What are you going to do after that? Die pragmatisch-semiotische Textanalyse verzeichnet einen reizvollen Unterrichtsverlauf hierzu. Im Vergleich zu diesen Stundenmitschriften zeigen sich Schwächen bei dem verdienstvollen Lehrwerk Englisch für Sie 1(11A). Zwar gebraucht Mr Brown in einer natürlichen Situation die Verlaufsform. Bezieht der Lehrer die Textillustration jedoch in den Unterricht ein, deckt die semiotische Analyse eine Ungereimtheit auf: In der Dialogsituation soll der Sprecher die erfragten Tätigkeiten nicht beobachten (allenfalls im hier nicht gemeinten interrogativen Protest: What’s he DOing? ); im Bild wendet jedoch seine Frau der Fensterfront den Rücken zu und nicht der Sprecher. Schon seine Frage Where are the children? erübrigt sich in Sichtweite, denn Mrs Browns Ellbogen überbrückt scheinbar die Trennung von Tür- und Fensterfront. Sobald die Illustration in die Redewelt des Unterrichts einbezogen wird, beziehen sich die Lernenden auf Informationen, die das Bild vorgibt: sprachliche Formen substituieren dann außersprachliche Substituenda. Den Lernenden prägt sich die verfälschte Situation als Redeanlass ein; die beabsichtigte Redesituation stimmt nicht mit der abgebildeten Situation überein. Im Stundenmitschnitt trugen vermutlich diese Unsicherheit und gedankenloser Drill zur Verwirrung der Substitutionsketten in der mündlichen Textproduktion bei, bis hin zur Vertauschung von where und who. Das Lehrerhandbuch empfiehlt geradezu die Textwiederholung im Rollenspiel, so dass dieselben Textbestandteile in derselben Situation wiederholt werden sollen. Das führt zu hoher Redundanz in einer Pseudokommunikation, bei der es auf die grammatische Form der vorgegebenen Antworten ankommt und nicht mehr auf pragmatische und semiotische Angemessenheit der Äußerungen. Kommunikativ wurde eine Neudurchnahme von 11A, als noch bei geschlossenem Buch und nach der Vokabel- und Strukturvorstellung die KT selber vorschlugen, was die einzelnen Familienmitglieder wohl gerade taten (s.o. 3). 4 Wege zum freien Unterrichtsgespräch Gottschalk (demn.) stellt zwei Wege vom wiederholenden zum freien Unterrichtsgespräch vor. Erörtert werden fachsprachliche englische und spanische Textgestaltungen: Das spanische Patientengespräch ergab sich aus der Engführung eines Übungsdialogs von Anfängern; sie durften den Dialog so frei gestalten wie möglich. Allerdings gab das Übungsbuch ihnen die Einzelsätze als mögliche Versatzstücke vor; die angehenden Mediziner durften sich vorher die Äußerungen passend für ihre Spezialgebiete aussuchen und auswendig aneignen. <?page no="164"?> K LAUS -D IETER G OTTSCHALK 154 Das englische Patientengespräch ergab sich jeweils aus den geübten fachsprachlichen Kenntnissen, die in die allgemeinsprachliche Sprachbeherrschung eingebettet wurden. Der Weg zum freien Unterrichtsgespräch zwischen den Kursteilnehmern im Rollenspiel von Patienten und Arzt stand auf Grund der sprachlichen Vorkenntnisse offen. Idealerweise verzichtet der Kursleiter darauf, das Gespräch zu unterbrechen für Berichtigungen: Bei Wiederholungsgefahr reicht oft ein kurzer Tafelanschrieb; ansonsten empfehlen sich Anmerkungen zur Aussprache, Wortwahl und Grammatik in einer Gesprächspause. Fachsprachliche Hilfestellungen kann der Kursleiter als dritter, zuhörender Gesprächspartner bei Bedarf unaufdringlich einflechten. Literatur Gee, James Paul (1999): An Introduction To Discourse Analysis. London: Routledge. Gottschalk, Klaus-Dieter (o.J.): G.B. Shaws HEILIGE JOHANNA. Interpretationsunterlagen für Hochschule und Schule. Tübingen: Englisches Seminar. ders. (1978): Zum Hörverstehen im Spanischunterricht für Erwachsene. In: Zielsprache Spanisch, 13-28. ders. (1980): Ein Unterrichtsvorschlag zu „Follow Me“. In: Zielsprache Englisch 1, 38-42. ders. (1982): FOLLOW ME! - Und was dann? In: Zielsprache Englisch 2, 44-46. ders. (2006): Ein Brückenschlag zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft in der Lehre: Ein Erfahrungsbericht. In: Kürschner, Wilfried und Rapp, Reinhard (Hrsg.): Linguistik International. Festschrift für Heinrich Weber, Lengerich: Pabst, 595-612. ders. (2010): Suggestive Textgestaltung: To Catch a Terrorist. In: Souleimanova, Olga (Hrsg.): Sprache und Kognition. Frankfurt / Main: Lang, 243-254. ders. (demn.): Complementary Teaching Strategies for Languages for Specific Purposes - Medical English and Español Médico. In: Skourtou, Eleni (Hrsg.): Neue Wege zur Literalität. Frankfurt / Main: Lang. Harweg, Roland (1968): Pronomina und Textkonstitution. München: Fink. Hoffmann, Hans G. / Hoffmann, Brigitte / Mepham, Roy (1980): Englisch für Sie 1. München: Hueber. Palmer, Frank R. (1965): A Linguistic Study of the English Verb. London: Longmans. Sadock, Jerrold M. (1974): Toward a Linguistic Theory of Speech Acts. New York: Academic Press. Sinclair, John McH. / Coulthard, R. Malcolm (1975): Towards an Analysis of Discourse. The English Used by Teachers and Pupils. London: Oxford University Press. <?page no="165"?> Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und Benveniste Hans Lösener Karl Bühlers Konzepte gelten bis heute als bewährte Grundlage für die Beschreibung sprachlicher Subjektivität. Wenn es darum geht, Phänomene der Subjektivierung der Sprache zu analysieren, findet seine Begrifflichkeit deshalb nach wie vor in linguistischen und psychologischen Modellierungen Verwendung. Dabei werden häufig die Probleme übersehen, die Bühlers Sprachtheorie aufwirft und die eine Analyse der vielfältigen und komplexen Beziehungen zwischen Sprache und Subjektivität eher verhindern als befördern. Ich möchte im Folgenden einige Probleme des Bühler’schen Origo-Modells analysieren und mich dabei vor allem auf die Erklärungen der Funktionsweise der Wörter ich und jetzt konzentrieren. Wie die bei Bühler auftretenden Aporien gelöst werden können und welche sprachtheoretischen Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen, wird im zweiten Teil des Beitrags anhand der Untersuchungen von Emile Benveniste diskutiert. Man begegnet jener Wortklasse, zu der auch die drei Wörter ich, jetzt, hier gehören, unter verschiedenen Bezeichnungen. Charles Peirce (1940) nennt sie „Indexicals“, bei Charles W. Morris (1946) heißen sie „Identifiers“, und Otto Jespersen (1933) und Roman Jakobson (1957) bezeichnen sie als „shifters“. In der deutschsprachigen Literatur wird in ihrem Zusammenhang meist von deiktischen Ausdrücken gesprochen. Diese letzte Bezeichnung legt nahe, dass es sich hierbei um ein Phänomen der Deixis, also des sprachlichen Zeigens, handelt (vgl. Lyons 1983, 249). Aber worauf zeigen diese Wörter und inwiefern kann man hier überhaupt von einem sprachlichen Zeigen sprechen? Um nicht vorauszusetzen, was erst untersucht werden soll, wird hier auf die Bezeichnung deiktische Ausdrücke weitgehend verzichtet und dafür der allgemeinere Begriff Indikatoren bzw. Subjektindikatoren verwendet werden. 1 Bühlers objektive Sprachbetrachtung Es geht bei der Frage nach der Funktionsweise der drei Indikatoren ich, jetzt, hier auch um ein allgemeines sprachtheoretisches Problem, nämlich um das Verhältnis von Sprache und Subjektivität und um die Möglichkeit einer Theorie der sprachlichen Subjektivität. Am Anfang von Bühlers 1934 erschienener Sprachtheorie steht denn auch die Frage, wie die subjektiven Vorstellungen und Intentionen der einzelnen Individuen mit der Möglichkeit einer allgemeinen sprachlichen Verständigung vereinbart werden kann. Um dieses Problem zu lösen, geht Bühler über die klassische Erklärung der Sprache als reines Zeichensystem hinaus und begreift sie zugleich als Signalsystem. Zeichen und Signal bilden bei Bühler die beiden großen Felder der Sprache: das Symbolfeld und das Zeigfeld, in denen sich die subjektentbundene und die subjektbezogene Seite der Sprache verwirklichen. Subjektentbunden ist die Sprache in ihrer Symbolfunktion, subjektbezogen dagegen in ihrer Signalfunktion. Vereinfacht könnte man diese Dichotomie etwa folgendermaßen wiedergeben: <?page no="166"?> H ANS L ÖSENER 156 Zeigfeld Symbolfeld (subjekt- und situationsbezogen) (subjektentbunden und begriffsbezogen) Zeigwörter (z.B. da, dort, unten, oben, links, rechts etc.) Nennwörter (z.B. Baum, Hoffnung, trinken, sehen, grün etc.) Signal Symbol Es fragt sich allerdings, ob in Bühlers Zweifelderlehre nicht gerade das subjektbezogene Zeigfeld zu einer Ausklammerung der sprachlichen Subjektivität führt. Denn das Signal, auf dem das Zeigfeld beruht, reduziert die Möglichkeit der Subjektivität auf bloße Signalhandlungen, in denen das Subjekt nur noch die Rolle eines ausführenden Organs spielt. Tatsächlich trägt das Signal bei Bühler zu einer Annäherung zwischen menschlicher Sprache und tierischem Verhalten. 1 So etwa, wenn er an die „neue Erkenntnis der vergleichenden Psychologie“ anknüpfend feststellt, daß schlechthin jede tierische und menschliche Handlung, die diesen Namen verdient, von Signalen gesteuert wird. (a.a.O., XXV) Da das Signal eher zur tierischen („Ich spreche von Signalen als Tierpsychologe“, a.a.O., 31) denn zur subjektiven Seite der Kommunikation führt, stellt sich die Frage, ob eine Theorie der sprachlichen Subjektivität auf der Funktionsweise des Signals begründet werden kann. Die Untersuchung der Leistungsfähigkeit der Zeigfeldkonzeption bei der Erklärung der Funktionsweise der Indikatoren ich, jetzt, hier kann einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten. 2 Ich, jetzt, hier im Zeigfeld Während das Symbolfeld also aus „Nennwörtern“ und „Begriffszeichen“ gebildet wird (a.a.O., 149 ff.), gehören zum Zeigfeld diejenigen Wörter, die Bühler aus der Zeigegestik ableitet, wie etwa das, da, dort, rechts, links, oben, unten (a.a.O., 79). Auch die drei Indikatoren ich, jetzt, hier rechnet Bühler dem Zeigfeld zu, wo ihnen eine einzigartige Funktion zukommt. Sie bilden zusammen den Ursprung, die Origo der „subjektiven Orientierung“ (a.a.O., 102). Jedes Verweisen auf ein Da, auf ein Dort, auf ein Morgen und auf ein Gestern setzt das von den drei Indikatoren gebildete Koordinatensystem voraus: Von der Origo des anschaulichen Hier aus werden sprachlich alle anderen Positionen gezeigt, von der Origo Jetzt aus alle anderen Zeitpunkte. (a.a.O., 107) Wenn die drei Indikatoren ich, jetzt, hier den Ursprung des sprachlichen Zeigens darstellen, inwiefern lassen sie sich dann aber selbst als „Zeigworte“ im Sinne Bühlers verstehen, oder anders gefragt: Auf was wird mit diesen Wörtern gezeigt? 1 Von daher erklärt sich auch Bühlers partielle Nähe zum Behaviorismus. So schreibt er in seiner Ausdruckstheorie (1933): „Wo immer z. B. die Frage auftaucht und durch exakte Beobachtungen beantwortet werden soll, ob ein gegebenes (wahrnehmbares) Phänomen faktisch als Kommunikationsmittel fungiert im sozialen Kontakte, da sind Beobachtungen im Stile der Behavioristen am Platze und das einzige, was zu Entscheidungen führt.“ (a.a.O., 198). Auf Bühlers Nähe zum Behaviorismus geht Helmut Schnelle (1988, 232 f.) ein. <?page no="167"?> D IE O RIGO DER S UBJEKTIVITÄT : ICH , JETZT , HIER BEI B ÜHLER UND B ENVENISTE 157 2.1 hier als Zeigwort Da Zeigen eine Tätigkeit im Raum darstellt, müsste der Zeigwortcharakter des räumlichen Indikators hier am einfachsten zu belegen sein. Bühler knüpft in seinen Ausführungen dazu an Karl Brugmann an, der die „»Herlenkung [...] des Blickes auf den Standort des Redenden« als die Kernfunktion des Hier-Wortes“ bezeichnet (a.a.O., 95). Entsprechend formuliert Bühler: „Das reine «hier» fungiert als Positionssignal [...].“ (a.a.O.). Eine solche Signalfunktion liegt tatsächlich dann vor, wenn dem Hörer die räumliche Position des Sprechers nicht bekannt ist, was etwa beim Verlesen einer Anwesenheitsliste der Fall ist, wo der Angesprochene auf das Aufrufen seines Namens mit Hier! antwortet. Diese Verwendung stellt aber eher die Ausnahme dar. Zum einen weiß der Hörer im allgemeinen, wo sich der Sprecher befindet, und zum anderen muss man in den allermeisten Fällen den Äußerungskontext heranziehen, um zu entscheiden, worauf sich hier jeweils bezieht. Denn hier kann nicht nur auf den Ort des Sprechers verweisen (Hier bin ich! ), sondern auch auf einen Gegenstand (Hier hast du deinen Schlüssel wieder), eine Richtung bezeichnen (Hier lang müssen sie gehen) oder ein räumliches Areal (Hier im Oldenburger Münsterland) oder auch einen Zeitraum (Hier in dieser Veranstaltung). Der Indikator hier lässt sich also nicht als bloßes Positionssignal verstehen; Bühlers Definition der Kernfunktion wird der Verwendungsweise des Wortes hier nicht ansatzweise gerecht. 2.2 jetzt als Zeigwort Ähnlich verhält es sich mit dem temporalen Indikator jetzt. Bühler führt einen Fall an, in dem das Aussprechen des Wortes jetzt zweifellos Signalcharakter aufweist: Wenn ich als Spielleiter eines Wettlaufs das Startsignal zu geben habe, bereite ich die Beteiligten vor: Achtung! und kurz darauf sage ich los! oder jetzt! (a.a.O., 102) In diesem Kontext entspricht der Ausruf jetzt! tatsächlich genau einer gestischen Signalhandlung (etwa dem schnellen Senken des Armes), wobei gestisches und sprachliches Kommando von ihrer Funktion her austauschbar sind. Aber ist diese Verwendung des Wortes jetzt repräsentativ? Im Allgemeinen, etwa in Sätzen wie: (1) Jetzt haben wir die Bescherung! (2) Ich habe jetzt keine Zeit. (3) Was sollen wir jetzt tun? besitzt jetzt keinen Signalcharakter. Das Äußern des Wortes löst keine eindeutige Reaktion aus. Es ist nicht Teil eines festen Handlungsschemas. Ebensowenig lässt sich das Äußern des Indikators jetzt auf eine gestische Handlung zurückführen. Denn auch wenn wir uns passende Gesten vorstellen können, die das Äußern dieser Sätze begleiten könnten, so würden diese Gesten nicht auf etwas zeigen, das mit diesem Jetzt identisch wäre. Das gilt auch für einen Satz, wie: (4) Jetzt ist es drei Uhr. denn die Position der Zeiger auf dem Ziffernblatt konstituiert dieses Jetzt ja noch nicht, sowenig wie ein Kalenderblatt oder der Stand der Sonne. Auf die Gegenwart kann man nicht zeigen. Deswegen gibt es auch, außer in dem von Bühler angeführten Fall des Startsignals, keine Zeigegeste, die das Aussprechen des Wortes jetzt ersetzen könnte. 2 Auch beim Indikator jetzt stellt der eigentliche Zeigwortgebrauch also die Ausnahme dar. 2 Auf dieses Problem hat schon Käte Hamburger aufmerksam gemacht: „Wir können in der Zeit nicht «zeigen», wie wir es im Raume können, und als Bühler die veranschaulichende Kraft der Zeigwörter <?page no="168"?> H ANS L ÖSENER 158 2.3 ich als Zeigwort Dies gilt auch für den letzten der drei Indikatoren, für das Personalpronomen der ersten Person Singular ich, dessen Zeigwortfunktion Bühler mit folgenden Worten erläutert: Wenn ein Sprecher auf den Sender des aktuellen Wortes »verweisen« will, dann sagt er ich [...]. (a.a.O., 79) und er präzisiert: [...] es ist primär nichts anderes als die Rolle des Senders im aktuellen Signalverkehr, was den jeweils mit ich getroffenen Menschen charakterisiert [...]. (a.a.O., 79f.) Leider verzichtet Bühler darauf, diese Funktionsweise des Wortes ich durch ein Beispiel zu illustrieren, obwohl sich leicht Beispiele finden lassen, in denen der Verweis auf die Senderbzw. Empfängerrolle den von Bühler postulierten deiktischen Charakter besitzt. Etwa, wenn ein Gesprächsteilnehmer in einem Streitgespräch, eventuell mit gestischer Verstärkung, „Jetzt rede ich! “ sagt, um die Senderrolle zu übernehmen oder zu behalten. Diese und ähnliche Fälle sind aber nicht die Regel. In den allermeisten Äußerungen ist der Verweis auf die eigene Senderrolle und damit auch ein gleichzeitiges gestisches Auf-sichselbst-Weisen überflüssig, wenn nicht sogar befremdlich. Aber auch ohne begleitende Zeigegestik bietet der Verweis auf die Senderrolle keine befriedigende Erklärung für die Funktion des Indikators ich (vgl. Lyons 1983, 256). Würde nämlich das Äußern des Indikators ich dazu dienen, meine Rolle als Sender zu signalisieren, so hätte das Wort ich eine tautologische Funktion: es würde signalisieren, dass derjenige Sprecher, der ich sagt, gerade spricht. Bühler mag seine Erklärung der Funktion des Pronomens ich selbst als ungenügend empfunden haben, denn nachdem er festgestellt hat, dass ich und du den Sender und Empfänger der Botschaft nicht in der Art von Namen bezeichnen, sondern bloß auf die jeweiligen Rollenträger hinweisen (a.a.O., 113), geht seine Argumentation in ganz andere Richtung: Gewiß, wenn ein Bekannter ich zu mir sagt, klingt mehr an, und wenn einer vor der Türe draußen auf meine Frage ‘wer da’ mit ich antwortet, so verläßt er sich darauf, daß ich ihn am Klange seiner Stimme aus der Schar meiner näheren Bekannten heraus in d ivid u e ll erkenne. Das phonologisch geprägte und von allen anderen Wörtern der deutschen Sprache genügend scharf abgehobene Formgebilde ich erklingt phonologisch gleichförmig aus Millionen von Mündern. Nur die Stimmaterie, das Klanggesicht, individualisiert es und das ist der Sinn der Antwort ich meines Besuches vor der Türe, daß das phonematische Gepräge, das sprachliche Formmoment an seinem ich mich, den Fragenden, auf den Stimmcharakter hinweist. (a.a.O.) Über dieses Beispiel findet Bühler zu einer neuen Funktionsbestimmung des Indikators ich. Durch die Einbeziehung der individuellen Intonation wird aus dem Rollensignal ein „Individualzeichen“, das Bühler in die Nähe der Eigennamen rückt (a.a.O., 114f.). Auch dieses Erklärungsmodell wirft aber eine Reihe von Problemen auf: 1. In der von Bühler angedeuteten Szene hat der Stimmcharakter tatsächlich eine deiktische Funktion, aber diese ist keineswegs an das Pronomen ich gebunden. Der Bekannte hätte ebensogut Rate mal! oder Na, wer wohl! rufen können, um sich über den individuellen Stimmcharakter zu erkennen zu geben. Es ist also durchaus fraglich, ob wir es, wie Bühler meint, in diesem Beispiel mit der primären Bedeutungserfüllung des Wortes ich zu tun haben (a.a.O., 115). aufzeigen wollte, beschränkte er sich wohlweislich auf die räumlichen.“ (Hamburger 1968, 107). Siehe dazu auch Roland Harweg (1976, 329f.). <?page no="169"?> D IE O RIGO DER S UBJEKTIVITÄT : ICH , JETZT , HIER BEI B ÜHLER UND B ENVENISTE 159 2. Der ich rufende Bekannte vor der Tür stellt wiederum einen Sonderfall dar. Im Allgemeinen, jedenfalls in der face-to-face-Kommunikation, weiß der Hörer, wer da ich zu ihm sagt, so dass es überflüssig ist, gerade bei diesem Wort besonders auf die Intonation zu achten. 3. Auf den Fall der schriftlichen Kommunikation kann Bühlers Erklärung nicht angewandt werden, da dort der individuelle Stimmcharakter nicht zum Tragen kommt. 4. Problematisch ist Bühlers Modell auch insofern, als er das Personalpronomen ich in seiner Funktion als Individualzeichen zu einem Eigennamen und somit zu einem Begriffszeichen oder Nennwort, um in Bühlers Terminologie zu bleiben, werden lässt. Die Grenzen von Zeigfeld und Symbolfeld, die Bühler so strikt trennen will, drohen zu verschwimmen. 3 2.4. Ich, jetzt, hier in der Deixis am Phantasma Das Hinübergleiten des Zeigwortes zum Nennwort lässt sich auch in den anderen beiden Arten des Zeigens beobachten, die Bühler behandelt, der Deixis am Phantasma und der Anaphora. Bei der Deixis am Phantasma geht es um das Zeigen von Richtungen und Orten in einem gedachten Raum. Der zentrale Begriff ist hier derjenige der Versetzung, das gedankliche Sich-Versetzen in ein abwesendes Raum-Zeit-Gefüge, wie es etwa im Roman geschieht. Bei der Anaphora geht es um deiktische Verweise innerhalb eines Textes (z.B. Dies soll nun erläutert werden; wie oben bereits gesagt etc.). Entscheidend ist, dass Bühler auch dort, wo er im Zusammenhang mit diesen Arten des Zeigens von den Indikatoren ich, jetzt, hier spricht, diese als Pronomen, also als Stellvertreter von Nennwörtern auffasst: Der Held in Autobiographien und in Ich-Romanen sagt Bände lang ich, und wir verstehen ihn genau so gut, wie wenn er jedesmal statt ich einen Personennamen gesetzt und die ganze Erzählung in der dritten Person Singularis geschrieben hätte [...]. Dasselbe gilt für den erweiterten Bereich des Hier und Jetzt, die ebensogut durch Eigennamen wie „Wien“ und „Nachkriegszeit“ ersetzt werden können. (a.a.O., 373f.) Es geschieht hier das, was Bühler die „Befreiung des Satzsinnes aus der strengsten Gebundenheit an das Zeigfeld“ nennt (a.a.O., 374). Die Zeigwörter werden aus ihrer Verwurzelung im Zeigfeld gelöst und im Symbolfeld verankert (Bühler 1934, 367). Und damit wird aus dem Zeigwort ein Begriffszeichen, oder genauer ein Stellvertreter für ein Begriffszeichen. Das Zeigwort löst sich also im Symbolfeld auf. Und mit ihm das Subjekt, denn die Befreiung des Satzes aus den Umständen der Sprechsituation stellt bei Bühler einen „Entsubjektivierungsschritt“ dar (a.a.O., 375), der zum objektiven Sprechen führt (a.a.O., 382). Die Auflösung des Zeigwortes im Symbolfeld korreliert mit einer Auflösung der Subjektivität in der Objektivität. Anders als es zunächst den Anschein hat, gelingt es Bühler folglich nicht, eine plausible Erklärung für die Funktionsweise der Subjektindikatoren ich, jetzt und hier zu finden. Diese Tatsache ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam, zum einen, weil sie den Schluss nahelegt, dass es sich bei den genannten Wörtern gerade nicht um Signalwörter handelt, wie Bühler behauptet, und zum anderen, weil die aufgeworfenen Probleme darauf hinweisen, dass eine rein semiotische Betrachtungsweise hier an ihre Grenzen stößt. Anders ge- 3 Er spricht von der „phänomenologischen Scheidung von Zeigwörtern und Nennwörtern“, die „grundständig ist und sachgemäß unterstrichen werden muß.“ (a.a.O., 81, ähnlich S. 86 und 88). Zu den Schwierigkeiten einer strikten Trennung von Symbol- und Zeigfeld siehe Klaus Heger (1988) und Jürgen Ziegler (1989). <?page no="170"?> H ANS L ÖSENER 160 sagt: Die Funktionsweise der Subjektindikatoren lässt sich auf der Ebene des Zeichens (oder des Signals) nicht adäquat beschreiben. Sie verlangt eine Ebene der Beschreibung, die Bühler nicht berücksichtigt, die aber, wie Emile Benveniste gezeigt hat, die Origo der sprachlichen Subjektivität darstellt: die Ebene der Rede. 3 Ich, jetzt, hier bei Emile Benveniste Anders als Bühler nähert sich Benveniste den Indikatoren nicht von der Zeigegestik her, sondern von einer Eigentümlichkeit innerhalb der Klasse der Personalpronomen. Benveniste stellt fest, dass die übliche Auffassung, nach der die Personalpronomen eine einheitliche Klasse bilden, den fundamentalen Unterschied verschleiert, der zwischen den ersten beiden Vertretern der Wortklasse, ich und du einerseits und den folgenden er, sie, es andrerseits besteht. 4 Als Pronomen im eigentlichen Sinne kann allein die 3. Pers. betrachtet werden. Denn einerseits gibt es, je nach Einzelsprache sehr variable, morphologische Gründe, die verhindern, dass ein Nomen an die Stelle von ich oder du treten kann. Und andererseits besitzen sie keine konstante Referenz: Der jeweilige Gebrauch eines Nomens bezieht sich auf einen konstanten und »objektiven« Begriff, der virtuell bleiben oder in einem konkreten Gegenstand aktualisiert sein kann, und der in der Vorstellung, die er hervorruft, immer identisch bleibt. 5 Dagegen bildet etwa das Personalpronomen ich keine Referenzklasse: Jedes ich besitzt seine eigene Referenz und entspricht jedesmal einem unverwechselbaren Wesen, das sich als solches artikuliert. 6 Die jeweilige Bedeutung des Wortes ich lässt sich nicht über ein Nomen ermitteln, auf das es verweist. Es lässt sich nicht einmal immer über den Sprecher ermitteln, der gerade ich sagt. 7 Denn sonst könnte man niemandem den Brief eines Dritten vorlesen, kein Zitat und keine wörtliche Rede verwenden, ohne beim Hörer auf gänzliches Unverständnis zu stoßen, da er das Gesagte als direkte Äußerung des Sprechers auffassen müsste. Auf was bezieht sich also das Wort ich? Es bezieht sich, wie Benveniste feststellt, ausschließlich auf die jeweilige Rede („discours“), in der es steht, und verweist auf das Subjekt der Rede: Man muss diesen Punkt unterstreichen: ich kann nur durch die Rede identifiziert werden, die es enthält, und nur durch sie. Es gilt nur für die Rede, in der es steht. 8 Ich bezeichnet also nicht einfach den Sprecher, sondern das Subjekt der jeweiligen Rede und ist mit dieser untrennbar verbunden. Sichtbar wird dieser fundamentale Zusammen- 4 Siehe auch Lyons (1983, 250ff.). 5 „Chaque instance d’emploi d’un nom se réfère à une notion constante et «objective», apte à rester virtuelle ou à s’actualiser dans un objet singulier, et qui demeure toujours identique dans la représentation qu’elle éveille.“ (Benveniste 1956, 252). 6 „Chaque je a sa référence propre, et correspond chaque fois à [un] être unique, posé comme tel.“ (a.a.O., 252). 7 Dieser Umstand wird häufig nicht beachtet. Z.B. bei Richard Larson und Gabriel Segal, wenn sie schreiben: „In any utterance containing I, the pronoun refers to the person who makes that utterance, and in any utterance containing here, the proadverb refers to the site where the speech event occurs.“ (Larson/ Segal 1995, 215). 8 „Il faut donc souligner ce point. je ne peut être identifié que par l’instance de discours qui le contient et par là seulement. Il ne vaut que dans l’instance où il est produit.“ (a.a.O.). Anknüpfend an Benveniste schreibt Roland Harweg: „Die Instanz, die an die Stelle des Äußerungsträgers zu treten hat, ist die Instanz der Äußerung selber.“ (1990, 225). <?page no="171"?> D IE O RIGO DER S UBJEKTIVITÄT : ICH , JETZT , HIER BEI B ÜHLER UND B ENVENISTE 161 hang zwischen dem Indikator ich und der jeweiligen Rede etwa bei der Umformung der direkten in die indirekte Rede. Wenn eine Äußerung eine direkte Rede enthält, in der der Indikator ich steht, wie etwa der Satz: (6) Klaus: „Stefan hat nur gesagt: »Davon habe ich nichts gewusst.«“ so bezieht sich ich nicht auf den Sprecher der Äußerung, der hier nur wiedergibt, was Stefan sagt. Trotzdem wird das Wort ich hier semantisch korrekt verwendet. Dass dies möglich ist, ist nicht auf den einleitenden Hauptsatz (Stefan hat nur gesagt) zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass die direkte Rede (Davon habe ich nichts gewusst) unverändert, eben wörtlich, wiedergegeben wird. Dies bestätigt die Umformung in die indirekte Rede: (7) Klaus: „Stefan hat nur gesagt, dass er davon nichts gewusst habe.“ Obwohl der einleitende Hauptsatz (Stefan hat nur gesagt) erhalten geblieben ist, kann ich in der wiedergegebenen Rede nicht mehr verwendet werden, ohne die Bedeutung des Satzes vollständig zu verändern. Denn in dem Augenblick, wo die direkte Rede ihren Äußerungsstatus einbüßt (d.h. keine wörtliche Wiedergabe mehr vorliegt) und zu einem abhängigen Nebensatz wird, entfällt auch die Möglichkeit, mit dem Indikator ich auf das Äußerungssubjekt zu verweisen, eben weil ich nur über die Ganzheit der Rede, in der es steht, identifiziert werden kann. 4 Die Origofunktion der Rede bei Benveniste Diese Eigenschaft, nämlich die Anbindung an die jeweilige Rede, außerhalb derer er semantisch leer bleibt, teilt der Indikator ich, wie Benveniste feststellt, mit den beiden anderen Indikatoren jetzt und hier und mit den sogenannten deiktischen Ausdrücken (da, dort, oben, unten, rechts, links etc.). Und er betont: Es führt zu nichts, diese Wörter und die Demonstrativpronomen im allgemeinen, wie dies getan wird, über die Deixis zu definieren, wenn man nicht hinzufügt, dass die Deixis zeitgleich mit der jeweiligen Rede ist, die den Indikator der Person enthält; aus diesem Verweis auf die jeweilige konkrete Rede, in der sie steht, bezieht das Demonstrativpronomen seinen jedesmal einzigartigen und besonderen Charakter. 9 An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Bühlers und Benvenistes Ansatz deutlich: Sowohl für Bühler wie für Benveniste benötigt die Deixis eine Origo, aber Benveniste findet diese Origo in der Rede selbst, während Bühler sie außerhalb des Äußerungsaktes und unabhängig von ihm, als psychologisch-situative Disposition (als Ich-Jetzt-Hier-System) voraussetzt, auf das die Indikatoren lediglich verweisen. 10 Als Signal ist das Zeigwort zwar auf die Situation, nicht aber auf die Rede bezogen, in der es steht. Die Ebene der Rede stellt bei Bühler keine eigene semantische Dimension dar, die sich weder auf die Si- 9 „Il ne sert de rien de définir ces termes et les démonstratifs en général par la deixis, comme on le fait, si l’on n’ajoute pas que la deixis est contemporaine de l’instance de discours qui porte l’indicateur de personne; de cette référence le démonstratif tire son caractère chaque fois unique et particulier, qui est l’unité de l’instance de discours à laquelle il se réfère.“ (Benveniste 1956, 253). 10 Diese Position vertritt auch John Lyons (1972, 279). Dagegen stellt Jürgen Ziegler fest: „[...] für das sprechende Subjekt bleibt die Anwendung dieses Worts durch alle Situationen hindurch dieselbe; mit ich meint es stets sich selbst [...]. Durch diese Konstanz für den Sprecher ist ich ganz unabhängig von der jeweiligen Situation.“ (Ziegler 1989, 202). <?page no="172"?> H ANS L ÖSENER 162 tuation noch auf das einzelne Zeichen zurückführen lässt. 11 Sie spielt in Bühlers Erklärung der Indikatoren keine Rolle, während die Einbeziehung der Rede, als eigene aus dem Zeichenrepertoire ableitbare Realität, bei Benveniste erst den Schlüssel zum Verständnis der Indikatoren liefert. Inwiefern die Rede die Origo der Deixis bildet, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, in welche Art von gegenseitiger Beziehung Sprache und Gestik in Äußerungsakten treten, die eine gestische Ergänzung erfordern. Von den hier untersuchten drei Indikatoren tritt vor allem einer relativ häufig in solchen Äußerungsakten auf, nämlich der räumliche Indikator hier. 12 Solche gestisch-sprachlichen Äußerungsakte liegen in den bereits am Anfang angeführten Beispielen vor: (8) Hier geht es lang. (9) Hier ist das Buch. (10) Hier hast du deinen Schlüssel wieder. Abgesehen davon, dass alle drei Äußerungen das Wort hier enthalten, ist ihnen gemeinsam, dass sie einer gestischen Ergänzung bedürfen, um zu semantisch vollwertigen Äußerungen zu werden. Ein Sprecher, der einen dieser Sätze ohne die geringste gestische oder mimische Ergänzung äußern würde, müsste uns vorkommen wie eine Figur aus einem absurden Theaterstück, wie jemand, der spricht, ohne tatsächlich zu kommunizieren. Entscheidend ist aber, dass nicht nur die Äußerung der Geste bedarf, sondern auch die Geste der Äußerung. Denn was eine äußerungsbezogene Geste ist, wird erst durch den Äußerungsakt selbst determiniert. In dem Satz (9) Hier ist das Buch. sind ja eine Vielzahl äußerungsbezogener Gesten denkbar (z.B. Weisen auf den Gegenstand mit der Hand, Kopfbewegung oder Blicken in Richtung des Gegenstandes, Reichen des Gegenstandes etc.). Jede dieser Körperbewegungen wird erst durch den gleichzeitig stattfindenden Äußerungsakt zu einer auf den Gegenstand hinweisenden Geste. Auch das wortlose Zeigen setzt die Verbindung von Äußerung und Geste voraus, denn es können nur solche Gesten als Zeigegesten verwendet werden, die konventionell mit deiktischen Äußerungsakten verknüpft werden. Jemand, der plötzlich damit begänne, wortlos mit dem rechten Fuß statt mit dem Zeigefinger auf die Gegenstände zu weisen, was mit einiger Übung durchaus machbar ist, würde nicht nur auf Befremden stoßen, sondern überhaupt nicht verstanden werden. So ist auch zu erklären, dass Kleinkinder das Aussprechen von da und das Zeigen eines Gegenstandes gleichzeitig lernen. Vor dieser Verbindung von Gestik und Äußerungsakt sind sie nicht in der Lage, eine Zeigegeste als solche zu verstehen oder auszuführen. 13 11 Aus diesem Grund dominiert in Bühlers Beispielen auch der isolierte Gebrauch des Wortes (z.B. Jetzt! als Startsignal (Bühler 1934, 102) oder Ich! als Antwort auf die Frage Wer da? (a.a.O., 113)). Auch Formulierungen wie „das reine »hier«“, „das reine »ich«“ etc. (a.a.O., 95) zeigen, dass für Bühler die Natur eines Wortes am deutlichsten in der isolierten Betrachtung hervortritt. 12 Roland Harweg unterscheidet zwischen starken Deiktika (da, dort), die obligatorisch zeigegestenhaltig sind und schwachen Deiktika, die zeigegestenlos sind und nur gelegentlich wie starke Deiktika verwendet werden (Harweg 1990, 239 ff.). 13 Wobei dieser Äußerungsakt nicht unbedingt lautsprachlich realisiert werden muss (etwa bei taubstummen Kindern). Entscheidend ist allein, dass es kein „natürliches“ Gestenverständnis gibt, sondern nur ein sprachlich motiviertes. <?page no="173"?> D IE O RIGO DER S UBJEKTIVITÄT : ICH , JETZT , HIER BEI B ÜHLER UND B ENVENISTE 163 Gestisch-sprachliche Äußerungsakte sind also durch zwei Eigenschaften definiert: Erstens durch ihr Angewiesensein auf eine gestische Ergänzung und zweitens durch ihre Fähigkeit, verschiedensten Körperbewegungen den Status einer Zeigegeste zu verleihen. Das Verhältnis zwischen der Äußerung, die den Indikator hier enthält, und der begleitenden Geste ist also komplementär und nicht äquivalent, wie Bühler annimmt. Die Äußerung braucht mitunter die Geste, um der semantischen Eindeutigkeit willen, aber die Geste beruht auf der Möglichkeit der Äußerung, um überhaupt erst den Status z.B. einer Zeigegeste zu erhalten. Es trifft also tatsächlich zu, dass die Rede die Origo der Deixis bildet. Erst die Rede ermöglicht, dass es so etwas wie gestisches Zeigen überhaupt gibt. Auch bei dem temporalen Indikator jetzt ist der Bezug zur Rede konstitutiv. Denn die Rede ist nicht nur die Origo der Deixis, sie stellt auch, wie Benveniste in Le langage et l’expérience humaine (1965) zeigt, die Origo der menschlichen Zeiterfahrung dar. Benveniste weist zunächst darauf hin, dass es ein Missverständnis sei, anzunehmen, dass das Temporalsystem einer Sprache dazu diene, die „objektive“ Zeit widerzuspiegeln (a. a. O., 69). Unter der „objektiven“ Zeit versteht Benveniste die chronologische Zeit, wie sie sich etwa in der in allen Kulturen anzutreffenden Institution des Kalenders manifestiert, durch die die Zeit in eine soziale Ordnung eingebunden werden kann. Jeder Kalender geht von einem besonders bedeutsamen Ereignis aus (z.B. Christi Geburt oder dem Beginn einer Dynastie), das jeweils den Nullpunkt der Zeitachse bildet. Unter Bezug auf die regelmäßige Wiederkehr bestimmter natürlicher Phänomene (Wechsel von Tag und Nacht, Stand der Gestirne, Mondphasen, Abfolge der Jahreszeiten etc.) wird diese Zeitachse in gleich große Maßeinheiten eingeteilt. Die verbindliche Festlegung des Nullpunkts und der Maßeinheiten ermöglichen die für jede Kultur gültige kalendarische Messung der Zeit. Die chronologische Zeit manifestiert sich in einer einmal festgelegten, unveränderlichen Struktur und ist somit, wie Benveniste feststellt, selbst zeitlos: Der Kalender ist außerhalb der Zeit. Sie vergeht nicht mit ihm. Er registriert Reihen gleichbleibender Einheiten, die man Tage nennt und die sich zu größeren Einheiten (Monate, Jahre) vereinigen. Da nun aber ein Tag identisch mit dem anderen ist, sagt ein beliebiger Tag des Kalenders, für sich genommen, nichts darüber aus, ob er vergangen, gegenwärtig oder zukünftig ist. 14 Die menschliche Erfahrung der Zeit beruht also nicht auf dem Vorhandensein des Kalenders und ist nicht auf die objektive Zeit zurückzuführen, da diese unabhängig von Vergangenheit und Zukunft ist und die Bewegung der Zeit nicht kennt. Die Bewegung der Zeit existiert nur in Bezug auf einen Punkt, nämlich auf die Gegenwart; erst von der Gegenwart her eröffnet sich das Feld der Vergangenheit und Zukunft. Und diese Gegenwart ist an die Sprachtätigkeit gebunden, sie ist selbst eine Funktion des Äußerungsaktes: Diese Zeit [die sprachliche Zeit] hat ihr Zentrum [...] in der Gegenwart der jeweiligen Rede. Jedesmal, wenn ein Sprecher die grammatikalische Form des »Präsens« (oder ein Äquivalent davon) verwendet, setzt er das Ereignis als gleichzeitig mit der konkreten Rede, die es nennt [...]. Diese Gegenwart wird jedesmal, wenn ein Mensch spricht, neu erfunden, denn sie ist, buchstäblich, ein neuer, noch nicht gelebter Augenblick. 15 14 „Le calendrier est extérieur au temps. Il ne s’écoule pas avec lui. Il enregistre des séries d’unités constantes, dites jours, qui se groupent en unités supérieures (mois, ans). Or comme un jour est identique à un autre jour, rein ne dit de tel jour du calendrier, pris en lui-même, s’il est passé, présent ou futur.“ (a.a.O., 73). 15 „Ce temps a son centre [...] dans le présent de l’instance de parole. Chaque fois qu'un locuteur emploie la forme grammaticale de »présent« (ou son équivalent), il situe l'événement comme contemporain de <?page no="174"?> H ANS L ÖSENER 164 Da die Bewegung der Zeit nur in Bezug auf die Gegenwart existiert und die Gegenwart sich immer wieder neu in jedem Äußerungsakt konstituiert, bringt die Sprache, oder genauer die Sprachtätigkeit, die menschliche Erfahrung der Zeit erst hervor. Aus diesem Zusammenhang lässt sich auch die semantische Funktion des temporalen Indikators jetzt erklären: Jetzt verweist auf nichts, was außerhalb und unabhängig vom Äußerungsakt existiert, weder auf eine bestimmte Uhrzeit, noch auf einen bestimmten Tag oder Monat, sondern nur auf die Gegenwart, die durch den Äußerungsakt selbst begründet wird. Jedes jetzt ist also immer das jetzt eines bestimmten Äußerungssubjekts und begründet somit eine subjektive Gegenwart. Eigentlich müsste es also so viele gegenwärtige Zeitpunkte geben, wie es Äußerungen gibt, und jeder Sprecher müsste in seiner nur ihm zugänglichen Zeitlichkeit leben. Dass die Zeit dennoch eine mitteilbare Erfahrung ist und nicht jedes Subjekt seine eigene isolierte Zeiterfahrung besitzt, ist wiederum auf die sprachliche Dimension der Zeit zurückzuführen. Denn das jetzt, das ein Sprecher in seiner Äußerung verwendet, wird auch für den Hörer zu einem temporalen Indikator der Gegenwart. Das jetzt des Sprechers wird zum jetzt des Hörers und die mitgeteilte Gegenwart zur geteilten Gegenwart. Die Zeit, die durch die Sprachtätigkeit konstituiert wird, ist somit immer zugleich subjektiv und intersubjektiv. Benvenistes Verankerung der Indikatoren in der Rede hat damit auch Konsequenzen für die Frage nach der Intersubjektivität der Sprache, also für diejenige Frage, die den Ausgangspunkt von Bühlers Sprachtheorie bildet. Die semantische Dimension der Rede, die, wie Benveniste zeigt, nicht aus der semiotischen Dimension der Einzelsprache abgeleitet werden kann, bietet eine Erklärung dafür, warum Subjektivität und Intersubjektivität in der Sprache keinen Gegensatz bilden, sondern sich im Gegenteil bedingen. Die Tatsache, dass es in der Sprache eine ganze Reihe von Wörtern gibt, die für sich genommen semantisch „leer“ sind und nur in der konkreten Rede zu im buchstäblichen Sinne sinnvollen Einheiten werden können, stellt die Voraussetzung dafür dar, dass jeder Sprecher sich die Sprache immer wieder neu zu eigen machen kann und das Sprachsystem mit jedem Äußerungsakt in ein Subjektsystem verwandeln kann. Obwohl es in aller Munde ist, bezieht sich das Wort ich dennoch in jeder Rede immer nur auf ein einzelnes Subjekt. Und alle anderen Indikatoren (hier, dort, jetzt, heute, gestern etc.) organisieren die Sprache (und damit auch Zeit und Raum) um dieses ich herum. Auf diese Weise vollzieht sich in jeder Rede eine erneute Subjektivierung der Sprache, die zugleich eine Entfaltung der Subjektivität durch die Sprache und in ihr impliziert ist. Benveniste stellt daher fest: Es ist buchstäblich wahr, dass die Grundlage der Subjektivität in der Ausübung der Sprache liegt. 16 Bühler versteht unter dieser „Ausübung“ lediglich den Gebrauch von Zeichen und Signalen und bleibt in der Dimension des Semiotischen, in der es keine Subjektivierung der Sprache geben kann. Benveniste dagegen zeigt, dass sich diese „Ausübung“ in der Rede ereignet, die etwas anderes und mehr ist als ein bloßer Zeichen- oder Signalgebrauch, weil sich in ihr die Dimension des Semantischen entfaltet, also die unauflösbare Verknüpfung von Sinn und Subjektivität, die in jedem Sprechen neu geschaffen wird. Die Aktualität von Benvenistes Analyse der Wörter ich, jetzt, hier liegt in der Möglichkeit, diese Verknüpl'instance du discours qui le mentionne [...]. Ce présent est réinventé chaque fois qu'un homme parle parce que c'est, à la lettre, un moment neuf, non encore vécu.“ (Benveniste 1965, 73f.). 16 „Il est donc vrai à la lettre que le fondement de la subjectivité est dans l’exercice de la langue.“ Benveniste (1958, 262). <?page no="175"?> D IE O RIGO DER S UBJEKTIVITÄT : ICH , JETZT , HIER BEI B ÜHLER UND B ENVENISTE 165 fung neu zu denken und ausgehend von der Funktionsweise der Rede eine Theorie der sprachlichen Subjektivität zu entwickeln. 17 Literatur Ammann, Hermann (1988): Die drei Sinndimensionen der Sprache. Ein kritisches Referat über die Sprachtheorie Karl Bühlers. In: Achim Eschbach (Hg.): Karl Bühler’s Theory of Language. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 53-76. Benveniste, Emile (1956): La nature des pronoms. In: Derselbe: Problèmes de linguistique générale, Bd. I. Paris: Gallimard 1966, 251-157. Benveniste, Emile (1958): De la subjectivité dans le langage. In: Derselbe: Problèmes de linguistique générale, Bd. 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Some investigations (Coventry 1998, Vandeloise 1992, Malyar and Seliverstova 1998, etc.) have revealed that in semantics of some spatial prepositions there are certain concepts which speakers are seldom aware of and which cannot be described with the help of such “semantically primitive” terms of geometry and topology as “point”, “line”, “surface”, “volume”, “inclusion”, “contiguity”, “contact”, etc. It has also been demonstrated that this type of information cannot be explained as contextual modification of meaning as it was often assumed in the majority of previous works on this domain of lexicon. The concepts that comprise meaning of spatial expressions may be very complex and depend on various “functional” factors: social context, task requirements, functional relations between people and objects, objects and objects. In other words, many of the concepts appear to have non-spatial properties, which obviously reflects the experiential character of linguistic meaning, i.e. the fact that people conceptualize the world in terms of how the world can be interacted with. The correlation of the non-spatial and spatial information still remains very much unclear. Under the term “spatial properties” we understand semantic information about human perception of geometrical characteristics of objects, such as size, shape and correlation of objects in space, such as distance between objects, direction of movement, area between and around objects. Non-spatial properties are functional properties. They convey information about all types of possible interaction between objects, such as user-instrument relations, part-whole relations, etc. The aims of the present research is to reveal universal and idiomatic features of spatial and non-spatial concepts which are lexicalized in the languages under study and to look into the nature of the non-spatial concepts and to attempt at formulating their typology. While analysing the information received from the investigation we should find out what pertains to the language meaning and what to human knowledge of the referent. The matter is that what pertains to the meaning in one language doesn’t hold for the meaning in the other language. That is why this problem can be solved only through experimental methodology, involving a great number of native speakers as subjects. Experimental methodology used in the present research consists of several stages. At the initial stage of the experiment natural uses of the expressions under study are collected and analysed. The data of different corpora were also used (Lob, Brown, etc). Results of the analysis allow formulating hypotheses as to the semantic content of the lexical items under study at the next stage. It is very important to skim those examples of use of a given <?page no="178"?> T ATIANA D. S HABANOVA , L UIZA V. G AZIZOVA 168 lexical item, where, according to the hypothesis formulated, realization of the monitored semantic component triggers understanding of the whole sentence. At the next stage presence of the hypothesized semantic components in the meaning of expressions is checked. This is carried out through varying parameters of the referent scene, which helps to reveal the correlation between the hypothesized semantic component of the preposition and the parameter. For example, searching for differences between meanings of two English prepositions from and out of we put forward the hypothesis that in the meaning of the preposition from there is a semantic component “Goal of movement”. To verify this hypothesis the subjects were offered to evaluate sentences like We walked home from school in silence and We walked home out of school in silence. Evaluating these two sentences all the subjects recognized the former as semantically correct and the latter as semantically wrong. Preference of the preposition from by all the subjects is explained by the fact that in the first sentence Figure (we) moves from Ground (school) which presupposes motion to a certain Goal. Goal is given. It is the word home. In the second sentence there is semantic discrepancy between Goal home and motion out of Ground as this preposition does not imply any idea of Goal and distance. Thus, the hypothesis was verified. The last stage of the experiment is designed to check the generalizing ability of the semantic component revealed. For this purpose new sentences are composed with parameters of referent scene different from those of the previous stage, except those, which are found to correspond to the revealed semantic components. For example, checking the revealed component in the meaning of the preposition from subjects were given the sentence Randal had walked from the station across the fields through the hops, reaching the stable block which stood on the edge of the wood without misadventure. In this sentence Goal of motion is present. Besides, the idea of a long distance is implicitly conveyed. All subjects participating in the test assessed the sentence as semantically perfect. The experimental procedure has its own criteria both to the subjects and to the conditions of carrying out tests. The subjects should be native speakers of the language under study. They should possess a sufficient degree of intellectual and cultural maturity. The subjects are to have accomplished secondary education. Preference is given to those who have acquired higher education. The subjects are to evaluate appropriateness of the use of expressions according to the given scale. They are also welcome to make notes commenting on their choice. The time of one session is usually one hour. During this time the participants are to read and evaluate 50-70 sentences with expressions under study. The number of subjects recommended by linguists working within the frame of experimental semantic methodology varies from 15 up to 100. In the present research 30 is found to be a sufficient number of subjects to verify formulated hypotheses. The present paper focuses on linguistic means of expressing semantics of “source of movement” in the Russian, English and Bashkir languages: English prepositions from, out of, off 1 (dynamic aspect), Russian prepositions ~, , , the Bashkir affixes of the initial case -tan/ -tyn, -nan/ -nyn and nouns used in the function of this case. The main notions of the metalanguage used in the paper are Figure and Ground (terms introduced by Talmy, 1983), Path, Goal, Space, Area, Position and Obstacle. Figure may be conceptualized either as a moving or a static object. Ground is an object or space, which Figure is correlated with. For prepositions from, out of, off 1 ; ~, , ; affixes tan/ -tyn, -nan/ -nyn Ground is the source of its motion; Path is a line of Figure’s motion <?page no="179"?> C ROSS - LINGUISTIC R EGULARITIES OF C ONCEPTUALIZING S PACE 169 between Ground and Goal; Goal is a point where Figure heads for; Position is a point in Space; Obstacle is an object or a point which interferes with the motion of Figure. Observer is a participant of the scene who conceptualizes Figure’s correlation to Ground in Space. Area is the space between and around Figure and Ground. 2 English prepositions: from, out of, off 1 . 2.1 Spatial properties From 1. The preposition from in contrast to the prepositions out of and off 1 can be used to denote Figure’s motion away from Ground. Ground is conceptualized as a point, i.e. its shape is not relevant. Figure may move or be caused to move from inside Ground or from its surface. The semantics of off 1 and out of is more specific, clearly differentiating between inside and surface of Ground as starting points of motion (see below): (1) And Maxell explained why, pulling additional items from his portfolio. 2. The preposition from is used to denote Figure’s motion away from Ground to some certain Goal (i. e. point of destination is always implied in contrast to off 1 and out of). It presupposes that after Figure’s motion it is located in some distance from Ground and that it can take Figure some period of time to cover the distance. (2) Randal had walked from (*out of/ * off 1 ) the station across the fields through the hops, reaching the stable block which stood on the edge of the wood without misadventure. The prepositions out of and off 1 in contrast to from do not presuppose Goal of motion and consequently they do not carry any concepts of distance and time, what is seen from the restriction on their usage. Out of The preposition out of is used to denote motion of Figure from inside Ground, i.e. Ground is conceptualized as enclosure. Figure’s motion out of Ground leads to discontinuation of the relation of inclusion: (3) Frank ran out of the building (*from/ *off the building) with briefly spoken thanks and returned to the auction room as fast as his legs would carry him. The prepositions from and off 1 are impossible to be used here as the former conveys information about Ground being conceptualized as a point, besides the concept of Goal should present. The latter is used when Ground is conceptualized as a surface, which is incongruous with the meaning of the word “building” in this context. Off 1 The preposition is used to denote motion of Figure from the surface of Ground, i.e. Ground is conceptualized as a surface. Figure’s motion off Ground leads to loss of contact between them. (4) She’d slipped the straps of her bra off her shoulders (*from/ *out of shoulders) for a more even tan. <?page no="180"?> T ATIANA D. S HABANOVA , L UIZA V. G AZIZOVA 170 2.2 Functional properties Besides spatial information a very important role is played by non-spatial (functional) information which is another factor differentiating the meanings of the prepositions. The present investigation has revealed that the English preposition off 1 possesses a number of functional semantic properties. Namely, it conveys information about certain interaction between Figure and Ground. 1. The preposition off 1 conveys information about Figure’s using Ground: (5) She lowered herself carefully off the bicycle (*from/ *out of the bicycle) and blocked the pavement so that I couldn’t help stopping and talking to her. (6) Robert slipped off the crutches (*from/ *out of crutches), breaking his ankle a few days later. In this sentence there are functional relations between Figure and Ground: Ground is seen as an instrument used by Figure. We term these relations - “user-instrument relations”. As soon as Figure has moved away from Ground this functional relation is discontinued. The preposition from and out of are impossible in this sentence as their semantic properties are purely spatial and they do not imply the concept of interaction between Ground and Figure. 2. The preposition off 1 describes such functional relations, where Figure and Ground are conceptualized as having one and the same function or constituting “functional unity”: (7) I took the lid off the pot (*from/ *out of the pot) to see if the soup was ready. If off 1 is replaced by from Ground and Figure are not conceptualized as functionally related (e.g. the lid is not necessarily in its typical orientation, which is a prerequisite for its being functionally related to the pot). 3. The preposition off 1 describes situations where Figure is intrinsic of Ground, i.e. Figure and Ground are in “part-whole” relations. Figure’s motion implies discontinuation of these relations: (8) Fancy him forgetting that he broke a leg off the armchair (*from/ *out of the armchair). (9) The hurricane tore the roofs off the houses (*from/ *out of the houses). 3 Russian prepositions: , , ( ). 3.1 Spatial properties 1. The preposition ~ implies that Figure’s motion results in establishing certain distance between Figure and Ground: (10) ÎÏÐÑÒ ÔÕ× ÙÕÚÛÝÞâÐ Õ- ÑÐÏÐÔìÛ (*/ *~ ). ‘Take the knife away from the child.’ The preposition ~ is different from the English from as in the latter, in addition to information about certain distance between the objects, the idea of Goal of the motion is present. <?page no="181"?> C ROSS - LINGUISTIC R EGULARITIES OF C ONCEPTUALIZING S PACE 171 2. The preposition ~ conveys information about Figure’s motion from the direction of Ground. Figure does not have to have been contiguous with Ground before the motion; only direction of its motion is implied. (11) îÔ âÐÝ ÙÐâìÕï Õ- ðÛïÕòÕ ôÛõÕÚÛ (*/ * ~). ‘He was walking from the direction of the factory.’ Its semantics is different from that of the English preposition from as ~ does not imply Goal and relation of spatial contiguity between Figure and Ground. The Russian preposition has semantics similar to that of the English preposition out of in that both are used to denote Figure’s motion from inside Ground, i.e. the latter is conceptualized as an enclosure. (12) îÔ õô÷Ý ìûðÕýÐì þÝÐÏÛ þÝÐÏÔÒÿ (*~/ * þÝÐÏÔÒÿ ). ‘He took a slice of bread out of the container.’ (13) îÔ ïÕÝýÛ õ âÐÝ Òô ìÕïÔÛ- (*/ *~ ìÕïÔÛ- ). ‘He went out of the room in silence.’ The range of referential abilities of the preposition completely covers the range of referential abilities of the English out of. It also partially corresponds to that of from as under some circumstances Ground may be conceptualized not as an enclosure but as a point. ( ) The preposition (~) corresponds to the English off 1 as they both imply that Ground is conceptualized as surface. Both the Russian and English off 1 presuppose loss of contact between Figure and Ground, the concept of which is absent in the semantics of the rest of the prepositions under study. (14) îÔ ûÙÛÝ ìÑ âÒ Ò ÙÕÑÛÔÒÝð÷ (*~ / * ìÑ âÒ). ‘He fell off the roof and got injured.’ However it should be noticed that the range of denotation of is partially covered with that of English from as the surface may be conceptualized as a point. 3.2 Functional properties The preposition ~ conveys information about motion of Figure away from Ground that results in discontinuing of integrity of the source object. In this respect it corresponds to the English preposition off 1 .` (15) îÔÛ Õ-ÕÑõÛÝÛ ïÛÝÐÔÞìÒ ìûðÕýÐì ~ ïÛ-ÐÑÒÒ (*/ * ïÛ-ÐÑÒÒ). ‘She tore a small scrap off the material.’ 1. The preposition is used to denote motion of Figure from Ground, to which it was functionally related. In this case Figure and Ground form a functional unity. This meaning closely corresponds to that of the English preposition off 1 . <?page no="182"?> T ATIANA D. S HABANOVA , L UIZA V. G AZIZOVA 172 (16) Ô õô÷Ý ìÝ ýÒ ð òõÕôÚ÷ (*~/ * òõÕôÚ÷). ‘He took the keys off the hook.’ 2. The preposition conveys information about discontinuing of “part-whole” relations. Thus information corresponds to that of the English preposition off 1 . (17) îÔ ðÕÑõÛÝ ÷ÏÝÕìÕ ð õÐ-ìÒ (*Õ- õÐ-ìÒ/ *Òô õÐ-ìÒ). ‘He broke an apple off the tree.’ 3. The preposition conveys information about Figure’s using Ground i.e. “user-instrument” relations. Motion of Figure away from Ground leads to its discontinuation. (18) îÔ ðÕâÐÝ ð ÝÕâÛÚÒ Ò ÔÛÙÑÛõÒÝð÷ ìÕ ïÔÐ (*Õ-/ *Òô ÝÕâÛÚÒ). ‘He got off the horse and walked towards me.’ This meaning corresponds to the meaning of the English preposition off 1 . So we can see that functional information conveyed by the English off 1 corresponds to two Russian prepositions - ~ and . 4. The Russian preposition describes situations when Figure moves from Ground where the former has been engaged in some activity involving Ground. (19) îÔ õÐÑÔûÝð÷ ÑÐìÒ ÑÛÔÕ û-ÑÕï (*/ *~ ÑÐìÒ). ‘He came back from the river in the morning.’ The Russian in contrast to ~ and denotes that Figure has been engaged there in some kind of activity characteristic of Ground as in (19), where it is implied that Figure , ‘he’ has been involved in some activity with Ground , ‘river’ (fishing, swimming, boating, etc). This information is unique for Russian because such relations between the objects are not conceptualized in any of the English prepositions. 4 Bashkir means of expressing source All spatial functional concepts revealed in the Russian and English prepositions are expressed in Bashkir by the initial case of the noun denoting Ground. Semantics of the initial case of Bashkir is very abstract and has a wide range of denotation, which covers the range of referent of all Russian and English means of expressing Source. (20) Ul hyndardon agostyn butagyn. ‘He broke a branch off the tree.’ (21) Irtan ular kaitylar yelganan. ‘They returned from the river in the morning.’ (22) Min kurdem unyn maktaptan kaituyn. ‘I saw him go from school.’ When geometrical properties of Ground are relevant some functional words in addition to affixes are used in Bashkir. These are derivatives from the nouns yan, ‘side’, as(t), ‘bottom part or lower part’, al(d), ‘front part’, es(t), ‘top part, upper part’. (23) Ul beseize estel estenan kyuypyeberde. ‘He removed the cat from the table.’ (24) Ul beseize estel astynan tartyp sygarze. ‘He took the cat from under the table.’ <?page no="183"?> C ROSS - LINGUISTIC R EGULARITIES OF C ONCEPTUALIZING S PACE 173 5 Summary Table 1 summarizes the preliminary results of the study of semantics of means of expression of Source in the three languages. As it is seen from the table, there is only one spatial concept “Ground is the starting point of Figure’s motion” which is common for all three languages. Properties 2, 4, 5 are regularities of spatial conceptualization typical of both Russian and English. Information Ground being conceptualized as a point, an enclosure, a volume is conveyed by the English prepositions from, out of, off and the corresponding Russian prepositions ~, , . From out of off Õ- Òô ð (ðÕ) Tan/ tyn, Nan/ nyn Spatial 1. Ground is the starting point of Figure’s motion + + + + + + + 2. Ground which is conceptualized as a point + (+) (+) 3. Motion from Ground to Goal + 4. Motion from Ground conceptualized as an enclosure (+) + + 5. Motion from Ground conceptualized as a surface (+) + + 6. Motion away from Ground with the purpose of having distance between Figure and Ground + 7. Motion from the direction of Ground + 8. Correlation of Ground with bottom part + 9. Correlation of Ground with front part + 10. Correlation of Ground with top part + 11. Correlation of Ground with sides + Functional 12. User-instrument + + 13. Functional unity + + 14. Part-whole relations + + 15. Integrity of Source object (Ground ) + + 16. Activity + Table 1. Expression of Source in English, Russian and Bashkir Language-specific spatial properties are properties 6 and 7 for Russian, property 3 for English and properties 8, 9, 10, 11 for Bashkir. Thus, information about Figure’s motion away from Ground to some certain Goal is present only in the meaning of the preposition from. Spatial information in the meaning of the Russian preposition ~ about Figure’s motion away from Ground which results in establishing a certain distance between Figure and Ground and Figure’s motion from the direction of Ground is not conveyed by any of the English prepositions. Only in the Bashkir language special functional words are used to specify the source of motion. This information is unique and is not found in two other languages under study. As for regularities of functional conceptualization properties 12, 13, 14, 15 are common for Russian and English. Information about discontinuing of integrity of the source object is conveyed by prepositions off 1 and ~. Information about the rest specified types functional relations is present in the meaning of Russian and English off 1 . <?page no="184"?> T ATIANA D. S HABANOVA , L UIZA V. G AZIZOVA 174 Language-specific functional property is property 16 for the Russian preposition . Information about Figure’s activity involving Ground is not conveyed by any of the English prepositions. In the semantics of Bashkir means of expressing “Source of movement” non-spatial functional properties are not revealed. References Coventry, K R. (1998): Spatial prepositions, functional relations and lexical specification. In: Olivier P. and Gapp K. (eds.): The Representation and Processing of Spatial Expressions. Mahwah, 247-262. Malyar, T.N. and O.N. Seliverstova, (1998): Prostranstvenno-distantsyonnye predlogy i narechiya v russkom i angliyskom yazykach. Slavistische Beiträge 362, München. Talmy, L. (1983): How Language Structures Space. In: H. Pick and L. Acredolo (eds.): Spatial Orientation: Theory, Research, and Application. New York, 225-228. Vandeloise, C. (1992): Les analyses de la préposition dans. Faits linguistigues et effets méthodologique. In: Lexique 11: Les prépositions: méthodes d’analyse. Lille, 15-40. <?page no="185"?> Fachkommunikation - Kohärenz und Differenz Wolfgang Sucharowski Die Mehrschichtigkeit von Fachkommunikation - ein Grundproblem Moderne Arbeitsteilung ist durch modulare Produktionsprozesse gekennzeichnet. Diese erzwingen Kommunikation, über die noch nicht ausreichendes Wissen besteht. Die Betriebe arbeiten, wenn sie erfolgreich sind, nach dem Prinzip „eingespielter Teams“. Schwierigkeiten treten auf, wenn sie ihre Partner wechseln. Probleme entstehen immer dort, wo neue Situationen bewältigt werden müssen. Typisch dafür sind beispielsweise im Schiffbau die Übergänge der Phase der Konstruktion zu der der Produktion (Bronsart et al. 2004). Dabei kommt es in der Regel zu einem Wechsel der Orte und des Mitarbeiterkreises. Das Ingenieurbüro gibt die Arbeiten an die Werft oder an einen Hersteller bestimmter Bauteile. An diesen Stellen passiert es nun immer wieder, dass Fehler des einen vom anderen nicht oder viel zu spät erkannt werden (Sucharowski 2010a). Das Beheben derselben kann sehr aufwändig sein und erzeugt dann hohe Kosten. Wenn über Lösungen gesprochen wird, werden nicht selten Fehlerquellen in einer unterschiedlichen Sprache der Beteiligten gesehen. Denn auffallend seien die Unterschiede im Wortschatz, im Rahmen der Werften ist zu beobachten, dass eine jede ihre eigenen Kodesysteme benutzt, wie sie zum Beispiel Bauteile bezeichnen. Die Art des sprachlichen Umgangs zwischen den Betrieben überhaupt ist sehr unterschiedlich. Das betrifft vor allem Texte, die ausgetauscht werden. Es gab im Rahmen eines Projektes Versuche, ein Simultanwörterbuch zu entwickeln (Sucharowski 2010a, 120-121). Hierbei zeigte sich aber sehr bald, dass es nicht an den Termen des Wortschatzes liegen kann, die Missverständnisse erzeugen und die Kommunikation beeinträchtigen. Fachkommunikation ist komplexer, als dass sie auf den Gebrauch von Fachtermini reduziert werden könnte oder nur durch neue Text-Formulare die betriebliche Kommunikation nach außen verbessere. Die Schwierigkeiten, die an den Defiziten der Kommunikation sichtbar werden, haben Ursachen in einem verkürzten Verständnis der Leistung sprachlicher Zeichensysteme und der daran geknüpften Erwartungen. Das Nicht-Beachten der Differenz-Perspektive bei Zeichengebrauch Die Frage nach dem Nutzungsverhalten ist mit der Beschreibbarkeit dessen zu verknüpfen, was eine Daten-Materialisierung bei ihrer Rezeption als Zeichen im kommunikativen Handeln auslöst. Hier findet sich die Grundlage für kognitive Operationen. Diese werden in Abhängigkeit zu jeweils gewählten theoretischen Begründungen verschieden erklärt. So muss geprüft werden, ob es sich um Vergleichsoperationen zwischen Wissensbeständen im Sinne von Identifikationsleistungen handelt oder ob die Daten den Anlass bieten, sich direkt Problemen zuzuwenden. In letzterem Fall sind Daten gleichsam Aufforderungen, nicht nur etwas zu identifizieren, sondern mit etwas auf bestimmte Weise umzugehen (von Egidy 2004, 31; Sucharowski 2010a, 125-126). Das unterscheidet das Verhältnis einer differenztheoretischen Zeichennutzung gegenüber einer semiotischen Sicht, bei der dem Zeichen selbst Verweisfunktionen zugesprochen wird und mit einem Modell von Repräsentationen verbunden auftritt (Jamme/ Sandkühler 2003, 25-34). <?page no="186"?> W OLFGANG S UCHAROWSKI 176 Beide Positionen finden sich in der theoretischen Diskussion und werden dort unter dem Aspekt der Repräsentations- oder Differenztheorie erörtert (Lau 2008, 27-29). Erstere geht davon aus, dass Repräsentation(en) über die verarbeitete Wahrnehmung die Grundlage der Kognition darstellen (Freudenberger 2003, 74-78; Jamme/ Sandkühler 2003, 25-34; Schwarz 2007, 49-52), die Differenztheorie sieht Daten eher im Sinne eines Motivgebers für das Handeln (Lau 2008, 41-45; von Egidy 2004, 18-20). Spencer Brown (1969, 1) beginnt sein Konzept mit dem Grundgedanken: “We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we can not make an indication without drawing a distinction.” Die Anzeige (= indication) ist das, was durch die Daten zugänglich ist. Mit dem Erkennen einer Anzeige erfolgt das Bezeichnen einer Unterscheidung. Die Anzeige ist nicht mit dem Zeichenbegriff von Saussure (1967, 76-93) gleichzusetzen. „Um anzuzeigen, wird noch nicht einmal ein (Schrift-) Zeichen benötigt“ (Lau 2008, 35). Als Konsequenz daraus folgt, dass die auf die Unterschiede angelegte Verarbeitung der Welt nicht zwingend eine systematische Weltrepräsentation voraussetzt. Das wiederum bedingt die Annahme, eine symbolische Repräsentationsebene, wie sie in den gegenwärtigen, semiotisch dominierten Forschungsparadigmen üblich ist (Scheerer 2003, 103-129), bedarf es nicht zwingend, um kommunikatives Handeln zu erklären. Zeichen ist in der Differenztheorie mit dem Akt einer „Anzeige“ zu verbinden und diese ist Teil der Welt selbst (Lau 2008, 35; von Egidy 2003, 44-50). Das ist anders als im Saussure´sche Verständnis, wo das Zeichen auf etwas außerhalb seiner selbst verweist (Saussure 1967, 76-79; Nöth 2000, 136-141). Eine Anzeige hat die einzige Funktion, eine Differenzhandlung beim Anderen zu initiieren. Dabei kann sie durch eine Bezeichnung fixiert werden, was durch Manipulation struktureller Daten angezeigt würde, d.h. sie kann durch sprachliche oder andere semiotisch wirksame Formen realisiert sein. Der Wortschatz oder die Textsorten sowie die dazu gehörigen Formate spielen dabei durchaus eine wichtige Rolle. Sie besitzen einen hohen Anzeige-Wert. Entscheidend sind nämlich die Erkennbarkeit der Aufforderung zu einer Differenzhandlung und die Möglichkeit der Ableitung für das Motiv zu derselben. Das, was der Rezipient erkennt, muss ihn in die Lage versetzen, Schlüsse darüber zu ziehen, wie er mit diesen Daten so umgehen soll, mit ihnen so handeln kann und wie diese Handlungen das auslösen, was der Andere akzeptiert. Wenn ein Text gelesen wird, geht es also nicht darum, Wörter in Sätze und Sätze in Propositionen, also wahrheitswertige Aussagen zu überführen und zu deren Verständnis repräsentationale Wissensbestände zu verarbeiten, wie es beispielsweise eine Kategorialgrammatik nahe legt (Montague 1972). Ein Satz wie „Die Positionsnummern wurden in dieser Panele um einen Wert erhöht.“ wird nicht dadurch verstanden, dass der Leser weiß, welche Bedeutung dem Wort bzw. Fachterm Positionsnummer und Panele zugeordnet wird, sondern der Satz als „Anzeige“ bewirkt beim Leser das Hervorrufen eines fachlichen Hintergrundes. Er weiß nicht oder weiß, welche Personengruppe mit diesem Satz etwas anfangen kann. Im ersten Fall bleibt unklar, was ein solcher Satz soll, im zweiten hängt es nun davon ab, ob auch die richtige Personengruppe zugeordnet werden kann. Für diese kann der Satz einen Hinweis darauf bedeuten, dass im aktuellen Handlungsfeld etwas anders ist, als erwartet wird. Eine Äußerung entschlüsselt sich nicht aufgrund einzelner Wörter oder einer morphosyntaktisch erzeugten und kategorialgrammatisch interpretierten Satzbedeutung (Löbner 1976). Sie ist vielmehr Teil eines umfassenderen Hintergrundwissens, das zum Zeitpunkt der Verarbeitung vorhanden ist oder nicht. Bedeutung im Sinne der Intention erhält der Satz erst, wenn er auf einen solchen Hintergrund projiziert und auf demselben dann ver- <?page no="187"?> F ACHKOMMUNIKATION - K OHÄRENZ UND D IFFERENZ 177 standen wird. Der Hintergrund bietet die Möglichkeit, motiviert auf Intentionen schließen zu können. Die Kohärenz - Perspektive und das Mitverstehen der Hintergründe Wenn also eine Äußerung getan und diese vom Angesprochenen als „Anzeige“ im Sinne des Differenzansatzes wahrgenommen wird, dann reagiert er darauf mit einer Unterscheidungshandlung. Diese basiert auf einer kognitiven Operation. Lau (2008, 36) betont in diesem Zusammenhang, dass der Prozess des Unterscheidens unbedingt von der Analyse der Unterscheidungshandlungen und -leistungen zu trennen ist. Denn ein Kennzeichen der Differenzhandlung ist, dass bei der Handlung des Unterscheidens die Einheit aus dem Hervortreten und der Grundierung diese zugunsten des Hervortretens unterdrückt wird. Das Verstehen stellt sich als ein kognitiver Prozess dar, der einen solchen Hintergrund nutzt, ohne diesen explizit verfügbar zu haben. Für die Betroffenen hat dies den Vorteil, schnell und sicher handeln zu können. Die Grundierung kann bewusst gemacht werden, wenn eine weitere Unterscheidungshandlung folgt, die das Beobachten der Differenz bildenden Leistung zum Gegenstand nimmt. Für die Analysepraxis hat diese Einsicht weitreichende Folgen. Gegenstand der Beschreibung ist in der Regel das Aufdecken des Zusammenhangs des Hervorgetretenen und seiner Grundierung. Da der Hintergrund im konkreten Akt des Handelns nicht zugänglich ist, bedarf es, um ihn zu erschließen, der Beobachtung des weiterlaufenden Prozesses. Denn anders als bei einer propositionalen Sichtweise bietet das Geäußerte selbst keine Sicherheit für das, was im gemeinsamen Handeln tatsächlich getan wird. Ein Verstehen des Geäußerten kann nicht allein durch die propositionale Analyse des Geäußerten in einem Text erklärt werden. Vielmehr bedarf es des Nachweises, wie sich die Rezipienten in der kommunikativen Situation aufgrund dieser Äußerungen einen Hintergrund erschließen, aus dem heraus und von dem her sie sich dann Bezugsgrößen unterstellen. Das Geäußerte wird erst aufgrund solcher Differenzarbeit der an der Kommunikation Beteiligten zu sozialer Wirklichkeit. Hier greift die Idee der Kohärenz, deren Ziel es ist, nachzuweisen, wie Dinge zueinander in Beziehung stehen bzw. in eine solche gesetzt werden können (Olson 2005, 9- 33; Seifert 2009, 148-51; Thagard 2000, 16-49, 94-109). Kohärenzanalyse kann dann bedeuten, „Anzeigen“ und ihre Abfolgen daraufhin zu überprüfen, ob mit ihnen auf etwas verwiesen wird, was mit den gleichen bzw. ähnlichen Hintergründen identifiziert werden kann. Der Vergleich der „Anzeigen“ unter- und miteinander lässt erst dann Schlüsse darüber zu, inwieweit das Geäußerte aus einem gemeinsamen Hintergrund abgeleitet bzw. motivierbar erscheint. Damit werden die Objekte der Anzeige und der ihnen so zuerkannte inhärente Kontext als Unterscheidungsleistung näher charakterisierbar. Nicht die „Wörter“ oder ein spezieller Fachwortschatz gewährleisten die Kommunikationssicherheit, sondern das Erkennen der durch sie geleisteten Anzeige-Funktion auf einem immer wieder gleich oder zumindest ähnlich evozierten Hintergrund. Das ermöglicht dem Rezipienten vergleichbare Verarbeitungshandlungen. Darüber hinaus kann der Hintergrund aus Motiven für einen solchen erschlossen werden. Eine Hilfe bei der Erschließung des Hintergrundes stellt daher die Analyse der Motiviertheit von Unterscheidungsleistungen dar. Zu etwas aufzufordern, setzt normalerweise Gründe dazu voraus. Die Anzeige wird als solche erst dann wahrgenommen, wenn ein Motiv für ihre Rezeption unterstellt werden kann. Das Erschließen des Motivs wird in der <?page no="188"?> W OLFGANG S UCHAROWSKI 178 Regel aus den Umständen des Auftretens einer Anzeige vom Rezipienten abgeleitet. Als Motiv reicht bereits die einfache Unterstellung, mit der Anzeige wird etwas von mir gewollt (Brown 1969, 1). Das Motiv ist eine die Kohärenz konstituierende Verbindung, es erklärt, warum Daten miteinander verbunden werden. Die Äußerung des Ingenieurbüros versteht sich daher aus dem Motiv heraus, die Kooperationspartner auf eine Besonderheit hinzuweisen: Sie sollen sich nicht darüber wundern, dass ein Produkt anders als erwartet konzipiert worden ist: Die Zählung wurde modifiziert. Ein weiterer Aspekt ist zu bedenken. Geäußertes zu verstehen beinhaltet, ihm einen Sinn zuweisen zu können. Konventionell wird nach den Absichten gefragt, die mit dem Geäußerten verfolgt werden (Palomares 2008, 110-112). Differenztheoretisch wird diese Funktion als eine eigene Unterscheidungsleistung verstanden, die durch das Überschreiten der Unterscheidung des so initiierten Hintergrunds mit reflektiert wird. Sinn öffnet Kommunikation einen weiteren „Raum“ (Baecker 2005, 147-150). Das verschafft der Kommunikation Möglichkeiten für einen gezielteren Umgang mit den immer in der kommunikativen Situation vorhandenen Unsicherheiten. Denn die Bestimmbarkeit des Unbestimmten setzt weitere Orientierungspunkte voraus. Anders als im repräsentationalen Modell steht nicht die Fiktion einer wie auch immer konzeptionell definierten „objektiven“ Bezugsgröße zur Verfügung. Die Dinge werden nicht durch die Existenz der Hinweis-Daten in ihrer Funktion erkannt, sondern der ihnen zugeschriebene Handlungszusammenhang erlaubt kognitiv oder „händisch“ zielsicher mit ihnen umzugehen. Baecker (2007, 149-150) schlägt mehrere mögliche Sinn-Funktionen vor, die zur Vergegenwärtigung von Unsicherheit bzw. ihres Abbaus beitragen. Wenn sich nämlich aus dem Überschreiten ein Raum geöffnet hat, steht dieser nicht für sich allein dar, sondern kann, wenn er kommunikativ relevant ist, als Teil umfassenderer Raumkonzepte gedeutet werden, so dass die durch das konkrete Überschreiten erkannten Hintergrundeigenschaften sich durch weitere Bezugsgrößen zusätzlich präzisieren lassen. Es geht also darum, das zum Beispiel durch einen Text Angezeigte über den erschlossenen Hintergrund hinaus mit „Räumen“ zu verbinden, die den durch den Text erkannten Differenzraum weiter kommunikativ absichern. Nehmen wir beispielsweise einen Text, der durch seine Anzeigen den Vollzug rechtlicher Verhältnisse in einer betrieblichen Einrichtung verfolgt wie eine Ausbildungsordnung (Sorge/ Sucharowski 2010c). Ein so erzeugter Differenzraum wird nach den Vorstellungen von Baecker (2007, 152-153) durch die Zuordnung eines umfassenderen Raumes, welcher die Sicherung von Institutionen an sich verfolgt, weiterreichend präzisiert. Alles, was im Differenzraum der betrieblichen Einrichtung angezeigt wird, stünde jetzt noch einmal in einem Bestimmungsverhältnis zu dem, was die Sinn-Funktion Erhaltung einer Institution beinhaltet. Wenn in den Verordnungstexten von der Notwendigkeit des Führens eines individuellen Lernplans gesprochen wird, wird diese Verordnung als Anzeige auf dem Hintergrund verständlich, den Bezug zu Handlungen der Ausbildungswirklichkeit herzustellen und nicht beispielsweise zur betrieblichen Ökonomie. Das erweiternde Hinzufügen des Differenzraumes Institution und seine potentielle Gefährdung weist der Unterscheidungsleistung eine weitere Eigenschaft zu, die vorhandene Anzeige unter dem Aspekt der Erhaltung einer solchen Institution verstehen zu müssen. Eine Institution erst gibt der Handlung Sicherheit und zugleich bestätigt sie sich selbst als Institution. Die kommunikativen Handlungen im Umgang mit dem Lernplan können so zu Rechtsakten werden. <?page no="189"?> F ACHKOMMUNIKATION - K OHÄRENZ UND D IFFERENZ 179 Im Fall des schiffbaulichen Beispiels stellt sich mit dem dortig geäußerten Satz der Um- Nummerierung von Positionsnummern als möglicher Sinnzusammenhang die Frage nach der Unterscheidung, ob es einen Rezipient gibt, der sich mit diesem Satz als Mitglied eines bestimmten „Netzwerkes“ ausweist, das an der Produktion des Schiffes beteiligt ist (Baecker 2005, 226-228). Aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem solchen Netzwerk ist es ihm im Umgang mit der Äußerung möglich, entsprechende Handlungszusammenhänge zu erkennen, die anderen so nicht bzw. nicht ohne weiteres zugänglich sind. Das Nicht-Beachten dieses Umstandes kann weitreichende Folgen haben. Als Nichtmitglied besteht nämlich die Gefahr, dem Geäußerten nicht angemessene Eigenschaften zuzuweisen und daher zu falschen Schlüssen zu gelangen. Fehler entstehen genau an diesen Schnittstellen. Die Fachkommunikation wird daher dann erfolgreich sein können, wenn die Beteiligten auch Mitglieder eines solchen Netzwerkes sind. Die Art der Anzeigen kann hierbei durchaus hilfreich sein, wie sie durch die besonderen Formate von Texten beispielsweise arrangiert werden. Anders aber als bei repräsentationaler Lesart wird nicht im Fachwortschatz oder im Format des Textes selbst der Zugang zum Verstehen gesucht, sondern sie sind Indizien für einen spezifischen Hintergrund, von dem her der Rezipient die Verarbeitung der Daten organisiert. Fachkommunikation Grundsätzlich gilt, Kommunikation ist immer in ihrer Sicherheit gefährdet und sie entwickelt deshalb Strategien, diese zu kontrollieren. Eine davon ist die Fachkommunikation. Ihr besonderes Merkmal liegt nun aber nicht in der Beherrschung besonderer sprachlicher Ausdrucksformen auf der lexikalischen, syntaktischen oder Diskursebene. Sie sind lediglich Indizes für den Vollzug besonderer Differenzhandlungen, d.h. im kommunikativen Geschehen wird von den Beteiligten die Fähigkeit erwartet, entsprechende Differenzräume zu erkennen und ihr kognitives und operatives Handeln darin zu organisieren. Die Gestaltung der Anzeigen mit besonderen Mitteln erleichtert es den Nutzern, die Motive der Anzeigen sicherer zu erschließen und schneller Intentionen zu erkennen, die eine optimale Kooperation eröffnen können. Die Sicherheit der Kommunikation nimmt dann zu, wenn weitere Bezugssysteme bzw. Sinn-Funktionen genutzt werden können wie im zitierten Fall, wo sich die Individuen als Mitgliedern eines Netzwerkes identifizieren können. Das erzeugt eine Verdichtung möglicher Interpretationen im Sinne der sicheren Erschließung des Hintergrunds. Nicht die Sprache an sich sichert die Kommunikation, sondern das sichere Wissen um das Potential seiner Anzeige. Literaturverzeichnis Baecker, Dirk (2005). Form und Formen der Kommunikation. 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Diese Teilereignisse sind wiederum über semantische Relationen mit den Ereignispartizipanten verbunden (Engelberg 1994, 1995a,b, 2000, Kiefer 2000, 2006, Tóth 2006, 2007, 2010). Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, von der konzeptuellen Ebene ausgehend intern strukturierte Ereigniskomplexe im Deutschen und Ungarischen zu modellieren und miteinander zu vergleichen, um so zukünftig die Theorie zur Repräsentation der Bedeutung als Ereignisstruktur vor dem Hintergrund einer vergleichenden semantischen Analyse weiterzuentwickeln. Beabsichtigt wird, mögliche Komponenten komplexer Ereignisse auf konzeptueller Ebene zu diskutieren, um dadurch eine zukünftige kontrastive (deutsch-ungarische) Analyse der unterschiedlichen sprachlichen Strukturierungen deutscher und ungarischer Verben zu untermauern. Wir nehmen an, dass die Einordnung von Ereignissen im Deutschen und Ungarischen anhand von Ereignisschemata möglich ist und es in beiden Sprachkulturen auf konzeptueller Ebene keine gravierenden Unterschiede im Bereich der untersuchten Konzepte gibt. 2 Der Begriff Ereignis Der Begriff Ereignis (Stoecker 1992) wird von uns in einem sehr weiten Sinne als ein Zustand, ein Vorgang, eine Handlung, eine Erfahrung, eine Besitzrelation, eine Bewegung oder eine Übertragung aufgefasst (Pöring/ Schmitz 2003). Von der konzeptuellen Seite her gesehen drückt jeder Satz ein Ereignis aus, das aus mehreren Teilereignissen besteht oder bestehen kann. In unserer Studie wird das Ereignis von der Perspektive her betrachtet, in der es von demjenigen konstruiert wird, der den Satz sagt. Schauen wir uns nun unsere eigenen Beispielsätze an, in denen der Sprecher mögliche Ereignisszenen in seiner Vorstellungs- und Erfahrungswelt konstruiert: (1) a) Mein Freund ist müde. (Zustand) b) Das 44. Linguistische Kolloquium in Sofia lief planmäßig ab. (Vorgang) c) Norbert steht vom Stuhl auf. (Handlung) d) Das achtjährige Kind weiß schon, dass es gefährlich ist, bei Rot über die Straße zu gehen. (Erfahrung) e) Mein junger Nachbar hat eine hübsche Freundin. (Besitzrelation) f) Peterchen kletterte aus dem Küchenfenster und sprang über den Zaun. (Bewegung) g) Mein Neffe hat seinem Freund das Fotoalbum gegeben. (Übertragung) Die einzelnen Ereignistypen können in zusammengesetzten Sätzen auch miteinander kombiniert vorkommen wie z.B.: <?page no="192"?> J ÓZSEF T ÓTH 182 (2) a) Norbert wurde krank, er hatte ein Diätbuch in der Hand und hat es an den Arzt weitergegeben. (Vorgang + Besitzrelation + Bewegung) b) Das Wasser ist flüssig und kocht schnell. (Zustand + Vorgang) c) Die neue Sekretärin hat eine starke Erkältung, deshalb steht sie erst gegen 8 Uhr auf. (Besitzrelation + Vorgang) 2.1 Die Ereignisstruktur von zerbrechen Wie die Ereignisstruktur modelliert werden kann, ist am transitiven Verb zerbrechen sowie an seinen ungarischen Äquivalenten (tr. szét-/ összetör) (Halász/ Földes/ Uzonyi 1998: 1820) zu exemplifizieren. (3) a) Der Kellner hat das Glas zerbrochen. b) A pincér összetörte a poharat. Aufgrund der Bedeutung von zerbrechen ist impliziert, dass der Kellner etwas mit dem Glas tut, und es ist impliziert, dass das Glas daraufhin zerbricht. Auf die Frage, was passiert ist, ist beispielsweise zu antworten: „Der Kellner hatte das Glas in der Hand, zufällig war es ihm aber aus der Hand gefallen, so dass es am Ende zerbrach.“ zerbrechen: x nom , y akk E-STR: ( I e 1 : x Agens , y Patiens ) < ( I e 2[PKT] : x Agens , y PATIENS ) < ( I z: y PATIENS ) Das erste Teilereignis e 1 (das Glas in der Hand des Kellners) geht dem zweiten Teilereignis e 2 (das Fallen des Glases aus der Hand des Kellners) voraus, welchem ein Nachzustand z (das Zerbrechen des Glases) folgt. Das ist ein Ereigniskomplex, der die Situation modelliert. Am ersten Teilereignis (e 1 ) sind ein Agens (x) und ein Patiens (y) beteiligt. Zeitlich danach (<) findet ein zweites Teilereignis (e 2 ) statt, in dem das Verb zerbrechen auf die Bezeichnung eines punktuellen Teilereignisses beschränkt ist. Daran sind das Agens (x) und das Patiens (y) beteiligt. Abgeschlossen wird dieser Ereigniskomplex durch den nachfolgenden (<) Zustand (z), der darin besteht, dass das Glas zerbrochen ist. An diesem letzten Teilereignis ist aber nur das Patiens (y) beteiligt. Die Ereignisstruktur der ungarischen Entsprechungen (tr. szét-/ összetör) kann wie folgt dargestellt werden: szét-/ összetör: x nom , y akk E-STR: ( I e 1 : x Agens , y Patiens ) < ( I e 2[PKT] : x Agens , y PATIENS ) < ( I z: y PATIENS ) Es ist festzustellen, dass die Struktur des deutschen Ereigniskomplexes mit der des ungarischen Ereigniskomplexes übereinstimmt. Unterschiede zwischen den zwei genetisch und auch typologisch unterschiedlichen Sprachen, dem Deutschen und dem Ungarischen, kann es in diesem Fall höchstens hinsichtlich der sprachlichen Realisierung des komplexen, intern strukturierten Ereignisses geben. Auf der konzeptuellen Ebene lassen sich zwischen den zwei Sprachen in diesem Fall keine Unterschiede nachweisen. 3 Überblick über grundlegende Ereignisschemata Wir beschreiben ein Ereignis als komplexes Ganzes in unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt. In der Forschungsliteratur (Pörings/ Schmitz 2003) werden Ereignisse nach einer begrenzten Anzahl von Typen kategorisiert. An dieser Stelle sollen diese prototypi- <?page no="193"?> E REIGNIS ALS KOMPLEXES G ANZES …( DEUTSCH - UNGARISCHER V ERGLEICH ) 183 schen konzeptuellen Muster (Ereignisschemata) kurz erörtert werden. Dabei stellt sich heraus, welche begrifflichen Einheiten (semantische Teilnehmer) auf konzeptueller Ebene in einem komplexen Ereignis miteinander in Beziehung gesetzt werden können (Pörings/ Schmitz 2003). 3.1 Das Essivschema Das Essivschema referiert auf unterschiedliche Arten des Seins: (4) a) Die große Fläche auf der Karte ist die Tiefebene. b) Der Balaton ist ein See. c) Debrecen ist in Ostungarn. d) In Österreich gibt es viele Wälder. e) Der Balaton ist nicht tief. Teilnehmerrollen sind in den Beispielsätzen: Identifikation (a), Kategorisierung (b), Ortsangabe (c), Existenzbehauptung (d) oder Zuschreiben einer Eigenschaft (e). Der nicht aktive Hauptteilnehmer des Sein-Schemas erscheint jeweils als Patiens, der zweite Teilnehmer als Essiv. 3.2 Das Vorgangsschema Durch ein Vorgangsschema wird eine konzeptuelle Einheit mit einem momentan stattfindenden Prozess in Beziehung gesetzt. (5) a) Es donnerte die ganze Nacht. b) Der Ball flog ins Tor. c) Die Suppe kocht. d) Meine Großmutter ist vor zwei Wochen gestorben. e) Der Hund bellt. Die in diesem Prozess eingebundene konzeptuelle Einheit nimmt die Rolle des Patiens ein. Es stellt sich dabei die Frage nach dem Grad der Autonomie des Patiens im Prozess. Die Autonomie-Skala kann in den Beispielsätzen von a bis e verfolgt werden. Die Teilnehmer tragen aber nicht selbst zu der Energie bei, die während des Prozesses entsteht, sie sind vielmehr vom Prozess betroffen. Das Patiens ist in den Beispielsätzen ein meterorologische Phänomen (a), leblose Objekte (b, c), Mensch (d) oder Tier (e). Es drückt im Beispielsatz (a) eine physikalische oder anthropologische Lage aus, es kommt im Beispielsatz (b) durch einen Energieanstoß ins Rollen, die Energie ist im Satz (c) mitgedacht. Im Beispielsatz (d) wird das Patiens als Organismus dargestellt, der unterschiedlichen Prozessen unterliegen kann, Beispiel (e) zeigt einen angeborenen Reiz-Reaktions-Reflex, wobei der Hund viel autonomer erscheint als z. B. der Ball (b), die Suppe (c) oder die Großmutter (d). Die Energie des Hundes (e) wird aber stärker wahrgenommen als die des Patiens im Beispiel (d) oder (c). 3.3 Das Handlungsschema Die in ein Handlungsschema eingebundene konzeptuelle Einheit bestimmt die Quelle der aufgebrachten Energie und damit erscheint in erster Linie ein menschliches Agens als Ausführender einer Handlung als Hauptteilnehmer. Das Agens führt aus eigenem Antrieb <?page no="194"?> J ÓZSEF T ÓTH 184 die Handlung durch, es spielt die Rolle des Agens als Ursprung der Energie, die auf ein Patiens (zweiter Teilnehmer) übertragen wird. (6) (a) Das Kind badet in der Badewanne. (b) Norbert liest den ganzen Abend. (c) Er liest die Geschichte eines berühmten Physikers. (d) Er schreibt ein neues Buch. (e) Am Abend zerbrach er das Glas. Die Energie erscheint im Satz (a) und (b) in der Handlung selbst, in (a) ist kein Objekt möglich, in (b) wird es impliziert. In Satz (c) ist das Objekt betroffen, in Satz (d) entsteht dagegen ein neues Objekt. In Satz (e) wird die Energie auf ein Patiens übertragen, das vernichtet wird. 3.4 Das Erfahrungsschema Mit einem Erfahrungsschema konstruieren wir, wie der Mensch den menschlichen Kontakt mit der kulturellen und natürlichen Umgebung und Umwelt mental verarbeitet. Es geht dabei um körperliche, soziale und kulturelle Erfahrungen. Der Hauptteilnehmer ist in einem Erfahrungsschema weder passiv noch aktiv, er ist als Erfahrungszentrum oder als Experiens zu bezeichnen, das mentale Erfahrungen wie Wahrgenommenes, Gedanken, Gefühle, Wünsche etc. registriert und verarbeitet. Als zweiter Teilnehmer tritt entweder ein konkretes Objekt (a) oder eine abstrakte Denkeinheit mit einem Ereignisschema (b-d) auf. Die zweite Teilnehmerrolle in einem Erfahrungsschema wird also mit einem Patiens besetzt, das von keiner Energieeinwirkung betroffen ist. (7) (a) Das Mädchen sieht eine Spinne. (b) Es weiß, das sie auch gefährlich sein kann. (c) Trotzdem will es sie mit der Hand packen. (d) In wenigen Minuten spürt es einen stechenden Schmerz. 3.5 Das Besitzschema Das Besitzschema hat mehrere Erscheinungsformen: (8) (a) Mein Onkel hat ein nagelneues Auto. (b) Peter hat in der Klasse immer die interessantesten Gedanken. (c) Der Arzt hat Grippe. (d) Dieses alte Auto hat nur drei Räder. (e) Mein Cousin hat eine hübsche Schwester. Als Prototyp gilt hier ein menschlicher Besitzer (a), der ein Objekt besitzt (a). Der Hauptteilnehmer kann neben einem menschlichen Besitzer (a-c, e) auch Nichtmenschliches (d) sein. In der Rolle des zweiten Teilnehmers (Patiens) erscheinen entweder eine mentale Entität (b), eine Betroffenheit (c), ein Ganzes mit seinen Teilen (d) oder ein Mitglied einer Kategorie (e). Es geht auch beim Besitzschema nicht um eine Energieübertragung zwischen dem Besitzer und dem Patiens. <?page no="195"?> E REIGNIS ALS KOMPLEXES G ANZES …( DEUTSCH - UNGARISCHER V ERGLEICH ) 185 3.6 Das Bewegungsschema Das Bewegungsschema ist viel komplexer als die bisherigen Schemata, weil es eine Kombination aus mehreren Schemata darstellt. Es wird maximal aus drei Punkten gebildet, aus einem Ursprung, einem Weg und aus einem Ziel. Im ersten Punkt beginnt der Prozess oder die Handlung, im zweiten erscheint der Weg, der zurückgelegt wird, und im dritten das Ziel, worauf der Prozess oder die Handlung hinausläuft. Es handelt sich hier um eine mögliche Kombination aus einem Vorgangsschema oder aus einem Handlungsschema mit den erwähnten Punkten. (9) (a) Das Benzin ist aus dem Tank auf den Boden übergelaufen. Vorgangsschema + Ursprung - Ziel (b) Der Junge kletterte vom Hof aus die Dachrinne hinauf auf den ersten Stock. Handlungsschema + Ursprung - Weg - Ziel (c) Die Studententage gingen von 5 Uhr mittwochnachmittags an die ganze Nacht hindurch bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Beginn - Dauer - Ende (d) Die Programmierer programmierten von abends um 8 bis morgens um 9. Handlungsschema + Beginn - Ende Wie Beispiel (a) zeigt, wird ein Vorgangsschema im räumlichen Sinne auf einen Ursprung und dann auf ein Ziel übertragen. In (b) wird das Handlungsschema im räumlichen Sinne nicht nur auf Ursprung und Ziel bezogen, sondern auch noch auf den Weg dazwischen ausgedehnt. Das zeitliche Bewegungsschema (c) besteht aus der Kombination aus einem Vorgangsschema mit den Punkten Beginn, Dauer und Ende, in (d) aus der Kombination aus einem Handlungsschema mit den Punkten Beginn und Ende. Im Bewegungsschema stehen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen im Vordergrund, deshalb können sie auch unabhängig voneinander ausgedrückt werden: (10) (a/ 1) Das Benzin ist aus dem Tank übergelaufen. Vorgangsschema + Ursprung (a/ 2) Das Benzin ist auf den Boden übergelaufen. Vorgangsschema + Ziel (b/ 1) Der Junge kletterte vom Hof aus auf den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Ursprung - Ziel (b/ 2) Der Junge kletterte die Dachrinne empor auf den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Weg - Ziel (b/ 3) Der Junge kletterte auf den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Ziel (c/ 1) Die Studententage gingen von 5 Uhr mittwochnachmittags an bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Beginn - Ende (c/ 2) Die Studententage gingen die ganze Nacht hindurch bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Dauer - Ende (c/ 3) Die Studententage gingen bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Ende (c/ 4) Die Studententage gingen von 5 Uhr mittwochnachmittags. Vorgangsschema + Beginn (d/ 1) Die Programmierer programmierten von abends um 8. Handlungsschema + Beginn <?page no="196"?> J ÓZSEF T ÓTH 186 (d/ 2) Die Programmierer programmierten bis morgens um 9. Handlungsschema + Ende Pörings und Schmitz (2003) stellen richtig fest, dass eine Hierarchie für das Ursprung- Weg-Ziel-Schema gilt. Das Ziel ist viel wichtiger als der Ursprung und Urspung sowie Ziel sind viel wichtiger als der Verlauf. Teilnehmer in Teilnehmerrollen sind Agens, Patiens und Ziel. 3.7 Das Übertragungsschema Auch im Übertragungsschema werden verschiedene Schemata kombiniert; und zwar entweder das Besitzschema und das Vorgangsschema oder das Handlungsschema und das Bewegungsschema. Das Übertragungsschema impliziert zwei Zustände: einen Anfangszustand und einen Ergebniszustand, die sich an folgenden Beispielen erklären lassen: (11) (a) Der Professor hat seiner Assistentin die Tischvorlage gegeben. (b) Der Professor hat die Tischvorlage an seine Assistentin weitergeleitet. (c) Nur weiß ich nicht, welche Farbe ich dem Wohnzimmer geben soll. In (a) besitzt der Professor die Tischvorlage (Anfangszustand) und gibt sie an die Assistentin (Ergebniszustand), so dass sie schließlich im Besitz der Assistentin ist. Der erste Teilnehmer ist in diesem Fall das Agens und die zweite Teilnehmerin ist die Empfängerin (die neue Besitzerin), in deren Besitz die Tischvorlage ab jetzt ist. Als dritter Teilnehmer erscheint das Patiens. In (b) ist die Assistentin die Besitzerin, die die Tischvorlage nur vorübergehend besitzt. Im abstrakteren Beispiel (c) erscheint das Wohzimmer in der semantischen Rolle des Empfängers. 4 Einordnung unterschiedlicher Arten von Ereignissen anhand von Ereignisschemata im Ungarischen 4.1 Das Essivschema im Ungarischen Der Zustand des Seins wird auf konzeptueller Ebene auch im Ungarischen auf die gleiche Weise ausgedrückt. (12) a) A nagy felület a térképen az alföld. b) A Balaton egy tó. c) Debrecen Kelet-Magyarországon van. d) Ausztriában sok erd van. e) A Balaton nem mély. Die Teilnehmer in Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: Identifikation (a), Kategorisierung (b), Ortsangabe (c), Existenzbehauptung (d) oder Zuschreiben einer Eigenschaft (e). Als nicht aktiver Hauptteilnehmer des Sein- Schemas erscheint das Patiens, als zweiter Teilnehmer das Essiv. 4.2 Das Vorgangsschema im Ungarischen Der momentan stattfindende Prozess wird auch im Ungarischen offensichtlich durch ein Vorgangsschema konstruiert. Die Autonomie-Skala ist im Deutschen und im Ungarischen die gleiche. <?page no="197"?> E REIGNIS ALS KOMPLEXES G ANZES …( DEUTSCH - UNGARISCHER V ERGLEICH ) 187 (13) a) Egész éjjel dörgött az ég. b) A labda a kapuba került. c) A leves forr. / A leves f . d) Nagymamám két hétel ezel tt meghalt. e) A kutya ugat. Die Teilnehmer in Teilnehmerrollen der ungarischen Beispielsätze entsprechen denen im Deutschen. Als Hauptteilnehmer des Vorgangsschemas erscheint auch im Ungarischen das Patiens. 4.3 Das Handlungsschema im Ungarischen Die Handlung wird auf konzeptueller Ebene auch im Ungarischen auf die gleiche Weise ausgedrückt. Auch im Ungarischen kann man beide Extreme des Handlungsschemas (a) und (e) mit den jeweiligen Zwischenstufen (b), (c), (d) beobachten. In (a) ist kein direktes Objekt möglich, Satz (b) impliziert auch im Ungarischen ein Objekt, d.h. ein Buch oder eine Zeitung. Im Gegensatz zu Satz (d), in dem ein neues Objekt entsteht, erscheint in Satz (c) auch im Ungarischen ein Objekt, das von der Handlung betroffen ist. In Satz (e) ist das Objekt obligatorisch und es wird auch im Ungarischen vernichtet. (14) (a) A gyerek a kádban fürdik. (b) Norbert egész este olvas. (c) Egy ismert fizikus történetét olvassa. (d) Új könyvet ír. (e) Este eltörte a poharat. 4.4 Das Erfahrungsschema im Ungarischen Die Struktur des Ereignisschemas auf der konzeptuellen Ebene sowie die Teilnehmer und die Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: (15) (a) A kislány lát egy pókot. (b) Tudja, hogy az veszélyes is lehet. (c) Mégis meg akarja fogni a kezével. (d) Néhány perc múlva szúró fájdalmat érez. Das Patiens ist auch im Ungarischen nicht von irgendeiner Energieeinwirkung betroffen. 4.5 Das Besitzschema im Ungarischen Neben dem (menschlichen) Besitzer treten auch im Ungarischen ein beweglicher oder übertragbarer materieller (a) oder ein mentaler (b) Besitz, eine Betroffenheit von einer Krankheit, eine Teil-Ganzes-Relation (c) oder Verwandschaftsbeziehungen (d) auf: (16) (8) A nagybácsimnak vadonatúj autója van. (a) Péternek vannak az osztályban mindig a legérdekesebb gondolatai. (b) Az orvos influenzás. (c) Ennek a régi autónak csak három kereke van. (d) Az unokatestvéremnek csinos lánytestvére van. <?page no="198"?> J ÓZSEF T ÓTH 188 Das Besitzschema wird auf konzeptueller Ebene auch im Ungarischen auf die gleiche Weise ausgedrückt. 4.6 Das Bewegungsschema im Ungarischen Das Bewegungsschema referiert auch im Ungarischen auf drei mögliche Punkte (Ursprung - Weg - Ziel) und weist so auf konzeptueller Ebene die gleiche Struktur auf: (17) (a/ 1) A benzin kifutott a tankból. Vorgangsschema + Ursprung (a/ 2) A benzin kifutott a földre. Vorgangsschema + Ziel (b/ 1) A fiú az udvarról mászott fel az els emeletre. Handlungsschema + Ursprung - Ziel (b/ 2) A fiú az ereszen mászott fel az els emeletre. Handlungsschema + Weg - Ziel (b/ 3) A fiú felmászott az els emeletre. Handlungsschema + Ziel (b/ 4) A fiú az udvarról mászott fel. Handlungsschema + Ursprung (c/ 1) A diáknapok szerda délután 5 órától péntek 11 óráig tartottak. Vorgangsschema + Beginn - Ende (c/ 2) A diáknapok egész éjjel tartottak péntek 11 óráig. Vorgangsschema + Dauer - Ende (c/ 3) A diáknapok péntek 11 óráig tartottak. Vorgangsschema + Ende (c/ 4) A diáknapok szerda délután 5 órától tartottak. Vorgangsschema + Beginn (d/ 1) A programozók este 8 órától programoztak. Handlungsschema + Beginn (d/ 2) A programozók reggel 9 óráig programoztak. Handlungsschema + Ende Für das Ursprung-Weg-Ziel-Schema gilt auch im Ungarischen das Ziel-vor-Ursprung- Prinzip. Im Ursprung-Weg-Ziel-Schema erscheinen auch im Ungarischen als Hauptteilnehmer ein Agens und als weitere Teilnehmer ein Patiens bzw. ein Ziel. Auch im Ungarischen erscheinen als Hauptteilnehmer ein Agens und als weitere Teilnehmer ein Patiens bzw. ein Ziel. 4.7 Das Übertragungsschema im Ungarischen Die Struktur des Übertragungsschemas auf der konzeptuellen Ebene sowie die Teilnehmer und die Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: (18) (a) A professzor odaadta a tanársegédjének a kiosztmányt. (b) A professzor továbbította tanársegédjének a kiosztmányt. <?page no="199"?> E REIGNIS ALS KOMPLEXES G ANZES …( DEUTSCH - UNGARISCHER V ERGLEICH ) 189 In Beispiel (c) wird das Übertragungsschema im Ungarischen sprachlich anders wiedergegeben: (c) Csak azt nem tudom, hogy milyen színre fessem a nappalit. 5 Schlussgedanken und Ausblick Im Kapitel 3 und 4 wird ersichlich, dass die Einordnung von Ereignissen im Deutschen und Ungarischen anhand von Ereignisschemata möglich ist und die Teilnehmer in den Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze denen der ungarischen Sätze entsprechen. So kann eindeutig festgestellt werden, dass es keine gravierenden Unterschiede in beiden Sprachkulturen auf konzeptueller Ebene im Bereich der untersuchten Konzepte gibt. Im Mittelpunkt weiterer Forschungsarbeit steht, wie die Ereignistypen in der deutschen und ungarischen Sprache realisiert werden, d.h. welche sprachlichen Elemente des Satzes (Satzmuster, Wortstellung, Verankerungelemente etc.) uns helfen, das Ereignis in Bezug auf Faktoren des Sprechens wie Sprecher, Hörer, Ort, Zeitpunkt und weitere Bedingungen zu positionieren. Ein Satz stellt nämlich ein sowohl konzeptuell wie auch sprachlich in sich abgeschlossenes Ganzes dar. Es sollte auch untersucht werden, wie diese Schemata sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können. Literatur Engelberg, Stefan (1994): Ereignisstrukturen. Zur Syntax und Semantik von Verben. Wuppertal (= Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 282 „Theorie des Lexikons“, Nr. 60). Engelberg, Stefan (1995a): Event Structure and the Meaning of Verbs. In: Bærentzen, Per (Hrsg.): Aspekte der Sprachbeschreibung. Akten des 29. Linguistischen Kolloquiums, Århus 1994, 37-41. Tübingen: Narr. Engelberg, Stefan (1995b): Event Structure and Lexical Semantics. Paper Presented at SCIL, VII, University of Connecticut, Storrs, April 1995. Engelberg, Stefan (2000): Verben, Ereignisse und das Lexikon. Tübingen: Niemeyer (= Linguistische Arbeiten 414). Halász, ElÊd/ Földes, Csaba/ Uzonyi, Pál (1998): Német-magyar nagyszótár. Deutsch-ungarisches Großwörterbuch. Budapest: Akadémiai Kiadó. Kiefer, Ferenc (2000): Jelentéselmélet. Budapest: Corvina. Kiefer, Ferenc (2006): Aspektus és akciómin ség különs tekintettel a magyar nyelvre. Budapest: Akadémia Kiadó. Pörings, Ralf/ Schmitz, Ulrich (Hrsg.) ( 2 2003): Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung. Tübingen: Narr. Pustejovsky, James (1988): The Geometry of Events. In: Tenny, Carol (ed.): Studies in Generative Approaches to Aspect, 19-39. Cambridge MA: MIT (= Lexikon Project Working Papers 24). Pustejovsky, James (1991): The Syntax of Event Structure. In: Cognition 41, 47-81. 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In: Pohl, Inge (Hrsg.): Semantische Unbestimmtheit im Lexikon. Frankfurt am Main u.a.: Lang, S. 347-358. <?page no="201"?> Coherence Relations: Coherent Continuation Moves and Functional-Pragmatic Coherence in Oral Accounts of Experience Bärbel Treichel 1 Introduction Sentences rarely occur in isolation; they are connected to form texts. Coherence is the phenomenon most prominently made responsible for textuality. Linguists interested in grammar beyond the sentence level look at cohesion and coherence to describe the relationships of grammatical, semantic and functional units in a text. Some of the phenomena made responsible for the connectivity of texts fall outside the domain of grammar and the benefit of some syntactic devices can only be appreciated if they are put into a larger perspective (Crystal 2003: 232). While textlinguistics has done much to identify aspects of connectivity in larger semantic and functional segments and in entire texts with respect to the communicative situation in which they occur, there is a tendency in more structurally oriented cohesion research to primarily consider small scale structural phenomena in individual or adjacent utterances. This article tries to combine large scale and small scale considerations, in that it looks at semantic and pragmatic connectivity of larger segments of talk and at how such connectivity is realized on the surface level of discourse by means of choices among cohesive devices. To be more precise, this article analyses functional-pragmatic connectivity in terms of coherence relations and at the same time looks at the distribution of cohesive conjunctives, which structurally support the creation of functional units. The analysis is based on autobiographical accounts of experience as assessed through narrative interviewing. Having in mind the data coherence research and narrative analysis in linguistics are usually concerned with, narrative interviews are a more comprehensive discourse type. It has its own particular demands on coherence and cohesion research and it provides for interesting insights for linguistic analyses. 2 Coherence or cohesion? How words, sentences, and utterances “cohere” has been a topic of analysis in a vast variety of studies, either based on text or talk, on invented examples, on data from natural communication or elicited in experimental settings. In all those studies, the distinction between coherence and cohesion has never been a clear-cut one; it fundamentally depends on the theoretical position of the analyst. For de Beaugrande and Dressler (1981), cohesion comprises linguistic procedures for the creation of textuality realized through the surface elements in texts; coherence depends on conceptual connectivity through elements of knowledge. In a similar vein, Halliday and Hasan (1976) define cohesion as a text-internal property, and they look at the structural resources that English has for creating texture in terms of cohesive relations. In their analysis they distinguish between grammatical cohesion (reference, substitution, ellipsis, conjunction) and lexical cohesion (reiteration, collocation) as parts of the explicit level of cohesion. Conjunction is treated as a borderline phenomenon that is mostly grammatical but has also lexical components in it. Halliday and Hasan (1976) define cohesion as a semantic relation realized through the lexicogrammatical system. <?page no="202"?> B ÄRBEL T REICHEL 192 The difficulty in answering the question as to whether connectivity resides inside or outside texts is all the more evident, when lexical cohesion is looked at. Halliday and Hasan (1976) distinguish between exophoric or situational reference and endophoric or textual reference. In her study on lexical cohesion in English text and talk, Tanskanen (2006) picks up and refines Halliday and Hasan’s notion of lexical cohesion. Although she basically agrees with positions that see cohesion as a matter of grammar and lexis inside texts and coherence as a result of a dialogue between text and recipient, she concedes that an analysis of lexical cohesion necessarily has to do with experiential meaning and therefore with context outside the text proper. Although many researchers try to draw the line very rigorously between cohesion and coherence and although they put a lot of effort into locating their analyses strictly inside the confines of the text, some of their choices necessarily appear artificial. In this paper I am looking at a particular group of cohesive devices which Halliday and Hasan (1976) call cohesive conjunctives. They figure among grammatical cohesion, and they serve to establish connectivity across utterances by means of conjunction. They do, however, not reveal the full range of their cohesive potential in a straight syntagmatic analysis. Cohesive conjunctives serve to group together functional units, and, when judged as to their cohesive potential, they point well beyond segmental boundaries and allow conclusions as to the experiential content of entire texts. In my view a look at cohesive devices necessarily leads to considerations of coherence. 2.1 Cohesive range Tanskanen (2006) states that the text forming properties of lexis are very strong, because lexical items can be linked with more than one other item. Whenever studies of cohesion are not only directed towards adjacent structures, as it is often done in strictly grammatical studies, larger unified patterns emerge which are connected by means of cohesive devices. Cohesive elements can form cohesive chains, as in pronominalization, and the distance between chained pronouns and their content noun can be rather vast. It depends on the particular genre, which has its own characteristic distribution of cohesive ties, whether cohesive harmony can still be felt with extended cohesive chains and distance between cohesive elements (cf. also Taboada (2004) for a contrastive analysis of cohesive chains in English and Spanish oral dialogues). Also, discourse markers were looked at as signifying devices to indicate larger conceptual or functional units. Schiffrin defines discourse markers as “sequentially dependent elements which bracket units of talk” (1987: 31). She sees her analysis of such small functional words as well, now, and, oh as “part of the more general analysis of discourse coherence - how speakers and hearers jointly integrate forms, meanings, and actions to make overall sense of what is said” (1987: 49). In their work on what they call second level discourse markers, Bührig and House (2007) look at the structuring function of expressions like simply put, in fact, in today’s terms. Since such linking constructions do not only act locally but have an organizing function on the more global level, Bührig and House say that they permit insights into the overall plan of the discourse. 2.2 Coherence relations Agar and Hobbs (1982) argue that grammatical coherence phenomena may be secondary to textual coherence. When looking at the text as a semantic unit, there may be other <?page no="203"?> C OHERENCE R ELATIONS … IN O RAL A CCOUNTS OF E XPERIENCE 193 intratextual relations than those mentioned by Halliday and Hasan (1976), which they call coherence relations. These account for connectivity on the functional-pragmatic level. Coherence relations connect functional segments in a text to each other and to the communicative goal the text has as a whole. Agar and Hobbs used ethnographic interviews (Agar 1996) as the empirical basis for their theorizing. Ethnographic interviews are a particular type of emprirical data that displays meaningful communication in a deeper sense. It is therefore not surprising that functional-pragmatic considerations become so important. Agar and Hobbs where interested in the analysis of the communicative work to be performed in order to relate parts of the discourse to the entire product. Coherence as described by Agar and Hobbs is a strong form of relationship between the segments of a text. It is stronger than what Grice termed relevance and produces a tighter texture than could be described by the term understandable. Of course, each text displays parts that are related more closely to each other than other parts; Agar and Hobbs talk about islands of coherence. Agar and Hobbs distinguish between global, local and themal coherence, with global coherence representing the goal structure of a text, local coherence reflecting coherent continuation moves and themal coherence standing for recurrent themes originating in culture and genre considerations. Much of the work which picks up coherence relations comes from computational linguistics. I prefer to go into the other possible direction as suggested by the research framework and follow up the ethnographer Agar’s reflections on the ethnographic interview as a particular discourse type. I would like to work on the genre characteristics of the narrative interview and explore its potential for coherence relations research. Following Agar and Hobbs to a certain extent, I have formulated a small (though not complete) list of coherence relations, which I have developed from analyses of autobiographical narrative interviews, taking into account research in pragmatics, conversation analysis and interactional sociolinguistics. I think it is very important to account for the coherence of discourse also on the pragmatic level of connectivity between segments of speech and on the socio-cultural level of recurrent themes and styles of presentation. 3 Cohesive conjunctives and functional-pragmatic connectivity The data excerpts I am looking at in this paper are from autobiographical narratives as assessed through narrative interviewing. Narrative analysis in linguistics mostly uses for its analyses episodic narratives which are embedded within other communicative genres. Narrative interviews of biographical experience produce a different set of data: They have as their products very comprehensive narratives, which refer to entire biographies. Such an autobiographical extempore narration consists of individual stories which are connected to form larger narrative segments, and the narrative as a whole unifies its component parts. It is among the concerns of this paper to discuss how the concatenation of such segments on various levels of textual organization may be reflected in particular choices on the structural level. 3.1 Data analysis The autobiographical narratives are from people from Wales in Great Britain. While telling their life stories, they talk a lot about language and culture contact, individual and <?page no="204"?> B ÄRBEL T REICHEL 194 collective identities and about the tensions between the Welsh Welsh and the English Welsh society in Wales (Treichel 2004). As the communicative genre suggests, autobiographical narrative is largely structured through temporal sequence, and there is the general organizing scheme of biography. Narrators may be engaged in a variety of side sequences, but when their life is told as a story, they come back to their kernel narrative and biography. In example (1) the narrator reestablishes the story telling frame (1a) until he can continue his kernel narrative in (1b). (1) a. (4) ehm (2) now I think I’ve gone quite a way I should I’ve gone off at a tangent probably now but (.) er (2) when I as I go back to to through my life histories probably\ b. when I graduated at 21 (2) erm (.) I was lucky in a sense that I am able to work in the public sector to to local government\ (Arwel) As one can conclude from the speech pause and self-correction pattern in (1), the narrator takes a break to reorganize his account, and he comes back to the temporal unfolding of his life story, using when as a temporal conjunction in the last part in when I graduated at 21. Also, the narrator has a notion of expansion: In the foregoing part of his account he has given quite a long argument on some political issue. This he counts as some sort of digression from the skeleton of narrative production, and he comes back to what he considers his main story line. When producing autobiographical accounts, narrators have a sense of major communicative tasks and side sequences. Side sequences have important functions in securing the narrator’s explanatory framework. Even though they often appear rather disconnected, they are building blocks of coherence. With regard to their communicative function and following Agar and Hobbs (1982), I would like to see them as coherent continuation moves and call the phenomenon the expansion relation. I would like to continue with the discussion of the data segment and have a look at how it is linguistically embedded. In this respect, there is more to say about its coherence and structural cohesion. In terms of content, the narrator is concerned with issues as to in what sense the Welsh have a separate cultural identity. (2) a. A RGUMENTATION ON L ANGUAGE AND I DENTITY (.) er there is a difference\ [...] (.) and it’s not just a language (.) er (2) our values are no better than anybody else’s but but but but ou the language we use in a sense er reflects the fact that we do think differently about lots of other lots of issues and (.) erm\ and I think the kind of issues that chap was talking about yesterday\ but the reticence of other students we have is reflection of our culture as well and this is why in a sense erm (2) er it is difficult for us to to utterly sustain it because it’s not it’s not is not natural for us to be assertive\ (.) b. M ETACOMMENT (4) ehm (2) now I think I’ve gone quite a way I should I’ve gone off at a tangent probably now but (.) er (2) when I as I go back to to through my life histories probably\ <?page no="205"?> C OHERENCE R ELATIONS … IN O RAL A CCOUNTS OF E XPERIENCE 195 c. M AIN S TORY L INE when I graduated at 21 (2) erm (.) I was lucky in a sense that I am able to work in the public sector to to local government\ (Arwel) As Halliday and Hasan (1976) describe, conjunction is a strong cohesive relation, and it is part of grammatical cohesion. The three functional segments in (2) can be formally distinguished through different choices of conjunctive cohesives. In (2a), and works as a conjunctive cohesive; it groups together the two arguments (not just a language issue plus issues somebody else mentioned). And this is why connects and distinguishes the conclusion from the arguments. The major proposition there is a difference is formulated with zero conjunctive. So we can say that the additive and as a conjunction integrates the elements in (2a), and it appears in different variations. In (2c), the temporal frame of the main narrative is reestablished by means of the temporal conjunction when and the narrator’s return to narrative past tense. The metacomment in (2b) has different tenses, and it uses now as a deictic (cf. Halliday and Hasan 1976: 268). Both features establish functional distinction of this functional segment. By means of the deictic now, coherence is established with the communicative situation. Also, now as a deictic opens up a new stage in the communication process. Now is called by Halliday and Hasan a conjunctive item that works as a continuative. Cohesion is created on the level of discourse organization rather with respect to the event structure. Whereas when in (2b) works as a conditional conjunction, when in (2c) works as a temporal conjunction. So we have cohesive unity by means of cohesive conjunctives, which group together utterances of the same function (e.g., and in [2a]). Aditionally we have two types of continuity: continuity with the events and circumstances being talked about and continuity with the current communication process. The current communication process is highlighted through a metacomment and structurally marked through the deictic now. Some expansions occur more as ruptures, and they are marked as such: (3) a. M AIN S TORY L INE and then I transferred to the grammar school erm and in the grammar school the Welsh speakers were very much the minority er less less I would say than five per cent er and so during my teenage years b. B ACKGROUND C ONSTRUCTION erm I think it should be said that both my sister and I were twins well I have an identical sister that if you meet her and say hello to her she will ignore you but it won’t be me she is identical\ c. M AIN S TORY L INE and er we we: changed\ we deliberately I think in our in our teenage days identified with English culture\ (Bethan) Again, we have cohesive unity through the additive and as a conjunctive, and again we have additive temporal, narrative, and causal relations, which work across parts (3a) and (3c). Also, the main story line (3a) and (3c) is made coherent by means of temporal unity in its narrative parts. Part (3b) begins with zero conjunctive and a metacomment (I think it should be said), both serving as means to set it off from the main story line. The conjunctive and-relation is cohesive in that it creates a sense of succession and continuity, which is very typical for narrative discourse. Unlike in its coordinate function, <?page no="206"?> B ÄRBEL T REICHEL 196 the connected parts cannot be reversed in its order. In combination with so, the cohesion relation is turned into the conjunctive-causal type. We have this in (3a). In terms of the Thema-Rhema-structure (sometimes translated as theme-rheme or topiccomment), the informant talks about her teenage years as the topic of discourse, where she as a speaker of Welsh was very much in a minority position. Comment information is her identification with English culture at that time, which comes in the third part of her utterance. Also, there is a development in the subject position: While in the first part the informant talks about just herself, the third part is about her and her sister. Coreference, or to be more explicit: the resumption relation, does not function smoothly, but needs the middle segment to mediate. There is a rupture between the first and the second segment and coreference between the second and the third segment. The rupture is marked as such through a metacomment. In his account on experiential iconicism, Enkvist (1981) suggests that the linearity of discourse can stand for social relations. Social relations in this segment are difficult to introduce, but it is at this point important for the narrator to mention that she had her sister as a significant other, when she developed an English attitude. With the background construction (3b) in between the cohesive conjunctive and in and we changed (3c) indicates more than succession, but may be interpreted as of the conjunctive-causal type (in its unmarked form). - And this is actually how the informant had originally planned to proceed before she interrupted herself (3a: and so during my teenage years). Temporality, causality, sociality and spatial relations have to be expressed in the linear unfolding of a text. Enkvist (1981, 1986) talks about iconicity, and I would like to call this the iconicity relation. It is about making the text an icon of experience, and as the example demonstrates, it also works with respect to social relations. (3a) and (3b) are related through the iconicity relation, even though they are structurally very much set apart. The relevant social information has to be introduced for the sake of discursive and experiential continuity. I would like to present another example where a building block of coherence is inserted, again in order to provide some sort of social information. It appears rather disconnected structurally, since the resumption of lexical categories does not apply: we do not know what receiving university education has to do with Welshness. There is, however, cohesive and (additive narrative conjunction) in the beginning of (4b), and cohesive temporal conjunction and then in (4c). And again some sort of social information has to be integrated into the linearization process. (4) a. M AIN S TORY L INE so I took my 'A' levels and had to decide whether to go to University / b. B ACKGROUND C ONSTRUCTION and I feel very proud of being Welsh \ even though in Colwyn Bay I've never been accepted as being Welsh \ so it's quite frustrating because I have always lived in Wales - I was born here and I can speak the language \ but em someone from a Welsh speaking family from Colwyn Bay would´d would not accept me as Welsh \ because I've got an English accent / I've got English parents / and they just dismiss you as sort of trying to be Welsh but not managing \ <?page no="207"?> C OHERENCE R ELATIONS … IN O RAL A CCOUNTS OF E XPERIENCE 197 c. M AIN S TORY L INE and then I I moved down to Cardiff / because I wanted to stay in Wales / and Welsh there is really on the decline and hardly anybody speaks it (Tracy) In this excerpt, coherence is even more difficult to detect at first sight; one would assume relevance with Grice and find it coherent. The main story line (segments [4a] and [4c]) shows coherence through temporality. However, there is little more that the informant can go back to in her third segment from the first segment: The first segment does not say anything about Wales or the Welsh language, topics that seem to be important somehow for the third segment. The middle segment (4b) is about the informant’s inner attitude about her Welshness, what it means to her and how she is seen by others. It provides the missing link to motivate the informant’s decision for a South Walian university. The middle segment coheres with the main story line in terms of what I would like to call the reflexivity relation. I am drawing here from ethnomethodological theorizing on the communicative construction of categories. The narrator feels the need to say something very fundamental about Welshness, language, and identity, and on how these are related. As we learn from Assmann (1997), collective identity is reflexive belonging to a culture. The narrator in this segment creates the category of Welshness. She produces an inner argumentation which elaborates on the importance of the Welsh language for Welsh identity. It occurs at a point where further coherence work is necessary. The reflexivity relation produces a pattern that makes resumption possible, and this is how the third segment is connected to the reflection activity. The first segment (4a) coheres with the third segment (4c) through temporality; the middle segment (4b) coheres with the third segment (4c) through resumption. The middle segment (4b) stands in a reflexivity relation to the main story line ([4a] and [4c]), and it is needed to make resumption possible. Structurally, the middle segment (4b) is connected to the foregoing segment through the successive and as a cohesive device. Also, it is about the same I. 3.2 Coherence relations in autobiographical narrative In order to account for the functional-pragmatic level of text connectivity between functional segments, I would like to suggest a small number of coherence relations, which have emerged from the foregoing discussion. 3.2.1 Iconicity relation. Temporality can by expressed by grammatical markers of temporal sequence (e.g., tempus, sequence and frequency adverbs, such as before, first, already, always, often), by succession indicating and as cohesive device and combinations thereof. Also, temporality can be realized through mere linear sequence of statements without any trace on the grammatical surface of the text. Causality may be strongly marked through conjunctions, but there is also a weaker version of causality that can be inferred from the linear ordering. I would in principle follow Enkvist (1981, 1986) that the linear relations in a text stand for temporal, causal, spatial and social relations in the world of reference. And I have given an idea of the integration of social relations within the linear flow of narrative production that Enkvist could not give, because he concentrated on other communicative genres. <?page no="208"?> B ÄRBEL T REICHEL 198 3.2.2 Expansion relation. Topics in text and talk are not dealt with in a balanced fashion. Some are outlined in greater detail due to their importance to the major theme of discourse. In some instances, a speaker realizes only while talking that he or she has to elaborate on what was just said. He or she provides further descriptions or gives examples. Here the interactional character of meaningful discourse becomes particularly obvious: The author strives for clarification and designs his or her text with a recipient in mind. The recipient may not even become active and signal doubt, and sometimes, when narrative of past events turns into identity work, the author becomes the critical recipient of his or her own text. Agar and Hobbs (1982) have in their model such an expansion relation. 3.2.3 Reflexivity relation. The functional-pragmatic motivation of coherence relations becomes particularly obvious when reflexivity is concerned: Speakers or writers refer to the structure of outer events and inner experiences and discuss them from the perspective of their actual consciousness at the moment of text production. Sometimes they search for further clarification and for relevant categories which apply to their experience. Their search may become evident in their discourses for example through inner argumentation. The corresponding functional segments were termed background constructions in this paper. They serve as communicative means to bring to awareness features from the background of biographical and cultural belonging, which are otherwise taken for granted and not explicitly spelled out. As Assmann (1997) suggests, antagonisms are necessary for awareness work to set in, and awareness work may lead to a new sense of individual and cultural belonging, that is, identity. When using the reflexivity relation as an explanatory concept, I am drawing from interpretive sociology (Schütze 2002), biography analysis (Schütze 1983) and from ethnomethodology (Garfinkel 1967): Categories are communicatively constructed and made accountable in the process of narrative production. Social situations are produced by accounts, and accounts are part of social situations. 4 Coherence relations and cohesive conjunctives: Discussion Coherence in text and talk is created by means of grammatical, semantic and functionalpragmatic relations. Just as grammatical and semantic coherence, functional-pragmatic coherence relations have their structural counterparts on the linguistic surface of text production. In this paper I was looking at cohesive conjunctions and on how they develop their cohesive force on different levels of text constitution. While cohesion research has a tendency to primarily consider adjacent utterances in terms of cohesive structures, there is still work to be done with respect to more comprehensive communicative genres as to their component parts and cohesive relations. This paper is based on autobiographical narratives from narrative interviewing sessions, and an analysis has been presented on how conceptual and structural unity is established within and between segments on the functional-pragmatic level and on the level of cohesive conjunctives. Autobiographical narration is not simply an addition of individual stories. During narrative interviewing, an entire life course is to be narrated and the category of biography operates as an organizing scheme which guides the construction of the narrative. As a consequence, much tighter texture is produced in narrative interviewing than in just the narration and addition of individual episodes. Individual episodes are linearized, embedded within each other, connected to form larger segments and supersegmental connections, and <?page no="209"?> C OHERENCE R ELATIONS … IN O RAL A CCOUNTS OF E XPERIENCE 199 the organizing scheme of a biography unifies the entire product. Biography and identity are categories, which exist in scientific analysis as well as in everyday reasoning, and they have a role to play on the global level of narrative organization, that is, narrators pay attention to such larger categories as biography and identity when they organize their accounts. The iconicity relation, the expansion relation, and the reflexivity relation were discussed as instances of the creation of functional-pragmatic coherence in autobiographical accounts of experience. Also, it has been shown that there is a structural level on the linguistic surface of autobiographical narratives, which mirrors functional-pragmatic connectivity and transition. I was trying to illustrate how the distribution of cohesive conjunctives serves as an indicator for functional-pragmatic connectivity. Beside received usage of particular cohesive conjunctives, speakers have choices between alternative options. In the excerpts presented, parallel use of cohesive conjunctives signals parallel functional constructions; shifts in cohesive conjunctives (e.g., from zero conjunctive to and) signal shifts in functional constituents. A look at the distribution of cohesive conjunctives in autobiographical narrative accounts makes the identification of functional components less intuitive and more structurally bound. Appendix Key to transcription symbols: / \ intonation rising, falling, steady; : lengthened syllable; (.) (2) speech pauses short, in seconds; […] deletions; bold characters are markers for analytic purposes. References Agar, Michael & Jerry Hobbs (1982): Interpreting discourse. Coherence and the analysis of ethnographic interviews. In: Discourse Processes. 5, 1-32. Agar, Michael (1996): The professional stranger. An informal introduction to ethnography. San Diego: Academic Press. Assmann, Jan (1997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Bührig, Kristin & Juliane House (2007): “So, given this common theme …”: Linking constructions in discourse across languages. In: Jochen Rehbein, Christiane Hohenstein & Lukas Pietsch (eds.): Connectivity in grammar and discourse, Amsterdam: John Benjamins, 345-365. Crystal, David (2003): The Cambridge Encyclopedia of the English Language (2 nd ed). Cambridge University Press. De Beaugrande, Robert & Wolfgang Dressler (1981): Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer. Enkvist, Nils Erik (1981): Experiential iconicism in text strategy. In: Text. 1, 77-111. Enkvist, Nils Erik (1986): Linearization, text type, and parameter weighting. In: Jacob L. Mey (ed.): Language and Discourse: Test and protest. A Festschrift for Petr Sgall, Amsterdam: John Benjamins, 245- 260. Garfinkel, Harold (1984 [1967]): Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press. Halliday, M.A.K. & Ruqaiya Hasan (1976): Cohesion in English. London: Longman. Schiffrin, Deborah (1987): Discourse Markers. Cambridge University Press. <?page no="210"?> B ÄRBEL T REICHEL 200 Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis. 3, 283-293. Schütze, Fritz (2002): Das Konzept der sozialen Welt im symbolischen Interaktionismus und die Wissensorganisation in modernen Komplexgesellschaften. In: Inken Keim & Wolfram Schütte (eds.): Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 57-83. Taboada, Mariá Teresa (2004): Building Coherence and Cohesion. Task-oriented Dialogue in English and Spanish. Amsterdam: John Benjamins. Tanskanen, Sanna-Kaisa (2006): Collaborating towards Coherence. Lexical Cohesion in English Discourse. Amsterdam: John Benjamins. Treichel, Bärbel (2004): Identitätsarbeit, Sprachbiographien und Mehrsprachigkeit. Autobiographischnarrative Interviews mit Walisern zur sprachlichen Figuration von Identität und Gesellschaft. Frankfurt: Peter Lang. <?page no="211"?> Warum Diskursanalyse und warum Dispositivanalyse? Manfred Uesseler 0 Kurze Vorbemerkung Es ist mir Ehre und Bedürfnis zugleich, mit einem Beitrag dem Jubilar meine Glückwünsche zu übermitteln. Herzliche Glückwünsche sehr verehrter Herr Kollege! Es waren leider nur jeweils die Kolloquien, die uns zusammengeführt haben. Obwohl wir beide sicherlich sehr unterschiedlich in unserer Weltanschauung, doch weniger unserem Weltverständnis sind, habe ich mich immer gefreut, wenn wir uns trafen. Ich selbst bin für Veränderung und Verbesserung des Bestehenden, manchmal auch sehr resolut und unduldsam, auch bedingt durch persönliche Erfahrungen. In der Person von Wilfried Kürschner habe ich immer wieder den Wert des positiv Konservativen gesehen und schätzen gelernt. Persönlichkeit und Haltung haben mich beeindruckt. Ich wünsche dem Jubilar noch viele schöne und zugleich auch in wissenschaftlicher Hinsicht produktive Jahre und wünsche mir mit ihm weiterhin fruchtbare Diskussionen im Sinne der Wissenschaft und eines lebenswerten Daseins für alle auf unserem Planeten Erde. 1 Einleitende Bemerkungen Diskurs, Diskurstheorie, Diskursanalyse, sprachwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche Diskursanalyse und auch kritische Diskursanalyse gehören heute zu den viel benutzten Termini. Sie werden zwar immer noch unterschiedlich interpretiert, doch die Frage nach dem „Warum“, wird allenfalls am Rande gestellt und diskutiert. - Dispositivanalyse, Dispositivverfahren, ja sogar der Terminus Dispositiv, sind im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch mit der Ära nicht nur des Unbekannten, Nichtvertrauten, ja sogar eines gewissen Unbehagens verbunden. Schauen wir in Wörterbüchern und selbst Fremdwörterbüchern nach, dann findet man nach Disposition noch das dispositive Recht und dann ist man schon bei der Disproportion. Dispositiv? , die Eintragung fehlt! Das „Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus“ macht eine Ausnahme. Hier finden wir: Dispositiv: Wiedergabe des frz. Terms dispositif (von lat. dispono, disponieren, …). … Als D. bezeichnet Foucault nun eine Verfügungsstruktur von Institutionen, Praktiken und Diskursen ... (Haug 1995: 758). Später finden wir den Hinweis: Foucault verwendet den Begriff in der Analyse nicht terminologisch fixiert, so daß die Bedeutung von den Verwendungszusammenhängen des frz. Terms getragen wird. Le dispositif wird technisch verstanden als Anlage, Apparatur oder Mechanismus. ... In der antiken Rhetorik bezeichnet dispositio die Gliederung des thematischen Materials“ (Haug 1995: 758). Es erfolgt ein Hinweis auf Coseriu (1981: 164f.). In diesem Wörterbuch können wir zumindest einiges erfahren, das uns aber gleichzeitig darauf hinweist, dass zur Erklärung und zur Klärung des Dispositivs und der Dispositivanalyse noch einiges zu tun sein wird, denn es gibt nicht nur bei der Interpretation, sondern <?page no="212"?> M ANFRED U ESSELER 202 bei Foucault selbst eine ganze Reihe von Problemen, die nicht einfach gelöst werden können. Während der Begriff Diskurs und auch ein großer Teil der Wortverbindungen mit Diskurs schon beinahe inflationär gebraucht werden - und das in fast allen Bereichen, wird der Begriff dispositiv heute noch selten verwendet. Wenn er benutzt wird, dann gibt es eben viele unterschiedliche Interpretationen und auch beträchtliche Unklarheiten. Wie eben bemerkt, ist das auch verständlich. Ich will mich aus den genannten Gründen nachfolgend etwas intensiver mit dem Dispositiv und der Dispositivanalyse beschäftigen, denn ich bin der Auffassung, dass es hier einen beträchtlichen Klärungsbedarf gibt - auch und vielleicht gerade im Bereich der Sprachwissenschaft. Warum Dispositivanalyse? Es soll versucht werden, eine Antwort zu geben. Darüber hinaus soll vor allem auch die Verbindung zur Diskursanalyse erreicht und schließlich die Frage beantwortet werden, warum Diskursanalyse und Dispositivanalyse? 2 Zunächst zurück zu Foucault Foucault will aus dem Gewohnten des abendländischen Denkens historisierend heraustreten und schlägt darum ein neues Verfahren der Beschreibung vor, das er „Archäologie“ nennt, (vgl. Foucault 2008: 29). Damit verbunden ist die systematische Freilegung der Bezeichnungs- und Repräsentationsregeln, die ein „positives Unbewusstes des Wissens“ enthüllen soll (ebd. 15). In diesem Wollen ist auch der Ursprung des Begriffes Dispositiv zu sehen, mit dem ich mich nachfolgend auseinandersetzen will. Foucault macht deutlich, dass das, was von ihm als Dispositiv bezeichnet wird, immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben (ist), immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: an Grenzen des Wissens gebunden (ist), die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden . In der ‚Ordnung der Dinge’, wo ich eine Geschichte der Episteme schreiben wollte, bin ich in eine Sackgasse geraten. Jetzt dagegen will ich versuchen zu zeigen, dass das, was ich Dispositive nenne, ein sehr viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder eher, daß die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nicht diskursiv ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist (Foucault 1978: 123). Es geht also nicht nur um das aufgezeichnete Wissen (Episteme), sondern es geht darüber hinaus um den gesamten Wissensapparat. Das ist zunächst der Anspruch von Foucault (vgl. dazu auch Honneth/ Saar 2008: 1662). H. Bublitz (2006: 258), definiert das Dispositiv als „Macht-Wissens-Komplex heterogener Elemente“. Das ist eine Kurzdefinition, die jedoch nicht besonders hilfreich für Verstehen und vor allem Anwendung ist. Wir müssen schon noch weiter forschen. Wenden wir uns darum zum Verständnis für die Dispositivanalyse wieder den Schriften von Foucault zu. Er hebt für die Kennzeichnung des Dispositivs drei Aspekte hervor: Erster Aspekt: Das Dispositiv ist „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, regelmentierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen aufgespannt werden kann“ (Foucault 1978: 119f.). <?page no="213"?> W ARUM D ISKURSANALYSE UND WARUM D ISPOSITIVANALYSE ? 203 Zweiter Aspekt: Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. (...) Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wieder sehr unterschiedlich sein können (ebd.: 120). Dritter Aspekt: „Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von - sagen wir - Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“ (ebd. 120). Wichtig erscheint mir zunächst, dass es sich bei dem Dispositiv um erstens „ein entschieden heterogenes Ensemble“ handelt, (Foucault 1978: 119f.) und zweitens, dass das Dispositiv „ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen“ seiner Elemente impliziert (ebd. 120) und drittens „die strategische Funktion“ von Dispositiven und deren „positive oder negative, gewollte oder ungewollte Wirkung“ (ebd. 125) zu beachten ist. Des weiteren ist von Bedeutung, dass das Dispositiv von seiner „Genese“ (120) und „Funktion“ (119) als die „zu einem gegebenen Zeitpunkt“ erfolgte Antwort „auf eine Dringlichkeit (urgence)“ (120) sein könne. Es sollte an dieser Stelle schon darauf hingewiesen werden, dass Foucault den Anspruch hat, nicht eine „Theorie“, sondern eine „Analytik der Macht“ liefern zu wollen (Foucault 1977: 102 und ebenfalls 1978: 125f.). Diese Bemerkung ist wichtig, weil es in dieser Hinsicht häufig sehr kontroverse Auffassungen gibt, die jedoch an dieser Stelle nicht diskutiert werden können. Die drei eben genannten Aspekte sollen auch Grundlage für die weiteren Ausführungen sein. Die Definition von Bublitz, „Macht-Wissens-Komplex heterogener Elemente“, die wir durch die vorher genannten drei Aspekte ergänzt haben, bringt uns zu dem, das F OUCAULT wie folgt formuliert: „Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen aufgespannt werden kann“ (1978: 120). An anderer Stelle (1977: 92) heißt es „...ein feines Netz von Diskursen“, die sich um einen diskursiven Gegenstand sozusagen spannen. Die gewählte Metapher des Netzes für das Dispositiv, eben als Macht-Wissens-Komplex und seiner heterogenen Elemente, ist von großer Bedeutung für die Analyse, denn Vermehrung und Intensivierung des Wissens können auf dieser Basis jederzeit integriert werden. 3 Diskurs und Dispositiv interpretiert und analysiert Keller spricht davon, dass Diskurse auf zum Teil selbst entworfene Deutungs- und Handlungsprobleme antworten, die dazu eine entsprechende Infrastruktur der Problembearbeitung schaffen, welche in Anschluss an Foucault mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet werden kann (Keller 2006: 136). S. Jäger macht darauf aufmerksam, dass Diskurse keine eigenständig und unabhängig existierenden Phänomene sind, „sie bilden Elemente von und sind die Voraussetzung für die Existenz von sogenannten Dispositiven. Er formuliert darum weiter: „Ein Dispositiv ist der prozessierende Zusammenhang von Wissen, welches in Sprechen/ Denken - Tun - Vergegenständlichung eingeschlossen ist“ (S. Jäger 2006: 108). Halten wir fest, Tun geht über die Diskursanalyse hinaus. Für die Grundfigur des Dispositivs schlägt Jäger ein Dreieck bzw. einen rotierenden und historisch prozessierenden Kreis mit drei zentralen Durchlauf-Punkten bzw. Durchgangsstationen vor: <?page no="214"?> M ANFRED U ESSELER 204 1) Diskursive Praxen, in denen primär Wissen transportiert wird. 2) Handlungen als nichtdiskursive Praxen, in denen aber Wissen transportiert wird, denen Wissen vorausgeht bzw. das ständig von Wissen begleitet wird. 3) Sichtbarkeiten/ Vergegenständlichungen, die Vergegenständlichungen diskursiver Wissens- Praxen durch nichtdiskursive Praxen darstellen, wobei die Existenz der Sichtbarkeiten (‚Gegenstände’) nur durch diskursive und nichtdiskursive Praxen aufrechterhalten bleibt (S. Jäger 2006: 108). Jäger verweist auch auf die Festigkeit des Dispositivs, die jedoch immer historischen Veränderungen und ebenfalls einer ständigen Beeinflussung durch andere Dispositive unterworfen ist. Eine Dispositivanalyse mit dem prozessierenden Zusammenhang von Wissen, Handeln und Sichtbarkeiten als Gegenstand würde darum folgende Schritte absolvieren müssen: 1) Rekonstruktion des Wissens in den diskursiven Praxen, (...) wobei eine solche Analyse die Grundlage für die weiteren Analyseschritte einer Dispositivanalyse bildet, indem sie die Aufmerksamkeit auf die folgenden Aspekte des zu untersuchenden Dispositivs lenkt‚ etwa auf ‚weiße Flecken’ im Diskurs, wichtige dazugehörige ‚Sichtbarkeiten’ etc.. 2) Rekonstruktion des Wissens, das den nichtdiskursiven Praxen zugrundeliegt. 3) Rekonstruktion der nichtdiskursiven Praxen, die zu den Sichtbarkeiten / Vergegenständlichungen geführt haben, und des darin enthaltenen Wissens (S. Jäger 2006: 110). Keller macht auf den wichtigen Zusammenhang zwischen Diskurs und Dispositiv aufmerksam: „Durch die Dispositive greifen Diskurse in die Welt ein und erzeugen Wirkungen außerhalb des Diskurses. Dispositive sind die Mittel, durch die Diskurse die Welt und Wirklichkeit nach ihrem Bilde gestalten - oder dies zumindest versuchen“ (Keller 2006: 137). Es sei daran erinnert, dass der Gegenstand der Diskursanalyse empirische Formen sind. Diskurse bilden die Regeln ihrer Konstitution. Aus dieser Erkenntnis schließt Bublitz (2006: 236): Diskursanalyse ist dann nichts anderes, als die Regelhaftigkeit sozialer Realität ans Licht zu bringen; d.h., sie ist die Methode der Rekonstruktion der Regelhaftigkeit sozialer Wirklichkeit. Wir wissen, dass Diskurse nicht nur konstruktiven Charakter haben, sondern ihnen auch dekonstruktive Momente anhaften und Diskurse als soziale Wirklichkeit Machteffekte konstruieren. Bublitz folgert darum: Diskurse sind Konstrukte, die soziale Wirklichkeit konstruieren und sie werden auch in der methodischen Re-Konstruktion wieder konstruiert. Sie werden nicht einfach ‚vorgefunden’ und ‚erkannt’, sondern sie werden semantische Komplexe konstruierend und rekonstruierend, ‚erschlossen’. Die rekonstruierende Konstruktion von Diskursen erfolgt im ‚Element des Archivs’. Das bedeutet: Sie können nur insoweit konstruiert werden, als sie im ‚Archiv’ der Gesellschaft bereits vorhanden sind (ebd.: 239). Link sagt zum Dispositiv: Es handelt sich um ein spezifisches, historisch relativ stabiles Kopplungs-Kombinat aus einem spezifischen interdiskursiven Kombinat (‚horizontal’) sowie einem spezifischen Macht-Verhältnis (‚vertikal’)“ (Link 2006: 418). Weiterhin verweist er auf den Unterschied, den Foucault im Sinne der entscheidenden Innovation der „Genealogie“ gegenüber der „Archäologie“ macht: <?page no="215"?> W ARUM D ISKURSANALYSE UND WARUM D ISPOSITIVANALYSE ? 205 Gleichzeitig damit expliziert Foucault im Begriff des Dispositivs also die ‚vertikale’ Dimension der Sagbarkeit als Wissensmonopol monopolistischer Sprecher (Experten) - so wie er die subjektbildende Effektivität der Diskurse betont, was ebenfalls die ‚vertikale’ Dimension einschließt: (Link: ebd.). Link stellt ebenfalls deutlich heraus, dass in diesem Dispositivbegriff mindestens drei Aspekte betont und auch für den Diskursbegriff reklamiert werden, die bei der früheren Fassung (gemeint sind Foucaults Ausführungen in der Archäologie) nicht oder nicht in dem Maße berücksichtigt wurden: 1) die dominant subjektivierende, Subjekte konstituierende und formierende Macht der Diskurse (in der polemischen Rezeption als ‚Leugnung des Subjekts’ im Sinne eines konstituierenden Subjekts beredet); 2) die stärkere Betonung „nicht-diskursiver Praktiken“ (wobei Unklarheiten impliziert waren, die etwa von Laclau/ Mouffe (1991) kritisiert wurden); 3) die stärkere Betonung der ‚vertikalen’ sozialen Achse, d.h. der Stratifikation (wobei die genauen Regeln der Transformation und Kopplung zwischen Typen der Subjektivität, diskursiven Positionen und sozialen Gruppen bzw. Strata implizit und daher undeutlich blieben) (Link 2006: 419). Foucault geht von einem Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit aus. Im Dispositiv sind für ihn unterschiedliche Elemente vorhanden, die zwar miteinander verknüpft sind, doch gerade diese Verknüpfung macht - so hebt er hervor - das Dispositiv erst aus. Link spricht darum von einem spezifischen, historisch relativ stabilem Kopplungs-Kombinat, das aus einem spezifischen Macht-Verhältnis (‚vertikal’) besteht (vgl. Link 2006: 418). In der gleichrangigen Berücksichtigung der ‚vertikalen’ Macht-Dimension sieht er - wie schon bemerkt - die entscheidende Innovation des Foucault der „Genealogie“ gegenüber der „Archäologie“ und, dass damit Foucault im Begriff des Dispositivs die vertikale Dimension der Sagbarkeit des Experten und damit die subjektbildende Effektivität des Diskurses betont (vgl. ebd. 418). Die Diskursanalyse, erweitert zur Dispositivanalyse, kann das jeweils gültige Wissen der Diskurse bzw. der Dispositive ermitteln. Wissen und Macht werden so erkundet, analysiert und - was besonders wichtig ist - der Kritik unterzogen werden, denn das Dispositiv bedeutet das Zusammenspiel von Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen, also diskursiver Praxen, aber eben auch das von nicht-diskursiven Praxen, nämlich von Handeln auf der Grundlage von Wissen, von Sichtbarem und Vergegenständlichungen (vgl. Jäger 2006: 83f.). Eine besondere Hervorhebung erscheint mir an dieser Stelle gerechtfertigt. Noch einmal zurück zu Foucaults ersten Ausführungen zum Dispositiv: Schon in der „Archäologie des Wissens“ hatte Foucault deutlich gemacht, dass Diskurse „als Praktiken zu behandeln (sind), die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1988: 74). Nichtdiskursive Praxen spielen dennoch immer eine Rolle. Die Bedeutung der diskursiven Praxen sieht/ vermutet er ... irgendwie an der Grenze des Diskurses: sie bieten ihm die Gegenstände über die er reden kann, oder vielmehr (...) sie (gemeint sind die diskursiven Verhältnisse, M.U.) bestimmen das Bündel von Beziehungen, die den Diskurs bewirken muß, um von diesen oder jenen Gegenständen reden, sie behandeln, sie benennen, sie analysieren, sie klassifizieren, sie erklären zu können. (Foucault 1988: 70). <?page no="216"?> M ANFRED U ESSELER 206 Das Problem - das an dieser Stelle nicht behandelt werden kann - wird allerdings nicht gelöst, denn es bleibt ein Nebeneinander von Diskurs und Wirklichkeit bzw. Gegenständen. Sie sind Elemente des Dispositivs, welche in Foucaults Interpretation das Netz darstellen. Es wird deutlich, dass das, was Foucault als Dispositiv bezeichnet - wie vorher schon erwähnt - (...) ein sehr viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder eher, dass die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nichtdiskursiv ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist (ebd.: 123). Das, was ich eben als Nebeneinander bezeichnet habe, erweist sich letztlich als ein Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit. Im Diskurs sind unterschiedliche Elemente vorhanden, die verknüpft sind, ein Netz darstellen wie Foucault sagt doch diese Verknüpfung macht das Dispositiv erst aus (vgl. dazu auch S. Jäger 2006, Deleuze 1992, Balke 1998). Diskurse sind keine einfache Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie führen durchaus ein Eigenleben, auch wenn sie andererseits die Wirklichkeit in beträchtlichem Maße prägen und selbst wesentlich gestalten. Diskursanalysen erfassen das jeweils Sagbare, im wesentlichen übereinstimmend mit dem Gesagten. Es geht hier nicht nur um Äußerungen, sondern um Aussagen. Damit verbunden sind Strategien, die über das Sagbare hinausgehen und das Gesagte darum z.B. durch Verleugnungen und Tabuisierungen einschließen können (vgl. Jäger 2001, Jäger 2006: 85ff., Uesseler 2007/ 2008 und 2009). Diskurse stellen selbst einen Machtfaktor dar, denn diese können andere Diskurse, und daraus abgeleitet, Handlungen und Tätigkeiten induzieren bzw. beeinflussen, Verhalten und damit auch Machtverhältnisse beeinflussen. Zu dieser Frage äußert sich Foucault wie folgt: Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, d.h. zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu erklären vermag. Und genau das würde ich Genealogie nennen, d.h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf das Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt. (Foucault 1978: 32). Das Zusammenspiel diskursiver Praxen, d.h. Sprechen und Denken auf der Grundlage des Wissens und nichtdiskursiver Praxen, Handeln auf der Grundlage von Sichtbarkeiten bzw. von Gegenständlichkeiten, machen letztlich das Dispositiv aus. Auf dieser Basis kommen wir zur Dispositivanalyse und damit zur wichtigen Ergänzung der Diskursanalyse (vgl. Jäger 2006: 84). Die Verbindung beider Analysen bedeutet schließlich, dass das jeweilige gültige Wissen der Diskurse, mit Hilfe und Unterstützung der Dispositivanalyse den tatsächlichen Zusammenhang von Wissen und Macht analysiert, aufdeckt und kritisch bewertet werden kann. 4 Abschließende Bemerkungen Ich habe einige repräsentative Aussagen zum Dispositiv und zum Zusammenhang von Diskursanalyse und Dispositivanalyse auf der Basis von Foucault aufgezeigt und hoffe, dass ich sowohl zum Verständnis als auch zur Klärung beitragen konnte. Es sollte gleichzeitig erkannt werden, dass die Dispositivanalyse eine wichtige Ergänzung der Diskursanalyse darstellt, die für alle Bereiche von Bedeutung ist. In Zukunft sollte dieser Erkennt- <?page no="217"?> W ARUM D ISKURSANALYSE UND WARUM D ISPOSITIVANALYSE ? 207 nis Rechnung getragen werden und nicht - wie bisher - wenig beachtet oder sogar negiert werden. Die Ära des Unbekannten, des Nichtvertrauten und/ oder eines gewissen Unbehagens - wie ich es einleitend genannt habe - sollte der Vergangenheit angehören. Die Einstellung, Diskursanalyse ja, Dispositivanalyse nein, sollte es nicht mehr geben. Ich würde mich freuen, wenn ich durch meinen Beitrag ein wenig dazu habe beitragen können. Enge sprachwissenschaftliche Grenzen müssen überwunden werden. Es ist erforderlich, damit das jeweilige gültige Wissen der Diskurse mit Hilfe und Unterstützung der Dispositivanalyse den tatsächlichen Zusammenhang von Wissen und Macht analysiert, erkannt und auch kritisch hinterfragt werden kann. Zugegeben, die Berücksichtigung und Einbeziehung der nichtdiskursiven Praxen, die das Dispositiv in seiner Bedeutung für die Analyse ergänzen, bzw. erst funktionsfähig machen, stellt immer noch ein Problem dar. Die Heterogenität des Dispositivs ist ein Hemmnis für die Verwendung, denn der Netz- oder Verknüpfungscharakter bedeutet ein weiteres Problem. Sprachwissenschaftler weichen diesen Problemen häufig aus, konzentrieren (beschränken) sich auf Episteme. Wie Foucault nachweist, reichen Episteme nicht, der Schritt zum Dispositiv muss folgen. Für viele ist ja bis heute selbst die Kritische Diskursanalyse immer noch Grenzbzw. sogar Tabubereich. Soziologen und Literaturwissenschaftler, für erstere sei z.B. Angermüller und Bublitz und für letztere z.B. Link (2006) und Link-Heer (1990) genannt, nutzen heute sowohl die Kritische Diskursanalyse als auch die Dispositivanalyse bei ihrer Arbeit als wichtige Instrumente. Die Sprachwissenschaft sollte - allein schon unter dem Aspekt der Interdisziplinarität der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung - nicht nur der Diskursanalyse, sondern ebenfalls der Dispositivanalyse größere Aufmerksamkeit schenken. Das Dispositiv ist der allgemeinere Fall der Episteme! Literatur Angermüller, Johannes (2001): Diskursanalyse: Strömungen, Tendenzen, Perspektiven. In: Angermüller, Johannes/ Butzmann, Katharina/ Nonhoff, Martin (Hrsg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, Hamburg: Buske, 7-22. Angermüller, Johannes (2007): Diskurs als Aussage und Äußerung - Die enunziative Dimension in den Diskurstheorien Michel Foucaults und Jaques. Lacans. In: Warnke, Ingo H. (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin-NewYork: De Gruyter, 53-80. Bublitz, Hannelore (2006): Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit. In: Keller, Reiner / Hierseland, Andreas / Schneider, Werner / Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Wiesbaden: VS Verlag, 227- 262. Balke, Friedrich (1998): Was zu denken zwingt, Gilles Deleuze, Felix Guattari und das Außen der Philosophie. In: Jurt, Joseph (Hrsg.): Zeitgenössische französische Denker: Eine Bilanz, Freiburg i.B.: Rombach Litterae, 187-210. Coseriu, Eugenio (1981): Logos Semanticos. 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Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivsanalyse. In: Keller, Reiner/ Hierseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 83-114. Keller, Reiner (2006): Wissenssoziologische Diskursanalyse. In: Keller, Reiner/ Hierseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehhöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 115-146. Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen. Link, Jürgen (2006): Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik. In: Keller, Reiner/ Hierseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, Wiesbaden: VS Verlag, 407-430. Link-Heer, Ursula (1990): Diskurs/ Interdiskurs und Literaturanalyse, LiLi 77, 88-99. Uesseler, Manfred (2007/ 2008) (im Druck): Konsequent Foucault: Textlinguistik > Linguistische Diskursanalyse (LDA) > Kritische Diskursanalyse (KDA). Teil 1 und Teil 2. In: Akten des 42. und 43. Linguistischen Kolloquiums Rhodos 2007 und Magdeburg 2008. Uesseler, Manfred (2009) (im Druck): Textlinguistik > Linguistische Diskursanalyse (LDA)/ Kritische Diskursanalyse (KDA) > Erneuerte Soziolinguistik. In: Akten des 44. Linguistischen Kolloquiums Sofia 2009. <?page no="219"?> Lexikalische Evidentialität: das niederländische blijken. Ein evidenter Fall der Grammatikalisierung Maurice Vliegen 0 Einführung Der Begriff der Evidentialität findet sich in der zeitgenössischen Linguistik etwa seit Mitte der 1980er Jahre (Anderson 1986) und bezeichnet eine grammatische Kategorie zur Bezeichnung der Informationsquelle als Quelle der Evidenz für eine bestimmte Aussage. Eine solche Kategorie findet sich in vielen Sprachen der Welt, aber beispielweise nicht in westeuropäischen Sprachen wie dem Englischen und Französischen (Aikhenvald 2004: 17). Aikhenvald (2004: 324, Anm. 5) räumt zwar die Existenz von Ausdrücken lexikalischer Evidentialität ein, befasst sich aber nicht mit ihr. Sie anerkennt aber immerhin das Entstehen lexikalisch evidentieller Kategorien im Laufe eines Grammatikalisierungsprozesses, dies im Gegensatz zu Leiss (2009: 14), die eine derartige Ausweitung kategorisch ablehnt. Als einen solchen Übergangsfall erwähnt Aikhenvald (2004: 150) das deutsche sollen in Er soll sich das Bein gebrochen haben, wo Sprecher und Informationsquelle eindeutig nicht identisch sind. Den Status eines solchen Falles macht sie aber von der Position der Modalverben in der entsprechenden, hier der deutschen, Sprache abhängig. Aikhenvald bezeichnet solche Prozesse als evidentielle Strategien. In Diewald (2000) plädiert die Autorin unter Berufung auf Anderson (1986) dafür, das deutsche Verb scheinen als „Faktizitätsmarker mit evidentieller Komponente“ zu verstehen. Es handelt sich dann im Sinne Aikhenvalds um einen Fall lexikalischer Evidentialität. Diewald (2004: 236ff.) unterscheidet zwischen „sprecherbasierter Faktizitätsbewertung“ (‚epistemics‘), wie sie bei Modalverben der Fall ist, und Evidentialitätsmarkern, die eine Informationsquelle bezeichnen, aber nicht unbedingt eine Faktizitätsbewertung (einen deiktisch fundierten Wahrscheinlichkeitsgrad) enthalten (s. weiter unten). Als Beispiel nennt sie hier die deutsche Parenthese wie ich höre. Im Gegensatz zu den epistemischen Modalverben, die wie gesagt vorrangig einen Faktizitätsstatus zum Ausdruck bringen, betrachtet Diewald die Modalitätsverben scheinen sowie drohen und versprechen 1 als (lexikalisch) evidentielle Verben (2004: 245ff.), die zwar ebenfalls eine Faktizitätsbewertung zum Ausdruck bringen, bei denen aber die evidentielle Komponente vorrangig ist. Sie orientiert sich dabei an de Haan (2001: 206), der das niederländische Verb schijnen (deutsch scheinen) als „grammaticalization in action“ bezeichnet. Im Folgenden erläutere ich Diewalds Argumente und wende diese dann auf drei niederländische Verben an, die ähnliche Eigenschaften aufweisen: blijken, lijken und schijnen. Ich werde mich dabei namentlich auf das erste Verb beziehen. Die Gründe für dieses Vorgehen sind noch zu erläutern. Ein entsprechendes Verb im Deutschen fehlt. Deutsche Übersetzungsäquivalente haben keinen evidentiellen oder Auxiliarcharakter. Aus Platzgründen kann ich auf sie leider nicht eingehen. 1 Modalität und Evidentialität im Deutschen Diewald / Smirnova (2010) (ab hier D&S (2010)) unterscheiden in ihrem Beitrag streng zwischen Modalität und Evidentialität und revidieren damit das in Diewald (2004: 253) 1 Zu den verschiedenen Lesarten dieser Verben s. Vliegen (2006). <?page no="220"?> 210 M AURICE V LIEGEN vorgestellte Modell, in dem (inferentielle) Evidentialität als eine Subkategorie im Bereich der epistemischen Modalität angesehen wird. Bei epistemischer Modalität, wie sie durch Modalverben ausgedrückt wird, handelt es sich um eine sprecherbasierte, also deiktische, Faktizitätsbewertung, die einen Gewissheitsgrad bezeichnet. Es ist liegt keine Information über irgendwelche direkte Evidenz vor. Bei Evidentialität handelt es sich um die Benennung der Informationsquelle der in der Proposition dargestellten Information. Auch diese ist sprecherbasiert. Evidentialitätsmarker enthalten allerdings keine Information über den Faktizitätsgrad sondern nur über den (un)spezifischen Kanal der Information (D&S 2010: 123). Es ist aber möglicherweise eine (unsichere) Faktizitätsbewertung vorhanden. Zu den Modalitätsmarkern gehören die epistemischen Modalverben wie etwa können, müssen, sollen, wollen, dürfte und mag, zu den Evidentialitätsmarkern werden (keine spezifische Evidenzen), scheinen zu (+/ aktuell wahrgenommene Evidenzen), drohen (aktuell wahrgenommen und nicht erwünscht) und versprechen (aktuell wahrgenommen und erwünscht) (D&S 2010: 119, 127). Den Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien zeigen D&S an Hand folgender Beispiele [meine Nummerierung]: Epistemische Modalität: Das Modalverb zeigt einen Faktizitätswert, keine Evidenz an: (1a) Sie muss ihre Doktorarbeit abgegeben haben. (1b) Ich habe sie gestern auf der Party gesehen. Sie muss ihre Doktorarbeit abgegeben haben. (1c) [Der Sprecher ist auf der Party und unterhält sich mit dem Hörer. Beide können die Person sehen.] > (Sie) muss ihre Doktorarbeit abgegeben haben. Evidentialität: Das Verb zeigt Evidenz an, der Sprecher verfügt hier über eine (visuelle) Informationsquelle, zeigt aber keinen Faktizitätswert an: (2a) Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben. (2b) Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben. Ich bin (ziemlich/ fast/ sehr sicher, dass sie das noch rechtzeitig geschafft hat. (2c) A: Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben. B: Dann hat sie es also noch rechtzeitig geschafft? C: Naja, ich weiß es nicht genau, aber ich habe sie gestern auf der Party gesehen. In Diewald (2000) und (2001) wird das Verb scheinen in seiner Entwicklung, Bedeutungs- und Konstruktionsvielfalt betrachtet. Sie orientiert sich dabei an der ausführlichen Darstellung von Konstruktionstypen in Askedal (1998). Im Nachhinein verwirrt der Titel von Diewald (2000) ein wenig: Das Verb scheinen wird nach der Revision ihres Modells (D&S 2010) nicht mehr als Faktizitätssondern als Evidentialitätsmarker bezeichnet. Das Verb ist, so Diewald, (auf dem Wege zu) ein(em) Evidentialitätsmarker im Sinne von Anderson (1986: 274f.): ein grammatisches Merkmal, das etwas über die Quelle der in der Proposition dargestellten Information zum Ausdruck bringt. Direkte visuelle Evidenz ist allerdings nicht erforderlich. Das Verb zeigt eine Reihe syntaktischer Realisierungsmöglichkeiten. Nicht in allen Fällen ist von einem Gebrauch als Evidentialitätsmarker die Rede. Im Folgenden stelle ich kurz die hier relevanten Fakten zusammen, damit eine Folie vorliegt, auf der die Verhältnisse im Niederländischen in diesem Bereich skizziert werden können. Scheinen Diewald unterscheidet folgende sechs Konstruktionstypen: 1. Das Vollverb mit fakultativem Adverbiale. Hier liegt die lexikalische Bedeutung des Verbs vor. (3) Die Sonne/ Sie scheint hell/ warm. <?page no="221"?> L EXIKALISCHE E VIDENTIALITÄT : DAS NIEDERLÄNDISCHE BLIJKEN 211 2. Die Kopula mit Subjektsprädikativ (weitere Konstruktionsvarianten bei Askedal (1998)). (4) Sie scheint (mir) krank/ warm. 3. Scheinen in Verbindung mit zu sein. (5) Sie scheint (mir) warm/ glaubwürdig zu sein. Diewald bemerkt mit Recht, dass die Ergänzung durch zu sein es ermöglicht zwischen den Lesarten in (3) und (4) zu desambiguieren. Diese Konstruktion hat sich Diewald zufolge aus (4) entwickelt (vgl. auch Askedal (1998: 68). Merkwürdigerweise bezeichnet sie diesen Typ allerdings als „scheinen als mit sein verstärkte Kopula“, anstatt wie Askedal (1998: 63) hier den Infinitiv sein als Kopula zu bezeichnen und scheinen als Modalitätsverb. Ich halte nur Askedals Analyse für korrekt. Diewald zufolge (2000: 351ff.) finden sich im DWB Belege mit Infinitiv erst im Frühneuhochdeutschen. Hier sei der Infinitiv allerdings zunächst ohne zu angeschlossen gewesen. Seit dem 18. Jh. habe sich dann der Gebrauch des Infinitivs mit anderen Verben ständig erweitert. An dieser Stelle möchte ich auf eine Eigentümlichkeit aufmerksam machen, die sich, wie wir weiter unten sehen werden, auch im Niederländischen beobachten lässt (vgl. Askedal 1998: 63f.). Der sein-Infinitiv wird in Verbindung mit scheinen auch schon mal ausgelassen, wenn er nicht als Kopula sondern als Hilfsverb des Perfekts (6) oder des „Zustandspassivs“ (7) benutzt wird. Offenbar veranlasst der perfektive Charakter der Verbalgruppe hier eine Reinterpretation, d.h. eine adjektivische Lesart. (6) Familie van der Vaart schien angekommen im perfekten Leben. Die Konten von Rafael und Sylvie sind mit Millionen Euro gut gefüllt. (www.mdr.de/ brisant/ promi-klatsch/ 6445543.html) (04.03.2010) (7) Die Beweiskette schien geschlossen. Vorletzte Woche stand Maler Figuhr, angeklagt der schweren Kuppelei und Zuhälterei, vor dem Amtsrichter in Hamburg. (www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-46407670.html) (04.0.3.2010) 4. Scheinen mit zu-Infinitiv als Modalitätsverb. (8) Sie scheint (mir) einsam zu leben. 5. Scheinen mit dass-Komplement. (9) Es scheint (mir), dass sie sehr einsam lebt. 6. Parenthetisches scheinen. Ich bevorzuge die Bezeichnung ‚parenthesenhaft‘ (s. Vliegen acc). (10) (Mir) scheint, (so) scheints. Im Folgenden beschränke ich mich im Wesentlichen auf die Konstruktionstypen 3, 4 und 5. Diewald (2000: 341ff.) listet unter Bezug auf Askedal (1998: 58ff.) folgende Auxiliareigenschaften der Infinitivkonstruktion im Zuge ihrer Grammatikalisierung auf: 1. Der Infinitiv ist obligatorisch kohärent, lässt sich also nicht extraponieren: (11) *dass sie scheint alles selbst zu schreiben/ dass sie alles selbst zu schreiben scheint. 2. Das Verb kann bei entsprechendem Verlust der lexikalischen Bedeutung nur noch in Verbindung mit einem Infinitiv auftreten. Der zu-Infinitiv ist deshalb nicht pronominalisierbar: (12) Sie scheint allein zu leben -/ -> *Sie scheint das/ es. <?page no="222"?> 212 M AURICE V LIEGEN 3. Die Grammatikalisierung führt zu einem Verlust üblicher verbaler Kategorien. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Tempora zu bilden, entfällt: (13) *Sie wird alles selbst zu schreiben scheinen./ *Sie hat alles selbst zu schreiben geschienen. 4. Bekanntlich verschwinden im Zuge des Grammatikalisierungsprozesses die Subjektrestriktionen. Dies führt im Endeffekt dazu, dass sämtliche Aktanten vom Infinitiv und nicht von scheinen regiert werden (Eisenberg 1994: 385). Damit ist auch klar, dass es sich bei den Konstruktionen in 3 und 4 oben um die gleiche Konstruktion handelt. Als Anzeichen einer noch nicht „vollständigen“ Grammatikalisierung gelten folgende Merkmale: 1. Das Auftreten eines fakultativen Dativobjekts in allen Konstruktionstypen. Während allgemein von einem Status als Ergänzung ausgegangen wird, plädiert Diewald (2000: 344) für eine Interpretation als freien Dativ. Ich halte das für einen sinnvollen Vorschlag, der wohl auch eine Lösung für ein kleineres, bei dem niederländischen blijken auftretendes Problem bietet (s. Abschnitt 3.). 2. Der angeschlossene Infinitiv ist kein einfacher Infinitiv wie bei den Modalverben, sondern ein zu-Infinitiv. Allerdings gibt es im Deutschen die Varianten brauchen/ brauchen zu, die problemlos nebeneinander verwendet werden können. Eine Weiterentwicklung ist also nicht auszuschließen (Diewald 2001: 108). Zusammenfassend gibt es schwerwiegende Argumente zugunsten einer Grammatikalisierung und nur noch ein formales gegen sie. In der dass-Konstruktion, bei der es sich Diewald (2000: 349f.) zufolge um eine Spätentwicklung aus dem 18. Jh. handelt, kann es sich bei dem Subjekt es nicht um ein Vorfeld-es/ Korrelats-es handeln, da es auch bei anderer Besetzung des Vorfeldes wie etwa in (14b) obligatorisch ist. Nur wenn die Dativergänzung vorhanden ist, darf es merkwürdigerweise fehlen (14c). Da sich der dass-Satz aber, wie gesagt, außerdem nicht pronominalisieren lässt, kann dieser nicht Subjekt sein (14d). Die einzige verbleibende Option wäre hier einen Prädikativsatz anzunehmen. Das würde auch die Ungrammatikalität von (14d) erklären: Das Prädikativ fehlt. Dieser Vorschlag wurde meines Wissens bisher noch nicht gemacht. (14a) Es scheint (mir), dass/ als ob sie alles selbst schreibt. (14b) Zur Zeit scheint es, dass/ als ob sie ihre Reden selbst schreibt. (14c) Mir scheint (es), dass/ als ob sie ihre Reden selbst schreibt. (14d) *Das scheint. Mit der Obligatorik des Subjekts verbietet sich die Annahme, dass sich die Infinitivkonstruktion durch Subjektanhebung aus der dass-Konstruktion ableiten lässt, denn die Infinitivkonstruktion erlaubt sogar subjektlose Sätze (Diewald 2000: 346f.): (15) Heute/ Seit langem/ Übrigens scheint getanzt zu werden. 2 Modalitätsverben im Niederländischen Im Niederländischen gibt es wie im Deutschen eine Reihe von Modalitätsverben. Neben beloven (versprechen), dreigen (drohen) und plegen (pflegen) sowie einigen weiteren weniger frequenten Verben handelt es sich dabei vor allem um blijken (kein deutsches Modalitätspendant, deutsche Entsprechungen: sich erweisen, sich herausstellen, sich zeigen), lijken (scheinen, andere deutsche Entsprechungen: erscheinen, den Anschein haben) und <?page no="223"?> L EXIKALISCHE E VIDENTIALITÄT : DAS NIEDERLÄNDISCHE BLIJKEN 213 schijnen (scheinen) (ANS: 1617f.). Im Folgenden befasse ich mich zunächst mit den letzten drei Verben. Danach werde ich mich ausschließlich dem Verb blijken zuwenden, das mir aus theoretischer und kontrastiver Sicht das interessanteste zu sein scheint. 2.1 Zum Ursprung der Verben Das im Deutschen nicht vorhandene Verb lijken leitet sich wohl vom Adjektiv (ge)lijk (gleich) ab und findet sich mittelniederländisch in den Bedeutungen: ‚gleichen, gefallen, anpassen‘. In den historischen Wörterbüchern des Niederländischen gibt es nur wenige Belege und schon gar nicht für die Verwendung als Modalitätsverb. Die Entwicklung des Verbs scheinen ist der der deutschen Entsprechung ähnlich (s. Diewald 2000). Auch hier finden sich im 16. Jh. offenbar noch Infinitivbelege ohne zu. Das WNT führt auch hier keine Belege auf. Das im Deutschen nicht vorhandene blijken leitet sich vom Mittelniederländischen bliken (,scheinen, glänzen‘) ab, ist also in dieser Hinsicht durchaus mit schijnen/ scheinen vergleichbar. Verwandt mit dem niederländischen Verb blijken ist allerdings das deutsche Verb blecken (die Zähne blecken), mhd. blecken: ,(sich) entblößen, sehen lassen‘, eig. ‚glänzen machen‘ (Duden, Herkunftswörterbuch), das auch heute noch visuelle Evidenz bezeichnet. Auch hier finden sich keine historischen Belege mit Infinitiv. Interessanterweise findet sich aber wohl ein Hinweis auf die auch heute noch gängige Verbindung mit einer Informationsquelle im folgenden Beleg aus dem 15. Jh. im VMNW [meine Hervorhebung, MV], eine Verbindung, die der evidentiellen Bedeutung zugrundeliegt. (15) meys erue oft bempt, die nv ons es, als dar blijckt jnt francijne Register, op .x. daer die E bouen staet. Corp.I p. 1798, r. 25-26, Grimbergen, Brabant-West, 1401-1500 2 als dar blijckt jnt francijne Register: wie sich da zeigt im Pergament Register Heutzutage findet man typischerweise etwa: (16) Dat blijkt uit een analyse/ enquete. Das geht aus einer Analyse/ Umfrage hervor. 2.2 Semantik und Syntax Sanders / Spooren (1996) zeigen an Hand von elizitierten sowie experimentellen Daten, dass die Akzeptabilität der drei oben genannten Verben bei observationeller Evidenz höher bewertet wird als bei wissensbasierter Evidenz. Bei entsprechenden Modalverben ist dieser Unterschied nicht vorhanden. Alle Verben sind als ‚nonsubjective‘ anzusehen, sie präsupponieren alle intersubjektive, d.h. nicht nur dem Sprecher zugängliche Evidenz (1996: 258). Die Verben unterscheiden sich im Grad der Gewissheit des Sprechers: blijken bringt eine (relative) Gewissheit zum Ausdruck, schijnen eine relative Ungewissheit und lijken findet sich auf halbem Weg dazwischen, neigt aber zu schijnen. Entsprechend gelagert sind die Evidenzen. Blijken verlangt starke Evidenz, schijnen begnügt sich mit schwacher Evidenz. Diese Ergebnisse bestätigen m.E. die in D&S (2010) für das Deutsche angestellten Überlegungen. In der niederländischen Referenzgrammatik ANS finden sich folgende, mitunter leicht geänderte Beispiele für die Konstruktionen bei den einzelnen Verben (ANS: 960, 1007ff., 1049ff.). Die von Diewald aufgestellte Liste der Konstruktionen findet sich im Wesentlichen auch im Niederländischen: 2 Vereinzelt finden sich im IVMNW auch jüngere Belege. <?page no="224"?> 214 M AURICE V LIEGEN 1. Vollverb mit fakultativem Adverbiale. Hier liegt die lexikalische Bedeutung des Verbs vor. Die lexikalische Bedeutung ist allerdings nur noch bei scheinen vorhanden. (17) De zon schijnt helder. Die Sonne scheint hell. 2. Kopula mit Subjektsprädikativ als Adjektiv- oder Nominalgruppe. (18a) Hans blijkt (*me/ ? ons) een harde werker. Hans erweist sich (mir/ uns) als ein tüchtiger Arbeiter. (18b) Hans is (me/ ons) een harde werker gebleken. Hans hat sich (mir/ uns) als ein tüchtiger Arbeiter erwiesen. (18c) Dat apparaat lijkt (me) niet erg solide. Das Gerät scheint (mir) nicht solide. (18d) Zij scheen (me) ziek te zijn. Sie schien (mir) krank zu sein. (18e) Hans bleek me (besser Mehrzahl: ons (uns)) / is me een harde werker gebleken. Hans erwies sich mir / hat sich mir (als) ein tüchtiger Arbeiter erwiesen. In (18a) verträgt sich der freie Dativ (ANS, 1166f.: ‚ondervindend voorwerp‘ (empfindendes Objekt) nicht mit dem Gegenwartstempus. Ein Vergangenheitstempus dagegen ist erlaubt. Offenbar erlaubt die in blijken zum Ausdruck gebrachte intersubjektive Gewissheit (s.o.) keine gleichzeitige sprecherseitige Bestätigung, da das Vorhandensein eines Sachverhaltes schon vorausgesetzt wird. 3. Blijken, lijken und schijnen in Verbindung mit zu sein. (19a) Hans blijkt (*me) een harde werker te zijn. Hans erweist sich als ein tüchtiger Arbeiter. (19b) Dat apparaat lijkt (me) niet erg solide te zijn. Das Gerät scheint (mir) nicht solide zu sein. (19c) Zij scheen (me) ziek te zijn. Sie schien (mir) krank zu sein. Wie auch im Deutschen kann ein Hilfsverb des Perfekts als Kopula reanalysiert werden und dann ausfallen: (20a) Hij bleek net de vorige dag (te zijn) gearriveerd. Es stellte sich heraus, dass er gerade am vorigen Tag angekommen war. (20b) Hij leek (me) wel tien kilo aangekomen (te zijn). Er schien (mir) wohl zehn Kilo zugenommen zu haben. (20c) Hij scheen (me) wel tien kilo aangekomen (te zijn). Er schien (mir) wohl zehn Kilo zugenommen zu haben. Eine weitere Variante ist die Verbindung mit der niederländischen Variante der Verlaufsform mit an: (21a) Ze bleek aan het schilderen (te zijn). Es stellte sich heraus, dass sie beim Malen (buchst.: am Malen) war. (22b) Hij leek (me) aan het trainen voor de marathon (te zijn). Er schien (mir) beim Training (buchst.: am Trainieren) für den Marathon (zu sein). (22c) Tante scheen (me) aan het strijken (te zijn). [Meine] Tante schien (mir) beim Bügeln (buchst.: am Bügeln) (zu sein). 4. Blijken, lijken und schijnen mit zu-Infinitiv als Modalitätsverb. (23a) Hij blijkt heel hard te werken. Es zeigt sich, dass er tüchtig arbeitet. <?page no="225"?> L EXIKALISCHE E VIDENTIALITÄT : DAS NIEDERLÄNDISCHE BLIJKEN 215 (23b) Hij leek (me) heel hard te werken. Er schien (mir) sehr tüchtig zu arbeiten. (23b) Zij schijnt (me) een proefschrift te schrijven. Sie scheint (mir) eine Dissertation zu schreiben. 5. Blijken, lijken und schijnen mit dass-Komplement. Anders als im Deutschen funktioniert hier das dat-Komplement als Subjekt, wie Satz (24a) zeigt: (24a) Het bleek/ leek/ scheen (ons) dat ze haar best doet. Es zeigte sich/ schien/ schien (uns), dass sie ihr Bestes tut. (24b) Ons bleek/ leek/ scheen dat ze haar best doet. 6. Parenthetisches blijken, lijken, schijnen, beispielsweise: (25a) naar (het) blijkt, naar het lijkt, naar het schijnt. wie sich zeigt, wie es scheint, wie es scheint. Die in Abschnitt 1.1 aufgelisteten syntaktischen und semantischen Eigenschaften der Modalisierungsverben + zu gelten auch für die niederländischen Entsprechungen mit te: obligatorische Kohärenz, Nicht-Pronominalisierbarkeit des Infinitivs, Verlust üblicher verbaler Kategorien, verringerte Subjektrestriktionen sowie das Auftreten des indirekten Objekts, bis auf blijken, sowie der te- (zu-) Infinitiv. Die Tatsache, dass blijken und lijken keine lexikalische Bedeutung mehr aufweisen, ist ein Anzeichen dafür, dass diese Verben in ihrem Grammatikalisierungsprozess weiter fortgeschritten sind als scheinen/ schijnen. 3 Schlussfolgerungen In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die niederländischen Modalitätsverben blijken und lijken dem niederländischen scheinen und seinem deutschen Pendant scheinen auf dem Pfad der Grammatikalisierung voraus sind. Das wichtigste Charakteristikum ist dabei der vollständige Verlust der lexikalischen Bedeutung. Sie sind daher klare Beispiele für die Entwicklung lexikalischer Evidenzmarker. Die Tatsache, dass namentlich für blijken eine deutsche Entsprechung nicht direkt vorhanden ist, erschwert die korrekte Übertragung ins Deutsche und bildet damit ein Problem für DaF-Lerner. Literatur DWB: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 1854-1960. S. Hirzel: Leipzig. (http: / / germazope.uni-trier.de/ Projects/ WBB/ woerterbuecher/ dwb) IWNT: Woordenboek der Nederlandsche Taal online (Niederländisch 1500-1976). (http: / / www.inl.nl/ nl/ woordenboeken/ woordenboek-der-nederlandsche-taal-(iwnt)) IVMNW: Vroegmiddelnederlands Woordenboek (Niederländisch 13 Jh.) (http: / / www.inl.nl/ nl/ woordenboeken/ vroegmiddelnederlands-woordenboek-(ivmnw)) Aikhenvald, Alexandra (2004): Evidentiality. Oxford: OUP. Anderson, Lloyd (1986): Evidentials, paths of change, and mental maps: Typologically regular asymmetries. In: Chafe, Wallace/ Nichols Johanna (Hrsg.). 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Sprechapparat ist in der Lage, Zeichen sequenziell zu verarbeiten. Man kann nur einen Laut nach dem anderen artikulieren und sie aneinanderreihen zu einer Lautkette, so Pelz (1996: 49). Wir können zwar mehrere visuelle Zeichen gleichzeitig hervorbringen und/ oder gleichzeitig aufnehmen, jedoch nicht mehrere sprachliche Zeichen. Die Realisierung der gesprochenen Sprachzeichen läuft in der Dimension der Zeit ab. Die Zeitlichkeit des Sprachlichen ist evident: Sprechen heißt Zeit verbrauchen, Sprechereignisse sind prozesshaft. Sie haben einen Anfang, eine Dauer und ein Ende. Zeitlichkeit ist mit der Materialität verbunden. Die Organisation des zeitlichen Nacheinander nimmt mehr oder weniger fest erwartbare Strukturen an. Hausendorf (2009: 193) nennt das die Sequenzialität des Sprechens. Sprache ist sowohl ein Kognitions-, als auch ein Kommunikationsmedium. Wenn die Sprache ihre „kognitive Heimat“ verlässt, benötigt sie ein pragmatisches Minimum, zu dem nach Hausendorf (2009: 189f.) die oben genannte Sequenzialität und Materialität sowie Medialität des Sprechens und des Schreibens gehören. Es geht dann um Sprache in der Form sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen, und nicht im Sinne eines dahinter gedachten Systems. Die Materialität des Sprechens ist jedoch eine Materialität der Flüchtigkeit bzw. des Augenblicks. Das gesprochene Wort ist flüchtig, vergeht und überdauert nicht den Augenblick seiner Hervorbringung. Das Hier und Jetzt macht sein Charakteristikum aus. Das Sprachliche kann jedoch in eine Erscheinungsform gebracht werden, die den Augenblick ihrer Entstehung überdauert. Erst mit den Möglichkeiten der „Verdauerung“ wurde es möglich, Sprachliches von der Zeitlichkeit abzulösen und als etwas Zeitloses zu denken. Der Prototyp für eine solche „Verdauerung“ ist Ehlich zufolge (1994: 18f.) die Schrift. Häcki Buhover (2000: 253) nennt zwei Unterschiede der Medien Schrift geformter Schall, und zwar die Sinnesmodalität und die Dauerhaftigkeit. Bei Klein (1985: 16) erscheint noch ein weiterer Unterschied: Die Schrift ist nämlich räumlich, der Schall zeitlich strukturiert. Die Schrift erlaubt es, eine zeitliche Ordnung in eine räumliche zu übertragen, die Sprache aus der auditiven in die visuelle Domäne zu überführen. Häcki Buhover (2000: 254) betrachtet die Dauerhaftigkeit als die Bedingung der Möglichkeit der Schriftkultur. Darüber hinaus ist die Schriftlichkeit weniger situationsgebunden, die Schrift erlaubt eine gewisse Loslösung vom Hier und Jetzt der Rede. Des Weiteren ermöglicht die Schrift, das kulturelle und soziale Wissen zu externalisieren und zu objektivieren. Als primäre Funktion des Mediums der Schriftlichkeit nennt die Autorin die Wiedergabe der Abbildung des eigentlichen Mediums, der Phoneme. Unter dieser Perspektive gilt die Schriftlichkeit als abgeleitetes sekundäres Repräsentationssystem, dessen Leistung darauf beruht, die zeitliche Linearität der Phoneme auf eine räumliche Linearität von Graphemen abzubilden. Die Abbildung der gesprochenen Sprache ist aber nur der Ausgangs- <?page no="228"?> E WA EBROWSKA 218 punkt der mehrheitlich phonographischen Alphabetschriften, nicht ihr Ziel. Auch Freisler (1994: 26) ordnet entstehungsgeschichtlich die geschriebene Sprache durch die sekundäre Transkription der gesprochenen unter. Dank der Materialität des Schreibens konnten sich Kommunikationsereignisse jenseits der individuellen, konkreten Interaktion weiter entwickeln, so Hausendorf (2009: 192). Die sozio-historischen, kulturellen und material-medialen Szenarien, in denen sich Sprache und Kommunikation realisieren, gehörten nach Jäger (2009: 219) für die Linguistik lange Zeit zu einer Peripherie. Die pragmatische extreme Abwendung vom Schrifttext und die Hinwendung zum Diskurs löst erneut ein verstärktes Interesse an der schriftkonstituierten Sprachlichkeit und Textualität aus. Eine zentrale Rolle spielt dabei Feilke zufolge (2003: 217) das Bewusstsein für die Medialität von Sprache: „Die Textsorten bilden sich aus als medial bestimmte Routinen der Textproduktion mit Konsequenzen für die syntaktischen, die lexikalischen und genuin makro- und superstrukturellen Formen der Artikulation.“ Da das Gesprochene mit Bezug auf die Fülle der kommunikativen Sinneffekte fragmentarisch ist, gilt für Knobloch (2003: 107-9) das geschriebene Wort als Muster und Vorbild der Vorstellung einer statischen Wissensrepräsentation. Erst die Schrift kann als die kodifizierte und objektivierte Version des Mediums betrachtet werden. Mit der alphabetischen Orthographie beginnt eine „grammatische Bearbeitung“ der Sprache (Stetter 1999: 43), wie sie im Bereich der Oralität niemals denkbar wäre. Dadurch entsteht ein komplexes kulturelles Konstrukt, nämlich: (…) der Begriff von Sprache als eines Systems miteinander kombinierbarer arbiträrer Elemente, der seinen realen Grund in all den Operationen hat, die wir mit und an dem Geschriebenen vornehmen können: Texte in Wörter auflösen, diese nach bestimmten Prinzipien ordnen, alphabetisch oder nach der Anzahl und Reihenfolge der Striche, Deklinations- und Konjugationstabellen erstellen, syntaktische Regeln zusammenstellen usf. Für all das gibt es im Bereich oraler Kommunikation kaum Analoga. Sprache begegnet hier als kontinuierliche Folge von Äußerungen. (Stetter 1999: 43) Erst die Schrift macht uns mit dem alphabetischen Konstrukt des Wortes „vertraut“, so Brockmeier (2004: 299). Epping-Jäger (2004: 321) beschreibt den Prozess der semiotischen Transformation des Sprechens durch die Schrift so: Motorische und sinnlich-anschauliche Erfahrungen mussten in diskrete Einheiten zerlegt werden, damit sie sprachlich-begrifflich abbildbar wurden. Die sprachlich deiktischen Mittel einer Kommunikation im Raum wechselseitiger Wahrnehmung mussten der schriftsprachlichen Situation angepasst werden. Semiotisch gesehen kommt es zur Umwandlung von Indizes in Symbole, kognitionswissenschaftlich zur Re-Repräsentation und Schematisierung von Zeichen-Feld-Komplexen als relativ autonomen Zeichenbedeutungen. Kulturgeschichtlich korreliert Knobloch zufolge (2003: 108) eine solche Reorganisation mit radikalem Medienwandel, also z.B. mit der Ausbreitung von Schrift und Buchdruck in der frühen Neuzeit. Sie verändert nicht nur den Blick auf Sprachen, sondern auch diese selbst. Die unmittelbare Basis der linguistischen Erfahrung ist nicht das flüchtige Kommunikationsereignis selbst, sondern das durch Verschriftung vorliegende Ausdrucksmaterial der Einzelsprache. Im Hinblick auf die Entwicklung des europäischen Literalisierungsprozesses unterscheidet Epping-Jäger (2004: 307) solche historisch-kulturell spezifizierbaren Problemlagen, die den Prozess der Inszenierung der Schrift kennzeichnen. Die Beschreibungskategorien „Oralität“, „begrenzte Literalität“ und „Hypoliteralität“ sind als komplexe Verschränkungsverhältnisse medialer Strategien konzipiert und dienen dazu, spezifische Szenarien des Literalisierungsprozesses zu charakterisieren. Die Autorin meint damit keine zeitlich <?page no="229"?> V ON DER L INEARITÄT ZUR N ICHT -L INEARITÄT IN T EXTEN 219 trennscharf voneinander abgrenzbaren Epochen, sondern medial-mentale Praktiken, die anhand der Organisationsstrukturen des kulturellen Wissens charakterisiert werden können. Der Wissensbedarf einer komplexer werdenden Kultur erzwingt Epping-Jäger zufolge (2004: 321) neue Formen der Schriftlichkeit und der Ordnung des Wissens, und zwar wird situationales Wissen dekontextualisiert, orales Wissen literalisiert und nicht linearisiertes Wissen linearisiert. Der Selbstwert der Schriftzeichen basiert auf ihrer materialen und medialen Qualität als Form und Figur. Die großen Veränderungen, die die Schriften erfahren haben, verdanken sie Ehlich (2002: 101) zufolge den Möglichkeiten des Schriftträgers. Die Materialität der Gesteine beispielsweise stellte erhebliche Anforderungen an die Zeichen. Die Schriften der Welt sind jedoch gering an Zahl im Vergleich zu den Sprachen, für die sie entwickelt wurden. Ihr Reichtum ist begrenzt, größer ist die Variation innerhalb einzelner Schriften. Terminologisch unterscheidet Ehlich (2002: 103-4) die zwei materialbedingten Typen des Schreibens: für diejenigen Schriften, die in das Material durch Ritzen oder Schlagen eingebracht werden, wird der Ausdruck „impakt“ verwendet (impingere lat. eindringen); für diejenigen, bei denen auf einen Schreibgrund etwas aufgetragen wird: „illit“ (illinere lat. aufschmieren). In den spätaramäischen Schriften werden die Einzelzeichen bereits verbunden und sie erscheinen in der linearen Folge. Im Arabischen wird dieses System weiterentwickelt und der Stellenwert der Flüssigkeit im System erhöht. Dies führt freilich zu einer Einbuße an Distinktivität, die durch zusätzliche diakritische Zeichen kompensiert wurde sowie durch die Unterbrechung des Schreibflusses auf systematische Weise. Das Spatium findet hier auch seine semiotische Anwendung. Prototyp einer Kurrentschrift als Basisschrift war nach Ehlich (2002: 106) eben die arabische Schrift. Solche Typen nennt Ehlich fluid. Sie sind tendenziell den illiten Schreibformen zugeordnet. Den fluiden Schriften stehen stative gegenüber, in denen jedes Zeichen eine für sich abgeschlossene Einheit darstellt und in denen Verbindungen nicht stattfinden. Die Buchstaben der Schrift dienen traditionell als Utensilien, die „Informationen und Mitteilungen möglichst problemlos zugänglich und verständlich machen sollen“ (Schellnack 1994, 3; nach Fix 2001: 116). Über die Jahrhunderte haben sich an der Lesbarkeit orientierte Grundformen der Typographie entwickelt, die in sekundärer Stilfunktion ästhetische Werte mitvermitteln: „In der Lesbarkeit liegt also die Funktion der Schrift, in der optischen Erscheinung die Form. Auf der Verbindung von Lesbarkeit und Form beruht die Gestaltung“ (Korger 1994: 13; nach Fix 2001: 116). Die Schriftsysteme haben sich mit der Zeit so entwickelt, dass in ihnen die lineare Verknüpfung vollkommen realisiert wurde. Nach Häcki Buhover (2000: 255) ist der Umgang mit dem Medium der Schriftlichkeit nicht einfach gegeben, sondern dieser bildet sich anhand einer historischen Gebrauchsweise heraus, wie sie das Buch oder die Gegebenheiten des Internets darstellen. Das Medium des Buchdrucks hat den technischen zivilisatorischen Fortschritt der Neuzeit ermöglicht, allerdings um den Preis linearer und monokausaler Verengung. Häcki Buhover (2000: 255) beruft sich auf McLuhan (1968), indem sie sagt: „Linear hangle sich das Auge des Lesers an den Buchstaben der gedruckten Zeile und dem Gedankenduktus des Autors entlang. Monokausal sei der Vorgang des Lesens, weil es den Leser zum einseitigen Rezipienten degradiere.“ Freisler (1994: 21) geht dabei auf das aristotelische Konzept der Textlinearisierung zurück und den Kern seines Modells des Schreibens. Aristoteles formulierte in seiner „Poetik“ die Struktur der Tragödiehandlung, nach der jede Tragödie als Ganzheit aus drei Teilen besteht: dem Anfang (A), dem mittleren Teil (M) und dem Ende (E). Eine ordentliche <?page no="230"?> E WA EBROWSKA 220 Linearisierung beruhte dann darauf, dass man denjenigen Teil als Anfang wählt, der nur einen „Nachbarn“ hat und mit dem man in der Lage ist, immer in der gleichen zeitlichen, räumlichen, kausalen Richtung fortschreitend zum anderen Teil mit ebenfalls nur einem Nachbarn, d.h. zum Ende zu gelangen: A M E Man könnte sie als die Definition für lineares Schreiben schlechthin bezeichnen. Sie ist Freisler (1994: 22) zufolge auf unterschiedliche sprachliche Ebenen, wie Phoneme, Morpheme, Syntagma, Satz-, Textbzw. Gesprächsebene zu übertragen. Jedes Element einer Äußerung hat eine Beziehung zu dem, was ihm vorangeht, und zu dem, was ihm folgt. Die Darstellung des Handlungsverlaufs insbesondere in narrativen Texten galt von alters her als die natürlichste Art der thematischen Textorganisation. Für die lineare Darstellung ist ein kontinuierlicher Konzeptaufbau kennzeichnend. Freisler (1994: 24) beschreibt die Situation des Produzenten, wie folgt: Er hat eine bestimmte Absicht, dem Rezipienten irgendwelche Wissensinhalte zu übermitteln. In den meisten Fällen sind diese Inhalte zu komplex, als dass er dies durch eine einzige Äußerung ausdrücken könnte. Das Gesamtziel muss also über eine Abfolge von Teiläußerungen realisiert werden. Hat ein Schreiber nun eine Struktur zu beschreiben, die sich nicht „von sich aus“ linear beschreiben lässt, so wird die Abfolge dieser Teiläußerungen zum Problem, und zwar die Frage, womit er beginnen sollte und dann, womit er weitermacht. Das lineare Kodierungsprinzip einer Alphabetschrift kann komplexe, im Prinzip nicht linear abbildbare Strukturen repräsentieren. Des Weiteren bemerkt der Autor (Freisler 1994: 26), dass man sich beim Schreiben eines linearen Textes immer für eine bestimmte Linearisierung entscheiden muss. Die Globalstruktur im linearen Text ist nach Freisler (1994: 38) eher monohierarchisch. Es existieren eher unidirektionale 1: 1-Beziehungen zwischen den Textteilen. Typisch ist die Anwesenheit eines zentralen, regierenden Textschemas bzw. einer zentralen Struktur der Themaentfaltung, von der andere hierarchisch untergeordnete Textteile abhängen. Digressionen werden generell vermieden. Viele Fußnoten sind die Ausnahme. Die Verkettung von Textteilen erfolgt durch kohäsive Mittel, die eine eindeutig definierte Leseabfolge voraussetzen und implizieren. Auch Bucher (1998: 77) nennt typische für den linearen Text Verknüpfungsmittel, die eine lineare Struktur sprachlich konstituieren. Beim internen Aufbau dominieren reihende Satzstrukturen. Es wird der Typ des kontinuierlichen Lesers gewährleistet. Der additive Aufbau, das fast völlige Fehlen von Verstehenshilfen im Bereich des vorausgesetzten Hintergrundwissens, der Fach- und Fremdworterklärung. Der Leser verfolgt das Ziel, den Sinnzusammenhang zu rekonstruieren. Linearer Text ist zu einer natürlichen Kulturtechnik in allen gesellschaftlichen Bereichen geworden. Logisch-semantische Abhängigkeiten zwischen Textteilen lassen sich auf eine lineare Abfolge abbilden. Ein lineares Abfolgemuster von Einheiten, die in einem Konjunktionsverhältnis zueinander stehen, wird als Syntagma bezeichnet. Die Elemente dieser Syntagmen, die in einem Disjunktionsverhältnis zueinander stehen, bilden ein Paradigma. Das traditionelle Syntagma wird von Andersen (1990: 215) „concurrent syntagma“ genannt, weil es aus Zeichen besteht, die gleichzeitig sichtbar sind. Die hierbei bei der Textproduktion bestehenden Wahlmöglichkeiten des Autors werden durch „concurrent paradigma“ ausgedrückt. Ein linearer Text besteht nur aus dieser Syntagma-Art, weil der Text gewissermaßen als Ganzes bereits existiert und auch als Ganzes für den Leser sichtbar ist. Das heißt, an der linearen Sequenz der durch die Paradigmen zur Auswahl gestellten Einheiten <?page no="231"?> V ON DER L INEARITÄT ZUR N ICHT -L INEARITÄT IN T EXTEN 221 lässt sich nichts ändern, weil der Autor die Auswahl für den Leser bereits getroffen hat. Die traditionellen, linearen Texte werden argumentativ-fixiert, semantisch abgeschlossen und autonom intendiert und deshalb auch linear geschrieben und meist auch linear gelesen (vgl. dazu Freisler 1994: 34). Dazu eignet sich nach Horn (1989: 52) insbesondere der serielle Leser, der einen Text vom Anfang bis zum Ende durchliest. Er liest den nächsten Satz nicht, bevor er den vorhergehenden nicht verstanden hat. Traditionelle, linear konzipierte Texte präsentieren sich als physisch fassbare, begreifbare Ganzheiten mit Anfang, Mitte und Schluss, so Storrer (1999: 44f.). Der Leser rekonstruiert beim linear organisierten Text den vom Autor gelegten roten Faden. Der sog. rote Faden wird vom Autor durch den Text gelegt, um die Leserschaft beim Nachvollziehen und Verstehen der Textinhalte anzuleiten. Dies ist gebunden an eine Konzeptualisierung von Text als einer sequentiellen Abfolge von Teiltexten, die vom Leser in der vom Autor vorgegebenen linearen Anordnung rezipiert wird. Trotz individueller Unterschiede bei der Rezeption gibt es nach Beaugrande/ Dressler (1981: 8) einen gemeinsamen Kern möglicher Operationen und einen von allen Verwendern durchlaufend gefundenen gemeinsamen Inhalt. Dieser gemeinsame Kern kann jedoch nur dann bestehen, wenn der vom Autor vorgegebene Leseweg und die damit einhergehende Sequenzierung der Inhalte vom Leser auch nachvollzogen wird, bemerkt Storrer (1999: 46). Die lineare Anordnung der Teiltexte gilt hier als wichtiges Mittel, die Kohärenzbildung des Lesers zu steuern. Prinzipien für eine angemessene Sequenzierung im linearen Medium sind die Herstellung thematischer Kontinuität auf lokaler Ebene und die Anlehnung an konventionalisierte Sequenzierungsmuster auf globaler Ebene (vgl. dazu Schnotz 1994). In den sogenannten „Ganzschriften“ dient Schmitz zufolge (2001: 158) innere Geschlossenheit als anzustrebendes Leitbild. Die Hauptlast der Arbeit liegt beim schreibenden Autor. Er soll Geschlossenheit komponieren und der Leser hat sie im Wesentlichen nachzuvollziehen. Zum Verstehen des Textes ist also ein lineares Abarbeiten notwendig, und zwar das Lesen. Demgegenüber gilt nach Häcki Buhover (2000: 255) die aktuelle Internet-Nutzung als gesteuert durch das aktive Prinzip des Selektion. Stets muss der Leser eine Auswahl treffen, oft zappt er sich seine Lesetexte erst zusammen und bastelt sich einen einmaligen Text, den man nicht rekonstruieren kann. Der Lektürevorgang verändert sich damit durch das Ordnungsprinzip der Links. Analoge und digitale Zeichen können nicht nur nebeneinander stehen, sondern auch miteinander wirken und werden in diesem Zusammenwirken rezipiert (vgl. Fix 2001: 115). Freisler (1994: 27) zufolge ist die Geschichte des Hypertextes so alt wie die abendländische Schriftentwicklung, denn ein langsam beginnender Prozess zur Entlinearisierung des Geschriebenen kann bereits im 8. Jahrhundert beobachtet werden. Der Übergang zwischen linearen Texten und Hypertexten ist dann abgesehen vom Medium fließend. Bis etwa zum 7. Jahrhundert war die scripta continua die Regel. Etwa im 8. Jahrhundert werden in den Skriptorien Englands und Irlands die Wortabstände eingeführt. Bereits hier beginnt die Kombination aus dem semiotischen System Schrift und dem Medium Pergament eine mediale Eigenschaft zu entfalten, die die gesprochene Sprache nie hatte. Einzelne Worte werden mittels formaler Kriterien für den Leser erkennbar. Früher gab es in der juristischen Epigraphik rubricae, d.h. markierte Textabschnitte, anhand derer der Leser immer erkennen konnte, an welcher Stelle er sich in der Hierarchie des Textes befand. Der Text konnte schneller überarbeitet werden, Querverweise konnten effektiver eingefügt werden. Einzelne Textteile konnten sogar herausgenommen werden. <?page no="232"?> E WA EBROWSKA 222 Den wichtigen Schritt in der Geschichte der Entlinearisierung datiert Freisler (1994: 27) auf das 12. Jahrhundert, in dem eine generelle Verbindlichkeit in der Markierung der Textstruktur, der ordinatio, beobachtet werden konnte. Von nun an existieren Überschriften, kleine Zusammenfassungen, lebende Kolumnentitel, Marginalien, Markierung von einzelnen Argumentationsschritten, Fußnoten und Farben. Alle diese Textgestaltungsmittel förderten ein distanziertes und reflektiertes Leseverhalten. Die zweidimensionale Gestalt des Textes wird jetzt zu einem zusätzlichen Bedeutungsträger. Ein Teil des Inhalts wird jetzt bereits von außen sichtbar. Kuhlen (1991) bemerkt, dass ein linearer Text keineswegs nur linear ist, weil viele Möglichkeiten der textinternen Deixis bestehen. Fussnoten wurden als „proto-hypertextual“ bezeichnet. Storrer (1999: 35-36) zufolge waren Tendenzen zur nicht-linearen Textorganisation im gedruckten Medium ein Reflex auf veränderte Rezeptionsgewohnheiten, vom kompletten Durchlesen hin zur interessegeleiteten selektiven Auswahl von Inhalten. Auch in der wissenschaftlichen Fachkommunikation wird meist selektiv gelesen: querlesen, durchblättern, durch Indizes geleitet eine Textstelle ansteuern und von dort aus kreuz und quer lesen. Deshalb bieten auch Bücher zunehmend unterschiedliche Zugriffsstrukturen an. Auch nach Bucher (1999: 10) sind Delinearisierungstendenzen nicht ganz neu. In den Printmedien sind sie seit etwa 100 Jahren schon zu beobachten. Es geht vor allem um Zeitungen. Aus den buchähnlichen Fließtexten noch ohne Beitragsgliederung und ohne Überschriften sind komplexe, modular organisierte Informationsangebote geworden. Die Delinearisierung der Zeitung lässt sich an folgenden fünf Entwicklungstendenzen ihrer textlichen und visuellen Gestaltung festmachen: 1. Entwicklung von einem Medium für den Durchleser, für den selektiven Leser; die bekanntesten Selektionshilfen sind die Überschriften, Vorspann, ressort- und themenorientierte Seitenköpfe, Orientierungstexte, wie Anreißermeldungen, Inhaltskästen, oder ganzseitige Inhaltsverzeichnisse für die Gesamtausgabe; 2. Wandel von einem einkanaligen Textmedium zu einem dreikanaligen Medium als Text, Foto (Bild) und Grafik; 3. komplexe Textformen werden durch modularisierte ergänzt und abgelöst; aus dem Langtext wird ein Cluster aus verschiedenen Informationseinheiten; 4. die Modularisierung führt zu den sog. visuellen Texten, deren Strukturen durch grafische Mittel visualisiert werden; Bucher (1999: 11) unterscheidet darunter synoptische Texte, bei denen die lineare Textgestaltung durch eine nicht-lineare, tabellarische abgelöst wird und Übersichtstexte. Aufgrund dieser Entwicklungstendenzen haben sich in den Printmedien Strukturen herausgebildet, die man als hypertextuell bezeichnen kann. Nur das Kriterium der Virtualität fehlt. Jedoch macht erst die Verwaltung durch ein Hypertextsystem und die Präsentation der Informationsmodule am Bildschirm einen nicht-linearen Text zu einem Hypertext. Storrer (2004: 40) erklärt nicht-lineare Organisation so, dass mediale Objekte verschiedener Art (Text, Bild, Ton, Video) durch Hyperlinks zu Hypermedia-Texten verknüpft werden. Webseiten bestehen aus verschiedenen Komponenten, die zu einem selektiv rezipierbaren, modularen Ganzen zusammengesetzt sind; ihr Aufbau ähnelt dem in der Zeitungsgestaltung genutzten Prinzip des Textdesigns. Das modulare Printdesign unterscheidet sich allerdings vom modularen Hypertextdesign dadurch, dass Zeitungsseiten eine zweidimensionale Flächigkeit haben, auf der Text- und Bildkomponenten als ein Ensemble fixiert sind. Sie werden als Ganzheit wahrgenommen, Webseiten dagegen treten <?page no="233"?> V ON DER L INEARITÄT ZUR N ICHT -L INEARITÄT IN T EXTEN 223 dem Nutzer nicht als vollständige Ganzheiten entgegen, sondern bauen sich von oben nach unten sukzessive auf (vgl. Storrer 2004: 44f.). Storrer (2004: 52) macht auch darauf aufmerksam, dass es seit der antiken Rhetorik die Vorstellung vom Text als Weg gibt, auf dem der Autor seine Leser/ Hörer vom Textanfang zum Textende führt, so dass das bereits Gelesene/ Gehörte in der mit „rückwärts“ oder „zurück“ bezeichneten Richtung liegt. Allerdings gibt es im Hypertext kein „greifbares“ mediales Korrelat des Textwegs, wie etwa die Abfolge von Seiten in einem Buch. Ein Hypertextautor, der den Leser auf einem bestimmten Pfad durch die nicht-linear verknüpften Seiten führen möchte, muss diesen Pfad durch Navigationskomponenten erst sichtbar machen. Als Ausgleich stehen ihm flexiblere Strukturen zur Verfügung als das einfache Abschreiten vom Anfang zum Ende. Der Pfad kann Alternativen, Abkürzungen und Abzweigungen enthalten. Nicht-linear organisierte Texte präsentieren die Informationen in autonomen Modulen (Knoten, informationelle Einheiten), die nach thematischen und funktionalen Gesichtspunkten zu größeren Clustern zusammengefasst werden können, so Storrer (1999: 35). Der Nutzer entscheidet, welche Module er in welcher Abfolge rezipieren möchte. Es gibt keine vorgegebene Rezeptionsabfolge, kein autorenbestimmtes Sequenzmuster der Rezeption. Insofern unterstützt die nicht-lineare Textorganisation das selektive Lesen. Der lange Text wird in einen Cluster von Einzeltexten, Schaubildern und Graphiken zerlegt. Es ist nicht von Bedeutung, in welcher Auswahl und Reihenfolge der Rezipient die Clusterteile empfängt. Ziel eines Cluster-Textes, auch Puzzle-Textes oder einer Versammlung von Texten genannt, sieht Püschel (1997: 38) darin, das thematisierte Ereignis auf vielfältige Weise und aus den unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Die nicht-lineare Organisationsform wird in Hypertexten radikalisiert, die Module sind verknüpft durch computerisierte Verweise, die sog. Hyperlinks. Die Verweisverfolgung geschieht durch das Aktivieren von Linkanzeigern. Der Leser stellt sich die Module in der von ihm gewünschten Abfolge zusammen. Hypertextsysteme sind darauf ausgerichtet, den Benutzer bei der selektiven Lektüre auf selbstgewählten Lesewegen zu unterstützen. Hypertexte sind keine abgeschlossenen Texte, mit offenen Enden, an denen Autoren wie Rezipienten weitere Informationsmodule anknüpfen können, bemerkt Storrer (1999: 38). Hypertexte werden vom Rezipienten als ein Nacheinander, Übereinander und Nebeneinander von Modulen auf dem Bildschirm wahrgenommen. Sind wirklich die klassischen schriftlichen linearen Texte an ihr historisches Ende gelangt? Literatur Andersen, Peter Bogh (1990). A Theory of Computer Semiotics. Cambridge: Cambridge University Press. Beaugrande, Robert-Alain/ Dressler, Wolfgang Ulrich (1981). 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Obgleich sie teilweise auf ihren eigenen Erfahrungen und Erfahrungen anderer basieren, sind sie durch die Phantasie und Vorstellungskraft der Schriftstellerin Herta Müller entstanden, die diese Bedeutungen bewusst in ihren in deutscher Sprache geschriebenen literarischen Diskurse eingebettet hat. Mein Interesse an der Sprache in ihren Texten wurde durch die Ankündigung der Königlich-Schwedischen Akademie in Stockholm geweckt, den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2009 an die Schriftstellerin zu verleihen und durch die Begründung dazu, in der es heißt, dass Herta Müller mittels der Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit gezeichnet hat. Die Bekanntgabe der Entscheidung fiel in einen Zeitraum, in dem ich mich gerade mit dem englischen Begriff home beschäftigt habe. Ich war als Plenarsprecherin zu der von der Kahchh University in Bhuj/ Indien und der Universität Münster/ Deutschland gemeinsam organisierten internationalen Konferenz „Constructs of Home“ eingeladen, auf der ich über die Verwendungsweise, über Bedeutungen und Veränderungen von Bedeutungen des Begriffs home in unterschiedlichen englischsprachigen Literaturen gesprochen habe (vgl. Ebeling: i.Dr.). Eine Erkenntnis der Konferenz war, dass neue Formen des Zusammenlebens von Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, eine durch den Arbeitsalltag bedingte Mobilität und zunehmende Migration zur Instabilität und zu widersprüchlichen Bewertungen des Begriffs Zuhause geführt haben. Bevor ich mich den in den literarischen Texten von Herta Müller angelegten Bedeutungen von Zuhause zuwenden werde, diskutiere ich Bedeutungen ohne Bezug auf den konkreten Kontext, wobei ich insbesondere auf etymologische Aspekte eingehen werde und eingrenzend hauptsächlich diejenigen Bedeutungen der Wörter berücksichtige, die mir mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand relevant erscheinen. Auf dieser Grundlage sollen dann Verwendungen und Bedeutungen von Nomina wie Heimweh, Verben wie hausieren, Adjektive wie heimatsatt und Adverbien wie daheim, um je ein Beispiel zu nennen, in den zwei literarischen Texten von Herta Müller, „Atemschaukel“, 2009 erschienen, und „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“, erstmals 1997 veröffentlicht, analysiert werden. 2 Zuhause und sinnverwandte Wörter: Bedeutungsbeschreibung Zuhause steht für den Wohnsitz, das Haus / die Wohnung in dem / in der man lebt. Als zusätzliche Bedeutung wird oft sich wohl fühlen genannt. Man sucht ein Zuhause, hat ein <?page no="238"?> K ARIN E BELING 228 Zuhause oder hat kein Zuhause. Familie und Geborgenheit sind impliziert (vgl. Drosdowski 1993: 4043). Sinnverwandt sind die Adverbiale zu Hause, nach Hause oder von zu Hause, die eine Richtung, ein Ziel oder eine Position in ihre Bedeutung einschließen. Man kann sich auf zu Hause freuen, etwas für zu Hause mitnehmen oder aufheben. Zuhause wird oft mit dem englischen Wort home gleichgesetzt. Darauf geht Rykwart (1993: 49) ein, für den der englische Begriff home, auch wenn er tief in der menschlichen Erfahrung verwurzelt ist, nur schwer in andere Sprachen übertragbar ist. Das Wort Heim ist für ihn fast ein Homonym zu home. Für die im Deutschen gebräuchliche Wendung Haus und Heim nennt Rykwart hearth and home als englische Entsprechung. Genau wie das deutsche Wort Heim impliziert das englische home ein Gefühl des Wohlbehagens: It is the family. […] ’Home’ does not require any building, even if a house always does. You can make a home anywhere: a little tinder, even some waste paper, a few matches, or a cigarette lighter is all you need (ebenda: 50). Beide Wörter, home und Heim, gehen auf die indoeuropäische Wurzel kie zurück mit der Bedeutung liegen, auch Niederlassung, Lager, Wohnsitz sowie traut und lieb (vgl. Pfeifer 1993: 524). Das lateinische domus hat die indoeuropäische Wurzel dem (Familie). Vom 16. bis 18. Jahrhundert wurde das Substantiv Heim in der deutschen Literatursprache nur selten verwendet. Eine Neubelebung ging vermutlich mit der einsetzenden Verwendung von heim als Adverb mit der Bedeutung nach Hause oder einer Substantivierung des Adverbs einher. Das Duden-Herkunftswörterbuch (vgl. Drosdowski 1989: 276) führt diese Neubelebung auf den Einfluss des englischen Worts home zurück. Allerdings ist das Substantiv Heim in der deutschen Gegenwartssprache weniger gebräuchlich. Verwendungen mit der Bedeutung jemandes Wohnung, Zuhause unter dem Aspekt von Geborgenheit und angenehmer Häuslichkeit wie eigenes, behagliches, stilles oder trautes Heim, das Heim schmücken, jemandem ein gemütliches Heim einrichten und in ein neues Heim einziehen sind aber im Duden (vgl. Drosdowski 1993: 1509) noch als gebräuchlich verzeichnet. Zunehmend wird Heim mit diesen Bedeutungen jedoch durch Zuhause ersetzt und Heim mit der Bedeutung Land, in dem man geboren ist, die auf das 10. Jahrhundert zurückgeht, durch Heimat. Die heutigen Bezeichnungen Vaterland und Geburtsland sind aus den Komposita faterheim und faterheima hervorgegangen (vgl. Pfeifer1993: 524). Heimat steht heute außerdem für das Land, den Landesteil oder den Ort, in dem man aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Wohnsitz zu Hause fühlt. Oft ist der Begriff auch Ausdruck gefühlsbetonter Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend. Wendungen, wie die Heimat verlieren, verlassen, aufgeben sind gebräuchlich. Das Adjektiv heimatlos hat die Bedeutung keine Heimat mehr besitzend und das abgeleitete Substantiv Heimatlosigkeit, das bezeichnend für viele Texte von Herta Müller ist, für das Heimatlossein. An dieser Stelle soll auch erwähnt werden, dass einige Komposita, in denen Heimat als Bestimmungswort fungiert, heute leider zu oft im negativen Sinne als chauvinistisches Gedankengut verwendet werden. Dazu zählen Heimatliebe mit der Bedeutung Liebe zur Heimat und Heimattreffen, das ein Treffen von Heimatvertriebenen zum Gedenken an die verlorene Heimat bezeichnet. Eine Ableitung von heim ist das Adverb daheim, das auf die althochdeutsche Form heime und die mittelhochdeutschen Formen heim[e] und d heime zurückgeführt wird. Verben, wie heimfallen, heimgehen, heimleuchten oder heimzahlen sind unfeste Zusammensetzungen mit dem Adverb heim eingegangen. Zu diesen Formen zählt auch heimsuchen, zurückführbar auf die mittelhochdeutsche Form heime suochen mit der <?page no="239"?> Z UHAUSE UND SINNVERWANDTE W ÖRTER BEI H ERTA M ÜLLER 229 Bedeutung in freundlicher oder feindlicher Absicht aufsuchen, überfallen. Das entsprechende Substantiv Heimsuchung (mhd. heimsuochunge) bezeichnet ursprünglich Hausfriedensbruch (vgl. ebenda). Das Verb heimkehren schließt heute die Bedeutungen nach Hause, an seinen Heimatort, in die Heimat zurückkehren ein. Die substantivierte Form Heimkehr, die Ableitungen Heimkehrer und Heimkehrerin sowie die zusammengesetzte Form Heimkehrertransport schließen oft die Bedeutung aus dem Krieg, aus der Gefangenschaft ein. Der Heimweg ist der Weg nach Hause, in die Wohnung oder zum Heimatort. Heimweh, ursprünglich ein zunächst in der Schweiz verwendeter medizinischer Fachausdruck, bedeutet große Sehnsucht nach dem Zuhause, nach Geborgenheit. Auf zwei von dem Wort Heim abgeleitete Adjektive, heimisch und heimlich soll kurz hingewiesen werden. Heimisch bedeutet zum einen das eigene Land betreffend, dazu gehörend und zum anderen zum eigenen Heim, zur vertrauten häuslichen, heimatlichen Umgebung gehörend (vgl. Drosdowski 1993: 1511). Heimlich ist aus der althochdeutschen Form heim[i]lih mit der Bedeutung vertraut, zum Hause / zum Heim gehörend, fremden Augen entzogen, hervorgegangen. Im 15. Jahrhundert erst entwickelt sich daraus die heute eher vorherrschende Bedeutung geheim. Die sprachlichen Formen Zuhause und zu Hause sind aufgrund ihrer Bildung eng mit dem Wort Haus verwandt, dessen indogermanische Wurzel das Bedeckende/ das Umhüllende bedeutet. Haus geht auf die althochdeutsche Form hs zurück und ist mit dem englischen Wort house verwandt. Heute bezeichnet es erstens ein Gebäude, das Menschen zum Wohnen dient. Man spricht vom väterlichen Haus oder von dem Haus seiner Eltern (vgl. Drosdowski 1993: 1489). Das Wort wird in Wendungen wie ein Haus bauen, einrichten, beziehen oder bewohnen verwendet. Zweitens kann Haus die Wohnung bezeichnen, in der man ständig lebt, von der man losgeht oder losfährt und zu der man zurückkommt. Man kann von zu Hause kommen, nach Hause gehen oder fahren, jemanden nach Hause begleiten, jemanden oder etwas nach Hause bringen oder auch von Haus zu Haus gehen (vgl. ebenda). Hauseingang oder Hauseinfahrt sind Komposita, in denen Haus das Bestimmungswort ist. Menschen stehen im Hauseingang oder betreten das Haus durch einen vorderen oder hinteren Hauseingang. Das von Haus abgeleitete Verb hausen, das im Althochdeutschen sowie im Mittelhochdeutschen wohnen/ sich aufhalten bedeutete, wird heute nur noch abwertend verwendet, meist mit der Bedeutung unter schlechten Wohnverhältnissen leben. Auf das Spätmittelhochdeutsche geht eine weitere Ableitung zurück: hausieren. Es handelt sich genauer um eine Mischbildung aus dem 15. Jahrhundert mit romanischer Endung. Im Duden (vgl. Drosdowski 1993: 1493) wird das Beispiel mit bunten Tüchern hausieren in der Bedeutung handeln, mit Tüchern von Haus zu Haus gehen, verwendet. Als Verbalsubstantiv wird Hausieren oft im Zusammenhang mit dem Wort Betteln genannt, zum Beispiel in der Ankündigung Betteln und Hausieren verboten (ebenda). Menschen, die hausieren, werden Hausierer oder Hausiererinnen genannt. 3 Sprache und literarische Kreativität Schriftsteller wählen sprachliche Mittel sehr bewusst aus, um damit ihren literarischen Themen, ihren Gedanken und Haltungen, Ausdruck zu verleihen. Ihre Sprache und von ihnen gezeichnete sprachliche Bilder sind Teil ihrer Identität, durch die sie eine Beziehung zu ihren Lesern herstellen und von diesen angenommen, bewertet oder auch abgelehnt werden in Abhängigkeit von den jeweiligen Einstellungen zu dem Dargestellten und der Art und Weise der Darstellung, also der verwendeten Sprache. <?page no="240"?> K ARIN E BELING 230 Die Schriftstellerin Herta Müller hat vielschichtige Bilder über Menschen, Familien, deren Zuhause und ihre Heimat entworfen. Ihre Darstellungen sind das Ergebnis literarischer Kreativität und ihre Version der Aufarbeitung historischer Ereignisse. Mittels ihrer Sprache schuf sie literarische Texte, die einerseits auf eigene Erfahrungen und andererseits auf Erlebtes von Menschen aufbauen, die ihr nahe standen oder nahe sind. In ihrem Nachwort zum Roman „Atemschaukel“ (vgl. 2009a: 299-300) schreibt Herta Müller dazu, dass sie bei Gesprächen mit Deportierten aus ihrem Dorf, zu denen Oskar Pastior gehörte, Aufzeichnungen gemacht hatte und dass so vier Hefte voller handschriftlicher Notizen und außerdem Textentwürfe für einige Kapitel entstanden waren. Dennoch sind ihre literarischen Texte natürlich Fiktion, in der Schicksale von Menschen erdacht, episodenhaft aneinander gefügt, verändert und modifiziert wurden. Herta Müller wurde in Rumänien, im deutschsprachigen Nitzkydorf, geboren. Sie ist in Rumänien aufgewachsen und lebte bis zu ihrer Übersiedlung nach West-Berlin im Jahre 1987 dort. Ihre Romane „Atemschaukel“ (2009a) und „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ (2009b) sind entstanden, nachdem sie ihre Heimat schon verlassen hatte. In meinen Analysen stehen Wörter als sprachliche Realisierungsformen von Inhalten und Haltungen im Mittelpunkt, die mit dem Zuhause in Beziehung gesetzt werden können. Die substantivierte Form ZUHAUSE dient gleichzeitig als Oberbegriff für die Eingrenzung und Einordnung von lexikalischen Einheiten, die in den literarischen Texten verwendet werden. Diese metasprachliche Verwendung des Wortes wird durch Schreibung mit Großbuchstaben gekennzeichnet. Während die sprachlichen Formen, die ZUHAUSE repräsentieren in „Atemschaukel“ (2009a) umfassend dargestellt werden, wird der Text „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ (2009b) nur in einem Ausschnitt betrachtet. 4 Analysen 4.1 „Atemschaukel“ Ein junger Mann, 17 Jahre alt, der als Angehöriger der deutschen Minderheit mit seinen Eltern und den Großeltern in einer rumänischen Kleinstadt lebt, wird im Januar 1945 in ein russisches Arbeitslager deportiert. Die Autorin lässt ihn, Leopold Auberg, dessen Name und Heimatort, Herrmannstadt, erst später genannt werden (vgl. Müller 2009a: 43), von der Zeit unmittelbar vor seinem Abtransport zur Zwangsarbeit, vom Leben im Lager und von der Rückkehr nach Hause berichten. Die Wörter im literarischen Text, die einem Wortfeld ZUHAUSE zu Beginn der Handlung zugeordnet werden können, erlangen ihre spezifischen Bedeutungen durch die geschilderte Situation. Es war Krieg, der von Deutschen ausgegangen war. Der Erzähler ist Angehöriger einer deutschen Minderheit in Rumänien. Die Kleinstadt, in der er lebt, und seine Familie werden eingeführt als ein Gefüge, das in jeder Hinsicht sehr eng ist, aus dem der Erzähler nur noch ausbrechen und weg oder los wollte: Weil ich unabänderlich auf der Liste der Russen stand, hat mir jeder etwas gegeben und sich sein Teil dabei gedacht. Und ich habe es genommen und mir gedacht mit meinen siebzehn Jahren, dass dieses Wegfahren zur rechten Zeit kommt. […] Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten. Statt Angst hatte ich diese verheimlichte Ungeduld (ebenda: 7). Die Enge der Stadt wird metaphorisch als Fingerhut dargestellt, die Steine, die Augen haben, stehen dafür, dass der junge Mann überall auf Aufpasser oder Polizei trifft. Zu dem Gefüge der Enge gehört auch die Familie mit Mutter und Vater, deren Erwartungen von ihrem traditionellen Leben bestimmt werden: <?page no="241"?> Z UHAUSE UND SINNVERWANDTE W ÖRTER BEI H ERTA M ÜLLER 231 Meine Mutter und besonders mein Vater glaubten, wie alle Deutschen in der Kleinstadt, an die Schönheit blonder Zöpfe, weißer Kniestrümpfe. An das schwarze Viereck von Hitlers Schnurrbart und an uns Siebenbürger Sachsen als arische Rasse. Mein Geheimnis war, rein körperlich betrachtet, schon höchste Abscheulichkeit. Mit einem Rumänen kam noch Rassenschande dazu (ebenda: 10-11). Die Familie und die Stadt sind das Zuhause. Weggehen zu einem anderen Ort, schließt Mitnehmen ein. Die persönlichen Sachen, die Leopold Auberg mitnimmt, passen in das Grammophonkistchen, aus dem die Mutter einen Koffer gemacht hatte. Die Großmutter gibt dem Enkel einen Satz, dessen Bedeutung später mit ganz unterschiedlichen Assoziationen verbunden ist, mit auf den Weg ins Lager: „ ICH WEISS DU KOMMST WIE - DER “ (ebenda: 14). Wörter wie wegfahren, mitnehmen und wiederkommen stellen hier, wie an vielen Stellen des Romans, eine relative Beziehung zum Zuhause her, genauso wie her[kommen] hier [sein] und nach Hause [gehen]. Beim Warten auf den Transport sagt ein älterer Mann: „Mein Schwager will noch kommen, […]. Wir sind doch noch in der Stadt, und er kann nicht her und ich nicht nach Hause“ (ebenda: 16). Trudi Pelikan gibt dem Schnee die Schuld, dass sie hier und nicht mehr zu Hause ist. Ihre Mutter konnte ihr nicht mehr heimlich das Essen bringen. Der frische Schnee hat den Russen das Versteck in einem Erdloch verraten: „Dass er [der Schnee] zwar in die Stadt gefallen ist, als wisse er, wo er ist, als wäre er bei sich zu Hause. Dass er aber den Russen sofort zu Diensten war. Wegen dem Schneeverrat bin ich hier, […]“ (ebenda 18). Später steht hier für das Lager, in dem ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, durch wir und uns/ unser ausgedrückt: „Gestohlen haben wir vor, während und nach der Arbeit, nur nicht beim Betteln, das wir Hausieren nannten - und nicht vom Nachbarn in der Baracke“ (ebenda: 23). Hausieren ist eine wichtige Beschäftigung nach der Arbeit, um etwas gegen den Hunger, der das ZUHAUSE Lager beherrscht, zu tun. Dabei übernehmen Tücher, Hausier- und Betteltücher genannt, eine Verpackungs- oder Transportfunktion. Auch wenn das Hausieren eher Betteln ist, ist die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks bei der Darstellung bewahrt: Mich trieb der Hunger. Nach der Arbeit ging ich wieder mal ins Russendorf hausieren mit einem Stück Anthrazitkohle, das man jetzt zum Heizen brauchte. Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus (ebenda 76). Die Episode der Begegnung mit der alten Russin geht auf die Erinnerungen von Oscar Pastior zurück (vgl. Müller 2009d). Durch die Wahl der sprachlichen Mittel im literarischen Text wird aus dem Haus der Frau für kurze Zeit ein ZUHAUSE , ein Ort der Geborgenheit, Vertraulichkeit und Wärme und auch von Gastlichkeit, wie sie zu einem russischen ZUHAUSE bis heute gehört: Die alte Frau redete seit einer Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber, worum es ging. […] Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat, dass er Boris heißt und von zu Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat. Vielleicht habt ihr Glück, du und mein Sohn Boris, sagte sie, und dürft bald nach Hause (Müller 2009a: 76-77). Zu Hause steht hier auch für Familie. In einem anderen Beispiel wird diese Bedeutung durch einen vertrauten Gegenstand, eine Nähmaschine impliziert: „Ich habe Post von zu Hause. […], ich freue mich , weil wir zu Hause noch die alte Nähmaschine haben“ (ebenda: 211-212). Nach Hause und von zu Hause schließen entsprechend unterschiedliche Richtungen der Betrachtung ein, zu denen zu Hause in Beziehung gesetzt werden kann. ZUHAUSE bedeutet auch Heimat und besonders Landschaften der Heimat: <?page no="242"?> K ARIN E BELING 232 Die Berge von zu Hause zählt sie [Bea Zakel] langsamer auf, die Niedere Tatra, die Beskiden, die in die Waldkarpaten münden, am Oberlauf der Theiß. Mein Dorf heißt Lugi, sagt sie, ein verstecktes armes Dorf bei Kaschau. Dort schauen uns die Berge von oben durch den Kopf, bis wir sterben (ebenda: 64). Durch Assoziationen wird Heimat mittels Sprache lebendig. Eine Kuckucksuhr, die plötzlich in der Baracke hängt, führt beispielsweise dazu: Ich mochte aber die beiden Gewichte, die Tannenzapfen. Sie waren träges, schweres Eisen, und doch sah ich die Tannenwälder im Gebirge zu Hause. Hoch überm Kopf dicht beieinander die schwarzgrünen Nadelmäntel (ebenda: 99). Durch Erinnerungen wird Zuhause mit der Bedeutung Heimat gezeichnet, werden Bilder von Orten und Landschaften entworfen. Lager und Leben im Lager werden zu weiteren Bedeutungen von ZUHAUSE : Im Lager bin ich zu Hause, der Wachposten vom Vormittag hat mich erkannt, er hat mich zum Tor hereingewinkt. […], ich habe das Lager, und das Lager hat mich. Ich brauche nur ein Bettgestell und Fenjas Brot und meinen Blechnapf (ebenda: 143). Komposita wie Heimweg und Heimfahrt stehen zum Ausdruck der Bedeutung Lager ist Zuhause: Dass ich mich wie ein Schrank durch Felder und Grassland zum Lagertor schleppe, hat damals am Tisch niemand geahnt. Dass ich nur drei Jahre später allein in der Nacht ein Kartoffelmensch bin und meinen Rückweg ins Lager Heimweg nenne (ebenda: 198-199). Zu den Dingen, die als prägend für das Lagerleben dargestellt werden, gehört alles, das mit Essen und Hunger in Verbindung steht. Bei einer der regelmäßig stattfindenden Durchsuchungen wird Leopolds geheime Krautsuppe entdeckt, die er aus für ihn selbst nicht erklärbaren Gründen in die Heimat mitnehmen wollte (vgl. ebenda: 160). Oft wird dem Lager das ZUHAUSE in der anderen Welt gegenübergestellt: Wenn man tanzt, lebt man auf den Fußspitzen wie die Mondsichelmadonna im Café Martini, in der Welt, aus der man kommt. […] Ich aber tanze als Zwangsarbeiter […] und werde schwindlig vom Tanzsaal daheim und der Leere im Magen (ebenda: 145-146). Durch die Erfahrung Hunger und durch Darstellungen vom Essen bleibt das Lager nach der Rückkehr in die Stadt und zur Familie und darüber hinaus ein Teil der Bedeutung von ZUHAUSE . Personifiziert existiert der Hunger als Hungerengel, der auch Sehnsucht nach dem ZUHAUSE , das Heimat bedeutet, wach ruft: Der Hungerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind, und löscht Spuren, die nicht zu halten sind. Kartoffelfelder ziehen durch mein Hirn, die schiefliegenden Parzellen zwischen den Heuwiesen auf der Wench, Gebirgskartoffeln von zu Hause (ebenda: 88). Heimweh und heimwehkrank erlangen Bedeutungen durch den Hunger: Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, […] ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, […] (ebenda: 91). Aber es gibt auch Gefühle, die als Heimwehlosigkeit bezeichnet werden: Wenn ich mir mal ein Gefühl leiste, drehe ich den wunden Punkt um eine Geschichte, die trocken auf der Heimwehlosigket verharrt. Zum Beispiel auf dem Geruch von Maronen, also doch Heimweh (ebenda: 190). <?page no="243"?> Z UHAUSE UND SINNVERWANDTE W ÖRTER BEI H ERTA M ÜLLER 233 Zum Lager gehört auch, dass man von Träumen heimgesucht wird (vgl. ebenda: 189). In Gedanken an die Familie und die Heimat wird ZUHAUSE als Ungewissheit, verbunden mit Ängsten, dargestellt: „Eine andere Variante sagt, dass wir zuletzt hierbleiben wollen, weil wir nichts mehr anfangen können mit dem Zuhause und das Zuhause nichts mehr mit uns“ (ebenda: 259). Die Zeit nach dem Lager wird zur Suche nach dem ZUHAUSE , ist geprägt von Ängsten und den Gedanken an das ZUHAUSE Lager. Die Wörter Heimkehr und Heimgekehrter schließen in ihren Bedeutungen zurück sein ein. Das Wort daheim steht allgemein für nur einen Ort, hat jedoch für Leopold Auberg eine zusätzliche Bedeutung erlangt, denn das Lager bleibt Bestandteil seiner Gedankenwelt, lässt ihn als Heimgekehrten nicht los. Leopold Auberg wird als Mensch dargestellt, der denen, die nicht weg waren, nichts zu sagen hat: „Ich war schon seit Monaten mit den Füßen daheim, wo niemand wusste, was ich gesehen hatte“ (ebenda: 270). Erinnerungen an Gegenstände aus dem Lager werden von Herta Müller erdacht und tragen zu einer Darstellung bei, die Leopold Auberg heimatlos macht: Seit 60 Jahren will ich mich in der Nacht an die Gegenstände aus dem Lager erinnern. […] Gegenstände, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollen mich nachts deportieren, ins Lager heimholen, wollen sie mich […] Wenn mich nachts die Gegenstände heimsuchen und mir im Hals die Luft abdrosseln, reiße ich das Fenster auf und halte den Kopf ins Freie (ebenda: 33-34). Diejenigen, die nicht weg waren, werden im Gegensatz zu den Heimgekehrten als Heimatsatte bezeichnet (vgl. ebenda: 285). Die Eigenschaft heimatsatt wird auch auf Gegenstände angewendet, so auf Leopold Aubergs Mantel, der viel zu groß und immer noch der abgetragene Mantel von seinem Onkel Edwin war (vgl. ebenda). In dem Roman „Atemschaukel“ (2009a) werden Lebenserfahrungen und die verschiedenen Lebenswelten als Aspekte der Bedeutung von ZUHAUSE dargestellt. Es sind zunächst die Familie und die Kleinstadt, in der Leopold Auberg aufgewachsen ist. Im Lager verbindet er den Begriff ZUHAUSE zunehmend mit Vorstellungen und Fantasien, mit Erinnerungen, Wünschen und Träumen, mit Kindheit und Geborgenheit. Gleichzeitig wird das Lager, mit den ihm zunehmend vertrauten Menschen, zum ZUHAUSE . Sehnsüchte verklären das Bild von seinem früheren Zuhause und das gegenwärtige Zuhause wird mit dem früheren verglichen. Gegensätze, wie hier und da/ daheim gehören zu den sprachlichen Mitteln. Der Heimtransport führt zurück zur Familie und zur Kleinstadt. In beiden Gefügen fühlt sich Leopold Auberg nicht mehr wohl. ZUHAUSE verliert für ihn die Bedeutung, die er sich im Lager so oft ausgemalt hatte, ist eher gekennzeichnet von Fremdheit als von Vertrautheit, so dass er beschließt, erneut wegzugehen. Er fährt nach Österreich und schreibt seiner Frau Emma, mit der er zu diesem Zeitpunkt schon 11 Jahre verheiratet war, eine Karte mit dem Satz Ich komme nicht wieder (vgl. ebenda: 291). Leo Auberg ist endgültig heimatlos. 4.2 „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ Es ist Donnerstag. Eine Frau ist um Punkt 10 Uhr von Major Albu zum Geheimdienst bestellt. Für den Fall, dass sie nicht mehr nach Hause darf, hat sie Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste eingepackt. Während der Fahrt mit der Straßenbahn zum Verhör lässt sie episodenhaft ihr Leben an sich vorbeiziehen. Ihre Erinnerungen werden regelmäßig von der Reflexion über das Einsteigen und Aussteigen der Fahrgäste unterbrochen. Als sie selbst aussteigen muss, hält die Straßenbahn nicht lange genug. Sie muss bis zur nächsten Station weiterfahren und befindet sich so in einer Gegend, in der sie nie zuvor gewesen ist. <?page no="244"?> K ARIN E BELING 234 Unerwartet sieht sie dort ihren Ehemann Paul, der zusammen mit einem alten Mann, den sie nicht kennt, an Pauls Motorrad, seiner roten Java, baut. Der Roman endet damit, dass die Frau beschließt, an diesem Tag nicht zum Verhör zu gehen. Der Text beginnt mit dem Satz „Ich bin bestellt“ (Müller 2009b: 7). Die Erzählerin verlässt das private ZUHAUSE , Pauls Wohnung, die jetzt auch ihre ist. Sie und Paul hatten sich auf dem Flohmarkt kennen gelernt und später geheiratet. Die Wohnung liegt im 7. Stock eines Hauses, das als verrutschter Turmblock bezeichnet wird. Der Weg zur Straßenbahn ist der Erzählerin vertraut. Die Sträucher mit den weißen Beeren, die durch die Zäune hängen, erinnern sie ein wenig an Perlmuttknöpfe (vgl. ebenda). Sie steigt in die Straßenbahn und ist in Gedanken auch bei Paul und ihrem gemeinsamen Zuhause. Der Wohnort wird eher emotionslos als die Stadt bezeichnet: „Draußen zieht die halbe Stadt vorbei, zwischen Bäumen und Häusern gibt es Abwechslung“ (ebenda: 8). Sie denkt an die Wohnung, die oben liegt, und an die Ladenstraße unten: „Dass unsere Wohnung hoch oben liegt, ist für uns ein Vorteil, hat aber den Nachteil, dass auch Paul und ich von hier aus nicht genau sehen, was unten geschieht“ (ebenda : 30). Ängste spielen eine Rolle und das Gefühl der Sicherheit ist bedeutsam: „An dem Turmblock, […] kann man von der Straße beim Herumspazieren oder aus dem Auto nur den Eingang und die unteren Stockwerke genau beobachten. Vom fünften Stock aufwärts liegen die Wohnungen zu hoch, […]“ (ebenda). Umfeld und Bewohner des Turmblocks gehören zum ZUHAUSE , genauso wie die Geschäfte und die Menschen der Ladenstraße (vgl. ebenda 31). Unten wohnt Herr Micu, der den ganzen Tag am Eingang auf der Ladenstraße umherstreift und aufschreibt, wann die Erzählerin nach Hause kommt: Halb aus Bosheit, weil er mein Kommen und Gehen, und wer weiß was noch alles, aufschreibt, und halb aus Dankbarkeit, weil er es mir anvertraut hatte, kaufte ich ein Rechenheft für Herrn Micu. Er sollte unsicher werden, wenn er seine Beobachtungen in ein Geschenk von mir aufschreiben muß. Ich wollte höflich lähmen, weil Streit nichts brachte (ebenda: 221). Kommen und Gehen und vor allem Verben stellen eine Beziehung zu dem ZUHAUSE her. Nach Hause gehen, laufen, kommen, wollen schließen ein Ziel ein. Sprachliche Gegensätze spielen im gesamten Text eine wichtige Rolle, ausgedrückt durch Wortpaare wie gehen müssen und bleiben wollen oder da lassen und weg wollen: „Man hat es leichter, wenn man selbst weg muß, die Angst wegträgt, und das Glück da läßt, und vom anderen erwartet wird. Zu Hause sitzen und warten dehnt die Zeit zum Zerreißen und treibt die Angst auf die Spitze“ (ebenda: 28). Gefühle wie Glück, Angst, verbunden mit ständigem Warten gehören zum ZUHAUSE : Vor dem Unfall hatte Paul es mit dem Warten schwerer als ich. Wenn er auf seinen Sauftouren in der Stadt war, hab ich gewartet, bis er kommt. Er jedoch, wenn ich bestellt war, daß ich komme. Seit dem Unfall warte ich wie er (ebenda: 217). Ein wichtiger Aufenthaltsort in der Wohnung ist die Küche. Sie ist der Ort, an dem beide miteinander sprechen, über sich, die Verhöre und auch über Pauls Trinken: Wenn wir gegen Mittag am Küchentisch sitzen, ist es falsch, über den Rausch von gestern zu reden. […] Ja, die Wohnung ist klein, und ich will Paul nicht ausweichen, aber wir sitzen, wenn wir zu Hause bleiben, zu oft am Tag in der Küche (ebenda: 16-17). Das Vertrauen zu Paul, der Teil des privaten ZUHAUSE ist, wird am Ende des Textes erschüttert. Paul hatte ihr nicht erzählt, dass er seine rote Java reparieren wollte. Den alten Mann, der ihm half, kannte sie nicht, doch offenbar kannte er sie, die über die Situation nachdenkt: <?page no="245"?> Z UHAUSE UND SINNVERWANDTE W ÖRTER BEI H ERTA M ÜLLER 235 Wenn ich jetzt doch in den Turmblock gehe, zieh ich die Bluse, die noch wartet, an und setz mich in die Küche. Wenn jemand aussteigt, poltert die Lifttür auf dem Stock darunter oder darüber wie Steine. Und hier auf dem Stock wie Eisen. Wenn ich Eisen höre, geh ich ins Treppenhaus. Heute wird Albu kommen […] Wenn Albu meint, daß ich verschwinden sollte, werd ich ihm die Wahrheit sagen […] (ebenda: 239). Die knappe Beschreibung der Stadt, die überall sein kann, und der Menschen in der Straßenbahn oder entlang der Fahrtstrecke reflektieren nicht Merkmale wie Zugehörigkeit oder Vertrautheit. Diese Bedeutungen werden durch die Art und Weise der Darstellung des privaten ZUHAUSE und seines Umfelds vermittelt. 5 Schlussbemerkungen In beiden Texte hat die Schriftstellerin Herta Müller Bilder von einem ZUHAUSE , das Heimat einschließt, entworfen. Während sie in „Atemschaukel“ ein ZUHAUSE der Nachkriegszeit zeichnet, führt „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ in das Rumänien der 70er- und 80er-Jahre. Mittels Sprache entstehen imaginäre Lebensräume, die mich als Anglistin an Salman Rushdie erinnern, der Bombay, als seine verlorene Stadt - englisch: my lost city - bezeichnet. Über die Arbeit an dem Buch Midnight’s Children (1981), das in seinem Londoner Exil entstanden ist, schreibt er: It may be that writers in my position, exiles or emigrants or expatriates, are haunted by some sense of loss, some urge to reclaim, to look back, even at the risk of being mutated into pillars of salt. But if we do look back, we must also do so in the knowledge […] that we will not be capable of reclaiming precisely the thing that we have lost; that we will, in short, create fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, […] (Rushdie 1992: 10). Rushdie setzt sich intensiv mit dem “Verlust” seiner Heimat auseinander, der einen deutlichen Bruch in seinem Leben darstellte (vgl. ebenda: 12). Auch Herta Müller hat Brüche erlebt, die ihre Sicht von Zuhause und Heimat geprägt haben. Sie äußert sich dazu in einem Interview unmittelbar nach Bekanntgabe der Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur im Jahre 2009: Ich komme aus einem ganz kleinen Dorf, und dann kam ich in die Stadt, und es waren immer Brüche und dann war ich Minderheit, Deutsche … und man gehörte sowieso nicht dazu. […] Das ist eine sehr konservative Minderheit und insofern war ich von denen ausgeschlossen, und in der rumänischen Gesellschaft aus politischen Gründen ausgeschlossen. Also irgendwie war es ganz normal daß man nicht dazu gehört, daß man nirgends dazugehört. Und dann kam ich nach Deutschland, und hier in Deutschland war ich immer die Rumänin, und in Rumänien war ich immer die Deutsche. Also, irgendwie ist man immer das andere … (Müller 2009c). Literatur Drosdowski, Günther (Hrsg.) (1989): Duden: Das Herkunftswörterbuch. Mannheim: Dudenverlag. - (Hrsg.) (1993): Duden: Das große Wörterbuch der Deutschen Sprache in acht Bänden. Mannheim: Dudenverlag. Ebeling, Karin (i.Dr.): Fictional Constructions of Home: Explorations in the Use of Language in Various English Literatures. In: Rajeswaran, Sridhar / Stierstorfer, Klaus (Hrsg). Constructs of Home. Proceedings of a Joint International Conference 24-26 November 2009. Bhuj. Müller, Herta (2009a): Atemschaukel. München: Hanser. - (2009b): Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. München: Hanser. <?page no="246"?> K ARIN E BELING 236 - (2009c): Interview: „Die Sprache hat andere Augen“. nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ 2009/ muller-telephone.html [18.04.2010]. - (2009d): Nobelvorlesung: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis. nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ 2009/ muller-lecture_ty.html [18.04.2010]. Pfeifer, Wolfgang (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen . Berlin: Akademie Verlag. Rushdie, Salman (1981): Midnight’s Children. London: Picador. - (1992): Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-1991. London: Penguin. Rykwert, Joseph (1993): House and Home. In: Mack, Arian (Hrsg.). Home: A Place in the World, New York: New York University Press, 47-59. <?page no="247"?> Der ‚Heimatdichter’ August Hinrichs und die Heimat Oldenburg Joachim Kuropka In seiner 1795 erschienenen „Geschichte des Herzogthums Oldenburg“ schrieb Gerhard Anton von Halem, 1 Direktor der Regierungskanzlei, über das Herzogtum Oldenburg und die Oldenburger: Der Oldenburger liebet sein Vaterland, das Land, wo er zuerst als Mensch sich fühlte; liebt es, weil er hier in einem vorzüglichen Grade seiner Menschheit froh werden kann. - Frei wandelt er unter Freien; hört keine Seufzer frönender Leibeigenen, keine Klagen des Landmannes, dessen Söhne gewaltsam zum Kriegsdienste entrissen werden. In der Rechtsverwaltung sehet er Gleichheit, in der Religion ächten Geist des Protestantismus herrschen. Er sieht die Verschiedenheit der Stände kaum merklich die Geselligkeit einschränken. Willig zahlt er dem Staate seine Abgaben. Er weiß, daß ohne sie die augenscheinlichen Vortheile gesellschaftlicher Verbindungen nicht genossen werden können. - Er weiß, daß, hat er sie entrichtet, der Gebrauch seines wohlerworbenen Vermögens völlig unzertrümmert bleibt. Er weiß, daß seine Vorweser vor hundert Jahren schon die selbigen Abgaben leisteten, zu welchen er verpflichtet ist. Er erkennt, wie viel billiger es ist, die Steuern, wie hier, von dem ihn nährenden Boden, als durch Mittel zu heben, die zu Betrug führen, und die Moralität verderben. Er weiß endlich, daß der Ertrag seiner Steuer nicht verschwendet wird: denn er hat volles Vertrauen zu dem Regenten, der seine Reichsstandverhältnisse nicht verkennet, und dessen Handlungen täglich davon zeugen, daß auch er Vertrauen und Liebe zu dem Volke heget, dessen Wohl zu befördern er berufen ward. (von Halem 1795, V) Sicher, bei Halems Geschichte Oldenburgs handelte es sich um ein ‚patriotisches Werk’ nach dem Vorbild von Justus Mösers Osnabrückischer Geschichte (Möser 1768). Doch scheint die Einschätzung der Lebensverhältnisse in Oldenburg durchaus realistisch gewesen zu sein, denn als Justus Gruner auf seiner ‚kritischen Wallfahrt’ zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Oldenburg kam, zog er dort mit geschärfter Aufmerksamkeit … Erkundigungen über seinen Zustand ein und… fand mit unendlicher Freude die Beschreibung wahr, die man davon entworfen - wahr das schöne herrliche Bild, das der treffliche vaterländische Geschichtsschreiber Gerhard Anton von Halem von dem Schicksal seiner Mitbürger mit so lebhaften als richtigen Farben mahlte ... (Dethlefs/ Kloosterhuis, Bearb., 2009, 210) Kein Wunder also, der Oldenburger liebt sein Vaterland und wollte es möglichst behalten, als etwa im Zuge der Reichsreformbestrebungen während der Weimarer Zeit zu befürchten stand, dass Oldenburg in Preußen aufgehen könnte. Liest man die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Oldenburgischen Landtages im Jahre 1928, so werden im Prinzip die gleichen Argumente für ein Weiterbestehen Oldenburgs vorgebracht, die kostengünstige Verwaltung, die im Vergleich zu anderen Ländern des Reiches geringeren Steuern, die Bürgernähe von Regierung, Politikern und Beamten. (vgl. Stenographische Berichte 1928, 50f.) Diese Haltung zur Heimat Oldenburg lässt sich bis heute beobachten. Es gibt zwar kein Land Oldenburg mehr, aber das „Oldenburger Land“ mit der Oldenburgischen Landschaft als Körperschaft des Öffentlichen Rechts, die zusammen mit den Kommunen, mit Verbänden, Vereinen und Einzelmitgliedern das Oldenburg-Bewusstsein und die oldenburgische Heimat pflegt. Heimat, das sei der Ort, an dem man sich wohlfühlt, bemerkt dazu der 1 Zur Biographie vgl. Ritterhoff 1992, 267-273. <?page no="248"?> J OACHIM K UROPKA 238 Präsident der Oldenburgischen Landschaft in einem von dieser herausgegebenen repräsentativen Buch (Rheude/ Kreier 2006). Das „ausgeprägte oldenburgische Heimatgefühl“ bestehe „mit großer Intensität“ fort, denn „Werte wie Familie, Freundschaft, Nachbarschaft und Gastfreundschaft werden … hoch geschätzt“, das Land und auch seine Städte seien überschaubar und so identifizierten sich die Menschen mit dem Oldenburger Land und seien stolz auf dessen Geschichte (Modick/ Lucke 2006, 13). Dazu lässt sich in dem genannten Buch ein Überblick gewinnen, u.a. durch zwölf berühmte Oldenburger, von Marcus Nathan Adler (Landesrabbiner in Oldenburg und Oberrabbiner in London), Charlotte Sophie Gräfin von Bentinck (Mätresse des Reichsgrafen zu Schaumburg-Lippe), Carl Bultmann, Hermann Ehlers, Clemens August Graf von Galen, August Hinrichs, Karl Jaspers, Helene Lange, Franz Radziwill, Arp Schnitger (berühmter Orgelbauer), Johann Heinrich von Thünen (bedeutender Nationalökonom). Am engsten mit der Heimat Oldenburg verbunden und diese in seinem Werke repräsentierend ist zweifellos August Hinrichs, der „Heimatdichter“, dessen Bühnenstücke „zu den Klassikern der niederdeutschen Literatur und des niederdeutschen Theaters zählen und die ihn als bedeutenden norddeutschen Heimatschriftsteller ausweisen“. Dazu werden in dem genannten Buch insbesondere genannt seine „Swienskummedi“ (hochdeutsch „Krach um Jolanthe“), die Bauernkomödien „Wenn dei Hahn kreiht“ und „För de Katt“, Stücke, mit denen Hinrichs „in den 1930-Jahren der meist gespielte lebende Autor in Deutschland“ war (Rheude/ Kreier 2006, 49). Hinrichs (1879-1956) war Tischler mit einer - u.a. plattdeutschen - poetischen Ader und wurde seit 1908 als ‚dichtender Tischlermeister’ bekannt. 1929 gab er angesichts seiner schriftstellerischen Erfolge und der schwierigen wirtschaftlichen Lage seine Tischlerei auf und wurde freiberuflicher Schriftsteller. 2 Wenn sein Ruhm nach 1945 auch stark verblasste, blieb er doch im Oldenburgischen und in Niedersachsen ein bekannter, wenn nicht berühmter Mann. Zu seinem 70. Geburtstag gratulierten der Niedersächsische Ministerpräsident und der Großherzog von Oldenburg, zu seinem 75. Geburtstag gab es eine Feier im Großen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters, ihm wurde das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen und die August-Hinrichs-Bühne am Staatstheater gab sein Stück „För de Katt“ (vgl. Finster 1990, 90). Auch nach seinem Tod am 20. Juni 1956 blieb Hinrichs in hohem Ansehen. Am 26. Juni waren bei einer Gedenkstunde im Staatstheater Ministerpräsident Heinrich Hellwege, sein Vorgänger Hinrich Wilhelm Kopf und der Erbgroßherzog Nikolaus von Oldenburg anwesend und in der Erinnerung der Zeitgenossen hatten die Trauerfeierlichkeiten „die Form eines Oldenburger Volkstrauertages“ (Riedel 1979, 35) Seit Hinrichs’ 100. Geburtstag meldeten sich auch kritische Stimmen, war er doch 1935 Landesleiter der Reichsschrifttumskammer für den Gau Weser-Ems und 1937 NSDAP- Mitglied geworden, , aber im Entnazifizierungsverfahren, das sich länger hinzog, 1949 in die Kategorie V als „unbelastet“ eingestuft worden (vgl. Finster 1990, 65f. und 79f.), wobei seine regimenahen Stücke erstaunlicherweise keine Rolle gespielt hatten. Insbesondere Klaus Dede wandte sich gegen den „Kult … um diesen Heimatdichter“ dem „keine literarische, sondern eine politische Bedeutung“ zukomme (Dede 1990, 121 und 31). Der Antrag, Hinrichs aus der Liste der Ehrenbürger der Stadt Oldenburg zu streichen, fand 1991 im Stadtrat keine Mehrheit, sei doch Hinrichs nicht Nationalsozialist, sondern ein „bodenständiger Heimatdichter“ gewesen, der „als solcher in die Ideologie der Nationalsozialis- 2 Zu Einzelheiten seiner Biographie vgl. Preuß 1999, Finster 1990, 14f. <?page no="249"?> D ER ‚H EIMATDICHTER ’ A UGUST H INRICHS UND DIE H EIMAT O LDENBURG 239 ten hineingepaßt“ worden sei (Niederschrift 1991). Zehn Jahre später wurde die Ehrenbürgerschaftsfrage wieder aktuell, als „die Linke Liste/ PDS-Fraktion Oldenburgs aus der Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht … ein braunes Karnickel“ zog, wie die Frankfurter Allgemeine damals schrieb (Rath 2001). Es handelte sich um ein Gedicht - ohne Titel - in einer Gedichtsammlung zu Hitlers Geburtstag im Jahre 1941. Auch diesmal gab es keine Mehrheit gegen Hinrichs. Der stellvertretende Stadtmuseumsleiter befand vielmehr, dass „unmittelbare nazistische Parolen und völkisch-rassistisches Vokabular nicht verwendet“ worden seien und Hinrichs „in subtiler Weise einen sicher nicht ersehnten Auftrag erledigt [habe], den er… schlechterdings nicht hätte ignorieren können“. (Elerd 2002, 251) Während August Hinrichs’ Verhältnis zum NS-Regime mehrfach untersucht und auch öffentlich problematisiert wurde, 3 ist sein Verhältnis zur ‚Heimat’ demgegenüber kaum in den Blick gekommen. Das mag daran liegen, dass sich seine literarischen Anfänge und sein Werk bis Ende der 1920er Jahre problemlos in die sogenannte ‚Heimatbewegung’ einordnen lassen 4 und er insofern gewissermaßen als die oldenburgische Variante des ‚Heimatschriftstellers’ gelten kann. So wird denn auch konstatiert, dass Hinrichs’ literarische Produktion „der angestammten ‚Heimat’“ galt, die „die Grundlage für alles, was August Hinrichs schrieb“, gewesen sei. Gerade diese enge Verbindung zur oldenburgischen Heimat habe zu einer sich „gegenseitig anregenden Wechselbeziehung“ mit seinem Publikum geführt. Hervorgehoben wird, dass Hinrichs die Heimat nicht in rückwärts gewandter Perspektive gesehen habe, sondern für ihn Heimat alles ihn umgebende umfasst habe, „zu dem eine gefühlsmäßige Beziehung bestand oder hergestellt werden konnte“. (Elerd 2002, 242) So entstammen also seine Stoffe der heimatlichen Umgebung und Geschichte und vor allem seine Bühnenstücke werden zu einem guten Teil in plattdeutscher Sprache dargeboten, wie auch die am 30. März 1930 im Oldenburger Landestheater uraufgeführte „Swienskummedi“, die seinen Ruhm begründen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man August Hinrichs als typischen Heimatschriftsteller ansehen, etwa mit seinem ersten Roman „Das Licht der Heimat“ (Leipzig 1920) über das Schicksal einer Heidebauernfamilie, seiner Novelle „Der Moorhof“ (Wilhelmshaven 1920), dem autobiografischen Roman „Der Wanderer ohne Weg“ (Leipzig 1921) oder dem Roman „Das Volk am Meer“ (Leipzig 1929). Diese und weitere Werke erreichten teilweise mehrere Auflagen - „Das Licht der Heimat“ etwa die 7. bis 19. Auflage 1941- 1944, „Das Volk am Meer“ eine neunte und zehnte Auflage, sowie Übersetzungen ins Dänische, Niederländische und Englische - und machten damit die Oldenburgische Heimat in dieser literarischen Verarbeitung in Deutschland und über Deutschland hinaus bekannt. Das galt - äußerlich betrachtet - auch für die „Swienskummedi“, in der hochdeutschen Fassung „Krach um Jolanthe“, die im April 1934 im Lessing-Theater in Berlin die 300. Aufführung erlebte und August Hinrich zu einer Berühmtheit machte. Auch hier handelt es sich auf dem ersten Blick um ein ‚Heimatstück’. In seinem historischen Kern geht es zurück auf die Geschichte um den Eberborg (kastrierter Eber), die sich im Jahre 1929 in der Gemeinde Sevelten im Landkreis Cloppenburg abgespielt hatte. Dort verweigerte ein Bauer die Bezahlung von einigen Hundert Mark Steuerschulden, was zur Pfändung des Eberborgs führt, der nach der Versteigerung von den Bauern des Dorfes dem Ersteigerer gewaltsam genommen und im Triumphzug auf den Hof des Bauern zurückgebracht 3 Vgl. Finster1990, 52f.; Dede 1990; Elerd 2002, 244f.; Kuropka 1994, 161f. . 4 Vgl. dazu etwa Klueting (Hrsg.) 1991, Gollwitzer 1975, 12f.; Museumsdorf Cloppenburg u.a. 1999. <?page no="250"?> J OACHIM K UROPKA 240 wurde. 5 Im Zusammenhang der damals grassierenden schweren Landwirtschaftskrise und einer starken Protestbewegung schlugen die Ereignisse hohe politische Wellen. Es kam zu einer Landtagsdebatte und zu einem Prozess wegen Landfriedensbruchs, in dem die Bauern durchweg die Aussage verweigerten und 21 Personen Gefängnisstrafen zwischen drei und fünf Monaten erhielten, die allerdings (mit Ausnahme eines Knechtes) nicht vollzogen wurden. Diese Ereignisse verarbeitete Hinrichs zu einer plattdeutschen Bauernkomödie, in der das Schweigen der Bauern, ihr Zusammenhalten und Aufbegehren gegen den Staat hervorgehoben wird. Es handelt sich gewissermaßen um ein typisches ‚Heimattheater’, das nach der Uraufführung von anderen niederdeutschen Bühnen bald übernommen wurde. Für diese Einordnung konnte als Indiz gelten, dass die hochdeutsche Fassung unter dem ersten Titel „Metzelsuppe“ kein Interesse fand. Eine gewisse Verbreitung stellte sich erst ein, als die Komödie im Herbst 1930 in einer sächsischen Dialekt-Bearbeitung unter dem Titel „Wurschtbrühe“ in Dresden Erfolg hatte. Der Erfolg also war nicht so berauschend. Eine Wanderbühne spielte das Stück auch in Berlin unter dem neuen Titel „Krach um Jolathe“ - und dann plötzlich kamen die Zuschauer. Im Februar 1934 wurde die 250. Vorstellung gegeben, im April die 300. Bald wurde „Krach um Jolanthe“ in ganz Deutschland bekannt und gespielt von Bremen bis Landsberg und von Aachen bis Breslau. 1934 gab es eine Verfilmung unter der Regie von Carl Froelich mit damals bekannten Schauspielern in den Hauptrollen. Die Ursache des Erfolges benannte Hinrichs im Jahre 1935 selbst: „Stück und Autor fanden bei den jetzt verantwortlichen Männern so viel Förderung und so viel Verständnis, dass ich verwundert den Kopf schüttelte: ist denn das wirklich? Ja - es war wirklich! “ (Hinrichs 1935, 67). Allerdings wirkte sich der Zulauf merkwürdigerweise für den Autor finanziell gar nicht aus und auf seine Nachfrage hin erfuhr er, dass das Propagandaministerium ganze Vorstellungen für Parteimitglieder buchte, natürlich zu reduzierten Preisen. Hinrichs hatte also für sein Stück den Beifall der NS-Kulturverantwortlichen gefunden, denen „Krach um Jolanthe“ gut ins Konzept passte. Während Hinrichs betonte, sein Stück sei „wirklich keine politische Komödie, obschon Staat und Finanzamt eine erhebliche Rolle darin spielen“ (Hinrichs 1932). Doch ist ja nicht zu übersehen, dass das Stück eine hochpolitische Vorlage hat und diese, wenn auch auf komödienhafte Weise, in einem Tenor interpretiert, der immerhin so politisch war, dass das Stück vom NS-Regime genutzt wurde, transportierte es doch die ‚Schuld der Republik’, das gesunde Volksempfinden, die Großstadtfeindlichkeit, das Bauerntum als Grundlage des Staates, Fremdenfeindlichkeit und auch einen Schuss Antisemitismus. 1929 geschrieben, war „Krach um Jolanthe“ zweifellos nicht nationalsozialistisch inspiriert, aber doch politisch in dem Sinne, dass es Gedankengut popularisierte, das die Nationalsozialisten erfolgreich politisch einsetzten. (vgl. Kuropka 1994, 168f.) Das nächste ‚Heimatstück’ lieferte August Hinrichs im Jahre 1934: „De Stedinge“. Es handelte sich um ein Auftragsstück für die 700-Jahr-Feier der Schlacht von Altenesch, in der die Stedinger Bauern durch die Truppen des Bremer Erzbischofs besiegt worden waren. Hinrichs thematisierte damit also einen Stoff aus der Geschichte seiner Heimat, mit dem er sich schon länger beschäftigt hatte, den er jedoch erst im Jahre 1933 zu dem Stück „Die Stedinger. Spiel vom Untergang eines Volkes“ - so die hochdeutsche Fassung - ver- 5 Zu Einzelheiten vgl. Strickmann/ Deux 1978. <?page no="251"?> D ER ‚H EIMATDICHTER ’ A UGUST H INRICHS UND DIE H EIMAT O LDENBURG 241 arbeitete. 6 Die Vorbereitungen eines Bürgerausschusses für die Gedenkfeier übernahm die NSDAP und am 26. und 27. Mai 1934 gab es ein umfangreiches Festprogramm, eine große Kundgebung mit Reden des Reichsernährungsministers Darré, des Gauleiters Röver, des Ministerpräsidenten Joel und des Reichsleiters Alfred Rosenberg, denen dann die Uraufführung des - wie es im Programm hieß - „Heimat-Freilichtspieles De Stedinge“ von August Hinrichs folgte. Es spielte die Oldenburger Niederdeutsche Bühne, ergänzt durch viele Laiendarsteller vor Tausenden von Zuschauern. Der Völkische Beobachter nannte 40.000, die Oldenburgische Staatszeitung 30.000 und tatsächlich dürften es 20.000 gewesen sein (vgl. Schmeyers 2004, 210). Man kann es als dichterische Freiheit ansehen, wenn Hinrichs in seinen „Stedingern“ die historischen Fakten souverän ignoriert. Selbstverständlich war das Ergebnis ganz im Sinne der - in Oldenburg schon seit 1932 regierenden - Nationalsozialisten. Reichsleiter Alfred Rosenberg, seit dem 24. Januar 1934 von Hitler beauftragt mit der „Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, erklärte bei der Uraufführung, „Heiliges Land ist für uns nicht Palästina, sondern überall da, wo es von Deutschen mit dem Blute verteidigt wurde. So wird das Stedinger Land … Heiliges Land“ und in seinem Tagebuch notierte er, die Feier in Altenesch habe gezeigt, „wie weit das Erwachen aus kirchlicher Psychose in Deutschland bereits vorgeschritten ist … Hinrichs ‚De Stedinge’ ist künstlerisch hochwertig, davon kann eine Revolution ihren Anfang nehmen“ (zit. nach Kaldewei 2006, 49). Hinrichs selbst hatte seine „Stedinger“ als politisches Kampfstück gesehen, wenn er über den „Heldenkampf der Stedinger“ am 29. Mai 1937 in der Oldenburgischen Staatszeitung eine direkte Parallele zur Gegenwart zog: Wieder stehen wir, wie ich zuversichtlich glaube, an einem Höhepunkt der Geschichte unseres Volkes. Wieder sind Männer da, alle Energien, alle schöpferischen und schaffenden Kräfte aufzurufen zum Kampf um Leben und Freiheit unseres Volkes, wieder stehen wir im Schicksalskampf gegen eine uns feindliche Welt. (zit. nach Warner 2000, 49) Mit den Stedingern hatte August Hinrichs ein antikirchliches, insbesondere antikatholisches Stück geliefert, dem der evangelische Pastor Carl Wöbken deutlich widersprach. Die Stedingerkriege hätten ökonomische, nicht antiklerikale Ursachen gehabt, die katholische Kirchenlehre sei keineswegs abgelehnt worden und die Stedinger seien vom Bremer Erzbischof auch nicht ausgerottet worden. Auf katholischer Seite widersprach die Heimatschriftstellerin Elisabeth Reinke in der Kirchenzeitung und in einer Kanzelerklärung wies der Bischöfliche Offizial in Vechta alle Katholiken, besonders die Eltern, darauf hin, „daß dieses Stück unsere heiligsten Gefühle verletzt. Inhalt und Darstellung sind dazu angetan, die Kirche und ihre Einrichtungen verächtlich zu machen“ (zit. nach Schmeyers 2004, 226). Wie verhält es sich angesichts der aufgezeigten Entwicklung seiner literarischen Produktion mit dem Verhältnis des Oldenburgischen ‚Heimatdichters’ August Hinrichs zu seiner oldenburgischen Heimat? Als Hinrichs seit 1933 zum Erfolgsautor wurde, popularisierte sein Erfolgsstück „Krach um Jolanthe“ nicht eigentlich diese oldenburgische Heimat in Deutschland und darüber hinaus, sondern offenbar eine unspezifische Heimat, sichtbar an den ‚Übersetzungen’ in andere deutsche Dialekte. Der Erfolg - das wird in der oldenburgischen Hinrichs-Literatur penetrant übersehen - stellte sich auch nicht etwa ein, weil die Zuschauer durchweg von einem besonders hervorragenden Stück mitgerissen worden wären, sondern weil das Stück dem NS-Regime aufgrund seiner immanenten Systemkritik 6 Vgl. Finster 1990, 60f.; Kaldewei 2006, 48f. <?page no="252"?> J OACHIM K UROPKA 242 an der Weimarer Republik, seinem Bezug auf das „bäuerliche Volksempfinden“ 7 und andere ideologische Versatzstücke propagandistisch nützlich erschien und deshalb gefördert wurde. Hinrichs’ Genugtuung über die Unterstützung berührt schon etwas merkwürdig, denn offenbar übersah er, dass im Frühjahr 1933, als er diese Förderung erfuhr, die Bücher von missliebigen Schriftsteller-Kollegen aus Bibliotheken und Buchhandlungen geholt und öffentlich verbrannt wurden (vgl. Schoeps/ Tress, Hg., 2008). Lediglich Klaus Dede hat auf die bemerkenswerte zeitliche Konstellation hingewiesen, dass Hinrichs 1945 wieder „auf seinen natürlichen Marktwert schrumpfte“. (Dede 1990, 34). Mit den Stedingern setzte Hinrichs seinen Erfolg fort - mit einem Auftragsstück, über das es auch heute noch heißt, es sei „ein großer Publikumserfolg“ gewesen und habe „auch gute Kritiken von vielen Seiten erhalten (Kaldewei 2006, 49), ja, es habe sich um einen „überraschend großen Erfolg“ gehandelt (Finster 1990, 64). Auch dies kann so sehr nicht verwundern, wenn schon bei der Uraufführung der gesamte Reichsbauernrat, die Oldenburgische Staatsregierung und der Bremer Senat anwesend waren (vgl. Kaldewei 2006, 48). Angesichts der staatlichen Förderung und der massiven Propaganda für den Besuch der weiteren Aufführungen lässt sich über ein freies Publikumsinteresse kaum etwas sagen. In Bezug auf die Oldenburgische Heimat handelt es sich in einem äußerlichen Sinne auch hier um ein ‚Heimatstück’, hatte doch die Schlacht bei Altenesch auf späterem oldenburgischen Territorium stattgefunden. Allerdings führte die im Sinne des NS-Regimes liegende weltanschauliche Tendenz des Stückes zu einer Spaltung gerade dieser oldenburgischen Heimat, deren Spezifikum auch darin lag, dass der protestantisch geprägte Norden und der katholisch geprägte Süden des Landes in ‚oldenburgischer Liberalität’ zusammen lebten. Als die Stadt Oldenburg im Januar 1945 ihr 600-jähriges Stadtjubiläum beging, war es der Heimatdichter und Ehrenbürger der Stadt, der in einem langen Artikel in der Oldenburgischen Staatszeitung ein Loblied auf seine „Heimatstadt Oldenburg“ sang. Alle fühlten sich doch dort so wohl. Die Einheimischen und die Fremden, wiewohl keiner so recht sagen könne, worauf dies zurückzuführen sei. Über allem schwebe eben „etwas Gemeinsames und hält es zusammen - der gute Geist der Stadt, der von allem Guten aus Vergangenheit und Gegenwart seine Kräfte zog“. Es gebe kaum eine Stadt, „in der man sich so wohl und geborgen fühlen kann wie hier“ (Hinrichs 1945). Nun war nicht zu übersehen, dass es in Oldenburg anders geworden war, seit im Mai 1932 eine nationalsozialistische Staatsregierung an die Macht gekommen war. Doch nach Hinrichs „hat die Stadt ihren guten Geist bewahrt, der ohne große Erschütterungen das wertvolle Alte mit dem guten Neuen verschmolz“ und selbst die „Beseitigung der Kleinstaaterei… weckte all jene schlummernden Kräfte und gab ihnen Richtung und Ziel“ (Hinrichs 1945). Das Vaterland, das der Oldenburger liebt, das gab es also im staatlichen Sinne nicht mehr und dies lobte August Hinrichs öffentlich. Seit Mai 1932 wandelte der Oldenburger auch nicht mehr „frei… unter Freien“ und es war durchaus auch nicht mehr so, dass der Oldenburger in seiner Heimat „in einem vorzüglichen Grade seiner Menschheit froh werden“ konnte, wie Gerhard Anton von Halem die Ursachen der Heimatliebe der Oldenburger 150 Jahre zuvor beschrieben hatte. Die ‚Heimat Oldenburg’ hatte unter der Diktatur die sie auszeichnenden Elemente eingebüßt und der Heimatdichter August Hinrichs hatte sich diesem Prozess angepasst und ihn durch seine Bühnenstücke befördert. Wenn vom Heimatdichter und der Heimatliebe gesprochen wird, dann ist es eben durchaus nicht 7 So Hinrichs selbst in den Betrachtungen zu seinem Stück, s. Hinrichs o.J. <?page no="253"?> D ER ‚H EIMATDICHTER ’ A UGUST H INRICHS UND DIE H EIMAT O LDENBURG 243 gleichgültig, wie es um die Realität in der Heimat steht. Diesen Zusammenhang hat Gerhard Anton von Halem in seiner „Geschichte des Herzogthums Oldenburg“ klar formuliert. Wenn der Oldenburger sein Vaterland liebt, dann „kann ihm die genauere Kenntnis der Vorgänge, welche die Verbindung, worin er sich befindet, bildeten, nicht gleichgültig sein.“ (von Halem 1795, IV) Literatur Dede, Klaus (1990): Kategorie V: Unbelastet. August Hinrichs und die Oldenburgische Landschaft, Oldenburg. Dethlefs, Gerd / Kloosterhuis, Jürgen (Bearb.) 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Wir kamen in Tübingen bald in näheren Kontakt, wussten, dass wir verschiedenen „Lagern“ im Seminar angehörten, doch niemals hat sich zwischen uns ein unüberwindlicher Graben aufgetan, eine Konfrontation beruhend auf unterschiedlicher Wissenschaftsauffassung, wie dies nicht selten zwischen Fachvertretern der Mediävistik und der Sprachwissenschaft in der Germanistik an deutschen Universitäten der Fall war. Nach Deiner Freiburger Zeit führte uns unsere jeweilige akademische Laufbahn an der Universität in Vechta wieder zusammen, wo das, was in Tübingen begonnen hatte, sich kollegial und freundschaftlich entfalten konnte: die Bemühung um Forschung und Ausbildung in der Germanistik, jeweils aus der uns eigenen, sich aber gegenseitig ergänzenden Sicht. Du hast nie den Blick auf die deutsche Sprachgeschichte verloren, und ebenso hast Du nie einen Zweifel an der Beschäftigung mit der deutschen Literatur des Mittelalters in der Lehrerausbildung aufkommen lassen. Nicht nur Jacob Grimm, sondern auch Walther und Wolfram verbanden uns in Diskussion und Publikation. So findet sich in Deiner Festschrift nun auch ein mediävistischer Beitrag. Seit meiner Studienzeit in Marburg und während meiner akademischen Lehre habe ich mich immer wieder mit dem ‚Willehalm’ Wolframs von Eschenbach befasst, einem Legendenepos, dessen Aktualität sich mir erst allmählich erschlossen hat. Der Tübinger Altgermanist Wolfgang Mohr berichtete, dass die erste studentische Nachkriegsgeneration dieses Werk mit besonderer Erschütterung gelesen habe. Was spielte sich da in den Köpfen der jungen Menschen ab, die die Hölle des Krieges und seine Grausamkeiten am eigenen Leib erlebt hatten? Und kann diese mittelalterliche Heiligengeschichte der heutigen Studentengeneration noch etwas sagen? Wolfram hat sein Epos nicht selbst ‚erfunden’, sondern in vielen Einzelheiten der französischen Chanson de Geste ‚Aliscans’ entlehnt, es dabei aber, über die von der Quelle vorgegebene Darstellung des grausamen Heidenkrieges hinausgehend, mit neuen Akzenten versehen und dazu vor allem die zentrale Frauengestalt Gîburc mit ihrer Forderung nach Verständigung und Erbarmen zwischen den verfeindeten kriegerischen Parteien völ- 1 Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich in der Maison de Heidelberg, Montpellier, vor Studierenden der Université de Montpellier gehalten habe. Die Vortragsform ist weitgehend beibehalten, weswegen auch auf die Angabe von weiterführender Literatur verzichtet wurde. Sie ist leicht ermittelbar bei Bumke (2004). Der Ort Saint-Guilhem-le-Désert liegt nordwestlich von Montpellier in den Gorges de l’Hérault. <?page no="256"?> E DGAR P APP 246 lig neu definiert. War und ist es die Grausamkeit des Krieges oder die von Gîburg ausgehende hoffnungsvolle Vision in Wolframs Werk, die die Studenten in Tübingen so berührte und vielleicht heute noch bewegen kann? Hinter den literarischen Zentralgestalten Willehalm und Gîburc stehen historische Personen aus karolingischer Zeit. Die lateinischen Namensformen sind Willelmus/ Guitburgis, in den altfranzösischen Fassungen Guilhem oder Guillaume bzw. Guibourc oder Guiborc (jeweils mit orthographischen Varianten). Um die Bedeutung von Wolframs Fassung recht ermessen zu können, soll die Entwicklung der beiden Figuren unter historischem, hagiographischem, sagengeschichtlichem und literarischem Aspekt verfolgt werden. Willelmus/ Guilhem in Geschichte und Legende Joseph Bédier (1908, T. 1, Kap. 6f) hat 16 historische Personen namens Guilhem/ Guillaume, die in karolingischen Raum und karolingische Zeit passen, auf ihre Identität mit dem Namensgeber des altfranzösischen Epos untersucht. Sein Ergebnis: es war ein Graf Guilhem/ Guillaume de Toulouse, der die historische Folie für die spätere Ausgestaltung der Figur geliefert hat. Dieser Willelmus/ Guilhem/ Guillaume lebte zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. Er entstammte fränkischem Hochadel, sein Vater war ein Graf Theodericus/ Thierry (von Autun? ), seine Mutter, eine Tochter Karl Martells, trug den Namen Aldana/ Aude. Willelmus/ Guilhem war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit Kunigunde/ Cunégonde, in zweiter mit Withburgis/ Guibourc. Karl ernannte Willelmus/ Guilhem, wohl wegen seines Einsatzes gegen die Feinde im Südwesten Frankreichs und in Nordspanien (Basken und Sarazenen), im Jahr 789/ 790 zum Grafen von Toulouse und Herzog von Aquitanien. 791 wird er im ‚Chronicon Moissiacense’ als Kämpfer gegen die Basken erwähnt und zum Jahr 793 heißt es, dass Graf Willelmus und andere fränkische Grafen ein Sarazenenheer unter Abd-el-Melec bekämpft haben, das von Spanien nach Südfrankreich in die Gegend von Narbonne und Carcassone eingedrungen war. Es sei zu einer Schlacht super fluvium Oliveio gekommen, in der das fränkische Heer geschlagen wurde: cecidit maxima pars in illa die ex populo christiano. Willelmus autem pugnavit fortiter in die illa. Videns vero quod sufferre eos non posset, quia socii eius dimiserunt eum fugientes, divertit ab eis. Sarraceni vero, collecta spolia, reversi sunt in Spaniam (ed. Pertz 1826: 300; Alzieu 1992: 24f.). Der Ort dieser Schlacht lässt sich wegen der Mehrdeutigkeit des Flussnamens nicht genau bestimmen, er muss aber zwischen Narbonne und Carcassonne gelegen haben. Willelmus/ Guilhem war seinerzeit Krieger unter Ludwig dem Frommen (778-840), den sein Vater Karl bereits 781 zum Unterkönig von Aquitanien ernannt hatte und der somit die Regentschaft im Süden Frankreichs innehatte. Ludwigs Ruf war jedoch nicht über jeden Tadel erhaben: er galt als Feigling, was sich in den späteren Erzählungen über ihn widerspiegelt. Willelmus/ Guilhem unterstützte ihn bei seinen kriegerischen Aktivitäten und trug damit zur Sicherung der Grenzmark gegen die heidnischen Sarazenen bei. Ermoldus Nigellus (gest. um 838) zählt ihn in seinem ‚Carmen in honorem Hludowici Caesaris Augusti’ (Lib. I, v.272) unter die von Karl versammelten duces, er war also Heerführer. Dort wird auch als seine letzte öffentliche Tat erwähnt (ebd., v.489), dass er an der Eroberung von Barcelona 803 beteiligt war (ed. Dümmler 1884: S.13f.). Im Alter wandten sich viele Menschen im Mittelalter vom Weltleben ab und zogen sich in ein Kloster oder eine Einsiedelei zurück, lebten dort als Konversen und bereiteten sich auf ihren Tod vor, ein Leben im Blick auf die erwünschte ewige Seligkeit führend. Will- <?page no="257"?> G UILHEM - G UILLAUME - W ILLEHALM 247 kommen in den Klöstern waren natürlich besonders solche Menschen, die dem Kloster durch Stiftungen, Bargeld, Pfründe, Besitztümer finanzielle Vorteile brachten oder gute Beziehungen zu einem Kloster hatten. Beides war bei Willelmus/ Guilhem der Fall: als Graf war er reich und brachte dem Kloster nicht nur Geld, sondern auch, heute noch erhaltene, Manuskripte religiösen Inhalts ein. Zudem bestand zum Kloster Aniane, nordwestlich von Montpellier gelegen, und zu dessen Abt eine enge, auch persönliche Beziehung. Aniane war 780 als Benediktinerkloster von dem Westgoten Witiza gegründet worden, der sich aus Verehrung für den Ordensgründer Benedikt von Nursia ebenfalls Benedikt nannte. In der Ordengeschichte spielt dieser Benedikt von Aniane (um 750-821) eine herausragende Rolle, insofern als er die Benediktinerregel streng durchführte und so dem Kloster, das er unter den Schutz von Karl und Ludwig stellte, zu großem Ansehen verhalf. Anfang des 9. Jahrhunderts war Aniane das größte Kloster in Südfrankreich mit einer monastischen Gemeinschaft von etwa 300 Mönchen. Aniane war also um 800 ein Kristallisationspunkt religiösen Lebens, was erklärt, dass Willelmus/ Guilhem gerade diesen Ort für seine Vorbereitung auf das ewige Leben wählte. Im Jahr 804 trat er als Konverse, als Laienbruder, in das Kloster ein, er war also nicht Mönch in vollem Sinne. Was er dort erlebte, erzählen später legendenhaft ausgeschmückt seine ‚Vita’ und die Chanson de Geste (s.u.): danach war Willelmus/ Guilhem das Klosterleben zu umtriebig, vielleicht passte der ehemalige Krieger auch nicht in die Gemeinschaft, so dass er sich in der Einöde (désert) eines benachbarten Tales in den Gorges de l’Hérault in eine Einsiedelei zurückzog und schließlich dort selbst das Kloster Gellone stiftete. Die spätere ‚Vita’ überliefert auch den Tag der Umsiedlung am 29. Juni 806. Hier lebte er im Konvent, teilweise auch als Einsiedler, nach der Formulierung der ‚Vita’ in Armut an Körper und Geist und in christlicher Demut. Sechs Jahre blieben Willelmus/ Guilhem noch, bis zu seinem Tod am 28. Mai 812. Inzwischen war eine kleine Kirche in Gellone gebaut worden, ein Vorgängerbau der heutigen, und Willelmus/ Guilhem wurde im Narthex, der Eingangshalle dieses Kirchleins bestattet, einem Ort, wo jeden Tag menschliche Füße über den Verblichenen hinweg schritten, auch dies ein Akt von humilitas über den Tod hinaus. Der Narthex blieb 200 Jahre seine Ruhestätte. Aber alsbald nach seinem Tod wurde Willelmus/ Guilhem, wohl auch wegen seiner Lebensführung in seinen letzten Jahren, in der Volksfrömmigkeit der Region als ein Heiliger verehrt. Mit dazu beigetragen hat sicher die Tatsache, dass sich in seinem Besitz ein Partikel des Kreuzes Christi befand, eine Reliquie, die ihm Karl bei seinem Klostereintritt geschenkt hatte. Und so wie sich um Karl den Großen zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert ein Heiligenkult entwickelte, so geschah es auch um Guilhem, so die im Folgenden verwendete Namensform. Bereits um 1000 wurde er kanonisiert, sein Gedenktag war der 28. Mai, der Tag seines Todes. Heiligsprechungen erfolgten damals noch nicht unbedingt durch den Papst, sondern gingen auch auf die Initiative regionaler Bischöfe zurück. In unserem Fall scheint dies Bischof Fulcran aus dem nahegelegenen Lodève gewesen zu sein, der 1006 starb, so dass man um etwa 1000 mit der kanonisierten Verehrung Guilhems rechnen kann. Mit der Kanonisation sind bis auf den heutigen Tag zwei liturgisch bedeutende Akte verbunden: die Gebeine des Verstorbenen werden dem ersten Bestattungsort entnommen (= elevatio corporis) und an einen besonderen Ort (meist den Hauptaltar) übertragen (= translatio corporis). Dieser Ort der Translation der Überreste Guilhems ist die erhaltene Krypta unter dem Hauptaltar der heutigen Kirche. Als im 12. Jahrhundert der Wilhelms-Kult immer größere Formen annahm, kam es zu einer Erweiterung der Kirche, in deren Zusammenhang um 1100 der Chorraum in seiner <?page no="258"?> E DGAR P APP 248 heutigen Form entstand. In die Apsis wurden die Gebeine Guilhems in einer zweiten Elevation am 5. März 1138 transferiert, so dass dieser Tag heute sein Gedenktag ist. Man baute dazu neben dem Hauptaltar einen zweiten Altar mit einem Säulen-Unterbau, auf den ein römisch-christlicher Sarkophag aus dem römischen Gräberfeld von Aliscans bei Arles aufgestellt wurde. In diesen legte man, so erzählt die ‚Vita’, die Gebeine des Heiligen. Teile dieses Sarkophags sind heute im Lapidarium des Klosters erhalten. Schon damals oder später wurden jedoch die Überreste nicht in dem Sarkophag, sondern zum Schutz vor Reliquienräubern in einem Bleibehälter unter dem Hauptaltar aufbewahrt, der sich bei Grabungen 1679 wiederfand. Was nach den Religionskriegen und Naturkatastrophen davon übrig blieb, ist heute in einem kleinen Reliquiar im linken Chorpfeiler ausgestellt, die berühmte Kreuzreliquie im rechten. Der Ort, der das Kloster umgibt, trägt heute den Namen Saint-Guilhem-le-Désert. Um den historischen Willelmus/ Guilhem entwickelten sich spätestens seit dem Beginn seines Kultes legendarisch ausgestaltete Lebensberichte, in denen er als sanctus bezeichnet wird. Seit dem 11. Jahrhundert existieren in Gellone Aufzeichnungen über die Wunder Guilhems, denen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine in mehreren Fassungen überlieferte ‚Vita Sancti Wilhelmi’ folgt (Vita Sanct Willelmi 1688, Sp. 809-827). Es bestand also offenbar ein lokales Interesse an der Verschriftlichung der mündlichen Überlieferung, um eine solide Grundlage für den Kult zu besitzen. Die ‚Vita’ berichtet von Guilhems reinem Klosterleben, von den Wundern im Kloster und an seinem Grab, aber auch von weniger heiligmäßigen Dingen, wie dem Kampf gegen Schlangen und gegen einen Riesen, den Guilhem vor der Klostergründung aus dem Gellone-Tal vertreiben muss, und vom Kampf mit dem Teufel beim Brückenbau am Eingang der Gorges de l’Hérault. Auf den Zusammenhang der Ausgestaltung dieses Heiligenlebens mit den Kreuzzügen (Guilhem als christlicher Krieger) und dem Reliquienkult auf dem Pilgerweg nach Santiago di Compostela (die via tolosana führte von Arles über Gellone nach Narbonne) sei nur beiläufig verwiesen. Guillaume in Sage und Chanson de Geste Bereits in der kirchlich orientierten ‚Vita’ finden sich Erzählelemente, die in den Bereich der Sage weisen, speziell der Lokalsage, also der Volkserzählung. Aus dem Heiligen, in dessen ‚Vita’ durchaus Elemente seines historischen Lebens eingegangen sind, wird dabei ein Übermensch, ein Heros, ein Held der Sage. So wird aus dem historischen Willelmus bzw. comte Guilhem, den man wegen der Kraft seines Armes auch Fierebrace nannte, und aus dem Einsiedler und Heiligen Sanctus Willelmus de Gellone schließlich ein Guillaume d’Orange, wie er als Zentralfigur der Chanson de Geste (sog. Wilhelmsgeste) in der französisierten Form seines Namens mit dem Zusatz des Ortsnamens Orange genannt wird, wo er (historisch falsch) Kämpfe gegen die Heiden führt. Die Gattung wird um 1200 buchliterarisch, doch gehen, wie in der deutschen Heldendichtung, mündliche Stufen voran. In seiner ‚Historia ecclesiastica’ erwähnt Ordericus Vitalis (1075-1142) am Anfang der kurzen Lebensbeschreibung des Heiligen, dass fahrende Sänger ein Lied in der Volkssprache über Guillaume gesungen hätten: vulgo canitur a ioculatoribus de illo cantilena (Migne 1855, Sp. 452B). Und die ‚Vita Sancti Wilhelmi’ des 12. Jahrhunderts berichtet, Lieder über Guillaume seien in der ganzen Welt bekannt, dabei auch Guillaumes Sieg bei Orange erwähnend. Diese Angabe bezieht sich eindeutig auf eine (wohl noch mündlich tradierte) Chanson de Geste, in der seit 1100 die ver- <?page no="259"?> G UILHEM - G UILLAUME - W ILLEHALM 249 schiedenen historischen, hagiographischen, legendarischen, sagenhaften, märchenhaften Überlieferungen zusammengeflossen sind, wobei aktuelle politische, religiöse und gesellschaftliche Probleme des 12. Jahrhunderts inkorporiert wurden. Solche Aktualisierung zeigt sich etwa darin, dass Guillaumes Heidenkämpfe mit den Kreuzzügen in den Orient parallelisiert werden, und dass die Erhebung Guillaumes gegen König Ludwig am Hof von Laon eine Entsprechung im Gegeneinander von Zentralgewalt und Territorialfürsten im Frankreich des 12. Jahrhunderts findet. In der Chanson de Geste spiegeln sich damit auch die Weltsicht und die Selbsteinschätzung des zeitgenössischen Autors und seines Publikums. Die Beliebtheit der Erzählungen über den Sagenhelden führt schließlich zur Entstehung von 24 Chansons de Geste (branches), die, auch in den meisten Handschriften, biographisch gereiht sind von den Vorfahren über seine Kindheit und Heldentaten bis zum Eintritt in das Kloster, seinem Tod und zu seinen Nachfahren. Im Zentrum dieser Wilhelmsgeste steht die große Doppelschlacht zwischen Christen und Heiden auf Aliscans, so der Name des Schlachtfeldes und des bis heute erhaltenen römischen Gräberfeldes bei Arles. Die davon erzählende branche wird als ‚Aliscans’ (ed. Frappier 1955) bezeichnet (es existiert eine ältere und archaischere Fassung ‚La chançun de Willame’, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann). Ihr Inhalt ist zusammengefasst folgender: Der Heidenkönig Desramé ist in Südfrankreich eingedrungen, sein Heer steht vor Aliscans (oder Archant, Larchamp oder Les Archanz). Vivien, der jugendliche Mitstreiter Guillaumes, wirft sich ihm trotz Unterlegenheit seiner Mannschaft entgegen und wird tödlich verwundet. Sein Sterben zieht sich (detailfreudig und grauenerregend) über viele Verse hin und ähnelt in vielem der Passion Christi. Guillaume eilt zur Hilfe, wird ebenfalls geschlagen und entkommt als einziger von Tausenden seiner Krieger. Auf dem Schlachtfeld findet er den sterbenden Vivien, hört seine Beichte, reicht ihm die Kommunion, worauf der Todwunde heiligmäßig stirbt: ein Engel erscheint, die Luft erfüllt sich mit süßem Geruch. Guillaume kehrt allein nach Orange zu seiner Gemahlin Guibourc zurück, die ihn auffordert, bei König Ludwig in Laon Hilfe einzufordern, um die Heiden zu besiegen. Guibourc ist die Tochter des Heidenkönigs, die von Guillaume aus dem Heidenland entführt wurde, wo er, wie man aus einer vorausgehenden Branche erfahren hat, in Gefangenschaft geraten war. Mit ihrer Eheschließung wurde sie Christin. Am Hofe Ludwigs kommt es zu einem heftigen Streit zwischen König und Vasall, denn der König verweigert sich und mit ihm einige der Fürsten. Aber schließlich erhält Guillaume eine königliche Streitmacht, mit der er nach Orange zurückkehrt, die Heiden besiegt und aus Frankreich vertreibt. In diesem dritten Handlungsteil tritt ein neuer Held in den Mittelpunkt: ein Ungetaufter namens Rainouart. Dieser ist ein ungestümer Tölpel mit einer wundersamen Waffe. Wegen seiner niedrigen Stellung muss er in der Küche arbeiten. Den Jochbalken zum Lastentragen (tinel) funktioniert er bei Bedarf zu einem Schlaggerät gegen die ihn neckenden Köche und auf dem Schlachtfeld gegen die Feinde um. Rainouart verliebt sich schließlich in Aélis, die Tochter von König Ludwig. Nach der siegreichen Schlacht vermisst man ihn aber: es ergibt sich eine spannungsreiche Retardation. Als man ihn schließlich findet, stellt sich heraus, dass er ein Sohn von Desramé und damit Bruder von Guibourc ist. Zum glücklichen Ende gehören nun nur noch seine Taufe und die Vermählung mit Aélis. Im Mittelpunkt der Handlung steht der heldenhafte Guillaume, während Guibourc nur eine beiläufige Rolle spielt, im Gegensatz zu dem heiligmäßig sterbenden Vivien und dem Komik provozierenden Rainouart. Die heidnischen Sarazenen hingegen werden mit pejorativen Adjektiven charakterisiert und in der Grausamkeit ihrer Handlungsweise negativ dargestellt. Die Glorifizierung des Kriegsgeschehens auf der Seite der Christen und die Verdammung der Heiden als Feinde Christi dürften vor allem der damaligen mörderischen <?page no="260"?> E DGAR P APP 250 Kreuzzugsstimmung und dem Selbstverständnis der adligen Kriegerkaste verdankt sein. Christen und Muslime stehen sich in der Chanson de Geste unversöhnlich gegenüber. Willehalm bei Wolfram von Eschenbach Die Erzählungen um einen Helden, der nicht nur tapfer gegen die Heiden kämpft, sondern als Regionalfürst sich auch noch gegen die königliche Zentralgewalt in Gestalt des schwachen Ludwig behauptet, das musste auch bei deutschen Adligen um 1200 Gefallen finden, denn hier hatte nicht nur der Kreuzzugsgedanke Raum gegriffen, sondern hier war auch ein heftiger Kampf zwischen den Zentralgewalten, seien es nun Welfen, Staufer oder der Papst, und den deutschen Landesfürsten entbrannt. Da kam ein kuns Gwillâms de Orangis (ed. Heinzle 1994, Wh. 3,11) gerade recht: Adliger und Heiliger, Krieger und frommer Mann, Heidenkämpfer und Ehemann einer Dame, die sich jetzt auch als Minnedame darstellen ließ, was ihr die gattungsmäßig anders verankerte Chanson de Geste verwehrt hatte. Der Transfer der ‚Aliscans’-Branche zu einem deutschen „Autor/ Bearbeiter“ ist eingebettet in den breiten gesellschaftlichen und literarischen Traditionsstrom, der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts von Frankreich nach Deutschland floss. Die direkte Anregung ist Landgraf Hermann I. von Thüringen (reg. 1190-1217) aus dem Geschlecht der Ludowinger zu verdanken, das in Eisenach und auf der Wartburg residierte. Der literarisch interessierte Hermann hatte bereits nach französischem Vorbild von deutschen Dichtern den ‚Äneasroman’, das ‚Lied von Troja’ und Ovids ‚Metamorphosen’ bearbeiten lassen. Für den ‚Bearbeiter’ der Chanson de Geste von der großen Schlacht bei Alitschanz (Wh. 10,17) gewann er den durch seine ‚Perceval’-Bearbeitung und sein Liedschaffen bereits bekannten Wolfram von Eschenbach. Ob der allerdings des Französischen mächtig war, ist umstritten, aber vielleicht hatte er Helfer, die ihm den Stoff grob übersetzten; und wie es mittelalterlicher Übersetzungsart entsprach, stimmt zwar der Inhalt (bis zu Buch VII) weitgehend überein, während wörtliche Übersetzung so gut wie gar nicht vorkommt. Wolfram nahm also den Auftrag Hermanns an und übertrug eine Fassung des Epos von der Schlacht bei Aliscans ins Deutsche, die aber nicht erhalten ist, sich aber von den erhaltenen französischen Texten unterschieden haben muss, wie aus den Abweichungen davon in der Wolframschen Fassung zu erschließen ist. Sein Werk trägt den Namen ‚Willehalm’ nach der deutschen Namensform des Helden, die sich leicht aus dem französischen Namensvariante Guillams/ Guilhem herleiten lässt und mit lateinisch-deutschem Willelmus/ Wilhelm verschnitten ist. Wolframs Werk wurde ein „Bestseller“ des 13. Jahrhunderts und späterer Zeit mit einer ungewöhnlich breiten Überlieferung und mit Ergänzungen von Vor- und Nachgeschichte nach französischem Muster durch andere Autoren. Der ‚Willehalm’ war gleichsam ein Fürstenspiegel, das heißt ein Anstands- und Erziehungsbuch seiner Zeit. Wolfram hat die Alischanz-Geschichte jedoch nicht zu Ende erzählt, sein Werk bricht nach der zweiten Schlacht ab. Vielleicht ist er selbst oder sein Auftraggeber gestorben. Vielleicht erklärt sich der Abbruch kurz vor dem Ende des Werkes auch dadurch, dass Wolfram seine Erzählung, so wie er sie auf Versöhnung angelegt hatte, nicht zu Ende bringen konnte, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Der Inhalt deckt sich weitgehend mit der französischen Erzählung, nur gelegentlich setzt Wolfram andere Akzente: der Märtyrertod des Vîvîanz ist ausführlicher und vertiefter dargestellt, Gîburc ist nicht nur Fürstin und Landesherrin, sondern auch liebende Gattin, die abweisende Haltung der königstreuen Reichsfürsten ist stärker politisch motiviert. Als das Werk Wolframs abbricht, ist der Nebenheld der zweiten Schlacht Rennewart ver- <?page no="261"?> G UILHEM - G UILLAUME - W ILLEHALM 251 schwunden, doch zuvor angelegte Vorausdeutungen lassen auf die Taufe des Heiden und seine Verehelichung mit Aelis schließen, wie dies in der französischen Vorlage vorgegeben ist. Im letzten Erzählteil der Wolframschen Fassung lässt Willehalm die in der zweiten Schlacht getöteten heidnischen Fürsten ehrenvoll aufbahren, eine Geste der Versöhnung. Mit ihren Toten ziehen die Heiden dann in ihre Heimat. Mit dem zum Positiven veränderten Bild der Heiden, die wie die Franzosen als Minneritter und beherzt kämpfende Krieger dargestellt werden, und der negativen Beurteilung der kriegerischen Handlungen durch den Erzähler aufs engste und am nachhaltigsten verbunden ist Wolframs Darstellung der weiblichen Zentralfigur Gîburc, ihrer Handlungen und vor allem ihrer Reden. An ihrer Herkunft aus der heidnischen Familie Terramêrs, an ihrer ersten Ehe mit König Tîbalt, an ihrer Entführung aus dem Heidenland durch Willehalm und ihrer (Liebes-) Heirat mit ihm hat Wolfram nichts geändert, aber ihre Rolle als Kriegerin hat er plastischer modelliert: sie steht mit wenigen anderen Frauen gewappnet auf den Zinnen von Orange, bereit zur Verteidigung. Selbst ihr Ehemann muss ihre Verteidigungsbereitschaft erfahren, als sie ihm den Eintritt in die Stadt verwehrt, da sie ihn wegen seiner Rüstung (es ist die eines erschlagenen Heiden) für einen Heiden hält, und ihn erst einlässt, als sie ihn an einer früheren Verletzung an seiner Nase erkennt. Auch mit der Darstellung als liebende Ehefrau, die mit ihrer Umarmung ihrem Ehemann neue Kraft vermittelt, führt Wolfram ein neues inhaltliches Detail ein. Gegenüber der altfranzösischen Überlieferung gänzlich neu aber ist in Wolframs Konzeption dieser Frauengestalt, dass er sie die kriegerischen Handlungen mit ihren Worten begleiten lässt. Ihren Vater Terramêr versucht sie in einem langen Religionsgespräch (Wh. 215,10-221,27) mit Argumenten von Christi Heilswirken zu überzeugen - eine Aussöhnung zwischen Vater und Tochter über ihre unterschiedlichen religiösen Anschauungen findet jedoch nicht statt, der Glaubenskrieg wird sich fortsetzen. Auch Gîburcs Intervention bei den christlichen Heerführern stößt auf taube Ohren. Den zum Kampf bereiten Landesfürsten legt sie jedoch in einer großen Rede dar (Wh. 306,1-310,30), dass auch die Heiden Gottes Geschöpfe sind, dass es unter den Heiden aus dem Alten Testament so viele herausragende Menschen gegeben hat, dass man sich die Frage stellen muss, ob diese alle - wie es die christliche Lehre sagt - zur Hölle verdammt sein sollen, da sie ja der Erlösungstat Christi nicht teilhaftig geworden sind. Und schließlich stellt sie fest, dass alle Menschen Heiden waren, im Mutterleib bis zur christlichen Taufe. Diese eindrucksvolle Rede beginnt mit Gîburcs Bekenntnis ihrer Schuld an diesem Krieg angesichts ihrer Zwischenstellung als Tochter des heidnischen Königs Terramêr und als konvertierte Christin an der Seite Willehalms: ich bin schuld an diesem tôtlichen val auf beiden Seiten (Wh. 306,12-17). Sie schließt dann eine Ermahnung an die Fürsten an, die kristenlîch êre zu verteidigen und bei der Rache für den Tod des Vîvîanz die Heiden und damit ihre eigene Verwandtschaft zu schonen, um nicht ihr eigenes Seelenheil zu gefährden: hoert eines tumben wîbes rât: / schônt der gotes hantgetât (Wh. 306,27f.). Schlüsselbegriffe der langen Rede sind die immer wieder erwähnte Liebe Gottes zu allen Menschen und die Mahnung zu Barmherzigkeit gegenüber den Heiden, auch im Moment des Sieges. Gîburcs Worte bleiben ohne Resonanz, Willehalm und seine Leute lassen sich beim Kampf gegen die Heiden nicht beirren (Willehalm tötet gar einen Wehrlosen, der mit seiner Frau verwandt ist). Unser Erzähler spart nicht mit grausamen Einzelheiten, aber nach dem Schlachtensieg und angesichts auch der vielen zu Tode gekommenen Christen entringt sich ihm der verzweifelte Stoßseufzer: die nie toufes künde / enpfiengen, ist daz <?page no="262"?> E DGAR P APP 252 sünde? / daz man die sluoc alsam ein vihe, / grôzer sünde ich drumbe gihe: / ez ist gar gotes hantgetât (Wh. 450,15-19). Dies ist nicht die einzige Stelle, an der sich der Erzähler und damit der hinter ihm stehende Wolfram in die Bewertung des Geschehens einmischt und es kritisch beleuchtet. Gleich zu Beginn seines Epos bemerkt er vorausdeutend: dâ wart sölhiu rîterschaft getân, / sol man ir geben rehtez wort, / diu mac vür wâr wol heizen mort (Wh. 10, 18-20). Mit seinen owê-Klagerufen und einschränkenden Kommentaren, die den von der Quelle vorgegebenen Handlungsablauf begleiten und ihn damit in Zweifel ziehen, enthüllt der Erzähler, wie sehr er mit seinem Stoff (und damit wohl auch mit seinem Publikum) gerungen hat. Eine Antwort gibt Wolfram mit seiner Gestaltung der weiblichen Zentralfigur Gîburc, die vorbildliche Landesherrin, Kriegerin und Minnedame zugleich ist. Sie hat zwar nicht die Möglichkeit, in die Handlung einzugreifen, dazu war der Zwang der Vorlage (und die Erwartungshaltung des Publikums) zu stark. Auch Willehalm kann sich dem mörderischen Geschehen auf dem Schlachtfeld nicht entziehen. Gîburcs Reden hingegen sprechen eine andere Sprache, und auch Willehalm erweist nach der gewonnenen Schlacht als Geste der Versöhnung den gefallenen Heidenkönigen die letzte Ehre. Der Weg aus dem durch Machtpolitik und religiöser Intoleranz verursachten Leid zu gegenseitiger Achtung und Versöhnung deutet sich damit an. Aber wie sehr auch der Erzähler durch seine Wertungen beiden Seiten gerecht zu werden versucht, eine Lösung findet er nicht. Wolfram hat Gîburc, seine Quelle erweiternd und umformend, einen Weg dazu zeigen lassen: sie hat das religiöse Gespräch gesucht, welches einseitig bleiben musste, da der Islam damals im Westen noch ‚sprachlos’ war. Und sie hat ihren Glaubensgenossen einen Weg des Erbarmens gewiesen, der angesichts der damaligen Kreuzzugsstimmung unerhört war: ein Weg der Menschlichkeit: schônt der gotes hantgetât! Verschont die Heiden, denn sie sind wie wir Gottes Kinder. Eine Mahnung, die aus Gîburgs Mund damals den Christen galt und die heute in einer globalisierten Welt auf die politischen Kräfte sowohl in den christlich wie in den islamisch orientierten Weltteilen bezogen werden kann. Krieg ist nicht gut, auch nicht im Irak oder in Afghanistan. Literatur Alzieu, Gérard (1992). Saint Guilhem de Gellone. Esquisse biographique. Saint-Guilhem-le-Désert: Alzieu 1992. Bédier, Joseph (1908). Les légendes épiques. Paris: Champion 1908. Bumke, Joachim (2004). Wolfram von Eschenbach. 8. Aufl. Stuttgart: Metzler (SM 36). Dümmler, Ernst (ed., 1884). Poetae Latini aevi Carolini. Berlin : Weidmann 1884 (= Monumenta Germaniae Historica: Poetae Latini medii aevi 2). Frappier, Jean (ed., 1955). La Chanson de Guillaume. Aliscans. Chevalerie Vivien. Paris: Société d’Etudes d’Enseignement Supérieur 1955 (= Les chansons de geste du cycle de Guillaume d’Orange 1). Heinzle, Joachim (ed., 1994). Wolfram von Eschenbach. Willehalm: nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Studienausgabe. Tübingen: Niemeyer (= ATB 108). (zitiert: Wh.) Migne (ed., 1855). Orderici Vitalis … Historia Ecclesiastica. Paris: Migne (= Patrologiae cursus completus, ed. J. P. Migne; Series Latina 188). Pertz, Georg Heinrich (ed., 1826). Annales et chronica aevi Carolini. Hannover : Hahn (= Monumenta Germaniae Hitorica: Scriptores 1). Vita Sancti Wilhelmi (ed., 1688). De S. Willelmo Dvce, postea Monacho Gellonensi in Gallia. Antwerpen: Cnobarus. (= Acta sanctorum bollandiana, Maii VI., die vigesima octava maii). <?page no="263"?> Also Frieda heissen Sie... Beobachtungen zum dichterischen Schreiben Robert Ruprecht Den Liebhabern der Texte Robert Walsers mag der Hinweis willkommen sein, dass hundert Jahre nach Eichendorff einer aufgetaucht ist, der den Taugenichts nicht nur fortgeschrieben, sondern tatsächlich gelebt hat in einer Zeit, in der die Gegenwart die Ahnung längst hinter sich gelassen hatte, und es fertig gebracht hat, ohne die überraschenden Zufälle, die Verwechslungen und die Jagd ins Blaue auszukommen. Zwar gewinnt der Taugenichts Robert Walser am Schluss weder ein Schloss noch ein Fräulein: Das Märchen endet realistisch, aber da liegt auch eine Parallele: Wie der Taugenichts in seinem Schloss letztlich in eine bürgerliche Existenz gezwungen wird, zieht sich Walser in die bürgerliche Welt zurück. Sein ‚Schloss’ ist zunächst die psychiatrische Anstalt Waldau, in die er sich selbst beschränkend zurückzieht, ohne sein früheres geistiges Schweifen ganz fahren zu lassen. Das kann man auch vom Taugenichts vermuten. Dem geneigten Leser sind seine so spontan wirkenden und immer für unerwartete Einsichten guten Texte Hinweise über den Alltag hinaus auf das andere, das die Banalität unserer Existenz übergülden kann. Ein begnadeter Dichter: Wie gerne glauben wir aber, dass es höhere Menschen gibt, die etwas einfach können. Wie gerne übersehen wir, dass dieses Können die Frucht von Mühe und Arbeit ist. Dem Kenner von Robert Walser sagt man nichts Neues, wenn man gerade dies betont. Das scheinbar so mühelose Schreiben von Walser ist nicht das Ergebnis von direkter Inspiration. Der vagabundierende Antibürger Walser lebt ganz bewusst am Rande der Gesellschaft. Er nimmt dieses Leben auf sich wie ein Prophet des alten Testaments und ist dabei bemüht, die Dehors zu wahren: Es gibt, abgesehen vom frühen Aquarell seines Bruders Karl, kein Bild, das seine Antibürgerlichkeit verrät. Walser war ein seriöser Arbeiter, dem sein Schreiben den Verzicht auf gesicherte Stellungen wert war. Er phantasiert nicht einfach. Er ist sich der formalen Seite seines Schreibens durchaus bewusst. Er ist sich auch seines Niveaus bewusst. Dass er mit dem Misserfolg so schlecht umgehen konnte wie mit dem Erfolg, gehört zu den Bedingungen seiner Existenz. Natürlich ist ihm auch spontanes Schreiben nicht fremd. Walsers Briefe sind nicht unter den Augen eines künftigen Publikums verfasst worden. Es gibt aber einen Fall, wo so ein privater Brief unmittelbar zur Vorlage für einen literarischen Text geworden ist, der uns einen Einblick in das Schreiben von Robert Walser gewährt und damit in das Wesen dichterischen Schreibens. Walser ist Junggeselle geblieben, Frauen spielen aber eine wichtige Rolle in seinem Leben und in seinen Phantasien. Bei seiner Schwester Lisa hat er in Bellelay Frieda Mermet kennen gelernt, Lisas Freundin, die in der dortigen psychiatrischen Anstalt die Wäscherei betreute. Frieda Mermet war damals 41 Jahre alt, geschieden, Mutter eines Knaben, eine ruhig wirkende, schöne Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Wie mit Lisa, hat sie sich mit Robert rasch gut verstanden; es entstand eine Freundschaft, die bis weit in die Zeit von Walsers Rückzug aus der Welt anhielt. Eine Zeit lang hat er Frieda Mermet auf eine etwas verschrobene Art umworben. Sie hat später Carl Seelig bekannt, sie hätte <?page no="264"?> R OBERT R UPRECHT 254 Walser gerne geheiratet, hätte sie nur den nötigen finanziellen Rückhalt gehabt, um mit so einem weltfremden, empfindsamen Menschen zusammen leben zu können. An Frieda Mermet ist der Brief gerichtet, den wir untersuchen wollen. Er stammt aus einer Zeit, zu der sie sich schon fünf Jahre kannten. 1 Der Brief aus Biel Den folgenden Brief (RWW 12/ 2 155) hat Robert Walser geschrieben, als er schon vierzig Jahre alt war. [Text A, Satznummern eingefügt, im Text als blosse Ziffern zitiert] Liebe Frau Mermet 1 [1] Für Ihren lieben kleinen Brief, der eigentlich kein Brief sondern nur eine Mitteilung ist, danke ich Ihnen, sowie für den Käse und Speck, die gewiss auch lieb sind, da Sie sie in Ihre lieben Hände nahmen. [2] Alles, was Sie berühren, wird zu etwas Liebem. [3] Alles, was Sie tragen, z.B. Ihre Kleider, 2 ist auch lieb. [4] Ich bin Ihnen einen Brief schuldig, worin das Wörtchen „lieb“ etwa hundertmal vorkommt, immer in anderer Art, damit es Ihnen nicht langweilig vorkäme. [5] Aber ich denke, das kleine Wort werde Ihnen immer lieb sein. [6] Da ist es schon wieder vorgekommen und wird vielleicht in unserem Briefwechsel noch oft zur Aussprache gelangen. [7] Was macht Ihr nettes, liebes Stumpfnäschen? [8] Hier benütze ich den Briefbogen, den Sie mir als zarten Wink sandten, dass ich bald wieder schreiben würde. [9] Also tu ich es, will nicht allzu lang damit warten. [10] Auch der Briefbogen ist lieb, weil er von Ihnen kommt und in Ihrer Nähe gewesen ist, in einer von Ihren Schubladen. [11] Also Frieda heissen Sie; ich will es mir merken, damit ich es nicht wieder vergesse, denn das ist ja eine sehr wichtige Sache, und Frieda ist sicher ein lieber, schöner Name: [12] Sie sind ja von sanfter, friedlicher Art und tragen den Namen mit höchster Berechtigung. [13] Können Sie auch hie und da zanken und herrisch sein? [14] Ich möchte es fast wünschen. [15] Früher war ein Stubenmädchen hier im Blaukreuz, das Frieda hiess. 3 (233 Wörter) Hier nimmt Walser verschiedene Rollen ein. Im ersten Satz erlaubt er sich, den erhaltenen Brief wie ein Lehrer zu zensieren, ist aber schon mitten in der verliebten Spielerei um das Wort lieb, das elf Mal vorkommt. 4 Dann markiert er den verliebten Geck, wenn er auf die lieben Kleider eingeht. (Die Empfängerin weiss, dass er in früheren Briefen in dieser Hinsicht wesentlich expliziter war.) Darauf wird er vorübergehend sachlich (Anfang 4), um seine Tändelei sogleich weiter zu ziehen. Der Hinweis auf den Briefbogen (10) gibt ihm noch einmal Gelegenheit zu Intimität, er lag ja einst in den Schubladen, wo Frieda Mermet ihre Wäsche aufbewahrt. Jetzt unvermittelt, fast schroff: Also Frieda heissen Sie. Dieser abrupte Themenwechsel ist für einen Privatbrief weiter nicht verwunderlich. Verblüffend ist der Satz aber angesichts der bereits langen Bekanntschaft. 5 Aus dem Kommentar zu dieser Entdeckung geht hervor, dass Walser mit dem Namen Frieda nicht zufrieden war: 1 Im Dezember 1918. Hier ist nur der Anfang des Briefs zitiert. 2 Auf die in diesem Text kursiv hervorgehobenen Stellen wird weiter unten, bei der Betrachtung der Sprache, eingegangen werden. 3 Walser wohnte in seiner Bieler Zeit in einer Mansarde des damaligen Hotels zum Blauen Kreuz am Zentralplatz (Heute: Centre Rochat, ein Altersheim). 4 Er lässt die Spielerei dann fallen: Im weiteren Verlauf des Briefs tritt es nur noch fünf Mal auf, dreimal als Anrede ‚liebe Frau Mermet‘ und zweimal sonst. Walser bleibt also konsequent bei seinem Konjunktiv II 5 Die Freundinnen Frieda Mermet und Lisa Walser haben sich ebenfalls Zeit ihres Lebens nie geduzt und auch Robert Walser bleibt (von einigen Ausnahmen auf dem ‚Höhepunkt‘ der Beziehung abgesehen) stets bei der Anrede ‚Liebe Frau Mermet‘. <?page no="265"?> B EOBACHTUNGEN ZUM DICHTERISCHEN S CHREIBEN 255 ...ich will es mir merken, damit ich es nicht vergesse... Seine Verblüffung äussert sich auch im sicher, das man ja an Stellen einsetzt, wo man nicht so sicher ist. Durch seine Formulierungen versucht er, eine positive Einstellung zu dem Namen zu finden, er hatte sich hinter dem F. etwas anderes erhofft. Schliesslich bringt er in 13 ein Motiv ein, das sein ganzes ausgedehntes Werk durchzieht und ihm sehr nahe liegen muss: Können Sie auch hie und da zanken und herrisch sein? Noch einmal wechselt er die Rolle: Im letzten Satz nimmt er einen leisen Anlauf, bei Frieda Mermet Eifersucht zu erregen. Der Text hat etwas Verspieltes, Sprunghaftes, etwas ausgesprochen Privates. Er bleibt bei einem Code, der Vertrautheit voraussetzt. Er bleibt auch auf der Ebene des Banalen stehen. Er ist für Leser, die sich nicht ausdrücklich für Robert Walser oder die Beziehung zwischen ihm und der Empfängerin interessieren, ohne Belang und wäre nicht einmal als Muster für ein Briefsteller-Handbuch geeignet. Der Text ist aber offenbar die Keimzelle des ‚Prosastücklis‘ Brief aus Biel. Dass dem so ist, geht nicht nur aus dem Kernsatz des Briefs hervor, sondern auch aus der Übereinstimmung in der Abfolge der Motive und der überraschenden Wende am Schluss. Der Brief aus Biel ist aber nur noch scheinbar ein ganz gewöhnlicher Privatbrief. Er ist zur Veröffentlichung bestimmt und enthält daher nichts, was nur der Schreiber und die Empfängerin verstehen können. Übrigens ist die ebenfalls am Briefanfang stehende Stelle fast gleich lang wie ihre Entsprechung im Brief an Frau Mermet. Der Text lautet: [Text B, Satznummern eingesetzt, im Text als blosse Ziffern zitiert] [1] Mit den Äpfeln, die Sie mir schickten, ist mir ein wahrer Herbst ins Haus geflogen. [2] Ich will sie aufsparen und mich einstweilen bloss mit den Augen daran sattessen. [3] In so schöne Früchte hineinbeissen ist sünd und schade. [4] Sie haben mich nun schon oft mit Annehmlichkeiten erfreut. [5] Woher nehmen Sie so viel Talent, lieblich zu überraschen? [6] Ihre Freigiebigkeit erdrückt mich schier. [7] Immer sind Sie die edle Gebende, wo ich in einem fort unedel in Empfang nehme. [8] Vielleicht darf ich Ihnen zum Zeichen, dass ich erkenntlich sei, wenigstens meine neues Buch schenken, sobald es im Druck erscheint. [9] Bis dahin wird freilich noch viel Zeit und Wind verstreichen. [10] Ich darf wohl denken, dass Sie wohlauf sind. [11] Ihnen geht es deshalb stets gut, weil Sie ein duldsames Wesen haben und ruhig Ihre tägliche Pflicht tun. [12] Also Frieda heissen Sie. [13] Ich hielt sie bisher irrtümlicherweise für eine Flora, Sie haben sich immer nur mit F. gezeichnet. [14] Frieda ist ein Name, der zweifellos zu ihnen passt, da sie friedlich und sanft sind. [15] Ich will ihm mir ein für alle Mal merken. [16] Neulich sah ich ein junges schönes Mädchen, das wie ein Reh davonlief. [17] Jugend ist etwas Herrliches, hat aber den Nachteil, dass sie von Tag zu Tag älter wird, während reifere Jahre den Vorteil haben, dass sie sich innerlich verjüngen. [18] Sie nehmen mir sicher nicht übel, dass ich neben Ihnen noch anderes anschaue und liebenswert finde. (230 Wörter) 6 1.1 Der innere Aufbau Die Abfolge der Motive ist in den beiden Texten identisch. Die literarische Version ist deutlich straffer. Ihr fehlt das rekursive, tändelnde Element. Im Brief aus Biel sind Dank und Wesen der Geberin impliziert. Dafür ist das Motiv der Gegengabe stärker. Die Kernaussage ist im Brief aus Biel organischer eingebettet: 6 Der Brief aus Biel ist im Januar 1919 in der Zeitschrift Pro Helvetia erschienen. Die Vorlage und ihre literarische Umsetzung müssen also sehr nahe beieinander liegen. <?page no="266"?> R OBERT R UPRECHT 256 Privatbrief Dank für die Gaben Liebenswürdigkeit der Geberin Überlegungen zu ‚lieb’ Gegengabe (Brief) Befinden der Geberin Antwortbrief Also Frieda heissen Sie Andere Frieda Brief aus Biel Dank für die Gaben Liebenswürdigkeit der Geberin Gegengabe (Buch) Befinden der Geberin Also Frieda heissen Sie Andere Frauen 1.2 Der Vergleich im Einzelnen So nahe die neue Version dem Original liegt, so fern steht sie ihm. Das beginnt sogleich: Die Anrede fehlt, man erkennt zunächst nicht, dass der Brief an eine Frau gerichtet ist; der erste Satz enthält aber eine deutliche Anspielung: 7 Aus Käse und Speck sind Äpfel geworden, womit der Text seiner irdischen Verhaftung entrückt wird: Äpfel als weibliche Gabe sind nicht nur weniger trivial, sie sind bedeutungsschwer und weisen sowohl in die Antike (Wahl des Paris) als auch in die Anfänge der Menschheit nach jüdischer Überlieferung (Eva) zurück. Dass Walser offenbar an das zweite denkt, macht er mit dem Hinweis deutlich, dass es sünd und schade wäre, unbesonnen in die Früchte hinein zu beissen. Er bleibt bei den biblischen Anspielungen, wenn er im zweiten Abschnitt darauf hinweist, dass ihn die Freigiebigkeit fast erdrücke, weil eben Geben seliger ist als Nehmen. Er sucht auch den Ausgleich, jetzt schuldet er ihr nicht bloss einen Brief, mit dem er der Empfängerin hundertmal sagen will, wie sehr sie ihn an das Wörtchen lieb erinnert. Er will ihr eine echte Gegengabe, Frucht seines Geistes, darbringen; doch hat es damit noch gute Weile, wie er mit der dritten biblischen Anspielung klar macht: Der Mensch ist wie Gras. Nun wechselt er das Thema und geht auf das Befinden der Spenderin ein, was ihm eine natürliche Überleitung zum zentralen Satz Also Frieda heissen Sie gestattet. Der kommt nicht als Überraschung daher, er ist eingebettet in die Feststellung ihres friedfertigen Wesens, auf das er dann noch einmal zurückkommt. Der Satz steht also in der Mitte einer Gruppe. Hier wird nun auch deutlich, wie er sie in seinem Herzen benannt hat. Mit der kurzen Bemerkung (13) holt er alles hinein, was er im echten Brief mit lieb auszudrücken versucht hat, aber nicht ganz ohne eine gewisse buchhalterische Trockenheit, wenn er betont, dass er sie irrtümlicherweise für eine Flora gehalten habe und sich den richtigen Sachverhalt nun merken wolle. Das Polternde des Privatbriefs (11) ist ganz verschwunden. Verschwunden ist auch die Anspielung darauf, dass er sich gelegentlich beherrscht wissen möchte, dafür ist der Versuch, eine kleine Eifersucht anzustacheln, ausgebaut und wird zum Anlass, eine Sentenz anzubringen. Zu dieser findet er im Privatbrief nur tastend, etwa 300 Wörter später. Sie ist dort auch nicht so prägnant formuliert. 8 Der in sechs Abschnitte gegliederte Text folgt einer deutlichen inneren Ordnung: In den ersten drei ist von Schenken die Rede, in den letzten drei von Güte. Beide Texte sind eigenständig, aber nur der zweite kann tatsächlich für sich allein stehen. Der Privatbrief muss in eine tatsächliche Beziehung gedacht werden: So ist er akzep- 7 Die definitive Auflösung des ‚Rätsels‘ folgt allerdings erst in 6, wo er die Empfängerin als Geberin bezeichnet. 8 Darin liegt eine weitere Bestätigung dafür, dass der Brief vom Dezember 1918 die Vorlage für den Brief aus Biel abgegeben hat. <?page no="267"?> B EOBACHTUNGEN ZUM DICHTERISCHEN S CHREIBEN 257 tabel. Er ist sprachlich einigermassen korrekt, 9 erlaubt sich allerdings Freiheiten, und ist ausgesprochen phantasievoll. Das Leitmotiv lieb wirkt eher aufgesetzt als verspielt. Der Brief aus Biel hingegen ist ins Allgemeine gefasst und ins Gültige gehoben, ohne dass seine Subjektivität dadurch wirklich aufgehoben wirkt. Beiden Texten ist eine gewisse Sprunghaftigkeit eigen, der erste fällt aber trotz der Form (Block) viel deutlicher auseinander als der zweite, dessen Sprunghaftigkeit nur an der Oberfläche liegt. Auch wechselt der Autor seine Rolle in B nicht. Etwas plakativ ausgedrückt, liesse sich sagen, dass der Autor von A der (leicht verliebte) Robert Walser ist, derjenige des Textes B ein Mann, der sich einer Frau herzlich (aber nicht ganz ohne schweizerische Trockenheit, ja mit einer gewissen Zurückhaltung) zuwendet. Die fehlende Anrede erlaubt dem Autor, allmählich deutlich werden zu lassen, dass er einer Frau schreibt. 10 Er geht dabei sehr behutsam vor. Nur einmal braucht er den weiblichen Artikel (7: die Gebende); dafür wird der Name Frieda dann so um den Namen Flora drapiert, dass sich eine dreifache Namensnennung ergibt - die zweite Frieda des Privatbriefs verwandelt sich im Brief aus Biel in ein Mädchen, das wie ein Reh davonlief. Das unsichere sicher ist nun durch ein etwas weniger schwankendes zweifellos ersetzt. Dieses Prinzip sorgfältigen Aufbaus lässt sich schon ganz am Anfang erkennen. Mit dem Hinweis, dass er die Äpfel vorerst nicht essen will, weist der Schreiber auch auf die Distanz zwischen ihm und der Empfängerin hin, was den Kernsatz vorbereitet. Dass hinter den Texten eine bereits fünf Jahre alte Beziehung steckt ist im Brief aus Biel nicht von Belang. Verschwunden ist die Spielerei um das Wort lieb, weg sind auch die Bemerkungen, die nur von der Empfängerin richtig verstanden werden können. Eliminiert ist auch die masochistische Anspielung. Das alles nimmt dem Text nichts von seiner Frische. Der literarische Text ist ins Allgemeine gehoben, die einzelnen Abschnitte haben nicht nur eine äussere Verbindung untereinander, sie stehen in einer Verbindung, die hinter die Fassade des Textes reicht. Durch alle Abschnitte ist das Problem Mann-Frau abgehandelt, in I-III Mann-Frau, in IV-VI Frau-Mann (Frieda aus der Sicht des Mannes - das Thema gut, das an Stelle des tändelnden lieb steht). 1.3 Die Strukturen Bis jetzt haben wir die beiden Texte nur von ihrer inhaltlichen Seite betrachtet. Es lohnt sich, sie auch auf ihren syntaktischen Aufbau hin anzuschauen. Auf ein Schema reduziert, präsentiert sich der Text A folgendermassen. 11 1 S’gef H - NS 1Rel - S - S NS 1Rel NS 2Konj 36 2 E’S HS 08 3 S’gef H - NS 1Rel - Par - S 11 eigentüml. Konstr. 4 S’gef HS NS 1Konj NS 2Konj 23 5 S’gef HS NS 1n.eing 11 6 Z’gez.S HS - S 17 eigentüml. Wortwahl 12 9 Die Wahl des Präteritums im ersten Satz ist etwas eigenwillig. 10 Beide Texte sind inklusive Anrede bzw. Titel genau gleich lang. 233 Wörter. 11 Das Schema erklärt sich eigentlich von selber. HS steht für Hauptsatz, NS für Nebensatz. - S für einen angeschlossenen Haupt- oder Nebensatz. Eigentlich gehörten neben den Bestimmungen der Form in den Indices noch die Angaben zur Funktion der Nebensätze ins Schema. Das ist hier aus technischen Gründen unterblieben. Näheres zur Methode: Ruprecht (1993). <?page no="268"?> R OBERT R UPRECHT 258 7 E’S HS ? 06 8 S’gef HS NS 1Rel NS 2Konj 18 Dialektfärbung 13 9 Z’gez.S HS - S 09 ungew. Verbindung 14 10 S’gef HS NS 1Konj - S 1Konj - S 1Konj 21 11 S’gef HS ; HS NS 1Konj NS 2Konj HS : 31 12 Z’gez.S HS - S 14 13 Z’gez.S HS - S 10 14 E’S HS 05 15 S’gef HS NS 1Rel 10 Die Struktur des Textes ist sehr lebhaft. Walser braucht zwar nur drei von sechs möglichen Satzarten (Kolonne 2), er mischt sie aber bunt durcheinander: irgendein ordnendes Prinzip ist nicht auszumachen. Das gilt auch für den Aufbau der Sätze (Kolonne 3). Zwar folgen alle Zusammengesetzten Sätze dem Prinzip HS - S, keiner geht darüber hinaus, aber die Satzgefüge sind immer anders konstruiert: Es gibt keine Wiederholungen. Auffällig ist allerdings, dass alle Sätze mit dem Hauptsatz beginnen, was dem Text etwas Behauptendes verleiht. In die gleiche Richtung deutet auch das Überwiegen der Hauptsätze. (22 HSS, 15 NSS). Von den Funktionen der Nebensätze her zeigt sich ein Qualitätsmerkmal darin, dass die Konjunktionalsätze vorherrschen. Die Relativsätze sind schwach vertreten und eine dritte Möglichkeit ist nur einmal wahrgenommen: Nur ein Nicht eingeleiteter Nebensatz kommt vor. Also macht Walser trotz aller Lebhaftigkeit auch hier nur reduzierten Gebrauch von den vorhandenen Möglichkeiten (Pronominal-, Infinitiv- und Partizipialsätze fehlen). 15 Im Schema kommen (aus technischen Gründen) die Nebensatzfunktionen nicht vor. Hier begegnen wir einer ähnlichen Einseitigkeit: Am häufigsten sind Adverbialsätze des Grundes und des Zieles, die ziemlich zahlreichen Relativsätze sind per Definition Attributsätze, der Nicht eingeleitete Satz ist ein Akkusativobjektsatz. Man ist versucht, da eine gewisse Nachlässigkeit des Schreibers zu vermuten. Ähnlich lebhaft wie bei den Satzstrukturen geht es bei den Satzlängen zu: Es gibt keine Übereinstimmungen zwischen der Anzahl der Satzelemente 16 und der Anzahl Wörter pro Satz und damit auch keine zwischen der Anzahl Wörter und der Satzlänge. Der erste Satz ist der längste (36 Wörter), der zweitletzte der kürzeste (5 Wörter). Die Ausschläge sind nicht gewaltig, aber auch hier gilt der Grundsatz der Variation: Keine zwei aufeinander folgende Sätze sind ähnlich lang. Auch hier ist kein ordnendes Prinzip zu erkennen. Vorläufiges Fazit: Es handelt sich um einen durchaus lebhaft gestalteten Text, der auf einen Könner hinweist, aber keine Spuren bewussten Formens aufweist. Auffällig ist, dass sich in der fünften Kolonne fünf Bemerkungen zu den Strukturen bzw. der Wortwahl finden. Das ist für professionelle Schreiber eher ungewöhnlich. Geht man ihnen nach, so findet man Spuren nachlässigen Sprachgebrauchs, wie sie einem privaten Brieftext durchaus angemessen sind. 3 z.B. ist in Bezug auf die Anordnung der Wörter ungeschickt. Dadurch, dass Walser das Beispiel in den Satz hinein stellt (statt an 12 Gemeint ist das Wort Aussprache, das sich auf Mündliches bezieht. Die Formel heisst ‚zur Sprache kommen‘. 13 Die Konjunktion ‚dass‘ im 2. Nebensatz entspricht schweizerdeutschem Gebrauch. 14 Der Anschluss (- S) ist sehr hart. 15 Zu den Pronominalsätzen siehe Ruprecht (1990). 16 Ein Satzelement ist ein vollständiger Haupt- oder Nebensatz. (Ruprecht 2001) <?page no="269"?> B EOBACHTUNGEN ZUM DICHTERISCHEN S CHREIBEN 259 den Schluss), gibt er der Bemerkung z.B. ihre Kleider besonderes Gewicht, was es damit auf sich hat, dürfte sich dem Leser kaum erschliessen. Stutzen wird er doch. Einen ähnlichen Einschub macht er in 4 mit immer in anderer Art. Der ist allerdings nicht so auffällig. In 6 wählt er mit Aussprache ein kaum passendes Wort. Die Formel wäre vielleicht zur Sprache bringen. Aussprache bezieht sich doch deutlich auf Mündlichkeit. In 8 erlaubt sich Walser einen Helvetismus: Das finale dass ist in diesem Zusammenhang in der Schriftsprache nicht möglich. Eine letzte Abweichung findet sich in 9, der auch schweizerdeutsch klingt. Das ist umso bemerkenswerter, als die Empfängerin Deutsche ist. Unschön ist hier auch, dass sich das Subjekt im ersten Satz auf ein Vollverb, im zweiten auf ein Hilfsverb bezieht. Auf die Tändelei mit dem Wort lieb sind wir schon bei der allgemeinen Betrachtung des Textes eingegangen. Unser Fazit modifiziert sich also kaum: Der Text verrät den gewandten aber nicht weniger den nachlässigen Schreiber eines durchaus als privat gedachten Texts. Spuren literarischer Ambition sind nicht auszumachen. Text B hat die folgende Struktur: 1 S'gef H - NS 1Rel - S 15 2 Z'gez.S HS - S 15 3 E'S HS 09 = 4 E'S HS 09 5 S'gef HS NS 1inf 09 6 E'S HS 06 7 S'gef HS NS 1Pron 15 = 8 S'gef H - NS 1Konj - S NS 1Konj 20 9 E'S HS 09 eigentüml. Ausdruck = 10 S'gef HS NS 1Konj 08 11 S'gef HS NS 1Konj - S 1Konj 18 = 12 E'S HS 04 13 S'gef HS NS 1n.eing 16 14 S'gef HS NS 1Rel NS 2Konj 15 15 E'S HS 09 = 16 S'gef HS NS 1Rel 12 17 S'gef HS - S NS 1Konj NS 2Konj NS 3Konj 27 18 S'gef HS NS 1Konj 16 Das ist nun ein deutlich anders gebauter Text. Im Anschluss an das zu A zuletzt Festgestellte fällt ins Auge, dass die fünfte Kolonne praktisch leer ist. Der eigentümliche Ausdruck in 9 bezieht sich auf die kühne aber poetische Verbindung: noch viel Zeit und Wind verstreichen. Auch sonst sind die Änderungen auffällig. Ist der Privatbrief ungegliedert, erscheint der literarische Text mit dem gleichen Inhalt in sechs Abschnitte aufgeteilt, die erst noch je eine eigene Struktur haben. <?page no="270"?> R OBERT R UPRECHT 260 Abschnitt I zeigt einen reduzierenden Bau II einen alternierenden III einen reduzierenden IV einen stabilen V einen symmetrischen und VI einen stabilen. Der Text als Ganzes scheint dem Gebot der Symmetrie zu gehorchen. Die Abschnitte sind um eine Symmetrieachse angeordnet, die eine leere Mitte signalisiert. Eine Stille. Aus ihr folgt die Distanz, in der er zur Briefempfängerin bleibt. Frieda wird ihm nicht zum Namen der Namen. Er bemerkt, dass der Name der Person entspricht und bekennt, dass er sich ihr nahe fühlt, signalisiert aber gleich, dass ihn das zu nichts verpflichte. Der symmetrisch gebaute Abschnitt V, in dem der Kernsatz vorkommt, ist selber auf eine spezielle Weise in die allgemeinen Bemerkungen eingebettet. Das alles antwortet auf das, was wir bei der Betrachtung des Inhalts festgestellt haben: In den ersten drei Abschnitten ist vom Geben/ Empfangen die Rede, also vom Schreiber des Briefes, in den weiteren drei von der Empfängerin. Nach wie vor braucht Walser nur drei der sechs möglichen Satzarten. Das Gewicht hat sich aber zugunsten der Satzgefüge verschoben, der Text ist damit etwas einförmiger, was aber durch die Gestaltung der Abschnitte kompensiert wird. Das Prinzip der Lebhaftigkeit ist anders umgesetzt. Nach wie vor beginnen alle Sätze mit dem Hauptsatz, die Zahl der Hauptsätze ist aber etwas zurückgegangen, die der Nebensätze leicht angestiegen (Das Verhältnis ist jetzt 20: 16), was als ausgleichendes Element verstanden werden kann. In dieselbe Richtung deutet, dass derselbe Satzgefügetypus (HS NS) sechsmal vorkommt. Das gilt allerdings nur im Groben, da sich die Nebensätze deutlich voneinander unterscheiden. 17 In der Auswahl der Nebensatzformen herrscht grössere Vielfalt: zusätzlich kommen je ein Pronominal und ein Infinitivsatzsatz vor. Funktional sind die Nebensätze jetzt ausgesprochen vielfältig: Zwar sind die Kausalsätze immer noch am stärksten vertreten, es gibt jetzt aber auch Lokal-, Temporal-, Objekt- (zwei Mal Akkusativ) und Attributsätze. Auch ist die Tiefenstufung verstärkt: In A hatten die meisten Nebensätze den Grad 1, jetzt kommen Grad 2 zweimal und 3 einmal vor. Ausgleichende und differenzierende Merkmale halten sich also auch hier die Waage. Das Gleiche können wir bei den Satzlängen feststellen. Die durchschnittliche Satzlänge beträgt nun knapp 13 Wörter, liegt also deutlich tiefer als im Text A (15,3 Wörter, was etwa der Norm deutscher Texte entspricht 18 ). Auffällig ist, dass die Satzlängen viel ausgeglichener sind. Am Anfang wiederholen sich die Werte 15 und 9, sie kommen auch sonst noch vor. Damit bestätigt sich, was schon beim Aufbau der Abschnitte beobachtet werden konnte. Die Extreme liegen nicht so weit auseinander. Die Satzlängen sind jetzt an die Strukturen angenähert: Zwar gibt es immer noch eine gewisse Bandbreite (bei den Einfachen Sätzen z.B. von 4 bis 9), doch wirkliche Ausreisser gibt es nicht mehr. Trotz kürzerer Sätze ist der Text nun grammatikalisch viel reicher und gleichzeitig deutlich disziplinierter. 17 (Zuerst wird immer die Form, dann die Funktion genannt.) S. 5: inf Attr, S. 7 Pron Ort, S. 10: Konj AkkO, S. 13: n.eing Grd, S. 16: Rel Attr, S. 18: Konj AkkO als einzige Wiederholung. 18 Die liegt zwischen 14 und 18 Wörtern pro Satz. Texte mit deutlich höheren Werten gelten als anspruchsvoll, solche mit deutlich niedrigeren als einfach. <?page no="271"?> B EOBACHTUNGEN ZUM DICHTERISCHEN S CHREIBEN 261 Sprachliche Extravaganzen, wie sie in A in einem Drittel aller Sätze vorgekommen sind, gibt es hier nicht. Die eigentümliche Verbindung von Zeit und Wind, die als gemeinsame Eigenschaft das verstreichen haben, kann nicht als Extravaganz verstanden werden. Hier wird dem Text ein Licht aufgesetzt. So spontan der Text an seiner Oberfläche scheinen mag: er ist es nicht, er ist durch und durch konstruiert und sehr diszipliniert. 2 Über dichterisches Schreiben Es mag etwas kühn erscheinen, sich auf Grund eines Textes von nicht einmal 250 Wörtern über dichterisches Schreiben äussern zu wollen. Es gilt aber auch, dass bei wirklich guten Autoren kleine Texte genügen, um Gültiges über ihr Schreiben auszusagen. Unser Beispiel eignet sich besonders gut: Dichterische Bearbeitungen dichterischer Texte, vorgenommen von ihren Autoren, gibt es zuhauf, dass ein Dichter aber einen eigenen nicht in poetischer Absicht verfassten Gelegenheitstext spontan zum Ausgangspunkt eines poetischen Werks macht, dürfte sehr selten sein. Versucht man also, auf unserer Grundlage eine kleine Poetik herzustellen, mag man folgende ,Merkmale‘ nennen: (1) Dichterische Texte sind diszipliniert. Der private Brief ist möglicherweise die freieste und intimste Form schriftlicher Kommunikation. Disziplin meint eine innere Strenge, eine innere Form. Diese erkennt man im vorliegenden Beispiel im Inhalt und im Aufbau des Textes. Disziplin meint aber auch Komposition. Das schliesst das eingangs erwähnte spontane Schreiben nicht aus: Die Tätigkeit des Komponierens kann durchaus vor der ersten eigentlichen Niederschrift abgeschlossen sein, so dass nur noch die Niederschrift nötig ist. 19 Disziplin meint drittens die Berücksichtigung einer strengen Struktur, wie sie in der schematischen Darstellung von Texten zum Ausdruck kommt. (2) Dichterische Texte bedürfen der Allgemeingültigkeit. Das rein Private wird im Text B von Walser auf fast exemplarische Weise eliminiert: Jedes noch so kleine private Detail ist entfernt. (3) Dichterische Texte müssen die Oberfläche vom Hintergrund deutlich unterscheiden. Sie können nicht privat sein. Private Texte gehen einen Dritten grundsätzlich nichts an. Der Brief aus Biel ist das Schreiben eines Mannes von grosser Sensibilität an eine Frau, zu der er eine Zuneigung empfindet, der gegenüber er aber auch etwas Angst hat, er könnte sich zu sehr verpflichten. Daher die Stille in der Mitte, daher der Hinweis auf andere Schönheiten der Natur. (4) Dagegen ist es die Aufgabe dichterischer Texte, privat zu wirken. Die Texte müssen den Leser als Person ansprechen können. Er muss sie als wesentlich empfinden. Sie sollen den Lesenden berühren und in ihm mehr auslösen als Unterhaltung oder die allfällige Befriedigung von Neugierde, ohne dabei ein privates Interesse zu beanspruchen. (5) Fünftens kann angemerkt werden, dass dichterische Texte so verfasst sein müssen, dass sie ihre Gültigkeit über ihre Zeit hinaus bewahren können. Wie lange Gültigkeit vorhalten kann, mag als Mass dichterischer Qualität dienen. Je bedürftiger ein Text erklärender Worte ist, desto mehr Frische hat er verloren. Walsers Brief aus Biel hat seine Unmittelbarkeit bewahrt, er entbehrt nicht nur jedes privaten Elements, er ist auch frei von allen spezifisch zeitlichen Bedingungen. Dichterische Texte dürfen allerdings Kenntnisse voraussetzen. So folgt denn... 19 Goethe erwähnt das für sein Schaffen immer wieder. <?page no="272"?> R OBERT R UPRECHT 262 (6) dass ein guter poetischer Text eine Tiefendimension haben muss, die sich dem Lesenden nicht notwendig erschliesst. Jeder Text gehört in einen gewissen Rahmen, der kann aber nicht einfach durch die momentan geltenden Trends festgesetzt bleiben, er muss Elemente enthalten, die diesen Rahmen sprengen. Das ist im Text B beispielsweise in den Anspielungen auf das Alte und Neue Testament gegeben. So ergibt sich aus dem Vergleich zwischen einem privaten und dem aus ihm hervor gewachsenen poetischen Texte der Ansatz zu einer kleinen Poetik und ein Blick über die Schultern eines bedeutenden Autors. 20 Literatur Robert Walser, Das Gesamtwerk. Jochen Greven (Hrsg.). 13 Bände, Genf: Kossodo. 1972. (RWW) Robert Walser, Bleistiftgebiet. Aus dem Bleistiftgebiet Mikrogramme 1924/ 25, Bernhard Echte und Werner Morlang (Hrsg.). 2 Bände, Frankfurt: Suhrkamp 1985. Bichsel, Peter (1987). Lire les enfants Tanner. In: Robert Walser Lausanne (Dossiers Pro Helvetia), 79- 87. Echte, Bernhard (2008) (Hrsg.). Robert Walser, Sein Leben in Bildern und Texten Frankfurt: Suhrkamp. Mächler, Robert (2003). Robert Walser Biographie. Frankfurt: Suhrkamp. Ruprecht, Robert (1990): Sätze in der Rolle von Satzgliedern und Attributen. In: Wirkendes Wort 40 (1), 28-148. Ruprecht, Robert (1993). Die Syntax als Metrik der Prosa. Bern: Peter Lang. Ruprecht, Robert (2001). Subtile Signale. Beobachtungen zur Syntax bei Adalbert Stifter. Bern: Peter Lang. Ruprecht, Robert (2006): Halb ganz - ganz Halb, ein syntaktischer Ansatz zur Bewertung von Gedichten. In: Kürschner, Wilfried/ Rapp, Reinhard (Hrsg.): Linguistik International, Festschrift für Heinrich Weber. Lengerich: Pabst, 69 - 88. 20 Das erlaubt uns Robert Walser auch in seinem Text Schnori von 1928, einer Art geraffter Autobiographie. Da schildert er Leben, Wesen und Wirkung eines Mannes, der nicht Schori heisst, wie viele vermuten, sondern tatsächlich Schnori. (Berndeutsch für Schnorrer bzw. einen, der viel redet und wenig sagt.) Er schildert ihn ganz abfällig, lässt den Text aber darauf hinauslaufen, dass Schnori den nachfolgenden Autoren sämtliche Motive vorweg genommen hat. Diese machen sich Gedanken über ihn und kommen zum Schluss: „Ja, er war einer, obgleich er bloss den weiter keinerlei Erheblichkeit verratenden Namen Schnori trug.“ (RWW 9, 361-363) <?page no="273"?> Luthers Sprachgestus in Brechts Texten - eine Annäherung Gudrun Schulz 1 Die Luther-Bibel und der Dichter Bertolt Brecht 1 1.1 Vorbemerkung In der Auseinandersetzung mit Brechts Werk wurden und werden bis heute - dieser Beitrag eingeschlossen - Versuche unternommen, der Bibelfestigkeit und dem Rückgriff Brechts auf biblische Stoffe und Motive sowie die Nutzung von Formen, wie sie Luther in der Bibel verwendete, z. B. Psalmen / Choräle / Lieder des Salomon usf. in Brechts Texten nachzuspüren und Erklärungsmuster dafür zu finden. Das vor allem wegen eines Dichters, der zugleich Stücke wie „Die Tage der Kommune“ und „Die Mutter“ (1931) mit ihren revolutionären Gesängen schrieb. Diese zunächst scheinbare Unvereinbarkeit in Brechts Werk löst, wie die Werkrezeption deutlich macht, sowohl Erstaunen als auch Irritationen bei den Interpreten, Zuschauern und Lesern seiner Stücke und Gedichte aus (vgl. Hecht 2007). Dabei werden Zuordnungen, die Brechts Werk einseitig in eine bestimmte Schublade stecken möchten, dem Anspruch, dem Können und Wollen des Dichters, dessen Weltgeltung unvermindert anhält, nicht gerecht. Der nachfolgende Beitrag nähert sich vom Gestischen in Brechts Texten her den Beziehungen zu Luthers Sprachgestus und nutzt dazu unterschiedliche Texte beider Autoren in vergleichender Betrachtung. Brechts Ansichten zu einer Religion stehen dabei in diesem Beitrag nicht zur Diskussion. 1.2 Brechts ’Anleihen’ an die Luther-Bibel In einer Umfrage der Redaktion der Losen Blätter, einer Beilage der Zeitschrift Die Dame (1928), wandte sich diese an prominente deutsche Autoren mit der Aufforderung, sich zum Thema „Welches Buch hat Ihnen in Ihrem Leben den stärksten Eindruck gemacht? “ zu äußern. Brechts Antwort bestand in einem einzigen Satz, der lautete: „Sie werden lachen: die Bibel.“ (Brecht 1992, Bd. 21, 248 / künftig zitiert als: GBA mit Band- und Seitenangabe). Ein witziger PR-Effekt, wie man heute sagen würde. Es läge auch der Gedanke nahe, er hätte eines seiner wichtigen theatralischen Elemente, die Verfremdung, eingesetzt, wie man bezogen auf seine bis dahin rebellischen Lebens- und Werkäußerungen vermuten könnte. Möglich, dass von beidem etwas in der Äußerung steckt, aber die Antwort bedeutet mehr: Bereits sein erstes Werk, veröffentlicht 1914 in der Schülerzeitschrift Die Ernte, nannte Brecht Die Bibel. (Drama in 1 Act von Bertold Eugen). Das Stück beschreibt „eine fiktive Episode aus dem Freiheitskampf der Niederlande gegen die spanisch-katholischen 1 Wilfried Kürschner, dem dieser Beitrag gewidmet ist, und die Verfasserin haben an der Universität in Vechta zahlreiche Prüfungen im Lehramtsstudium, Fach Deutsch, miteinander bestritten. Unzählige Male fielen in den Prüfungen die Namen Martin Luther und Bertolt Brecht. Jeder für sich und in seinem eigenen Metier. Dabei haben Luther und Brecht mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Dem soll hier nachgegangen werden. <?page no="274"?> G UDRUN S CHULZ 264 Truppen im 16. Jahrhundert.“ (Kähler in GBA 1, 501) 2 . Das Stück blieb ein Einakter, das Brecht nicht wieder aufgriff (GBA 1, 7ff.). Zu finden sind in Brechts Texten von Anbeginn seines Schaffens bis zu seinem frühen Tod der Luthersche Sprachgestus und dazu Themen, Motive, auch Sprachwendungen aus der Luther-Bibel. Diesbezüglich besonders auffällig ist Bert Brechts Hauspostille. Der Erstdruck dieser Lyrik-Sammlung erschien 1927 im Propyläen-Verlag Berlin. Die Sammlung enthält Gedichte aus den Jahren 1916-1925. Für den Klappentext schrieb Brecht, er wolle nicht mit der Form der Hauspostille „seinen Spott treiben“, vielmehr eigne sie sich für sein Anliegen, weil sie „den Inhalt seinem Gebrauchswert nach, den verschiedenen Bedürfnissen der Leser entsprechend, anordnet und bestimmt“ (zit. nach Hecht 1997, 228). Die Nutzung der Form wie auch das Aufgreifen einzelner Motive in Anlehnung an Luthers Hauspostille, einer Sammlung der Predigten, die Luther in der Familie abhielt, in Brechts Sammlung ist offensichtlich. Anleihen an biblische Texte finden sich auch in Brechts Dreigroschenoper, dem Stück, das ihm 1928 über Nacht zu Weltruhm verhalf. So beginnt das Auftaktslied des ersten Akts dieser Bettleroper mit dem Morgenchoral des Peachum: „Wach auf, du verrotteter Christ! / Mach dich an dein sündiges Leben […]“ (GBA 2, 233) Zehn Jahre später schreibt Brecht - bereits in der Emigration - sein Stück Mutter Courage und ihre Kinder, in dem die Mutter Courage in ähnlich aufforderndem Gestus singt: „Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ! / Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. / Und was noch nicht gestorben ist / Das macht sich auf die Socken nun.“ (GBA 6, 10) (Hervorhebung - G. Sch.) Bibelmotive durchziehen verschiedene Brecht-Texte und kehren in unterschiedlicher Ausformung, geschrieben im zeitlichen Abstand, wieder, wie z. B. das Motiv von der Mutter und dem Sohn, das Brechts gesamtes Werk durchzieht, zu finden in den Weihnachtsgedichten, wenn es im Gedicht Maria (geschrieben 1922) heißt: „Alles dies / Kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war / Gesang liebte / Arme zu sich lud / Und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben / Und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.“ (Brecht 1981, 122) Im Kaukasische(n) Kreidekreis, 1949 veröffentlicht, mehr als zwanzig Jahre später, lässt Brecht den Sänger das Stück mit folgendem Lied beenden: „ [...]Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen [...]“ (GBA 8, 185) (Hervorhebung - G. Sch.) Hans Mayer, Autor, Literaturwissenschaftler und Freund Brechts, schrieb in seinem Buch Erinnerung an Brecht beim Nachdenken über Brechts ersten Gedichtband Die Hauspostille (1927), wie ihn die Brecht-Texte aus dieser Sammlung ein Leben lang begleiteten und machte deutlich, was er diesbezüglich herausfand: Bei Brecht vermischt sich Bibelfestigkeit mit der Blasphemie. Der Unglauben vermischt sich mit dem Unglauben an den Unglauben. Ein katholischer Priester behauptete damals zornig, diese Verse seien als „des Teufels Gebetbuch“ zu verstehen. 2 Das Stück des gerade 16jährigen Schülers hebt mit einer Lesung der Person des Großvaters aus der Bibel an, wenn es heißt: „Und um die neunte Stunde rief Jesu laut und sprach ’Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen […]‘ “ (GBA 1, 9) Und das Stück endet mit einem Bibelvers, den wiederum der Großvater spricht: „Herr, bleibe bei uns: Denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ (Ebd., 15) <?page no="275"?> L UTHERS S PRACHGESTUS IN B RECHTS T EXTEN 265 Ebendies waren sie nicht. Alle diese Bittgänge und Exerzitien waren gleichzeitig als Psalmen zu verstehen. Auch die späteren Gedichte Brechts bedienen sich, gerade in sehr versöhnlicher Weise, jeweils der Vorgabe des Psalmisten. (Mayer 1996, 28) Brechts Intention für das Lesen seiner Texte, besonders ausgeprägt in der Hauspostille, folgt der Vorstellung Luthers, die Gedichte ähnlich den Psalmen zum täglichen Gebrauch zu nutzen. Die Psalmen, die „im Alten Testament gesammelten religiösen Lieder des jüdischen Volkes“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2001, 1251), waren Brecht als protestantisch von mütterlicher Seite her erzogenem Kind, dem die Großmutter häufig aus der Bibel vorlas, vertraut und auch in der Wirkung erlebt. Und sie wurden ihm als ‚Psalmisten‘, wie Mayer hervorhebt, ‚Verfasser von Psalmen‘ nützlich für sein eigenes Schreiben. Psalmen wurden gesungen, und in der wörtlichen Überlieferung bedeuten sie „griech. psalmos, eigtl.= das Zupfen der Seiten eines Musikinstrumentes.“ (Ebd.) Diese Verbindung von Singen und Instrument bei der Darbietung seiner Texte setzte Brecht sowohl in seinen Texten, als auch in seinen theoretischen Abhandlungen zum Umgang mit seinen Gedichten und Stücken um. Brecht selbst sang mit rauer rauchiger Stimme seine Lieder und begleitete sich dabei auf der Gitarre (wie in fast allen Biografien zu Brecht hervorgehoben wird). Als ‚Psalmist‘ lässt er sich vor allem in seiner Hauspostille entdecken. So gab er der Erstausgabe dieser Gedicht-Sammlung sowohl eine Anleitung zum Gebrauch, als auch Gesangsnoten bei. In Anlehnung an ein ‚Kirchenbuch‘ wünschte sich Brecht, die Lyrik- Ausgabe solle in einem „großen, leder- und goldgebundenen Buch“ im Zweispaltendruck erscheinen, was aber beim Propyläen-Verlag nicht durchgesetzt werden konnte (Knopf, Jan und Gabriele: Anmerkungen zu Bertolt Brechts Hauspostille. In: GBA 11, 301). Werner Mittenzwei hebt in seiner zweibändigen Brecht-Biografie Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln (1986) hervor, dass Brecht mit seiner Hauspostille „ein Buch mit Gebrauchswert“ wollte. „Nicht Poesie, die dem neuesten Trend entsprach, beabsichtigte er an die Leser zu bringen, sondern Erbauung.“ (Mittenzwei 1986, Erster Band, 241) Die Erbauung allerdings verstand Brecht auf seine Art. Er versprach den Lesern mit seiner ersten Gedichtsammlung Zuspruch für eine Welt, in der „es nichts gab, was Zuspruch verdient hätte“. Brechts Zuspruch für den Leser sollte dennoch über die Poesie möglich werden. (Ebd., 241 f.) Deshalb besang Brecht in seinen Texten die „Kälte der Welt, ohne zu verzweifeln“ (ebd., 243). So verwundert es nicht, dass er ein Gedicht über eben diese Kälte Von der Freundlichkeit der Welt nennt, was nur bedingt ironisch gemeint ist. Dieses Lied Von der Freundlichkeit der Welt wird, wenn man es liest oder besser gesungen hört bzw. singt, vom Gestus der Psalmen getragen und greift sowohl ein Thema (Hiobs Verzweiflung), als auch direkte sprachliche Wendungen aus dem Buch Hiob auf, wenn es heißt: „Ich bin nackend von meiner Mutter Leibe gekommen, nackend werde ich wieder dahin fahren.“ (Das Buch Hiob 2003, 7) Diesen Aussagen Luthers im Buch Hiob folgt Brecht in Variationen. <?page no="276"?> G UDRUN S CHULZ 266 1 Auf die Erde voller kaltem Wind Kamt ihr alle als ein nacktes Kind Frierend lagt ihr ohne alle Hab Als ein Weib euch eine Windel gab. […] 4 Von der Erde voller kaltem Wind Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind. Fast ein jeder hat die Welt geliebt Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt. (GBA 11, 68) (Hervorhebung - G. Sch.) Auf die Erde kommen und von ihr gehen müssen, Ankunft und Abschied als Motive des Brecht-Gedichtes, auf die noch aspekthaft weiter eingegangen werden wird. Auffällig ist, dass Brecht neben dem Inhaltlichen auch sprachliche Formen Luthers direkt aufgreift, sie aber in Anlehnung an die aktuelle Sprachform verändert. So wird z. B. aus der zweifach von Luther verwendeten sprachlichen Form „nackend gekommen“ und „nackend dahin fahren“ in Brechts Gedicht „nacktes Kind“ und „geht ihr all.“ 2 Luthers Sprachgestus - eine Annäherung Unstrittig ist, dass die Reformation auf die Herausbildung der deutschen Sprache einen großen Einfluss gehabt hat. Luthers Verdienst ist es, ich folge diesbezüglich Wilhelm Schmidt, dass er derjenige war, der „eine Vollbibel ins Deutsche übersetzt und dabei bestrebt ist, ein für alle lesbares Buch zu schaffen. Dazu hat er Deutsch den traditionellen drei heiligen Sprachen (Hebräisch, Griechisch und Latein) gleichgestellt. Aus einer Theologie der Bibel folgert er eine Theologie der Sprache.“ (Schmidt 1993, 106) In Luthers Sendschreiben „An die Radherren aller stedte deutschen lands: das sie Christliche schulen auffrichten vnd hallten sollen“ (1524) erläutert er sein Anliegen: Vnd last vns das gesagt seyn / Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten / on die sprachen. Die sprachen sind die scheyden / darynn dis messer des geysts stickt. Sie sind der schreyn / darynnen man dis kleinod tregt. (Zit. nach Schmidt 1993, 106) Das Messer des Geistes, das Luther in den Sprachen sieht, das entwickelt er dahin gehend, dass er der deutschen Sprache auch eine neue Funktion zumisst, „eine neue kommunikative Geltung [...]. Ausdruck dieser neuen kommunikativen Geltung ist auch die Tatsache, dass Deutsch Sprache des Gottesdienstes, der Liturgie wird.“ (Ebd., 107) Luthers Anliegen mit seiner Bibelübersetzung ist es, dass alle die Inhalte der Bibel verstehen können, wie er in seiner Vorrede zum Buch Hiob (1524) schreibt: „Wir haben den vleys furgewandt / das wyr deutliche und yderman verstendliche rede geben / “ (zit. nach Schmidt 1993, 106). Jedermann verständlich sein, das heißt für Luther, dass es der Schuster ebenso verstehen kann wie der Schmied, der Bauer, ein jeglicher seines Handwerks und ein jeder, der Amt und ein Werk hat (vgl. ebd.). In Luthers Sendbrief vom Dolmetschen verdeutlicht er den Weg der Übersetzung der Bibel und macht kenntlich, wie er sich dabei mit Auffassungen seiner Gegner auseinandersetzt, die sein Werk kritisieren. Luther reichte es nicht, so erklärt er im Sendbrief, „die buchstaben inn der Lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deudsch reden / wie diese Esel thun“. Vielmehr ist Luther der Auffassung, und das fast sprichwörtlich gewordene Luther-Wort soll auch hier zitiert werden, man müsse, um richtig ins Deutsche zu übersetzen, dazu <?page no="277"?> L UTHERS S PRACHGESTUS IN B RECHTS T EXTEN 267 die mutter ihm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / vnd den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden / vnd darnach dolmetschen / so verstehen sie es denn / vnd mercken / das man Deudsch mit ihn redet. (Luther 1965 (B), 17) 3 Luther hat das Volk, alle Christen im Blick. Er möchte von den Lesern wie den Zuhörern bei seinen Predigten verstanden werden. Für die konkrete Arbeit an der Bibelübersetzung bedeutete das auch „die Annäherung der Bibel an die Textart der Predigt“ (Erben zit. nach Schmidt 1993, 107). Wichtig war Luther nicht so sehr „der Buchstabe und die Schrift, sondern die wirklich gesprochene und gehörte Rede“ (Arndt, zit. nach Schmidt 1993, 108). Arndt und Erben bestärken damit die Aussagen dieses Beitrags, der deutlich machen möchte, dass Luthers Deutsch einen Sprach- und Sprechgestus hat, der aus der Aktion des Sprechens, des Predigens, des die Anderen Ansprechens gewonnen wurde. Dennoch soll an dieser Stelle auch darauf verwiesen werden, dass Luther, der zeitlebens eine Überarbeitung der Bibel vornahm, auch Unterschiede machte zwischen seinem Predigtstil und der letztendlichen schriftlichen Formulierung des Bibeltextes. Schmidt nennt das: „die Textgestalt richtet sich nach der Textart“, wobei sich auch mehrere „sprechsprachliche Züge“ nachweisen lassen, was den von mir gewählten Ansatz gleichfalls untermauert. Deutlich wird, dass Luther sowohl „textspezifisch“ als auch „zielgerichtet adressatenbezogen“ gesprochen und geschrieben hat. (Schmidt 1993, 108) Dazu gehört bei Luther das Ansprechen der Zuhörenden während der Predigten von der Kanzel herab sowie in seinen Hauspredigten, die er an Sonn- und Festtagen in seinem Hause abhielt (versammelt in der Hauspostille 1544). In einer Predigt aus Luthers Hauspostille über „Luk. 2, 41-52“ heißt es: So du willst wissen, was Christus in seiner Jugend gethan habe, so höre den Evangelisten, der da sagt: Er war ihnen unterthan, d. i. er that, was Vater und Mutter ihm geheißen und ließ sich nichts verdrießen. (Aus Dr. Martin Luthers Hauspostille in: Wagner 1887, 55) (Hervorhebung - G. Sch.) So du willst wissen, so höre. Das ist im Gestischen eine Ansprache und Aufforderung an die Zuhörer, wie an die, die lesen können, zuzuhören bzw. weiter zu lesen, um etwas Neues zu erfahren. Alle Predigten hatten und haben bis heute den Aufforderungscharakter zum Hören und Lesen. Und sie wurden und werden mit ausdrucksvollen „Hand- und Körperbewegungen“ unterstützt. Dabei spricht der Prediger die Zuhörenden direkt an und fordert sie auf, dem Gesprochenen im wahrsten Sinn des Wortes zu folgen. Hierzu gehören auch Formen dialogischer Rede. In der Definition des Wortes „Gestus“ kommt diese Bedeutung zum Tragen, denn Gestus (lat.), die Geste wird im Digitalen Grimm erklärt als „ausdrucksvolle hand- oder körperbewegung aus lat. gestus“ (2004, Bd. 5, Sp. 4207, 43 / Geste). Kürschner deutet in seinem Beitrag Luthers Deutsch und die Gegenwartssprache u.a. auf den eben genannten dialogischen Charakter des Predigerstils hin, indem er auf die „kultische, sakrale Einbettung der Sprechhandlung“ verweist, die sich z. B. im Sprachgebrauch des Duzens auftut, wenn der Pfarrer sagt: „Der Herr sei mit euch.“ Und die Gemeinde antwortet: „Und mit deinem Geist.“ (1985, 108) Das Ansprechen der Zuhörer, was nach der Alphabetisierung der Allgemeinheit auch den Leser einschließt, paart sich in der Luther-Bibel mit einem erzählenden Gestus, von dem sowohl die Lieder, vor allem aber die biblischen Erzählungen getragen sind. Auf die Verwendung der Mündlichkeit bei Luther, ausgehend von der „doppelte[n] Existenzweise 3 In der von Bischoff herausgegebenen Ausgabe des „Sendbriefs“ setzte der neben den Nürnberger Druck (A) den Sendbrief Luthers vom Dolmetschen, der in Wittenberg bei Georg Rhaw erschienen war (B) gegenüber. Der Letztere wird in diesem Beitrag zitiert. <?page no="278"?> G UDRUN S CHULZ 268 der Sprache - gesprochen und geschrieben“ (ebd., 106), zielt Kürschner, wenn er auf die Formen der Darbietung und der Rezeption der Luther-Texte eingeht: „So wurden seine Texte [...] gelesen und vorgelesen [...] und zum großen Teil auswendig gelernt.“ (Ebd., 115) Der bei Luther der Predigt entnommene und in ihr wiederkehrende, dem Mündlichen ‚entlehnte’ Sprachgestus soll knapp am Kinderlied „Vom Himmel hoch“ dargestellt werden. (1) Vom himmel hoch da kom ich her / ich bring euch gute newe mehr / der guten mehr bring ich so viel / davon ich singen vnd sagen will. [...] (Zit. nach Kürschner 1985, 115) Dieser Luther-Text wird vornehmlich gesungen, mitunter auch gesprochen. In der ersten Strophe tritt zunächst ein lyrisches Subjekt auf, das die Zuhörenden direkt anspricht (das in der Lyrik häufig genutzte Du wird hier in der zweiten Person Plural genutzt): „ich bring euch gute newe mehr / “. Die erste Strophe endet mit einem erzählenden Gestus. Das lyrische Subjekt wird zum Erzähler, wenn es heißt: „Davon ich singen und sagen will.“ Aber es behält zugleich die Ansprache an die Zuhörenden bei. Der die Zuhörer / Sänger ansprechende und erzählende, auf etwas Erzählenswertes hinweisende Sprachgestus wird unterstützt von Worten, die in unserer Vorstellung mit Körperbewegungen verbunden sind, wie z. B. etwas bringen: „bring euch gute newe mehr / bring ich so viel“. Dem Mündlichen geschuldete Sprachformen finden sich bei Luther auch im Neuen Testament, wenn es z. B. im „Evangelium des Matthäus, Das 2. Kapitel [...]“ heißt: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und flieh nach Ägyptenland und bleib allda, bis ich dir‘s sage; denn Herodes geht damit um, daß er das Kindlein suche, es umzubringen. (Luther 1981, 6) (Hervorhebung - G. Sch.) Der Gestus des Erzählens wird besonders deutlich in den Geschichten des Alten Testaments, wenn der Erzähler im Buch Hiob beginnt: Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Derselbe war schlecht und recht, gottesfürchtig, und meidete das Böse; Und zeugete sieben Söhne und drei Töchter. (Das Buch Hiob 2003, 5) Die Psalmen im neuen Testament, Kirchen-Lieder, erfahren bei Luther Hinweise, den Gesang mittels Instrumenten zu begleiten, wie z. B. im 4. Psalm (Davids Abendgebet), dem David „vorzusingen auf Saitenspiel“ oder im 6. Psalm „vorzusingen auf acht Saiten“ usw. (Das Neue Testament und die Psalmen 1916, 5ff.). Luther, so Heinz Endermann, fand seinen eigenen Stil, indem er sich seiner Mittel bewusst wurde und indem er die Ausdrucksfähigkeit des Deutschen aufspürte und weiter ausbildete. Plastizität und Genauigkeit der Diktion, die Wahl der treffenden, volkstümlichen und weit verständlichen Worte, poetische Kraft und Phantasie prägen Luthers Stil [...] (Endermann in: Zu Martin Luther: Biblia 1983, 33) Luthers Sprachgestus beruht auf der gesprochenen Sprache, was Gesten und Worte, die in unserer Vorstellung mit Gesten verbunden sind, einschließt, wie z. B.: das Ansprechen / das Erzählen / das körperliche Bewegungen begleitende Sprechen / das Aufnehmen von Worten, die Bewegungen ausdrücken, vorzeigen / das dialogische, den Zuhörer auffordernde Reden. Solche Elemente von Luthers Sprache lassen sich in Brecht-Texten und in seiner Theorie vom Gestischen auffinden. <?page no="279"?> L UTHERS S PRACHGESTUS IN B RECHTS T EXTEN 269 3 Brechts Auffassungen über das Gestische 3.1 Brechts theoretische Gedanken zum Gestischen Von der Freundlichkeit der Welt 1 Auf die Erde voller kaltem Wind Kamt ihr alle als ein nacktes Kind Frierend lagt ihr ohne alle Hab Als ein Weib euch eine Windel gab. […] (GBA 11, 68) (Hervorhebung - G. Sch.) Brechts Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt (hier als Auszug, der unter Pkt. 3.2. vervollständigt wird) (GBA ebd.) wurde der Hauspostille, 2. Lektion Exerzitien entnommen. Bertolt Brechts Hauspostille, geschrieben in Anlehnung an Luthers Hauspostille (1544), wie vorn ausgeführt, ist in fünf Lektionen eingeteilt, in „Bittgänge“ / „Exerzitien“ / „Chroniken“ / „Mahagonnygesänge“ und „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“. Dazu gibt es ein Schlusskapitel mit einem Gedicht und einem Anhang mit drei Gedichten, darunter Vom armen B.B. Die Gedichtsammlung wird mit einem Vorwort eröffnet. Es heißt dort unter „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“: „Diese Hauspostille ist für den Gebrauch der Leser bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden.“ (GBA 11, 39) Diesem, im Predigerstil verfassten Auftakt folgen die Anweisungen zu den einzelnen Lektionen. Das Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt steht in der zweiten Lektion mit folgender Anleitung zum Gebrauch der dort versammelten Gedichte: Die zweite Lektion (Exerzitien = geistige Übungen) wendet sich mehr an den Verstand. Es ist vorteilhaft, ihre Lektüre langsam und wiederholt, niemals ohne Einfalt, vorzunehmen. Aus den darin verborgenen Sprüchen sowie unmittelbaren Hinweisen mag mancher Aufschluss über das Leben zu gewinnen sein. (Ebd.) Dieser Gestus des Belehrens zielt bei Brecht immer zugleich auch auf ein Lernen des Lesers/ Zuhörers. Wenn man es nur mehrmals liest (und dran glaubt - mit Einfalt liest), dann werde man es verstehen, mit dem Verstand aufnehmen können. Brechts Theorie vom Gestischen geht vom Sichtbar- und Hörbarmachen aus. Bereits 1938 schrieb er über seine Theorie, er habe sich für das Sprechen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte Technik erarbeitet. Ich nannte sie gestisch. Das bedeutete: die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen. (Brecht 1969, 103) Das Beispiel, wie man sich das vorzustellen hätte, wählte Brecht aus der Bibel und bezog sich ausdrücklich auf Luther, wenn es heißt: Ich will ein Beispiel geben. Der Satz der Bibel: „Reiße das Auge aus, das dich ärgert“ hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da das „das dich ärgert“ eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt heißt der Satz (und Luther, der „dem Volk aufs Maul sah“, formt ihn auch so): „Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus! “ Man sieht wohl auf den ersten Blick, dass diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das Eigentümliche, das Besondere kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat. (Ebd.) Brechts Theorie des Gestischen, folgend dem Luther-Gestus, den dieser wiederum dem Volk entlehnte und ihn entsprechend seiner Aufgabe als Prediger für das Volk aufbereitete, wendete Brecht sowohl auf die Gestaltung als auch auf das Spielen seiner Stücke an <?page no="280"?> G UDRUN S CHULZ 270 sowie für das Sprechen seiner Gedichte. In seinem Buch der Wendungen legte er Meti folgende Worte in den Mund, die seinen frühen Ansatz, das Gestische betreffend, noch einmal spezifizieren und Luthers Sprachgestus durchschimmern lassen: Meti sagte: Der Dichter Kin-jeh darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die Sprache der Literatur erneuert zu haben. [...] Er wandte eine Sprachweise an, die zugleich stilisiert und natürlich war. Dies erreichte er, indem er auf die Haltungen achtete, die den Sätzen zugrunde liegen: er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch Sätze immer die Haltungen durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck für die Gesten der Menschen war. (GBA 18, 78f.) 3.2 Luthers und Brechts Gestus in einem Brecht-Gedicht Das „Durchscheinen“ „von Haltungen“, die „Haltungen in Sätzen“, das widerspiegelt sich bereits in dem eingangs aufgeführten frühen Brecht-Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt. 1 Auf die Erde voller kaltem Wind Kamt ihr alle als ein nacktes Kind Frierend lagt ihr ohne alle Hab Als ein Weib euch eine Windel gab. 2 Keiner schrie euch, ihr wart nicht begehrt Und man holte euch nicht im Gefährt. Hier auf Erden wart ihr unbekannt Als ein Mann euch einst nahm an der Hand. 3 Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld: Keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt. Vielen, Kinder, wart ihr vielleicht gleich. Viele aber weinten über euch. 4 Von der Erde voller kaltem Wind Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind. Fast ein jeder hat die Welt geliebt Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt. (GBA 11, 68) (Hervorhebung - G. Sch.) Das Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt ist ein Erzählgedicht. Die Zuhörer/ Leser werden als ein Gegenüber angesprochen (2. Person Plural: „kamt ihr / lagt ihr / ihr wart nicht begehrt“ usw.) Ein Gedicht, das man in dieser alle ansprechenden Form auch von einer Kanzel verlesen könnte, wie vorn in Luther-Texten angedeutet. Ein beobachtendes, distanziert sich gebendes lyrisches Subjekt schildert einen allgemeinen, verallgemeinerten, auf das Wesentliche beschränkten Verlauf des Lebens. Beginnend mit der Geburt als „nacktes Kind“ und endend mit dem Tod „Von der Erde [...] / Geht ihr all“. Das allen Menschen Gemeinsame wird allen vor Augen geführt, vorgeführt mittels sprachlicher Gesten, der angesprochenen Haltungen. Ein Lebensverlauf, ähnlich z. B. auch dem des Hiob, wobei sich, wie vorn angesprochen, Brecht-Worte aus dem Buch Hiob sowie Motive wiederfinden, wie das von der Mühsal des Lebens, etwas aufzubauen und wieder zu verlieren, wie es Hiob geschieht. <?page no="281"?> L UTHERS S PRACHGESTUS IN B RECHTS T EXTEN 271 Im Kapitel 1 des Buches Hiob wird davon erzählt, wie Hiob vom Satan versucht wird. Nacheinander künden Boten davon, dass alles, was er im Leben geschaffen hat und ihm wichtig war, zerstört wurde und wie Hiob darauf reagiert: [...] Da der noch redete, kam einer, und sprach: Deine Söhne und Töchter aßen und tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgebornen; Und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her, und stieß auf die vier Ecken des Hauses, und warf es auf die Knaben, daß sie starben; und ich bin allein entronnen, daß ich dir’s ansagte. Da stand Hiob auf und zerriß sein Kleid, und raufte sein Haupt, und fiel auf die Erde und betete an, Und sprach: Ich bin nackend von meiner Mutter Leibe gekommen, nackend werde ich wieder dahin fahren. (Das Buch Hiob I, 18-21: 2003, 7) Während Luther das Lebenslos am Einzelnen, am Leben Hiobs, beschreibt, verallgemeinert Brecht im Gedicht Von der Freundlichkeit der Welt des Lebens Lauf und bezieht ihn auf „alle“, aber besonders auf die, die „nicht begehrt“ sind. Brechts vier Strophen des Gedichts bewegen sich zwischen dem Ankommen und dem Gehenmüssen. Das Kommen als „ein nacktes Kind“ ist unfreiwillig und in der Haltung entsprechend deutlich als „Frierend [...] ohne alle Hab“ gekennzeichnet. Das wird noch verstärkt durch die Worte in der zweiten Strophe: „nicht begehrt“ sein und „nicht im Gefährt“ geholt werden. Alles zusammen lässt schon von Beginn an auf kein sorgenfreies Leben schließen. Dieser eher pessimistische Blick gegenüber dem Leben auf der „Erde voller kaltem Wind“ resultiert aus Brechts Haltung einer kritischen Sicht auf die Welt, in die er hinein geboren wurde. Auch das Gehenmüssen, „bedeckt mit Schorf und Grind“, deutet auf ein schwieriges Leben hin, das dennoch „Fast ein jeder [...] geliebt“ hat. Für diese Haltungen werden unterschiedliche Verben und Verbformen genutzt, die ähnlich den Luther-Texten auch körperliche Bewegungen ausdrücken. Die Worte „kamt ihr“, ein Ankommen, in der ersten Strophe und die Worte „geht ihr“, ein Weggehen, in der letzten Strophe ebenso wie das Wort „geben“ (gab/ gibt) bilden eine Klammer, die den Lauf des Lebens abbilden und das Gedicht zusammenhalten sollen, wobei das Geben die schöne Geste für die Freundlichkeit ist. Zwischen den beiden Polen, Geborenwerden und Sterben, scheinen unterschiedlich helfende Haltungen auf, Gesten einer Freundlichkeit und Zuwendung. Da ist eine Mutter, die dem Kind „eine Windel gab“, eine Anleihe an Maria aus der Bibel. Und es kommt ein Mann, der „euch einst nahm an der Hand“. Der Mann ist vieldeutig interpretierbar: religiös, familiär, politisch usw. Gezeigt werden Handlungen und Haltungen von Menschen, die etwas geben, Not lindern, das Frieren beenden helfen und jemanden an die Hand nehmen, was auf Fürsorglichkeit verweist. Allein mit diesen Gesten wird der Titel des Gedichts belegbar und lebendig. Auch auf der „Erde voller kaltem Wind“ ist „Freundlichkeit“ möglich. Die vorgeführten Haltungen sind „ein Ausdruck für die Gesten der Menschen“. Sie entspringen ihrem Alltag und einer Sprachweise „als Imitation des alltäglichen Redens“ (GBA 18, 78f. / Vgl. GBA 23, Nr. 61-66, 89ff.). So hat Brecht einerseits Luthers Sprachgestus übernommen und andererseits gleich ihm den Leuten ihre Sprache samt der dazu gehörenden Gesten abgeschaut und die Sprache als „messer des geysts“ (Luther zit. nach Schmidt 1993,106), „als ein Werkzeug des Handelns“ erkannt.“ (GBA 18, 79) <?page no="282"?> G UDRUN S CHULZ 272 Literatur Bibel (1981): Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, 5. Aufl., Berlin und Altenburg: Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft. Brecht, Bertolt (1969): Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. In: Brecht Bertolt: Über Lyrik. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. Brecht, Bertolt (1988): Die Dreigroschenoper. In: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 2. Berlin und Weimar/ Frankfurt a. M.: Aufbau-Verlag / Suhrkamp Verlag. (Künftig zitiert als GBA). — (1981): Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. — (1988). Bertolt Brechts Hauspostille. In: GBA 11. — (1988): Von der Freundlichkeit der Welt. In: GBA 11. — (1989): Die Bibel. In: GBA 1. — (1989): Mutter Courage und ihre Kinder. In: GBA 6. — Brecht, Bertolt (1992): Der kaukasische Kreidekreis. In: GBA 8. — (1992): [Der stärkste Eindruck]. In: GBA 21. — (1993): Gestik. In: GBA 23. — (1995): Über die gestische Sprache in der Literatur. In: GBA 18.. Das Buch Hiob (2003). Nach der Übertragung von Martin Luther mit den Marginalien von ihm selbst und vergleichenden Anmerkungen aus dem revidierten Text von 1964. Herausgegeben, gestaltet und mit 68 Schabblättern versehen von Axel Bertram. Leipzig: Faber & Faber. Das Neue Testament und die Psalmen (1916): Nach der Übersetzung D. Martin Luthers. Dresden: Sächsische Bibelgesellschaft. Duden (2001): Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim u.a.: Dudenverlag. Endermann, Heinz (1983): Martin Luthers Bibelübersetzung. In: Brendler, Gerhard u.a. (Hrsg): Zu Martin Luther: Biblia. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun., 23-34. Grimm, Jacob und Wilhelm (2004): Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung (= Der digitale Grimm). Frankfurt a. M.: Zweitausendeins. Hecht, Werner (1997). Brecht Chronik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Hecht, Werner (2007). Brechts Leben in schwierigen Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Kähler, Hermann (1989): Kommentar zu Bertolt Brecht „Die Bibel“. In: GBA 1. Knopf, Jan und Knopf, Gabriele (1988): Anmerkungen zu „Bertolt Brechts Hauspostille“. In: GBA 11.. Kürschner, Wilfried (1985): Luthers Deutsch und die Gegenwartssprache. In: Eckermann, Willigis / Papp, Edgar (Hrsg.): Martin Luther. Vechtaer Universitätsschriften, Bd. 1. Vechta: Vechtaer Druckerei und Verlag GmbH & Co., 100-117. Luther, Martin (1965): Sendbrief vom Dolmetschen (Hrsg. Karl Bischoff). Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Mayer, Hans (1996): Erinnerung an Brecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Mittenzwei, Werner (1986): Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. Erster Band. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. Schmidt, Wilhelm (1993). Geschichte der deutschen Sprache, 6. Aufl., Stuttgart / Leipzig: S. Hirzel Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Wagner, Ernst (Hrsg.) (1887): Luther als Pädagog. Die Klassiker der Pädagogik, Bd. II. Langensalza: Schulbuchhandlung von F. G. L. Greßler. <?page no="283"?> Sprachgeschichte und Sprachkontakt <?page no="285"?> Das Personalpronomen im ältesten Teil des Schöffenbuches der Alten Stadt Toru / Thorn Hanna Biadu -Grabarek und Józef Grabarek 1 Zur deutschen Siedlung im Kulmer Land und in Thorn Der während des dritten Kreuzzuges (1191) gegründete "Orden der Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem" (lateinisch: Ordo fratrum domus Sanctae Mariae Theutonicorum Ierosolimitanorum) erhielt in den ersten 30 Jahren seines Bestehens viele Besitzungen in Palästina, Italien und im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Im Jahre 1219 wurde Hermann Balk erster Deutschmeister. Durch päpstliches Generalprivileg von 1221 erlangte der Orden volle Exemption von der Diözesangewalt. Die Idee der Gründung eines Ordensstaates in Europa stammt vom Hochmeister Hermann von Salza (1209-1239). Der erste misslungene Versuch erfolgte in Ungarn, wo der Orden König Andreas II. im Kampf gegen die Kumanen helfen sollte. Nach Hermann von Salzas Versuch, sein Gebiet/ Land (Burzenland in Siebenbürgen) dem Schutz des Heiligen Stuhls zu unterstellen, was gleichbedeutend mit einer Lostrennung vom ungarischen Staate war, und nach dem Extemptionsprivileg (1223) von Papst Honorius III. wurden die Burgen des Ordens erobert und der Orden selbst aus dem Burzenland (1225) verbannt. Der Orden brauchte nicht lange auf die nächste Einladung zu warten. Herzog Konrad von Masowien hat dem Orden das Kulmer Land für die Hilfe im Kampf gegen die heidnischen Pruzzen angeboten. Diesmal handelte der Orden vorsichtiger und klüger, denn er ließ sich von Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. garantieren, dass er die eroberten Gebiete der Preußen auch bekommt. Dies sollte auch im Vertrag von Kruschwitz (1230) bestätigt worden sein (überlassen der eroberten Gebiete dem Orden "auf ewige Zeit"). Es gibt aber Forscher, die hier eine Fälschung nicht ausschließen. Der Inhalt des Vertrags wurde von Papst Gregor IX. mit der Bulle von Rieti (1234) und von Kaiser Friedrich II. in der "Goldenen Bulle von Rimimi" (1235, rückdatiert auf den 26. März 1226) bestätigt Die ersten sieben Ordensritter mit Landesmeister Hermann Balk an der Spitze kamen 1231 ins Kulmer Land und errichteten in Thorn die erste Ordensburg. Mit den Rittern kamen 700 Mann, die als die ersten deutschen Siedler im Kulmer Land angesehen wurden. Die Gründung der Stadt erfolgte am 12. Dezember 1233 auf Grundlage der Kulmer Handfeste. Die Stadt lag ursprünglich westlich des heutigen Thorns und erst fünf Jahre später wurde sie an den heutigen Standort verlegt. 1264 wurde um die Ordensburg die Neue Stadt Thorn angelegt. 190 Jahre existierten beide Städte als selbständige Orte nebeneinander. Sie wurden erst nach der Revolte von 1454 vereinigt und fielen im Rahmen von Königlich Preußen an Polen. Die Unterwerfung der Pruzzen und Sudawer dauerte über 50 Jahre (bis 1283). Der militärischen Unterwerfung folgten die Christianisierung der heimischen Bevölkerung und die Kolonisierung des Landes mit deutschen Bauern und Handwerkern. Die beiden ersten Kolonisationszüge kamen aus dem (ost)mitteldeutschen (vgl. Mitzka 1937: 71), die nächsten dann schon aus dem niederdeutschen Sprachraum (Mitzka 1937: 42 ff.) ins Kulmer Land und in die nördlich davon gelegenen Gebiete. Es lässt sich vermuten, dass die ersten deutschen Siedler auf dem mitteldeutschen Kolonialweg über Breslau ins Land gekommen sind (vgl. Grabarek 2004: 504 ff.), wobei Obersachsen, die Lausitz und sogar Schlesien als <?page no="286"?> H ANNA B IADU -G RABAREK , J ÓZEF G RABAREK 276 Zwischenstationen gegolten haben konnten. So wurde das Ostmitteldeutsche zur Sprache des Deutschordens und seiner Kanzleien. Daran hat auch der Zufluss der niederdeutschen Siedler, besonders nach dem niederdeutschen Durchbruch an der Niederweichsel, nichts geändert. Anhand der Namen der Einwohner von Thorn konnte festgestellt werden, dass die Stadt um das Jahr 1400 Niederdeutsch gesprochen haben musste (vgl. Grabarek 1987: 14 ff.). 2 Zur Sprache des ältesten Teils des Schöffenbuches der Alten Stadt Thorn Das Schöffenbuch der Alten Stadt Thorn (lateinischer Name: Liber scabinorum veteris civitatis Thoruniensis) ist eines der ältesten, in polnischen Städten erhalten gebliebenen Schöffenbücher. Ältere Stadtbücher haben nur Krakau und Breslau. Der analysierte Teil des Altthorner Schöffenbuches ist in den Jahren 1363-1428 entstanden. Die Handschrift besteht aus 158 später nummerierten Pergamentkarten und zwei nicht nummerierten Karten vor dem Text. Das Ganze wurde 1871 in Halbfranzband eingebunden. Damals wurden auch die Aufzeichnungen nummeriert. Auf der Vorderseite befindet sich der Kurztitel des Buches Liber scabinorum. Auf der zweiten, nicht nummerierten Karte befindet sich der volle Titel Liber Iudicij Veteris Thorunen Ciuitatis Ab anno Domini 1363 Vsq an annorum 1428. Die nummerierten Karten haben ein Format von 285-310 mm x 205-235 mm (weiteres dazu siehe Grabarek 1984: 9). Außer der nicht nummerierten Einleitung (E) gibt es 1997 Aufzeichnungen. Ihre zeitliche Situierung sieht wie folgt aus: Jahre Nummer der Aufzeichnungen 1363 - 1370 E, 1-19 1371 - 1380 20-82 1381 - 1390 83-310 1391 - 1400 311-543 1401 - 1410 544-864 1411 - 1420 865-1487 1420 - 1428 1488-1997 Bei den Belegen werden die Nummern der Aufzeichnungen angegeben, was dem Leser helfen soll, die betreffende Form zeitlich entsprechend einzuordnen. Die Sprache des Textes ist Ostmitteldeutsch, die Kanzleisprache des Deutschordens also. Die Realisierung der frühneuhochdeutschen phonologischen Neuerungen entspricht der zeitlichen und räumlichen Situierung des Textes. Die Monophthongierung war damals schon abgeschlossen, die Realisierung der Diphthongierung begann jedoch erst um das Jahr 1400. Realisiert wurden auch Dehnung, Kürzung und Rundung. Die Sprache des Schöffenbuches weist auch bestimmte ostmitteldeutsche Merkmale auf (vgl. Grabarek 1984: 155 f.): die Senkung des / i: / → / e: / (eris, em), die Verdumpfung des / a: / → / o: / ([ : ]), die Öffnung des / / → / a/ , die Schließung des / / ([ ]) → / / usw. Der Text des ältesten Teiles des Altthorner Schöffenbuches eignet sich besonders für sprachhistorische Untersuchungen, denn er stammt aus dem ersten Jahrhundert der früh- <?page no="287"?> D AS P ERSONALPRONOMEN IM S CHÖFFENBUCH DER A LTEN S TADT T ORU / T HORN 277 neuhochdeutschen Epoche und wurde in einer Stadt geschrieben, die eigentlich an der Peripherie des deutschsprachigen Gebietes (im Grenzland) lag. Das Ziel der Analyse ist die Beschreibung des Gebrauchs von Personalpronomen, wobei nicht nur morphologische Kategorien (Kasus, Numerus), sondern auch ihre syntaktische Funktion Berücksichtigung finden. Außerdem soll festgestellt werden, ob der Gebrauch der Pronomen in der damaligen Altthorner Kanzlei der zeitlichen und der räumlichen Situierung des Textes entspricht. 2 Das Personalpronomen im Text des Schöffenbuches Im Text des Schöffenbuches wurden folgende Arten von Pronomen gefunden: - Personalpronomen: ich, (h)er, wir, mir, im/ ym, sie/ sy - Possessivpronomen: syn/ sin/ sein/ seyn, sines/ seynes/ seyns, sinem/ synem/ seynem/ seinem ir, irem, myn/ min/ mein/ meyn, - Relativpronomen: der - [...] von eyme spilmane der in beclagit hatte [...] - 161 waz - Waz doran bruch wirt sal Clauke sich [...] - 63 weme - [...] vnd das gebin weme er wolde [...] - 442 - Demonstrativpronomen: der, des, deme/ dem, den, desser, des, dessem, dessin/ dessen/ desen dis/ dys, dese/ desse/ deze/ dise/ disse, desin/ dezin/ desen/ dessen - Reflexivpronomen: [...] her hette sich entricht [...] - 79 [...] das sy sich gesundirt habe [...] - 138 [...] vnd vorczye mich von mynes wybis wegen [...] - 1806 - Indefinitpronomen: nymand, nymand(e)s, nymande, ymand, ymande Die meisten Belege gibt es für den Gebrauch des Demonstrativ-, Possessiv- und Personalpronomens; Relativ-, Reflexiv- und Indefinitpronomen kommen wesentlich seltener vor. Es wurden keine Belege für den Gebrauch der reziproken und Interrogativpronomen gefunden. Im weiteren Teil des Beitrags wird nur das Personalpronomen behandelt. Trotz der hohen Frequenz der Personalpronomen sind im analysierten Text nicht alle Deklinationsformen belegt. Belege für die zweite Person Singular fehlen völlig, wobei auch für die zweite Person Plural nur sehr wenige Belege gefunden wurden. Für den Genitiv gibt es im Text nur drei Belege, und zwar für die dritte Person Singular (zwei maskuline und eine feminine Form). a) erste Person Singular Nominativ ich - 38, 1348, 1925 Genitiv kein Beleg Dativ mir - 38, 1347, 1818 Akkusativ mich - 363, 1348, 1925 <?page no="288"?> H ANNA B IADU -G RABAREK , J ÓZEF G RABAREK 278 b) zweite Person Singular kein Beleg gefunden c) dritte Person Singular Maskulinum Nomin. he - 20, 45, 63 her - 20, 981, 1904 er - 9, 501, 1302 Genitiv seyner - 1460 syner - 1442 Dativ im - 9, 447, 1842 ym - 171, 384, 1888 em - 513, 1273, 1446 Akkus. in - 433 en - 459, 1139, 1713 Femininum Nomin. sÿ sï - 2, 41, 81 - 54, 58 sy si - 21, 451, 852 - 42, 1646 sie - 841, 1380, 1987 Genitiv irre - 116 Dativ ir - E Akkus. sy - 4, 426, 852 si - 52 sie - 1167, 1482, 1675 Neutrum Nominativ is - 1, 9, 46 Genitiv kein Beleg Dativ kein Beleg Akkusativ is - 13, 739, 1073, 1370, reduzierte Form s - 1382 d) erste Person Plural Nominativ wir - 334, 979, 1818 wyr - 1926 Genitiv kein Beleg Dativ vns - 13, 1370, 1949 uns - E Akkusativ vns - 1891 e) zweite Person Plural Nominativ ir - 979, 1916 Genitiv kein Beleg Dativ euch - 979, 1916 Akkusativ kein Beleg f) dritte Person Plural Nomin. sÿ sï - 57 - 47 sy si - 2, 427, 1888 - 38, 47, 107 sie - 911, 1383, 1503 Genitiv kein Beleg Dativ in yn - 3, 446, 728 - 93, 1888 inen - 7 en - 1059, 1232, 1655 Akkus. sy - 98, 243, 728 si - 63, 105 sie - 863, 1138, 1140 <?page no="289"?> D AS P ERSONALPRONOMEN IM S CHÖFFENBUCH DER A LTEN S TADT T ORU / T HORN 279 Erhalten hat sich zumindest teilweise das "h" im Anlaut des Nominativs des maskulinen Personalpronomens der dritten Person Singular (he, her). Diese Schreibweise tritt jedoch mit der Zeit immer seltener auf, was davon zeugt, dass der anlautende Konsonant nach 1400 fast völlig reduziert wurde. Die für das Niederdeutsche charakteristische Form he kommt nur in den Eintragungen aus den Jahren 1363-1377 vor, die oberdeutsche Variante er und die häufigere mitteldeutsche Mischform her treten im ganzen Text auf. Die beiden Belege für den Nominativ der zweiten Person Plural sind Höflichkeitsformen: Das sprach Hans Stolle Lieben sweger ir hat noch einen bruder vssen vnd der wil auch teil von mir haben [...] Diese Worte waren an Niclos Swarczkopp, den Schwager von Hans Stollen, gerichtet. Da es sich um eine Person handelt, steht das Prädikat in der dritten Person Singular. So erinnert diese Höflichkeitsform an die neuhochdeutschen Sätze mit er (auch Berliner er genannt): Ist Er von allen guten Geistern verlassen? (Höflichkeitsformen nach wikipedia.de) Die Formen sÿ, sï, sy und si im Nominativ Femininum der dritten Person und im Nominativ Plural der dritten Person zeugen von der Realisierung der frühneuhochdeutschen Monophthongierung. Der schon im Althochdeutschen begonnene und im Mittelhochdeutschen fortgesetzte (vgl. Schmidt 2007: 330) Ausgleich zwischen Akkusativ und Nominativ der dritten Person Femininum und Plural (siu sie) ist in der damaligen Altthorner Kanzleisprache abgeschlossen, wovon das Fehlen von siu zeugt. Dieser Zustand ist für das Frühneuhochdeutsche charakteristisch. So lässt sich also feststellen, dass die Nominativformen aller Personen im Vergleich zum Mittelhochdeutschen keinerlei Veränderungen unterlagen, was für das Frühneuhochdeutsche typisch war (vgl. Schmidt 2007: 428). Die für den Genitiv Maskulinum und Femininum der dritten Person Singular gefundenen Belege zeugen davon, dass sich damals die Formen mit auslautendem [- r] durchgesetzt haben, wobei beim Femininum die Metathesis des auslautenden [-r] erfolgte. So entstand die für die Ordenskanzleitexte typische Form irre (vgl. Weller 1911 : 76 f.). Im Dativ aller Pronomen der dritten Person ist das auslautende [- ] völlig apokopiert, wovon das Fehlen der Formen mit "-e" zeugt. Es gibt also kein ime und ire, sondern nur im und ir. Vom "h" als Dehnungszeichen wurde seinerzeit noch kein Gebrauch gemacht, was ebenfalls für die Texte der Ordenskanzlei typisch war (vgl. Grabarek 1984). Realisiert ist dagegen der Ausgleich zwischen Dativ und Akkusativ der ersten Person Plural (vns). Es wurde leider kein Beleg für den Akkusativ der zweiten Person Plural gefunden, wobei aber durchaus angenommen werden kann, dass auch dieser Ausgleich realisiert wurde. Es wurden keine r-losen Varianten von mir, dir und wir festgestellt. Derartige Formen waren eine seltene Erscheinung des Ostmitteldeutschen (westthüringisch, vgl. Schmidt 2007: 427). Im Vergleich zum Mittelhochdeutschen kommt die Akkusativform der ersten Person Plural mit -ch am Ende (unsich) nicht mehr vor, was auch für das Frühneuhochdeutsche charakteristisch war. Das Auftreten der Variante em im Dativ der dritten Person Singular der Maskulina und der Variante en im Akkusativ der dritten Person Singular der Maskulina sowie im Dativ der dritten Person Plural ist ein Beweis für die Senkung des mittelhochdeutschen [ ] zu <?page no="290"?> H ANNA B IADU -G RABAREK , J ÓZEF G RABAREK 280 [ ], die hier in Übereinstimmung mit Moser (1929: 131 f.) und Schirmunski & Maximowitsch (1962: 246) vor einem Sonorkonsonanten erfolgt. Im analysierten Text wurden aber auch Belege für die Senkung vor anderen Konsonanten gefunden (vgl. Grabarek 1984: 34): metewoche - 90 domete - 887 zebenczal - 1874 Diese Senkung begann schon in der mittelhochdeutschen Zeit im westmitteldeutschen Sprachraum (Hessisch, Moselfränkisch, Ripuarisch), dann tauchte sie im Pfälzischen, Ostfränkischen, Thüringischen, Obersächsischen und Schlesischen auf (vgl. Moser 1929: 131). In offener Silbe und in einsilbigen Pronomen vor Sonorkonsonanten ist anschließend die Dehnung anzunehmen. Es wurden keine Belege für die Verschmelzung des Verbs mit dem nachfolgenden Personalpronomen gefunden (vgl. geloubest du geloubestu bei Sparmann 1959: 10 ff.). Es wurde nur ein Beleg für die Verschmelzung von es im Akkusativ mit dem vorausgehenden her (Nominativ Maskulinum der dritten Person) gefunden: [...] czu demselben rechte als hers vor gehabt hat vnd [...] - 1382 Die den Nominativ und Dativ der zweiten Person Plural betreffenden Belege sind Höflichkeitsformen: [...] vor euch erbern manne her Hartwich von Thorn. - 979 Lieber sweger ir hat noch deynen brude vssen [...] - 1916 Im Falle der ersten Person Plural wird das Pronomen als Pluralis Majestatis verwendet: [...] wir burgermeyster [...] globen in dessen briefe euch her Hartwich [...] - 979 Im Text des Schöffenbuches ist auch der typische Gebrauch von wir zu finden: Da sprochen die swoger wir wellen euch gut sein douor vor nochmanunge - 1916 Die Personalpronomen werden verwendet als: - Subjekt: [...] diwyle ich lebe [...] - 38 Olbrecht [...] hat bekant das her schuldig sey Henriczen seinem sone XVIII mr [...] -981 Hans Jon Ruffer vnd Hans Seidilman haben bekant [...] das sie in burgeschaft [...] - 1383 - Objekt im reinen Kasus: [...] das sie im der rat geben sulde. - 863 [...] an dem her mich vnderweiset mit synem brieffe [...] - 1348 [...] das en beyderseit wol genuget [...] - 1675 - Teil des Präpositionalobjekts: des sal sich Claus von der Linden adir syne rechten erben an mir vnd an myne gute gleich eynem frey dorfolgetem pfande erholen -1347 [...] andern gute[...] das an sy [...] geuallen was [...] - 4 - Teil einer Adverbialbestimmung [...] andern gute[...] das an sy vom tode ires vaters [...] geuallen was [...] - 4 [H]annos Künig qwam vor vns [...] - 6 Vor mir [...] sint gewest dy erbern gelobwirdigin Peter [...] Casper [...] - 827 <?page no="291"?> D AS P ERSONALPRONOMEN IM S CHÖFFENBUCH DER A LTEN S TADT T ORU / T HORN 281 - Teil des Attributs: [...] vnd ab eyns vnde in stürbe [...] - 46 Das Personalpronomen kann attribuiert werden, indem dem Pronomen der Eigenname als Apposition angeschlossen wird. Dies kommt bei den Pronomen der ersten Person Singular und Plural vor: Ich Albrecht Rothen burger zu Thorun bekenne vnd thu kund [...] - 1348 Vor mir bruder Hinder von Slomaw pfarrer czu [...] sint gewest [...] -827 Wir burgermeyster vnd rathmanne vom Colberg bekennen [...] - 979 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der analysierte Teil des ältesten Thorner Schöffenbuches typische Merkmale und Formen der ostmitteldeutschen Kanzleisprache des ersten Jahrhunderts der frühneuhochdeutschen Epoche aufweist. Von den mittelhochdeutsch-frühneuhochdeutschen Neuerungen sind folgende realisiert worden: der Zusammenfall aller drei Geschlechter im Plural, die Apokope im Dativ Singular der dritten Person, die Verdrängung von es durch sin im Genitiv der dritten Person der Maskulina (für Neutra keine Belege). Von den typisch ostmitteldeutschen Merkmalen kommen folgende vor: der unregelmäßige Wechsel von he, er und der Kreuzform her in der ersten Person Singular der Maskulina, der Wechsel von i und e in den Formen des Dativs und Akkusativs Singular der dritten Person Singular (ym/ im : em). Es wurde nur ein einziger Beleg für die Metathesis gefunden, die in den ostmitteldeutschen Texten im Genitiv und Dativ der Personalpronomen auftrat (irre von irre wegin - Genitiv Femininum). Literatur Grabarek, Józef (1984): Die Sprache des Schöffenbuches der Alten Stadt Toru , WSP, Rzeszów. Grabarek, Józef (1987): Zur Sprache der Thorner Stadtkanzleien im XIV. und XV. Jahrhundert. In: Große, Rudolf (Hrsg.): Zur jüngeren Geschichte der deutschen Sprache, KMU, Leipzig, S. 14-22. Grabarek, Józef (2004): Die Ostkolonisation im westslawischen und baltischen Sprachraum bis 1350. In: Iwona Bartoszewicz / Marek HaÌub / Alina Jurasz (Hrsg.): Werte und Wertungen. 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Marcus, Breslau Internetquellen Deutscher Orden, in: wikipedia.org Höflichkeitsformen, in: wikipedia.de <?page no="293"?> Aspekte des linguistischen Kontakts in Siebenbürgen Ioana-Narcisa Cre u 1 Voraussetzungen Die Sprachlandschaft Siebenbürgens bietet das Bild einer eigenartigen Verflechtung von drei Sprachen (dem Rumänischen, dem Deutschen und dem Ungarischen). Die vorliegende Studie bezieht sich auf die ersten zwei. Die meisten Beispiele betreffen die deutsche Sprache, die in der Äußerung nach dem Muster der rumänischen Sprache verändert wurde. Die Interferenzerscheinungen in Siebenbürgen kennen sowohl „störende“ Aspekte im heutigen Schülerdeutsch (vor allem auf lexikalisch-semantischer und grammatischer Ebene) als auch Interferenzen in der deutschen Mundart, die keineswegs negativ zu beurteilen sind. 2 Interferenzerscheinungen 1 in Nonstandardvarietäten Die größte und beständigste deutsche mittelalterliche Sprachinsel innerhalb des Karpatenbogens ist die siebenbürgisch-sächsische, „da sie seit mehr als 800 Jahren ununterbrochen bis auf den heutigen Tag besteht” 2 (Haldenwang 1999: 11ff.). „So alt ist sonst fast keine solche Ansiedlung, so groß auch nicht, und nicht so selbstbewusst gegenüber der Umgebung“ (vgl. Eichinger 1997: 166). Es ist bekannt, dass nach seiner Konstituierung der Sprachinseldialekt seinen eigenen, vom Dialekt des Ursprungsgebietes unabhängigen Entwicklungsgang nimmt. Nach Eichinger (1997: 160f.) ist das Sprachinseldeutsch „prototypisch eine gesprochene Varietät”. 1 Es scheint sich jedoch so zu verhalten, dass es keine allgemeingültige Definition des Interferenzbegriffes gibt. Interferenz bezeichnet einen Sachverhalt, der bei zwei- und mehrsprachigen Sprachbenutzern festzustellen ist, wird aber auch „als störende Einwirkung von Strukturen einer bereits erlernten Sprache auf eine zu lernende, oder - bei Zweisprachigkeit - als die Beeinflussung bzw. Verletzung der Normen eines Sprachsystems durch ein anderes Sprachsystem“ (Lewandowski 1979: 294) aufgefasst, wobei Interferenzen auch zwischen regionalen/ dialektalen sowie soziokulturellen Varianten und der Standard- / Hochsprache zu erwarten sind. Meistens werden drei Erscheinungsformen der Interferenz unterschieden: die phonetische, die grammatische und die lexikalisch-semantische. Interferenz wird aber auch durch die Kopplung mit den Lernschwierigkeiten als negativer Aspekt des an sich neutralen Oberbegriffs „Transfer“ gesehen. Im Allgemeinen wird dieser jedoch nur als positiver Transfer im Sinne einer Lernverstärkung aufgefasst. Regelverletzungen in der Zielsprache sind zwar durch den starken Einfluss der Ursprungssprache zu erklären, wobei aber eine Abgrenzung der Interferenzen nicht immer möglich ist. Die Frage, ob eine sprachliche Form noch als Interferenz oder schon als integrierter Bestandteil der Norm angesehen werden kann, ist in vielen Fällen nur mit starker Idealisierung zu entscheiden. Hierher gehört übrigens die Fremdwörterproblematik, die auch in verschiedenen Bereichen der rumänischen Sprache zu finden ist. 2 Die letzte Volkszählung 2002 zeigt, dass von den 21 Millionen Einwohnern Rumäniens nur noch knapp 60088 Deutsche sind, der Anteil der deutschen Minderheit beträgt damit nur noch 0,3% der Gesamtbevölkerung Rumäniens. Doch leben in Rumänien immer noch zwei größere Gruppen: Die im 12. Jahrhundert eingewanderten, eine moselfränkische Mundart sprechenden sogenannten Siebenbürger „Sachsen“ und annäherend ebensoviele eine Pfälzer Mundart sprechende Banater „Schwaben“. <?page no="294"?> I OANA -N ARCISA C RE U 284 Für Siebenbürgen wurden Aspekte der Kontaktlinguistik in der deutschen Mundart von Sigrid Haldenwang (1999: 87ff.) hervorgehoben. Die Forscherin stellt fest, dass die aus dem Rumänischen und Ungarischen entlehnten Wortbildungskonstruktionen mit dem Suffix -ig in der siebenbürgisch-sächsischen Mundart allgemein verbreitet sind: z.B. burtosig < rum. burtos „dickbäuchig”, mutig < rum. mut „stumm”, prostig < rum. prost „dumm” u.ä. Hingegen nur von den jungen Mundartsprechern verwendet sind die aus dem Rumänischen ohne Suffix übernommenen Adjektive, z. B. lefter < rum. lefter, „pleite sein, ohne Geld”, fentos < rum. fent „List, Täuschung”. Manche Wortbildungskonstruktionen, gebildet aus Landschaftsnamen, können eine entlehnte Derivationsbasis und/ oder entlehnte Suffixe haben, wie z.B. moldauisch, moldauerisch „auf die Moldau bezogen”. 3 Transferenzen in der rumänischen Sprache Lexikalische Transfers 3 werden oft in das phonologische, morphologische, graphematische und semantische System der Empfängersprache eingegliedert. In der rumänischen Standardsprache gibt es viele Entlehnungen aus dem Deutschen (so wie stof (Stoffe), ciocolat (Schokolade), rucsac (Rucksack) 4 ), auch in der Fachsprache, die besonders in Siebenbürgen vorkommen: bormain (Bohrmaschine), junkers (Heizgerät), tecr (Stecker) oder cafr, cafer (Kaffer -Balken). Es gibt auch Lehnwörter, die aus der siebenbürgischen Mundart stammen. Das Wörterbuch der rumänischen Sprache bezeichnet das regional vorkommende Substantiv fleandr, fleandur (Lumpen, Fetzen) als Lehngut, das vom Sächsischen flander stammt. Dieses Wort führte seinerseits zu mehreren abgeleiteten Formen: flendurit (zerfetzt), flenduros (fetzig), flendri (mundartliche Bezeichnung für zerlumpte Kleider) und flenoi (Regionalismus für die jeweilige Person). 4 Das gegenwärtige Siebenbürgendeutsch 4.1 Sprachvarietät zwischen Schuldeutsch und Schülerdeutsch Die Forschung zeigt, dass Rumäniendeutsch der in Österreich gesprochenen Sprachvarietät in vielen Hinsichten sehr nahe steht, da die meisten deutschsprachigen Gebiete im heutigen Rumänien bis Ende des ersten Weltkrieges zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörten. Typische österreichische Erscheinungen findet man in allen Bereichen der Sprache, vor allem aber auf lexikalischer Ebene. Dazu werden Austriazismen wie Orange, Karfiol, Mehlspeise, Kipfel u.a. gezählt. Zur heutigen Sprachvarietät meint L z rescu (1980), dass man aber „Schuldeutsch” im Sinne der jahrhundertelang von siebenbürgischen und Banater 3 Für das Explikat der Transferenz wird auch angenommen, dass es u.a. auf alle sogenannten Lehnwörter zutrifft. Als Typen der Transferenz gelten lexikalische (Lehnwort, Fremdwort), semantische (Lehnbedeutung, Lehnübersetzung, Lehnübertragung), morphematische (Transferenz gebundener Morpheme), morphologische (Transferenz von Wortbildungsmodellen), phonematische, graphematische, phonische, prosodische, syntaktische und lexikosyntaktische, textematisch-phraseologische, stilistische Transferenz auf Sprechaktebene, auf parasprachlicher, auf allgemein-kommunikativer Ebene. Am zugänglichsten ist die lexikalisch-semantische Ebene mit der Aufnahme von Lehnwörtern. 4 Wobei die Wörter stof und ciocolat eine mehrfache Etymologie haben (eine deutsche und italienische bzw. eine deutsche, italienische und französische). <?page no="295"?> A SPEKTE DES LINGUISTISCHEN K ONTAKTS IN S IEBENBÜRGEN 285 Mundartsprechern verwendeten Hochsprache wie schon erwähnt, stark österreichisch beeinflusst vom „Schülerdeutsch”, der Sprache, von der die Schüler der heute in Rumänien existierenden „deutschen Schulen” Gebrauch machen, unterscheiden muss. 4.2 Interferenzerscheinungen im Schülerdeutsch Eine Möglichkeit, Charakteristika des gegenwärtigen Deutsch zu erkennen, bietet die Untersuchung dessen, was Bottesch „siebenbürgisches Schuldeutsch“ nennt (vgl. auch Bottesch 1997), was aber eigentlich Merkmale des Schülerdeutsch sind. Hier lassen sich viele sprachliche Interferenzen feststellen. Diese haben Auswirkungen und werfen Fragen der Spracherziehung und des Sprachunterrichts auf. Die gestellte Frage ist, ob der stark ausgebaute institutionelle Rahmen, der über die Schule hinausgeht, zur Annahme berechtigt, dass dieser Zustand der „gehobenen Fremdsprachlichkeit“ bei Zweitsprachlern als eine neue regionale Varietät des Deutschen betrachtet werden kann. Zu den Interferenzerscheinungen im lexikalisch-semantischen Bereich zählen aus dem Rumänischen übernommene Wörter und aus dem Rumänischen übersetzte Wendungen: Pix (rum. „pix” - Kuli), assistieren (rum. „a asista” hospitieren), Planifizierungen (rum. „planific ri” - Stoffverteilungspläne des Lehrers), Lektionsplan (rum. „plan de lec ie” - Stundenentwurf), eine Prüfung geben (rum. „a da un examen” eine Prüfung ablegen), eine Prüfung nehmen (rum. „a lua un examen” eine Prüfung bestehen), ein(en) Telefon geben (statt anrufen) u.ä. Zu dem Sondergebrauch von Wörtern, durch die Mundart bedingt, aber auch durch Analogien zum Rumänischen gestützt, gehört die Voranstellung des Verneinungswortes nicht in Imperativsätzen, der häufige, unübliche Gebrauch des Verbs sollen und der manchmal falsche Gebrauch des Verbs sein: z.B. statt Tu das nicht! heißt es in Siebenbürgen Nicht tu das! , im Einklang mit dem Gebrauch von nicht in der sächsischen Mundart und im Rumänischen (übrigens auch im Ungarischen). Das Verb sollen drückt im Deutschen meist eine Aufforderung aus (Du sollst in die Schule gehen), kann aber auch auf ein Ziel, einen Zweck der Handlung hinweisen (Hier soll ein neues Klassenzimmer eingerichtet werden). Zur Angabe von Ziel und Zweck wird sollen oft in einer Weise verwendet, die standardsprachlich unüblich ist: Wir sollen sehen, was da herauskommt! ” (statt: Sehen wir, was da herauskommt! oder Komm her, ich soll dir das erklären (statt … ich will… oder ich muss). Dieser Sondergebrauch von sollen mit zukunftsweisender Bedeutung käme auch in älteren Sprachstufen des Deutschen vor und wäre im siebenbürgischen Deutsch augenscheinlich auf mundartlichen Einfluss zurückzuführen (vgl. Bottesch 1997: 12-13). Auffällig ist aber auch der inhaltlich sehr ähnliche Gebrauch von s in den rumänischen Entsprechungen zu den genannten Beispielsätzen: S vedem ce iese aici. Vino aici s-i explic. Zum Gebrauch von sein gehören Sätze wie: Es ist kein Wasser (rum. Nu este ap) statt Es fließt kein Wasser. Ein weiteres Beispiel ist der Gebrauch des nur auch im Sinne von erst und der Dativformen des Personalpronomens. Dazu die Beispiele: Er kommt nur morgen (rum. „Vine numai mâine“, aber auch im Sächsischen möglich), bzw. Ich habe mir die Hausaufgaben gemacht (gestützt durch die unbetonte Form des Pronomens im Rumänischen statt des Possessivpronomens: Ich habe meine Hausaufgaben gemacht). Zu den grammatikalischen Interferenzen, besonders bei Schülern mit rumänischer Muttersprache, gehören auch Fehler beim Gebrauch der Artikel, der Personalpronomen, der Verben, der Konjunktionen und Präpositionen, wie auch <?page no="296"?> I OANA -N ARCISA C RE U 286 bei der Wortstellung. Zahlreiche Substantive haben ein unterschiedliches Genus im Deutschen und im Rumänischen: aerul (m) die Luft (w), apa (w) das Wasser (n), pmântul (n) die Erde (w), sarea (w) das Salz (n), brânza (w) der Käse (m) etc. Solche Unterschiede führen zu einem der häufigsten Fehler, indem dem fremdsprachlichen Substantiv das Genus aus der eigenen Sprache zugeordnet wird oder, wenn das Substantiv in keiner der beiden Sprachen eine Entsprechung hat, man gewöhnlich auf Analogien zu sinnverwandten Substantiven zurückgreift: die Wasser, die Salz, die Käse. Zum Gebrauch der Personalpronomen muss gesagt werden, dass die meisten Interferenzen beim Gebrauch der Höflichkeitsform Sie auftreten, da im Rumänischen, im Unterschied zum Deutschen, die Dativ- und Akkusativformen gleich sind: V cunosc - Ich kenne Sie. V dau o carte - Ich gebe Ihnen ein Buch. Der Gebrauch der Präpositionen ist meist durch die Übersetzung von Präpositionen und von präpositionalen Ausdrücken aus dem Rumänischen bedingt. Oft gibt es keine eindeutige Entsprechung der Präpositionen in den beiden Sprachen. So kann z.B. dem rumänischen la im Deutschen an, zu, bei, in oder nach entsprechen, was oft zu Fehlern führt: am Nacht (statt: in der Nacht), ich war zum Arzt (statt beim Arzt). Ähnlich wie bei den Präpositionen können auch die Konjunktionen im Deutschen und Rumänischen einander nicht eindeutig zugeordnet werden. So kann rum. dac fallweise dem deutschen wenn, falls, ob entsprechen, daher Formulierungen wie: Ich frage ihn, wenn er mittkommt (statt: … ob er…). Weil das Rumänische keine feste Topik kennt, wird oft eine falsche Wortstellung verwendet, im Hauptsatz: Morgen er bringt die Arbeit (rum. Mâine el aduce lucrarea), sowie im Nebensatz: Er fragt, ob sie kommt morgen in die Schule (rum. El întreab, dac ea vine mâine la coal) oder wegen Nichtverwendung der Satzklammer: Er muss lernen für die Prüfung (rum. El trebuie s înveee pentru examen). Interferenzen im reflexiven Gebrauch von Verben treten deshalb auf, weil zahlreichen reflexiven Verben des Rumänischen auch im Deutschen reflexive Verben entsprechen (se spal, se bucur, sie waschen sich, freuen sich) und die Ausnahmen daher übersehen werden: Sie wollen sich heiraten statt Sie wollen heiraten oder: Die Kinder spielen sich mit dem Ball; das junge Paar spaziert sich. Den sieben Modalverben im Deutschen (brauchen, dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen) entsprechen nur vier im Rumänischen: a putea können, a ti können, mögen, a trebui müssen, sollen, brauchen; a vrea wollen, mögen. Oft treten Fehler beim Gebrauch von können auf, das zwei rumänische Entsprechungen hat, von denen eine durch dürfen zu übersetzen ist: Ich habe die Aufgabe nicht gewusst (statt: gekonnt). Kann ich hinausgehen? (statt: Darf ich …). Die Verben haben und machen werden hingegen übermäßig gebraucht: Die Donau hat beinahe 3000 km (statt: … ist beinahe 3000 km lang), Er hat 12 Jahre (statt: Er ist 12 Jahre alt); Ich will ihm nichts machen (statt: .. nichts antun), Der Vogel macht ein Ei (statt legt). Die Beispiele gehen auf einen analogen Gebrauch der beiden Verben im Rumänischen zurück. Es erscheint auch Unsicherheit in Bildung und Gebrauch des Zustandspassivs, weil es im Rumänischen fehlt. Der Satz: El este invitat pentru disear kann sowohl Er wird für heute Abend eingeladen, als auch Er ist für heute abend eingeladen bedeuten. Die Sprecher neigen dazu, letztere Form zu gebrauchen (Zustandspassiv), auch wenn sie das erste meinen. Ähnlich heißt es Er ist verwöhnt, wenn gemeint ist Er wird verwöhnt. Oft werden Lokaladverbien statt Richtungsadverbien verwendet. Im Rumänischen bedeutet afar sowohl „draußen”, „hinaus” und „heraus”, ähnlich kann înuntru „drin”, „hinein” und „herein” bedeuten; aici steht sowohl für „hier”, als auch für „her”; acolo für „dort” und auch für „hin”. Daher gibt es <?page no="297"?> A SPEKTE DES LINGUISTISCHEN K ONTAKTS IN S IEBENBÜRGEN 287 häufige Verwechslungen: Er geht draußen (statt hinaus), Ich lege das Buch hier (statt hierher) usw. Unsicherheiten erscheinen auch im Gebrauch des es (das im Rumänischen keine Entsprechung hat): Ist um 12 Uhr am wärmsten (statt: Um 12 Uhr ist es am wärmsten). 5 Rumäniendeutsch als Varietät des Deutschen Nach Speran a St nescu (Universität Bukarest) gehört die Erforschung der Interferenzen mit den Sprachen der mitbewohnenden Ethnien zu den Hauptzielen der rumänischen Germanistik (vgl. St nescu 2002). Dabei bemerkt auch sie, dass die deutsche Sprache durch die starke Auswanderung der Sachsen nunmehr hauptsächlich durch Rumänen gepflegt und gefördert wird: „Aus Deutsch als Muttersprache (DaM) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) entwickelt sich eine Sprachvarietät, die, spielerisch als DaMF bezeichnet, zu neuen Forschungsansätzen und einem veränderten Lehrvorgehen anregt.” Das Deutsche wird in zunehmendem Maße nicht nur als Minderheitensprache verwendet, sondern dient auch als Verkehrssprache zwischen Personen, die keinen muttersprachlichen bzw. erstsprachigen Hintergrund aufweisen, sondern die ihre Sprachkenntnisse in muttersprachlich strukturierten Schulen erworben haben und diese in einem zu Eigenzwecken der deutschsprachigen Minderheit ausgebauten institutionellen Rahmen verwenden. Die Besucher der deutschsprachigen Schulen Rumäniens, die ohne deutschsprachigen Hintergrund in der Großfamilie am Unterricht teilnehmen, können mit jenen Schülern in rumänischsprachigen Schulen verglichen werden, die Deutsch als erste Fremdsprache lernen, allerdings mit dem Zusatz, dass ihr Lernziel die Zweisprachigkeit ist. Diese Sprecher, hauptsächlich Absolventen des deutschen Gymnasiums, machen bereits den größten Teil der Deutschsprechenden aus. Sie können allerdings nicht mehr als Muttersprachler oder Erstsprachler eingestuft werden, wie auch die Fehler aufgrund der Interferenzerscheinungen bestätigen, wenn auch ein erheblicher Teil dieser Gruppen einen deutschsprachigen Hintergrund in der Großfamilie aufweist. Der stark ausgebaute institutionelle Rahmen, der über die Schule hinausgeht, berechtigt zur Annahme, dass dieser Zustand der “gehobenen Fremdsprachlichkeit” bei Zweitsprachlern als eine neue regionale Varietät des Deutschen, gewissermaßen als moderne lingua franca des globalen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Techniktransfers betrachtet werden kann, die sich möglicherweise nicht nur auf Siebenbürgen beschränkt. 6 Fazit Die Sprachlandschaft Siebenbürgens bietet, wie schon seit Jahrzehnten festgestellt wurde, das Bild einer eigenartigen Verflechtung von drei ganz verschiedenen Sprachen: dem Rumänischen, dem Ungarischen und dem Deutschen, die alle ihre große Bedeutung im Alltag haben. Dafür gibt es Ursachen, Traditionen und verschiedene Interessen. Die Untersuchung zeigt, dass die deutsche Sprache im untersuchten Sprachraum wichtige und notwendige Aufgaben zu erfüllen hat. Dazu gehören auch die besprochenen Aspekte der Kontaktlinguistik. Als Interferenzerscheinungen findet man entlehnte Wortbildungskonstruktionen, während andere Aspekte des Sprachkontaktes (z.B. „code-switching”) hier nicht besprochen wurden. Die meisten Interferenzen treten im heutigen Schülerdeutsch auf. Diese haben Auswirkungen und werfen Fragen der Spracherziehung und des Sprachunterrichts auf. Die deutsche Sprache stellt eine Tradition dar wie das Weiterleben der regionalen Nonstandardvarietäten der sie- <?page no="298"?> I OANA -N ARCISA C RE U 288 benbürgisch-deutschen Mundarten beweist, wenn auch die Zahl der Sprecher stark zurückgegangen ist. Jedoch wird die regionale Varietät als Zustand der „gehobenen Fremdsprachlichkeit” immer mehr eine Bedingung der europäischen Bildungsgemeinschaft, der europäischen Integration und des europäischen Dialogs. Literatur Althaus, Hans Peter / Henne, Helmut / Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.) (1980): Lexikon der germanistischen Linguistik. 2. Aufl., Tübingen: Niemeyer. 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Er tat dies wie sein ebenfalls kritischer Vater, Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874), der als Sprachforscher mit umfassenden Kenntnissen auch über nicht-indogermanische Sprachen einen eigenen Standpunkt vertrat, So wählte Georg von der Gabelentz in seiner als wissenschaftliche Erstlingsarbeit anzusehenden Schrift (s. unten B.) bezeichnenderweise den Titel: Ideen zu einer vergleichenden Syntax. Er hatte also eine Grammatik auf der Satzebene im Sinne statt einer herkömmlichen Grammatik auf der Wortebene, einer Morphologie, die damals von den meisten Sprachwissenschaftlern als Grammatik verstanden wurde. Er war dabei ein methodisch sehr bewusster Erneuerer der Grammatik, der die grammatische Darstellung einer Sprache vom rein analytischen, auf sprachliche Produkte, Texte, bezogenen Gesichtspunkt zu einem auf die sprachliche Produktion, das „Sprechen“ einer Sprache bezogenen „synthetischen“ Gesichtspunkt erweiterte. Seine Chinesische Grammatik (1881), die eines seiner Hauptwerke darstellt, war in der Tat in diesem eigenen Grammatikverständnis geschrieben worden. 2. Was nun die heutige Linguistik von der traditionellen Sprachwissenschaft radikal unterscheidet, ist gerade dieser synthetische Gesichtspunkt, der nicht den Satz, sondern die Satzproduktion, nicht die Äußerung, sondern den Sprechakt, nicht Worte, sondern die Handlung mit Worten zum Gegenstand der Forschung macht. Fast alle Neuerungen der Linguistik in den letzten fünfzig Jahren wie etwa die Generative Grammatik, die Sprechakttheorie oder die kognitive Linguistik lassen sich auf diese grundlegende Erneuerung des Grammatikverständnisses zurückführen, die Georg von der Gabelentz initiiert hatte. Andererseits hatte bekanntlich zwischen der Zeit, in der Gabelentz lebte, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und der Zeit nach der so genannten Chomskyschen Revolution Mitte des 20. Jahrhunderts eine Erneuerung der Sprachwissenschaft durch den Schweizer Indogermanisten Ferdinand de Saussure als moderne bzw. strukturelle Linguistik stattgefunden, in der der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft als langue, System einzelsprachlicher Einheiten, in Unterscheidung von deren Realisierung, parole, und der allgemeinen menschlichen Sprachfähigkeit, (faculté du) langage, bestimmt wurde. Dieses Konzept der Sprache als System einzelsprachlicher Einheiten war aber wiederum bei Gabelentz als „Einzelsprache“ im Unterschied zu „Rede“ und „Sprachvermögen“ begrifflich eindeutig gegeben. So entstand in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts sogar eine Diskussion darüber, ob nicht Saussure sein sprachtheoretisches Konzept von 1 Überarbeiteter und ergänzter Text des Referats, das ich auf der ersten Gabelentz-Konferenz am 20.3.2000 im Schloss Altenburg (Thüringen) gehalten habe, an der auch der Jubilar teilnahm. <?page no="300"?> K ENNOSUKE E ZAWA 290 Gabelentz übernommen hatte, der in der Zeit, in der Saussure in Leipzig studierte und promovierte, dort an der Universität lehrte. Und das Gabelentzsche sprachwissenschaftliche Hauptwerk Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (1891) befand sich, wie es sich später herausstellte, tatsächlich in der Saussureschen Privatbibliothek. Das bedeutet, dass Georg von der Gabelentz, der als umfassender Sprachkenner und unabhängiger Geist abseits der Hauptströmung der Sprachwissenschaft seiner Zeit arbeitete, wesentliche konzeptionelle Ansätze vorweggenommen hatte, die Jahrzehnte später im Fach durch andere Forscher zum Zuge kommen sollten. Mehr noch: Er hatte als Sprachforscher sogar einen neuen Weg gewiesen, der nach Auseinandersetzungen mit den zum Teil einander widersprechenden Ansätzen der Sprachwissenschaft in den letzten hundert Jahren erst angetreten werden sollte. 3. Es ist die „grammatische Synonymik“ (ein wiederum von ihm selbst geprägter Begriff), die in einer synthetischen Grammatik den Hauptinhalt darstellt. Der Sprecher setzt zum Erreichen seines Handlungszwecks nicht nur Wörter mit ihrer Bedeutungsgleichheit und verschiedenheit, sondern vor allem formale Elemente und Konstruktionen in ihrer Gleichheit und Verschiedenheit ein, die in der Anzahl geringer und entsprechend überschaubarer als lexikalische Einheiten (Wörter) sind, wie etwa Fragewörter, Negationszeichen, Modalpartikeln oder bestimmte formale Konstruktionen. So ist in den Sätzen: Ein Fixstern hat eigenes Licht. Jeder Fixstern hat eigenes Licht. (Die) Fixsterne haben eigenes licht. Alle Fixsterne haben eigenes Licht. Fixsterne haben insgesamt eigenes Licht u.s.w. der gleiche Inhalt der „Allheit“ mit verschiedenen grammatischen Mitteln wie ein, jeder, die, dem Null-Artikel, alle oder insgesamt ausgedrückt (Gabelentz 1891, S. 98). Wenn man heute in der Linguistik die „lexikalische“ und die „grammatische Bedeutung“ voneinander unterscheidet, so können aus der synthetischen Darstellung einer Sprache ein „Thesaurus“, Wörterbuch nach Sachgruppen, einerseits und ein Handbuch solcher grammatischen Synonymik andererseits entstehen, in welchem zu jeder systematisch identifizierbaren grammatischen Bedeutung bestimmte aufzählbare grammatische Mittel, die in der Sprachpraxis regelmäßig verwendet werden, nachgewiesen werden, ein Instrument, das für eine effektive sprachliche Kommunikation besonders sinnvoll eingesetzt werden kann (vgl. Sekiguchi 2008). Eine solche Grammatik, die auf der syntaktischen Ebene in einem synthetischen Konzept und als synonymische Beschreibung geschrieben wird, bezieht sich auf das reale Sprechen einer Sprache („Rede“) als menschliche Handlung, nicht auf die Einzelsprache als autonomes System von Wort- und Satzformen. So werden darin statt des formalen Subjekts und Prädikats eines Satzes das „Thema“ und das „Rhema“ einer Äußerung festgestellt, die in den verschiedenen Sprachen mit verschiedenen grammatischen Mitteln regelmäßig ausgedrückt werden. Im Japanischen wird zum Beispiel das Thema statt mit der Satzbetonung, Wortstellung oder Satzform wie in anderen Sprachen mit einer eigenen Partikel wa ausgedrückt. In der Tat ging es in der eingangs erwähnten Erstlingsschrift von Georg von der Gabelentz, entgegen der eventuellen Erwartung, nicht etwa um einen Vergleich der formal un- <?page no="301"?> Z WEI S TUDIEN ZUR G ABELENTZSCHEN G RAMMATIK 291 terscheidbaren Satzkonstruktionen in den verschiedenen Sprachen, sondern hauptsächlich um die Untersuchung regelmäßiger Realisierungsformen bestimmter universeller Inhalte wie Thema und Rhema, die dort als „psychologisches Subjekt“ und „psychologisches Prädikat“ bezeichnet wurden, in verschiedenen Sprachen der Welt (s. unten B.). B Gabelentz’ „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ (1869, 1875) 2 1. Bei der Gabelentzschen Abhandlung „Ideen zu einer vergleichenden Syntax. - Wort- und Satzstellung. - “ handelt es sich um eine Erstlingsarbeit, die er zunächst 1869 als Neunundzwanzigjähriger in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft abrisshaft (9 Seiten) veröffentlichte und 6 Jahre später, 1875, in derselben Zeitschrift in zwei Fortsetzungen von größerem Umfang (jeweils 37 und 39 Seiten) weiter ausführte. Wie bei manchen Erstlingswerken kann man hier sein Hauptinteresse als Sprachforscher mit entsprechenden konzeptionellen und methodischen Ansätzen feststellen, die in seinen späteren Arbeiten zum Tragen kommen. Er war sich dabei der Neuartigkeit seines Versuchs voll bewusst. In seinen Schlussbetrachtungen bemerkt er: „Das Gebiet, auf welches ich mich gewagt, ist noch immer ein wenig besuchtes. Noch immer befasst sich unsere Sprachvergleichung lieber mit der Anatomie als mit der Psychologie der Sprachen“ (III. Teil, S. 337). Eine vergleichende Syntax war, auch abgesehen von seinem bewusst psychologischen Ansatz, in einer Zeit, in der im Namen der Sprachwissenschaft in erster Linie die Lautgeschichte betrieben wurde, durchaus etwas Neues. Eingangs weist er in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ihn zu diesen „Ideen“ zu einer „vergleichenden Syntax“ Beobachtungen geführt hatten, die er „beim Studium einiger Sprachen der indogermanischen, finnotatarischen, indochinesischen, malaiischpolynesischen Stämme und des Japanischen gemacht“ habe (I. Teil, S. 376). Diese besonderen sprachlichen Tatsachen, die über den regulären Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft von damals, die indogermanischen Sprachen, weit hinausgingen, hatten ihn also zu diesem „gewagten“ Versuch veranlasst. 2. Im Folgenden möchte ich die Hauptinhalte dieser ehrgeizigen Arbeit des jungen Gabelentz unter dreierlei Gesichtspunkten zusammenfassen: a. vergleichende Syntax als universelle Grammatik der „Rede“; b. die Wort- und Satzstellung als Verhältnis von Bestimmendem und Bestimmtem; c. Sprachgebrauch als regelnde Kraft der Sprache. a. Die wesentlichste Idee der Gabelentzschen „vergleichenden Syntax“ bestand darin, die Einzelsprachen mit ihren je verschiedenen grammatischen Elementen und Regeln auf eine universelle Basis des Sprechens, der „Rede“, zu beziehen und in Ihren Aktualisierungen dieser Basis Gleichheiten und Unterschiede festzustellen. Diese Basis der „Rede“, die aus einzelnen Redeakten, Äußerungen besteht, sieht nach Gabelentz regelmäßig ein „psychologisches Subjekt“ (PS), das, worauf man den Hörer aufmerksam machen will, an erster Stelle und ein „psychologisches Prädikat“ (PP), das, was man den Hörer wissen lassen will, an zweiter (und letzter) Stelle vor. 2 Beitrag des Verfassers auf der zweiten Gabelentz-Konferenz am 19. 7. 2003 in der Humboldt-Universität zu Berlin. <?page no="302"?> K ENNOSUKE E ZAWA 292 Diese Grundstruktur der Äußerung, die nach Gabelentzens Ansicht in allen Sprachen gleich ist, besteht also aus zwei psychologisch notwendigen Bestandteilen, „Kategorien“, die in den einzelnen Sprachen in der gleichen Reihenfolge, jedoch durch verschiedene grammatische Mittel, die Gabelentz „grammatische Seitenstücke“ nennt, aktualisiert werden. So kann der Satz „Napoleon wurde bei Leipzig geschlagen“ auch als Äußerung so bleiben, wenn der Sprecher den siegreichen Feldherrn Napoleon zum PS, „Thema“, machen will. Wenn er aber die Umgebung von Leipzig als historischen Ort aufgreifen und darüber dem Hörer etwas mitteilen will, wird die Äußerung lauten müssen: „Bei Leipzig wurde Napoleon geschlagen“, mit dem PS „Bei Leipzig“ und dem PP „wurde Napoleon geschlagen“. Während das grammatische Subjekt (GS) und das grammatische Prädikat (GP) in bestimmten formalen Eigenschaften, und zwar im Deutschen jeweils in einem Nomen / Pronomen im Nominativ und in einem Verb / einer Verbalphrase, gegeben sein müssen, sind das PS und das PP in sehr verschiedenen grammatischen Formen und Funktionen möglich: formal als Einzelwort, als Wortgruppe, als Teilsatz oder als ganzer Satz. Der sog. Passivsatz ist eine konventionalisierte Möglichkeit, das grammatische Objekt des Aktivsatzes, den „Leidenden“, zum Thema einer Äußerung zu erheben und das grammatische Subjekt des Aktivsatzes zu einem Teil des Prädikats der Äußerung zu degradieren. Gabelentz weist in diesem Zusammenhang eingangs seiner Abhandlung auf die philippinischen Sprachen hin, die „außer der activen Redeweise noch eine dreifache passive (haben), durch welche bald das ursprüngliche Objekt, bald das Werkzeug, bald der Ort der Handlung zum Subjecte erhoben werden können“ (I, 379). Im Japanischen kann bekanntlich mit Hilfe der Themapartikel wa ein Nomen nicht nur im Nominativ, sondern auch ein Nomen im Dativ (mit ni) oder Lokativ (mit de) und vieles andere als psychologisches Subjekt auftreten. Die Gabelentzsche „vergleichende Syntax“ ist in diesem Sinne eine grammatische Forschung über Einzelsprachen auf der Ebene der „Rede“ mit einer universellen konzeptionellen Basis, die in den beiden von ihm eingeführten Kategorien PS und PP besteht. b. Wenn nun sowohl das PS als auch das PP in den einzelnen Sprachen in sehr verschiedenen grammatischen Formen auftreten können, so müssen sie doch in diesen Formen, in denen sie auftreten können, jeweils eine bestimmte Funktion aufweisen. Gabelentz sieht das inhaltliche Verhältnis des PS zum PP im Verhältnis von Bestimmtem zu Bestimmendem, d.h. die inhaltliche Grundordnung einer Äußerung besteht darin, dass Bestimmtes vor Bestimmendem steht. Ein inhaltliches Verhältnis von Bestimmtem und Bestimmendem besteht nicht etwa nur zwischen Nomen und Adjektiv, Verb und Adverb oder Adverbialphrase, Hauptsatz und Nebensatz, sondern auch zwischen Verb und direktem oder indirektem Objekt. Gabelentz sagt: „Die Verwandtschaft desselben (des Objekts) mit dem Adverb ist leicht begreiflich und hat in den Sprachen mehrfach Ausdruck gefunden; indem das Objekt die Richtung der Verbalhandlung bezeichnet, bestimmt es diese näher. Domum eo übersetzen wir durch: ich gehe nach Hause, also adverbial; …“ (I, 383). D.h., man kann mit den Kategorien PS und PP nicht nur ganze Äußerungen, sondern auch Teile davon systematisch durchdringen. Psychologische Prädikate, die auf diese Weise zu bestimmten Teilen der Äußerung festgestellt werden, nennt Gabelentz „Nebenprädikate“, „beiläufige Prädikate“, „Zwischenprädikate“. Auf diese Weise hat man in der <?page no="303"?> Z WEI S TUDIEN ZUR G ABELENTZSCHEN G RAMMATIK 293 Gabelentzschen psychologisch konzipierten Syntax ein Gegenstück zur herkömmlichen morphologisch orientierten Wort- und Satzlehre als Grammatik. (Gabelentz verstand unter „Grammatik“, wie damals üblich, in erster Linie Morphologie; vgl. II, 131). Darüber hinaus kann man ein und denselben Satz als Äußerung je nach dem Kontext und der Situation verschieden in ein PS und ein PP aufteilen wie im Satz „Dort spricht N mit X“, bei dem „Dort“, „Dort spricht“, „Dort spricht N“ jeweils ein PS und der übrige Teil ein PP sein kann. So sind PS und PP Elemente, die nicht nur durch die Wort- und Satzstellung einer Äußerung realisiert, sondern auch, wie etwa beim Artikel, vom Sprecher und Hörer spontan aktualisiert werden können, ein Konzept, das erst im zweiten und dritten Teil der Abhandlung (1875) zur Ausführung kommt. In der Tat haben die Funktionen des PS und PP mit Funktionen des (bestimmten, unbestimmten und Null-) Artikels und des damit versehenen Nomens manches gemeinsam. c. Das psychologische Konzept der „vergleichenden Syntax“, das Gabelentz im ersten Teil von 1869 entwickelt hatte, wird im zweiten und dritten Teil von 1875 besonders in Bezug auf die Verschiedenheit von Sprachen in der Wort- und Satzstellung bei gegebener Grundordnung der Äußerung mit PS und PP weiter ausgeführt. Dabei werden besonders Deutsch mit seinen ausgeprägten Prinzipien der Satzbildung, Französisch mit seiner zweierlei Stellung des adnominalen Adjektivs sowie Sprachen mit satzschließenden Verben (Lateinisch, Türkisch, Mandschu und Japanisch) näher behandelt. Sprachen, die das Congruenzgesetz haben, besitzen die Voraussetzung zu einer grossen Beweglichkeit in der Wortstellung. Diese war, so scheint es, ehemals Gemeingut aller Zweige des indogermanischen Stammes. Die meisten, wo nicht alle, haben von jener Beweglichkeit eingebüsst, haben, eine jede in ihrer Art, von der ursprünglich vorhandenen Fülle der Möglichkeiten einzelne als Regeln für sich gewählt, auf die anderen verzichtend, und darum konnten sie in dieser Hinsicht soweit auseinandergehen, wie sie gegangen sind. Aber sieht man von diesen usuellen Einschränkungen ab, so dürfte sich wenigstens in den germanischen, romanischen, slavischen und griechischen Sprachen der nämliche Grundsatz nachweisen lassen wie im Deutschen (II, 139; Hervorhebung von mir). Der Sprachgebrauch (Usus, Norm) ist also auch bei der Aktualisierung einer Äußerung in Bezug auf die Wort- und Satzstellung im Spiel, so dass das Gesetz des PS an erster und des PP an zweiter Stelle der Außerung nicht immer gelten kann. Dass es sich aber beim PS und PP doch um reale Größen handelt, die die Wort- und Satzstellung in Einzelsprachen entscheidend bestimmen, kann man an der Tatsache erkennen, dass es Sprachen gibt, die eigene Mittel besitzen, die die Funktionen des PS und des PP lautlich anzeigen. So wird das umfangreiche Schlusskapitel der Gabelentzschen Abhandlung den Partikeln fa (va) (= wa) im Japanischen und ja im Alifurischen von Nord-Celebes gewidmet, die diese Funktionen für sich signalisieren können. In den Schlussbetrachtungen heißt es: „In den Hülfswörtern va des Japanischen und ja der Alifuru-Sprache lernten wir lautliche Erscheinungen kennen, die sich nur aus dem Bedürfnisse erklären liessen, den Satz auch für’s Ohr in seine zwei psychologischen Faktoren zu scheiden. Dieses Bedürfnis muss ein mächtiges gewesen sein, sonst würde es sich nicht in so energischer Form Befriedigung verschafft haben. Darin lag der Werth dieser Erscheinung für unser Thema“ (III, 337). <?page no="304"?> K ENNOSUKE E ZAWA 294 Literatur Behaghel, Otto (1892): Rezension von „Die Sprachwissenschaft“ (1891) von G. v. d. Gabelentz. In: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 13, 257-258. Coseriu, Eugenio (1967): Georg von der Gabelentz et la linguistique synchronique. In: Word 23, 74-110. — (1996): Die gegenwärtige Lage in der Sprachforschung. Einzelsprachliche und Sprachverwendungsforschung. In: Coseriu, E. / Ezawa, K. / Kürschner, W. (Hrsg.): Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachforschung. Ost-West-Kolloquium Berlin 1995. Sprachform und Sprachformen: Humboldt, Gabelentz, Sekiguchi. Tübingen: Niemeyer, 3-34. Ezawa, Kennosuke (1982): Gabelentz to gendai-gengogaku (jap.: Gabelentz und die heutige Sprachwissenschaft). In: Reports of the Keio Institute of Cultural and Linguistic Studies 14, 107-126 (in gekürzter deutscher Fassung vorgetragen auf der XVI. 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Diese Debatte wurde in dem von Sigismund I. 1526 eingerichteten Generallandtag von „Preußen königlichen Anteils“ geführt. Die Texte der Protokolle wurden von Danziger Schreibern angefertigt, die die Danziger Gesandten während der Beratungen begleiteten. Die im Staatsarchiv in Danzig aufbewahrten Handschriften (Signaturen 300/ 29/ 9-300/ 29/ 18) sind später angefertigte Kopien. Es sind Protokolle/ Rezesse von: dem Thorner Generallandtag vom 13. Dezember 1526, der auf den 13. Januar 1527 nach Marienburg verlegt wurde und dessen Beratungen bis zum 18. Januar 1527 dauerten; dem Elbinger Generallandtag (13.-22. Juli 1527); dem Kulmer Generallandtag (11.-18. November 1527); dem Elbinger Generallandtag (16.-21. März 1528); dem Marienburger Generallandtag ( 8.-21. Mai 1528). Mit Ausnahme der beigelegten und in lateinischer Sprache verfassten Korrespondenz mit Sigismund I. ist die Sprache der Protokolle Deutsch. Im ersten Jahrhundert der Kolonisation im Ordensland kamen deutsche Siedler aus Mitteldeutschland (vgl. Mitzka 1937: 25 ff.) höchstwahrscheinlich auf dem mitteldeutschen Kolonialweg nach Schlesien und weiter durch einen nicht oder nur schwach bewohnten Korridor, den die Mongolen im Jahre 1241 angelegt hatten, über Brest in Kujawien ins Culmer Land und weiter in das übrige Ordensland. Nach dem misslungenen Krieg gegen Polen im Jahre 1331, der zur Übernahme der Herrschaft über die ganze Strecke zwischen Schlesien und dem Culmer Land führen sollte (Schlacht bei PÌowce 1331), hat Polen diesen Weg sicherlich gesperrt (vgl. Grabarek 2004: 509 ff.). Seit dieser Zeit kamen die deutschen Siedler aus dem niederdeutschen Sprachraum fast ausschließlich über Pommern. Pommern war damals brandenburgisch und Pommerellen war seit 1309 (Vertrag von Soldin vom 13. September 1309) ein Teil des Ordensstaates. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kam es zu dem sog. Durchbruch an der Niederweichsel. Das Niederdeutsche gewann im Ordenslande die Oberhand, doch die Ordenskanzleien schrieben durchgängig Ostmitteldeutsch. Auch die Städte der Hanse korrespondierten mit dem Orden in dieser Kanzleisprache. Dieser Tradition blieben das 1466 gegründete „Königlich Preußen“ und das nach der Säkularisierung (1525) gegründete „Herzogtum Preußen“ treu. Da beide Länder im 16. Jh. evangelisch wurden, hat dies den Einfluss des Ostmitteldeutschen verstärkt. So sind auch die von den Danziger Schreibern verfassten Protokolle der Generallandtage in der ostmitteldeutschen Schreibsprache (Kanzleisprache) verfasst. Die analysierten Texte entstanden um die Mitte der frühneuhochdeutschen Periode und es ist deshalb anzunehmen, dass sie sich durch eine volle Realisierung der frühneuhochdeutschen Neuerungen charakterisieren. Zu den wichtigsten Neuerungen des Frühneu- <?page no="306"?> S YLWIA F IRYN 296 hochdeutschen gehören: die frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung, die Dehnung und Kürzung, die Rundung und Entrundung sowie die Ausgleichserscheinungen. Frühneuhochdeutsche Diphthongierung Die Diphthongierung der mhd. langen Vokale [i: ], [y: ] und [u: ] zu [ai], [ y] und [au] begann schon im 12. Jh. im östlichen Südbairischen. Die wohl ältesten Belege für die Realisierung dieser Erscheinung gibt es bei Heinrich von dem Turlin (Diu Crône, um 1220). Einige Jahrzehnte später reimten bayrische Dichter z.B. zît und geleit (vgl. Schmidt 1969: 295). Im ersten Jahrhundert des Frühneuhochdeutschen (1350-1650) taucht diese Diphthongierung nicht nur im Ostfränkischen, sondern auch im Böhmischen, Südschlesischen, Obersächsischen und in Teilen des Thüringischen auf (vgl. Moser 1929: 154 ff.). In den Texten der Prager Kanzlei der Luxemburger (1347-1437) ist sie ebenfalls realisiert. Besonders augenfällig wird das in Texten, die nach 1380 verfasst wurden. Dies trifft auch für Texte zu, die in der Kursächsischen Kanzlei des 14. Jh.s entstanden. In den omd. Mundarten begann die Diphthongierung vor 1400. In den Texten des Schöffen- buches der Alten Stadt Thorn (Ordenskanzlei) tauchen kurz vor 1400 die Schreibungen „ei“/ „ey“, „ew“/ „uy“/ „euw“ und „aw“/ „auw“/ „au“ auf (vgl. Grabarek 1984: 50-60). In den niederdeutschen Mundarten und im angrenzenden Ripuarischen sowie im Nordhessischen und im nordwestlichen Thüringisch wurde diese Diphthongierung von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Schirmunski 1962: 214) nicht realisiert (min, din, hus, us, Hochdüütsch/ Plattdüütsch) Hinsichtlich des Übergangs des Monophthongs in den Diphthong lassen sich folgende Etappen bestimmen: - Überdehnung der Vokale [i: ] [i: : ], [y: ] [y: : ] und [u: ] [u: : ]; - Spaltung des überlangen Vokals [i: : ] [ii], [y: : ] [yy] und [u: : ] [uu]; erste Senkung des ersten Vokals [ii] [e ]/ [ ], [yy] [œy]/ [ y], [uu] [ou]/ [ u]; weitere Senkung der ersten Konstituente des Diphthongs [ i] [ai] und [ u] [au]. Von der Spaltung zeugen die Übergangsschreibweisen „iy“/ „ii“, „uw“ (vgl. Grabarek 1984: 51 f., Wrede 1895: 257 ff.), von der ersten Senkung z.B. die Schreibungen „ei“/ „ey“/ „ej“, „äu“, von der zweiten „ai“/ „ay“ oder „au“. Da für die erste Hälfte des 15. Jh.s in den Texten der Ordenskanzlei die volle Realisierung der frnhd. Diphthongierung nachgewiesen wurde (Grabarek 1984: 50-60), könnte man durchaus davon ausgehen, dass in den Texten der analysierten Protokolle durchgängig von Diphthongen zeugende Graphemsequenzen zu erwarten sind, was aber nicht der Fall ist. Die Graphemsequenzen überwiegen zwar, sind aber nicht alleinherrschend: [...] zo der Ko. Ma. beswerlich an seyne lande und lewte zustünde [...] - 13.01.1527, S. 195 (54 Belege für seyne, 23 Belege für lewte) [...] dan wer uber seine gerechtigkeit hilt [...] - 3.07.1527, S. 134 (7 Belege für seine) [...] bey den geschickten der stete [...] - 13.01.1527, S. 175 (34 Belege für bey) [...] freitage am tage sanctae Priscae [...] - 13.01.1527, S. 237 (4 Belege für freitage) [...] zur selbigen zeit uff Hollant [...] - 13.01.1527, S. 185 (120 Belege für zeit) [...] das man die newe muntz slagen wolte [...] - 13.07.1527, S. 92 (35 Belege für newe) Lieben heren und gutte freunde [...] - 13.01.1527, S. 106 (4 Belege für freunde) [...] das wir do unser frunde van Toren [...] - 13.01.1527, S. 139 (2 Belege für frunde) [...] aus mylden gnaden [...] - 13.01.1527, S. 232 (9 Belege für aus) [...] uffs rathaws [...] - 08.05.1528, S. 384 [...] auf newe wertzel [...] - 13.01.1527, S. 188 (2 Belege für auf, 35 Belege newe) <?page no="307"?> Z UR S PRACHE VON P ROTOKOLLEN DER G ENERALLANDTAGE 297 [...] faste uf uns [...] - 13.01.1527, S. 224 [...] und nicht uff uns gestalt [...] - 13.01.1527, S. 225, (229 Belege für uff) Die Realisierung der Diphthongierung in den Präpositionen „auf“ und „aus“ erfolgte in der Ordenskanzlei ziemlich spät, wovon auch die Ergebnisse der Untersuchungen zum Altthorner Schöffenbuch zeugen (vgl. Grabarek 1984: 54 f.). Auch der Stammvokal im Nomen „Freunde“ wurde verhältnismäßig spät diphthongiert. In allen diesen Fällen besonders aber im Falle der Präpositionen lässt sich der niederdeutsche Einfluss (Danziger Schreiber, Siedler niederdeutscher Herkunft) nicht ganz ausschließen. Andererseits kann aber auch angenommen werden, dass die Diphthongierung des alten [i: ] etwas früher realisiert wurde als die von [y: ] und [u: ]. Frühneuhochdeutsche Monophthongierung Diese Monophthongierung begann um das Jahr 1100 im westlichen md. Sprachraum (Rheinfränkisch? ). Sie verbreitete sich in östliche und nördliche Richtung. Weder das Bairische (Ausnahme Nordbairisch) noch das Alemannische sind von dieser Erscheinung erfasst worden. Die Monophthongierung erreichte das östliche Ostmitteldeutsch mit der Ostkolonisation, d.h. noch gegen Ende des Mittelhochdeutschen. In den Texten der Prager Kanzlei ist sie problemlos nachweisbar, wobei sich aber die Schreibweise im Vergleich zur Aussprache konservativ verhielt (ie i, ye y). Im Falle dieses Monophthongs trug auch die Tatsache, dass das „e“ in erster Linie bei „i“ (viel seltener auch bei „a“, „o“ und „u“: jaer, broeder vgl. Schmidt 1969: 286) zur Markierung der Länge gebraucht wurde, dazu bei. Im Altthorner Schöffenbuch wechselt die Graphemsequenz „ie“ mit den einfachen Graphemen „i“, „y“ und „ÿ“. Im Falle der beiden übrigen monophthongierten Diphthonge kommen einfache Grapheme vor (vgl. Grabarek 1984: 68-72). Die gefundenen Belege bestätigen die These von der Realisierung dieser Erscheinung. Davon zeugen das sporadische Auftauchen von „i“ (für [i: ]) und die durchgängige Schreibung mit „u“ (für [y: ] und [u: ]): [...] hier im lande [...] - 13.01.1527, S. 179 (23 Belege für hier) [...] eyn etzlicher priester [...] - 16.03.1528, S. 323 [...] sie fragende [...] - 13.01.1527, S. 176 (485 Belege für sie) [...] hir im lande [...] - 13.01.1527, S. 180 [...] ein prister [...] - 13.07.1527, S. 190 [...] vil wechsselwortte [...] - 13.07.1527, S. 72 (92 Belege für vil) [...] seyne gute meynunge [...] - 16.03.1528, S. 334 (6 Belege für gute) [...] zu Marienburg [...] - 13.01.1527, S. 173 (1079 Belege für zu) [...] zue stunde [...] - 08.05.1528, S. 425; [...] zue sachen [...] - 13.01.1527, S. 176 [...] an seinen lieben bruder herczog Jurgen [...] - 16.03.1528, S. 273 (insgesamt 2 Belege) [...] gnediglich und gutlich entheben [...] - 08.05.1528, S. 440 (insgesamt 8 Belege) Der hochfrequente Gebrauch der Graphemsequenz „ie“ zeugt davon, dass das „e“ damals als Dehnungszeichen verwendet wurde. Die Graphemsequenz „ue“ in „zue“ ist als Ausdruck von [u: r] (zur) anzusehen. Das „e“ repräsentiert hier also den vokalisierten Konsonanten „r“ (etwa [tsu: á] vgl. Duden 6/ 1990: 792). Frühneuhochdeutsche Dehnung Die Dehnung begann sicherlich schon im 12. Jh. (vielleicht sogar noch früher) im Niederfränkischen und verbreitete sich in den darauffolgenden Jahrhunderten auf das ganze deutsche Sprachgebiet. Die genaue Zeit der Entstehung und der Verlauf der Verbreitung <?page no="308"?> S YLWIA F IRYN 298 lassen sich nicht exakt bestimmen, weil diese Erscheinung erst mit großer Verspätung auch in der Schriftsprache ihren Niederschlag fand (vgl. Ritzert 1898: 131 f.). Außerdem wurden Länge und Kürze unregelmäßig markiert (vgl. Schmidt 1969: 289). Mehrere sichere Belege für die Dehnung gibt es bei Heinrich von Veldecke (vgl. Frings/ Schieb 1947: 235). Im Mitteldeutschen tauchte die Dehnung schon im 13. und im Oberdeutschen im 14. Jh. auf. Von dort griff sie auf einige omd. Mundarten über. Der kurze Vokal wurde nur in einer Tonsilbe gedehnt, wenn: diese Silbe offen war (vgl. lëben [l b n] leben [le: b n); die geschlossene Silbe im Paradigma geöffnet wurde (vgl. sun [zun] sunes [zu: n s]). Hier auch der Systemzwang bei den starken Verben: sprach [sprax] sprach [ pra: x], denn sprachen [spra: x n]; es etymologisch verwandte Stämme gab (vgl. lesbar [le: sbar], denn [le: z n]); es einsilbige Pronomen und Adverbien waren, und zwar vor [r], [l], [m] und [n] vgl: der [d r] der [de: r], schon [ n] [ o: n]). Von dieser generellen Regel gab es bestimmte Abweichungen (keine Dehnung): vor [ ] (sch), denn hier liegt die alte Doppelkonsonanz vor („sk“ fischer, ahd. fiskari); vor [x]/ [ç] bei alter Doppelkonsonanz (vgl. brechen ahd. brehhan); manchmal vor [t] und [m] bei -el, -er und -en im Auslaut (vgl. himel, weter, komen). Die Kürze wurde später durch Verdoppelung des Konsonantengraphems markiert: himmel, wetter, kommen. Da die Länge im damaligen Ostmitteldeutsch nicht regelmäßig markiert wurde, stößt der Versuch der Bestimmung des Realisierungsgrades der Dehnung auf Schwierigkeiten. Es gab bestimmte Schreibgewohnheiten (Schreibkonventionen) z.B. keine Markierung der neuen Länge bei geben und durchgängige Markierung bei gehen: [...] und die seyn och noch wirden gehen, geben und nemen lassen [...] - 13.07.1527, S. 113 (gehen - 11 Belege, geben - 57 Belege, nemen - 30 Belege), aber einmal nehmen mit Dehnungs-h: [...] reichlich zu nehmen [...] - 13.07.1527, S. 148. Es wurden kein gehben und kein ge(e)n gefunden. [...] unsserem befehel gemehss horen lassen [...] - 13.01.1527, S. 178 (57 Belege für befehel). Bemerkenswert ist die Markierung der alten Länge in gemehs (insgesamt 6 Belege) [...] fride und eynigkeit leben muchten [...] - 08.05.1528, S. 392 (für das Verb leben 6 Belege, für das Nomen fride zwei Belege [...] fryde und aynigkeit [...] - 08.05.1528, S. 394 (insgesamt 2 Belege) [...] zo lasse wir sie faren [...] - 13.07.1527, S. 121 (insgesamt 4 Belege) [...] den eynen ader andern weg [...] - 13.01.1527, S. 206 (insgesamt 2 Belege) Es wurde ein Beleg für das Adverb weg ([ ]) gefunden (keine Dehnung): [...] so wurde das silber nymandt weg furen [...] - 13.07. 1527, S.109 Die Schreibung des langen und des kurzen Vokals ist meist gleich: [...] vor die stette [...] - 13.01.1527, S. 179 [...] nochdeme sie van diessem vor diesser tagefart nicht gewust [...] - 13.01.1527, S. 213 Die Präposition vor wird häufiger in der Bedeutung „für“ gebraucht und seltener als lokales und temporales „vor“. Es wurden für alle Varianten insgesamt 241 Belege gefunden. Im Falle der Zwillingsformel nach wie vor (ein Beleg) steht anstatt von „v“ das „f“. [...] noch wie for [...] - 13.07.1527, S. 223 Steht ein derartiges vor ohne noch, so wird es mit „v“ geschrieben. [...] wie vor angegeben [...] - 13.01.1527, S. 199 <?page no="309"?> Z UR S PRACHE VON P ROTOKOLLEN DER G ENERALLANDTAGE 299 Die Analyse der Realisierung der Dehnung veranlasst zu folgenden Feststellungen: die neue (und auch die alte) Länge wurde in bestimmten Wörtern mit „h“ markiert, in anderen nicht, wobei es sporadisch Schreibungen desselben Wortes mit und ohne Dehnungs-h gibt ne(h)men. - Doppelungen von Vokalen und die Markierung der neuen Länge mit „e“ waren nicht üblich. Das „e“ (wohl als Dehnungszeichen) wurde nur im Falle des monophthongierten [i ], vgl. oben hir/ hier, und im Falle des Demonstrativpronomens dieses verwendet. [...] wes sie van iren eldesten diesses falles in befehel mitegenommen [...] - 13.01.1527, S. 192 Das Doppel-e in gescheen steht hier für zwei Vokale: für den langen Stammvokal und für das Endungs-[ ]: [...] denne erstlich der vorloss hewtigen tage vor essens gescheen durch den herrn burgermeister van Toren repetieret und an die cleyne stette gesonnen [...]13.01.1527, S. 192 Frühneuhochdeutsche Kürzung Die bisherigen Forschungen konnten über Zeit und Raum der Entstehung der frühneuhochdeutschen Kürzung bislang keine sicheren Angaben liefern. Es wird angenommen, dass die Kürzung in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s an der Grenze des Ostfränkischen und des Westmitteldeutschen begonnen hat. Von dort aus verbreitete sie sich in alle Richtungen. Sie wurde im Ostfränkischen und in den jungen omd. Mundarten am konsequentesten durchgeführt (vgl. Moser 1929: 79). Die Realisierung in verschiedenen Mundarten stand im engen Zusammenhang mit der nachfolgenden Konsonanz. Da dieser Prozess eigentlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts des Mittelhochdeutschen begann, werden viele damals gekürzte Vokale zu den mhd. Kürzungen gezählt. Aus diesem Grunde gibt es nur verhältnismäßig wenige sichere Belege für diese Kürzung. Diese Kürzung erfolgte: in unbetonten Silben (Nebensilben): mhd. gartenaere frnhd. gärtner mhd. bogenaere fnhd. bogener/ bogner vor mehrfacher Konsonanz (hier auch die neuen, infolge der frnhd. Monophthongierung entstandenen Längen): mhd. dâhte frnhd. dachte mhd. klâfter frnhd. klafter mhd. lieht frnhd. Licht mhd. stuont frnhd. stund Vor allem im md. Sprachraum wurden die alten und sporadisch auch die neuen, aus den alten Diphthongen entstandenen Längen vor einfachem Konsonanten (besonders vor „t“ „m“, seltener vor „f“ und „ “) gekürzt: mhd. muoter frnhd. mut(t)er mhd. iemer frnhd. im(m)er/ ym(m)er mhd. wâfen frnhd. waf(f)en mhd. rüe el frnhd. rüs(s)el In einigen Fällen trat sie auch in der ersten Konstituente eines häufigen Kompositums auf, wenn diese Konstituente auf einen Konsonanten endete und die zweite Konstituente mit einem Konsonanten begann: hôchzît hochzeit brâmber brambör/ bramber (Brombeere) <?page no="310"?> S YLWIA F IRYN 300 Da es in den untersuchten Texten keine Reimstellen gibt, kann die Kürze der neuen Vokale nur aufgrund des Auftretens der nachfolgenden mehrfachen Konsonanz angenommen werden. Für die Kürzung wurden u.a. folgende, mehr oder weniger sichere Belege gefunden: - Belege für eine (eventuelle) Kürzung in Nebensilben: [...] sampt Theues Krap burger van D [...] - 08.05.1528, S. 431 (15 Belege für burger) [...] meister der kannengisser der stete [...] - 13.03.1528, S. 311 ( 4 Belege für kannengisser) - Belege für die Kürzung alter und neuer Längen in den Stammsilben vor mehrfacher Konsonanz: [...] als das ymmer mogelich [...] - 13.01.1527, S. 227 (12 Belege für ymmer) [...] und gutter andacht [...] - 16.03.1528, S. 286 Die durchgängige Schreibung des Adjektivs „gut“ mit „tt“ (vgl. oben) ist sicherlich ein Beweis für die mundartliche Kürzung vor [t], vgl. auch: [...] und gutter lewte rath [...] - 13.01.1527, S. 215 (16 Belege für gutter) [...] gutte gewonheit [...], - 13.01.1527, S. 181 (insgesamt: 41 Belege für gutte) [...] und noch gutt were [...] - 13.01.1527, S. 218 Problematisch ist die Bestimmung der Quantität des Stammvokals in herschaft. Das Stammwort wird durchgängig mit einem einfachen „r“ geschrieben, doch auf dieses „r“ folgt das „sch“ des Suffixes: [...] fromme der herschaft mit der zeit [...] - 13.07.1527, S.107 (8 Belege für herschaft) Das einfache Substantiv wird häufiger mit einem einfachen „r“ geschrieben [...] hat doselbigest her Czeme angeczeigt [...] - 13.01.1527, S. 184 (55 Belege für her) als mit einem doppelten „r“: [...] und herr Johan Coye burgermeyster [...] - 13.01.1527, S. 174 (14 Belege für herr) Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass vor [r] und einem anderen Konsonanten die frnhd. Dehnung auftreten konnte (vgl. Schmidt 1969: 289): mhd. art [art] frnhd. art [a: rt] mhd. vart/ fart [fart] frnhd. fa(h)rt [fa: rt] Frühneuhochdeutsche Rundung Dieser Prozess begann noch im 12./ 13. Jh. in den obd. Mundarten (Alemannisch, Bairisch), wo er auch am konsequentesten realisiert wurde (vgl. Schmidt 1969: 294 f.). Von dort verbreitete sich diese Erscheinung auf die nördlich und nordöstlich gelegenen Mundarten, wo sie aber nicht so konsequent realisiert wurde. Es wird angenommen, dass die Rundung in den md. Mundarten im 14., spätestens aber im 15. Jh., vollständig realisiert wurde. Die Schriftsprache markierte diese Erscheinung erst im 15. Jh. In den Texten aus dieser Zeit wechseln die Zeichen für gerundete und nicht gerundete Vokale unregelmäßig. Im 16. Jh. ist die Markierung der Rundung konsequent geworden. (vgl. Moser 1929: 103). Es lässt sich zwischen hochsprachlicher und mundartlicher Rundung unterscheiden. Es gab also Fälle, die nicht in die Standardsprache aufgenommen wurden. Gerundet wurden die Vokale [ ] und [i]. Das mhd [ ] wurde gerundet: nach [v] vor [l]: mhd. zwelf frnhd. Zwölf mhd. weln frnhd. wöllen/ wollen <?page no="311"?> Z UR S PRACHE VON P ROTOKOLLEN DER G ENERALLANDTAGE 301 nach [r] oder [l] vor [ ] („sch“) oder [f]/ [v]: mhd. leschen frnhd. löschen mhd. dreschen frnhd. auch dröschen/ tröschen mhd. lef(f)el frnhd. löffel mhd. lewe frnhd. löwe nach [ ] vor [f]/ [pf]: mhd. schef(f)e frnhd. schöffe mhd. schepfen frnhd. schöpfen nach [l] oder [h] vor [l]: mhd. hel(l)e frnhd. hölle mhd. lef(f)el frhnd. löffel Die Rundung des mhd. [ ] erfolgte: nach [v] vor [ ]: mhd. zwischen frnhd. zwüschen nach [v] vor Doppelnasal (seltener Nasal + Konsonant): mhd. swim(m)en/ schwim(m)en frnhd. schwümmen mhd. finf frnhd. fünf In den Mundarten kommt sie auch in anderer Distribution vor (vgl. Schmidt 1969: 295: nummer, sulbe). In denTexten der Protokolle wurden nur wenige Belege für die Rundung gefunden: die Rundung von [e] (Schreibung mit „o“): Wyr wollen auch [...] nicht bergen [...] - 13.01.1527, S. 231 (30 Belege für wollen) Aber ohne Markierung der Rundung (Schreibung mit „e“): [...]wir nicht wellen underlossen [...] - 08.05.1528, S. 456 (17 Belege für wellen) Die Rundung erfolgte auch in Nebensilben: [...] bey pffunden zu vorkouffen [...] - 13.07.1527, S. 123 (3 Belege für vorkouffen) die Rundung von [i: ] [...] hundert und newn und funfzig sthuck [...] - 08.05.1528, S. 456 [...] zwusschen Ihn und Furstl Durchl [...] - 13.01.1527, S. 210 Aber ohne Markierung der Rundung: [...] zwisschen den erssamen van Elbinge und heren [...] - 16.03.1528, S. 309 (15 Belege für zwisschen) Frühneuhochdeutsche Entrundung Diese Erscheinung trat nur in den Mundarten auf und wurde nicht in die Standardsprache aufgenommen. Die Entrundung begann in 12. Jh. im wmd. und obd. Sprachraum, später tauchte sie in den meisten hd. Mundarten auf (Ausnahmen: Hochalemannisch, Ostfränkisch und Ripuarisch vgl. Schmidt 1969: 294). Die ältesten Belege stammen aus dem Bairischen. In den omd. Mundarten lassen sich derartige Belege erst für das 16. Jh. nachweisen. Es kommt infolge dieser Erscheinung zu Unsicherheiten in der Schreibung (vgl. munster/ minster, worter/ werter, bekenntnus/ bekenntnis. Von der Entrundung zeugen einige Reime von Martin Opitz (entzückt geblickt, bilt füllt, freuden weiden). Bei ihm ist also nicht nur [y] entrundet, sondern auch der Diphthong [ y] (vgl. Schmidt 1969: 294). In den Texten der untersuchten Protokolle wurden keine sicheren Belege für die Entrundung gefunden. <?page no="312"?> S YLWIA F IRYN 302 Ausgleichserscheinungen Zu den Ausgleichserscheinungen gehören: - Abschaffung der Hebung in der ersten Person Singular Indikativ der starken Verben: mhd. gibe frnhd. gebe mhd. stirbe frnhd. sterbe - Ausgleich zwischen der dritten und ersten Person Plural Indikativ aller Verben, indem die Form der dritten Person Präsens Plural an die erste angeglichen wurde: mhd. wir helfen/ sie helfent frnhd. wir helfen/ sie helfen Im Falle von sein war es umgekehrt und beide Formen lauten sint. - Abschaffung des grammatischen Wechsels im Präteritum einiger starker Verben: mhd. er was sie wâren frnhd. er wr sie wren mhd. er kôs sie kurn frnhd. er kr wir kren quantitativer Ausgleich bezüglich des ablautenden Vokals zwischen dem Singular und Pluralpräteritum der starken Verben (meist infolge der Dehnung): mhd. er nam sie nâmen frnhd. er nm sie nmen mhd. er gap sie gâben frnhd. er gb sie gben qualitativer Ausgleich bezüglich des ablautenden Vokals zwischen dem Singular und Plural Präteritum der starken Verben der ersten, zweiten und dritten Ablautreihe: mhd. er steic sie stigen frnhd. er stîg sie stîgen mhd. er bôt sie buten frnhd. er b t sie bten mhd. er half sie hulfen frnhd. er half sie halfen mhd. er bant sie bunden frnhd. er band sie banden - Beseitigung des sog. Rückumlauts (Beginn schon im Mittelhochdeutschen) in einigen Verben und dadurch ihr Übergang in die Gruppe der regelmäßigen/ schwachen Verben: mhd. hœren hôrte/ hörte gehôret/ gehöret frnhd. hören hörte gehört mhd. setzen satzte/ setzte gesatz(e)t/ gesetz(e)t frnhd. setzen setzte gesetzt qualitativer Angleich der Präteritalformen an das Partizip bei können: mhd. kunde/ kunden gekonnt frnhd. kon(n)te/ kon(n)ten gekonnt Keinerlei Belege gibt es hingegen für die Beseitigung der Hebung in der ersten Person Singular Präsens. Das dreimal gefundene neme und das siebenmal vorkommende gebe gehören nicht hierher, denn es liegt in diesen Fällen die dritte Person Konjunktiv Präsens vor: [...] so neme men sie alleine nach der wirden und nicht hoger [...] - 13.07.1527, S. 80 [...] ader das men ihnen noch eynen abscheidt gebe - 08.05.1528, S. 437 In den Texten der Protokolle kommt die erste Person Singular kaum vor (das Personalpronomen ich nur achtmal dreimal mit dem Verb hab, zweimal mit wess, einmal mit gebiete, einmal mit sulde und einmal ohne finites Verb ich [...] gethon). Bei sein wurde die erste Person Plural hinsichtlich der Endung der dritten angeglichen, wobei zugleich die Angleichung der Stammsilbe an den Infinitivstamm erfolgte. Hier wird auch die Übernahme der konjunktivischen Formen angenommen (vgl. Schmidt 1969: 324). Es wurden keine Belege mit „i“ und „y“ (sint, synt) gefunden: Am freytage [...] seynt die awssgeschossene beyder theile personen obengenandt [...] abermols vor essens des segers 7 in eynem sunderlichen gemacht zusammene kommen [...] - 08.05. 1528, S. 413 <?page no="313"?> Z UR S PRACHE VON P ROTOKOLLEN DER G ENERALLANDTAGE 303 Am dingstage morgens seynt L. und St. sampt den geschickten der gebiethe uffem rathawsse vorsammelt gewest - 13.01.1527, S. 182 [...] wiewol wir eynes herren seynt [...] - 13.07.1527, S. 81 Am montage morgens die glocke 6 seynt wir [...] in der torner herberge vorgengich zussammenekommen [...] - 13.07.1527, S. 144 Für die mittelhochdeutsch-frühneuhochdeutsche Abschaffung des grammatischen Wechsels wurde nur ein einziger sicherer Beleg gefunden: [...] war getan [...] - 13.01.1927, S. 235 (keine Belege für was) Über den quantitativen Ausgleich im Bereich der Präteritalstämme können anhand des Textes keine sicheren Aussagen gemacht werden, da hier die Länge mit Ausnahme des aus dem mhd. [i ] entstandenen [i: ] (Schreibweise „ie“) kaum markiert wird. Das Doppelgraphem (z.B. „aa“) ist völlig unbekannt und das Dehnungs-h ist äußerst selten zu finden (gehen, nehmen vgl. oben - Dehnung). Es wurde nur ein einziger Beleg für die Verbform nahm gefunden, wo aber die Dehnung nicht markiert wird: [...] und diesser knoche nam die Gr und alte Schill [...] - 13.07.1527, S. 77 Auf Grund der zeitlichen und räumlichen Situierung des Textes (omd. Kanzleitext aus dem 16. Jh.) lässt sich annehmen, dass diese Neuerung realisiert wurde Es wurden keine Belege für den quantitativen Ausgleich des ablautenden Vokals zwischen dem Singular und Plural Präteritum der starken Verben der ersten, zweiten und dritten Ablautreihe gefunden, wozu vor allem die Tatsache beigetragen hat, dass die indikativischen Singularformen der Verben in den Texten nur vereinzelt vorkommen. Auch über die Beseitigung des sog. Rückumlauts (vgl. hangte hengte/ hängte, sazta setzte usw.) können wegen Mangels an Belegen keine schlüssigen Aussagen gemacht werden. Der Angleich des Präteritalstammvokals im Verb können an das Partizip (kunde/ konden konte/ konten) wurde noch nicht realisiert: [...] das sie sich swerlich in irkeyne stewer vorsagen kunden [...] - 13.01.1527, S. 178 (30 Belege für kunden). [...] wusten sie und kunten nicht bedencken weysse, die im lande zu behalten, dweyle [...] - 16.03.1528, S. 287 Zum Schluss ein kurzer Exkurs über die Realisierung der typischen omd. Neuerungen. Nicht gefunden wurden Belege für: die Senkung des [i: ] zu [e: ] im Dativ der Personalpronomen, wovon die durchgängige Schreibung dieser Pronomen mit „i“ zeugt: Welchen [...] ihm die Furstl Durchl zu Prewssen uberreicht hette. - 13.01.1527, S. 185 Das ihm och zugesagt wart. - 13.01.1527, S. 209 [...] an ihn, [...] - 13.01.1527, S. 184 (insgesamt über hundert Belege für ihn) die Hebung der Nebensilben [ ]/ [ ] zu [ ] (keine Belege für -in, -ir, -is). Viele Belege gibt es dagegen für die Verdumpfung von [a: ] zu [o: ]. Die Schreibungen mit „o“ sind bestimmt nicht seltener als die mit „a“. [...] eynem ersamen rat von Danczig [...] - 13.01.1527, S. 235 (drei Belege mit rat) [...] keyn and[e]rn rot - 13.01.1527, S. 236 [...] hot der herre bisschof von Ermelant [...] - 13.01.1527, S. 184 (126 Belege für hot) [...] hat der erssame her Mattis Lange [...] - 13.01.1527, S. 189 (56 Belege für hat) <?page no="314"?> S YLWIA F IRYN 304 Die Öffnung des [ ] zu [a] lässt sich als typisch bezeichnen, denn die Formen mit dem Graphem „a“, z.B. bei sollen und von, sind bestimmt nicht seltener als die mit „o“: [...] ayne gemeyne sach sal van allen vortgestalt werden [...] - 13.07.1527, S. 106 (29 Belege für sal) [...] yodoch sol men erstlich Pf. zu muntzen anfohen [...] - 08.05.1528, S. 446 (11 Belege für sol) [...] sunderlich van der landtschaft gehalten [...] - 13.01.1527, S. 173 (763 Belege für van) [...] haben die herren von Thorenn sampt den vam Elbinge und Dantzig [...] - 13.01.1527, S. 176 (186 Belege für von und 52 Belege für vam) Zusammenfassung Auf Grund der Analyse lässt sich feststellen, dass die meisten frnhd. Neuerungen realisiert wurden. So war es mit Diphthongierung und Monophthongierung, mit Dehnung und Kürzung und schließlich auch mit der Rundung. Bezüglich der Ausgleichserscheinungen können keine eindeutigen Feststellungen formuliert werden, weil die betreffenden Formen nur sporadisch oder gar nicht auftreten. Es wurden nur Belege für die Beseitigung des grammatischen Wechsels bei „sein“, für die Angleichung der ersten Person Plural von „sein“ an die dritte (seynt) und bedingt für den quantitativen Ausgleich im Präteritalstamm gefunden. Nicht realisiert wurde die Angleichung des Stammvokals der Präteritalformen von „können“ an das Partizip. Über die anderen Ausgleichserscheinungen konnten wegen der fehlenden Belege keine Aussagen formuliert werden. Literatur Drosdowski, Günther (Hrsg.) (1989). DUDEN: Etymologie, 2. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage (= DUDEN Bd. 7). Mannheim/ Wien/ Zürich: Duden Verlag. Frings, Theodor / Schieb, Gabriele (1947). Heinrich von Veldecke, Bd. 1. Halle/ Saale: Niemeyer. Grabarek, Józef (1984). Die Sprache des Schöffenbuches der Alten Stadt Toru . Rzeszów. - (1987). Zur Sprache der Thorner Stadtkanzleien im XIV. und XV. Jahrhundert. In: Große, Rudolf (Hrsg.). Zur jüngeren Geschichte der deutschen Sprache. Leipzig: Karl-Marx-Universität, 14-22. - (1989): Zur Herkunft der deutschsprachigen Bürger der Stadt Thorn im 14. und 15. Jahrhundert. In: Reiter Norbert (Hrsg.). Sprechen und Hören. Akten des 23. Linguistischen Kolloqiums, Berlin 1988, Tübingen: Niemeyer, 39-50. - (2004): Die Ostkolonisation im westslawischen und baltischen Sprachraum bis 1350. In: Bartoszewicz, Iwona / HaÌub, Marek / Jurasz, Alina. Werte und Wertungen. Sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Skizzen und Stellungnahmen. WrocÌaw: Oficyna Wydawnicza ATUT, 504-512. Mitzka, Walther (1937). Grundzüge nordostdeutscher Sprachgeschichte. Halle/ Saale: Niemeyer. Mangold, Max u.a. (1990). DUDEN: Aussprachewörterbuch, 3. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage (= Duden 6). Mannheim/ Wien/ Zürich: Duden Verlag Moser, Virgil (1929). Frühneuhochdeutsche Grammatik, I. Band: Lautlehre. Heidelberg: Winter. Ritzert, A. (1898). Die Dehnung der mhd. kurzen Stammsilbenvokale in den Volksmundarten auf Grund der vorhandenen Dialektliteratur. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 23, 131-222. Schirmunski, Viktor Maximowitsch (1962). Deutsche Mundartkunde. Berlin: Akademie Verlag. Schmidt, Wilhelm (Hrsg.) (1969). Geschichte der deutschen Sprache. Berlin: Erich Schmidt (2007. 10. verbesserte und erweiterte Auflage, erarbeitet unter Leitung von Helmut Langner und Norbert Richard Wolf. Stuttgart: Hirzel). Wrede, Ferdinand (1895). Die Entstehung der neuhochdeutschen Diphthonge. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 39, 257-301. <?page no="315"?> Eine etwas andere Sprachgeschichte - über mediale Diglossie bis zu den neuen Medien Elin Fredsted Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der nördlichsten Grenzregion Deutschlands sind Thema dieses Aufsatzes. In der Werbung für die Region Schleswig wird oft der Begriff „das Fünfsprachenland“ verwendet. Unklar bleibt allerdings, wie die Zahl fünf entsteht, ob hiermit mündliche oder schriftliche Varietäten gemeint sind und um welche Epoche(n) es sich handelt. Deshalb folgt zunächst eine etwas vereinfachte Übersicht über die Sprachen der Region, wobei es wichtig ist, zwischen den mündlichen Volkssprachen und den schriftsprachlich normierten Kultursprachen (der Kirche, der Schulen und der Verwaltung) zu unterscheiden. 1 Sprachhistorischer Überblick Spätestens seit dem Mittelalter ist Schleswig eine Überganszone zwischen dem europäischen Kontinent und Skandinavien und gleichzeitig eine Sprachkontaktzone zwischen den nordgermanischen Sprachen im Norden, dem westgermanischen Friesischen im Westen und Varietäten des Deutschen im Süden. Die Volkssprachen in Schleswig waren Niederdeutsch im Süden, Friesisch im Westen und Sønderjysk im Norden. Nehmen wir die Stadt Flensburg (genau in der Mitte des alten Herzogtums gelegen) als Beispiel. Hier herrschte über Jahrhunderte überwiegend eine mediale Diglossie, in der die dominierende Schriftsprache und Volkssprachen nur in Übergangsphasen übereinstimmten. Im Zeitraum ca. 1200 bis ca. 2000 sind in Flensburg folgende Sprachvarietäten vertreten: Sønderjysk Latein (dominierend); Mittelalterdänisch mit dialektalen Zügen (14. Jahrhundert) Niederdeutsche Umgangssprache Hochdeutsch Mittelniederdeutsch (ab ca. 1400) Hochdeutsch (ab Mitte des 16. Jahrhunderts, später die dominierende Schriftsprache) Dänische Hochsprache sowie ‚Sydslesvig-dansk’ als mündliche Varietät der dänischen Minderheit Dänische Hochsprache (1851- 1864, ab 1920 Schriftsprache der dänischen Minderheit) Vermutlich bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war Sønderjysk die dominierende Umgangssprache in Flensburg. Die ersten schriftlichen Quellen sind jedoch in lateinischer Sprache abgefasst. Dies gilt auch für das Flensburger Stadtrecht aus dem Jahre 1284, das <?page no="316"?> E LIN F REDSTED 306 jedoch schon vor 1300 in ein jütisch geprägtes Dänisch übersetzt wurde, damit es einmal im Jahr den Bürgern vorgelesen werden konnte. Darüber hinaus existieren aus dem Mittelalter noch zwei sehr bekannte dänischsprachige Flensburger Handschriften, nämlich die Zunftschragen der „Knudsgilde“ und eine Abschrift der „Jyske Lov“ (Landschaftsgesetz für Jütland). Als eine Konsequenz der dominierenden Rolle der Hanse im ganzen Ostseeraum und als Folge der allgemeinen Entwicklung des Handels wechselt die dominierende Schriftsprache zum Mittelniederdeutschen. Ab ca. 1400 ist dann Niederdeutsch die dominierende Brief- und Urkundensprache im ganzen Herzogtum Schleswig (Schütt 1919/ 1985, Schütt 1921, Skautrup 1947). Otto Schütt bezeichnet jedoch die mündliche Sprachsituation in Flensburg um 1400 als „doppelsprachiges Volkstum“ mit Sønderjysk und Niederdeutsch (Schütt 1921: 64). Zwischen 1431 und 1492 wird das Flensburger Stadtrecht mindestens zweimal ins Niederdeutsche übersetzt, auch die Zunftschragen des 15. Jahrhunderts werden auf Niederdeutsch geschrieben. Von der Sprache der offiziellen Dokumente auf die Umgangssprache schließen zu wollen, wäre allerdings verfehlt. So schreibt Schütt über die Sprachverhältnisse im 14.-15. Jahrhundert: „(…) eine unüberbrückbare Kluft trennt noch die alte dän.-jütische, vom Niederdeutschen bereits stark bedrängte Vulgärsprache von der Sprache der Behörden.“ (Schütt 1919/ 1985: 10). Wenn wir Zeitzeugen glauben wollen, so war die gesprochene Sprache in Flensburg auch noch im 16. Jahrhundert kein „reines“ Niederdeutsch, sondern ein Niederdeutsch, in dem strukturelle und lexikalische Relikte von Sønderjysk noch vorhanden waren. Oft zitiert ist die Äußerung des dänischen Humanisten und Reformators Christiern Pedersen von 1531. Er warnt vor Bibelübersetzungen aus Flensburg mit der Begründung: “thi man taler der Danske och tydske till hobe“ [denn in Flensburg dort redet man Dänisch und Deutsch zusammen]; d.h. man würde ein Gemisch aus Deutsch und Dänisch sprechen (Skautrup 1947: 162). Auch schreibt der Naturwissenschaftler Ole Borch aus Ribe im Jahr 1675: “Nostri Flensburgenses inter Danicam & Germanicam lingvam ambicunt, neutri propemodum similes, qvia utriqve. Qvod & ad omnia Nationum diversarum confinia solenne.” (In: Pontoppidan 1745/ 1943: 34). Nach der Reformation wurde das Herzogtum Schleswig kirchensprachlich geteilt. Das Bistum Schleswig, das die südlichen und östlichen Regionen umfasste, hatte niederdeutsche Kirchensprache; das Bistum Ribe (das die nördliche Westküste umfasst), das Bistum Odense (das für die Insel Alsen zuständig war) sowie das Kollegiatskapitel Haderslev (für den nordöstlichen Teil zuständig) erhielten dänische Kirchensprache. In einem Aufsatz von 1987 über „Die Bedeutung der niederdeutschen Kultursprache im geschichtlichen Prozeß, der zur Verdeutschung Südschleswigs führte“ macht Gregersen die interessante Beobachtung, dass die Kirchensprachgrenze nach der Reformation fast mit der heutigen Landesgrenze und der heutigen Grenze zwischen den Kultursprachen zusammenfällt (Gregersen 1987: 119). Diese Beobachtung ist äußerst wichtig, da die Schulsprache sich später nach der Kirchensprache richtete, die somit für die Literarisierung, die Religiosität und die Schriftkultur der Bevölkerung maßgeblich wurde. Ab 1523 wurde Schleswig zusammen mit dem rein deutschsprachigen Holstein von der Deutschen Kanzlei verwaltet, und dies geschah anfänglich in niederdeutscher Sprache. Exemplarisch kann hier wieder die sprachliche Entwicklung der Stadt Flensburg herangezogen werden: Für Flensburg selber ist die enge Verbindung zur Deutschen Kanzlei in Kopenhagen von großer Bedeutung. Die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen geht seit etwa 1540 im Schriftverkehr mit Flensburg zum Hochdeutschen über und nach 1560 hat sich <?page no="317"?> E INE ETWAS ANDERE S PRACHGESCHICHTE 307 das Hochdeutsche in der Kanzlei in Flensburg eingebürgert. So wird auch die Gerichtssprache recht bald Hochdeutsch: Laut Schütt (1919/ 1985) sind die Gerichtsprotokolle in Flensburg ab 1585 überwiegend auf Hochdeutsch geschrieben. Hochdeutsch verdrängte allmählich im Laufe des 17. Jahrhunderts Niederdeutsch als Schriftsprache, und wir finden ab diesem Zeitpunkt auch in Flensburg eine für die Region und die Zeit typische mediale Diglossie mit Niederdeutsch als Sprechsprache und Hochdeutsch als Schriftsprache vor. Das geschriebene und gesprochene Hochdeutsch erlangte jedoch allmählich den Status einer allgemeinen Bildungssprache: Ab 1630 wurde Hochdeutsch die Sprache des Buchdrucks, ab 1638 waren die Schulbücher der Gelehrtenschule in Flensburg auf Hochdeutsch, 1680 wurde Hochdeutsch Kirchensprache in Flensburg und somit wahrscheinlich zunehmend auch Umgangssprache des Bildungsbürgertums. Aus einem Bericht aus dem Jahr 1728 (Skautrup 1953: 118) geht hervor, dass die Schulsprache im Herzogtum Schleswig Deutsch war, und zwar bis zu einer Linie, die ungefähr mit der jetzigen Grenze zwischen Deutschland und Dänemark, also mit der kirchensprachlichen Trennung nach der Reformation übereinstimmt. Im Jahre 1814 bekamen das Königreich Dänemark und das Herzogtum Schleswig ein Schulgesetz, das auch die sprachlichen Verhältnisse regeln sollte. Nach diesem Schulgesetz war Unterrichtssprache in den vier Gymnasien (Latein- oder Klosterschulen in Haderslev, Flensburg, Schleswig und Husum) Deutsch. In den 10 sog. Bürgerschulen war Unterrichtssprache in 7 Fällen Deutsch, in 3 Fällen Dänisch. Deutsch war Unterrichtssprache der Dorfschulen in den Gebieten, in denen es schon deutschsprachige Schulen gab, und Dänisch in den Gebieten, in denen schon auf Dänisch unterrichtet worden war. Das Schulgesetz vom Jahr 1814 nahm also keine Rücksicht auf die Volkssprachen, sondern orientierte sich lediglich an den vorhandenen Sprachverhältnissen in den Kirchen und Schulen, denn Schul- und Kirchensprache waren in fast allen Fällen identisch. So wie die Schulsprache im größten Teil Schleswigs Deutsch war, so war auch die Rechtssprache in der Region ab Mitte des 17. Jahrhunderts überwiegend Hochdeutsch. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts übernimmt in ganz Schleswig die hochdeutsche Sprache die Oberhand, insbesondere nach einer Verordnung aus dem Jahr 1740, nach der ausschließlich examinierte Juristen Rechtsanwalttätigkeiten ausüben durften. Dies waren hauptsächlich Juristen, die an der Universität in Kiel Examen gemacht hatten. Aber auch die kulturellen Zentren der Region waren hochdeutsch geprägt. Hierzu zählt z.B. die Christian-Albrecht-Universität zu Kiel in Holstein (1665 gegründet), die bis 1998 die einzige Universität der Region Schleswig-Holstein und Sønderjylland war. Die oberen Schichten der Region orientierten sich überwiegend an dem deutschsprachigen Kulturleben: Der holsteinische Adel hatte im Laufe des Mittelalters den südjütischen Adel im Herzogtum Schleswig verdrängt, sprach überwiegend Hochdeutsch und war mit der deutschen Kultur sehr vertraut. Ein Beispiel hierfür ist Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, der in den Jahren 1791-95 Mäzen Friedrich Schillers war. Als der Nationalstaatsgedanke und der Nationalismus im frühen 19. Jahrhundert immer mehr Einfluss gewannen, musste das Herzogtum Schleswig zwangsläufig zu einem Streitpunkt werden, weil sich hier mehrere Sprachen und Kulturen begegneten. Im Laufe der 1840er Jahre gewann der Nationalstaatsgedanke so viel Einfluss, dass er für die sprachliche Situation im Herzogtum Schleswig unmittelbar Konsequenzen hatte. Die Idee der Einheit von Volk, Nation, Staat und Sprache kam zunächst von außerhalb und stieß am Anfang nicht unbedingt auf breites Verständnis. Aber der erste Aufstand gegen die Bestrebungen der Kopenhagener Regierung, die Gesamtstaatsverfassung auf <?page no="318"?> E LIN F REDSTED 308 Schleswig auszudehnen, fand 1848 mit der schleswig-holsteinischen Erhebung statt, die dann unmittelbar zu dem ersten schleswigschen Krieg (18480-50) führte. Die Begebenheiten um diesen ersten ‚nationalen’ Bürgerkrieg in der Region widerspiegeln ganz klar, dass Sprache UND Nationalität ab jetzt verbunden waren - sowohl von dänischer als auch von deutscher Seite. Das Nationale - und damit auch die Frage der Sprache - war ab 1848 der übergeordnete Gesichtspunkt, von der aus alles andere beurteilt wurde. So wenig wie man eine Teilung Schleswigs nach Sprache und Nationalität zu dem Zeitpunkt akzeptieren wollte, so wenig wollten die nationalen Kräfte in Dänemark die Existenz einer regionalen Eigenart und Kultur in Schleswig akzeptieren. Es wurde auf beiden Seiten im Namen des Nationalismus ungeheuerlich vereinfacht, Sprachdaten gefälscht oder mindesten manipuliert (siehe hierzu u.a. Bjerrum 1956). Der erste Schleswigsche Krieg endete mit dem status quo ante (Londoner Vertrag 1852). Nach dem Krieg meinten die nationalen Kreise in Kopenhagen, dass die dänische Sprache - und zwar die dänische Hochsprache - nun auf ganz Schleswig ausgebreitet werden sollte, um 1) einen vermeintlichen Sprachwechsel von Dänisch (in Wirklichkeit Sønderjysk) auf Deutsch zu vermeiden, und 2) loyale dänische Bürger im ganzen Herzogtum Schleswig durch eine sprachliche Umerziehung hervorzubringen. Nach dem militärischen Sieg im Krieg 1850 sollte also auch eine nationale Eroberung stattfinden, und das wichtigste Element in dieser Politik war die Sprache. Im Jahr 1851 wurden dann sogenannte Sprachreskripte (Spracherlasse) eingeführt, die Dänisch als Unterrichts- und Kirchensprache in 58 Gemeinden im mittelschleswigschen Bereich vorschrieb. Die Unterrichtssprache in den Schulen sollte die dänische Hochsprache sein, in den Kirchen konnte wechselweise auf Deutsch und Dänisch gepredigt werden. Gerichtsverhandlungen sollten in der Sprache stattfinden, die von den betroffenen Personen bevorzugt wurden. Der Gedankengang hinter diesen Sprachreskripten war, dass man von einer Eins-zu-eins Übereinstimmung zwischen Sprache und nationaler Gesinnung ausging: Wenn die Bevölkerung erst Dänisch sprechen und denken würde, würde sie auch anfangen, sich dänisch zu fühlen. Ein gut dokumentiertes Beispiel, wie die nationalistischen Ideen der Einheit zwischen Sprache, Nation und Volk und den daraus hervorgegangenen Sprachregelungen in der Stadt Flensburg empfangen wurden, ist der Streit über die Unterrichtssprache an der Flensburger Gelehrtenschule, wo die dänische Hochsprache 1851 als gleichberechtigte Unterrichtssprache neben Deutsch eingeführt werden sollte (Søndergaard 1984). Per Erlass wurde vorgeschrieben, dass die Gymnasien, d.h. die Latein- und Gelehrtenschulen des Herzogtums, sprachlich neu organisiert werden sollten. An Haderslev Katedralskole im Norden war dänische Unterrichtssprache vorgesehen, an der Schleswiger Domschule nur Deutsch als Unterrichtssprache, während die Flensburger Gelehrtenschule im Unterricht die beiden Sprachen als Schulsprachen gleichberechtigt behandeln sollte. Zielsetzung des bilingualen Unterrichts war, dass die Absolventen später die Möglichkeit haben sollten, entweder an der Universität in Kiel oder in Kopenhagen zu studieren. Abgesehen davon muss es als pädagogisches Experiment gewertet werden, im Jahre 1851 ein bilinguales Curriculum zusammenzustellen. Aber das bilinguale Curriculum der Flensburger Gelehrtenschule löste in der Ratsversammlung der Stadt sowohl Verwunderung als Protest aus: Erstens war die essentialistische Auffassung des Nationalismus über eine Übereinstimmung zwischen „Muttersprache” und ”Vaterland” noch nicht Allgemeingut in der traditionell mehrsprachigen Region. Zweitens waren im 19. Jahrhundert die Volkssprachen Sønderjysk, Niederdeutsch und Friesisch die Sprachen, mit denen sich die Menschen identifi- <?page no="319"?> E INE ETWAS ANDERE S PRACHGESCHICHTE 309 zierten. Die dänische Hochsprache war den Menschen fremd, aber Sønderjysk war - und ist es noch immer - eine Sprache, die nicht national markiert ist. Hier wird es dann spätestens klar, warum die Spracherlasse aus Kopenhagen ohne Bezug zur Realität waren: Die Sprachverhältnisse in der Region waren wesentlich komplizierter, als man sich in Kopenhagen vorstellen konnte. Der Bruch des Londoner Vertrages von 1852 durch den dänischen König führte 1864 zu einem neuen Krieg, dem sog. Zweiten Schleswigschen Krieg, in dem das Königreich Dänemark eine eklatante Niederlage durch Preußen und Österreich erlitt. Ab 1867 kam die ganze Region unter preußische Verwaltung. Verwaltungs-, Kirche- und Schulsprache war in den Jahren 1867 bis 1920 Hochdeutsch. Nach einer Volksabstimmung, die im Versailler Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg gefordert wurde, wurde 1920 das alte Herzogtum Schleswig geteilt: der südliche Teil wurde Deutsch, der nördliche Dänisch. Hierdurch entstanden nördlich und südlich der Grenze zwei nationale Minderheiten. Die Volkssprachen Niederdeutsch, Sønderjysk und Friesisch kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts alle drei kräftig unter Druck, nachdem die Region nach nationalstaatlichen Prinzipien aufgeteilt worden war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit dem Entstehen der nationalen Ideologien zu Beginn des 19. Jahrhunderts der zuvor national nicht aufgeladenen Koexistenz der Sprachen in der Region ein Ende gesetzt wurde. Die sprachlichen Verhältnisse im Herzogtum Schleswig bzw. im heutigen Nord- und Südschleswig entwickelten sich in drei Phasen: nämlich von einer sprachlichen Koexistenz über den nationalistischen Sprachenkampf hin zu einer Rückkehr zur Koexistenz der Sprachen (vgl. Søndergård 1997: 1773) - allerdings auf Kosten der Volkssprachen. Die Ergebnisse der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Schleswig können in den folgenden Thesen zusammengefasst werden: 1. Es gibt in Schleswig vor 1920 eine Vielzahl von mündlichen Varietäten, die mehr oder weniger durch Sprachkontaktphänomene gekennzeichnet sind. 2. Bezogen auf die Unterscheidung nach Koch und Oesterreicher zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit medial und konzeptionell (Koch und Oesterreicher 1994) gibt es eine zusätzliche Dimension, nämlich die mediale Diglossie zwischen den mündlichen Varietäten und den kultursprachlichen, schriftlichen Varietäten. Die mündlichen Varietäten sind jedoch nur spärlich überliefert, beispielsweise in den Komödien der sog. ‚Petuhtanten’, in Tagebüchern und privaten Briefen (vgl. Fredsted 2003b, 2004). 3. Es gab nie eine Eins-zu-eins-Übereinstimmung hinsichtlich der Umgangssprachen zwischen Sprache und Nationalität und selten eine Übereinstimmung zwischen den mündlichen Varietäten und der / den Schriftsprache(n). Die 1920 entstandene Grenze spiegelt dagegen die Grenze der Kultursprachen wider und folgt fast genau der alten Grenze zwischen deutscher und dänischer Kirchensprache nach der Reformation. Die Übereinstimmung zwischen Nationalität und Sprache bildet sich allmählich bei der Mehrheitsbevölkerung heraus, gilt aber heute immer noch nicht für die beiden nationalen Minderheiten, da die überwiegende Familiensprache der dänischen Minderheit Hochdeutsch, die der deutschen Minderheit in Dänemark immer noch Sønderjysk ist. 4. Wegen der immer stärkeren Überdachungsfunktion der beiden Hochsprachen nach 1920 gibt es eine deutliche Tendenz hin zum Monolingualismus in der Mehrheitsbevölkerung nördlich und südlich der Grenze. In den letzten Dezennien haben sich die beiden Hochsprachen Hochdeutsch und Standard Dänisch auf Kosten der Volkssprachen immer stärker durchgesetzt, sodass bei der Mehrsprachigkeit in der Region (und bei- <?page no="320"?> E LIN F REDSTED 310 spielsweise auch in der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Euroregion Sönderjylland-Schleswig) praktisch nur Hochdeutsch und Standard Dänisch als ‚richtige’ Sprachen wahrgenommen und nur die beiden Hochsprachen als vollgültige Sprachen angesehen werden. Folglich werden auch nur diese Varietäten in den Schulsystemen der beiden Länder als ‚richtige’ Sprachen behandelt und als Unterrichtsmedium verwendet. 5. Obwohl die regionalen, ‚historischen’ Volkssprachen bedroht sind, gibt es heute noch eine Vielzahl von Kontaktvarietäten im mündlichen Bereich, besonders bei den Bilingualen der beiden Minderheiten. Aber auch die neuen Medien sind in den letzten Jahren ein ‚Spielplatz’ für schriftliche Kontaktvarietäten geworden. Dies ist eine neue Entwicklung, die sowohl hinsichtlich der konzeptionellen Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wie auch hinsichtlich der medialen Diglossie zu neuen Überlegungen Anlass gibt. In den folgenden beiden Abschnitten werde ich die Thesen 4 und 5 behandeln. 2 Wie eine Volkssprache ausstirbt Hier möchte ich zwei Untersuchungen vorstellen, die einen relativ präzisen Eindruck davon vermitteln, wie die Entwicklung der Sprachverhältnisse über die letzten Jahrzehnte in der Region verlaufen ist. Es handelt sich um die kleine Stadt und Gemeinde Achtrup in Mittelschleswig (Kreis Nordfriesland), unmittelbar südlich der deutsch-dänischen Grenze. Anfang der 1970er Jahre hat Søren Ryge Petersen eine Examensarbeit an der Universität Aarhus in Dänemark verfasst, in der er darstellt, wer in Achtrup um 1973 welche Sprache benutzt: Es sind die Sprachen Niederdeutsch, Hochdeutsch, Sønderjysk, Friesisch und Dänisch vertreten. Nichtsdestoweniger trägt seine Untersuchung den etwas irreführenden Titel: „Dänisch oder Deutsch? “ Im Jahr 2006 hat Uwe Nissen, damals Studierender der Universität Flensburg, in seiner Examensarbeit diese Untersuchung wiederholt. Die Ergebnisse sind nicht unerwartet, aber es ist trotzdem beeindruckend, die sprachliche Entwicklung in genauen Zahlen ablesen zu können. Die generelle Tendenz ist keineswegs überraschend: Sønderjysk, aber auch Niederdeutsch sind sehr stark rückläufig. Die Situation hat sich im Laufe der dazwischen liegenden 33 Jahre dahingehend verändert, dass die Volkssprachen Niederdeutsch und Sønderjysk wesentlich weniger gesprochen werden als vorher. Besonders wenn man die Altersgruppe unter 30 Jahre ins Auge fasst, ist der Rückgang gravierend. Hochdeutsch mit ca. 100 % und Friesisch mit geringer Prozentzahl haben sich im Verhältnis zu 1973 kaum verändert. Die Zahl der Sprecher der dänischen Hochsprache hat zugenommen, u.a. weil die Schulen der dänischen Minderheit (wie auch im Jahr 1973) auf Dänisch unterrichten, aber auch weil die deutschen Schulen in der Gegend angefangen haben, Dänisch als Fremdsprache in der Sek. I und II anzubieten. Dies führt insgesamt zu einer Zunahme der Zahl der Dänischsprechenden. Friesisch wird weiterhin nur von wenigen Personen gesprochen, die aus anderen Gemeinden hinzugezogen sind. Markante Unterschiede gibt es bei den Zahlen der beiden Volkssprachen Sønderjysk und Niederdeutsch. Im Jahr 1973 geben 62% der Bevölkerung an, Niederdeutsch fließend zu sprechen. Im Jahr 2006 ist diese Gruppe auf 28,5% zusammengeschmolzen. Wenn man dann noch die Altersgruppe 0 - 30 Jahre aus der Statistik herausfiltert, bleiben nur noch 3,7%, die angeben, Niederdeutsch zu sprechen, und dies obwohl es in den (deutschen) <?page no="321"?> E INE ETWAS ANDERE S PRACHGESCHICHTE 311 Schulen Bestrebungen gegeben hat, das Niederdeutsche in den Deutschunterricht zu integrieren. Eine ähnliche dramatische Entwicklung finden wir für Sønderjysk: 1973 gaben 23,5% an, Sønderjysk fließend zu sprechen. Im Jahr 2006 ging diese Zahl auf 7,5% zurück. In der Altersgruppe 0-30 sind es ebenfalls nur 3,7% der Bevölkerung, die angeben, Sønderjysk fließend zu sprechen. Dagegen sind die beiden Hochsprachen die Gewinner. Viele, besonders jüngere Menschen, sprechen heutzutage nur die Standardartvarietäten. Die Dänischsprechenden sind aber durchweg bilingual mit beiden Hochsprachen. Markant zurückgegangen sind Niederdeutsch und Sønderjysk, wobei Sønderjysk jedoch durch Einwanderung von den benachbarten nördlichen Gemeinden nördlich der Grenze eine gewisse Verstärkung erlebt hat. Die hochdeutsche Sprache liegt unverändert bei 100 %; die dänische Hochsprache hat aber auch deutlich zugelegt (von knapp 10 auf fast 20%), was man als Erfolg des Schulsystems der dänischen Minderheit und der Einführung von Dänisch als Fremdsprache in den deutschen Schulen der Region bewerten kann. Es sind somit die beiden Sprachen, die in den beiden Schulsystemen (im deutschen Schulsystem und in den dänischen Minderheitenschulen) vertreten sind, die sich halten, während die Volkssprachen zurückgehen. Wenn der Titel von Ryge Petersens Untersuchung im Jahre 1973 leicht irreführend war, so würde er eher mit den heutigen Verhältnissen übereinstimmen. Wie ist es dazu gekommen? Für Sønderjysk liegt die Erklärung auf der Hand: Niemand hat sich darum gekümmert. Auch unter den Lehrkräften der dänischen Schulträger gilt Sønderjysk allgemein als Substandardvarietät. Die Lehrkräfte der dänischen Minderheitenschulen (zum größten Teil aus Dänemark kommend) haben kein oder wenig Interesse für den örtlichen Dialekt gezeigt, u.a. wohl weil dieser nicht national eindeutig ‚markiert’ ist (siehe oben). Aus den eigenen Reihen der dänischen Minderheit gibt es heute nur noch wenige, die Sønderjysk sprechen (schätzungsweise weniger als 50 Personen südlich der Grenze). Der deutsche Schulträger in Nordschleswig (DK) hat traditionell eine andere Politik gehabt, nämlich die Lehrkräfte aus der Region - vorzugsweise aus den eigenen Reihen - zu rekrutieren. Dies hat dazu geführt, dass die meisten Lehrkräfte immer noch Sønderjysk beherrschen und diese Sprache auch in der Schule als Umgangssprache akzeptieren. Deshalb ist die etwas paradoxe Situation entstanden, dass die deutsche Minderheit in Nordschleswig aktiv ein Stück dänischer Kulturgeschichte bewahrt, nämlich die Sprache Sønderjysk, während die dänische Mehrheitsbevölkerung nördlich der Grenze und die dänische Minderheit in Südschleswig dabei sind, mehr oder weniger achtlos eine regionale Volkssprache wegzuwerfen. 3 Neue Kontaktvarietäten - mündlich und schriftlich Der Sprachgebrauch innerhalb der dänischen Minderheit südlich der Grenze ist von Sprachkontaktphänomenen geprägt. Das von vielen Angehörigen der dänischen Minderheit gesprochene Dänisch ist keine Standardvarietät, sondern das sogenannte ‚sydslesvigdansk / Südschleswigdänisch’ (SüD). SüD ist eine nicht-dialektale Varietät des Dänischen, die - trotz individueller Unterschiede - Züge einer Kontaktsprache von Deutsch und Dänisch aufweist. Voraussetzung für den Gebrauch des Südschleswigdänischen ist die Bilingualität der Minderheitsangehörigen, durch die es nicht zu Verständigungsschwierigkeiten kommt. In der Ausprägung und der Verwendung von SüD gibt es individuelle Un- <?page no="322"?> E LIN F REDSTED 312 terschiede: Während das SüD einiger Minderheitsangehöriger in hohem Maß Züge einer Kontaktsprache von Deutsch und Dänisch aufweist, ist es bei anderen eine vom Deutschen zwar beeinflusste, aber dem Standarddänischen sehr nahe Varietät, die sich lediglich in der Phonologie und Prosodie sowie gewissen Lehnübertragungen aus dem Deutschen unterscheidet. Die Unterschiede zwischen dem Standarddänischen und SüD treten deutlich in der Aussprache (besonders Prosodie) und in der Semantik zu Tage, hier vor allem in ad hoc-Lehnübertragungen aus dem Deutschen, die anstelle vorhandener dänischer Begriffen oder Phrasen verwendet werden. Charakteristisch ist auch eine Übertragung semantischer Felder der deutschen Lemmata auf die entsprechenden dänischen Lemmata (semantische Konvergenzen). Außerdem sind codeswitching mit lexikalischen Einheiten aus dem Deutschen sowie Transfer von morpho-syntaktischen Strukturen aus dem Deutschen charakteristisch (morpho-syntaktische Konvergenzen) (vgl. Fredsted 2008a, Fredsted 2008b). Während es bei den historischen mündlichen Varietäten in der Natur der Sache liegt, dass nur sporadisch schriftlich überlieferte Zeugnisse dieser Varietäten zu finden sind (wenn überhaupt), so verhält es sich heute anders. Zwar werden die Schüler und Schülerinnen der Minderheitenschulen angehalten, die dänische wie die deutsche Schriftsprache in formalen Zusammenhängen korrekt zu beherrschen und zu verwenden. Ganz anders sieht es aber aus, wenn sie sich im Internet frei entfalten. So haben wir (unterstützt durch die DFG) 2009 damit angefangen, die schriftlichen und mündlichen Varietäten der Minderheitenjugendlichen zu untersuchen. Hier ein Beispiel aus Facebook mit intensivem codeswitching (Dänisch und Englisch in kursiv und die Übersetzungen in eckigen Klammern): L.: Habe als talsperson [Sprecher] fuer mein Schwimmhold [-mannschaft] bei USG voluntiert [sich freiwillig melden] und habe da Dienstag Abend ein moede [Treffen]...dicken knus [ich drücke dich] A.: go weekend [Schönes Wochenende] alte keule und held&lykke [viel Glück] beim aufgabe schreiben. go for it! Erste Tendenzen haben sich schon gezeigt: Hoch frequent sind hörbare/ sichtbare Sprachkontaktphänomene wie codeswitching mündlich in den Gruppengesprächen unter den mehrsprachigen Jugendlichen sowie schriftlich in der Internetkommunikation (siehe oben). Hier geht es um codeswitching as an unmarked choice (Myers-Scotton 1993). In Interviewdaten mit den Projektmitarbeitern sowie in den schriftlichen Arbeiten (Hausarbeiten oder Klausuren) oder bei ‚offiziellen’ Ansagen auf der Pinwand dominieren dagegen verdeckte Sprachkontaktphänomene (Konvergenzen), die vom Sprecher bzw. Schreiber nicht intendiert sind. Im folgenden Beispiel strebt der Schreiber (13. Jahrgang des dän. Gymnasiums) an, in einem monolingualen Modus zu schreiben, was ihm allerdings in dieser Einladung nicht ganz gelingt (Konvergenzen in kursiv): Selvom priserne til drikkevarerne vil være reduceret, starter vi først klokken 22, så de fleste allerede kan drikke sig fuld et andet sted. I kan også tage drikkervarerne med og gemme dem et eller andet sted før indgangen, så I altid kan gå ud for at få noget drikke, hvis I nu ikke har lyst til at betale for drikkevarer. [Obwohl die Preise für die Getränke reduziert sein werden, fangen wir erst um 22 Uhr an, damit sich die meisten woanders betrinken können. Ihr könnt die Getränke auch mitnehmen und sie irgendwo vor dem Eingang verstecken, damit ihr immer nach draußen gehen und etwas zu Trinken bekommen könnt, wenn ihr jetzt keine Lust habt, für die Getränke zu bezahlen.] <?page no="323"?> E INE ETWAS ANDERE S PRACHGESCHICHTE 313 Die nicht-intendierten Sprachkontaktphänomene betreffen hier vor allem die Verbalkonstruktion (vil være reduceret) und Präpositionen (til, før), die aus dem Deutschen übernommen worden sind. So hat beispielsweise før auf Dänisch eine rein zeitliche und keine räumliche Bedeutung. Durch Aufnahmen mit digitalen Audiorecordern sowie durch chat im Internet und SMS haben wir in der Gegenwart zum ersten Mal eine Situation, die sowohl die konzeptionellen, medialen wie auch die medial diglossischen Verhältnisse widerspiegelt. Dies gibt uns in der heutigen Zeit erstmals optimale Möglichkeiten, das Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit unter mehrsprachigen Bedingungen zu untersuchen. 4 Epilog Als Konsequenz aus diesen Überlegungen könnte man folgendes Gedankenexperiment anstellen: Wenn die oben beschriebene medial diglossische Situation bez. Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf andere Regionen übertragbar sein sollte, wenn es mit anderen Worten praktisch unmöglich wäre, von der geschriebenen Sprachvarietät auf die mündliche zu schließen (und umgekehrt! ), müssten dann nicht einige Kapitel der Sprachgeschichte(n) neu geschrieben werden? Anmerkung: Das aktuelle Forschungsprojekt: ‚Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit’ wird von der DFG finanziert. Literatur Bjerrum, Anders (1956): De danske sprogprøver hos C.F. Allen. In: Festskrift til Peter Skautrup. Århus, 297-309. 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Jahrhundert Ein Beitrag zur Entwicklung des Namenrechts ∗ Alwin Hanschmidt 1 Ein namenrechtliches Problem Familiennamen waren durch Jahrhunderte nicht nur hinsichtlich der Schreibung veränderlich, sondern auch bezüglich der verbindlichen Geltung für ihre Träger. In Westfalen, aber auch in anderen Gebieten Nordwestdeutschlands war es üblich, dass bei Hofstätten mit gesichertem Erbrecht der Name der Stätte Vorrang vor dem Familiennamen hatte. Jemand, der auf einen Hof einheiratete, führte seitdem den Namen des Hofes und nicht seinen mitgebrachten ursprünglichen Familiennamen. Das galt insbesondere für einheiratende Männer, so dass wegen der Jahrhunderte dauernden Kontinuität der Hofesnamen der falsche Anschein entstehen konnte, die auf dem Hof sitzende Familie habe sich ununterbrochen im Mannesstamme fortgepflanzt. Die sonst herrschende patrilineare, an den Vaternamen gebundene Namenspraxis galt hier nicht. War dies ein namenrechtlich-administratives Problem bei der ländlichen Ober- und Mittelschicht der Hofbesitzer, so gab es bei der Unterschicht der grundbesitzlosen Heuerlinge die Praxis, dass sie häufig keine Familiennamen führten, sondern sich nach den Höfen nannten, auf denen sie lebten. 2 Maßnahmen zur Festsetzung und Verstetigung der Familiennamen 2.1 Im Königreich Westphalen In der Grafschaft Rietberg wurde der erste Versuch, unveränderliche Familiennamen für alle Einwohner verbindlich zu machen, zur Zeit des Königreichs Westphalen (1807-1813; Hauptstadt Kassel; König Jérôme Bonaparte) unternommen, dem sie bei dessen Gründung einverleibt worden war. Die Grafschaft wurde dem Fulda-Departement und dessen Unterpräfektur Paderborn zugeordnet. An der oberen Ems gelegen, umfasste sie um 1800 ein Gebiet von ca. 215 qkm, in dem 1818 gut 13.000 Einwohner lebten. Sie war in die gleichnamige Stadt und zwölf Bauerschaften eingeteilt, die zu fünf Kirchspielen (Pfarreien) gehörten. Dem Anschluss an das Königreich Westphalen folgte eine Verwaltungsreform nach französischem Muster: Die Bauerschaften wurden zu Communen (Gemeinden) mit einem Maire (Bürgermeister) an der Spitze erhoben und in zwei Cantonen zusammengefasst. Zum südwestlichen Canton Rietberg gehörten die Stadt und Bokel, Druffel, Mastholte, Moese, Österwiehe, Westerwiehe und der Kirchort Neu-Kaunitz, der nach den Gra- ∗ Die Wahl dieses Gegenstandes für meinen Beitrag zur Festschrift für Wilfried Kürschner hat ihren Grund darin, dass wir in den Sommersemestern 2001 und 2005 gemeinsam ein Seminar zur Namenkunde gehalten haben, in dem er den sprachwissenschaftlichen, ich den kultur- und sozialhistorischen Teil übernommen hatte. - Für den Zugang zu den archivischen und gedruckten Quellen und für nützliche Auskünfte habe ich Annette Huss (Stadtarchiv Verl), Manfred Beine (Stadtarchiv Rietberg) und Dr. Günter Brüning (Kreisarchiv Gütersloh) zu danken. Dabei ist besonders zu erwähnen, dass Frau Huss mir die von ihr transkribierten Listen der Gemeinden Bornholte, Liemke, Neuenkirchen, Sende, Varensell und Verl von 1820 zur Verfügung gestellt hat. <?page no="326"?> A LWIN H ANSCHMIDT 316 fen von Kaunitz-Rietberg als den Landesherren benannt war. Zu dem nordöstlichen Canton Neuenkirchen zählten dieses und Bornholte, Liemke, Sende, Varensell und Verl. In dem Dekret König Jérômes vom 14. Juli 1810, „die unveränderlichen Familien-Namen, in den Gegenden, wo einzelne Einwohner keine solche führten, oder wo es Gebrauch war, sie willkührlich zu verändern, betreffend“, wurden zwei Praktiken der Namensführung angesprochen, die später in der entsprechenden preußischen Verordnung von 1819 fast wörtlich aufgegriffen wurden. 1 Erstens ging es um den „Gebrauch“, „den Namen des Colonats oder des Guts, dessen Besitzer man geworden ist, anzunehmen, und so den Familien-Namen zu verändern oder den frühern Namen“ mit demjenigen der Hofstätte zu verbinden. Zweitens ging es um Personen, die „keinen eigenen Familien-Namen haben, sondern den Namen des Hofbesitzers oder Bauern, bei welchem sie wohnen, annehmen, und bei Veränderung der Wohnung auch ihren Namen verändern“. Daraus entstehe eine „Verwirrung“, „welche sowohl für die gedachten Individuen selbst und ihre Familien, als für die, welche mit ihnen Geschäfte gemacht haben, nachtheilige Folgen hat“. Bei der zweiten Gruppe handelte es sich um die besitzlose ländliche Unterschicht der Heuerlinge. Diese lebten zur Miete (Heuer) in Nebengebäuden auf den Höfen oder in Heuerhäusern und mussten für ihre Unterkunft und manchmal auch kleine landwirtschaftliche Fläche, die ihnen vom Hofbesitzer zur Verfügung gestellt wurde, Arbeitsleistung (Handdienste) erbringen. Sie lebten nicht selten in elendesten Verhältnissen. Diese Schicht war in Nordwestdeutschland seit dem 16. Jahrhundert entstanden, als nicht mehr genug Fläche an Ackerland und Marken (Gemeinheit) zur Verfügung stand, um für die wachsende nicht erbende Bevölkerung eigene landwirtschaftliche Kleinstellen zu schaffen, wie es bei der ebenfalls unterbäuerlichen Schicht der Kötter noch möglich gewesen war. Die Kotten, von denen die meisten älteren wohl schon im 13. und 14. Jahrhundert entstanden waren, verfügten in der Regel über eine für den Unterhalt der Familie hinreichende landwirtschaftliche Fläche und besaßen das Recht, die gemeinen Marken zu nutzen. Um der „Verwirrung“ abzuhelfen, wurde verordnet, dass ohne Erlaubnis der Regierung kein Untertan „seinen Namen oder Vornamen ändern, noch seinem Familien-Namen einen Zunamen beifügen“ darf; sollte dazu die Erlaubnis erteilt werden, müsse dies „am Rande der Geburtsurkunde des Individuums“ vermerkt werden (Art. 1). Wer bisher „keinen eigenen und unveränderlichen Familien-Namen“ hatte, musste einen solchen annehmen und ihn binnen drei Monaten nach Bekanntmachung dieses Dekrets bei der Mairie seines Wohnsitzes in ein Register einschreiben lassen. Bei der Namenswahl konnten die betroffenen Personen „weder die Namen von Gemeinden, Dörfern oder Bauerschaften, noch solche, welche bekannten Familien zugehören, annehmen“ (Art. 2). In der gleichen Frist mussten diejenigen, die „ihre Familien-Namen aufgegeben haben, um den ihres Colonats oder des Gutes, dessen Eigenthümer sie geworden sind, anzunehmen“, erklären, ob sie ihren ursprünglichen oder den angenommenen Namen behalten wollten. Auch diese endgültige Namenswahl musste unter Angabe des Geburtsortes in einem Register festgehalten werden (Art. 3). Der Maire sollte diesen Vorgang durch eine Bescheinigung beurkunden, wofür die Gebühr („Stempelkosten“) 50 Centimes nicht übersteigen sollte (Art. 4). Die Maires mussten „das Duplum dieser Bescheinigungen“ den zuständigen „Beamten des Personenstandes zusenden“, die den „eigenen und unveränderlichen Familien-Namen“ nebst Geburtsort am Rande der Geburtsurkunden der gedachten 1 Gesetz-Bülletin des Königreichs Westphalen 2, 1810, 341-347. <?page no="327"?> D IE F ESTSETZUNG UNVERÄNDERLICHER F AMILIENNAMEN 317 Individuen und ihrer Kinder eintragen“ mussten (Art. 5). Künftig durften die Personenstandsbeamten keinerlei Urkunden ausstellen, in denen die erklärte und festgeschriebene Namenswahl nicht ausdrücklich erwähnt war (Art. 6). Wer innerhalb der gesetzten Frist noch keine Erklärung abgegeben hatte, sollte durch den Maire aufgefordert werden, „sich auf der Stelle einen Familien-Namen zu wählen“ (Art. 7). Schließlich richtete sich ein ausdrückliches Verbot an „die Gerichtsboten, die Notarien, die Hypotheken-Aufseher, die Beamten des Personenstandes und andere öffentliche Beamte“, in Urkunden oder Registern Personen nur „durch bloße Vornamen zu bezeichnen, ohne deren unterscheidenden Familiennamen beizufügen“ (Art 8). Der Vollzug dieser Bestimmungen wird in den Cantonen Rietberg und Neuenkirchen Ende 1812 greifbar. Mit Schreiben vom 21. Dezember 1812 forderte die Unterpräfektur Paderborn „den Herrn Canton Maire zu Rittberg“ auf, binnen 14 Tagen zu berichten, wie in seinem Canton „den Verfügungen des eben erwähnten Dekrets bis jetzt nachgekommen ist“. 2 Denn entgegen diesen Bestimmungen gebe es in dem Canton „noch immer viele Einwohner, welche keinen eigenen Namen haben, sondern denselben, wenn sie Heuerlinge sind, nach dem Namen des Colonats, bei welchem sie wohnen, annehmen, und bei Aenderung dieses auch ihren Namen verändern.“ Am 30. Januar 1813 antwortete der Rietberger Cantonsmaire, dass er alle Einwohner, „welche bis hiehin noch keinen unveränderlichen Familien-Namen führten, zu der Annahme eines solchen aufgefordert“ habe, „und haben dieselben auch schon einen eigenen Familien Namen angenommen“. Er werde „für jedes dieser Individuen das vorschriftsmäßige Certificat“ darüber ausstellen. Leider ist das Verzeichnis der Namen, das der Maire in seinem Bericht erwähnt, nicht überliefert, so dass Anzahl und Identität der von der behördlich angeordneten Namenswahl betroffenen Personen nicht bekannt sind. Das ist bedauerlich, weil so ein Vergleich mit dem in den Kirchenbüchern (Taufe, Heirat, Tod) zur Verfügung stehenden Namenmaterial, der für die Familienforschung ersprießlich wäre, nicht möglich ist. Das gilt auch für den Canton Neuenkirchen, dessen Maire am 31. Januar 1813 meldete, dass die erforderlichen Arbeiten binnen acht Tagen „vollendet“ sein würden. 3 Gefruchtet hatte die französisch-westphälische „Namenpolitik“ schon vor dem Dekret von 1810 insofern, als ab 1809 in den Kirchenbüchern auch bei den Heuerlingen die Familiennamen von Mann und Frau eingetragen wurden. Ein Beispiel aus dem Taufbuch der Pfarrei Kaunitz, wo am 11. Juli 1809 als Eltern eines Kindes genannt sind: „Joannes Pollmüller (43 J.) et Elisab: nata Erdbories (38 J.) inquilini [Heuerlinge] bei Ölgeschläger in Liemke“. Insgesamt scheint die von der französisch-westphälischen Regierung angeordnete Wahl unveränderlicher Familiennamen aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt zu haben. 2.2 Im Königreich Preußen Durch den Wiener Kongress (1815) wurde die Grafschaft Rietberg in das Königreich Preußen einverleibt und darin Teil der Provinz Westfalen, des Regierungsbezirks Minden und des Kreises Wiedenbrück. Dabei blieb die Binnengliederung in die beiden Kantone erhalten. Die Frage des festen Familiennamens wurde 1817 wieder aufgegriffen. 2 Stadtarchiv Rietberg B 222. Gilt auch für die folgenden zitierten Schriftstücke, falls nicht anders angegeben. 3 Stadtarchiv Verl A 1. <?page no="328"?> A LWIN H ANSCHMIDT 318 2.2.1 Die Erfassung von 1817 Am 4. April 1817 forderte der Landrat des Kreises Wiedenbrück den Rietberger Kantonsbeamten auf, darüber zu berichten, was in der Angelegenheit der Namenswahl inzwischen geschehen sei. Denn: Es gehört offenbar unter die großen vor und nach abzustellenden Mißbräuche, daß die Heuerlinge der Grafschaft Rietberg sich nach dem Colonen, bei dem sie wohnen, nennen, und ihre eigentlichen Familien-Namen darüber ganz verdunkelt werden. Am 4. August 1817 berichtete der Kantonsbeamte dem Landrat zunächst, warum die „schon zur Zeit der westph[älischen] Verfassung“ angeordnete feste Namenswahl nicht verwirklicht worden sei: Die herannahende Staatsumwälzung und die hiermit verbundenen anderweitigen dringenderen Geschäfte ließen diese Maaßregel in Stocken gerathen, und trat die Nothwendigkeit ein, einen ruhigeren Zeitpunckt abzuwarten. Als Grundlage für „die Einführung von bestimmten Familien-Namen bey der nicht geringen Anzahl von Heuerlingen hiesigen Bezircks“ schlug er vor, „daß in jeder Gemeinde ein genauer Etat der vorhandenen Heuerlinge aufgenommen würde“, um so eine möglichst lückenlose Feststellung bzw. Zuweisung der Namen zu erreichen. Diesem Vorschlag folgend, wies der Landrat den Kantonsbeamten am 18. August 1817 an, von den Heuerlingen seines Verwaltungsbezirks, „Witwer, Witwen und einzelne Personen nicht ausgenommen“, ein Verzeichnis mit den von diesen geführten Namen anzulegen. Es sollte auch die Angabe enthalten, ob der Heuerling verheiratet oder unverheiratet sei, und gegebenenfalls Anzahl und Alter sämtlicher noch lebender Kinder. Der Landrat mahnte die Kantonsbeamten, „auf alle mögliche Art dahin zu wirken, daß auch kein einziger Heuerling übergangen werde“. Die angeforderten Verzeichnisse hatten die Ortsbeamten der einzelnen Gemeinden binnen 14 Tagen anzulegen. Dabei sollte ein Schema befolgt werden, dem der Kantonsbeamte außer den vom Landrat vorgeschriebenen Erfassungskategorien noch „deren Stand oder Gewerbe“ und ihr Alter hinzugefügt hatte. Von dieser Erhebung des Jahres 1817 sind die Verzeichnisse der Gemeinden Bokel (39 Namen), Druffel (34), Moese (9), Österwiehe (104) und Westerwiehe (83) überliefert. In der Spalte „Gegenwärtiger Namen der Einlieger“ - „Einlieger“ oder „Beilieger“ war die in der Grafschaft Rietberg übliche Bezeichnung der Heuerlinge - finden sich in Bokel, Druffel und Westerwiehe nur Vornamen mit Angabe des Hofes, auf dem der Einlieger lebte. Als Beispiele seien genannt: „Moritz bey Bökamp“ (Bokel), „Otto bey Meyer zur Hardt“ (Druffel), „Anna Catharina bey Meyer to Pickert“ (Westerwiehe). In Moese sind alle mit Vor- und Familienname nebst Hof bezeichnet; Beispiel: „Hermann Brüggenties bey Horstdaniel“. In Österwiehe führen die meisten Einlieger eigene Familiennamen (Beispiel: „Wilhelm Hußman“), die kleinere Anzahl Vornamen mit Hofesnamen (Beispiel: „Christina bey Niedieker“). 2.2.2 Die Erfassung von 1819/ 1820 Nach der Einsendung dieser Listen ruhte die Angelegenheit wieder etwa zwei Jahre, bis eine gemeinsame Verordnung der Regierung zu Minden und des Oberlandesgerichts in Paderborn vom 31. März / 14. April 1819, in der man sich auf eine Königliche Verordnung vom 30. Oktober 1816 bezog, einen neuen Anstoß gab. 4 In dieser Berliner Verord- 4 Amtsblatt Minden 1816, S. 216; 1819, S. 187-188. <?page no="329"?> D IE F ESTSETZUNG UNVERÄNDERLICHER F AMILIENNAMEN 319 nung hieß es: „Niemand soll, bei Vermeidung einer Geldstrafe von Fünf bis Funfzig Thalern, oder eines verhältnismäßigen Arrestes, sich eines ihm nicht zukommenden Namens bedienen“ (§ 1). Dieses Strafmaß wurde durch eine Königliche Kabinettsorder vom 15. April 1822 noch verschärft, in der es hieß: „daß bei Vermeidung einer Geldbuße von Funfzig Thalern, oder vierwöchentlicher Gefängnißstrafe, Niemandem gestattet seyn soll, ohne unmittelbare landesherrliche Erlaubniß seinen Familien- oder Geschlechtsnamen zu ändern“, auch wenn dabei „durchaus keine unlautere Absicht“ zugrunde liege. 5 In der Mindener Verordnung von 1819 wurde festgelegt: „Die bäuerlichen Einwohner des Regierungs-Bezirks dürfen ihre angestammten Geschlechts- und Familien-Namen unter keinem Vorwande willkührlich aufgeben.“ (§ 1). Zugleich wurde aber zugestanden: Der bisher bestandene Gebrauch, daß der neue Besitzer eines durch Heirath oder sonst erworbenen Colonats den ursprünglichen Namen des letztern annimmt, soll zwar auch in Zukunft fortbestehen: aber es soll der neue Besitzer den Colonats-Namen nur m i t und zwar nach seinem eigenen angestammten Geschlechts-Namen zu führen berechtigt sein. (§ 2). Die Heuerlinge sollten durchaus nicht mehr, wie solches hin und wieder bisher geschehen, bloß mit Tauf-Namen und hinzugefügten Namen ihrer Wirthe sich nennen; sondern mit ihren Tauf- und angestammten Geschlechts-Namen, bloß mit Hinzufügung der Nummer des Colonats, auf welchem sie eben zur Heuer wohnen (§ 3). Die neuen Vorschriften der Namensführung bei Bauern und Heuerlingen sollten allerdings nicht dem „mündlichen Verkehr des gemeinen Lebens einen ungewohnten Zwang“ auferlegen; wohl aber sollten sie „zur unabänderlichen Richtschnur dienen“, wenn es um die Angabe von und die Unterzeichnung mit Namen in öffentlichen und privatrechtlichen Angelegenheiten ging (§ 4). „… für strenge Controlle der genausten Befolgung“ dieser Bestimmungen wurden die Landräte an der Spitze der Kreise, die „Cantons- und Ortsbeamte, Prediger, Königl. Land- und Stadt-Gerichte, Gutsherrliche Patrimonial-Gerichte und Notarien“ verantwortlich gemacht (§ 4). Unter Bezug auf diese Verordnung forderte der Landrat den Rietberger Kantonsbeamten am 18. November 1819 auf, die schon einmal „verlangten Verzeichnisse der Heuerlinge nunmehr Gemeindeweise aufzustellen, und einzusenden“. Die Listen sollten folgende Rubriken enthalten: 1. Laufende Nummer. 2. Taufnahmen. 3. Jetzige Hausnahmen. 4. eigentlicher Geburts- oder Geschlechts-Namen. 5. Namen unter dem die Eintragung ins Copulations-Register erfolgt ist. 6. Summarisches Alter. 7. Benennung und Nro des Colonats, worauf der Heuerling jetzt wohnt. 8. Bemerkungen. Zu Rubrik 4 erläuterte der Landrat, es werde am besten sein, „den bei der Trauung angegebenen Namen einzuführen“, falls „der Geburts-Name nicht auszumitteln“ oder nur von dem Colonat „entlehnt“ sei, worauf der Heuerling geboren wurde. Sollte aber der im Traubuch vorfindliche Name nur von dem Hof entlehnt sein, so bleibe „nichts übrig, als in der Rubrik Bemerkungen einen neuen Namen in Vorschlag zu bringen“. Für die Frage, „welche Individuen in die Verzeichnisse einzutragen“ seien, verwies er auf seine Verfügung vom 18. August 1817. Die durch diese Erhebung „dermalen festzustellenden Geschlechts-Namen“ sollten ab dem 1. Januar 1820 „in allen Listen und Verhandlungen, insbesondere in den Recrutirungs-Listen gebraucht werden“. Bei der erstmaligen Anwendung dieser Vorschrift sollten allerdings „zur Erleichterung der Controlle und Verhütung von 5 Amtsblatt Minden 1822, S. 108. <?page no="330"?> A LWIN H ANSCHMIDT 320 Misgriffen“ bei denjenigen, die in früheren Verzeichnissen „unter ihrem bisherigen andern Namen vorgekommen sind“, diese alten Namen „unter Beifügung des Wörtchens sonst ebenfalls eingetragen werden“. Wie der Kantonsbeamte den Ortsbeamten am 10. Januar 1820 schrieb, mussten alle Heuerlinge, ob Familienväter oder Witwen, „welche keinen bestimmten Familien-Namen führen“, sondern sich „noch NN. bey Pieper schreiben laßen“, zur Erfassung persönlich nach Rietberg - bzw. für den Kanton Neuenkirchen nach dort - kommen. Außer den Heuerlingen hatten auch Kötter, auf die das zutraf, sich am Kantonsort einzufinden. Unter dem 21. Januar 1820 ließ der Rietberger Kantonsbeamte dem Landrat die Verzeichnisse für die Gemeinden Bokel (53 Namen), Druffel (38), Mastholte (9), Moese (99) Österwiehe (92) und Westerwiehe (94) zugehen. Außer diesen Verzeichnissen sind auch diejenigen für die Gemeinden Bornholte (210), Liemke (135), Neuenkirchen (158), Sende (147), Varensell (150) und Verl (171) des Kantons Neuenkirchen erhalten. 6 Aus Platzgründen können die Verzeichnisse hier nicht zur Gänze, sondern nur sporadisch ausgewertet werden. In Bokel stimmten die neben die Vornamen mit Hofesnamen („bey“) gesetzten Familiennamen und die im Trauregister eingetragenen Namen in der Regel überein. In drei Fällen gab es noch keinen Familiennamen, wobei der krasseste Fall hier genannt sei: „Henrich bey Ahnhorst“; Familienname „nicht vorhanden“; im Trauregister eingetragen unter „Henr[ich] bey Henr[ich] Calefeld“, der ein Halbspänner in der Gemeinde Druffel war; „will von jetzt an den Namen Henr. Brinkschnieder führen“. In Druffel brauchten nur zwei neue Namen festgesetzt zu werden, in Mastholte und Moese keiner; in Österwiehe dagegen waren es 10, in Westerwiehe 12, in Varensell 16, in Liemke 5 und in Verl einer. 7 In Neuenkirchen waren neue Familiennamen anscheinend nicht erforderlich, weil man sich bei Festlegungen durchweg nach dem Heiratsregister richtete. So wurde aus dem Inhaber der Hofstelle „Schröder im Rosenthal vulgo Schlingschröder“ endgültig Schlingschröder. 8 Exemplarisch sei der Blick auf Bornholte geworfen, aus dem die umfangreichste Aufstellung mit 210 Namen stammte. 9 Bei 40 Personen, also knapp 20%, trat zum Familiennamen „bey“ mit dem Namen des Hofes, auf dem sie lebten, hinzu, wobei neun nur mit ihrem Vornamen genannt waren. Nicht selten kam es vor, dass der hinzugefügte „bey“- Name sich nicht auf den Hof bezog, auf dem die Heuerlinge zum Zeitpunkt der Erhebung wohnten, sondern auf einen anderen Hof, auf dem sie anscheinend vorher gelebt hatten. Dieser lag manchmal in Nachbargemeinden. Ein Beispiel: „Christoffel Große Katthöfer bey Telgenbröker“ (Sende), jetzt „bey Krieling“ (Bornholte). Es war also - zumindest gelegentlich - üblich, den ursprünglichen „bey“-Namen bei einem Wechsel der Heuerstelle mitzunehmen. Alle „bey“-Namen, soweit sie als Bestandteil des Familiennamens und nicht nur zur Bezeichnung der gegenwärtigen Wohnstätte dienten, mussten auf Weisung des Landrats getilgt werden. Wenn Witwen ihren Geburtsnamen angegeben hatten, wurden sie auf den Familiennamen ihres Mannes verpflichtet. In Fällen, wo Angaben von Familiennamen fehlten oder zweifelhaft waren, ließ der Landrat die Pfarrer in den Kirchenbüchern nachforschen, ehe er eine Entscheidung über den unveränderlichen Namen traf. Der Verwaltungsvorgang wurde dadurch abgeschlos- 6 Stadtarchiv Verl A 1. 7 Flaskamp (1968), S. 220. 8 Stadtarchiv Verl A 1. 9 Ebda. <?page no="331"?> D IE F ESTSETZUNG UNVERÄNDERLICHER F AMILIENNAMEN 321 sen, dass den Betroffenen von der Kantonsverwaltung ein gedrucktes Formular ausgehändigt wurde, das folgenden Wortlaut hatte: Inhaber dieses, … Jahr alt, mit Taufnamen … heißend, welcher bisher keinen festen Familien-Namen geführt, wird von jetzt an unverändert sich … nennen. Derselbe wird daher, bei Vermeidung der auf Annahme eines falschen Namens in den Gesetzen bestimmten Strafe angewiesen, bei allen ihn betreffenden Verhandlungen, sowol vor den geistlichen als weltlichen Behörden, sich nur jenes Namens und keines andren, zu bedienen, auch zu dem Ende bei allen solchen Verhandlungen gegenwärtigen Schein vorzuzeigen. 2.2.3 Die Überprüfung von 1828/ 1831 Mit diesem Verwaltungsakt war das Problem der Veränderung von Familiennamen im Alltagsleben allerdings keineswegs beseitigt, wie eine Verordnung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen vom 22. Februar 1828 zeigt. 10 Einleitend heißt es darin: In vielen Landestheilen der Provinz Westphalen ist es herkömmlich, daß die Personen mit den Gütern, in deren erblichen, auch nur zeitpachtlichen Besitz sie gelangen, ihre Familien-Namen verändern; oft werden die letzern auch durch aus zufälligen Umständen hergeleitete, nachher bleibende Spitznamen verdrängt, häufig beide Namen zusammen geführt oder zusammen verbunden, die Personen bald nach dem einen, bald nach dem andern genannt, und in die Kirchenbücher, auch in andere öffentliche Register willkührlich wechselnd eingetragen. Es entstehen hieraus bedeutende Uebelstände, Verwechselungen und Verwirrungen, und in deren Folge besonders für das Privat-Interesse, bei der Unmöglichkeit, den Beweis einer Abstammung oder Verwandtschaft aus dem Kirchenbuche zu führen, wesentliche unheilbare Nachtheile. Um diesen Übelständen vorzubeugen, wurde verordnet, dass die Bürgermeister „in den von ihnen geführten Personenstands-, Bürger-, Einwohner-, Stamm-, Steuer- und sonstigen Listen und Rollen“ und die Pfarrer bei der Eintragung von Taufen, Trauungen und Sterbefällen in die Kirchenbücher nur „die genau zu erforschenden Geschlechts- (Familien-) Namen … als die wirklichen, unveränderlich bleibenden Namen aufzunehmen“ haben. Dabei sei im Zweifelsfalle der im Trauungsregister eingetragene Name des Vaters maßgebend. Es sei aber auch anzumerken, „welche sonstige Namen die gegenwärtigen Familienväter nach ihren Tauf- und Trau-Scheinen, im gemeinen Leben oder nach eigenen Angaben führen“; dabei sei jedoch „der Hofes-Name“ den Familiennamen stets nachzusetzen, „z.B. Friedrich Wilhelm Hobbeling, genannt Osterhof“. Ferner sei auf eine gleich bleibende Schreibung der Namen zu achten. Das gelte auch für Zusätze zu den Familiennamen (z.B. „Klein-, Mittel-, Große-Wichtrup“), für unzulässiges Übersetzen plattdeutscher Namen ins Hochdeutsche und für ebenfalls unzulässige Abkürzungen von Namen (z.B. „Laum statt Lohmann, Vuosm statt Vorstmann, Fark statt Farwick“). Gab es in einer Gemeinde oder Pfarrei mehrere Höfe gleichen Namens, so musste mit dem Namen auch die Bauerschaft eingetragen werden, in welcher der Hof lag. Die Nichtbeachtung dieser Vorschriften wurde ab dem 1. Januar 1829 mit einer Strafe von 1 bis 5 Thaler bedroht. Unter Bezugnahme auf diese Verordnung und diejenige vom 14. April 1819 forderte der Wiedenbrücker Landrat unter dem 15. Juni 1831 von den Kantonsbeamten erneut einen Bericht darüber, ob insbesondere die 1820 „erfolgte Festsetzung der Familien Namen der Heuerlinge und Kötter“ beachtet werde. Nach Befragung der Ortsbeamten berichtete der Rietberger Kantonsbeamte am 5. Juli 1831, „daß die Kötter und Heuerlinge im hiesigen Kanton überall diejenigen Familiennamen führen und beibehalten“, die sie ursprünglich 10 Amtsblatt Minden 1828, S. 101-103. <?page no="332"?> A LWIN H ANSCHMIDT 322 gehabt oder 1820 unveränderlich angenommen hätten. Es werde „fortwährend darauf gehalten“, dass keine „unbestimmte“ Familiennamen geführt würden. Der Bericht des Neuenkirchener Kantonsbeamten stimmte mit demjenigen seines Rietberger Kollegen inhaltlich überein. 11 3 Fazit Die Praxis der Namensführung dürfte fortan in den allermeisten Fällen den Vorschriften entsprochen haben. Die eine oder andere Ausnahme wird es trotzdem noch gegeben haben. Das legt jedenfalls die Antwort nahe, die der Österwieher Ortsbeamte J. H. Stroop dem Rietberger Kantonsbeamten am 24. Juni 1831 gab. Auf dessen Aufforderung vom 19. Juni 1831, diejenigen Heuerlinge namhaft zu machen, die noch keinen festen Familiennamen verwendeten, erwiderte er, „das ich das nicht kan, Sie haben früher hie alle Einen bestimten Vamilligen nahmen annehmen müßen, ob sie dem nun immer folgen, kann ich ohnmochlich nicht wißen“. Sollte aber jemand denselben nicht führen, werde er „selben zur anzeige bringen“. Abweichungen von der Vorschrift hat es allerdings im alltagssprachlichen Umgang weiterhin gegeben. Denn noch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus wurden Personen von bestimmten Hof-, Kott- oder Heuerstellen im umgangssprachlichen Plattdeutsch nach diesen benannt. Das geschah nicht zuletzt, um Familien gleichen Namens voneinander zu unterscheiden. So wurde z.B. in Liemke eine der dort mehrfach vorkommenden Familien mit dem Namen Balsliemke als „Pollhänsken“ bezeichnet. In amtlichen Dokumenten hatte sich die Unterscheidung zwischen Familiennamen und Wohnstättennamen jedoch spätestens in den 1830er Jahren endgültig durchgesetzt, nachdem sie weithin schon Jahrzehnte übliche Praxis gewesen war. Quellen und Literatur 1. Archivische Quellen Stadtarchiv Rietberg B 222. Stadtarchiv Verl A 1. Pfarrarchiv Kaunitz (Stadt Verl) Kirchenbücher 2. Gedruckte Quellen Gesetz-Bülletin des Königreichs Westphalen 2, 1810. Amts-Blatt der Königlich Preußischen Regierung zu Minden 1816, 1819, 1822, 1828. 3. Literatur Berding, Helmut (2008): Imperiale Herrschaft, politische Reform und gesellschaftlicher Wandel. In: Museumslandschaft Hessen Kassel, Michael Eisenhauer (Hrsg.): König Lustik! ? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München: Hirmer, 107-112. Diederichsen, Uwe (1996): Namensrecht, Namenspolitik. In: Eichler, Ernst u.a. (Hrsg.): Namenforschung, 2. Teilband, Berlin: de Gruyter, 1762-1780. 11 Stadtarchiv Verl A 1. <?page no="333"?> D IE F ESTSETZUNG UNVERÄNDERLICHER F AMILIENNAMEN 323 Flaskamp, Franz (1968): Alte und neue ländliche Hausnamen im Kreise Wiedenbrück. In: Siedlungskundliche Entwicklung. Die Gemeinden Bokel und Druffel (Monographie des Landkreises Wiedenbrück), Gütersloh: Mohndruck, 210-220. Grenzen - Grundstücke - Gemeinden (1968) (Monographie des Landkreises Wiedenbrück), Gütersloh: Mohndruck. Hanschmidt, Alwin (1996): Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg als Landesherr der Grafschaft Rietberg. In: Klingenstein, Grete, Szabo, Franz A.J. (Hrsg.): Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711-1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung, Graz: Andreas Schnider Verlagsatelier, 416-440. Hanschmidt, Alwin (im Druck): Jost aufr Kaupheide - Ottovordemgentschenfelde - Rodenbeckenschnieder. Familiennamen in der Grafschaft Rietberg um 1800. In: Heimatjahrbuch Kreis Gütersloh 2011. Kohlheim, Rosa (1996): Entstehung und geschichtliche Entwicklung der Familiennamen in Deutschland. In: Eichler, Ernst u.a. (Hrsg.): Namenforschung, 2. Teilband, Berlin: de Gruyter, 1280-1284. Schütte, Leopold (2007): Wörter und Sachen aus Westfalen 800 bis 1800, Münster: Selbstverlag des Staatsarchivs Münster. Taubken, Hans (2009). Johannimloh - Paulfeuerborn - Ottovordemgentschenfelde. Zu einem Familiennamentypus im Rietberger Land. In: Niederdeutsches Wort. Beiträge zur niederdeutschen Philologie 49, 241-256. <?page no="335"?> Latinitas rediviva Cäcilia Klaus 1 Problemstellung: lebende vs. tote Sprache „Unser Kind soll Französisch lernen. Diese Sprache kann man gebrauchen, denn sie wird heute noch gesprochen. Mit Latein dagegen kann man nichts anfangen, nicht einmal zum Studieren benötigt man es. Keiner spricht es heute mehr, Latein ist eine tote Sprache.“ So oder ähnlich lauten die Argumente zahlreicher Eltern von Gymnasiasten, die sich für eine dieser beiden Sprachen entscheiden müssen und dann Französisch wählen, weil es - wie sie meinen, im Gegensatz zum Lateinischen - eine „lebende“ Sprache ist. Greifen wir ihre Begründungen auf und fragen: Ist Latein tatsächlich eine tote Sprache? In seinem Buch „Language death“ diskutiert Crystal die schwierige Frage, wie viele Sprecher nötig sind, um den Fortbestand einer Sprache zu garantieren. Damit zusammenhängend erhebt sich auch die Frage, ab wann eine Sprache tot ist, oder - anders formuliert - wie lange eine Sprache als lebendig bezeichnet werden kann bzw. darf. Lebt sie, solange noch eine Person sie sprechen kann, oder müssen zumindest noch zwei Menschen über aktive Kompetenz verfügen? Sprache ist ein Kommunikationsmittel. Kommunikation ist bekanntlich so definiert, dass Sender und Empfänger vorhanden sein müssen, die mittels eines gemeinsamen Codes - in unserem Fall die betreffende Sprache - wechselseitig Nachrichten übermitteln und entgegennehmen. Ist aber nur noch eine Person in der Lage, die jeweilige Sprache zu sprechen, kann keine Kommunikation mehr stattfinden, denn es existiert ja keine Wechselseitigkeit, da ein Empfänger fehlt. Die Folge: Die Sprache ist tot. Crystal erklärt dazu: A language is said to be dead when no one speaks it any more. It may continue to have existence in a recorded form, of course - traditionally in writing, more recently as part of a sound or video archive (and it does in a sense ‘live on’ in this way) - but unless it has fluent speakers one would not talk of it as a ‘living language’. And as speakers cannot demonstrate their fluency if they have no one to talk to, a language is effectively dead when there is only one speaker left, with no member of the younger generation interested in learning it. (Crystal 2000: 11) An diese Ausführungen möchte ich anknüpfen und einige Punkte im Hinblick auf das Lateinische näher diskutieren. Dazu soll als erstes die Entwicklung der lateinischen Sprache in einem kurzen historischen Abriss dargestellt werden. 2 Kurzer historischer Abriss über die Entwicklung der lateinischen Sprache Denkt man an die Weise, in der uns Latein heute begegnet, so fallen einem zunächst nur geschriebene Texte ein. Sie entstammen größtenteils einem Zeitraum, der von der Antike bis ins Mittelalter reicht und Sprachstufen wie Altlatein, vorklassisches und klassisches Latein, Spätlatein, Mittellatein und Neulatein umfasst. Betrachtet man den Stellenwert, den Latein im Laufe der Geschichte innehatte, so lässt sich zusammenfassend feststellen, dass ein Stadtdialekt, die sogenannte „Lingua latina“, mit der Ausdehnung des Imperium Romanum zu einer Weltsprache aufstieg, die fast in der gesamten antiken Welt, also in weiten Teilen Europas und auch in nördlichen Bereichen Afrikas und in westlichen Berei- <?page no="336"?> C ÄCILIA K LAUS 326 chen Asiens, als Kommunikationsmittel diente. Latein war damit etwa das, was heute das Englische ist: eine Koine, eine Lingua franca, die zur Kommunikation administrativer und anderer Zwecke gebraucht wurde und überall mit nur geringen Modifikationen und Konzessionen an den allgemeinen Gebrauch der Personen, die lesen und schreiben konnten, niedergeschrieben wurde (Palmer 1990: 199). Wegen der unterschiedlichen Kulturen und Sprachen der von den Römern unterworfenen Völker gliederte sich Latein seinerseits im Laufe der Zeit in Dialekte, deren Vokabular sich jeweils den regionalen Situationen und Bedürfnissen anpasste. Aus ihnen erwuchsen nach und nach die romanischen Sprachen. Nach Kramer sprechen „cum grano salis die Verkäuferin in Paris, der Angestellte in Lissabon, die Lehrerin in Bukarest und der Kaplan in Rom die lokale Ausformung der lateinischen Umgangssprache zwei Jahrtausende nach Cicero“ (1997: 152); diese Aussage ist - wie er ja selbst einschränkend bemerkt - nicht ganz wörtlich zu nehmen, völlig abwegig ist sie jedoch auch nicht. Das Lateinische, und zwar nicht, wie bei Kramer, in seiner Ausprägung als Umgangssprache, sondern im Sinne einer etwa dem klassischen Latein entsprechenden Standardsprache, musste den romanischen Sprachen trotz Bewegungen, die sich für die Bewahrung der überkommenen Sprachregeln einsetzten, z.B. der sogenannten karolingischen Renaissance, zu Beginn des 10. Jh. weichen. Dieser Prozess setzte sich auch später fort. Kramer fasst zusammen: Vom 16. Jahrhundert an verdrängen die erstarkenden Nationalsprachen das Lateinische nach und nach aus allen wichtigen Positionen, zuerst aus der Literatur (16. Jh.), dann aus der Politik (17. Jh.), schließlich aus den Naturwissenschaften (18. Jh.) und zuletzt aus den Geisteswissenschaften (19. Jh.); das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) markiert im wesentlichen den Endpunkt der Verwendung im Katholizismus, nachdem die protestantischen Kirchen von Anfang an die Volkssprachen favorisiert hatten. (Kramer 1997: 155) Kramers Aussage, dass das Zweite Vaticanum den Endpunkt der Verwendung des Lateinischen im Katholizismus markiert, ist nur zum Teil richtig: Zwar ist der Gebrauch des Lateinischen in den Landeskirchen zugunsten der jeweiligen Landessprache stark zurückgedrängt worden, jedoch ist Latein immer noch die Amtssprache der katholischen Kirche, in der alle wichtigen, die Gesamtkirche betreffenden Dokumente verfasst werden. 1 Spätestens an diesem Punkt ist zu überprüfen, ob die von Crystal genannten Kriterien für eine tote Sprache - weniger als zwei Personen beherrschen die Sprache und auch niemand aus der jüngeren Generation hat Interesse, die Sprache zu erlernen - für das Lateinische gelten. 3 Latein heute Um es vorwegzunehmen: Beide Kriterien Crystals scheinen auf das Lateinische nicht zuzutreffen; denn noch immer gibt es Personen, die diese Sprache fließend schreiben und sprechen können, und noch immer entscheiden sich Schüler - teilweise sicher auch auf Anraten ihrer Eltern - für das Fach Latein anstelle von Französisch oder einer anderen Fremdsprache, was darauf schließen lässt, dass Interesse an dieser Sprache vorhanden ist. Im Folgenden soll kurz auf die Entwicklung der Schülerzahlen im Fach Latein und das 1 Außerdem ist hier auf eine weitere Besonderheit aufmerksam zu machen: Im Vatikan befindet sich ein Geldautomat - der weltweit einzige -, bei dem die Angaben auf dem Bildschirm in lateinischer Sprache verfasst sind. <?page no="337"?> L ATINITAS REDIVIVA 327 sich darin dokumentierende Ansehen dieser Sprache eingegangen werden, zum anderen sollen weitere Bereiche dargestellt werden, in denen die lateinische Sprache gepflegt wird. 3.1 Latein in der Schule Jarecki spricht im „Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologen-Verbandes“ davon, „dass nach wie vor über 30 % der Gymnasiasten in Kl. 7 Latein lernen“ (2002: 3), und dokumentiert, dass Latein noch immer eine hohe Wertschätzung in der Bevölkerung genießt. In einer Befragung von Mitarbeitern in Unternehmen und Wirtschaftsverbänden […] erklären 65,1 % der Befragten, die Lateinunterricht gehabt hatten, sie würden wieder Latein wählen und auch anderen empfehlen. […] Selbst bei den Befragten ohne eigene Latein-Erfahrung würden 29,6 % heute Latein wählen […]. (Ebd.) Zwar zeigt sich auch Jarecki hinsichtlich solcher „Sorgenpunkte“ wie der „mehr oder weniger latenten Feindschaft gegen die alten Sprachen in manchen politischen und pädagogischen Kreisen und [der] schlechte[n] Nachwuchslage“ (2002: 7) beunruhigt, insgesamt ist er jedoch „überzeugt, dass […] der Lateinunterricht seinen Stellenwert am Gymnasium behalten wird“ (2002: 6). Tatsächlich macht sich für Latein in der Schule wieder ein Aufwärtstrend bemerkbar. In der Sendung „heute-journal“ des ZDF vom 22.12.2005 wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der Lateinschülerinnen und -schüler im Jahre 2005 um 9 % gestiegen sei. Die Website www.eduhi.at des größten österreichischen Bildungsservers nennt konkrete Zahlen 2 : Statistiken zufolge sei die Anzahl der Lateinschüler in Deutschland von 654000 im Schuljahr 2002/ 2003 auf 771000 im Schuljahr 2005/ 2006 angestiegen. 3 3.2 Latein an Universitäten und Hochschulen Auch an den Universitäten und Hochschulen wird Latein mittlerweile wieder größere Bedeutung beigemessen. Den steigenden Stellenwert dokumentiert z.B. folgende Entscheidung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Vom Wintersemester 2007/ 2008 an vergibt die medizinische Fakultät Bonuspunkte für die Studenten, die Latein und Altgriechisch nachweisen können. Insofern trifft also das anfangs angeführte Argument, dass man Latein nicht einmal zum Studieren benötige, nur in eingeschränktem Maße zu. Dass zumindest grundlegende Lateinkenntnisse für bestimmte Studienfächer wichtig, wenn nicht gar notwendig sind, verdeutlichen die Ausführungen der Leipziger Universitätsprofessorin Charlotte Schubert in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Das Latinum ist ein guter Gradmesser für die Qualität der Ziele, die sich mit der Reform des Lehrerstudiums im Kontext des Bologna-Prozesses verbinden: Bleibt das Latinum, dann hat auch ein auf die Bachelor/ Master-Struktur umgestelltes Lehramt in den Geisteswissenschaften, vor allem in den Philologien, Geschichte und Philosophie, Wissenschaftsqualität und - Kompatibilität. Streicht man es, dann verliert man in den Fächern diesen Qualitäts- 2 Siehe www.eduhi.at/ gegenstand/ latein/ . 3 Auf der Website findet man außerdem zahlreiche Informationen zum Fach Latein und zur lateinischen Sprache, z.B. zu Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen Software, Links usw. Weiterhin enthält die Seite auch ein neulateinisches Glossar. <?page no="338"?> C ÄCILIA K LAUS 328 anspruch.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2005-12-10) Deshalb fordert sie eine Integration des Latinums in die Bachelor/ Master-Struktur der neuen Lehramtsstudiengänge. Wilfried Kürschner, Professor für allgemeine und germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta, weist ebenfalls mehrfach darauf hin, dass der „Rückgang der Lateinkenntnisse von Abiturienten […] nicht nur Auswirkungen auf die Erlernung weiterer Fremdsprachen […], sondern auch auf die Beherrschung der Grammatik der Muttersprache Deutsch“ hat (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2004-05-08, S. 9). „Und wer die Regeln der Sprache nicht begrifflich erfassen kann, hat auch Schwierigkeiten, sie als Lehrer anderen zu erklären“, heißt es dazu knapp ein Jahr später in einem Artikel, in dem Krischke auf eingehend auf die Entscheidungen an der Vechtaer Universität eingeht (Die Zeit, 2005-03-23, S. 81), die hier im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Nachdem Kürschner anhand eines auf Ulrich Schmitz (2004) zurückgehenden Testbogens mit der Überschrift „30 Fachausdrücke aus dem Deutschunterricht“, bei dem die Studenten 30 Fachausdrücke definieren und mit jeweils einem Beispiel belegen sollten, eklatante Wissenslücken feststellen musste, und zwar sowohl bei den Studenten, die in der Schule keinen Lateinunterricht gehabt hatten, als auch bei den „Lateinkontaminierten“ (Kürschner 2008: 26), wurde in Vechta folgende Konsequenz gezogen: Seit dem Wintersemester 2003/ 2004 - also seit der Einführung des Bachelorstudienganges - müssen alle Germanistikstudenten an zwei Lateinkursen teilnehmen und diese jeweils mit einer Klausur abschließen. Krischke führt dazu aus: „Wilfried Kürschner hat das Mini-Latinum entwickelt, um auf diese Weise ein Handwerkszeug bereitzustellen, das den Studierenden auch in den Lehrveranstaltungen zur deutschen Sprache zugute kommt. (Die Zeit, 2005- 03-23, S. 81). Das Ziel ist es, mit dem in diesen Lehrveranstaltungen erworbenen „Elementarlatein“ das „Verständnis für die Formen und Regeln der Grammatik zu schärfen.“ (Ebd.) Dies bestätigt auch die Aussage einer Studentin: „‚Man bekommt mehr Sicherheit in der Grammatik und auch beim Wortschatz‘.“ (Ebd.) Vielleicht war seinerzeit auch das der Beweggrund für die zahlreichen älteren Semester, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen, obwohl sie von der neuen Regelung gar nicht mehr betroffen waren. 3.3 Lateinische Popmusik Kommen wir nun noch einmal zurück auf den Stellenwert, den Latein bei Schülern hat, und zwar nicht nur während, sondern vor allem auch außerhalb des Schulunterrichts. Dass Latein von Jugendlichen durchaus als geeignetes Ausdrucksmittel für aktuelles Zeitgeschehen und damit als lebendige Sprache empfunden wird, beweisen auch Aktivitäten wie die der Gruppe „ISTA“. Zehn - mittlerweile ehemalige - Schüler eines Lateingrundkurses der Cäcilienschule Wilhelmshaven haben 1994 eine Band gegründet, die Hip- Hop und Rap in lateinischer Sprache aufführt. Obwohl die Mitglieder heute zumeist gänzlich anderen beruflichen Beschäftigungen nachgehen, besteht die Gruppe nach wie vor und produziert Musikstücke. Vier eigene CDs sind bereits erschienen. Die Gruppe war u.a. Gast in der Fernsehsendung „DAS! “ des Regionalprogrammes NDR und stellt sich umfassend in einer Website vor. 4 4 Latein ist vor einiger Zeit auch als Jazz vertont worden. Zum 2000. Todestag von Horaz erschien eine CD „Variationes Horatianae Iazzicae“ mit Musik zu Texten des Dichters. Außerdem findet man zahlreiche Beiträge aus Musikrichtungen wie Rock, Elektronik, Rap, Tango, u.a. aus Schweden, Finnland, Großbritannien, den Niederlanden und den USA, auf der 2005 beim schweizerischen Label <?page no="339"?> L ATINITAS REDIVIVA 329 3.4 Regelmäßig erscheinende lateinische Beiträge im Radio und im Internet Das Interesse an der lateinischen Sprache wird aber weniger in Publikationen deutlich, die sich an ein Fachpublikum richten (z.B. in Deutschland „Rheinisches Museum“, „Hermes“, „Philologus“; in Österreich „Wiener Studien“; in der Schweiz „Museum Helveticum“; in England „Greece and Rome“; in Frankreich „Revue des Études Latines“), sondern vor allen Dingen in Publikationen, die sich an die Allgemeinheit richten und gewissermaßen Bestandteil des täglichen Lebens sind, z.B. Zeitschriften, Zeitungen, Internet. So hatte in Berlin „die tageszeitung“, bekannter unter der Abkürzung „taz“, etwa im Jahre 2000 begonnen, in unregelmäßigen Abständen eine Kolumne auf Lateinisch zu veröffentlichen, und das war in Anbetracht der politischen Position der Zeitung doch erstaunlich. Die Artikel waren keinem bestimmten Themenbereich zugeordnet. Zwar waren sie teilweise recht fehlerhaft, insgesamt war die Durchführung dieses Projekts aber sehr lobenswert. Nach ca. zwei Jahren wurden diese Veröffentlichungen allerdings eingestellt. Mehrfache Anfragen, aus welchen Gründen es zur Einführung lateinischer Artikel einerseits und zur Aufgabe dieses Projekts andererseits kam, wurden von der Redaktion leider nicht beantwortet. Möglicherweise war angesichts des großen Aufwandes eine Weiterführung unwirtschaftlich und damit unmöglich geworden. Nicht nur in den Printmedien, sondern seit geraumer Zeit auch im Bereich der Telekommunikation findet man regelmäßige Beiträge in lateinischer Sprache: Im Oktober 2001 begann Radio Bremen, einmal pro Monat Nachrichten unter dem Titel „Der Monatsrückblick - auf Latein“ ins Internet zu stellen. 5 Sie sind nicht nur visuell, also in geschriebener Form, abrufbar, sondern sie können über Mausklick auch gehört werden und setzen sich jeweils folgendermaßen zusammen: 1. Beiträge zum aktuellen Geschehen, 2. Glossar Lateinisch - Deutsch - Englisch, 3. Archiv vergangener Monatsrückblicke. Auch die deutsche Version kann aufgerufen werden. Außerdem findet man auf der Internetseite ein Forum, Buchrezensionen, aktuelle Informationen sowie einen lateinischen Podcast zum Hören der Nachrichten. Ein Gespräch mit dem Chefredakteur, Herrn Kogel, ergab, dass an der Erstellung der Monatsrückblicke jeweils 8 bis 9 Personen, darunter Lateinlehrer, beteiligt sind. Ihr Anliegen sei es, nicht nur grammatikalisch korrektes Latein zu verwenden, sondern auch stilistisch einwandfrei zu formulieren. So habe man sich insbesondere für die bis Oktober 2002 erschienene Wettervorhersage, der Praenuntiatio tempestatis, an antiken Autoren wie z.B. Tacitus oder Vergil orientiert. Eine solche Recherche nehme, wie Kogel erklärte, sehr viel Zeit in Anspruch; dies erkläre auch das „nur“ monatliche Erscheinen der Nachrichten. Im Gegensatz dazu werden die Nuntii Latini des finnischen Senders YLE seit 1989 wöchentlich im Hörfunk übertragen und können weltweit über Kurzwelle, Mittelwelle oder via Satellit empfangen werden. Die Sendungen vom 1. September 1989 bis zum 31. Au- „Faze Records“ erschienenen lateinischen CD „Album Omnium Temporum Latine Cantatum Optimum“. 5 Internetadresse: http: / / www.radiobremen.de/ nachrichten/ latein/ . <?page no="340"?> C ÄCILIA K LAUS 330 gust 1999 sind auch als Buch (5 Bände) erhältlich. Außerdem können die Nuntii Latini auf der finnischen Internetseite gelesen und angehört werden. 6 Die Internetseite existiert nicht nur in lateinischer, sondern auch in deutscher und englischer Sprache. Jeweils zu Beginn stellt sich die Sendung vor, und in diesem Abschnitt wird erklärt, dass Latein keine tote Sprache ist, sondern ein auch heute geeignetes Kommunikationsmittel sein kann: Daß Latein immer noch eine lebendige Sprache ist, haben die Nuntii Latini überzeugend bewiesen. Seit der ersten Ausgabe am 1. September 1989 ist für die Sendung eine aktuelle Nachrichten-Terminologie entwickelt worden, um auch die vielen Bereiche abdecken zu können, die den alten Römern unbekannt waren. Die beiden Redakteure, Tuomo Pekkanen […], Professor emeritus der Universität Jyväskylä, und Reijo Pitkäranta, Dozent an der Universität Helsinki, betonen, dass sie dabei keinen neuen Wörter ‚erfinden‘, sondern aus vorhandenen Wörtern neue Ausdrücke bilden. Aus den Begriffen ‚Ultraschallforschung‘, ‚elektronische Dokumente‘ oder ‚Wirtschaftskrise‘ beispielsweise wurde in den Nuntii Latini ‚exploratio ultrasonica‘, ‚documentum electronicum‘ und ‚depressio oeconomica‘. Reijo Pitkäranta weist darauf hin, daß neben dem klassischen Latein auch das Vokabular des mittelalterlichen und modernen Latein zur Verfügung steht. Geeignete Ausdrücke seien noch stets gefunden worden. (http: / / www.yleradio1.fi/ nuntii/ ) 7 Außerdem erscheint seit 2004 wöchentlich die Onlinezeitung „Ephemeris“. Hier werden Artikel aller üblicherweise in Zeitungen enthaltenen Rubriken in lateinischer Sprache veröffentlicht. Für die Übersetzung aktueller Sachverhalte steht übrigens ein geeignetes Hilfsmittel zur Verfügung, das „Neue Latein-Lexikon“ (1998), mittlerweile ist es bei Klett unter dem Titel „Wörterbuch des neuen Latein“ erschienen (2001). Eigentlich handelt es sich bei diesem Werk um ein italienisches Lexikon, das 1992 - wie es im Vorwort heißt - „für Furore“ sorgte, und von der „Libraria Editoria Vaticana“ in Auftrag gegeben wurde und eine Fortschreibung von Antonio Baccis „Lexikon vocabulorum quae difficilius Latine redduntur“ darstellt. Dieses Werk wiederum diente dazu, um für die lateinischen Dokumente des Vatikans passende lateinische Wörter oder Bezeichnungen für moderne Begriffe und Sachverhalte zu finden. Lateinische Sprache liegt auch heute noch in beiderlei Ausprägung vor, d.h. in gesprochener und in geschriebener Form. Als besonders markantes Beispiel für geschriebenes Latein ist z.B. auf die viermal jährlich (160 Seiten pro Faszikel) erscheinende, vollständig in lateinischer Sprache verfasste Zeitschrift „Vox Latina“ zu verweisen, die von der Arbeitsstelle für Latein (= Latein der Neuzeit) der Universität des Saarlandes herausgegeben wird und deren erklärtes Ziel ist, Latein als lebendige Sprache zu pflegen. 6 http: / / www.yleradio1.fi/ nuntii/ und http: / / www.yleradio1.fi/ nuntii/ audi/ . 7 Die Nachrichten beider Sender sind auch im Internet unter http: / / www.prolatein.de zu finden. Diese informative, umfangreiche Website mit zahlreichen Informationen rund um das Fach und die Sprache Latein, Lernspielen, Referaten usw. wird von Walfried Schubert, einem Oberstudienrat an der Bischöflichen Marienschule in Mönchengladbach, gestaltet. <?page no="341"?> L ATINITAS REDIVIVA 331 4 Resümee Betrachtet man die Bereiche, in denen Latein gepflegt wird, und das Engagement für diese Sprache, so muss man zwar zugeben, dass Latein nicht den Status einer Sprache wie Englisch oder Französisch hat, da es nicht Staatssprache bzw. Sprache eines Volkes ist und auch nicht wirklich gesprochen wird. Dass sich aber aktuelle Sachverhalte, die den Römern fremd waren, mit vorhandenen Mitteln ausdrücken lassen, beweisen die genannten Beispiele. Latein verfügt durchaus über produktive Muster und enthält ebenso Neologismen wie das Deutsche oder andere „moderne“ Sprachen. Auch das Interesse an dieser Sprache liegt zweifelsohne vor. Dies beweisen auch die zahlreichen begeisterten Zuschriften an die Nuntii Latini. Insofern kann Latein im Sinne von Crystal nicht als eine tote Sprache bezeichnet werden. Aber auch Kramer kann man meiner Ansicht nach nicht gänzlich zustimmen, wenn er sagt: Die Tatsache, daß immer noch einige wenige lateinische Zeitschriften und Bücher erscheinen, daß es Gesellschaften, Kurse und Kongresse zur Pflege des lebenden Lateins gibt und daß sogar Rundfunknachrichten auf Latein gesendet werden, ändert nichts daran, daß das 20. Jahrhundert den Endpunkt einer wirklich funktionalen, in bestimmten Sektoren akzeptierten und nicht als unzeitgemäße Skurrilität belächelten Verwendung des Lateinischen in der Öffentlichkeit darstellt. (Kramer 1997: 155) Zusammenfassend kann man sagen: Die rigide Dichotomie „lebendig“ - „tot“ ist wenig geeignet zur Charakterisierung aller Sprachen; denn Latein kann nur mit den genannten Einschränkungen als lebendig oder tot bezeichnet werden. Auf diese besondere Position weist auch Stroh hin: „Latein ist seit zweitausend Jahren ‚tot‘ und wurde dennoch zu allen Zeiten wie eine lebendige Sprache gepflegt.“ (Stroh 2007: 306) Angesichts des verstärkten Engagements für das Lateinische darf man aber durchaus optimistisch sein. Außerdem: Totgesagte leben länger. Literatur Crystal, David (2000). Language death. Cambridge: Cambridge University Press. Graf, Fritz (1997). Einleitung in die lateinische Philologie. Unter Mitwirkung von Mary Beard, Sandro Boldrini, Gian Biagio Conte, Josef Delz, Werner Eck, Michael Erler, Rudolf Fellmann, Anthony Grafton, Ilsetraut Hadot, Henner von Hesber, Hans-Markus von Kaenel, Robert A. Kaster, Johannes Kramer, Eckard Lefèvre, Walther Ludwig, Ulrich Manthe, Christoph Markschies, Jochen Martin, Glenn W. Most, John Scheid, Martin Steinmann, Jürgen von Ungern-Sternberg, Jan Ziolkowski. Stuttgart: Teubner. Jarecki, Walter (2002): Causa quae sit, videtis. [Eröffnungsrede zum Landestag des Niedersächsischen Altphilologen-Verbandes in Osnabrück.] In: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologen-Verbandes. Landesverband Niedersachsen. Zusammen mit den Landesverbänden Bremen und Hamburg, 52,1, S. 3-8. Kramer, Johannes (1997): Geschichte der lateinischen Sprache. In: Graf, Fritz (Hrsg.): Einleitung in die lateinische Philologie. Unter Mitwirkung von Mary Beard, Sandro Boldrini, Gian Biagio Conte, Josef Delz, Werner Eck, Michael Erler, Rudolf Fellmann, Anthony Grafton, Ilsetraut Hadot, Henner von Hesber, Hans-Markus von Kaenel, Robert A. Kaster, Johannes Kramer, Eckard Lefèvre, Walther Ludwig, Ulrich Manthe, Christoph Markschies, Jochen Martin, Glenn W. Most, John Scheid, Martin Steinmann, Jürgen von Ungern-Sternberg, Jan Ziolkowski. Stuttgart: Teubner, 115-162. <?page no="342"?> C ÄCILIA K LAUS 332 Krischke, Wolfgang (2005): Beugt euch! In: Die Zeit. 13, 2005-03-23, S. 81. Kürschner, Wilfried (2004): Latein verpflichtend. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2004-05-08, S. 9. Kürschner, Wilfried (2008): Die grammatische Hintertreppe: Elementarlatein für Germanisten. In: Kuritsyn, Wladimir M. (Red.): Kompetenzen der interkulturellen Kommunikation. Internationale Aufsatzsammlung. Schuja: Bundesagentur für Ausbildung. Staatliche Bildungsbehörde für höhere Berufsausbildung [GOU VPO] „Staatliche Pädagogische Universität Schuja“, 20-32. Kuritsyn, Wladimir M. (Red., 2008). Kompetenzen der interkulturellen Kommunikation. Internationale Aufsatzsammlung. Schuja: Bundesagentur für Ausbildung. Staatliche Bildungsbehörde für höhere Berufsausbildung [GOU VPO] „Staatliche Pädagogische Universität Schuja“. Neues Latein-Lexikon (1998) = Neues Latein-Lexikon. Lexicon recentis latinitatis. Über 15000 Stichwörter der heutigen Alltagssprache in lateinischer Übersetzung. Von Astronaut Nauta sideratis bis Zabaione Merum ovo infusum. Herausgeber: Libraria editoria vaticana. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Palmer, Leonard R. (1990). Die lateinische Sprache. Grundzüge der Sprachgeschichte und der historischvergleichenden Grammatik. Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Kramer. Hamburg: Buske. Schubert, Charlotte (2005): Latinum als Qualitätsausweis. In: Die Zeit. 2005-12-10. Stroh, Wilfried (2007). Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. Berlin: List. Vox Latina. Commentarii periodici favore et subsidio Studiorum Universitatis Sarávicae comparati. Saarbrücken: Arbeitsstelle für Neulatein, Dr. P. Caelestis Eichenseer. Wörterbuch des neuen Lateins (2001) = Pons. Wörterbuch des neuen Lateins. Deutsch - Latein. Herausgeber: Libraria editoria vaticana. Übersetzung aus dem Italienischen: Stefan Feihl, Carmen Grau, Heinrich Offen, Alexandra Panella. Stuttgart: Klett. <?page no="343"?> Schulzeit und journalistische Berufsbiographien Marcus Nicolini 1 Einführung Narrativ-medienbiographische Interviews mit erfolgreichen Journalisten liegen seit wenigen Jahren im Trend. Den Auftakt hat der inzwischen in Tübingen lehrende Bernhard Pörksen 2004 gemacht, unter dessen Anleitung 24 Studierende des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg 28 prominente Medienmacher in Wortlautinterviews über ihren Weg in den Journalismus befragt haben. Die Medienforscher Stephan Weichert und Christian Zabel ließen 2007 die von ihnen als „Alpha- Journalisten“ ausgemachten 30 Wortführer des deutschen Journalismus porträtieren; 2009 legten sie mit 20 Porträts von Wortführern im Internet nach. Bernd Blöbaum veröffentlichte 2008 eine mit angehenden Münsteraner Kommunikationswissenschaftlern erarbeitete Studie, in der 36 Personen, die in und für Medien arbeiten, anhand von qualitativen Leitfadeninterviews nach ihrer individuellen „Medienbiographie“ 1 befragt wurden. Darunter waren 21 Journalisten. In der Rezension des Buches in der Fachzeitschrift Publizistik regte Claudia Riesmeyer (2009: 567) weitere Untersuchungen der Berufsgruppe „Medienschaffende“ an. Im vorliegenden Aufsatz geht es um den Einfluss der Schulzeit auf das Berufsziel „Journalist/ in“ von Abiturienten und Studienanfängern. Dazu wurden alle Bewerbungs- Lebensläufe der aktuellen Stipendiaten der Journalistischen Nachwuchsförderung („JONA“) der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) ausgewertet. Diese 1979 gegründete studienbegleitende, crossmediale Journalistenausbildung für Studierende aller Fachrichtungen findet überwiegend in den Semesterferien statt und hat bislang über 800 Absolventen hervorgebracht. Im Frühjahr 2010 waren 161 Studierende in der Ausbildung - bei einer Frauenquote von mehr als 71 Prozent! Anhand der ausformulierten Lebensläufe in der schriftlichen Bewerbung 2 der zwischen 2004 und 2009 in die Begabtenförderung der KAS aufgenommenen JONA-Stipendiaten lassen sich die biographischen und schulischen Einflüsse auf den Berufswunsch Journalismus erkennen. Dabei zeigt sich, dass der Wunsch für den Journalismus wesentlich in der Schulzeit entstanden ist, der schulische Unterricht selbst aber einen eher geringen Einfluss auf diese Motivation hat. 2 Aufgaben von Journalisten und Berufsmotivation Journalisten haben vielfältige Aufgaben. Sie versorgen Leser, Hörer und Zuschauer sachgerecht mit Informationen, machen diese Informationen anschaulich und verständlich, stellen Zusammenhänge und Hintergründe von Ereignissen her, helfen den Mediennutzern, ein Geschehen einzuordnen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Neuerdings sind die Aspekte der Unterhaltung und des Versorgens mit Informationen, die über das Fakten- 1 Während „Medienbiographie“ meist als Rolle von Medien und Medienwirkungen in der Sozialisation verstanden wird, geht es hier um die Viten der Akteure. „Welche Medienerfahrungen gewinnen Journalisten […] im Elternhaus und während der Kindheit? Welche Lieblingsfächer haben sie in der Schule? Wie kommen sie während des Studiums mit der Medienwelt in Berührung? “ (Blöbaum 2008: 1) 2 Ein besonderer Dank bei der Zuarbeit zu diesem Beitrag gilt Tessa Fertala. <?page no="344"?> M ARCUS N ICOLINI 334 geschehen hinaus einen praktischen Nutzwert haben, wichtiger geworden (Fasel 2008: 9). Hauptaufgaben des Journalisten ist zu beobachten, Fakten nachzuprüfen und dann zu berichten - in Kurzform: Öffentlichkeit herstellen (Gerhardt/ Leyendecker 2005: 6). Ohne unabhängigen Journalismus kann es keine Demokratie geben, und ohne Pressefreiheit hat unsere Staatsform keine Legitimität (Reifenrath 2003: 11). Journalist werden kann heute jeder. Das demokratiebegründende Postulat der Meinungs- und Pressefreiheit, wie es sich in Artikel 5 des Grundgesetzes entfaltet, garantiert den ungehinderten Zugang in die Medienwelt. Doch warum wollen junge Menschen heute Journalistin bzw. Journalist werden? Erste Hinweise nennt der ehemalige Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, Roderich Reifenrath: Oft sei es der Wunsch, sich schreibend selbst zu verwirklichen oder „tastend das Übungsgelände für eine Literaten-Karriere zu betreten“ (Reifenrath 2003: 10). Andere träumten von nie endenden Reisen um den Globus oder wie der heutige ZDF-Moderator Claus Kleber davon, Fernsehkorrespondent in den USA zu werden (Weichert/ Zabel 2007: 227); fast immer würde eine Existenz locken, die scheinbar weit genug entfernt sei vom vermeintlich Bürgerlich-Spießigen (Reifenrath 2003: 11). Hinzu kommen Verlockungen, die aus dem Bild resultieren, die die Medien über sich transportieren: Glamour, Glanz, Abwechslungsreichtum und Geld (Goderbauer- Marchner 2009: 8). Das hohe Berufsprestige kann es jedenfalls nicht sein, was Schüler fasziniert. Der Hamburger Journalistik-Professor Siegfried Weischenberg hat in dem großangelegten Report über die „Souffleure der Mediengesellschaft“ von 2006 Deutschlands Journalisten vor Augen geführt, dass nur noch zehn Prozent der Bevölkerung den Beruf des Journalisten zu den Tätigkeiten zählen, die sie am meisten schätzen. Dabei hatte sich der Wert gegenüber einer Erststudie von 1993 sogar halbiert (Weischenberg et al. 2006: 15). In dieser Studie von 2006 ist auch das Berufsverständnis aktiver Journalisten untersucht worden. In den Ergebnissen darf man auch Vorbilder für Motive für den Journalistenberuf von Schülern und Studenten sehen. Knapp 60 Prozent der Journalisten in Deutschland wollen Kritik an Missständen üben. Jeder dritte will einfachen Leuten die Möglichkeit geben, sich zu Wort zu melden, knapp 30 Prozent der Journalisten wollen sich für Benachteiligte einsetzen. Und nur 24 Prozent sehen ihre Aufgabe darin, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kontrollieren (Arlt/ Storz 2010: 237). Rudolf Gerhardt, emeritierter Journalismus-Professor der Universität Mainz, erzählt in seinem „Lesebuch für Schreiber“ von dem Schriftsteller und Journalisten Joseph Roth, in dem der Berufswunsch Journalist wach geworden sei, nachdem er herausgefunden habe, dass sämtliche anderen Berufe nicht in der Lage gewesen seien, ihn auszufüllen (Gerhardt/ Leyendecker 2005: 14). In der Tat ist der Journalistenberuf einer der vielseitigsten überhaupt. In der Rolle des Beobachters von Politikern, Wirtschaftslenkern, Kirchenführern und Menschen von nebenan lernen Journalisten fast jeden Tag neue Menschen und Schicksale kennen. Der ehemalige Woche-Herausgeber Manfred Bissinger meint über seine Motivation, den Journalistenberuf zu ergreifen: „Ich hatte das Gefühl, mich dadurch kritischer mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu können als in jedem anderen Beruf.“ (in Weichert/ Zabel 2007: 116). Einer der großen Reize der „Berufung“ zum Journalismus liegt darin, dass der Beruf eine lebenslange Neugier erlaubt. Und so sollen Gerhardt zufolge Journalisten auch sein: „immer wissbegierig, immer erstaunt und fast immer verwundert“ (Gerhardt/ Leyendecker 2005: 15). Auf Menschen zugehen, mit Menschen umgehen können, Betrachter des Geschehens sein zu wollen, das sind wichtige Eigenschaften eines guten Journalisten. Andere <?page no="345"?> S CHULZEIT UND JOURNALISTISCHE B ERUFSBIOGRAPHIEN 335 Tugenden sieht Reifenrath unter anderem in Liebe zur Sprache, Fähigkeit zu konzentriertem Arbeiten, Teamgeist und „nie versiegender Lust zu kommunizieren“ (Reifenrath 2003: 9). Hinzu kommen zeitlose Werte wie der Wunsch, nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit suchen zu wollen, das Bedürfnis, Zusammenhänge zu verstehen und anderen vermitteln zu können und nicht zuletzt Leidenschaft für die journalistische Tätigkeit (Milz 2009: 47). Wer nicht wirklich für den Journalismus „brennt“, sollte diesen Beruf nicht wählen. Treffend schreibt eine JONA-Stipendiatin dazu: Nur wer mit Eifer recherchiert, Missstände hinterfragt und sich nicht abwimmeln lässt, kann sich als Journalist auf Dauer durchsetzen. Biss, Ausdauer, aber auch das Gespür für Themen und Spontaneität sind […] unabdingbar. Allen Idealen zum Trotz bedarf es auch einer Prise Eitelkeit, um ein guter Journalist zu werden. Jeder Journalist muss mit dem Anspruch an seinen Beitrag herangehen, dass die Leser, Zuhörer und Zuschauer nur Augen und Ohren für seinen Beitrag haben - letztlich für sorgfältige Recherche, Aufbereitung des Materials und das ewige Ringen um Stil, Gestaltung und Darstellung (Gerhardt/ Leyendecker 2005: 22). Oder wie eine JONA-Stipendiatin über eine Motivation für den Journalistenberuf schreibt: Niemals werde ich das Gefühl vergessen, wenn ein Text so gedruckt wird wie ich ihn selbst geschrieben habe. Dann kann ich denken: ‚Jetzt ist er gut genug, dass die Leser ihn lesen.’ Mathias Müller von Blumencron, von 2000 bis 2008 Chefredakteur von Spiegel Online und seitdem Co-Chefredakteur des Spiegel, bringt auf den Punkt, was einen guten Journalisten ausmacht, sei es in einem klassischen Medium oder im Internet (in Pörksen 2005: 198): Das bedeutet, dass man hartnäckig recherchiert, sich nicht abwimmeln lässt, eine gewisse Selbstdisziplin besitzt, zuhören und gezielt und kritisch nachfragen kann, eine gute Allgemeinbildung mitbringt und dann natürlich die entsprechende Schreibe besitzt - das sind alles Grundqualitäten, die man überall benötigt. 3 Die Rolle der Schulzeit für den Berufswunsch „Journalist“ Aus der mediensoziologischen Forschung ist bekannt, dass die primäre Sozialisation in der Familie besonders nachhaltige Wirkung bei Jugendlichen auf die Einstellungen und Nutzungsweisen von Medien hat. Die kulturellen Wertorientierungen und Normen der Erwachsenen im Hinblick auf Medien bilden einen emotional vorgeprägten Kontext, in dem Medienkompetenz erworben wird (Schulte Berge et al. 2002: 256). Blöbaum hat festgestellt, dass fast alle der 2008 befragten 21 Journalisten im Elternhaus mit einer Tageszeitung aufgewachsen sind und die Zeitung, meist ergänzt durch Zeitschriften, Radio und Fernsehen, in allen Familien vorherrschte (Blöbaum 2008: 28). Für BILD- Chefredakteur Kai Diekmann war der Spiegel seit seinem 16. Lebensjahr Pflichtlektüre (Pörksen 2005: 64). Interessanterweise erwähnen nur zwölf der 161 JONA-Stipendiaten die tägliche Mediennutzung in ihrer Jugend. Es ist zu vermuten, dass die anderen diesen Aspekt in ihrer Bewerbung nicht für erwähnenswert hielten. Ebenfalls interessant ist, dass JONA-Stipendiaten so gut wie nie journalistische Vorbilder in der Familie haben: Nur vier Stipendiaten gaben an, das ein Eltern- oder Großelternteil journalistisch tätig ist bzw. war. Künftige Journalisten müssen gern schreiben wollen. Es kann zwar auch derjenige zum guten Journalisten werden, der „nicht die ganze Nacht lang dem nächsten Dreispalter entgegenfiebert“ (Gerhardt/ Leyendecker 2005: 20). Aber einfacher tut sich, wem das Schreiben eine Art „zweite Haut“ ist. In Blöbaums Untersuchungen gaben die meisten Befragten <?page no="346"?> M ARCUS N ICOLINI 336 an, früh ein Faible fürs Schreiben entwickelt zu haben, in der Schule und außerhalb (Blöbaum 2008: 30). Wer als Schüler in den Journalismus möchte, muss den Umgang mit der Sprache auf der formal-grammatischen und auf der inhaltlich-kreativen Ebene mögen. Wer all die Erörterungen und Interpretationen überhaupt nicht leiden konnte, hat vielleicht auch nicht die Freude am Schreiben, am Formulieren, am Texten. Wer mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß steht, bringt ebenso wenig die richtige Grundfähigkeit mit. (Goderbauer-Marchner 2009: 43) Es ist bezeichnend, dass das schulische Lieblingsfach junger Journalisten Deutsch ist. Mehr als 66 Prozent der JONA-Stipendiaten wählten es als Leistungskurs. Der Deutschunterricht in der Oberstufenzeit scheint bei angehenden Journalisten die prägende Zeit für die Schreib-Sozialisation zu sein. Lesebiographische, literaturdidaktische und Lese-Forschungen sind sich einig, dass ein gesteigertes Interesse an „gehobener Literatur“ mit höherer Schulbildung und entsprechend ausgedehntem Deutschunterricht korrelieren (Eggert/ Garbe 2003: 136). Im Deutschunterricht wird der Grundstein fürs Schreiben gelegt, auch wenn Schreibenkönnen im deutschen Kulturraum meist als Fähigkeit aufgefasst wird, die eng mit dem Begriff des „Genies“ verknüpft sei und die deshalb nicht lehrbar sei. Gleichzeitig „lehrt“ der Deutschunterricht das inhaltliche Schreiben nicht. An weiterführenden Schulen wird im Literaturunterricht primär die Fähigkeit eingeübt, argumentativ fundierte und möglichst objektiv nachvollziehbare Interpretationen oder Darstellungen zu erstellen. Eine Reflexion des Deutschunterrichts als richtungsweisende Inspiration für den Berufswunsch Journalist findet sich in den Lebensläufen der JONA-Stipendiaten nicht. Nur ein Stipendiat gibt an, dass eine Lehrerin bereits in der Grundschule durch Aufsatzwettbewerbe bei ihm Begeisterung für kreatives Schreiben weckte. 3 Deshalb sind kreative Alternativen zum Unterricht wichtig - von denen es gleichwohl wenige gibt: Die Schülerzeitung und eine eventuell bestehende Schreib-AG sind, abhängig zudem vom persönlichen Engagement der Lehrerinnen und Lehrer, oft die einzigen Freiräume, die dem Abfassen eigener Texte dienen können. (Bach 1998: 4) Unter diesen Alternativen ist die klassische Schülerzeitung nach wie vor der unangefochtene Spitzenreiter. Menschen erlangen weitaus intensiver Einsichten in die tatsächlichen Gesetze, die in der Medienwelt herrschen, wenn sie daran aktiv teilnehmen (Lutz 2009: 72-73). Die berufsbiographischen Forschungen von Blöbaum haben gezeigt, dass die Arbeit für die Schülerzeitung und eine intensive Mediennutzung wichtig für die Motivation sind, einen Medienberuf ergreifen zu wollen (Riesmeyer 2009: 567). Eine Schülerzeitung zu machen, das ist die romantische und ursprüngliche Idee von Journalismus, wie Leppin (2010: 71) feststellt: „Ganz schlicht: eine Zeitung von Schülern für Schüler, mit Schulhofgeschichten und immer mit etwas mehr Herz als Interpunktionsgefühl.“ Auch wenn die Vorstellung vom naiven Schülerblättchen längst überholt sei, so Leppin, weil unter den ungezählten Schülerzeitungen in Deutschland viele ein Gespür für Layout und Texte bewiesen, so zeigt sich doch immer wieder, dass das Schreiben für die Schülerzeitung für den Großteil künftiger Journalisten das Zugangsfenster in die „Berufung Journalismus“ ist. Viele der bereits in der Schulzeit aktiven Journalisten schrieben in der Gymnasialzeit für die Schülerzeitung, engagierten sich für innerschulische Medienprojekte wie 3 Journalistisches Schreiben muss auch nicht mit der Leidenschaft fürs Schreiben zusammenhängen: Nur fünf Prozent der JONA-Stipendiaten gaben an, privat Kurzgeschichten, Gedichte, Krimis bzw. sonstige Bücher zu schreiben. <?page no="347"?> S CHULZEIT UND JOURNALISTISCHE B ERUFSBIOGRAPHIEN 337 etwa Radioprogramme für die Schulpausen oder waren als freie Mitarbeiter für Lokal- und Regionalzeitungen aktiv (Blöbaum 2008: 30). Der spätere BILD-Chefredakteur Kai Diekmann schrieb am Gymnasium für eine Schülerzeitung, ebenso der netzwerk recherche- Vorsitzende Thomas Leif (für die kritische Schülerzeitung Rückwärts) sowie der heutige Spiegel-Autor Henryk M. Broder, der in dieser Zeit den Chefredakteur der Stader Schülerzeitung WIR kennenlernte - Stefan Aust, 4 später langjähriger Chefredakteur des Spiegel (in Weichert/ Zabel 2007: 130, 148, 255). Die Blogger Thomas Knüwer und Stefan Niggemeier engagierten sich mit 16 Jahren beim Krankenhausradio in Münster bzw. bei der Schülerzeitung Folium im Landkreis Osnabrück (Weichert/ Zabel 2009: 180, 205). Von den 161 Stipendiaten der JONA haben 46 Prozent (74 Angaben) für eine Schülerzeitung geschrieben, davon knapp die Hälfte als Chefredakteure/ innen (31 Nennungen). Elf JONA-Stipendiaten gaben an, dass sie überhaupt erst die Zeitung an ihrer Schule, ein Schul-Onlinemagazin bzw. eine landesweite Zeitung für Schüler gegründet haben. Nur in ganz seltenen Fällen wurden schulische AGs wie Foto, Radio oder Schul-Homepage bzw. Öffentlichkeitsarbeit für die Schule genannt. 5 Auch schulische Theater- und Literatur- AGs, die von elf Prozent der JONA-Stipendiaten besucht wurden, spielen bei den schulischen Aktivitäten, die Einfluss auf den Berufswunsch Journalist haben könnten, nur eine untergeordnete Rolle. 4 Freie Mitarbeit, Jugendreporter und Medienpraktika Besonders hoch ist die Identifikation mit Medien, wenn Kinder und Jugendliche als freie Mitarbeiter für ihre Heimatzeitung, sei es im klassischen Lokalteil, als Kinder-Reporter für die Jugendseite oder in Workshops, aktiv werden können. Die medienbiographische Forschung geht bei renommierten Journalisten fast gar nicht auf die Frühphase von deren Journalistenkarriere ein. 6 Dabei kommt der Schulzeit in dieser Hinsicht eine herausragende Rolle zu. 64 Prozent aller aktuellen JONA-Stipendiaten haben bereits als Schüler/ in als freie Mitarbeiter zumeist für eine Zeitung, selten für Magazine, Radio oder Onlinemedien, 4 Stefan Aust meint rückblickend auf seine Schulzeit, er habe nichts anderes gemacht als Schülerzeitung. Sein Lateinlehrer habe immer gesagt: „Du bist nichts, du kannst nichts, alter Knabe, zieh dich in deine Redaktionsstube zurück.“ (Pörksen 2005: 21) 5 Wie erfolgreich JONA-Stipendiaten als Schülerzeitungsredakteure waren, zeigt ein Blick auf den Schülerzeitungs-Wettbewerb des Spiegel, an dem bislang über 30.000 Schüler teilgenommen haben. Etwa 800 Zeitungen bewerben sich jedes Jahr bei diesem Wettbewerb (Leppin 2010: 71). Mit drei ersten Preisen, je zwei zweiten und dritten sowie einem neunten und zehnten Platz standen aktuelle Stipendiaten in den Gewinnerlisten. Darunter waren auch ein erster und ein vierter Platz in der Kategorie Reportage sowie ein erster Platz für den Aufbau der Webpräsenz des inzwischen bundesweiten Schülermagazins YAEZ. JONA-Stipendiaten wurden als Schüler u.a. Landessieger im Schülerzeitungs- Vergleich des Bundespräsidenten, verbuchten einen dritten Platz im Journalistenpreis für Bürgerschaftliches Engagement der Robert-Bosch-Stiftung, holten einen dritten Platz beim Deutschen Schülerzeitungspreis, gewannen den WELT-Reportagewettbewerb und wurden mehrfach beim Schülerzeitungswettbewerb von Sparkassen ausgezeichnet. Für die Gründung des Schulradios Terra Suebia erhielt ein Stipendiat den Förderpreis Medienpädagogik der Stiftung MedienKompetenz Forum Südwest (MKFS). 6 Der frühere Chefredakteur der Bild am Sonntag, Michael Spreng, war während seiner Schulzeit freier Mitarbeiter der Frankfurter Neue Presse; Focus Online-Chefredakteur Jochen Wegner schrieb frei für die Badische Neueste Nachrichten. Der Hamburger Journalistikprofessor Siegfried Weischenberg war als Schüler freier Mitarbeiter im Lokalen der damals in seiner Heimatstadt Wuppertal erscheinenden Neue Rhein Zeitung (Pörksen 2005: 235, 284; Weichert/ Zabel 2009: 260). <?page no="348"?> M ARCUS N ICOLINI 338 gearbeitet, wobei genau die Hälfte aller JONA-Stipendiaten (81 Nennungen) als Schüler für die lokalen Seiten einer Tageszeitung geschrieben hat. Davon haben 31 das Schreiben erstmals für die Jugendseiten der Zeitung ausprobiert. Nach wie vor ist das lokale Ressort der Tageszeitung der Klassiker für die ersten Gehversuche als Journalist. Ein Journalist sollte einmal dort gearbeitet haben, wo er den Menschen, über die er schreibt, nahe ist, und wo er am besten Demut lernt, meint die Brand Eins-Gründerin Gabriele Fischer: „Wenn man den Bürgermeister, den man möglicherweise hart angefasst hat, am nächsten Tag auf der Straße trifft, ist das zwar nicht schön, aber eine nützliche Erfahrung.“ (in Pörksen 2005: 73). Menso Heyl, zwischen 2001 und 2008 Chefredakteur des Hamburger Abendblatt, schreibt über das Lokale: In diesem Ressort kann man das, was in unserem Beruf wesentlich ist, am besten lernen. Alle Themen - von Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur bis zum Vermischten - sind vertreten. Die Auseinandersetzungen finden vor der eigenen Haustür statt; die Menschen, über die man schreibt, sind in unmittelbarer Nähe. Wenn man als Lokalreporter kritisch über den Vorstand der örtlichen Sparkasse schreibt, bekommt man die Auswirkungen seines Tuns viel unmittelbarer mit, als wenn man etwa im Auslandsressort über George Bush schreibt. (in Pörksen 2005: 109) Im Lokalen entfaltet sich nach wie vor das Faszinierende der Themenvielfalt im Journalismus. Dazu schreibt ein JONA-Stipendiat: Als freier Mitarbeiter habe ich Alg-II-Empfänger im Flur der Vermittlungsagentur interviewt und mit Bankdirektoren beim Sektempfang gesprochen; ich habe nachts Polizisten bei einer Drogenkontrolle begleitet und mich am Schreibtisch für Artikel zu Statistiken durch lange Zahlenkolonnen gearbeitet. Diese Vielfalt weckt jedes Mal aufs Neue meine Neugier und meinen Ehrgeiz, interessante Themen zu erarbeiten und sie dem Leser sowohl verständlich als auch attraktiv zu präsentieren. Die Schulzeit ist auch die Zeit, in der Schülerinnen und Schüler erstmals journalistische Workshops besuchen. 22 Prozent der JONA-Stipendiaten sind dem Journalismus über entsprechende Workshops, Jugendmedientage und Schreibwerkstätten nähergekommen, die z.B. von der Jugendpresse Deutschland und ihren Landesverbänden angeboten werden. Zu nennen sind auch die Journalisten-Workshops für junge Zeitungsmacher der Konrad- Adenauer-Stiftung bzw. deren Jugend-Medienwerkstätten wie der „Jugendmedientreff“ in Schloss Eichholz. Wenn nicht adäquate Angebote zu finden waren, haben JONA-Stipendiaten als Schüler auch eigene Medienprojekte initiiert, wie eine Politik-Talkrunde für Jugendliche beim offenen TV-Kanal Gera oder ein Wissensmagazin für Kinder im lokalen Bürgerradio im Raum Mainz/ Wiesbaden. Wissenschaftlich etwas besser erforscht ist der Werdegang junger Journalisten mit Blick auf Praktika und Hospitanzen während der Schulzeit bzw. während des Studiums. Der durchschnittliche Berufsanfänger im Journalismus ist heute etwa 27 Jahre alt, durchweg deutlich höher qualifiziert als noch vor zehn Jahren, hat erfolgreich studiert, ist mehrsprachig, weit gereist und praktikumserfahren (Milz 2009: 51). Die Zahl der Journalisten, die in ihrer Journalistenausbildung Hospitanzen oder Praktika gemacht haben, lag Weischenbergs Report von vor vier Jahren zufolge bei 69 Prozent - und hatte sich damit gegenüber einer Erststudie von 1993 (32 Prozent) mehr als verdoppelt. In der Altersstufe unter 36 Jahren lag sie sogar bei über 90 Prozent (Weischenberg et al. 2006: 67). Von den 161 JONA-Stipendiaten haben mehr als 45 Prozent bereits als Schüler ein berufsorientierendes Schülerpraktikum in den Medien gemacht, davon knapp zwei Drittel in der Lokalredaktion einer Tageszeitung. Ähnlich hoch liegt der Wert bei längeren Praktika: 43 Prozent der JONA-Stipendiaten haben bereits während der Schulzeit bzw. nach dem <?page no="349"?> S CHULZEIT UND JOURNALISTISCHE B ERUFSBIOGRAPHIEN 339 Abitur bis vor Aufnahme des Studiums bzw. Wehr-/ Ersatzdienstes ein oder mehrere Hospitanzen absolviert, wobei der Anteil der Lokalredaktion einer Zeitung noch knapp die Hälfte dieser Praktika (48 Prozent) ausmacht. 5 Schule und Leseförderungsprojekte - Zeitung in der Schule Mit dem Aufkommen des Privatfernsehens schwand das Interesse junger Leser an Printmedien. Dies war ein entscheidender Grund für viele Verlage, Schulen Zeitungsprojekte anzubieten, um auf diese Weise unter den Schülern künftige Leser zu gewinnen und gleichzeitig Leseförderung zu betreiben (Kommerell 2008: 43; Kals 2004: 184). Der Aachener Pädagoge Peter Brand erfand 1971 das Projekt Zeitung in der Schule und arbeitete zusammen mit dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) ein Konzept aus, mit dem nicht nur Lesekompetenzen gefördert werden, sondern auch junge Leser an die Zeitung gebunden werden sollten. Bei der klassischen Form des Projekts, das sich an die Klassen acht bis zehn aller Schulformen richtet, nehmen jährlich etwa 70.000 Schüler teil. Sie analysieren Zeitungen im Unterricht und werten die Zeitung unter einem vorgegebenen thematischen Schwerpunkt für eine Artikeldokumentation aus. Außerdem erhalten die Klassen die Möglichkeit, eigene Texte zu recherchieren und zu verfassen, die dann unter einem Rubrikentitel in der Zeitung erscheinen. Bis 2004 hatten bundesweit über eine halbe Million Schüler an Zeitung in der Schule-Projekten teilgenommen. Etwa 50 von rund 375 (inzwischen sind es nur noch 345) in Deutschland erscheinenden lokalen und regionalen Tageszeitungen beteiligen sich regelmäßig an dem Projekt (Kals 2004: 4-9). 7 Interessanterweise führen derlei Projekte zwar Schüler in der Masse an Medien heran, tragen aber nicht wesentlich dazu bei, dass sich junge Schreibtalente für die Journalistenausbildung der KAS finden lassen: Nur sechs JONA-Stipendiaten gaben entsprechende Hinweise in ihrem Lebenslauf. Von diesen sechs lässt eine Bewerberin, die beim Zeitung und Schule- Projekt (ZEUS) der WAZ teilgenommen hat, allerdings erkennen, wie sehr das Projekt ihre Berufsmotivation geprägt hat: Die Recherche, das Verfassen und die Veröffentlichung des Beitrags machten mir so viel Freude, dass ich mich von nun an ernsthaft mit dem Beruf des Journalisten auseinandergesetzt habe. Auch das 1988 begonnene Jugend-schreibt-Projekt der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist als Leseförderungsmaßnahme intendiert und dient gleichzeitig als Instrument, junge Leser dauerhaft für die Zeitung zu gewinnen. Es geht der FAZ in erster Linie um das kritische Lesen anspruchsvoller Zeitungstexte und erst in zweiter Linie um das Schreiben. Das zweite zentrale Anliegen bei diesem jeweils auf ein Jahr angelegten Projekt ist es, dass die Schüler der Jahrgangsstufen 11 und 12 von Gymnasien und Gesamtschulen, vereinzelt auch Schüler von Studienkollegs und Berufsschulen, thematisch nicht festgelegte Beiträge für die FAZ verfassen, von denen die besten auf einer zweibis dreimonatlich erscheinenden Seite gedruckt werden (Kals 2004: 11, 21, 182-183). Das war ein Novum für den Oberstufen-Lernort Schule. Denn die Aufgabenarten in der gymnasialen Oberstufe variieren gewöhnlich nur innerhalb bestimmter Grenzen. Dazu gehören freie oder textgebundene Erörterung, Textanalyse und die Interpretation literarischer Texte (Kals 2004: 183). Dank Jugend schreibt nehmen jährlich etwa 60 Kurse der Sekundarstufe 7 So hat beispielsweise die Ludwigshafener Rheinpfalz seit 1989 mehr als 40.000 Schülern (Stand 2005) ermöglicht, die Zeitung kennenzulernen. Beim Konstanzer Südkurier nahmen bis Ende 2005 rund 63.000 Schüler an der Leseförderungsaktion Klasse! teil (BDZV Intern, 28.11.2005: 12). <?page no="350"?> M ARCUS N ICOLINI 340 II mit etwa 1.200 Schülern (Stand 2004) an einer Schreibwerkstatt teil (Kals 2004: 12, 17). Von den nur zwei aktuellen JONA-Stipendiaten, die bei Jugend schreibt mitgemacht haben, hat eine 2007 den Schülerpreis der Fazit-Stiftung der FAZ gewonnen und wurde zeitgleich mit ihrem Deutschkurs als erfolgreichster Kurs ausgezeichnet. Siebzig Prozent der Schüler, die beim Projekt Jugend schreibt der FAZ mitwirken, haben einen Deutsch-Leistungskurs oder einen Grundkurs belegt. Vor allem in Leistungskursen lassen die Lehrpläne mehr Freiraum. Entscheidend ist in jedem Fall das Engagement des Lehrers: Wie die Erfahrung zeigt, ist eine erfolgreiche Teilnahme nur dann gewährleistet, wenn sie auf ausdrücklichen Wunsch eines motivierten Lehrers betrieben wird, der bereit ist, den organisatorischen Aufwand in Kauf zu nehmen. (Kals 2004: 17, 19) 6 Vielfältige Motivation für den Traumberuf Journalist Trotz umfangreicher praktischer Erfahrungen im Journalismus lassen die Lebensläufe der JONA-Stipendiaten letztlich nur bedingt Rückschlüsse darauf zu, warum junge Menschen Journalisten werden wollen. Als Stichworte finden sich vereinzelt, die Öffentlichkeit informieren zu wollen, als vierte Gewalt im Staat mitwirken und auf Missstände hinweisen zu wollen, das Gefühl, ganz nah am Geschehen zu sein und neue Menschen kennenlernen zu wollen. Da ist von der Faszination zu schreiben die Rede, von der Begeisterung für Erzählen und Erforschen, vom Reiz der Themenvielfalt im Journalismus und von der Chance, die Ursachen für die Unzufriedenheit von Menschen zu erkennen. Andere Bewerber reizt am Journalismus, neue Blickwinkel zu gewinnen und an der Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus mitwirken zu wollen. Zwei Bewerberinnen schildern den Reiz des Journalistenberufs aufgrund eigener erster Erfahrungen: Man ist als Journalist in allen vier Medien nicht nur Redakteur, sondern auch Künstler, ‚Informationsgeber‘, Beobachter, Erzähler, Anwalt für Ungehörte und ein bisschen Weltverbesserer. Diese Abwechslung, gepaart mit der Möglichkeit etwas zu verändern, sowie der Prämisse Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, machen für mich den Reiz aus, Journalistin zu werden. Mein Ziel beim Schreiben ist es, den Lesern meiner Texte einen neuen, anderen Blickwinkel zu bieten, ihnen die Möglichkeit zu geben, Neues zu erfahren und neue Erfahrungen zu machen. Menschen helfen zu können, ihren Horizont zu erweitern, so wie ich es beim Recherchieren und Schreiben erfahre, genau das fasziniert mich an diesem Beruf. Viele junge Journalisten äußern den Wunsch, in einem noch zu erlernenden Beruf Journalist gesellschaftliche Missstände aufdecken zu wollen. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Übernahme von Verantwortung als Klassen-, Schul- oder Jahrgangsstufensprecher. Blöbaum hat festgestellt, dass ein Zusammenhang mit dem Journalismus insofern vorhanden sei, als beide Tätigkeiten ein Interesse an gesellschaftlichen Problemen und die Begabung voraussetzen, die Interessen anderer Menschen zu artikulieren (Blöbaum 2008: 30). Von den aktuellen JONA-Stipendiaten haben sich 35 Prozent in die Schülermitverwaltung eingebracht. Knapp zehn Prozent engagierten sich als Streitschlichter, Tutor, Klassenpate oder in der Nachhilfe. Fünf Stipendiaten erhielten für ihr Engagement einen Preis ihrer Schule, eine den Fair-Play-Preis des Landes Rheinland-Pfalz für die Gründung eines Waisenhausprojekts in Südafrika an ihrer Schule. Wer heute junge Menschen zu Journalisten ausbildet, findet bestätigt, was Bernhard Pörksen und Jens Bergmann in der Einleitung zu ihrem Interviewbuch über den Journalistenberuf schrieben und wie es heute noch gilt: „Es ist ein Traumberuf. Immer noch und <?page no="351"?> S CHULZEIT UND JOURNALISTISCHE B ERUFSBIOGRAPHIEN 341 trotz allem.“ (Pörksen 2005: 15) Oder wie es eine JONA-Stipendiatin trotz wenig mutmachender Berufsperspektiven für junge Journalisten resümiert: Manchmal gibt es im Leben Situationen, wo man einfach nicht aufhören kann, seiner Leidenschaft nachzugehen. Und diese Leidenschaft heißt bei mir Journalismus. Literatur Arlt, Hans-Jürgen / Wolfgang Storz (2010): Wirtschaftsjournalismus in der Krise. Hrsg. von der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt a. M.: Eigenverlag. Bach, Susanne (1998): Creative Writing - Hintergründe einer federführenden Bewegung. In: Susanne Bach / Elmar Schenkel (Hrsg.): Creative Writing - Kreatives Schreiben. Berichte aus den Bereichen Schule, Volkshochschule, Universität, Psychotherapie und Journalismus. Eggingen: Isele, 3-15. Blöbaum, Bernd (Hrsg.; 2008): Hauptsache Medien. Berufsbiographische Interviews mit Journalisten, PR-Praktikern und Werbern. Münster: LIT. Eggert, Hartmut / Christine Garbe (2003): Literarische Sozialisation. 2., aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Fasel, Christoph (2008): Textsorten. Konstanz: UVK. Gerhardt, Rudolf / Hans Leyendecker (2005)