Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache
1117
2010
978-3-8233-7608-8
978-3-8233-6608-9
Gunter Narr Verlag
Bernt Ahrenholz
Jeder Unterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ist auch Sprachunterricht. Diese Einsicht ist im Prinzip nicht neu. Dennoch fehlt bisher vielfach eingenaues Wissen darüber, welche spezifischen sprachlichen Anforderungen beispielsweise im Physik- oder Biologieunterricht bestehen, an welchen Punkten Kinder mit Deutsch als Zweitsprache besondere Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten oder Lehrervorträgen haben und wo es ihnen weniger als den monolingual deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern gelingt, Aufgabenadäquat mündlich oder schriftlich zu bewältigen. Der vorliegende Band versucht Einblicke in diesen Ausschnittschulischer Wirklichkeit zu geben. Dabei werden Mathematik-, Physik- und Biologieunterricht ebenso betrachtet wie Literaturunterricht, Englischunterricht und bilingualer Sachfachunterricht. Es geht um Lesekompetenz und Argumentationsfähigkeit, Schreiben und Textkompetenz, CLIL und DaZ, Bildungssprache und Sprachförderung. Deutlich wird, dass Fachlehrer einen neuen Blick auf ihren Unterricht gewinnen müssen - und eine erweiterte Ausbildung benötigen, für die eine erste Initiative vorgestellt wird.
<?page no="0"?> Bernt Ahrenholz (Hg.) Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache 2. Auflage <?page no="1"?> Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache <?page no="3"?> Bernt Ahrenholz (Hg.) Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage <?page no="4"?> Prof. Dr. Bernt Ahrenholz lehrt am Institut für Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2010 1. Auflage 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Titelabbildungen: AVANA©www.fotolia.com; Anyka©www.fotolia.com © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6608-9 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Bernt Ahrenholz Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz ......... 1 Bernt Ahrenholz Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule .................... 15 Wilhelm Grießhaber (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachunterricht ..................... 37 Elke Grundler Argumentieren in der Zweitsprache.................................................. 55 Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht .................................................................................. 69 Udo Ohm Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung: Zweitsprachenförderung als Befähigung zum Handeln ................ 87 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache ................... 107 Wolfgang Zydatiß Parameter einer „bilingualen Didaktik“ für das integrierte Sach-Sprachlernen im Fachunterricht: die CLIL-Perspektive ........ 133 Beate Lütke Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung. Der fachintegrative Ansatz im Master of Education an der Humboldt-Universität zu Berlin........ 153 Tanja Tajmel DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht........ 167 Simone Kuplas Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht ........ 185 Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Ein didaktisches Modell für das Fach Chemie........................................................................................... 203 <?page no="6"?> VI Heidi Rösch DaZ im Literaturunterricht.................................................................. 219 Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner Verstehen durch Schreiben. Anlage einer empirischen Studie zum produktiven Umgang mit mathematischen Textaufgaben ............ 239 Jörg-U. Keßler & Christian Paulick Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen: Englischunterricht bei Lernern mit Migrationshintergrund .......... 257 Claudio Nodari Fachdingsda - Fächerorientierter Grundwortschatz für das 5. - 9. Schuljahr......................................................................... 279 <?page no="7"?> Bernt Ahrenholz Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz Im Jahre 2006 verließen 17% aller Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund die Schule ohne Schulabschluss, 42% schafften den Abschluss der Hauptschule, 31% der Realschule und 9% des Gymnasiums. 1 Diese Befundlage weicht eklatant von der Situation der monolingual deutschen Schülerinnen und Schülern ab. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen (vgl. z.B. Allemann-Ghionda 2006, Kuhs 2008, Walter 2008), aber eine überzeugende Analyse von Ursache und Wirkung ist aufgrund der Vielzahl der am Spracherwerb und Schulerfolg beteiligten Faktoren schwierig und vorgetragene Annahmen sind vielfach strittig. Während inzwischen jeder eingesehen hat, dass die ursprüngliche Annahme, das „Problem Deutsch als Zweitsprache“ erledige sich in einer veränderten Zuwanderungsgesellschaft von selbst, nicht in dem erwarteten Umfang zutrifft, braucht die Ursachenforschung und Konzeption von Alternativen noch Zeit. Seit Beginn der Beschäftigung mit der Problematik war Fachleuten bewusst, dass schulischer Erfolg, Spracherwerb und Fachunterricht in einem engen Zusammenhang diskutiert werden müssten; so schrieben beispielsweise Steinmüller/ Scharnhorst schon vor mehr als 20 Jahren „jeder Fachlehrer ist zugleich Sprachlehrer“. 2 Sehr früh wurden auch Materialien für den berufsbildenden Unterricht entwickelt (vgl. Eckes/ Wilms 1975 oder Maschmann 1980) und immer wieder wird in der Literatur auf die Bedeutung des Fachunterrichts verwiesen, so beispielsweise bei Neuner (1987), Harnisch (1991), Luchtenberg (1989, 1991) oder neuerdings Rösch (2005a). 3 Dennoch scheint es nicht zu einer umfassenden und intensiven Auseinandersetzung mit dem Bereich Fachunterricht und DaZ gekommen zu sein, insbesondere die Fachdidaktiken scheinen sich dieser Aufgabe nicht wirklich angenommen zu haben, obwohl im schulischen Alltag (Fach-)lehrer regelmäßig und mit weitreichenden Folgen z.T. sehr unzuverlässige Einstufungen vornehmen (Baur et al. 1993, 13) und viele Schülerinnen und Schüler im Fachunterricht scheitern. 1 Zahlen aus Chlosta/ Ostermann (2008); erfasst werden in der Bundesstatistik die sogenannten „ausländischen“ Schülerinnen und Schüler, also diejenigen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben; solche mit Migrationshintergrund und deutschem Pass werden hier nicht erfasst. 2 Steinmüller/ Scharnhorst (1987,9); eine Position, die im Übrigen auch ganz unabhängig von der Frage der sprachlichen Kompetenzen von Schülern mit Migrationshintergrund gilt; vgl. Knapp (2003) für die Sprachdidaktik allgemein. 3 Vgl. auch den historischen Rückblick „30 Jahre DaZ“ von Barkowski (2003). <?page no="8"?> Bernt Ahrenholz 2 Die großen Studien wie PISA und DESI haben deutlich gemacht, dass dringender Handlungsbedarf besteht: Besorgniserregend sind insbesondere Befunde zur naturwissenschaftlichen Kompetenz von fünfzehnjährigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In keinem anderen OECD-Mitgliedsstaat ist der mittlere Kompetenzunterschied zwischen Jugendlichen ohne und solchen mit Migrationshintergrund größer als in Deutschland. (Walter/ Taskinen 2009, 186) Inzwischen hat insbesondere der Mathematikunterricht verstärkt Aufmerksamkeit erfahren (z.B. Gogolin 2002, Gogolin et al. 2004, Grießhaber 2005) und in der Physikdidaktik ist einiges in Bewegung geraten (vgl. das PROMISE-Projekt, v.a. die Arbeiten von Tajmel). 4 Während im Bereich Deutsch als Fremdsprache die Frage des Fachunterrichts intensiv diskutiert wurde und mit Buhlmann/ Fearns (2000) ein umfassendes, einschlägiges Handbuch vorliegt, sind für den schulischen Bereich und Deutsch als Zweitsprache relativ wenige wissenschaftliche Untersuchungen und Unterrichtsmaterialien erschienen. An Unterrichtshilfen ist hier in erster Linie das Methodenhandbuch von Leisen (2003) zu nennen; 5 es stellt eine Pionierarbeit dar, die auch manche Autoren des vorliegenden Bandes inspiriert hat. Für die Sekundarstufe I ist beispielsweise der von Rösch (2005a) herausgegebene Band mit Hinweisen für Fachlehrer zu nennen. Für den Fachunterricht im Rahmen der Berufsvorbereitung schließlich liegen Materialen von Funk/ Neuner (1987) und Ohm et al. (2007) vor. Für den vorliegenden Band wurde im Internet recherchiert, es wurden einige einschlägige Zeitschriften geprüft und beim IFS in Marburg angefragt (vgl. Synopse). 6 Sofern das Ergebnis die Sachlage einigermaßen angemessen widerspiegelt, ist die Beschäftigung mit der Frage Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache insgesamt eher zurückhaltend. Es gibt eine Reihe von Arbeiten zu Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache allgemein; Chlosta/ Schäfer (2008) geben einen Überblick. Einzelstudien - z.T. mit Unterrichtsvorschlägen - liegen z.B. vor mit Baur et al. (1993), Leisen (1991, 2005, 2006b), Neumann et al. (2007), Hesse et al. (2008), Solinger (2006), Steindl (1979), Tajmel (2007, 2009), Tajmel/ Schön (2007), Walter et al. (2009), Steinmüller/ Scharnhorst (1987). Für den Bereich Grundschule und Hauptschule sind u.a. Grütz/ Pfaff (2006) zu nennen, für die Sekundarstufe I Benholz/ Iordanidou (2005), Riedel (2004), Rösch (2005b), für das Gymnasium Forthaus et al. (1988), Hilger (1990), für die Berufsschule das Heft 2-3 1989 der Zeitschrift Deutsch lernen, Neuner (1983), Müller (2005), Knapp (2007, zu Schreibanforderungen). Schaut man auf Arbeiten zu einzelnen Fächern und Schularten, zeigen sich im Wesentlichen Lücken. 4 Zu PROMISE vgl. Tajmel/ Schön (2007) und Neumann/ Nagel/ Stadtler (2007). 5 Vgl. auch die weiteren Publikationen von Leisen. 6 Dem IFS sei hierfür herzlich gedankt. Bei den Recherchearbeiten und der Erstellung der Synopse half Katja Pötzsch. <?page no="9"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 3 Fremdspr. Elsner 2007 Lütke 2005 Mathematik Gogolin 2007, Gogolin u.a. 2004, Gogolin/ Roth 2007, Grießhaber 2005, Grüßing/ Schmitman gen. Pothmann 2007 Gogolin 2002 Rincke/ Karsten 2007, Rauschendorf 2005 Gogolin 2002 Kügelgen 1986 Sachkunde u.a. Harnisch 1991, Grießhaber/ Özel/ Rehbein 1996 Engin 2007 Dollnick 1996, Beer 1989, Zielke 1989, Felke-Sargut et al. 1989 Physik Leisen 2006a, Leisen 2006b Demidow 1990 Demidow 1998, Travnikov et al. 2003 Höttecke 2004, Leisen 2005, Leisen/ Seyfarth 2009, Tajmel 2007, 2009 Chemie Deppner 1989, Hesse 2008, Wlotzka/ Ralle 2008 Forthaus et al. 1988, Langer et al. 2008 , Hilger 1990 Schenk 2004 Biologie Engin 2005 Baur et al. 1993, Riedel 2004 Dollnick et al. 2002 Geschichte Krischer 2005 Dollnick et al. 2002 Geographie Dollnick et al. 2002 Grundschule Hauptschule Sekundarstufe I Gymnasium Berufsschule unspezifisch <?page no="10"?> Bernt Ahrenholz 4 Eine Reihe von Aufsätzen skizzieren die Besonderheiten der sprachlichen Anforderungen im Fachunterricht - meist aber ohne empirische Überprüfungen - und beschreiben, für welche Schülergruppe in welcher Schulart und welcher Altersstufe sich welche Schwierigkeiten in Texten und mündlichen Aufgaben zeigen. Neben den großen Studien der empirischen Bildungsforschung, die aber keinen Einblick in die konkreten Schwierigkeiten der einzelnen Schüler geben, liegen vereinzelt Fallstudien zu Verstehensschwierigkeiten vor (z.B. Baur et al. 1993). Aus der umfassenden Literatur zum Textverstehen wären im vorliegenden Zusammenhang Schmölzer- Eibinger (2008) zu nennen oder Arbeiten, die u.a. auf die sprachliche Form von Lehrbuchtexten eingehen (z.B. Riedel 2004). Zum Teil wird für die Analyse des Textverstehens auch auf die Erstsprache der Schüler zurückgegriffen (Demidow 1990, 1998; Baur et al. 1993), zum Teil wird der Einsatz der Herkunftssprache im Unterricht empfohlen (Wlotzka/ Ralle 2008). Gelegentlich finden sich auch Anmerkungen zur Unterrichtskommunikation im Fachunterricht (z.B. Steinmüller/ Scharnhorst 1987, Chlosta/ Schäfer 2008). Schließlich wird auch eine Reihe von konkreten Unterrichtshilfen geboten (z.B. Engin 2005, Hesse 2008, verschiedene Texte von Leisen oder die Beiträge in Rösch 2005, ein Band, zu dem weitere Unterrichtsmaterialien erhältlich sind). Zu ergänzen wäre auch die Literatur zu bilingualem Sachfachunterricht (z.B. der Sammelband von Bonnet/ Breidbach 2004) und zu Content and Language Integrated Learning CLIL (z.B. das Themenheft zu integriertem Sprach- und Fachlernen der Zeitschrift Fremdsprache Deutsch, 2009). Aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache liegen unter dem Label Deutsch für den Fachunterricht eine Reihe von Arbeiten vor, beispielhaft sei Kruczinna (o.J., für Biologie) genannt. 7 Insgesamt zeigt der Überblick ein im Wesentlichen brach liegendes Feld für Forschung und Materialentwicklung. Der vorliegende Sammelband versucht zur Schließung bestehender Lücken beizutragen. Er geht auf einen Workshop zurück, der 2007 in der Abteilung Deutsch als Fremdsprache der Technischen Universität Dresden mit dem Ziel ausgerichtet wurde, einen vertieften Einblick in die Problematik zu gewinnen. In der Vorbereitung zeigte sich, dass es große Anstrengungen gab und gibt, didaktischen Missständen in Bezug auf DaZ und Fachunterricht abzuhelfen. Die Ergebnisse des Workshops werden in dem vorliegenden Band präsentiert und wurden um verschiedene Beiträge von einschlägig arbeitenden Fachkolleginnen und -kollegen ergänzt. In dem Beitrag von Bernt Ahrenholz werden am Beispiel einer Sachkundestunde in der Grundschule mögliche Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aufgezeigt. Thematisiert werden lexikalische Lücken im Bereich der Bildungssprache und die Schwierigkeiten, den neuen Wortschatz in den bestehenden zu integrieren und sich sprachlich angemessen am Unterricht zu beteiligen. Es zeigt sich dabei auch, dass 7 Vgl. auch http: / / www.dasan.de/ dfu/ (02.12.2009) <?page no="11"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 5 auch monolingual deutsche Schülerinnen und Schüler sich nur langsam Elemente der Bildungssprache aneignen, sie hierfür aber bessere Voraussetzungen mitbringen und folglich schneller erfolgreich sind. Wilhelm Grießhaber skizziert zunächst das Verhältnis von Fachwissen, Fachsprache und der Verwobenheit mit der Alltagssprache und geht dann am Beispiel einer Mathematikaufgabe den sprachlichen Hürden nach, die Textaufgaben bieten können. Er zeigt, inwiefern Versuche der Vereinfachung solcher Aufgaben sprachlich wie inhaltlich bedenkliche Folgen haben können; als wesentliches Defizit identifiziert er die Schwierigkeit der SchülerInnen beim Textverstehen. In didaktischer Perspektive diskutiert er das handlungsbeschreibende Konzept Wagenscheins und den Ansatz von Gibbons. Im Deutschunterricht wie in anderem Unterricht ist das Argumentieren zentral. Elke Grundler präsentiert Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum Argumentieren in einer achten Hauptschulklasse, in der sie Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache darstellt. Sie unterscheidet einerseits Inhaltswortschatz vs. Strukturwortschatz und andererseits kollektiven vs. autonomen (Inhalts-)Wortschatz, i.e. selbständig in die Diskussion eingebrachte lexikalische Ausdrücke und in der Diskussion von anderen Teilnehmern aufgenommene Ausdrücke. Es zeigen sich für viele DaZ-Schüler erhöhte Schwierigkeiten bei initiativen Beiträgen und ein deutlich geringerer autonomer Wortschatz. Allerdings gilt dies insbesondere für unvorbereitete Diskussionen, während die DaZ-Sprecher in vorbereiteten Streitgesprächen ein wesentlich ausgeprägteres initiatives Argumentationsvermögen aufweisen. Lesen fällt vielen Schülerinnen und Schülern offensichtlich nicht leicht. Dies gilt für mehrsprachige wie für monolingual deutsche gleichermaßen. Alexandra Junk-Deppenmeier und Joachim Schäfer thematisieren daher Fragen der Lesekompetenz in Anlehnung an PISA und Westhoff, um wesentliche Faktoren, die das Lesen erleichtern oder erschweren, darzustellen und anschließend unter Rückgriff auf Müller (2000) eine Differenzierung zu versuchen, welche Schwierigkeiten für „schwache“ Schülerinnen und Schüler allgemein gelten und welche aus der Sicht von Ehlers (2008) und anderen spezifisch für solche mit Deutsch als Zweitsprache sein können. Im zweiten Teil ihres Beitrages werden die möglichen Schwierigkeiten von DaZ-Schülern in der Sekundarstufe I anhand von Erfahrungen der Lese- und Schreibberatung in einer Schule in Esslingen konkret thematisiert. An vier Fallbeispielen werden Lesestrategien und Leseschwierigkeiten im Umgang mit einem Lehrbuchtext zum Bereich „Welt - Zeit - Gesellschaft“ aufgezeigt. Udo Ohm stellt in seinem Beitrag die Notwendigkeit, bildungssprachliche Mittel zu erwerben, in Zusammenhang mit dem Verfassen von schriftlichen Beschreibungen dar. Unter Rückgriff auf Vygotskij bestimmt er das Aufgabenfeld für Sprachförderung im Fachunterricht mit der Förderung „der Fähigkeit zur Steuerung des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer“ <?page no="12"?> Bernt Ahrenholz 6 in der Spannung von Objektsteuerung und Selbststeuerung. Ausgehend von dem Begriff der Bildungssprache und Cummins‘ Register CALP zeigt er dabei anhand eines Beispiels für Beschreibungen, über welche für diese Aufgabe zentralen sprachlichen Mittel Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache nicht immer ausreichend verfügen. An Beispielen werden sodann Möglichkeiten des Scaffoldings dargestellt. Helmut Johannes Vollmer und Eike Thürmann legen einen grundsätzlichen, umfassenden Versuch vor, die „Sprachlichkeit des Fachlernens“ zu erfassen. Ausgehend von ihren Arbeiten zu CLIL und unter Bezugnahme auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen wird eine Modellierung der sprachlichen Seite von Fachunterricht geboten, die versucht, die sehr allgemeine Rede von Bildungssprache oder Schulsprache, wie die Autoren sie in Anlehnung an Schleppegrell (2004) nennen, in Zusammenhang mit den spezifischen Anforderungen von Fächern und den damit einhergehenden „spezifischen sprachlichen wie kommunikativen Aufgaben und Gebrauchsmustern“ die „Sprache im Fach“ in ihren wesentlichen Aspekten darzustellen. Für diese Modellierung werden vier Dimensionen von Fachunterricht und verschiedene Felder sprachlichen Handels entwickelt. Mit diesem Ansatz wird einerseits eine erhebliche Differenzierung in Bezug auf Sprachliches im Unterricht vorgenommen, andererseits werden beispielsweise „Makrofunktionen“ wie „Erklären“ oder „Argumentieren“ als fachübergreifende Sprachhandlungen herausgearbeitet. In diesem Ansatz wird deutlich, wie das Aufgabenfeld Deutsch als Zweitsprache und Fachunterricht sinnvoll an entsprechende Vorarbeiten aus dem Bereich CLIL anknüpfen kann. Die Dimension CLIL und bilingualer Sachfachunterricht bildet auch die Folie für den Beitrag von Wolfgang Zydatiß. Er stellt mit seinem Beitrag ebenfalls in sehr systematischer Weise den gesamten Komplex von Fachunterricht in einer anderen Sprache als der Erstsprache dar und bietet aus seiner Perspektive wichtige Ansätze, die sich auf den Bereich Deutsch als Zweitsprache und Fachunterricht übertragen lassen. Neben der Entwicklung zentraler Begriffe für den bilingualen Fachunterricht und der Illustrierung der Problematik an einem Schulbuch aus der Biologie wird insbesondere auf die enge Verbindung von fachlichem Wissen und Können, sprachlicher Aneignung und Entwicklung von Denkprozessen und Einstellungen eingegangen. Beispielhaft wird auch eine Systematik bestimmter Wissensstrukturen entwickelt und insbesondere auf Diskursfunktionen abgehoben. Deutsch als Zweitsprache ist seit 2007 in Berlin und neuerdings auch in Nordrhein-Westphalen systematisch für die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer aller Fächer vorgeschrieben (vgl. Krüger-Potratz/ Supik 2010). Beate Lütke stellt in ihrem Beitrag ein Modell vor, das an der Humboldt Universität zu Berlin entwickelt wurde. Sie erläutert die DaZ-Anteile in den obligatorischen BA- und MA-Modulen und die dort vermittelten didaktische Modelle für Fachunterricht in mehrsprachigen Klassen; so stellen die Auseinandersetzung mit SIOP, Scaffolding bei Gibbons und das 3-Phasen- <?page no="13"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 7 Modell von Schmölzer-Eibinger Bestandteile der Ausbildung dar. Neben der inhaltlichen Ausgestaltung zeichnet sich das Humboldt-Modell vor allem auch durch die enge Kooperation mit den Fachdidaktiken aus. Tanja Tajmel befasst sich mit den besonderen sprachlichen Anforderungen, denen SchülerInnen mit Migrationshintergrund im naturwissenschaftlichen Fachunterricht ausgeliefert sind. Als Physikdidaktikerin begründet sie unter Verweis auf allgemeine Bildungsziele und Rahmenpläne, warum es notwendig ist, dass auch Fachlehrer sich mit Deutsch als Zweitsprache beschäftigen und präsentiert Ergebnisse einer Fachlehrerbefragung zum Thema, wonach Defizite in der Ausbildung, Überforderung und mangelnde Sprachsensibilität den Zugang zu einem auch sprachorientierten Fachunterricht erschweren. Ansätze zur Überwindung der aktuell unbefriedigenden Situation werden im PROMISE-Team entwickelt; dessen Konzeption und erste praktische Resultate werden anschließend zur Diskussion gestellt. Simone Kuplas beschreibt spezifische Anforderungen, die sich für SchülerInnen mit Migrationshintergrund im Biologieunterricht ergeben und macht didaktische Vorschläge zu ihrer Bewältigung. Am Beispiel eines Lehrbuchtextes zum Blutkreislauf des Menschen werden Verfahren der Textrezeption dargestellt, die Lesestrategien umfassen, aber auch Fragen der Textkohärenz insbesondere im Bereich der Pronomina aufgreifen. Daneben werden v.a. auch Prinzipien der Wortbildung und ihre Risiken und Chancen in der Erschließung fachsprachlicher Texte wie auch bei der Produktion eigener Texte thematisiert. Für den Übergang von der Textrezeption zur Textproduktion werden zudem verschiedene Arbeitsverfahren beispielhaft aufgezeigt. Naturwissenschaftlicher Unterricht ist auch Gegenstand des Beitrages von Sabine Schmölzer-Eibinger und Elisabeth Langer. Sie beziehen sich auf den Chemieunterricht, in dem ähnlich wie im Physikunterricht zwar relativ wenig geschrieben wird, es dennoch fachliche Texte zu verstehen gilt und die SchülerInnen sich über Texte mündlich oder schriftlich äußern müssen. Als geeignetes Mittel zur Verbesserung der in allen Fächern notwendigen Textkompetenz empfehlen sie im Rahmen einer „literalen Didaktik“ die Arbeit mit dem 3-Phasen-Modell von Schmölzer-Eibinger und illustrieren die Phasen der Wissensaktivierung, Textarbeit und Texttransformation an einem erprobten Didaktisierungsvorschlag zum Thema „Atommodelle“ und zeigen beispielhaft Umsetzungen durch Schüler. Auch der Deutschunterricht stellt eine Herausforderung für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dar. Heidi Rösch zeigt in ihrem Beitrag eine Reihe von Problemen auf, die sich für die mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler ergeben, diskutiert die Grenzen weiter Teile der Literaturdidaktik, die sich wesentlich an den Kompetenzen der monolingual deutschsprachigen Kinder orientiert und plädiert für den verstärkten Einsatz von Migrationsliteratur im Deutschunterricht. Für die Erarbeitung literarischer Texte stellt sie ein in Feriencamps erprobtes Raster zum „Knacken von literarischen Texten“ und andere produktive Verfahren vor. <?page no="14"?> Bernt Ahrenholz 8 Eine Verbindung von Deutschunterricht und Mathematikunterricht wird in dem Projekt „Verstehen durch Schreiben“ angestrebt, das Werner Knapp, Harald Pfaff und Sybille Werner vorstellen. Die Chancen, durch Schreiben zu einem vertieften Verständnis eines Gegenstandsbereichs zu kommen, sollen in einem umfassenden Projekt zum „produktiven Umgang mit mathematischen Textaufgaben“ ausgelotet werden. Vor einer Studie zu den spezifischen Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird der Ansatz in videographierten Interaktionen von Muttersprachlern in einem Prätest untersucht. Hierbei zeigen sich verschiedene Schwierigkeiten, die mathematischen Vorgaben in Aufgabenform zu versprachlichen, wobei dennoch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Aufgabe erfolgt. Die Schüler fokussieren allerdings eher das mathematische Problem als das sprachliche. Ein besonderer Fall von Fachunterricht stellt für die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund der Fremdsprachenunterricht dar. Sie starten häufig wie die anderen ohne weitere Vorkenntnisse und könnten aufgrund der vielfach konstatierten ausgeprägten Sprachbewusstheit sogar Vorteile in diesem Schulfach haben - ob dem aber wirklich so ist, oder ob eine höhere Belastung mit ungünstigen Lernresultaten vorliegt, ist bis heute strittig. Jörg-U. Keßler und Christian Paulick stellen für den (frühen) Englischunterricht die entsprechenden konträren Auffassungen dar und bemängeln die geringe wissenschaftliche Fundiertheit der einen wie der anderen Position. Sie referieren ausführlich vorhandene Untersuchungen wie DESI und EVENING - an dem die Autoren beteiligt waren - oder Elsner (2007) zum Englischerwerb bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund mit ebenfalls sehr unterschiedlichen Befunden. Eindeutig zeichnet sich hingegen ab, dass Lerner mit Türkisch als Erstsprache im Schnitt erkennbar geringere englische Sprachkompetenzen erreichen als andere und dies in den entsprechenden Fällen auch mit begrenzteren Sprachkompetenzen im Deutschen einherzugehen scheint. Allerdings besteht hier wie in Bezug auf viele andere von den Autoren angesprochene Fragen noch erheblicher Forschungsbedarf. Claudio Nodari stellt schließlich ein mehrsprachiges Wörterbuch für den Fachunterricht vor, mit Hilfe dessen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund eventuell einen besseren Zugang zu bestimmten Fachunterrichtsthemen gewinnen. Mein erster Dank gilt der Technischen Universität Dresden und der dortigen Abteilung Deutsch als Fremdsprache für die Unterstützung des Workshops. Dank sagen möchte ich auch den Autoren, die mit großer Kooperationsbereitschaft und viel Geduld das Projekt begleitet haben. Lena Hespeler und Paul Lange haben bei der Formatierung geholfen, Katja Pötzsch bei der Sichtung der Literatur, Ute Henning bei der letzten Korrektur; auch ihnen herzlichen Dank. Schließlich geht mein Dank auch an den Narr Verlag und insbesondere Jürgen Freudl, der - wie andere MitarbeiterInnen auch - für <?page no="15"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 9 eine unkomplizierte Zusammenarbeit zu nennen ist. Alle verbliebenen Fehler und Unzulänglichkeiten sind natürlich in meiner Verantwortung. Literatur Allemann-Ghionda, Cristina (2006): Klasse, Gender oder Ethnie? Zum Bildungserfolg von Schüler/ innen mit Migrationshintergrund. Von der Defizitperspektive zur Ressourcenorientierung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 52, 3, 350- 362. Barkowski, Hans (2003): 30 Jahre Deutsch als Zweitsprache - Rückblick und Ausblick. In: Info DaF, 30, 6, 521-540. Baur, Rupprecht S./ Bäcker, Iris/ Wölz, Klaus (1993): Zur Ausbildung einer fachsprachlichen Handlungsfähigkeit bei Schülerinnen und Schülern mit der Herkunftssprache Russisch. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 4, 2, 4- 38. Beer, Dagmar (1989): Ausbildungsbegleitender (Fach-)Sprachunterricht. In: Deutsch lernen, 14, 2-3, 6-26. Benholz, Claudia/ Iordanidou, Charitini/ Landesinstitut für Schule (ed.) (2005): Sprachliche Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in der Sekundarstufe I: allgemeine Überlegungen und Literaturempfehlungen. Soest. Bonnet, Andreas/ Breidbach, Stephan (eds.) (2004): Didaktiken im Dialog: Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Frankfurt a.M.: Lang. Buhlmann, Rosemarie/ Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. Tübingen: Narr. Chlosta, Christoph/ Ostermann, Torsten (2008): Grunddaten zur Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 17-30. Chlosta, Christoph/ Schäfer, Andrea (2008): Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 280-297. Demidow, Irene (1990): Fachlernen im zweitsprachlichen Unterricht: Alltagssprache versus Fachsprache. In: Zielsprache Deutsch, 30, 65-74. Demidow, Irene (1998): Zweitsprachiges Physiklernen: wie werden Fachinhalte in einer Zweitsprache verstanden? In: Deutsch lernen, 23, 2, 135-148. Deppner, Jutta (1989): Zum Fachsprachenverständnis deutscher und türkischer Schülerinnen und Schüler. Eine empirische Untersuchung am Beispiel des Faches Chemie. In: Lernen in Deutschland, 9, 4, 112-116. Dollnick, Meral (1996): "Das Ganze nennt man Bergwerk" - Beispiele zu fachsprachlichen Problemen ausländischer Kinder. In: Deutsch lernen, 21, 2, 147- 155. Dollnick, Meral/ Kroner, Undine/ Nove, Michael (2002): "Fachchinesisch für Grundschüler? " Wie finden mehrsprachige Kinder zu einem souveränen Umgang mit den schulrelevanten Fachsprachen? Handreichungen zu Deutsch als Zweitsprache. Berlin: LISUM. <?page no="16"?> Bernt Ahrenholz 10 Eckes, Heinrich/ Wilms, Heinz (1975): Deutsch für Jugendliche anderer Muttersprache. Berufsschule. München: FWU/ CVK. Ehlers, Swantje (2008): Lesekompetenz in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 215-227. Elsner, Daniela (2007): Hörverstehen im Englischunterricht der Grundschule. Ein Leistungsvergleich mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache. Frankfurt a.M.: Lang. Engin, Havva (2005): DaZ im Biologieunterricht. In: Lernchancen, 8, 48, 55-62. Engin, Havva (2007): Jeder Unterricht ist auch Sprachunterricht - Fachtexte lesen in der Sekundarstufe I. In: Lernchancen, 10, 59, 4-9. Felke-Sargut, Marianne/ Jäger, Angelika/ Nagel, Helga/ Sargut, Sener (1989): "Haben Schnecken Zähne? " Zur Verzahnung von fachlichen Inhalten und sprachlichem Lernen. In: Deutsch lernen, 14, 2/ 3, 108-130. Forthaus, Ursula/ Carmo Kuparinen, Maria do/ Marquardt, Dorothee (1988): Zweisprachige Erziehung am Max-Planck-Gymnasium in Dortmund. In: Deutsch lernen, 2, 67-81. Funk, Hermann/ Neuner, Gerhard (1987): Handreichung Fachsprache in der Berufsausbildung ausländischer Jugendlicher. Bonn: Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. Gogolin, Ingrid (2002): Mathematikunterricht ist Deutschunterricht. Über das fachliche Lernen in mehrsprachigen Klassen. In: Barkowski, H./ Faistauer, R. (eds.): ...in Sachen Deutsch als Fremdsprache: Sprachenpolitik., 51-61. Gogolin, Ingrid (2007): Herausforderung Bildungssprache. Textkompetenz aus der Perspektive Interkultureller Bildungsforschung. In: Bausch, Karl-Richard, u.a. (Hrsg.): Textkompetenzen. Tübingen: Narr, 73-80. Gogolin, Ingrid/ Roth, Hans-Joachim (2007): Bilinguale Grundschule. Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit. In: Anstatt, T. (ed.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb - Formen - Förderung. Tübingen: Attempto, 31-45. Gogolin, Ingrid u.a. (2004): Mathematiklernen im Kontext sprachlich-kultureller Diversität. Hamburg: DFG (Abschlussbericht). [http: / / www.erzwiss.unihamburg.de/ personal/ gogolin/ mathe/ Bericht-Mathe.pdf] Grießhaber, Wilhelm (2005): Sprache im zweitsprachlichen Mathematikunterricht. Verbale und nonverbale Verfahren bei der Vermittlung mathematischen Wissens. In: Braun, S./ Kohn, K. (eds.): Sprache(n) in der Wissensgesellschaft. Proceedings der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Frankfurt/ M.: Lang, 65-77. Grießhaber, Wilhelm/ Özel, Bilge/ Rehbein, Jochen (1996): Aspekte von Arbeits- und Denksprache türkischer Schüler. In: Ulonska, H./ Kraschinski, S./ Bartmann, T. (eds.): Lernforschung in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 160-179. Grüßing, Meike/ Schmitman gen. Pothmann, Angela (2007): Ohne Zahlen keine Welt und ohne Wörter guckt man sich nur an. Erkenntnisse aus dem elementarmathematischen Basisinterview bei Kindern mit Migrationshintergrund. In: Grundschulunterricht, 54, 28-32. <?page no="17"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 11 Grütz, Doris/ Pfaff, Harald (2006): Wie lesen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Sachtexte? In: Deutsch als Zweitsprache, 1, 26-31. Harnisch, Ulrike (1991): Zur Begriffsentwicklung in zwei Sprachen. Ein Erfahrungsbericht aus einem Schulversuch zur zweisprachigen Erziehung. In: Barkowski, H./ Hoff, G. R. (eds.): Berlin interkulturell. ergebnisse einer Berliner Konferenz zu Migration und Pädagogik. Berlin: Colloquium Verlag, 109- 120. Hesse, Hermann-Günther/ Göbel, Kerstin/ Hartig, Johannes (2008): Sprachliche Kompetenzen von mehrsprachigen Jugendlichen und Jugendlichen nichtdeutscher Erstsprache. In: DESI-Konsortium/ Klieme, E. (eds.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI Studie. Weinheim & Basel: Beltz, 208-230. Hesse, Sybille (2008): Wenn Schülern die Worte fehlen - Fachuntericht in Klassen mit Migrationshintergrund. In: Naturwissenschaften im Unterricht. Chemie, 19, 106/ 107, 66-71. Hilger, Bettina (1990): Türkische Mädchen und Naturwissenschaftlicher Unterricht - Ergebnis einer Pilotstudie. In: Deutsch lernen, 15, 2, 143-163. Höttecke, Dietmar (2004): Zur pädagogischen Dimension des Physikunterrichts - Was bedeutet Physikverstehen? In: Bonnet, A./ Breidbach, S. (eds.): Didaktiken im Dialog: Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Frankfurt a.M.: Lang, 265-276. Klein, Rosmarie/ Leray, Regina (1989): Ausbildung eine Gelegenheit zu systematischem Sprachlernen. In: Deutsch lernen, 14, 2-3, 28-67. Knapp, Werner (2003): Sprachunterricht als Unterrichtsprinzip und Unterrichtsfach. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (eds.): Didaktik der deutschen Sprache ein Handbuch. Paderborn (u.a.): Schöningh, 589-601. Knapp, Werner (2007): Förderunterricht in der Sekundarstufe. Welche Schreib- und Lesekompetenzen sind nötig und wie kann man sie vermitteln? In: Ahrenholz, B. (ed.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 247-264. Krischer, Barbara (2005): Fachunterricht Geschichte und Sozialwissenschaften. In: Rösch, H. (ed.): Mitteilungen. Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen - Übungsideen - Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel, 84-87. Kruczinna, Rolf (o.J.): “Mit seinem scheibenförmigen Rüssel durchfurcht das Wildschwein den humosen Waldboden.” [http: / / www.dasan.de/ dfu/ downloads/ dfugrundlagenscreen.pdf] (02.12.2009). Krüger-Potratz, Marianne/ Supik, Linda (2010): Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2. Aufl., 298-311. Kügelgen, Rainer von (ed.) (1986): Sprachunterricht im Fachunterricht: Interpretation des Zusammenhangs von fachlichem und sprachlichem Eindringen in ein mathematisches Problem am Beispiel der Unterrichtseinheit "Pythagoras" in einer Berufsvorbereitungsklasse für ausländische Schüler. Hamburg. Arbeiten zur Mehrsprachigkeit Nr. 7. <?page no="18"?> Bernt Ahrenholz 12 Kuhs, Katharina (2008): Einflussfaktoren auf die schulische L2-Kompetenz von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 395-408. Langer, Elisabeth/ Helten-Pacher, Maria-Rita/ Lasselsberger, Anna (ed.) (2008): Sprachsensibilisierung im deutschsprachigen Sachfachunterricht. Wien. [http: / / imst.uni-klu.ac.at/ imst-wiki/ images/ e/ ef/ 932_Langfassung_Langer.pdf] (02.12. 2009). Leisen, Josef (1991): Über Sprachprobleme im deutschsprachigen Fachunterricht am Beispiel des Physikunterrichts. In: Zielsprache Deutsch, 22, 3, 143-151. Leisen, Josef (2003): Methoden-Handbuch Deutschsprachiger Fachunterricht (DFU). Bonn: Varus. Leisen, Josef (2005): Richtige, reichhaltige und flüssige Sprache entwickeln. Sprachhilfen für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. In: Naturwissenschaften im Unterricht. Physik, 16, 87, 21-25. Leisen, Josef (2006a): Leseverstehen.Mit Sachtexten im naturwissenschaftlichen Unterricht umgehen lernen. In: Naturwissenschaften im Unterricht. Physik, 17, 95, 4-9. Leisen, Josef (2006b): Zweitsprache Deutsch.Übungen zum Leseverstehen für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. In: Naturwissenschaften im Unterricht. Physik, 17, 95, 32-36. Leisen, Josef/ Seyfarth, Marion (2009): Was macht das Lesen von Fachtexten so schwer? Hilfen zur Beurteilung von Texten. In: Naturwissenschaften im Unterricht. Physik, 17, 95, 9-11. Luchtenberg, Sigrid (1989): Überlegungen zur Bedeutung von Fachsprache in Vorschule und Schule: Möglichkeiten und Schwierigkeiten. In: Internationale Zeitschrift für Fachsprachenforschung, -didaktik und -terminologie, 2, 153-171. Luchtenberg, Sigrid (1991): Fachsprachenunterricht für Migrantenkinder in welchem Fach? In: Deutsch lernen, 16, 4, 380-388. Lütke, Beate (2005): Fachunterricht Deutsch und Fremdsprachen. In: Rösch, H. (ed.): Mitteilungen. Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen - Übungsideen - Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel, 81-84. Maschmann, Bärbel (1980): Sprachbedarf und Sprachverwendung in der Metallwerkstatt: Zum Verhältnis von Fach- und Deutschunterricht für ausländische Jugendliche. In: Deutsch lernen, 4, 34-52. Müller, Astrid (2000): Sachtexte lesen und verstehen - Bedeutung des Lesens und Verstehens. In: Lernchancen, 3, 13, 4-12. Müller, Annette (2005): Lesen in der Zweitsprache und die Förderung des Verstehens fachlicher Texte. In: Evi, M. (ed.): Deutsch als Zweitsprache in der beruflichen Bildung: fünf Studienbriefe zur Fortbildung von Lehrkräften. Berlin: BMBF. Neumann, Susanne/ Nagel, Clemens/ Stadler, Helga (2007): Ansätze zur Untersuchung von Barrieren von Schüler/ innen mit Migrationshintergrund im naturwissenschaftlichen Unterricht. In: Höttecke, D. (ed.): Naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Gesellschaft für Didaktik der Physik und Chemie, 475-477. <?page no="19"?> Einleitung. Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache - eine Bilanz 13 Neuner, Gerhard (1983): Förderung ausländischer Schüler in Sprach- und Fachunterricht. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien. Neuner, Gerhard (1987): Fachtheorietexte in der Berufsausbildung ausländischer Jugendlicher - Verstehensbarrieren, Verstehenshilfen, Verstehensstrategien. In: Zielsprache Deutsch, 18, 3, 36-49. Ohm, Udo/ Kuhn, Christina/ Funk, Hermann (2007): Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. Rauschendorf, Mirja (2005): Mathematik und Naturwissenschaften. In: Rösch, H. (ed.): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen - Übungsideen - Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel, 190-196. Riedel, Sabine (2004): Lernen in der zweiten Sprache. Aufgaben und Anforderungen beim Verstehen von Lehrbuchtexten des schulischen Fachunterrichts. In: Bonnet, A./ Breidbach, S. (eds.): Didaktiken im Dialog: Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Frankfurt a.M.: Lang, 77-88. Rincke, Karsten (2007): Sprachentwicklung und Fachlernen im Mechanikunterricht: Sprache und Kommunikation bei der Einführung in den Kraftbegriff. Studien zum Physik- und Chemielernen. Bd.66. Berlin: Logos. Rösch, Heidi (ed.) (2005a): Mitteilungen. Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe 1. Grundlagen - Übungsideen - Kopiervorlagen. Mitsprache. Braunschweig: Schroedel. Rösch, Heidi (2005b): Deutsch als Zweitsprache. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Braunschweig: Schrödel. Schenk, Barbara (2004): Die gesellschaftliche Dimension des naturwissenschaftlichen Unterrichts am Beispiel des Chemie - und Physikunterrichts. In: Bonnet, A./ Breidbach, S. (eds.): Didaktiken im Dialog: Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht. Frankfurt a.M.: Lang, 277- 288. Schleppegrell, Mary J. (2004): The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2008): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. Tübingen: Narr. Solinger, Susanne (2006): Sprachberatung und Coaching von Lehrerinnen und Lehrern in DaZ: Auf dem Weg zur Spracharbeit im Fachunterricht. In: Deutsch als Zweitsprache, 4, 28-34. Steindl, Michael (1979): Entwicklung bilingualer Materialien für den Fachunterricht mit Ausländerkindern. In: Zielsprache Deutsch, 3, 45-59. Steinmüller, Ulrich/ Scharnhorst, Ulrich (1987): Sprache im Fachunterricht - Ein Beitrag zur Diskussion über Fachsprachen im Unterricht mit ausländischen Schülern. In: Zielsprache Deutsch, 18, 4, 3-12. Tajmel, Tanja (2007): Sprachliche und kulturelle Diversität im Physikunterricht. In: Naturwissenschaften im Unterricht Physik, 118. Tajmel, Tanja (2009): Does Migration Backround Matter? Preparing Teachers for Cultural and Linguistic Diversity in the Science Classroom. In: Tajmel, <?page no="20"?> Bernt Ahrenholz 14 T./ Starl, K. (eds.): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster: Waxmann, 201-214. Tajmel, Tanja/ Schön, Lutz-Helmut (2007): Das Projekt PROMISE - Ein Ansatz zur Förderung von Chancengleichheit in der naturwissenschaftlichen Bildung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund. In: Hoettecke, D. (ed.): Naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich (Tagungsband der GDCP 2006). Berlin: LIT, 472-474. Travnikov, Victor/ Maksimachev, Yuri/ Wessels, Peter/ Niedderer, Hans (2003): Vergleich von Aufgabentypen und Schülerleistungen in Mechanik im 11. Jahrgang zwischen russischen und deutschen Schulen. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 9. Walter, Oliver (2008): Ethno-linguale Kompositionseffekte in neunten Klassen. Befunde aus der Klassenstichprobe von PISA 2006. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 10. Vertiefende Analysen zu PISA 2006, 169-184. Walter, Oliver/ Taskinen, Päivi (2009): Naturwissenschaftsbezogene Motivationen und Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland: Der Einfluss der Generation, der Herkunft und des Elternhauses. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 10. Vertiefende Analysen zu PISA 2006, 185-203. Wetter, Edmund (2006): Schlag auf, schau nach! Für die Grundschule. Offenburg: Mildenberger. Wlotzka, Petra/ Ralle, Bernd (2008): Experimentieren in der Muttersprache. Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht durch muttersprachliche Experimentieranleitungeneine Fallstudie. In: Naturwissenschaften im Unterricht.Chemie, 19, 106/ 107, 62-65. Zielke, Andrea (1989): Berufsfeldübergreifender, fachsprachlich orientierter Deutschunterricht. In: Deutsch lernen, 14, 2-3, 83-107. <?page no="21"?> Bernt Ahrenholz Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule Einige Schwierigkeiten, die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund häufig haben, resultieren aus Beschränkungen im Wortschatz; hierfür gibt es zahlreiche Belege. 1 Wiederholt wurde auch darauf hingewiesen, dass der Abstand zwischen den Nichtmuttersprachlern und den Muttersprachlern im Lauf der Schulzeit sich nicht unbedingt verringert, sondern die Schule selbst einen hohen Anteil neuer lexikalischer Einheiten und zunehmender Bedeutungsdifferenzierung vermittelt, der von den Nichtmuttersprachlern neben der Aufarbeitung bereits vorhandener Wortschatzlücken zusätzlich zu bewältigen ist (vgl. Apeltauer 2006b, 2008). Ein Großteil dieser neuen sprachlichen Mittel ist der Bildungssprache zuzurechnen. Da die Partizipationsmöglichkeiten am Fachunterricht von den spezifischen sprachlichen Erfordernissen des Unterrichts abhängen, sind Schülerinnen und Schüler mit eingeschränkten Sprachkompetenzen hier benachteiligt. 2 Im vorliegenden Beitrag soll dieser Frage in Zusammenhang mit Sachunterricht an der Grundschule nachgegangen werden. Hierfür wird exemplarisch ein längerer Unterrichtsausschnitt betrachtet und in Hinblick auf sprachliche Ausdrucksschwierigkeiten analysiert. 1 Allgemeinsprache - Bildungssprache - Fachsprache Für die Betrachtung von schulischem Fachunterricht und der Frage der Sprachkompetenzen der beteiligten SchülerInnen ist die Unterscheidung von Allgemeinsprache, Fachsprache und Bildungssprache (Gogolin) bzw. Schulsprache (Vollmer) von Bedeutung. Unter Allgemeinsprache werden hier die sprachlichen Ausdrucksmittel verstanden, die zur Bewältigung alltäglicher Kommunikation notwendig sind. Allgemeinsprache in diesem Sinne - und nicht als Gegenbegriff zu Fachsprache - ist eine Teilmenge der Standardsprache. 3 Entsprechende Sprachkompetenzen weisen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshin- 1 Vgl. Hepsöyler/ Liebe-Harkort (1988), Karasu (1995), Baur et al. (1993), Harnisch (1991, 1993), Ott (1997, 2002), Benholz/ Lipkowski (2000), Apeltauer (2008) u.v.a. 2 Hierzu ist auch ein gewisser Prozentsatz an monolingual deutschen Schülern zu rechnen, die zumeist aus bildungsfernen Elternhäusern kommen (vgl. PISA- und DESI- Befunde). 3 Vgl. Buhlmann/ Fearns (2000) und für eine detaillierte Darstellung der Begrifflichkeiten Hoffmann (1998, 2001) und Jakob (1998). <?page no="22"?> Bernt Ahrenholz 16 tergrund - sofern sie nicht Seiteneinsteiger sind - im Allgemeinen bis zu einem gewissen Grad und für bestimmte Domänen auf. Allerdings bestehen auch hier Beschränkungen hinsichtlich der Sprachkompetenz, die nicht immer sofort sichtbar werden (vgl. Knapp 1999) und die das Verstehen von Schulbuchtexten erschweren (vgl. Baur et al. 1993). Allgemeinsprache in diesem Sinne schließt mithin Merkmale von BICS (Basic Interpersonal Communicative Skills) mit ein. Cummins versteht hierunter den alltäglichen Gebrauch von Sprache in situativen Kontexten, deren Kommunikation durch para- und nonverbale Mittel unterstützt wird (Cummins 2000, 59); die Allgemeinsprache und BICS sind konzeptionell eher mündlich (im Sinne von Koch/ Oesterreicher 1994). In Abgrenzung zu BICS sieht Cummins in der Cognitive Academic Language Proficiency (CALP) ein Register, das sich durch dekontextualisierten Sprachgebrauch auszeichnet und weitgehend ohne Unterstützung non- oder paraverbaler Mittel verwendet wird (Cummins 2000). Für den deutschen Sprachgebrauch hat Gogolin hierfür den Begriff Bildungssprache eingeführt. Sie versteht Bildungssprache als ein Register, das Merkmale formaler Rede trägt und an der Schriftsprache orientiert ist. Wohlgeformtheit und Kohärenz bei der Produktion längerer Texte gehört ebenso dazu wie eine Differenzierung nach Domänen sowie „lexikalische Dichte“ und der Einsatz fachsprachlicher Redemittel (vgl. Gogolin 2006, 2007, 73ff.). Die genauen sprachlichen Merkmale von Bildungssprache sind bisher nicht umfassend dargestellt. Gogolin/ Roth (2007) verweisen v.a. auf unpersönliche Ausdrücke, Substantivierungen, Konjunktiv oder Passivgebrauch, sprachliche Mittel also, die auch als typisch für Fachsprachen angesehen werden (vgl. Buhlmann/ Fearns 2000), aber auch in weniger spezialisierten Texten wie Schulbüchern vorkommen (ebd.). Auch Baur et al. (1993) zeigen an einem Schulbuchtext v.a. Passivformen, komplexe Partizipialattribute, uneingeleitete Konditionalsätze als typische und schwierige Sprachstrukturen in Schulbüchern auf. Ähnlich ist auch das bei Luchtenberg (1992) aufgeführte Repertoire fachsprachlicher Mittel oder die Darstellung in Chlosta/ Schäfer (2008); eine umfangreiche Darstellung findet sich auch in Ohm et al. (2007). Eine weitere Differenzierung des Begriffs bieten Vollmer und Zydatiß (in diesem Band). Sie erarbeiten in Zusammenhang mit der Entwicklung von CLIL eine umfassende Systematik und stellen u.a. jene lexikalischen und diskursiven sprachlichen Mittel heraus, die fachübergreifend immer wieder gefordert sind, also Diskursfunktionen wie Benennen, Beschreiben, Erklären und Argumentieren. Im Gegensatz zu Bildungssprache bezeichnet Fachsprache im schulischen Kontext jene sprachlichen Mittel, die für ein bestimmtes Schulfach typisch sind (einen Winkel bestimmen, Photosynthese, Industrialisierung), also Fachtermini und spezifische Kollokationen, aber auch Eigenarten fachspezifischer Diskurse und Textsorten. In Bezug auf Lernschwierigkeiten zeigt sich allerdings, dass es die Fachtermini häufig gerade nicht sind, die den Lernerfolg bremsen, sondern die komplexen sprachlichen Formen v.a. der schriftli- <?page no="23"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 17 chen Texte in Schulbüchern oder anderen Quellen (Steinmüller/ Scharnhorst 1987). Chlosta/ Schäfer (2008) unterscheiden wiederum zwischen Alltags- und Umgangssprache, Fachsprache und Unterrichtssprache, wobei das Fachsprachliche v.a. in den Schulbuchtexten gesehen wird, und die Unterrichtssprache als etwas beschrieben wird, das alltagssprachlich geprägt ist und die Schüler auf die Anforderungen der konzeptionellen Schriftlichkeit meist sehr unzureichend vorbereitet, ein Befund, der sich beispielsweise auch bei Steinmüller/ Scharnhorst (1987, 10) findet. Allgemeinsprache, Bildungssprache und Fachsprache sind folglich nicht immer trennscharf und jeder Text, jede Unterrichtskommunikation wie auch jeder Fachdiskurs hat in unterschiedlichem Maße Elemente aller drei Register. Unterschiede zeigen sich aufgrund des unterschiedlichen Grades an Spezialisierung in den verschiedenen Schultypen und Klassenstufen, wobei auch in der Grundschule Bildungssprache bereits von zentraler Bedeutung ist. 2 Lernen und Sprache Die Bedeutung der Sprache und der enge Zusammenhang von Sprachkompetenz, Spracherwerb und Aneignung sachbezogenen Wissens und gedanklicher Verarbeitung und Aneignung von Wirklichkeit steht außer Frage und wird u.a. von Zydatiß (in diesem Band) diskutiert. Lernen heißt - in welchem Fach auch immer - Aneignung von Sprache. Das jeweilige Repertoire an lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ist von größter Bedeutung, wobei insbesondere auch Fragen der Kollokationen und des Registers wichtig sind. Mit Schulbeginn verfügen monolingual deutschsprachige Kinder über ca. 3000-5000 Wörter, viele Kinder mit Migrationshintergrund hingegen über deutlich weniger (Apeltauer 2004). Für letztere bietet sich aufgrund der unterschiedlichen Sprachbiographien ein sehr heterogenes Bild. Umfassende und zuverlässige Untersuchungen gibt es kaum (vgl. Überblick in Eckhardt 2008, 35ff.), aber es zeigen sich fast immer signifikante Unterschiede zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, wobei häufig auch Basisbegriffe aus dem Allgemeinwortschatz fehlen (vgl. Baur et al. 1993). Mit dem Eintritt in die Schule tritt neben den in der alltäglichen Kommunikation wachsenden Wortschatz der Sprachgebrauch im Unterricht. Nach Apeltauer (2008, 244) werden in allen Fächern zusammen ca. 3000 neue Wörter pro Schuljahr eingeführt (während im Englischunterricht beispielsweise nur ca. 500-600 Wörter pro Jahr eingeführt werden). Die Schülerinnen mit Migrationshintergrund werden also neben dem alltäglichen Lexikerwerb noch mit ca. zehn neuen Wörtern pro Tag belastet. Hierbei ist zu beachten, dass der eingeschränkte allgemeinsprachliche <?page no="24"?> Bernt Ahrenholz 18 Wortschatz die Aufnahme neuer Wörter erschwert, da weniger Vernetzung, Ableitung oder Analogiebildung möglich ist. Wortschatzerwerb braucht Zeit. Zwar werden manchmal einzelne Begriffe auch nach einmaligem Hören gespeichert, im Allgemeinen handelt es sich jedoch um einen langsamen Prozess des Identifizierens, der Bedeutungserschließung, der syntagmatischen und paradigmatischen Einbettung und zunehmenden Vernetzung (vgl. Apeltauer 2006a, 22). So gelingt die Identifizierung von Wörtern im Redefluss - in Abhängigkeit vom Sprachstand - zumeist erst nach mehreren Wiederholungen. Eigenständiger Wortgebrauch erfordert wiederum zusätzliche Zeit und gilt gleichzeitig als wesentlich für die Entwicklung der Lernersprachen (vgl. Apeltauer 2008, 248; Swain/ Lapkin 1995). Lernen bedeutet nicht nur Aneignung von Sprache, sondern umgekehrt ist Wortschatz auch immer Voraussetzung für Lernen. Nur wenn ich verstehe, was die Lehrerin oder die anderen SchülerInnen sagen, kann ich neues Wissen aufnehmen oder spezifizierend nachfragen. Apeltauer (2008, 241) verweist auf Laufer (1997) und Pigada/ Schmitt (2006), wonach bereits 3-5% nicht verstandene Wörter das Textverstehen blockieren. Nun gibt es kaum Untersuchungen zu rezeptiven lexikalischen Kompetenzen bei Kindern mit Migrationshintergrund. Zu den wenigen Arbeiten gehört Eckhardt (2008), die zeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund beim Hörverstehen insbesondere in Bezug auf den Erwerb der akademischen Sprache deutlich geringere Leistungen aufweisen (vgl. auch Müller 2008 bzw. Eckhardt 2010). Die Aufnahme und Verarbeitung schulischer Unterrichtung ist also häufig nicht unerheblich durch fehlende Sprachkenntnis eingeschränkt. 3 Sachunterricht Zu Sachunterricht und Deutsch als Zweitsprache liegen einige wenige Arbeiten vor (vgl. Einleitung in diesem Band). Für die Grundschule hat beispielsweise Luchtenberg (1991) auf die vielfältige Präsenz von Fachsprachlichem im Schulunterricht hingewiesen, auf eine „Schulfachsprache“ (ebd., S. 149). Anhand von Schulbuchtexten verweist sie - wie oben genannt auf verschiedene übergreifende Merkmale, Fachspezifisches kommt hinzu. Sie stellt auch die Bedeutung von Abkürzungen und Nominalisierungen sowie Bildern, Zeichnungen und Graphiken heraus. Harnisch (1991) zeigt in einem Bericht über einen Modellversuch zur zweisprachigen Erziehung in der Grundschule, inwieweit der lange Prozess des Lexikerwerbs und der Bedeutungsdifferenzierung im Sachkundeunterricht zu Nichtverstehen und Fehlannahmen führt. Bei Unterrichtsbeobachtungen in einer dritten Klasse ergibt sich, dass abstrakte Begriffe wie Säule, Flüssigkeit und Ausdehnung oft weder in der Erstnoch in der Zweitsprache bekannt sind und in der Erstbegegnung mit diesen Begriffen verkürzte Referenzen hergestellt werden. So wird Säule als Ausdruck für Glasrohr interpre- <?page no="25"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 19 tiert. Weiter sind auch Erklärungen vom Lehrer aufgrund von eingeschränkten Lexikkenntnissen z.T. unverständlich; so wird z.B. bei der Erläuterung von Ausdehnung der Begriff Richtung nicht verstanden. In anderen Fällen führt kulturspezifisches Hintergrundwissen zu einer Uminterpretation von Aufgaben, was in dem zweisprachigen Modellversuch aber erst in dem Unterricht auf Türkisch deutlich wird. Harnisch sieht folgende Gefahren: „die Begriffe werden nicht klar umrissen, es fehlen Merkmale, oder der Begriff wird an falsche Merkmale fixiert. Gelernt werden auf diese Weise undeutliche Aussagen oder Regeln, die in einer leicht veränderten konkreten Situation nicht gültig erscheinen. Die abstrakte Ebene, d.h. eigentlich die wissenschaftliche Ebene, wird nicht erreicht, weil das Gelernte an konkrete vorgeführte Gegenstände geknüpft bleibt. Eine Bearbeitung solcher Lernprozesse in der Muttersprache kann ganz entscheidend zu einer Klärung beitragen.“ (ebd., 116) Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die erwähnte Studie von Baur et al. (1993) zu Seiteneinsteigern im Fachunterricht in der Sekundarstufe I. Sie thematisieren Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man nach einem Jahr Vorbereitungszeit in den Regelunterricht eingegliedert wird. Es werden erhebliche Verständnisschwierigkeiten bei einem Schulbuchtext aus dem Fach Biologie festgestellt (wobei das Textverständnis auch mithilfe der Erstsprache Russisch überprüft wurde). Insbesondere im lexikalischen Bereich erwiesen sich viele Begriffe als erklärungsbedürftig, darunter sowohl, Tätigkeit oder anbot und auch trennbare Verben wie tritt (ein), die als solche nicht erkannt werden. Es sind allesamt lexikalische Mittel, die die Autoren als dem Grundwortschatz zugehörig ansehen (ebd., 22; ähnlich Menk 1989). 4 Eine Sachkundestunde Um Aussagen über lexikalische Kenntnisse bei Lernern machen zu können, gibt es verschiedene methodische Wege. Eine Möglichkeit besteht in dem Einsatz von Wortschatztests, ein anderes Verfahren wäre die Analyse von Performanzdaten komplexer Aufgaben, bei denen man die unterschiedlichen verwendeten lexikalischen Mittel erhebt. In beiden Fällen ist auch ein Vergleich mit Daten monolingual deutschsprachiger Kinder derselben Altersgruppe und vergleichbarem sozialen Kontext oder vergleichbarem Schulkontext notwendig. Im Folgenden wird in einer kleinen explorativen Fallstudie eine Sachkundestunde in Hinblick auf die vermittelten und verwendeten bildungssprachlichen Mittel betrachtet. Dabei wird nach einer Kurzbeschreibung der Stunde zunächst eine quantitative Beschreibung zu Wortverwendungen der Beteiligten gegeben, es folgt eine Einschätzung der Verwendungshäufigkeiten und Kontexte für die betrachteten Begriffe und ihr Gebrauch in der Unterrichtsstunde. Dabei werden die unterschiedlichen <?page no="26"?> Bernt Ahrenholz 20 Realisierungen im Kontext und vor allem das Auftreten von Selbst- oder Fremdkorrekturen und/ oder -reparaturen bzw. Bitten um Hilfen bei lexikalischen Fragen als Indikator für Wortschatzprobleme genutzt (vgl. Rost-Roth 2009). 4.1 Der Aufbau der Unterrichtsstunde Es handelt sich um eine Sachkundestunde in einer dritten Grundschulklasse. Thema der Unterrichtseinheit ist das Thermometer und seine Funktionsweise, ein typisches Grundschulthema. Vor der betrachteten Unterrichtsstunde wurden die Schülerinnen und Schüler anhand von Experimenten mit einigen Grundtatsachen vertraut gemacht. Sie hatten eine Flüssigkeit erhitzt und deren Ausdehnung bei Erwärmung und Zusammenziehung bei Abkühlung beobachtet und dabei auch zentrale Begriffe erarbeitet. Der Unterricht umfasst zunächst ein Klassengespräch von ca. vier Minuten, in dem die vorgängige Stunde rekapituliert wird; hierbei werden auch einige neu gelernte Ausdrucksmittel wiederholt, und zwar die vier verbalen Ausdrücke sich ausdehnen, sich zusammenziehen, sich erwärmen, sich abkühlen. Im zweiten Schritt wird das Ablesen der Temperatur von einem Thermometer mit Hilfe eines Arbeitsblattes geübt; die Aufgabenstellung wird dabei zunächst an der Tafel erläutert; hierbei werden auch die Begriffe Siedepunkt und Gefrierpunkt eingeführt und an der Tafel festgehalten. Auf dem Arbeitsblatt sind mehrere Thermometer abgebildet und die SchülerInnen müssen die jeweilige Temperatur ablesen und im Arbeitsblatt eintragen. Anschließend wird der handlungsorientierte Teil der Stunde eingeleitet, in dem die Schülerinnen und Schüler an verschiedenen Punkten im Klassenzimmer die Temperatur messen sollen. Die Messorte werden hierfür über „Losnummern“ verteilt; danach werden die Messungen durchgeführt. Nach den Messungen und Einträgen in ein Arbeitsblatt werden die Ergebnisse an der Tafel gesammelt. Es folgt eine Diskussion über die Frage, warum in einem Klassenzimmer an verschiedenen Messorten unterschiedliche Temperaturen zu beobachten sind. Den Abschluss bildet eine weitere schriftliche Aufgabe, bei der auf einem Arbeitsblatt verschiedene Temperaturen zu einem fiktiven Klassenzimmer eingetragen werden. Der Unterricht findet im Rahmen des sogenannten Verfügungsunterrichts statt und es handelt sich um eine Teilungsstunde, so dass nur die halbe Klasse teilnimmt. Insgesamt sind elf Schülerinnen und Schüler anwesend, sechs mit Deutsch als L1, zwei mit Arabisch und drei mit Türkisch als L1. 4 Der Unterricht findet im Dezember statt, also ca. vier Monate nach Beginn der dritten Klasse; die Kinder sind ca. acht bis neun Jahre alt. 4 Der Unterricht wurde im Rahmen des DFG-Projektes Förderunterricht und Deutsch als Zweitsprache (FöDaZ) aufgezeichnet, in dem die mündlichen Sprachkompetenzen von <?page no="27"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 21 In Bezug auf das sachkundliche Lernen scheint die Unterrichtseinheit zu gelingen. Der Zusammenhang von Temperatur und Volumen von Flüssigkeiten wird deutlich und die Kinder können ein Thermometer ablesen. Wieweit sie lernen, wie und warum unterschiedliche Temperaturen in einem Raum aufzufinden sind, bleibt offen. In Bezug auf die sprachliche Seite des Lernprozesses zeigt sich eine Reihe von Problemen, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Neun Nomen und acht Verben sind Gegenstand von Korrekturbzw. Reparatursequenzen und erweisen sich damit als problematisch: Thermometer, Messgerät, Glasbehälter, Röhrchen, Gaskocher, Flüssigkeit, Gefrierpunkt, Siedepunkt, Messort sowie kochen (i.S.v. erhitzen), sich ausdehnen, sich erwärmen, sich zusammenziehen, sich abkühlen, hochsteigen, gefrieren, sinken; als problematisch erweist sich auch der Gebrauch von ablesen und erhitzen, der aber nicht korrigiert wird. Einige - hier unterstrichene - Ausdrücke werden an der Tafel ausdrücklich präsentiert, alle Ausdrücke scheinen in der Vorstunde bereits thematisiert worden zu sein. 4.2 Quantitative Aspekte der Wortverwendungen Vor einer genaueren Analyse der Schulstunde sei ein quantitativer Überblick in Bezug auf die Wortverwendungen gegeben. In der Unterrichtsstunde dominieren erwartungsgemäß die Redebeiträge der Lehrerin LE, z.T. auch, weil ihre Versuche, die SchülerInnen zum Reden 5 Types Tokens Type/ Token Ratio LE4 670 2900 0.231 AJ1 199 484 0.411 AM1 53 72 0.736 DJ5 18 19 0.947 DJ6 63 108 0.583 DJ7 89 177 0.503 DM1 64 96 0.667 DM5 83 231 0.359 DM6 44 63 0.698 TJ3 125 251 0.498 TM2 39 58 0.657 Tab. 1. Wortfrequenzen in der Sachkundestunde Schülern in der dritten und vierten Grundschulklasse in einer Longitudinalstudie untersucht wurden (vgl. Ahrenholz 2005, Ahrenholz 2006). 5 LE4 ist die Lehrerin. In den anderen Siglen bezeichnet der erste Buchstabe die Familiensprache (Türkisch, Arabisch, Deutsch), der zweite identifiziert Jungen und Mädchen. <?page no="28"?> Bernt Ahrenholz 22 zu animieren, scheitern. Wesentlich handelt es sich aber in der hier betrachteten zentralen Phase um fragend-entwickelnden Unterricht. Auffallend sind auch die großen Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern. Insbesondere AJ1 und TJ3 zeigen eine aktive Teilnahme; die Betrachtung ihrer Redebeiträge (s.u.) zeigt jedoch, dass sie dennoch sprachlich vielfach scheitern. Von den fünf Kindern mit Migrationshintergrund nahmen vier an den Einzeluntersuchungen des FöDaZ-Projektes teil (AJ1, AM1, TM2, TJ3 sowie DM1 mit Deutsch als Erstsprache). Alle haben nach den Profilstufen von Grießhaber die vierte Stufe erreicht (Verb-End in Nebensätzen), aber z.T. zeigen sich Besonderheiten in ihren Lernersprachen insbesondere im Bereich der Genuszuweisung, der Nominalflexion und im Präpositionengebrauch. Mithilfe von Daten aus verschiedenen FöDaZ-Aufnahmen kann man das Bild etwas differenzieren, das sich aus der Beteiligung am Unterricht ergibt. Denn untersucht man die Wortverwendungen unter kontrollierteren Bedingungen, so zeigt sich, dass DM1, die sich am Unterricht wenig beteiligt, einen ausgeprägteren Wortschatz hat als AJ1, TM2 und TJ3. Hierfür wurden mündliche Erzählungen zu Bilderfolgen und einem Film ausgewertet 6 und zwar vergleichend für die dritte und vierte Grundschulklasse: AJ1 TM2 TJ3 DM1 3.Kl. 4.Kl. 3.Kl. 4.Kl. 3.Kl. 4.Kl. 3.Kl. 4.Kl. Tokens 1111 1272 388 945 781 658 1192 1644 Types 268 406 138 254 235 225 381 465 TTR 0.225 0.318 0.365 0.261 0.278 0.329 0.307 0.269 Tabelle 2. Wortfrequenzen in Erzählungen in der 3. und 4. Grundschulklasse Das Bild zeigt für drei der vier Kinder eine z.T. deutliche Zunahme an tokens wie v.a. auch an types. Aber TM2 und TJ3 verwenden im Vergleich zu DM1 nur wenig mehr als die Hälfte der types und für AJ1 zeigen sich in Bezug auf die Type-Token-Ratio ebenfalls deutliche Unterschiede zu DM1. 4.3 Fachsprachlichkeit Einige der hier betrachteten Begriffe sind expliziter Gegenstand des Unterrichts und schon aus diesem Grunde der Schulsprache oder Bildungssprache zuzuordnen. Der Lehrplan sieht vor, nicht nur bestimmte lebensweltlich bedeutsame physikalische Prinzipien und Verfahren zu vermitteln, sondern auch eine entsprechende Begrifflichkeit, also u.a. Thermometer und die an der 6 Von den Aufnahmen des FöDaZ-Projektes wurden die Bilderfolgen Frog Story, Horse Story, Cat Story und die Filmnacherzählung Reksio berücksichtigt, die über das Schuljahr verteilt erhoben wurden (vgl. Ahrenholz 2006); die Zahlen beziehen sich auf alle genannten Erzählungen jedes Kindes pro Schuljahr. Für AM1 liegen keine vollständigen Vergleichsdaten vor. Bei der Auswertung half Isabel Fuchs. <?page no="29"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 23 Tafel präsentierten Wörter Gefrierpunkt, Siedepunkt, sich erwärmen, sich ausdehnen, sich zusammenziehen und sich abkühlen. Da diese Begriffe für alle Kinder Gegenstand des Unterrichts sind, besteht nicht die Erwartung, die Kinder verfügten bereits über diese Mittel; auch die monolingual deutschen Kinder müssen sie lernen. Während Gefrierpunkt und Siedepunkt sich vermutlich ohne Vorbehalt als bildungssprachlich oder auch fachsprachlich charakterisieren lassen, ist dies für Thermometer, Behälter, Röhrchen, Gaskocher vielleicht weniger eindeutig, während die Verben in der relevanten Bedeutung ebenfalls eher als der Bildungssprache zugehörig aufgefasst werden können. Um die intuitive Einschätzung von Vorkommenshäufigkeiten und Kontexten zu ergänzen, wurden für einige Begriffe auch die Korpora des Deutschen Spracharchivs am IDS-Mannheim (DSAv) und das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jh. an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (DWDS) konsultiert. 7 Das DSAv umfasst ca. 3100 Transskripte unterschiedlichster Art mit 5.754.445 Wörtern, darunter 145.995 verschiedene Wortformen (Stand 2007). Das DWDS umfasst 100 Mill. Tokens, das Subkorpus Gesprochene Sprache (GSK DWDS) 2,5 Mill. Tokens. Beide Bezugsgrößen sind natürlich nur begrenzt aussagekräftig, da familiäre Kommunikationen oder schulische Kommunikationen z.T. deutliche andere Vorkommen verzeichnen könnten. Ausdruck DSAv DWDS GSK DWDS Thermometer 8 366 2 *Behälter 37 951 2 *Röhrchen 8 (davon 2 Glasröhrchen) 227 1 (Glasr.) sich ausdehnen 7 ? (1355) 2 ausdehnen 6 3881 16 sich zusammenziehen 1 ? 0 zusammenziehen 5 715 2 sich abkühlen 0 ? 0 abkühlen 14 418 1 sich erwärmen 9 ? 2 erwärmen 5 758 1 Tab. 3. Wortfrequenzen im DSAv und DWDS. *Behälter und *Röhrchen bedeutet, dass auch alle Komposita mit diesen Begriffen als Grundwort erfasst wurden. ? = keine Auswertung, da für reflexive Verben im DWDS kein brauchbarer Filter existiert. 7 http: / / agd.ids-mannheim.de/ html/ dsav.shtml; http: / / www.dwds.de/ (15.5. 2009) <?page no="30"?> Bernt Ahrenholz 24 Die Tabelle verzeichnet die Anzahl der Lemmata (DWDS) bzw. Tokens inkl. verschiedener Wortformen ohne eine semantische Analyse (i.e. andere Bedeutungen sind eingeschlossen). Es zeigt sich, dass die zentralen Begriffe der Unterrichtsstunde nicht nur der Schulsprache zuzurechnen sind, sondern in anderen Kontexten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eher in schriftlichen Texten aufzufinden sind und als konzeptionell schriftlich (im Sinne von Koch/ Oesterreicher 1994) eingestuft werden können und damit eher bildungssprachliche Merkmale haben. Thermometer Der Begriff Thermometer kann einerseits als fachsprachlicher Begriff gelten, ist aber vielleicht auch der Familiensprache zurechenbar. Wie bei allen lexikalischen Ausdrücken in den offenen Klassen Nomen, Verben und Adjektive hängt der Erwerb wesentlich auch von der Alltagspraxis und dem dabei erworbenen Weltwissen und dessen sprachlicher Fassung ab. 8 Im DSAv finden sich acht, im GSK des DWDS zwei Vorkommen (DWDS insgesamt 366). Wetter (2006) verzeichnet Thermometer als Teil des Grundwortschatzes für die zweite Klasse. In dem für Schulen gedachten Grundwortschatz Deutsch-Türkisch von Roose/ Roose-Hagedorn (1984) findet sich Thermometer hingegen nicht und auch der Grundwortschatz für das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache (für Erwachsene) verzeichnet es nicht (DIE et al. 1999) Für die Schülerinnen und Schüler ist der Begriff Thermometer spätestens in der ersten Stunde der Unterrichtseinheit in der Woche zuvor eingeführt worden. Aber als die Lehrerin fragt, wer sich an diese Stunde erinnert, wissen verschiedene den Begriff nicht mehr: 9 0001 *LE4: letzte woche hatten wir mal # auch eh sachkunde -. *LE4: und da haben wir ## hier vorne ein experiment gemacht -. *LE4: wer kann sich noch daran erinnern? *LE4: #2# AJ1 ? 0005 *AJ1: ## wir wolltn ein temperatur # dingsdabumsda machen -. *LE4: irgendwas mit temperatur -. *LE4: richtig -. *TJ3: wir wollten # ein dings baun # mess-` +/ . äh *AJ1: ### mess(gerät)-. 0010 *LE4: pscht! *TJ3: ### ein messgerät -.ja bauen 8 Auch wenn es eher fraglich erscheint, dass die hier betrachteten Kinder, die seit dem Kindergartenalter Deutsch lernen und in Berlin eingeschult wurden, auf ihre sonstigen sprachlichen Kompetenzen zurückgreifen, sei angemerkt, dass es im Türkischen auch termometer heißt; eine Ähnlichkeit, die nach Kellerman (1979) allerdings auch gerade zu Übertragungsvermeidung führen könnte. Im Arabischen liegt hingegen keine Ähnlichkeit vor. 9 Die Transkriptionskonventionen sind im Anhang dargestellt. <?page no="31"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 25 *LE4: ### ein messgerät -'. *LE4: is auch richtig -. 0015 *LE4: ein messgerät für temperatur -'. *LE4: und das hat einen besonderen namen -'. *? ? ? : xx nochma *AM1: mh’ hier *LE4: ### AM1? 0020 *TM2: ### temperaturmeter -. *LE4: nee DM1-? *DM1: ein thermometer -. *LE4: ### ganz genau -. *LE4: ein thermometer -. Die Schülerinnen und Schüler erinnern sich an das Experiment und benennen das Ziel der Unterrichtsstunde. Auffallend ist, dass der Begriff Thermometer in dieser zweiten Sachunterrichtsstunde von drei Kindern nicht genau erinnert wird, dessen Konzept aber präsent ist. Für AJ1 ist es ein temperatur dingsdabumsda. Er verwendet hier wie an andere Stelle dings oder ähnliche Konstruktionen als Platzhalter für fehlende Ausdrücke, zum Teil mit einem Vagheitsmarker so ein. Auch TJ3 hilft sich zunächst mit ein dings und erinnert dann (ein) mess-’ eh - wobei die steigende Intonation und das nachgeschobene eh darauf hindeuten, dass er einen zweiten Teil des Kompositums sucht - woraufhin AJ1 ihm mit messgerät hilft; TM2 schließlich bildet das phonetisch ähnliche und funktional genaue temperaturmeter. DM1 (mit Deutsch als Erstsprache) kennt dann den richtigen Begriff. Im weiteren Verlauf des Unterrichts wird der Begriff Thermometer zwar noch mehrfach erwähnt, aber stets nur von der Lehrerin. Wenn die Schülerinnen und Schüler überhaupt auf das Messgerät referieren, verwenden sie unspezifische deiktische Ausdrücke wie das. In dem obigen Ausschnitt zeigt sich bereits beispielhaft, was auch im weiteren Unterricht deutlich wird: a) Wenn Ausdrücke fehlen, wird mit vagen Platzhaltern gearbeitet (ding). b) Es besteht ein Wissen über Wortbildungsprinzipien (ein messgerät für temperatur > temperaturmeter), was als produktive Strategie zwar zu sinnhaften, aber nicht immer üblichen Ausdrücken führt. c) Den Kindern mit Deutsch als Erstsprache gelingt es tendenziell eher, den Fachunterricht sprachlich zu bewältigen. Es zeigt sich also - in der hier betrachteten Stunde - eine Diskrepanz zwischen der Aneignung sachfachlichen Wissens, das in diesem Fall auch bei den Schülern mit Migrationshintergrund zu gelingen scheint, und der sprachlichen Verarbeitung dieses Wissens. Glasbehälter und Glasröhrchen Sind Glasröhrchen und Glasbehälter bildungssprachliche Begriffe? Die Vorkommenshäufigkeiten in den berücksichtigten Korpora sprechen tendenziell dafür, *Behälter und auch *Röhrchen als Ausdruck konzeptioneller Schriftlichkeit zu verstehen, wobei auffällt, dass unter den wenigen Vor- <?page no="32"?> Bernt Ahrenholz 26 kommen in den Korpora gesprochener Sprache auch immer Glasröhrchen verwendet wird (vgl. Tab. 1). 0055 *AJ1: dieses mit lebensmittelfarbe -. *AJ1: habn wir da reingegossn -. *LE4: ### in was haben wir die reingegossen -? *AJ1: in[/ ] in # dieses ### glasstrohhalm-. *LE4: ja -. 0060 *LE4: aber ham wir da ## nur lebensmittelfarbe rein -? *AJ1: [<] nein das haben wir noch heiß/ [>] *DJ6: [<] nee nee - das ham wir. [>] [Lehrerin hebt Hand, damit AJ1 schweigt] *DJ6: erstmal das aufgebau 0065 *DJ6: dann kommt xx glas <mit wasser> [/ / ] mit heissem wasser -. *DJ6: glaube ich eingefüllt-. *LE4: xx wasser -. *DJ6: dann habn wir die lebensmittelfarbe reingemacht -. *DJ6: dann habn wir nen stab reingemacht so 0070 *TM2: ströhlchen oder so *DJ6: reingemacht -' # xx xx -'. *DJ6: nee, so n’ rohr, so ein kleines röhrchen-'. AJ1 erinnert sich nur vage an Behälter (so ein glas, so ein glasbe/ eh so ein dings). Auch an Glasröhrchen erinnert sich AJ1 nicht; er greift zu einem sehr ähnlichen Ausdruck, in dem sein alltagssprachliches Wissen integriert wird: glasstrohhalm. Aber auch DJ6 kommt nicht sogleich auf den „Fachbegriff“: dann haben wir nen stab reingemacht und TM2 verbessert ihn ströhlchen oder so, woraufhin DJ6 sich erinnert ne, so n rohr, so ein kleines röhrchen. sich ausdehnen, sich zusammenziehen, sich erwärmen, sich abkühlen Die Verben ausdehnen, zusammenziehen, sich erwärmen, sich abkühlen sind Teil der explizit vermittelten Bildungssprache. Sie wurden in der Woche zuvor eingeführt und werden in der hier betrachteten Stunde auch an der Tafel präsentiert und zwar in zwei Fällen als reflexive Verben, in zwei Fällen nicht, wobei die Lehrerin ausdehnen kurz nach der Präsentation an der Tafel reflexiv und dann in einer Selbstkorrektur alternativ ohne Reflexivpronomen verwendet. Alle vier Verben sind für die Kinder in dem Sinne fremd und bildungssprachlicher Natur, als sie hier in Ausdrücken verwendet werden, die kein belebtes Agens haben. Es geht um Flüssigkeiten, die sich ausdehnen, sich zusammenziehen, sich erwärmen und sich abkühlen, weswegen auch alle vier Verben in dem gegebenen Kontext reflexiv verwendet werden. Alle können auch mit einem belebten Agens verwendet werden, z.T. allerdings mit anderer Bedeutung. Alle vier scheinen zudem in gesprochener Sprache auch weniger häufig zu sein, jedenfalls in dem hier in Betracht stehenden Sinne - sind also eher der konzeptionellen Schriftlichkeit zuzuordnen. Während erwärmen und abkühlen vielleicht auch in anderen familiären Kontexten vorstellbar sind (eine Suppe erwärmen), scheint mir sich <?page no="33"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 27 zusammenziehen vor allem in Zusammenhang mit der Veränderung von Volumen von Materie zu stehen; sich ausdehnen findet v.a. auch für abstraktere Phänomene Anwendung: Ritzen dehnen sich aus, wo man sich ausdehnen kann (=wo man Platz hat) (Freiburger Korpus im DSAv, 195), eine Ortschaft dehnt sich aus (Pfeffer Korpus im DSAv, 157); beide Verben haben in jedem Fall in der nicht-reflexiven Version ebenfalls eine größere Bedeutung. Entsprechend zeigen verschiedene Kinder auch Schwierigkeiten in der Verwendung der Verben. Vom Verb ausdehnen wird zunächst - ohne Nachfrage der Lehrerin - der Stamm aktualisiert: 0124 *DM6: also ### ehm du hast uns noch das erzählt, dass sich des einzieht *DM6: oder so -. 0125 *? ? ? : %dehnt% Ebenso DM5 kurze Zeit später: 0138 *DM5: also es dehnt sich ja aus -'. *DM5: ### wenn es ehm #3# +... 0140 *LE4: wenn es -? *DM5: wenn es ### ehm #3# also so die temperatur ehm hoch ist -'. *DM5: dann dehnt sich das aus -'. AJ1 meldet sich hingegen wenig später und fragt, was „ausdehnen bedeutet“. DM5 und DJ7 geben dann mit Unterstützung der Lehrerin eine Erklärung (mehr raum nehmen). Danach wird das Verb nicht mehr verwendet. Stattdessen wird auf die Bewegung der Flüssigkeit im Thermometer Bezug genommen (sie steigt (hoch)), allerdings nur von monoligual deutschen Schülern und der Lehrerin (DJ6, 79; LE4 90; DM1, 133; DJ7 204, DM6 276; LE4 277; DM5 920; DJ7 1009; ? ? ? 1102; ). Das Verb steigen wird einmal von dem türkischen Schüler TJ3 verwendet und zwar - analog gebildet - für das Sinken der Flüssigkeit im Thermometer: 1008 *TJ3: au, bei mir steigt des runter! *DJ7: bei mir steigts das <hoch>? *? ? ? : ja aber, [<] des ist voll kalt! [>] *LE4: [<] oh, oh, oh [>] *LE4: dieses wort gibt es nicht, da steigt es runter beim *LE4: [<]thermometer.[>] *DJ7: [<] es zieht[>] sich höchstens zusammen. *LE4: es fällt herunter, heißt es da. TJ3, begeistert über die Bewegung der Flüssigkeit in seinem Thermometer, ruft laut „au, bei mir steigt das runter“, ein Präfixverb, das analog logisch gebildet ist und das es - im Gegensatz zu der spontanen Reaktion der Lehrerin - auch durchaus gibt (von daher vermutlich der spezifizierende Zusatz in der Rechtsherausstellung ihrer Äußerung, ihre Korrektur gelte der Verwendung in Zusammenhang mit Thermometer). Denn die Aufforderung, er <?page no="34"?> Bernt Ahrenholz 28 möge bitte vom Stuhl heruntersteigen hat der Junge vielleicht durchaus einmal gehört. Hier wird also deutlich, inwiefern der bildungssprachliche Gebrauch von Wörtern auch mit anderen alltagssprachlichen Bedeutungen konkurrieren kann und nicht nur Wörter, sondern auch die Restriktionen für deren Gebrauch zu lernen sind. Mögliche Wissensunterschiede zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund tauchen dann auch in dem kritischen Kommentar von DJ7 auf (es zieht sich höchstens zusammen). Anstelle von steigen wird von den mehrsprachigen Kindern hochgehen (AM1, 95), hochziehen (er zog sich hoch so; TJ3, 118), nach oben gehen (AJ1, 287) oder geht immer höher (TM5 272) verwendet. Statt des eher bildungssprachlichen Verbs sinken verwenden TM5, TM2 und TJ3 das alltagssprachliche geht runter. Das in der vorausgehenden Stunde eingeführte zusammenziehen wird auch von den monolingual deutschen Kindern z.T. nicht ohne Probleme erinnert: 0124 *DM6: du hast uns noch das erzählt, dass sich des einzieht oder so -. Ähnlich formuliert DM5 mit dem vermutlich aus anderen Kontexten bekannten Verb einziehen: 0150 *DM5: und bei der/ # wenn es kalt is: -'. *DM5: ### und dann zieht(s) sich ein -. *LE4: gut -.: [L steht auf, geht zur Tafel] *LE4: ### ich habe hier nochmal vier begriffe an die tafel geschriebn -'. Die nicht ganz angemessene Verwendung von einziehen durch DM5 wird von der Lehrerin nicht aufgegriffen. Das gut im Anschluss dient eher der Beendigung der Sequenz und leitet zum Tafelanschrieb über. Da auch die sprachlichen Mittel Lerngegenstand sind, hat die Lehrerin die vier Verben an die Tafel geschrieben, die sie nun aufklappt (Z. 156). Später möchte DJ7 das Wort zusammenziehen erklären (224-238). Auch zusammenziehen wird im weiteren Unterrichtsgespräch fast nicht mehr verwendet. Nur TJ3 versucht es einmal: 0260 *LE4: wenn ### die luft -. *LE4: die drum herum is -. *LE4: ## sich erwärmt -? *LE4: das ist # bei der luft genauso DJ6 # wie beim wasser auch -'. *LE4: TJ3? *TJ3: #2# dann zieht sich das +/ . *LE4: wenn es wärmer wird -'. Die Lehrerin geht auf die verunglückte Formulierung von TJ3 nicht ein, sondern unternimmt einen neuen Versuch, einen komplexen Satz unter Verwendung des neuen Fachvokabulars zu elizitieren. <?page no="35"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 29 Bei dem Versuch, sich ausdehnen als ein Verb für das Gegenteil von zusammenziehen abzurufen, scheitert AJ1 erneut: 10 0244 *LE4: ### also ausdehnen heisst grösser werdn -'. [LE4 bewegt Hände auseinander] *LE4: ### zusammenziehn -? [LE4 führt Hände zusammen] *AJ1: ## und ausziehen bedeutet kleiner -. *SSS: [lachen] 0250 *DJ7: hh ausziehn hh *LE4: nee # aus # ziehn gibt s da nicht -, *LE4: sondern zusammenziehen - heißt das dann ne. *AJ1: ach so -. Im weiteren Verlauf der Stunde verwendet AJ1 zusammenziehen noch zweimal; allerdings bleibt es syntaktisch wenig eingebunden: 0290 *AJ1: und wenn es null grad is -. *AJ1: so #2# zusammenziehen so kalt -. Bildungssprachlich ist auch das Verb abkühlen. Jedenfalls verwenden auch die monolingual deutschen Kinder das Verb nicht ohne Weiteres. Die Lehrerin erinnert DJ7 bei seiner alltagssprachlichen Formulierung kalt werden an das neue Wort: 0228 *DJ7: #2# ehm zum beispiel ### wenn [/ ] *DJ7: wenn das wasser dann wieder ### kalt wird -'. 0230 *LE4: da habn wir # ein wort -. [zeigt auf die Tafel] *DJ7: die flüssigkeit +/ . *LE4: wenn sich das wasser +/ . *DJ7: ## ehm +/ . *AJ1: abkühlt -. [liest von der Tafel ab] 0235 *DJ7: ## abkühlt -. *LE4: ja -? *DJ7: ehm # dann zieht sich das zusammen *DJ7: und wird zu son kleinen eiswürfel -, # *DJ7: oder so’n grossen eiswürfel -. Auch abkühlen taucht in der Unterrichtsstunde nicht weiter auf. Nur TJ3 (Z. 0311) unternimmt wieder einen - nicht weiter kommentierten - Versuch der Anwendung, allerdings gibt er wie auch AJ1 nicht die erwartete Antwort, denn die Lehrerin möchte wissen, wann es null Grad sind: 0306 *LE4: wann is denn null grad -? *LE4: wer weiss noch -? *AJ1: wenn [/ ] wenn +/ . *LE4: wenn -? 0310 *AJ1: wenn es sich zusammenzieht -. *TJ3: wenn es sich abkühlt +/ . 10 Da AJ1 gelegentlich auch Wortwitz zeigt, ist hier etwas unklar, wie ernst sein Vorschlag ist. <?page no="36"?> Bernt Ahrenholz 30 Schwierigkeiten der Aneignung der neuen Verben zeigen sich auch bei dem Verb erwärmen. Nach der Präsentation der Verben an der Tafel (einschließlich Vorlesen durch Schüler) stellt die Lehrerin die Aufgabe, die Verben in Sätzen zu verwenden: 0170 *LE4: und jetzt # wäre es schön -. *LE4: ### wenn ihr mir so zwei sätze sagen könnt -. *LE4: #3# wo diese vier wörter vor/ dabei sind -. *LE4: #2# sich ausdehnen oder-, ### ausdehnen -, sich erwärmen -, *LE4: #2# wann -. *TM2: ach so-. 0175 *LE4: ### man kann, ja bitte probiers -. *DJ5: sich erwärmen -. *LE4: richtig, aber jetzt nen satz -, ne -? *LE4: was passiert mit der flüssigkeit -, ## oder mit dem stoff -. *LE4: ### wenn es sich - so # bitte - 0180 [Aufforderungsbewegung mit den Händen.] *TJ3: #2# des [/ ] # des erwärmt sich und -. *LE4: ### ja -. *LE4: und jetzt wer kann mal einen satz anfangnen, wenn . *LE4: ## wenn sich # das wasser ### +/ . 0185 *TM2: erwärmt -. *LE4: und dann geht s weiter -. *DM5: also wenn sich das wasser # ehm erwärmt -'. *DM5: ### dann #2# ehm ## ehm ### dehnt sich das aus -'. *LE4: ja -. 0190 *LE4: danke -. DJ5, TJ3 und TM2 beschränken sich auf die Wiedergabe des Verbs; erst DM5 formuliert den erwarteten komplexen Satz. Auch diese Sequenz ist insofern typisch, als es den mehrsprachigen Kindern in der Unterrichtssituation weniger gelingt, komplexere diskursive Einheiten zu produzieren. Das Verb erwärmen wird im weiteren Unterrichtsverlauf dann nur noch einmal von der Lehrerin verwendet (Z. 262). Daneben spricht sie von wärmer werden (Z. 257, 266), eine Formulierung, die auch TM5 (Z. 269, der Lehrerin nachgesprochen) und DM5 (Z. 919) je einmal aufgreifen. Der Rückgriff auf alltagssprachliche Begriffe wird auch wieder deutlich, wenn es um das Erwärmen des Wassers geht. Hier heißt es zunächst bei AJ1 du hast gekocht (Z. 85) und bei TM2 es hatte sich n bisschen gekocht (Z. 121). Gefrierpunkt, Siedepunkt Gefrieren, Gefrierpunkt, sieden und Siedepunkt sind vermutlich für die meisten Kinder im Rahmen der Unterrichtseinheit neu. Die Kinder kennen vielleicht einen Gefrierschrank oder ein Gefrierfach, aber das Verb gefrieren ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit neu. Das DWDS verzeichnet 668 Vorkommen des Lemmas, häufig jedoch als gefroren. Im GSK des DWDS sind es sechs Vorkommen, davon fünf als gefroren und eins in Aber es ist ein Buch, was <?page no="37"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 31 einem das Lachen gefrieren lässt 11 , eine Wahrnehmung und/ oder Beschreibung von Wirklichkeit, die den meisten Kindern vermutlich noch fremd ist. Gefrierpunkt ist nur als Querverweis enthalten. Auch das DSAv verzeichnet nur elf Vorkommen von gefrier* (im Gegensatz zu 129 Vorkommen von gefroren) und fünf Gefrierpunkte, v.a. im Pfefferkorpus, das auch vielfach auf dem Lande erhoben wurde. Von sieden finden sich im DSAv zwei Vorkommen in Zusammenhang mit Kochgeschehen (siedendes Schmalz und siedendes Fett); dies bestätigt unseren Eindruck einer fachsprachlichen Lexik. Am Gespräch über Siede- und Gefrierpunkt beteiligen sich nur monolingual deutsche Kinder. Und auch bei ihnen ist der Lernprozess bezüglich dieser neuen Ausdruckmittel an der produktiven und kreativen Wortbildung zu erkennen: 0331 *LE4: also ## oder siedet -. *LE4: kann man auch sagn -. *LE4: es ist der +/ . *DJ6: siedepunkt 0335 *DJ6: oder kochpunkt -. *LE4: siedepunkt -? *LE4: nee -, kochpunkt sagt man nich -. *LE4: siedepunkt -. und: 0355 *LE4: und wie nennt man das/ diesen moment ? *LE4: ### wenn das wasser zum eis wird -. *DM5: eispunkt [? ] -. *LE4: nee -. *DJ6: ### gefrierpunkt -. In dieser Phase des Unterrichts haben DM5 und DJ6 uneingeschränktes Rederecht, denn die anderen Kinder melden sich nicht und rufen nicht dazwischen wie in anderen Momenten. Schlussbemerkung Die hier betrachtete Sachkundestunde in einer dritten Grundschulklasse zeigt erhebliche Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, auf den fachlichen Stoff sprachlich angemessen zu referieren. Ihr Partizipationswunsch unterscheidet sich vom Umfang und vom Engagement her nicht von denen der monolingual deutschen Kinder und einige beteiligen sich sehr aktiv am Unterricht. Aber die sprachliche Darstellung, die Möglichkeiten des Erklärens oder Beschreibens und die aktive 11 Helmut Karasek im Literarischen Quartett vom 22.9.1994. Vgl. zitiert nach dem DWDS [http: / / www.dwds.de/ ? sort=0&res=1&cp=1&corpus=1&qu=gefrieren&ps=50&cs=50 &kw=off&lm=5000&von=1900-01-01&bis=2001-12-31&tc=/ ./ &cc=SPK#2 (15.08.2009)]. <?page no="38"?> Bernt Ahrenholz 32 Verwendung des neuen Wortmaterials scheitern immer wieder, obwohl die Kinder es versuchen. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch die monolingual deutschen Kinder mit der Integration der neuen bildungssprachlichen Begriffe Schwierigkeiten haben und immer wieder ihre alltagssprachlichen Konstruktionen verwenden. Aber sie bringen mehr allgemeinsprachliches Wissen ein und können eher komplexere Zusammenhänge darstellen. Natürlich liefert der Blick auf eine Einzelstunde nur eine Impression und sagt nichts Zuverlässiges über die sonstigen Schulstunden und die sonstigen sprachlichen Schwierigkeiten und Kompetenzen der beteiligten Schülerinnen und Schüler aus. Aber die im FöDaZ-Projekt gesammelten Daten sprechen sehr dafür, dass es keine Einzelfälle sind. Der kurze Blick auf Wortverwendungen in Erzählungen differenziert das Bild auch etwas, deutet aber ebenfalls für die Kinder mit Migrationshintergrund auf erkennbar eingeschränktere Kompetenzen hin. Insgesamt scheint mir die Stunde deutlich zu machen, welch wichtigen und notwendigen Anteil die Vermittlung der sprachlichen Seite bei der Erarbeitung neuen Sach- und Fachwissens hat. Literatur Ahrenholz, Bernt (2005): Förderunterricht und Deutsch-als-Zweitsprache-Erwerb. Eine empirische Untersuchung zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. In: Wolff, A./ Riemer, C./ Neubauer, F. (eds.): Sprache lehren - Sprache lernen. Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache, 115-127. Ahrenholz, Bernt (2006): Zur Entwicklung mündlicher Sprachkompetenzen bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. In: Ahrenholz, B./ Apeltauer, E. (eds.): Zweitspracherwerb und curriculare Dimensionen. Empirische Untersuchungen zum Deutschlernen in Kindergarten und Grundschule. Tübingen: Stauffenburg, 91-109. Apeltauer, Ernst (2004): Sprachliche Frühförderung von zweisprachig aufwachsenden türkischen Kindern im Vorschulbereich. Bericht über die Kieler Modellgruppe. In: Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht, Sonderheft 1. Apeltauer, Ernst (2006a): Förderprogramme, Modellvorstellungen und empirische Befunde. Zur Wortschatz- und Bedeutungsentwicklung bei türkischen Vorschulkindern. In: Ahrenholz, B. (ed.): Kinder mit Migrationshintergrund - Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i.Br.: Fillibach, 11-33. Apeltauer, Ernst (2006b): Sprachliche Frühförderung von Kindern mit Migrationshintergrund. In: Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht, 42/ 43. Apeltauer, Ernst (2008): Wortschatzentwicklung und Wortschatzarbeit. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 239-252. Baur, Rupprecht S./ Bäcker, Iris/ Wölz, Klaus (1993): Zur Ausbildung einer fachsprachlichen Handlungsfähigkeit bei Schülerinnen und Schülern mit der <?page no="39"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 33 Herkunftssprache Russisch. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 4, 2, 4- 38. Benholz, Claudia/ Lipkowski, Eva (2000): Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern. In: Deutsch lernen, 25, 1, 3-11. Buhlmann, Rosemarie/ Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. Tübingen: Narr. Chlosta, Christoph/ Schäfer, Andrea (2008): Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 280-297. Cummins, Jim (2000): Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon et al.: Multilingual Matters. DIE/ EDK/ Goethe-Institut/ ÖSD/ WBT (eds.) (1999): Zertifikat Deutsch. Lernziele und Testformat. Frankfurt/ M.: Weiterbildungs-Testsysteme GmbH. Eckhardt, Andrea G. (2010): Hörverstehen in der Zweitsprache Deutsch. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 253-264. Eckhardt, Andrea G. (2008): Sprache als Barriere für den schulischen Erfolg. Potentielle Schwierigkeiten beim Erwerb schulbezogener Sprache für Kinder mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann. Gogolin, Ingrid (2006): Bilingualität und die Bildungssprache der Schule. In: Mecheril, P./ Quehl T. (eds.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster (u.a.): Waxmann, 79-85. Gogolin, Ingrid (2007): Herausforderung Bildungssprache. Textkompetenz aus der Perspektive Interkultureller Bildungsforschung. In: Bausch, K.- R./ Burwitz-Melzer, E./ Königs, F. G./ Krumm, H.-J. (eds.): Textkompetenzen. Arbeitspapiere der 27. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 73-80. Gogolin, Ingrid/ Roth, Hans-Joachim (2007): Bilinguale Grundschule. Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit. In: Anstatt, T. (ed.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb - Formen - Förderung. Tübingen: Attempto, 31-45. Harnisch, Ulrike (1991): Zur Begriffsentwicklung in zwei Sprachen. Ein Erfahrungsbericht aus einem Schulversuch zur zweisprachigen Erziehung. In: Barkowski, H./ Hoff, G. R. (eds.): Berlin interkulturell. Ergebnisse einer Berliner Konferenz zu Migration und Pädagogik. Berlin: Colloquium Verlag, 109-120. Harnisch, Ulrike (1993): Grammatische Progression ein alter Hut? Zur Zweitsprachentwicklung türkischer Schulanfänger. In: Deutsch lernen, 18, 4, 313- 334. Hepsöyler, Ender/ Liebe-Harkort, Klaus (1988): Wörter und Begriffe - Lücken im Kindesalter = Verlust der Gleichberechtigung in Beruf und Gesellschaft. Frankfurt/ M. (u.a.): Lang. Hoffmann, Lothar (1998): Fachsprachen und Gemeinsprache. In: Hoffmann, L./ Kalverkämper, H./ Wiegand, H. E. (eds.): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. An international Handbook of Special-Language and Terminology Research. Berlin/ New York: de Gruyter, 157-168. <?page no="40"?> Bernt Ahrenholz 34 Hoffmann, Lothar (2001): Fachsprachen. In: Helbig, G./ Götze, L./ Henrici, G./ Krumm, H.-J. (eds.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 533-543. Jakob, Karlheinz (1998): Techniksprache als Fachsprache. In: Hoffmann, L./ Kalverkämper, H./ Wiegand, H. E. (eds.): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. An international Handbook of Special-Language and Terminology Research. Berlin/ New York: de Gruyter, 142-150. Karasu, Ibrahim (1995): Bilinguale Wortschatzentwicklung türkischer Migrantenkinder vom Vorbis ins Grundschulalter in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/ M. (u.a.): Lang. Kellerman, Eric (1979): Transfer and Nontransfer: Where We Are Now. In: Studies in Second Language Acquisition, 2, 1, 37-57. Knapp, Werner (1999): Verdeckte Sprachschwierigkeiten. In: Die Grundschule, 31, 5, 30-33. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, H./ Ludwig, O. (eds.): Schrift und Schriftlichkeit. Berlin/ New York: de Gruyter, 587-604. Laufer, Batia (1997b): The lexical plight in second language reading. In: Coady, J./ Huckin, T. (eds.): Second Language Vocabulary Acquisition. Cambridge: CUP, 20-34. Luchtenberg, Sigrid (1991): Fachsprachenunterricht für Migrantenkinder in welchem Fach? In: Deutsch lernen, 16, 4, 380-388. Luchtenberg, Sigrid (1992): Fachsprache im Unterricht mit Aussiedlerkindern. In: Glumpler, E. (ed.): Mit Aussiedlerkindern lernen. Braunschweig: Westermann, 147-160. Menk, Antje-Katrin (1989): Sprachliches Lernen im Fachunterricht. In: Deutsch lernen, 14, 153-165. Müller, Andrea G. (2008): Hörverstehen in der Zweitsprache Deutsch. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 253-264. Ohm, Udo/ Kuhn, Christina/ Funk, Hermann (2007): Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. Ott, Margarete (1997): Deutsch als Zweitsprache - Aspekte des Wortschatzerwerbs. Eine empirische Längsschnittuntersuchung zum Zweitspracherwerb. Frankfurt/ M. (u.a.): Lang. Ott, Margarete (2002): Wortschatzerwerb und Erwerbsstrategien jugendlicher Zweitsprachenlerner. In: Deutsch als Zweitsprache, Jahresheft, 25-49. Pigada, Maria/ Schmitt, Norbert (2006): Vocabulary acquisition from extensive reading: A case study. In: Reading in a Foreign Language, 18, 1, 1-28. Roose, Werner/ Roose-Hagedorn, Christine (1984): Grundwortschatz Deutsch- Türkisch. Weinheim/ Basel: Beltz. Rost-Roth, Martina (2009): Korrekturen und Ausdruckshilfen im Deutsch-als- Zweitsprache-Unterricht. Fallstudien und Vergleiche mit anderen Kontexten der Sprachförderung. In: Wolff, A./ Hunstiger, A./ Koreik, U. (eds.): Chance <?page no="41"?> Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule 35 Deutsch: Schule - Studium - Arbeitswelt. Beiträge der 34. Jahrestagung DaF 2006. Regensburg: FaDaF, 445-461. Steinmüller, Ulrich/ Scharnhorst, Ulrich (1987): Sprache im Fachunterricht - Ein Beitrag zur Diskussion über Fachsprachen im Unterricht mit ausländischen Schülern. In: Zielsprache Deutsch, 18, 4, 3-12. Swain, Merrill/ Lapkin, Sharon (1995): Problems in Output and the Cognitive Processes They Generate: A Step Towards Second Language Learning. In: Applied Linguistics, 16, 371-391. Transkriptionskonventionen Frage, Aussage, Ausruf ? (F RAGEZEICHEN ), . (P UNKT ), ! (A USRUF ), AM E NDE DER Z EILE komplexe Satzgefüge , (Komma) Intonierung innerhalb der Äußerung als Ausruf [! ] ( IN DER Z EILE ) Stimmhöhe steigend, -' Stimmhöhe fallend, fallende Intonationskontur text -. (am Ende der Äußerung) text -, text (innerhalb der Äußerung) Pausen #, ##, ### ( AB 1 S EK . GEMESSEN #2# etc.) Whlg. von Äußerungsteilen ohne Veränderung ich [/ ] ich, <ich bin> [/ ] ich bin gegangen Whlg./ Wiederaufnahmen von Äußerungsteilen mit Veränderung ich [/ / ] du <ich bin> [/ / ] du hast Abbruch/ Selbstkorrektur ich wollte [/ -] morgen gehe ich Unterbrechung +/ . Dehnung to: : r leiser gesprochen °text° lachen hhhhhhh lachend gesprochen hhhPeterhhhh nicht genau verständlich, vermuteter Text bei mehreren Wörtern Petra [? ] < Petra kommt> [? ] ganz unverständlicher Text xx (je nach Zahl der vermuteten Wörter: xx x) kurze Kommentare innerhalb der Zeile [%schneller gesprochen] [%klingeln] etc. Kommentarzeile (unter Sprecher) %COM: K OMMENTAR Beginn und Ende von Überlappung *PPP: du lässt mich [<] nicht aussprechen [>] *TTT: [<]auf keinen Fall[>] Die Konventionen folgen den CHAT-Konventionen. Sprechersiglen setzten sich aus den Anfangsbuchstaben der Erstsprachen (T für Türkisch, A für Arabisch, B für Bosnisch, K für Kurdisch, P für Polnisch, R für Russisch und D für Deutsch sowie den Kürzeln M für Mädchen und T für Jungen sowie Zahlen zur weiteren Personenkennzeichnung zusammen. Die Sprechersiglen für die Experimenter beginnen mit E, der Lehrerinnen mit LE). ? ? ? steht für Sprecher, die nicht identifiziert werden können. <?page no="43"?> Wilhelm Grießhaber (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 1 Einleitung Bis zu den Auswertungen der ersten PISA Studie (Deutsches Pisa-Konsortium 2002, 200f) wurde die Frage nach den Abhängigkeiten zwischen (Allgemein-)Sprachkenntnissen und Fachleistungen kontrovers diskutiert. Nach der Unabhängigkeitsthese sollten Defizite in der Beherrschung des Deutschen als Zweitsprache sich nicht negativ auf die Leistungen in Sachfächern auswirken, zumindest solange der Fachunterricht nicht ‚sprachabhängig’ unterrichtet wird. Nach der Abhängigkeitsthese sollten jedoch geringe Zweitsprachkompetenzen auch mit niedrigen Fachleistungen zusammenhängen. Die Auswertung und Korrelierung der Lesetests mit den Fachtests in Mathematik und Physik zeigten, dass sich Lesedefizite der Kinder mit Migrationshintergrund sogar kumulativ in den Sachfächern auswirkten. Damit war empirisch belegt, dass die Sprache auch in scheinbar spracharmen Sachfächern eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings wurden aus dieser grundlegenden Erkenntnis kaum Konsequenzen gezogen. Erst in neuerer Zeit wurde und wird der (Zweit-)Sprache im Fachunterricht mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Dies mag durchaus auch eine Folge des Bologna-Prozesses und der damit einhergehenden stärkeren Praxisorientierung in der Lehramtsausbildung sein. Die Bestätigung einer Abhängigkeit gibt jedoch noch keine Auskunft über die Art der Beziehungen für die Rolle der Sprache in der Vermittlung von Fachwissen. Als mögliche Ursachen sprachlich bedingter Fachdefizite kommen die besondere fachsprachliche Lexik und komplexe syntaktische Konstruktionen in Fachtexten in Frage. Im Zusammenhang mit Kindern aus Migrantenfamilien sind weiterhin differente familiensprachliche Erfahrungs- und Wissensbestände zu berücksichtigen. Zusätzlich sind weitere Differenzierungen vorzunehmen. So differieren fachliche Inhalte und Vermittlungsverfahren nach Alter und Klassenstufe. Mit dem Alter sind auch typische Zweitspracherwerbsverläufe verbunden. So bringt für viele Kinder nicht deutscher Herkunftssprache (ndH) der Schuleintritt den ersten massiven Kontakt mit der L2 Deutsch. Sie erwerben gleichzeitig mit der mündlichen Kommunikationssprache die Grundlagen der deutschen Schriftsprache, der wiederum für die Vermittlung von Fachinhalten eine zentrale Rolle zukommt. Für den Mathematikunterricht unter diesen Bedingungen hat Grießhaber (2005) eine direkte Abhängigkeit des <?page no="44"?> Wilhelm Grießhaber 38 Vermittlungserfolgs von den Deutschkenntnissen aufgezeigt. Auch beim Lesen zweitsprachlicher Texte spielen die erreichten L2-Kenntnisse eine entscheidende Rolle. Insbesondere die mündlichen Kenntnisse begrenzen den Zugang zu schriftlich präsentierten Informationen (vgl. Grießhaber 2007). Diese Aspekte sollen jedoch nicht im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen, der sich besonders auf die Sekundarstufe bezieht. Eine weitere Gruppe von ndH Schülern, die nicht im Zentrum dieses Beitrags stehen, sind die sog. Seiteneinsteiger, die schon vor ihrem Zuzug nach Deutschland im Heimatland die Schule besucht haben. Diese Lerner stellten in den siebziger und achtziger Jahren die größte Gruppe der ndH Schüler dar. Sie verfügen in der Regel über altersangemessene Schriftsprach- und auch Fachkenntnisse in ihrer Erstsprache. Für die in den letzten beiden Jahrzehnten sehr große Gruppe von Aussiedlern mit russischsprachigem Hintergrund liegen Untersuchungen und Empfehlungen auch für den Fachunterricht in der L2-Deutsch vor (s. Baur/ Bäcker/ Wölz 1993 für Biologie und Demidow 2003 für Physik). Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vorwiegend mit in Deutschland eingeschulten Schülerinnen und Schülern ndH in der Sekundarstufe I. Zunächst werden verschiedene Aspekte der Fachsprache betrachtet und für den Bereich des fachsprachlichen Wortschatzes vertieft. Am Beispiel einer mathematischen Textaufgabe werden Verstehensprobleme und Textentlastungsvorschläge vorgestellt und diskutiert. Der handelnde Zugang zum Fachwissen wird im Vorgehen türkischer Lernenden in einer Kleingruppenarbeitsphase betrachtet. Sodann werden der fachlich bestimmte Vorschlag von Wagenschein für Physik und das Konzept von Gibbons vorgestellt und auf die Rolle der Sprache im zweitsprachlichen Fachunterricht bezogen. 2 (Fach-)Wortschatz 2.1 Merkmale von Fachsprachen und fachsprachlicher Lexik Das zunächst hervorstechendste Merkmal von Fachtexten ist wohl der Fachwortschatz. Im Allgemeinen wird der Begriff Fachsprache an die Verwendung eines bestimmten sprachlichen Teil- oder Subsystems durch Fachleute gebunden. So präzisiert Seibicke (1976, 69) die Fachsprache der Physik als die Fachsprache der Physiker in der fachlichen Kommunikation. Möhn/ Pelka (1984, 26) definieren Fachsprache durch deren primäre Bindung an Fachleute. Durch den Bezug auf die fachlichen Gegenstände und Handlungen entwickelt sich die fachsprachliche Lexik aus der Allgemeinsprache und durch eigenständige Schöpfungen. Seibicke (1976, 71f) nennt folgende sechs Merkmale: ein außerordentlich hoher Anteil von Substantiven, darunter besonders viele Komposita, eine Menge Abkürzungen und Kurzwörter sowie besondere Zeichen und Symbole, aktive Neubildungen und rasche Veränderungen der Lexik mit einem hohen Austausch zwischen <?page no="45"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 39 den Sprachen. Unter didaktischen Gesichtspunkten werden in der Fachsprachforschung folgende Bereiche genannt (Hinrichs 2003, 36): Lexik und gehäufte Verwendung von Fachtermini, spezifische Kollokationen, komplexe Partizipialkonstruktionen, unpersönliche Satzkonstruktionen und Passivkonstruktionen. Den Wortschatz teilt Seibicke (1976, 71) in drei sprachliche Hauptgruppen ein (s. Abb. 1). Die drei Hauptgruppen sind (A) lexikalische Elemente des fachsprachlichen Wortschatzes, die auch außerhalb fachlicher Kommunikation in ähnlicher Verteilung vorkommen (Allgemeinwortschatz) (B) lexikalische Elemente, die in Fachtexten signifikant häufiger vorkommen (fachbezogener Wortschatz) und (C) lexikalische Elemente, die ausschließlich in fachlichen Zusammenhängen vorkommen (facheigener Wortschatz) (Seibicke 1976, 71). Diese Systematik verdeutlicht, dass die Fachlexik in vielfacher Weise mit der Alltagssprache verbunden ist und nicht durch eine chinesische Mauer von ihr getrennt ist. Ehlich (2001) identifiziert alltagssprachliche Kollokationen und Wendungen, die als sogenannte stille Ressourcen in der Wissenschaftssprache weite Verwendung finden. Geht man nun von der Bestimmung von Fachsprache in ihrer Bindung an die Kommunikation unter Fachleuten aus, bedeutet das für die Vermittlung von Fachinhalten, dass die Lernenden über Fachinhalte kommunizieren (sollten) und sich dabei der dafür geeigneten Mittel bedienen. Damit scheiden Vokabellisten und Definitionen als primäre Vermittlungsverfahren aus. Dagegen kommt dem handelnden Umgang mit Fachinhalten eine zentrale Rolle zu. 2.2 Fachlexik in Lehrwerken und Erwerb von Fachlexik Die Unterrichtswirklichkeit in den Sachfächern bietet jedoch - nicht sehr zahlreichen - empirischen Erhebungen zufolge ein anderes Bild. Chlosta/ Schäfer (2008, 288f) bezeichnen den Fachunterricht der Sekundarstufe I als oftmals geprägt von monologisierenden Unterrichtsgesprächen, in denen bis zu über 90% aller Äußerungen von der Lehrperson getätigt werden. Ein weiteres auffallendes Merkmal ist die Reduktion der Schüleräußerungen auf die Nennung von Begriffen. Schließlich wird eine Diskrepanz zwischen gesprochener Alltagssprache im Unterricht und der Fachsprache im Schul- Abb. 1: Verteilung des fachsprachlichen Wortschatzes (Seibicke 1976, 71) <?page no="46"?> Wilhelm Grießhaber 40 buch festgestellt. Angesichts dieser Lage drängt sich die Frage auf, wie Lernende überhaupt Fachinhalte und Fachbegriffe erwerben. Diese Frage stellt sich umso mehr, als in mehreren empirischen Untersuchungen eine sehr hohe Zahl von Fachwörtern pro Lektion bzw. Unterrichtsstunde in den Fachlehrwerken ermittelt wird. Brämer/ Clemens (1980) ermitteln in einem Physik-Lehrwerk der Sekundarstufe I 2.000 verschiedene physikalische Fachvokabeln. Pro Wochenstunde bedeutet das je nach Schulform eine Menge von 70 bis 200 Vokabeln. Gleichzeitig konstatieren die Autoren einen hohen Fremdwortanteil, so dass der Lernende mit der Fremdsprachvokabel zugleich einen neuen Sachzusammenhang begreifen bzw. erlernen muss. Die Autoren verweisen auf einen Zusammenhang zwischen der Modernität einer physikalischen Teildisziplin und dem Anteil des Fachfremdvokabulars: je moderner die physikalischen Inhalte, desto fachvokabel- und fremdwortreicher die schulische Präsentation. Sie sehen darin einen Selektionsmechanismus auf der Basis der sozialen Schichtzugehörigkeit. Ganz ähnliche Verhältnisse zeigt Gogolok (2006, 460f) zum Fachbegrifflernen im Fach Biologie. Sie berichtet aus einer Studie von Graf (1989). Hessische Biologielehrbücher enthalten etwas weniger Fachbegriffe als die Physikbücher, nämlich durchschnittlich acht bis zwölf neue Begriffe. Aber selbst diese geringe Zahl überfordert die Schüler, wie eine Überprüfung zeigte. Dazu wurden insgesamt 457 Schülern der Klassen 5 und 6 zu zwei verschiedenen Themen durchschnittlich (nur) drei Fachwörter pro Stunde vermittelt. Jeweils drei Wochen nach Beendigung der jeweiligen Unterrichtseinheit konnte bei einer Überprüfung keiner der Schüler alle vermittelten Fachwörter im Kontext richtig anwenden. Die Schüler lernten maximal nur ein bis zwei Fachwörter pro Unterrichtseinheit. Die Faktendichte der Biologielehrbücher übersteigt das Vokabellernen im Fremdsprachenunterricht um ein Dreifaches. Eine Übertragung auf die aktuellen Verhältnisse der Lernenden mit Migrationshintergrund mag manche Probleme der Zweitsprachlerner erklären. Aus diesen Erkenntnissen sollten vornehmlich Curriculum- und Lehrplanentwicklung sowie Lehrwerksautoren entsprechende Konsequenzen ziehen. Mit Blick auf die zahlenmäßig inzwischen sehr große Gruppe von ndH Schülern sollte Anzahl und Struktur der behandelten Fachbegriffe sehr sorgfältig bestimmt und vor allem reduziert werden. Die Vermittlungsverfahren sollten viel mehr als bisher Eigenaktivitäten der Lernenden fördern und systematisch einbeziehen. 2.3 Zugang zu Fachlexik im Unterricht Beim Zugang der Lernenden zu Fachinhalten und Fachlexik ist zunächst das Verhältnis von außersprachlichen (Fach-)Sachverhalten zu verbalen (Fach-) Sprachbegriffen zu klären. Auf den ersten Blick scheint ein direkter Bezug zwischen außersprachlichen Sachverhalten (im Folgenden als Groß-P bezeichnet) und (Fach-)Begriffen (im Folgenden als Klein-p bezeichnet) gege- <?page no="47"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 41 ben zu sein. Dieser direkte Bezug ist in Abbildung 2 mit einer gestrichelten Linie markiert. Diese Annahme hat schon Bühler (1934, 25) als unzureichend kritisiert. Ehlich/ Rehbein (1986, 96) führen Bühlers Modell weiter und setzen zwischen P und p psychische Prozesse bei Hörer und Sprecher, den sog. -Bereich, an. Der Sprecher verarbeitet Sachverhalte aus P in seinem S- Bereich bei der Produktion verbaler Äußerungen, der Hörer seinerseits verarbeitet Äußerungen in seinem H-Bereich. Diese Verhältnisse bestimmen auch die Vermittlung von Fachinhalten und Fachlexik im Unterricht. Die Lernenden aktivieren bei der Rezeption von Äußerungen ihr Vorwissen und setzen die neuen Lexeme zu diesem Wissen in Beziehung. Abb. 2: Bezug von Sprache zu außersprachlichen Sachverhalten Dies ist auch bei Lernenden ndH der Fall. Bei ihnen ist nun allerdings zu berücksichtigen, dass ihr Zugang zu Fachinhalten und Fachlexik zusätzlich durch das sog. Komplementärwissen bestimmt ist. Das Komplementärwissen umfasst nach Rehbein (1982, 252) individuelles partikuläres Erfahrungswissen und allgemeines Musterwissen der L1-Sprachgemeinschaft. Deshalb müssen Verfahrensweisen, die bei deutschsprachigen Schülern erfolgreich sind, aber den Komplementärwissensbereich nicht berücksichtigen, nicht in gleichem Maße auch bei Lernenden ndH erfolgreich sein. Harnisch (1991) gibt eindrucksvolle Beispiele für differentes Komplementärwissen und die Folgen für den Erwerb von (Fach-)Begriffen. Zur Erklärung der Temperaturmessung demonstriert die Lehrkraft experimen- <?page no="48"?> Wilhelm Grießhaber 42 tell anschaulich die Ausdehnung von Flüssigkeiten unter Erwärmung. Sie zeigt auf wahrnehmbare Objekte, u.a. ein langes Glasrohr mit einer Flüssigkeit, das als Säule bezeichnet wird. Wie sich herausstellt, kannten die türkischen SchülerInnen den Begriff nicht in der L2 und viele nicht in ihrer L1. Sie verbanden fortan das Wort Säule mit dem im Experiment gesehenen Glasrohr. Deutschsprachige SchülerInnen können dagegen den Begriff Säule mit weiteren Wörtern und Konzepten verbinden, u.a. Siegessäule. Auch ein anderer Begriff für Säule, (Glas-)Kolben, bietet deutschsprachigen Lernenden viele Verknüpfungsgelegenheiten, u.a. Motorkolben. Die deutsche Schule stützt sich also bei der Vermittlung von Fachinhalten und Fachbegriffen in vielfältiger Weise auf alltagssprachlich vorhandenes Wissen, ohne dies jedoch explizit offenzulegen. Erst das Komplementärwissen von Lernern ndH und die auf konkrete Sachverhalte und Objekte eingegrenzte Verwendung bei ihnen deckt diese außerschulischen sprachlich gefassten Wissensbestände auf. Ein bei Lernenden dH erfolgreiches Vermittlungskonzept kann somit bei Lernenden ndH zu unangemessenen konkretistischen Verwendungen und Konzepten führen, ohne dass ein abstraktes Konzept aufgebaut wird. Anschaulichkeit an sich ist somit zwar ein notwendiger und sinnvoller Schritt im Fachunterricht, aber noch nicht hinreichend für das Gelingen. 3 Textaufgaben Mathematik 3.1 Hintergrund: Mathematikvergleichsarbeit (MSA, Berlin 2006) Im Zuge systematischer Leistungsüberprüfungen wurde in Berlin am Ende der zehnten Jahrgangsstufe eine „Mathematikvergleichsarbeit 2006 für den mittleren Schulabschluss (MSA)“ durchgeführt (vgl. Meslek Evi o.J.). Diese Vergleichsarbeit hat rund die Hälfte der Schüler an den OBF-, Realschul- und erweiterten Hauptschulklassen nicht bestanden. In Kreuzberg lag die Nichtbestehensquote sogar bei achtzig Prozent. Darin spiegelt sich der hohe Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund wieder. Besonders die Textlastigkeit der Aufgaben wurde für die schlechten Ergebnisse verantwortlich gemacht. Diese Aufgaben können einen exemplarischen Einblick in die fachlichen und sprachlichen Herausforderungen für Zweitsprachlerner geben. <?page no="49"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 43 Abbildung 3: Aufgabe Nr. 5 der MSA: „Nur-Dach-Haus“ (Meslek Evi o.J., 12); schwierige Passagen aus Sicht von Förderschülern sind unterstrichen (Meslek Evi o.J., 14; Unterstreichungen durch den Verfasser) In der Aufgabe aus der Trigonometrie sollen zwei Größen berechnet werden: (a) das Volumen des dreieckförmigen Hauses, der sog. ‚umbaute Raum’ und (b) die Größe des Winkels an der Spitze des Daches. Aus mathematischer Sicht ist die Aufgabe nur gering mit dem die mathematischen Operationen versprachlichenden Text umkleidet. Im Grunde kann man die gegebenen Maße in die Zeichnung eintragen und zur Berechnung übergehen, sofern die benötigten trigonometrischen Formeln bekannt sind. Doch daran scheint es gehapert zu haben, da nur ein deutschsprachiger Schüler von insgesamt 42 OBF-Schülern die Aufgabe in dieser Form und ein Schüler nichtdeutscher Herkunft mit den unten vorgestellten entlastenden Modifikationen richtig gelöst hat. Den übrigen 40 Schülern fehlte das erforderliche mathematische Fachwissen (Meslek Evi o.J., 14). Das bestätigt die Einschätzung, dass die Aufgabe nicht primär wegen ihrer sprachlichen Einkleidung, sondern vor allem wegen der erforderlichen Fachkenntnisse einen hohen Schwierigkeitsgrad besitzt. Doch auch wenn die sprachliche Einkleidung nicht die entscheidende Hürde ist, enthält jeder Satz aus Lernersicht als schwierig empfundene Passagen (oben in Abbildung 3 unterstrichen). Zur Erhöhung der Verständlichkeit erstellten Lehrerinnen und Lehrer eine entlastete Textversion (s. Beispiel 1). Wir berechnen das Volumen unserer Wohnung. Das ist wichtig für die Heizkosten. Die abgebildete Dachwohnung ist 6 m breit, 10 m lang und bis zur Dachspitze 7,30 m hoch. Wie groß ist das Volumen der Wohnung? Wie groß ist der Winkel an der Dachspitze? Beispiel 1: Entlasteter Text zu Aufgabe Nr. 5 (Meslek Evi o.J., 14) <?page no="50"?> Wilhelm Grießhaber 44 Die Vereinfachungen betreffen sehr unterschiedliche Textebenen. Sie reichen von der Illokution über den Austausch und die Vereinheitlichung von Lexemen bis zur Umgestaltung syntaktischer Konstruktionen. Insgesamt wirkt der entlastete Text deutlich schlanker. Aus dem Vergleich der beiden Textversionen und Kommentaren zur Schwierigkeit von zwei besonders schweren Textpassagen soll nun untersucht werden, welche Aspekte des Aufgabentextes für Zweitsprachlerner schwierig sind bzw. sein könnten, ob die Umformulierungen lediglich die verbale Umkleidung betreffen und welche Konsequenzen sich insgesamt für die Vermittlung von Fachinhalten in der Zweitsprache Deutsch ergeben (könnten). 3.2 Schwierigkeiten und Textveränderungen Durch Umformulierung der (b)-Aufgabe wurde aus der Handlungsanweisung eine Frage, so dass nun beide Teilaufgaben illokutiv gleichartig sind. Diese Veränderung kann zu einem besseren Aufgabenverständnis führen. Weiterhin wurden drei Genitivattribute gestrichen, während eines umformuliert wurde, so dass sich keine eindeutige Systematik erkennen lässt. Die gestrichenen Genitivattribute sind: das ersatzlos gestrichene die Dicke der Wände, das Bis zur Spitze des Daches, wird umformuliert zu bis zur Dachspitze und die Größe des Winkels an der Spitze des Daches wird zu (Wie) groß (ist) der Winkel an der Dachspitze? Beiden Veränderungen gemeinsam ist die Ersetzung von Spitze des Daches durch Dachspitze. Man könnte sich fragen, ob ein Kompositum einfacher rezipierbar ist als eine Genitivkonstruktion. Bei der (b)-Aufgabenstellung führt die Auflösung der nominalen Genitivkonstruktion die Größe des Winkels in eine Frage mit Adjektiv und einfachem Substantiv zu einer Konstruktionsvereinfachung. Am Textbeginn blieb eine Genitivkonstruktion erhalten. Allerdings wurde durch Lexemaustausch aus einem Gebäude eine Wohnung und aus einem unbestimmten Gebäude (das Volumen eines Gebäudes) durch ein lesereinschließendes Possessivum (Volumen unserer Wohnung) die Wohnung des Lesers. Die Aufgabe wurde so dem Rezipienten näher gebracht. Eine inhaltliche Vereinfachung erfolgt durch die Ersetzung der etwas umständlich aber genauen Bestimmung des zu ermittelnden Volumens (der umbaute Raum, wenn die Dicke der Wände nicht berücksichtigt wird) durch den einfachen, aber uneingeschränkten Begriff das Volumen. Bei der veränderten Version müssten die Schüler nun eigentlich das Volumen der Wände ermitteln oder abschätzen und vom leicht zu errechnenden Bruttovolumen subtrahieren, um dem Wortlaut der Aufgabe gerecht zu werden. Das ist bei der Umformulierung aber offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen. Die syntaktische Vereinfachung führt zu einer inhaltlichen Ungenauigkeit. Im Zentrum der Umarbeitung standen zwei von den Schülern als schwer empfundene Passagen. Die einleitende Infinitivkonstruktion Um die Heizkosten zu schätzen, leitet den Text ein, gibt einen situativen Hintergrund für die Rechenaufgabe. Dazu vermerken die Lehrer und Lehrerinnen: Erweiterter <?page no="51"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 45 Infinitiv zu Beginn des Textes, irreführend, da es in der Aufgabe gar nicht um Heizkosten geht. Die Problembeschreibung lässt offen, ob die Konstruktion angemessen und womöglich weniger schwierig wäre, wenn es in der Aufgabe um die Berechnung von Heizkosten ginge. Vermutlich würde jedoch auch mit einem inhaltlichen Heizkostenbezug der Infinitv von der/ für die Zielgruppe als schwierig empfunden. Betrachten wir die Leistung der satzeinleitenden Infinitivkonstruktion vor dem finiten Verb, so zeigt sich, dass damit eine Bestimmung für die folgenden Ausführungen gegeben wird, ohne dass sie das Gewicht einer eigenen Verankerung mit einem finiten Verb wie in einem Relativsatz erhält. Die Infinitivkonstruktion führt also die Heizkostenschätzung eher beiläufig ein und nennt damit ein Motiv für die nachfolgenden Ausführungen. Wegen dieser Leistung werden solche Infinitivkonstruktionen in Fachtexten häufig verwendet. Schüler sollten die Konstruktion rezeptiv beherrschen und in einen Nebensatz umwandeln können. Der Deutschunterricht könnte in diesem Zusammenhang einen sinnvollen Beitrag für den Fachunterricht leisten (zu dieser Abstimmung s. Forthaus/ do Carmo Kuparinen/ Marquardt 1988). Die von den Lehrerinnen und Lehrern vorgeschlagene Neuformulierung lässt nun den Text gleich mit der Aufgabenstellung beginnen, hebt dann aber die Heizkostenberechnung in einem eigenen Satz sogar noch hervor und qualifiziert die Berechnung als wichtig für die Heizkosten. Damit wird die eigene Einschätzung, dass es eigentlich gar nicht um die Heizkosten geht, umgedreht und sogar als wichtiger Schritt bezeichnet. Die syntaktisch einfachere Konstruktion erweist sich inhaltlich als qualitativ sehr verschieden von der ursprünglichen komplexeren Infinitivkonstruktion. Abschließend soll nun noch das Lexem „Nur-Dach-Haus“ und dessen Ersetzung durch Dachwohnung betrachtet werden. Dazu wird angemerkt: Eigenwilliges Wortkonstrukt, für Zweitsprachler kaum nachvollziehbar. Der Ausdruck wird durch Dachwohnung ersetzt. In diesem Fall gibt der Ursprungstext dem Leser mit dem attributiven Partizip abgebildet(e) eine Hilfe zur Bedeutungserschließung. Damit sollte sich der Rezipient eine Vorstellung vom Aussehen des Gebäudes machen können. Wenn die Schüler Probleme haben, diese Verbindung herzustellen, dann haben sie nach zehn Jahren Schulunterricht generell Probleme mit der Erschließung von Texten. Aber auch das Wort ist nicht so ungewöhnlich, wie der Kommentar vermuten lässt, auch wenn es weder im Duden noch im Wahrig steht. Es ist aus seinen Wortbestandteilen her erschließbar - auch für Zweitsprachlerner. Mit Nur- Flügel-Flugzeug gibt es ein weiteres Wort gleicher Bildung. Für den Nur- Flügler gibt es keine 50 Google-Treffer, aber im Unterschied zum Nur-Dach- Haus einen Artikel in Wikipedia. Für Nur-Dach-Haus liefert Google immerhin über 2.000 Treffer, meist Anzeigen für Ferienwohnungen. Es handelt sich also um ein zwar nicht verbreitetes Lexem, aber um eines, dessen Bedeutung aus dem Kontext heraus erschließbar ist. Die vorgeschlagene Ersetzung durch Dachwohnung bringt nun jedoch eine grundlegende Änderung in den Text, der von Gebäuden handelt. Schließlich fragt man sich, was das <?page no="52"?> Wilhelm Grießhaber 46 wohl für eine Dachwohnung mit 7,30 m Höhe ist. Diese Plausibilitätsprüfung wurde bei der Textentlastung wohl nicht durchgeführt. Ähnlich wie bei der oben behandelten Infinitivkonstruktion erfährt der Text durch die Umformulierung eine sachlich tiefe Veränderung. Der Umbau des Fachtextes führt zwar zu einem schlankeren, aber inhaltlich divergenten Text. Zusammenfassend deuten die von den Förderschülern als schwer verständlich empfundenen Textpassagen nicht so sehr auf typische Probleme eines von Fachwörtern und komplexen syntaktischen Konstruktionen überquellenden Textes hin, sondern eher auf geringe Lesefertigkeiten. Wenn nun die 42 Förderschüler repräsentativ für die Kreuzberger Schülerpopulation sind, dann zeigen der Text und seine Bewertung, dass den Zweitsprachlernern grundlegende Texterschließungstechniken und Sicherheit im Umgang mit typischen schriftsprachlichen Konstruktionen fehlen. Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass der Unterricht in den vorhergehenden zehn Schuljahren in viel stärkerem Maße auf den Umgang mit solchen Texten vorbereiten sollte. 4 Handelnde Zugänge zum Fachwissen 4.1 Etikettierung: Gestisches Sprechen in der Kleingruppenarbeit Im Zusammenhang mit der Fachlexik wurde oben gezeigt, dass der Erwerb von Fachwissen mehr ist als der Erwerb (fach-)sprachlicher Etiketten für Sachverhalte. Schon im Begriff der Fachsprache steckt sprachliches Handeln. Demzufolge ist anzunehmen, dass auch der schulische Erwerb von Fachwissen nicht nur durch Informationsaufnahme erfolgt, sondern durch eigenaktives sprachliches Handeln. Die Unterrichtswirklichkeit ist dagegen weitgehend vom monologisierenden Lehrervortrag geprägt (s.o. 2.2). Doch auch selbständige Kleingruppenarbeit garantiert keine aktive Auseinandersetzung mit Fachinhalten oder Aneignung von Fachlexik. Die Dokumentation einer Kleingruppenarbeitsphase in einer vierten Hamburger Grundschulklasse zum Thema Strom gibt einen Einblick in die Bearbeitung von Arbeitsaufträgen (Grießhaber/ Özel/ Rehbein 1996). Die vier türkischen LernerInnen sollen Teile einer Taschenlampe identifizieren und die vorgegebenen Bezeichnungen der insgesamt elf Teile zu vorgegebenen nummerierten Zeilen in ein Arbeitsblatt eintragen. Im Wesentlichen durchlaufen die SchülerInnen folgenden Zyklus: (a) Vorlesen/ Nennen eines Gegenstands aus der Liste, (b) Suchen/ Identifizieren des gesuchten Gegenstands im Materialkasten, (c) Feststellen der passenden Nummer und (d) Eintragen des Namens bei der passenden Nummer. Mit diesem Vorgehen werden alle elf Objekte identifiziert, manchmal unter Zuhilfenahme einer Abbildung der Gegenstände auf dem Arbeitsblatt. Mit Blick auf den Fachspracherwerb ist nun interessant, wie die Lernenden Unsicherheiten bei der Identifizierung eines Objekts bearbeiten bzw. zu beheben versuchen. Haben sie eine Vorstellung davon, welche Eigenschaf- <?page no="53"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 47 ten das gesuchte Objekt bzw. ein anderes im Fokus stehendes Objekt besitzt und versuchen sie eine verbale Klärung, ob das Objekt und die bekannten Eigenschaften zueinander in Beziehung stehen? Ein solches Vorgehen könnte zum Aufbau eines abstrakten Begriffswissens führen. Tatsächlich jedoch beschränkt sich die verbale Kommunikation auf wenige sprachliche Handlungen: (a) Sie zeigen immer wieder auf einzelne Teile in der Schale oder nehmen Teile in die Hand; dabei richten sie mit Zeigwörtern die Aufmerksamkeit auf bestimmte Teile (Ayla: Burda =Hier/ Da). (b) Sie benennen Objekte, auf die sie zeigen (Sedat: Deckel budur =Das ist der Deckel). (c) Manchmal sprechen sie andere Schüler an und fordern sie auf, irgendwohin zu schauen (Sedat: Emel, bak! =Emel, guck! ). (d) Typisch sind deliberierende Äußerungen, mit denen ein Abwägungsprozess begleitet wird; so überlegen sie, ob ein bestimmtes Teil nun ein bestimmter Gegenstand ist - so sucht Emel den Deckel, zeigt auf zwei Objekte (Deckel und Kappe) und sagt dabei: Bu mu, bu mu? (=Dies oder dies? ); sie bewerten die Ergebnisse ihrer Identifizierungshandlungen (Aydan: Acayip ey. =Merkwürdiges Ding.) oder äußern ihr Erstaunen (Metin: Ay, Allah Allah! =Ach, Gott o Gott! ). Die handlungsbegleitenden oder -steuernden Äußerungen erfolgen fast ausschließlich auf Türkisch. In den türkischen Äußerungen verwenden sie die im Arbeitsblatt vorgegebenen deutschen Begriffe (oben (b)), teilweise mit den passenden türkischen Kasusendungen. Ein klärender Austausch über Merkmale oder Eigenschaften der Objekte findet nicht statt. Die Lernenden handeln im Grunde so wie die deutschen Lehrkräfte im Fachunterricht (Chlosta/ Schäfer 2008, oben). Mentale Entscheidungsprozesse oder Wissen über Eigenschaften von Objekten werden nicht verbal kommuniziert. Sprache dient zur Identifizierung von Objekten im Modus des gestischen Sprechens (Brinkschulte/ Grießhaber 1999) und zur Steuerung der Aufmerksamkeit sowie zur Bestätigung oder Ablehnung der Etikettierung eines Objekts. Diese Art der Kommunikation ist zweifellos interaktional, insofern die Lernenden handeln. Eine Vermittlung fachlicher Inhalte findet jedoch nicht statt. Das Konzept des handelnden Fachunterrichts bedarf somit einer grundlegenden Erweiterung, damit es die Lernenden beim Wissenserwerb unterstützt. 4.2 Wissenserwerb über Handlungsbeschreibungen Eine vollkommen andere Art der handelnden Wissensvermittlung schlägt der Physikdidaktiker Wagenschein (1978) vor. Er plädiert dafür, abstrakte physikalische Gesetzmäßigkeiten von Handlungen und Handlungsbeschreibungen in der Alltagssprache aus zu entwickeln, um so schrittweise auf die abstrakte Formulierung der gefundenen Gesetzmäßigkeiten in einer Formel <?page no="54"?> Wilhelm Grießhaber 48 zu gelangen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Überzeugung, dass es fundamentales Ziel des Physikunterrichts sei, Physik verstehen zu lernen. Dabei sieht er den Akt des Verstehens als einen Akt des Verstehenden, den ihm kein anderer abnehmen könne. Er kommt damit aktuellen konstruktivistischen Vermittlungskonzepten recht nahe. Sein Konzept erläutert er am Beispiel der Vermittlung des Boyleschen Gesetzes über den Zusammenhang von Druck und Volumen von Gasen. Die Schüler sollen beim Experimentieren mit einer Fahrradpumpe entdecken und beschreiben, wie sich die Luft beim Zusammendrücken verhält. Er skizziert fünf Vermittlungsschritte (ebd. 326f); kursiv die Schüleräußerungen, darunter die weiterführenden Kommentare des Lehrers zu den Aktivitäten: 1. Fassung: Wenn ich die eingesperrte Luft zusammendrücke, dann geht das immer schwerer. Gut. Aber das „Ich“ muß heraus, der Mensch überhaupt. Die Luft ist die Hauptperson. 2. Fassung: Je weniger Platz die Luft noch hat, desto mehr wehrt sie sich. Wenn die Luft ein Tier wäre, dürften wir so sagen. 3. Fassung: Je kleiner der Raum der Luft geworden ist, desto größer ihr Druck. Das ist die sogenannte „qualitative“, die „Je-desto-Fassung“. - Sie genügt nicht. Physik will Zahlen sehen: wie klein, wie groß! 4. Fassung: nach Messung zusammengehöriger Werte ergibt sich ein Gesetz von erstaunlicher Einfachheit: Wenn das Volumen des Gases 5mal kleiner geworden ist, dann ist der Druck in ihm auch gerade 5mal (aber nicht kleiner, sondern) größer geworden. Allgemein: n-mal. (…) 5. Fassung: Mathematische Formalisierung ohne Worte: Neue Betrachtung der Tabelle. Das eben Gesagte äußert sich mathematisch darin, dass das Produkt Druck mal Volumen immer dasselbe bleibt: p • v = const. Damit ist inhaltlich nichts gewonnen. Wir haben uns nur einen hübschen kleinen Rechenautomaten geschaffen, der uns die Worte abnimmt. Dieses Vorgehen ist sehr viel zeitaufwendiger als der zeitökonomische Lehrervortrag. Allerdings ist auch nachvollziehbar, warum bei diesem - stark lehrergesteuerten - Vorgehen die Schüler ihr Wissen erweitern und das Boylesche Gesetz auf diesem Wege verstehen lernen. Auch die Rolle der Sprache beim Wissenserwerb wird deutlich: Die Schüler versprachlichen in der ihnen zugänglichen Alltagssprache (Wagenschein verwendet den Begriff Muttersprache) die von ihnen beim Experimentieren gemachten Erfahrungen. Die Lehrperson steuert sodann den Erkenntnisprozess auf eine immer abstraktere Formulierung der gemachten Erfahrungen. Bei diesem Umformulierungsprozess wird der aktuelle Handlungsbezug aus den Äußerungen herausgenommen und der Aktant als Verursacher eines Prozesses wird ebenfalls eliminiert. Insgesamt werden konkret ereignisbezogene Äußerungen durch allgemeingültige Formulierungen ersetzt. Es wird auch <?page no="55"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 49 deutlich, dass durch Abstraktion von konkreten Ereignissen unpersönliche Konstruktionen und das Passiv in (naturwissenschaftliche) Fachsprachen kommen. Unter methodischen Gesichtspunkten ist wichtig, dass die Schüler Geschehensbeschreibungen durchführen. Zur Beschreibung eines Sachverhalts muss die innere Funktionalität noch nicht erkannt oder verstanden worden sein. Es genügt die Orientierung an (äußerlich) wahrnehmbaren Sachverhalten. Der Lerner kann also in den Erwerbsprozess einsteigen, ohne dass er schon über ein bestimmtes (Fach-)Wissen verfügt. Das Wissen wird durch Arbeit an der Formulierung der Lerneräußerungen schrittweise erworben. Das Wagenscheinsche Konzept setzt altersgemäß entwickelte Alltagssprachkenntnisse voraus. Auch wenn Zweitsprachlerner nicht explizit berücksichtigt sind, ist das Konzept auch für L2-Lerner tragfähig. Sie müssen sich nur ähnlich unvollkommen oder bruchstückhaft ausdrücken dürfen, wie die von Wagenschein an anderer Stelle seines Beitrags dokumentierten deutschen Schüler. Es ist selbstverständlich klar, dass der Lehrperson im Unterricht mit L2-Lernern eine noch bedeutendere Rolle als im muttersprachlichen Fachunterricht zukommt. Dabei geht es nicht um sprachliche Korrektheit, sondern um Unterstützung bei der Formulierung von Äußerungsabsichten, für die eigentlich die geeigneten zweitsprachlichen Mittel (Lexik und Grammatik) noch fehlen (vgl. auch Kügelgen 1994 für den zweitsprachlichen Mathematikunterricht). 4.3 Sozialform, Formulieren und Wissensprozessierung Explizit für L2-Lernende hat Gibbons (1998) ein Fachvermittlungskonzept vorgelegt, das gewisse Parallelen zu dem oben vorgestellten Konzept von Wagenschein aufweist. Auch ihr Konzept sieht Phasen mit je eigenen sprachlichen Merkmalen vor. Allerdings treiben unterschiedliche Aktivitäten, Adressaten und Äußerungsmodi die Arbeit an den Formulierungen voran. Sie demonstriert das Konzept am Beispiel des Magnetismus. 1. Phase: Arbeit in kleinen Gruppen: die Lernenden erkunden in kleinen Experimenten das magnetische Verhalten unterschiedlicher Materialien 2. Phase: Von der Lehrerin angeleitetes Berichten: Vertreter der Gruppen berichten dem Klassenplenum über die von ihnen durchgeführten Experimente und Beobachtungen; vor dem Berichten unterstützt die Lehrerin die Gruppen und hilft ihnen bei der Wahl passender sprachlicher Ausdrücke 3. Phase: Lernertagebuch schreiben: alle Lernenden halten in Tagebüchern schriftlich fest, was sie gelernt haben. Die Äußerungen der 1. Phase sind grammatisch meist unvollständig und bruchstückhaft (vgl. oben die Äußerungen der SchülerInnen in 4.1; vgl. auch Grießhaber 2003-2007 zu mündlichen Handlungsbeschreibungen beim Bin- <?page no="56"?> Wilhelm Grießhaber 50 den einer Krawatte). Der Fokus ist auf die Planung und Durchführung einer Handlung und auf die Verbalisierung von Resultaten gerichtet. Sie sind teilweise vergleichbar mit den Äußerungen, die die Schüler nach Wagenschein in der ersten Phase machen. In der zweiten Phase sollen die Schüler nun Hörern, die ihre Experimente und Resultate nicht kennen, ihre Handlungen und Resultate verbal mitteilen. Dadurch müssen die Lerner eine Verarbeitung vornehmen, sie müssen Äußerungen machen, in denen die propositionalen Gehalte mit geeigneten sprachlichen Mitteln, Verben, Substantiven und Adjektiven, versprachlicht sind. Da ihnen die erforderlichen Mittel noch nicht zur Verfügung stehen, sind sie auf Unterstützung durch die Lehrperson angewiesen. Die dritte Phase verlangt nun einen weiteren Abstraktionsschritt. Die schriftliche Fixierung der Erfahrungen für einen unbestimmten Rezipientenkreis erfordert die Nutzung des vollen grammatischen Instrumentariums der Sprache (insbesondere der Flexion). Die Abfolge verschiedener Tätigkeiten, Adressaten und Modi bewirkt eine zunehmend abstraktere Formulierung. Ähnlich wie bei Wagenschein fungiert Sprache selbst in wachsendem Maße als Werkzeug und Werk. Während Gibbons sich auf die Arbeit an den sprachlichen Formulierungen konzentriert, stellt Wagenschein den Fachinhalt ins Zentrum. Gibbons stützt sich auf den Begriff des Registers. Damit wird suggeriert, dass sich die schriftlichen Versionen lediglich durch ein anderes Register von den handlungsbezogenen Äußerungen unterscheiden. Es handelt sich nach Biber (Biber/ Conrad/ Reppen 1998) um jeweils mathematisch berechenbare unterschiedliche Distributionen sprachlicher Mittel. Dabei bleiben tieferliegende Zusammenhänge zwischen sprachlichen Formen und Funktionen in verschiedenen Registern unberücksichtigt. Für das Deutsche erscheint dieser Ansatz zu einfach. Das oben vorgestellte Beispiel der mathematischen Vergleichsarbeit zeigt, dass der Text keine spezifisch fachsprachlichen Lexeme oder Konstruktionen enthält (möglicherweise kann der „um-zu“-Infinitiv als Merkmal eines Registers betrachtet werden); Die Bedeutung des Ausdrucks „Nur-Dach-Haus“ kann aus der Wortbildung und der Illustration erschlossen werden; dafür wird kein neues Register benötigt. Interessant und weiterführend ist das Konzept der wechselnden Adressaten und Modi. Dass die Lerner ihre Ergebnisse Hörern mitteilen, die die Ergebnisse noch nicht kennen, unterscheidet diesen Unterricht fundamental vom konventionellen Klassenunterricht, in dem in der Regel der relevante Hörer, die Lehrperson, die korrekte Antwort schon kennt. Dadurch gibt es für den Lerner eigentlich keinen Anlass, bei der Formulierung seiner Äußerung darauf zu achten, dass der Hörer versteht. Die Lerneräußerungen können sich auf die Nennung isolierter (Fach-)Ausdrücke beschränken (Chlosta/ Schäfer 2008). Damit das Konzept funktioniert, sollten die Gruppen tatsächlich Aufgaben durchführen, bei denen jede Gruppe anschließend den Übrigen neue Erkenntnisse vermitteln kann, z.B. durch unterschiedliche Aufgabenstellungen oder durch gleiche Aufgaben mit unterschiedlichen Materialien oder Quellen. <?page no="57"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 51 5 Zusammenfassung und Ausblick Zweitsprachlicher Fachunterricht steht vor großen Herausforderungen. Eine der größten ist darin zu sehen, dass das zum Wissenserwerb benötigte Instrument Zweitsprache nur unvollkommen zur Verfügung steht. Dadurch unterscheidet sich zweitsprachlicher Fachunterricht fundamental von erstsprachlichem. In dem vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, dass der erstsprachliche Fachunterricht von alltäglichen Wissensbeständen der Schüler ausgeht und voraussetzt, dass sich die Schüler über Handlungen und Erfahrungen im Medium der Alltagssprache äußern können. Der eigentliche Vermittlungsprozess setzt sodann an den alltagssprachlichen Erfahrungen an und entfaltet Fachwissen durch Arbeit an den Formulierungen. Wenn dies mit Zweitsprachlernenden gelingen soll, benötigen sie massive Unterstützung durch kompetente Zielsprachensprecher. Dieser Prozess erfordert viel Zeit. Es ist deshalb unbedingt erforderlich, die Inhalte kritisch zu überprüfen und auf zentrale Bereiche zu konzentrieren, an denen das Fachwissen exemplarisch vermittelt wird. Schon für muttersprachlichen Fachunterricht sehen die Lehrpläne viel zu viel Lehrstoff vor, wie ein Blick auf die empirische Schulbuchforschung zeigt. Umso mehr gilt dies für Zweitsprachlerner. Schließlich sind die kompensatorischen Wissensbestände der Zweitsprachlerner zu berücksichtigen. Wenn die Lerner keine Gelegenheit haben, ihre Erfahrungen einzubringen, werden auch ihre gegenüber deutschen Schülern differenten Erfahrungen bei der Wissensvermittlung nicht berücksichtigt werden können. Der Unterricht wird kein Verstehen erreichen können. Große Desiderata bestehen bei der Erfassung und Analyse gelingender Unterstützungshandlungen durch die Lehrpersonen. Dieses Wissen wird dringend benötigt, um aus (zweit-)sprachdidaktischer Sicht auch Fachlehrkräften systematische Hilfen für einen sprachsensiblen Fachunterricht anbieten zu können. Dann kann auch der Deutschunterricht einen passgenauen Beitrag zur Zweitsprachförderung für den Fachunterricht leisten. Literatur Baur, Ruprecht S./ Bäcker, Iris/ Wölz, Klaus (1993): Zur Ausbildung einer fachsprachlichen Handlungsfähigkeit bei Schülerinnen und Schülern mit der Herkunftssprache Russisch. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2/ 93, 4-38. Biber, Douglas/ Conrad, Susan/ Reppen, Randi (1998): Corpus Linguistics. Investigating Language Structure and Use. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Brämer, Rainer/ Clemens, Hans (1980): Physik als Fremdsprache. In: Der Physikunterricht 14,3/ 80, 76-87. <?page no="58"?> Wilhelm Grießhaber 52 Brinkschulte, Melanie/ Grießhaber, Wilhelm (1999): Gestisches Sprechen. Sprechen vor dem Computer. In: Sprache an der Jahrtausendwende. OBST 60/ 99, 33-50. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer (neu: Berlin: Ullstein 1978). Chlosta, Christoph/ Schäfer, Andrea (2008): Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Band 9. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 280-297. Deutsches Pisa-Konsortium (Hrsg.) (2002): Pisa 2000 - Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Ehlich, Konrad (2001): „Stille Ressourcen“. In: Wolff, A./ Winters-Ohle, E. (Hrsg.) Wie schwer ist die deutsche Sprache wirklich? Beiträge der 28. Jahrestagung DaF vom 1.-3. Juni 2000 Dortmund. Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache, 166-190. Ehlich, Konrad/ Rehbein, Jochen (1986) Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr. Forthaus, Ursula/ do Carmo Kuparinen, Maria/ Marquardt, Dorothee (1988): Zweisprachige Erziehung am Max-Planck-Gymnasium in Dortmund. In: Deutsch lernen 2/ 88, 67-81. Gibbons, Pauline (1998): Classroom Talk and the Learning of New Registers in a Second Language. In: Language and Education 12,2/ 98, 99-118 (deutsch in: Mecheril, P./ Quehl, Th. (Hrsg.) (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in der Zweitsprache. Münster u.a.: Waxmann, 269-290). Gogolok, Kristin (2006): Empirische Untersuchungen in der Schulbuchforschung. Eine kritische Bestandsaufnahme aus der Perspektive der Verständlichkeit(sforschung). In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/ 06, 474-498. Grießhaber, Wilhelm (2003-2007): Sprechen - Mündlichkeit - Schreiben - Schriftlichkeit. URL: [http: / / spzwww.uni-muenster.de/ ~griesha/ eps/ wrt/ krw / krw.uebersicht.html]. Grießhaber, Wilhelm (2005): Sprache im zweitsprachlichen Mathematikunterricht. Verbale und nonverbale Verfahren bei der Vermittlung mathematischen Wissens. In: Braun, S./ Kohn, K. (Hrsg.): Sprache(n) in der Wissensgesellschaft. Proceedings der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Frankfurt/ M. u.a.: Lang, 65-77. Grießhaber, Wilhelm (2007): Lesen mit nichtdeutschsprachigen Kindern. In: Meyer, C. (Hrsg.) Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht. Festschrift für Jürgen Hein. Münster: Ardey, 333-344. Grießhaber, Wilhelm/ Özel, Bilge/ Rehbein, Jochen (1996): Aspekte von Arbeits- und Denksprache türkischer Schüler. In: Ulonska, Herbert/ Kraschinski, S./ Bartmann, Th. (Hrsg.): Lernforschung in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 160-179. <?page no="59"?> (Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachuntericht 53 Harnisch, Ulrike (1991): Zur Begriffsentwicklung in zwei Sprachen. Ein Erfahrungsbericht aus einem Schulversuch zur zweisprachigen Erziehung. In: Barkowski, H./ Hoff, G. (Hrsg.): Berlin interkulturell. Ergebnisse einer Berliner Konferenz zu Migration und Pädagogik. Berlin, 109-120. Hinrichs, Beatrix (2003): Deutsch lernen durch Interaktion. Förderunterricht für Kinder von MigrantInnen. In: Deutsch als Zweitsprache 2/ 03, 35-39. Kügelgen, Rainer v. (1994): Diskurs Mathematik. Kommunikationsanalysen zum reflektierenden Lernen. Frankfurt/ M. u.a.: Lang. Meslek Evi (o.J.): Skript 4 zur 4. Plenarveranstaltung zum Thema: Fachsprachliche Besonderheiten und deren Auflösung am Beispiel ausgewählter Aufgaben der Vergleichsarbeiten Mathematik. Berlin: Meslek Evi. Möhn, Dieter/ Pelka, Roland (1984): Fachsprachen. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer. Rehbein, Jochen (1982): Zu begrifflichen Prozeduren in der zweiten Sprache Deutsch. Die Wiedergaben eines Fernsehausschnitts bei türkischen und deutschen Kindern. In: Bausch, K.-H. (Hrsg.) Mehrsprachigkeit in der Stadtregion. Düsseldorf: Schwann, 225-281. Seibicke, Wilfried (1976): Zur Lexik der Fachsprachen. In: Rall, D./ Schepping, H./ Schleyer, W. (Hrsg.): Beiträge einer Arbeitstagung an der RWTH Aachen vom 30. September bis 4. Oktober 1974. Bonn: DAAD, 69-75. Wagenschein, Martin (1978): Die Sprache im Physikunterricht. In: Bleichroth, W. (Hrsg.): Didaktische Probleme der Physik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 313-336. <?page no="61"?> Elke Grundler Argumentieren in der Zweitsprache 1 Argumentieren gehört v.a. im sozialwissenschaftlichen Fachunterricht der Sekundarstufe zur einer der zentralen Unterrichtsmethoden. Argumentative Gespräche genießen sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern eine hohe Akzeptanz, da fachliche Inhalte einerseits kognitiv differenziert durchdrungen werden können (vgl. Grümme 2006, 131), und andererseits grundlegende bildungspolitisch angestrebte Verfahren zur individuellen Urteilsbildung in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft eingeübt und praktiziert werden (vgl. Kuhn 2006). Dazu wird in den Vorgaben der Bildungspläne das Argumentieren als Methode und Lerngegenstand zugleich formuliert. 2 Im Gegensatz zu den hohen Bildungserwartungen, die mit dem unterrichtlichen ‚Argumentieren’ verbunden sind, erscheint die schulische Realität z.T. ernüchternd. Anstelle engagierter Diskussionen sind v.a. im Unterricht der Hauptschule zähe Gesprächsprozesse zu beobachten. Scheinbare Lustlosigkeit, offensichtliche Einsilbigkeit und der Hang zu undifferenzierten Pauschalurteilen bei diskutablen Fragestellungen lassen die hochgesteckten Ziele in einer auf den Outcome ausgerichteten didaktischen Perspektive oft blass aussehen. Als Erklärung wird auf ungeeignete Diskussionsthemen verwiesen oder die unmittelbar fehlende Handlungsrelevanz des Diskussionsthemas angeführt (vgl. Spiegel 2006, 63f). Eine zusätzliche Erklärungsperspektive für die unzureichende Teilnahme bzw. die unbefriedigende inhaltliche Qualität der Diskussionen im Klassenzimmer kann verfolgt werden, wenn die Sprachfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in den Fokus gerückt wird (vgl. Luchtenberg 1991, 381). In dieser Hinsicht ist zu fragen, ob der argumentative Diskurs u.a. deswegen nur unzureichend möglich ist, weil den Jugendlichen das sprachliche Material im Sinne eines ausreichend aktivierbaren Lexikons fehlt (vgl. Apeltauer 2004, 97). Diese Einschätzung liegt insofern nahe, als die angedeuteten Schwierigkeiten bei Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) tendenziell stärker auftreten als bei gleichaltrigen Sprechern, die Deutsch als Muttersprache (DaM) erwarben. 1 Dieses Projekt ist gefördert aus dem Europäischen Sozialfonds in Baden-Württemberg. 2 So heißt es z.B. in den Bildungsstandards für Hauptschulen (Baden-Württemberg) in den allgemeinen Erläuterungen zum Fächerverbund ‚Welt-Zeit-Gesellschaft’ (WZG): „Die Schülerinnen und Schüler üben die Grundregeln der Diskussion ein und lernen Techniken der Diskussionsleitung. Im Bildungsgang Werkrealschule trägt der Fächerverbund Welt- Zeit - Gesellschaft dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler gesellschaftliche Fragen zunehmend selbstständiger diskutieren und verstehen.“ (Bildungsplan WZG, Ba-WÜ 2004, 135) <?page no="62"?> Elke Grundler 56 Im folgenden Beitrag sollen daher die Nutzung des Lexikons von DaZ- Sprechern und die Auswirkungen auf den argumentativen Gesprächsprozess im Unterricht im Mittelpunkt stehen. Dazu wird zunächst die Bedeutung eines autonomen Inhaltswortschatzes von einem im Gespräch etablierten kollektiven Wortschatz unterschieden (1). In einer quantitativen Annäherung wird die Nutzung des autonomen Nominallexikons von DaZ- Sprechern mit DaM-Sprechern hinsichtlich unterrichtlich vorbereiteter und unvorbereiteter argumentativer Gespräche verglichen (2). In einer qualitativen Analyse dreier Transkriptausschnitte eines DaZ-Sprechers werden Einblicke in typische Strategien im Umgang mit lexikalischen Schwierigkeiten möglich. Damit werden die Auswirkungen auf das schulische argumentative Handeln erklärbar (3). Schließlich wird aus den Beobachtungen ein didaktisches Fazit gezogen (4). 1 Autonomer und kollektiver Inhaltswortschatz in argumentativen Gesprächen Argumentative Gespräche unterliegen denselben interaktionalen Bedingungen wie andere Gespräche. Betrachtet man z.B. die Themenentwicklung, so kann in den Gesprächsbeiträgen der einzelnen Teilnehmer gewöhnlich eine prototypische Initiativität beobachtet werden. Darunter versteht man die Bidirektionalität einer Äußerung, in der einerseits mit einem Anschluss an die Vorgängeräußerung kohärente Bezüge geschaffen werden, in der aber andererseits auch inhaltlich neue Elemente formuliert werden und damit neue konversationelle Anschlussmöglichkeiten initiativ gesetzt werden (vgl. Linell u.a. 1988). Der responsive Anteil kann durch Kohäsionsmarkierungen wie Proformen, lexikalische Wiederaufnahmen, Junktionen u.a. an der sprachlichen Oberfläche ausgedrückt werden, muss es aber nicht zwingend (vgl. Brinker/ Sager 2001, 74 ff). Vielmehr kann eine ausreichende Gesprächskohärenz auch durch allein pragmatische Zusammenhänge, die durch das Gricesche Kooperationsprinzip erklärt werden können, erzielt werden (vgl. Deppermann 2001, 64; Grice 1975/ 2000, 168f). Für den initiativen Anteil ist die Aktivierung neuer Inhaltswörter aus dem mentalen Lexikon praktisch unumgänglich. 3 Zur Gestaltung eines Gesprächsbeitrags sind daher unterschiedliche sprachlich-lexikalische Leistungen notwendig. Einerseits können Inhaltslexeme, die in der lokalen Umgebung verbalisiert wurden oder die als thematisches Schlüsselwort des Gesprächs etabliert sind, aufgegriffen und für die eigene Äußerung zur Themaformulierung genutzt werden. Andererseits müssen darüber hinaus neue Lexeme zur Ausgestal- 3 In dieser Hinsicht ist z.B. Gogolins (2001) Konzentration auf die Analyse des Inhaltswortschatzes bei Sprachstandserhebungen in der Fremdsprache/ Zweitsprache zu verstehen, wenn sie betont, dass Kommunikation durch Inhaltswörter möglich wird. <?page no="63"?> Argumentieren in der Zweitsprache 57 tung des initiativen Äußerungsanteils, des Rhemas, von dem Sprecher aktiviert und in die Äußerung integriert werden. Für das Argumentieren heißt dies, dass die schnelle und flexible Nutzung eines differenzierten mentalen Lexikons, bezogen auf Inhaltswörter, notwendig ist, um an der gemeinsamen inhaltlichen Entwicklung von komplexen Argumenten in der Interaktion teilhaben zu können. Letzteres entsteht durch die Formulierung von kritischen Einwänden gegenüber den Beiträgen eines Gesprächspartners oder durch Stützungsversuche der eigenen Äußerungen nach den Einwänden des Partners, wie das konstruierte Beispiel zeigt: A: Die Silvesterknallerei gehört abgeschafft. B: Warum das denn? Sie macht Spaß und gehört auch zur Volkskultur. A: Stimmt, aber denke mal an das Geld, das sinnlos in die Luft geschossen wird. Dieses könnte man doch besser für soziale Zwecke einsetzen. Für die eigenständige Formulierung eines „komplexen Argumentationsformats“ (Vogt 2002, 258) gilt dies selbstverständlich noch mehr. Zu einer Untersuchung des Lexikongebrauchs kann mit den obigen Überlegungen zwischen einem allgemeinen, d.h. kollektiven Wortschatz des Gesprächs und einem autonomen Wortschatz eines Sprechers unterschieden werden. Der kollektive Wortschatz umfasst die etablierten Schlüsselwörter sowie die nicht erstmalig durch den fokussierten Sprecher in der lokalen Umgebung eingebrachten Lexeme. Der autonome Wortschatz wird von den Lexemen gestellt, die der fokussierte Sprecher erstmalig initiativ in die Diskussion einbringt. Um eine erste Orientierung über den Anteil der durch einen Sprecher selbstständig eingebrachter Inhaltslexeme innerhalb eines argumentativen Gesprächs zu erhalten und damit seinen lexikalischen Anteil an der Argumententwicklung beschreiben zu können, ist die Ermittlung eines Differenzwertes zwischen kollektivem und autonomen Wortschatz sinnvoll, der sich aus der Differenz zweier type-token-Relationen errechnet. 4 Quotient 1: Gesamtzahl aller Inhaltstypes des Sprechers Gesamtzahl aller Inhaltstoken des Sprechers Quotient 2: Gesamtzahl aller autonomen Inhaltstypes des Sprechers Gesamtzahl aller Inhaltstoken des Sprechers Differenzwert (DF) : Quotient 1 - Quotient 2 4 Die Einschränkungen der Aussagekraft von type-token-Relationen sind hinreichend bekannt (vgl. z.B. Peuser 2000, 121ff). Da im hier vorliegenden Fall die Relation jedoch nicht als Indikator für die Differenziertheit des Lexikons eines Sprechers generell genutzt wird, sondern nur einen Einblick in dessen Sprachverhalten innerhalb eines konkret betrachteten Gesprächs vermitteln soll, scheinen diese Einschränkungen weitgehend irrelevant. <?page no="64"?> Elke Grundler 58 Die Höhe des Differenzwerts (DF) kann als grober Richtwert für die Eigenständigkeit der Lexemaktivierung des Sprechers innerhalb des konkreten Gesprächs dienen: Je niedriger der DF ausfällt, desto höher ist der Anteil initiativer Inhaltswörter in den Äußerungen des Sprechers in der Interaktion. 5 2 Autonome Wortschatznutzung in unvorbereiteten und vorbereiteten Diskussionen Mit dem vorgestellten Vorgehen wurden exemplarisch 11 Sprecher (5 DaZ- Sprecher; 6 DaM-Sprecher) hinsichtlich ihrer lexematischen Differenzwerte in argumentativen Gesprächen untersucht. Die Sprecher nahmen an Gruppendiskussionen teil, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Argumentieren lehren und lernen“ an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg (Rüdiger Vogt, Elke Grundler) in Klassen der 8. Jahrgangsstufe in süddeutschen Hauptschulen erhoben wurden. Für einen ersten Zugriff wurden die Inhaltswörter weiter auf Nominallexeme reduziert. Dass damit kommunikativ wichtige Wortkategorien ausgeschlossen sind, ist ohne Frage. Aus der Perspektive, dass auf diesem Weg hochfrequente Verben (Hilfsverben und Kopulaverben), die v.a. strukturelle Funktion haben, ausgegrenzt sind, und dass Adverbien und Adjektive in den Gesprächen eine quantitativ untergeordnete Rolle spielen, ist diese Einschränkung zumindest für einen ersten Überblick akzeptabel. Die ermittelten Differenzwerte wurden in vier Kategorien unterteilt, um Tendenzen in der Wortschatznutzung abbilden zu können. Abbildung 1 zeigt die Differenzwerte der Jugendlichen in unvorbereiteten, Abbildung 2 in vorbereiteten argumentativen Gesprächen. In den unvorbereiteten Gesprächen nutzen die DaZ-Sprecher die lexikalischen Vorgaben ihrer Gesprächspartner in deutlich höherem Maße als die Schüler mit DaM. So erreichen die DaZ-Sprecher keinen Differenzwert zwischen 0,01-0,09, der auf einen hohen Anteil autonom aktivierter Nomen hinweist. Dagegen erzielt diesen Wert die Hälfte aller DaM-Sprecher. Diese Beobachtung wird besonders augenfällig, wenn mitbedacht wird, dass die DaZ-Sprecher tendenziell mit einer niedrigeren Beitragsfrequenz als auch mit einer niedrigeren Beitragslänge als ihre Gesprächspartner mit DaM an den Diskussionen teilnahmen. 6 5 In gewisser Hinsicht sind diese Überlegungen mit der Unterscheidung in einen rezepetiven und produktiven Wortschatz vergleichbar. Dem rezeptiven Wortschatz wird eine geringere Eigenleistung hinsichtlich der Aktivierung des mentalen Lexikons bescheinigt, da Situation und Kontext bereits die lexikalischen Zugriffe stark vorstrukturieren (vgl. Börner 2000, 39). 6 Vgl. für die rein rechnerische Bedeutung Peuser 2000, 121ff. Für das Verhältnis der quantitativen Gesprächsbeteiligung in Diskussionen zwischen DaM und DaZ-Sprechern vgl. auch die Ergebnisse von Jahnel (2000, 118). <?page no="65"?> Argumentieren in der Zweitsprache 59 Abb. 1 Differenzwerte in Ad-hoc-Diskussionen Abb 2: Differenzwerte in vorbereiteten Diskussionen Die Kategorie 0 wurde lediglich von L2-Sprechern erreicht. Sie besagt, dass alle Nominallexeme autonom aktiviert wurden. Dieses Ergebnis ist nicht widersprüchlich, sondern kommt durch die z.T. auffallend wenigen und kurzen Beiträge einzelner Sprecher zustande 7 , in denen kaum Nominal- 7 Mit z.B. nur insgesamt fünf geäußerten Nominallexemen innerhalb des Gesprächs fallen diese Ergebnisse aufgrund ihres geringen Umfangs aus der Betrachtung. Sie sind daher nur der Vollständigkeit halber mit aufgeführt und sollen im Weiteren außer Acht gelassen werden. <?page no="66"?> Elke Grundler 60 lexeme geäußert werden. 60 % der Schüler mit Deutsch als Zweitsprache greifen mit einem Differenzwert von > 0,2 offensichtlich intensiv auf die bereits im Gespräch eingebrachten Nomen durch explizite Wiederaufnahmen zurück. Die DaM-Sprecher nutzen dieses Verfahren selten so ausgiebig. Insgesamt kann daher angenommen werden, dass die DaZ-Sprecher deutlich weniger an der inhaltlichen Argumententwicklung initiativ beteiligt sind als DaM-Sprecher. Mit anderen Worten: Es fällt ihnen offensichtlich deutlich schwerer, eigene inhaltliche Konzepte in der Unterrichtssprache verbalisieren zu können (vgl. Willenberg u.a. 2007, 119). Bei den vorbereiteten Gesprächen wird deutlich, dass sowohl DaM- Sprecher als auch DaZ-Sprecher insgesamt deutlich weniger stark auf Vorgängerlexeme zurückgreifen, sondern eigenständiger ihr Lexikon nutzen. So können nun 50 % der DaZ-Sprecher die Hauptkategorie der DaM Sprecher erreichen, so dass offensichtlich auf die inhaltliche als auch lexematische Arbeit des Unterrichts aktiv zurückgegriffen wird. Bei dem DaM-Sprechern können 75 % die Kategorie zwischen 0,01-0,09 erreichen. Keiner der DaZ- Sprecher verbleibt in der vormaligen Hauptkategorie >2. Somit ist anzunehmen, dass sich die Jugendlichen deutlich weniger an den konzeptuellen Vorgaben der DaM-Sprecher in der Gruppe orientieren als sie dies in den unvorbereiteten Gesprächen taten. Damit ist eine deutliche qualitative Verbesserung der Argumentationsfähigkeit der DaZ-Sprecher, bezogen auf die untersuchten Gespräche, zu erwarten (vgl. Willenberg u.a. 2007). Dies soll im folgenden Abschnitt anhand der Analyse einzelner Transkriptausschnitte gezeigt werden. 3 Gesprächsbeispiele 3.1 Lexikalische Verfahren von L2-Sprechern in unvorbereiteten Diskussionen Im Folgenden werden zwei typische Verfahren gezeigt, wie DaZ-Sprecher, trotz offensichtlicher lexikalischer Einschränkungen, versuchen, aktiv an einer schulischen Diskussionsaufgabe teilzunehmen. In dem ersten strategischen Verfahren werden die Lexeme der Vorgängeräußerung geschickt ausgenutzt, in dem sie explizit aufgegriffen werden, jedoch in einer pragmatisch neuen Obligation an den Gesprächspartner zurückgegeben werden, ohne dass der Sprecher darin neue inhaltliche Impulse gibt. Dies kann im Sinne von Fragestellungen erfolgen, die den inhaltlich initiativen Partner zu einer weiterführenden Antwort auffordern (vgl. Transkriptbsp. 1, Z. 54) oder durch Relevanzreduktionen, mithilfe derer der Gesprächspartner zu einer argumentativen Differenzierung aufgefordert wird (vgl. Transkriptbsp. 1, Z. 60-61). <?page no="67"?> Argumentieren in der Zweitsprache 61 In Transkriptbeispiel 1 wird dies kurz illustriert: 8 Mehrere Schüler diskutieren ohne unterrichtliche Vorbereitung im Zusammenhang der Frage, ab welchem Alter Rauchen legalisiert werden soll, über den Vorschlag, ob ein generelles Rauchverbot sinnvoll sei. Im Zentrum des Interesses stehen ST, Schüler mit Migrationshintergrund aus der 2. Generation, und TH, DaM- Schüler. ST erreichte in diesem Gespräch DF > 0,2; TH den DF= 1,3. UW und RE sind weitere Schüler. Beispiel 1: (HS-GE 1.1): (52) TH: ja aber dann gibt’s ja ArBEITslose (53) UW: die rauchen halt in ihrem [Zimmer] (54) ST: <<f>[warum] gibt’s ARrbeits[lose]> (55) RE: [warum] arbeitslose (56) TH: ha ja die zigaretten stellen ja auch welche HER (57) RE: [ja puh] (58) UW: [ja und] (59) ms: [(...)] (60) ST: <<f> [solln sie doch] irgendwo=ANders> arbeit suchen (61) (.) <<p> es gibt nicht nur Zigarettenherstellungs; > (62) TH: die haben doch eh schon genug probleme arbeitslose (.) TH vertritt eine ablehnende Position gegenüber einem generellen Rauchverbot, indem er bereits zum zweiten Mal innerhalb des Gesprächs auf volkswirtschaftliche Auswirkungen hinweist, wonach ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit durch ein Verbot zu befürchten sei (Z.52). Während UW sich noch auf die Sequenz vor dem Transkriptausschnitt bezieht, ergreift ST engagiert das Wort, in dem er laut und mit UW überlappend die Behauptung THs als erklärungsbedürftig zurückweist (Z.54). RE wiederholt die Aufforderung, bevor TH die eingeforderte Erklärung abgibt (Z.56). Nach einem kurzen kommentierenden Gerangel mehrerer Gesprächsteilnehmer setzt sich ST erneut mit dem Rederecht durch und weist die Bedeutung von THs einfachem Argument mit dem Hinweis auf andere Arbeitsplätze zurück (Z.60f). Betrachtet man das sprachliche Handeln STs unter formaler und funktionaler Perspektive, so können folgende Punkte formuliert werden: 1. Der Schüler ist motiviert, der schulischen Aufgabe, eine Diskussion zu der Thematik zu führen, gerecht zu werden. In Selbstwahl ergreift er jeweils engagiert das Rederecht. Er erzeugt dabei lokale Verknüpfungen durch nominale Wiederaufnahmen und sichert so die Gesprächskohärenz. Gleichzeitig prozessiert er das Gespräch aktiv mit, indem er durch Obligationen an TH den Fortgang desselben einfordert. 2. ST nutzt intensiv die Lexeme der Vorgängeräußerungen. Dies geschieht einerseits direkt und erweitert durch Konstruktionsübernahmen (gibt´s arbeitslose (Z.54)), andererseits mithilfe seiner Kenntnisse der Wortbildungsverfahren im Deutschen. So löst er erstens eine Derivation auf (Z.52: Arbeitslose (TH) Z.60: Arbeit (ST)) und zweitens bildet er eine 8 Vgl. eine detaillierte Analyse des Trankskripts in Grundler (2009). <?page no="68"?> Elke Grundler 62 Komposition aus vorliegendem Lexemmaterial (Z.56: zigaretten stellen ja auch welche her (TH) Z.61: zigarettenherstellungs (ST)). Dabei bleibt die Komposition offensichtlich unvollständig. Das angehängte -s erinnert an ein Fugen-s, sodass zumindest angenommen werden kann, dass er ein Determinatum geplant hat. Doch es unterbleibt dessen Verbalisierung. Vielmehr weist eine leichte Dehnung des -s, sowie eine dabei leicht abfallende Tonhöhenbewegung auf eine Beendigung der möglichen Komposition hin. ST vertraut somit auf die Kooperativität seines Gesprächspartners. Ohne Überlappung schließt TH folgerichtig seinen Beitrag an. ST kann durch sein lexematisches Verfahren individuell kein eigenes Argument in der Sequenz etablieren. Es ist ihm zwar möglich seinen Gesprächspartner durch seine Rückfragen und seine Obligationen in der Interaktion zur Ausdifferenzierung dessen Arguments zu bringen, doch bleibt dieses der kognitiven Ausrichtung des Partners überlassen. Eigene sachliche Schwerpunkte, auch im Rahmen von Einwänden, könnten die Diskussion dagegen auch bezüglich seiner Position inhaltlich prägen. So könnte z.B. in STs zweitem Beitrag (Z.60-61) hinzugefügt werden, dass die Arbeitsplätze in der Zigarettenindustrie indirekt für hohe Kosten im Gesundheitswesen sorgen, dass der volkswirtschaftliche Schaden durch die Gesundheitsfolgen des Rauchens höher ist als die der Arbeitslosigkeit usw. Im zweiten Transkriptbeispiel wird das komplementäre Verfahren desselben Schülers deutlich. Die Sequenz geht der obigen voraus. Thematisch führt TH die Arbeitslosigkeit dort erstmals ein. AN ist ein weiterer Schüler. Beispiel 2: (HS-GE 1.1): (36) TH: aber da gibt’s auch ARbeitslose (37) wenn mans GANZ verbietet (38) ST: wir verBIEten=und dann so ne strafe von (-) (39) sag ma ERste mal 100 EU: ro (40) RE: das interessiert doch keinen (41) mS: ((lachen)) (42) AN: aber das geld läuft in MEIne tasche rein GELL (43) RE: <<p> <<ablehnend>> ah ja=klar> (44) ST: ah und der andere teil rutscht rein in MEIne hehe (45) AN: das wird sich EH bald keiner mehr LEIsten können (.) (46) wenn die die [steuer erhöhen] Nach THs Hinweis auf die Auswirkungen eines Rauchverbots (Z.36) greift ST in dieser Sequenz das Verb verbieten der Vorgängeräußerung auf (Z.38) und schlägt, ohne auf THs Behauptung einzugehen, ein Verbot als Lösungsmöglichkeit für die Diskussionsfrage vor. Seinen Vorschlag versucht ST zu erläutern, indem er auf die Folgen bei Zuwiderhandlungen des postulierten Verbots hinweist. Dazu gelingt es ihm das Nomen Strafen zu aktivieren und dies durch die Angabe eines Geldbetrags (100 Euro) zu konkretisieren (Z.38-39). ST ruft dabei einfache Wissenselemente im Zusammenhang eines stereotypen Ablaufschemas (scripts) ab, das mit dem Titel ‚Verbot’ überschrieben werden könnte (Verbot Strafe (Geld) (konkrete Wäh- <?page no="69"?> Argumentieren in der Zweitsprache 63 rung) Euro). REs ablehnenden Kommentar quittieren mehrere Schüler (mS) mit Lachen (Z.41). Der scherzhaften Modulation fügt AN zusätzlich eine humoristische Anmerkung hinzu, indem er mithilfe eines Phraseologismus sich selbst als Empfänger der Geldstrafen benennt (Z. 42). Während RE diesen Kommentar als unpassend einstuft (Z. 43), steigt ST auf ANs Beitrag ein, indem er dessen Redewendung zu reformulieren versucht. Formal wird dabei deutlich, dass er diese als Phrase offensichtlich nicht kennt, insofern er sie lexikalisch verändert (reinlaufen reinrutschen), dass er ihren Sinn aber verstanden hat, worauf die semantisch passende Verbsubstitution hinweist. Funktional degradiert er mit dieser Äußerung die Ernsthaftigkeit seines Vorschlags, indem er statt einer Entgegnung gegenüber RE, in der er hätte darstellen können, warum ein mit einer hohen Geldstrafe verbundenes Verbot doch viele interessieren würde, auf die Scherzhaftigkeit ANs eingeht und die Modalität zusätzlich mit einem verbalisierten Lacher explizit markiert (hehe; Z. 44). Damit interpretiert AN das Thema Verbot als abgeschlossen und führt einen neuen Aspekt in die Diskussion ein (Z. 45f). STs lexikalisches Verfahren kann in diesem Fall in drei Punkten charakterisiert werden: 1. ST stützt sich auch in dieser Sequenz stark auf die Lexeme des lokalen Umfelds. Dabei nutzt er das Verb und die Redewendung. 2. Es gelingt ihm eine einfache Erweiterung seines Vorschlags durch die Aktivierung einfacher Nominallexeme. Damit versucht er einen eigenen Standpunkt zu etablieren. 3. Es gelingt ihm jedoch nicht, diese Position gegenüber einem Einwand verbal weiter auszudifferenzieren und so argumentativ in seiner Bedeutung zu akzentuieren oder zu stützen. Stattdessen greift er auf einen für seinen Standpunkt ungünstigen Beitrag zurück, indem er dessen Lexeme nutzt und so die Ernsthaftigkeit seiner Äußerung selbst ad absurdum führt. Dass dies seiner Intention aber nicht entspricht, wird deutlich als er, nach einer Reformulierung des Verbotsvorschlags durch einen Gesprächpartner im weiteren Gesprächsverlauf, seinen Hinweis auf Strafen noch einmal emphatisch wiederholt. 9 Doch auch dann ist ihm eine verbale Elaboration seines Gedankens zu einem Argument in zumindest einfachem Format (vgl. Vogt 2002, 258) nicht möglich. 9 HS-GE1.1. (72)ST: ja sag halt mal was vinCENzo (73)AN: gell, sag was (74)VI: s beschte wär ma: l (.)<<all> wenn’s ganz verboten wär> (75-88): (((...))) (89)ST: STRAfen (1sec) [Strafen machen] <?page no="70"?> Elke Grundler 64 3.2 Lexikalische Verfahren der L2-Sprecher in vorbereiteten Diskussionen Kontrastiv zu den beiden Beispielen soll ein drittes Transkriptbeispiel STs lexikalische Kompetenzen und deren Auswirkungen auf seine argumentativen Handlungen in einer unterrichtlich vorbereiteten Diskussion zeigen. Es handelt sich um eine inszenierte Podiumsdiskussion zum Thema „Sollen Handys für Jugendliche verboten werden? “ ST wurde die Rolle eines Vertreters des Roten Kreuz zugewiesen, wo er als Rettungsfahrer tätig wäre. TH vertritt im Spiel eine Bürgerinitiative gegen Handys. Die Vorbereitung auf die Diskussion bestand einerseits aus der Erarbeitung von abstrakten Argumentstrukturen, andererseits aus dem intensiven, mehrstündigem Umgang mit kurzen Texten zum Thema Handys, die die Jugendlichen zu großen Teilen aus dem Internet recherchiert hatten. Vor dem Transkriptausschnitt wurden von den Teilnehmern die Vor- und Nachteile der Möglichkeiten zur Ortung von Personen mit dem Handy gegeneinander abgewogen. Der Moderator (MO) leitet dann zu einem neuen Thema über und fordert ST explizit zu einem Beitrag auf. Beispiel 3: PO_HS-GE; Fl. 126-140 (1) MO: gut ähm herr CApri ä: hm (2) die ELtern wollen gerne wissen wo ihre kinder sind (3) das (-) gibt ihnen das ein gefühl von SIcherheit (4) beim stichwort sicherheit=da fallen SIE mir ein (5) sie arbeiten beim roten KREU: : Z (1sec) (6) wie denken SIE über handy (7) ST: ja es gibt auch positive SEI: ten für handys (8) zum beispiel (1sec) im KLARtext (9) jeder dritte unfall wird (-)mit dem HAndy äh gemeldet (10) =also 33,5% und äh (-) na ja ((übergibt BÜ das Wort)) (11) TH: aber auch 75000 menschen (-) (12) ähm BAUen erst einen unfall durch das handy (13) ST JA: : und genau hier wurde (-) der deutsche STAAT aufmerksam (14) =deswegen wurde ab apRIL ersten april 2001 (15) eine (2sec) handyverBO: T am (.)STEUer (16) äh <<p> für geSETZlich anerkannt> (17) MO hmh .. was sagen was sagen SIE dazu herr manzoni (18) <<schneller> handyverbot am steuer> (-) (19) was machen dann die leute die (.) ANgerufen werden (20) VO: =bauen sich ne fernSPRECHanlage od[er wie] das heißt (21) ST: [FREI] (22) TH: [Freisprechan]lage (23) VO: genau Freisprechanlage MO lenkt mithilfe des Stichworts Sicherheit von der Perspektive ‚Sicherheit für Kinder’ auf ‚Sicherheit im Verkehr’ über. Dieses impliziert er durch den Hinweis auf das Rote Kreuz (Z.5). Er gibt ST damit einen thematischen Rahmen vor, innerhalb dessen der Schüler in seiner Rolle zur Diskussionsfrage Stellung nehmen soll. ST kommt dieser Aufforderung nach, indem er zunächst ankündigt, dass er eine Position für das Handy einnehmen (Z.7) und diese erläutern werden wird (Z.8). Es folgt der Hinweis auf die Bedeutung des Handys bei der Meldung von Unfällen (Z.9-10). Nach dem Ein- <?page no="71"?> Argumentieren in der Zweitsprache 65 wand durch BÜ ist ST in der Lage, verbal auf diesen einzugehen und die Bedenken durch seine Klarstellung der aktuellen Gesetzeslage zu zerstreuen (Z.13-16). MO gibt ein zustimmendes Hörersignal (Z.17) und versucht durch eine Fragestellung an den gespielten Vertreter der Betreiberfirma Vodafone (VO) den Themenkomplex durch die Schüler weiter ausdifferenzieren zu lassen. VO formuliert eine technische Lösungsmöglichkeit, doch signalisiert er dabei eine kleine terminologische Unsicherheit (Z.20). Dieser begegnet ST deutlich intonatorisch markiert mit einer Unterstützungshandlung (Z.21). In dieser Sequenz sind mehrere Unterschiede gegenüber den Transkriptbeispielen 1 und 2 zu beobachten: 1. ST greift auf keine Lexeme der lokalen Umgebung zurück, um seinen eigenen Beitrag zu gestalten, sondern nimmt die Impulse seiner Gesprächspartner bzw. des Moderators auf, um selbstständig eine eigene Position zu formulieren. Dazu gestaltet er seine Äußerungen quantitativ deutlich umfangreicher als in Beispiel 1 und 2. 2. Dabei ist er ohne erkennbare Formulierungsschwierigkeiten in der Lage, Lexeme aller Inhaltskategorien zu aktivieren, die eher nicht zu seiner Umgangssprache gehören (positiv, Klartext, Prozent, Staat, Steuer, gesetzlich, Freisprechanlage), die aber zur präzisen Gestaltung seines Beitrags hilfreich sind. 3. Auf den Versuch THs, die Relevanz seines Arguments zu minimieren, reagiert ST nun durch einen souveränen Beitrag, in dem er seine Position durch Faktenwissen stützt. Damit etabliert er ein erweitertes argumentatives Format (vgl. Vogt 2002, 258) innerhalb der Interaktion. 4. Durch seine aktive Unterstützung VOs bei der Suche nach dem korrekten Wort sichert ST zusätzlich die Geltung seines Arguments, insofern der Hinweis auf Freisprechanlagen seine Äußerung bezüglich der Gesetzeslage in der konkreten Umsetzung weiter präzisiert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es ST in der vorbereiteten Diskussion mithilfe längerer Äußerungen gelingt, im Dialog ein Argument zu generieren. Dazu bringt der Schüler seine Wissensbestände ein, die er in Auseinandersetzung mit den Texten erarbeitet hat. Dieses kann er mit einem entsprechenden Wortschatz, der über seinen Umgangswortschatz hinausgeht, selbstständig verbalisieren. Ein Abgleich mit den genutzten Texten zeigt, dass ST von dem dortigen lexikalischen Angebot Gebrauch macht. Sein Differenzwert (DF) sinkt innerhalb dieses Gesprächs auf 0,05 ab. Im Gegensatz dazu war STs aktivierbarer Inhaltswortschatz in dem unvorbereiteten Gespräch offensichtlich zu gering, um daran als kompetenter Partner inhaltlich teilnehmen zu können. Anstelle der Entwicklung eigener Argumente und deren aktiver Verteidigung gelang es ST lediglich ein Statement abzugeben bzw. äußerlich am Gesprächsprozess mitzuwirken. <?page no="72"?> Elke Grundler 66 4 Didaktische Folgerungen Die Beispiele haben gezeigt, dass ST als typischer Vertreter eines DaZ- Sprechers in der Hauptschule pragmatisch ohne Schwierigkeiten an einer Diskussion teilnehmen, diese jedoch ohne inhaltlich-lexikalische Vorbereitung inhaltlich nicht selbstverständlich mitgestalten kann. Durch die geschickten lexikalischen Strategien fallen die Defizite im Wortschatz jedoch in der Flüchtigkeit des Mündlichen nicht nur im schulischen Alltag, in dem die Schüler ohnehin nur wenige Äußerungen tätigen können (vgl. Chlosta/ Schäfer 2008, 288) kaum auf, sondern werden auch in der Diskussion gut versteckt (vgl. Knapp 1999). Damit wird eine didaktische Hinwendung zu einer aktiven Wortschatzarbeit in einem nach wie vor stark an der Monolingualität ausgerichteten Unterricht (vgl. Apeltauer 2008, 245) eher dem Zufall überlassen, als dass diese systematisch verfolgt wird. So sind die Jugendlichen zwar fähig, in einer einfachen funktional ausgerichteten Alltagskommunikation zu agieren, doch ist die verbale Teilhabe an Gesprächen über abstraktere Sachverhalte äußerst schwierig. 10 Damit ist nicht nur der Bildungserfolg der Schüler mit Migrationshintergrund gefährdet (vgl. Siebert-Ott, 2006, 164), sondern die aktive Integration in mündlich auszuhandelnde soziale Prozesse deutlich erschwert. Wenn Chlosta/ Schäfer (2008, 291) postulieren, dass die „Lexik nicht die Hauptschwierigkeit für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler“ darstelle, so weisen die vorliegenden Beobachtungen gerade in die andere Richtung und gehen mit Köster (2001, 887) konform, der fehlende Lexikkenntisse als Hauptbeeinträchtigung in der Verständigung zwischen DaM- und DaZ/ DaF-Sprechern analysiert und den Wortschatzerwerb gleichzeitig als besonders lernintensiven Bereich erkennt. In diesem Zusammenhang erscheint demnach eine didaktische Konzentration auf einen sprachsensiblen Fachunterricht in der Sekundarstufe von hoher Bedeutung. Darin müssen Lernarrangements geschaffen werden, in denen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund die Chance erhalten, ihren Wortschatz ständig aktiv zu erweitern. Im Wortschatzerwerb werden dabei zwei Lernformen unterschieden: das intentionale und das beiläufige Lernen. Während das intentionale Lernen auf die explizite Wortbedeutungserschließung, z.B. durch Erklärungen abhebt und kurzfristig als besonders effektiv gilt, bedarf es zum beiläufigen Lernen, in dem die Schüler die Wortbedeutung selbstständig aus dem Kontext erschließen, vieler Wiederholungen, Kontextverschiebungen und verschiedener Gebrauchsweisen des Lexems, bevor es produktiv genutzt werden kann (vgl. Apeltauer 2008, 245ff). Im gegenwärtigen Unter- 10 Innerhalb des Begriffspaars BISC (Basic Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) zeigen die Sprecher in den freien Diskussionen ausschließlich alltagstaugliche Fähigkeiten (BISC) (vgl. Cummins 1979/ 2008). <?page no="73"?> Argumentieren in der Zweitsprache 67 richt vertrauen die Lehrkräfte v.a. darauf, dass die Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache ihre Defizite im Wortschatz beiläufig ausgleichen können, ohne die Bedeutung des vielfältigen vernetzten Umgangs mit dem sprachlichen Material für seine dauerhafte Speicherung zu bedenken. Damit wird weder das intentionale noch das beiläufige Lernen didaktisch unterstützt. Es ist jedoch zu erwarten, dass bereits ein bewusstes, vielfältiges Wiederholen neuer Wörter in schriftlichen Texten und mündlichen Produktionen, kombiniert mit intentionalen Erklärungen schwieriger Wörter einen gut vernetzten Zuwachs des Lexikons ermöglichen. Das Argumentieren erscheint dann, neben seinen anderen Zielsetzungen, als geeignete Methode zur kommunikativen, situativen Anwendung und Sicherung des neuen (Fach)wortschatzes und zur Ausdifferenzierung des Basiswortschatzes. Damit wäre eine sinnvolle Verknüpfung quantitativer und qualitativer Wortschatzarbeit in der Kommunikation didaktisch modellierbar (vgl. Kühn 2007). Literatur Apeltauer, Ernst (2004): Sprachliche Frühförderung von zweisprachig aufwachsenden türkischen Kindern im Vorschulbereich. Sonderheft 1: Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturvielfalt im Unterricht. Apeltauer, Ernst (2008): Wortschatzentwicklung und Wortschatzarbeit. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Schneider: Hohengehren. S. 239-252. Börner, Wolfgang (2000): Didaktik und Methodik der Wortschatzarbeit: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Germanistische Linguistik 155/ 156., 29-56. Brinker, Klaus/ Sager, Sven F. (2001): Linguistische Gesprächsanalyse. 3.A. Berlin: Schmidt. Chlosta, Christoph/ Schäfer, Andrea (2008): Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Schneider: Hohengehren. S. 280-297. Cummins, Jim (1979/ 2008): „BISC and CALP“ [http: / / www.iteachilearn.com. / cummins/ bicscalp.html (aufg. am 14.1.2009.)] Deppermann, Arnulf (2001): Gespräche analysieren. Opladen: Budrich + Leske. Gogolin, Ingrid (2001): Sprachstandsdiagnosen. In: Helbig, G./ Götze, L. u.a. (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. 2. Bd. Berlin: de Gruyter, 1007-1016. Grice, Paul (1975): Logik und Konversation. In: Hoffmann, L. (Hrsg.) (2000): Sprachwissenschaft. Ein Reader. 2.A. Berlin: de Gruyter, 163-182. [Original: Logic and Conversation. In: Cole, P/ Morgan, J. (Hg.): Syntax and Semantics. Vol. 3. New York: Academic Press. Grümme, Bernhard (2006): Nicht mehr als ein „Laberfach“? Argumentative Gesprächsmethoden im Religionsunterricht. In: Grundler, E./ Vogt, R. (Hrsg.): Argumentieren in Schule und Hochschule. Tübingen: Stauffenburg, 131-145. Grundler, Elke (2009): Argumentieren lernen - die Bedeutung der Lexik. In: Krelle, M./ Spiegel, C. (Hrsg.): Sprechen und Kommunizieren in der Deutschdidaktik und im Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider. 82-97. <?page no="74"?> Elke Grundler 68 Jahnel, Andrea (2000): Argumentation in internationalen Fernsehdiskussionen. München: iudicium. Knapp, Werner (1999): Verdeckte Sprachschwierigkeiten. In: Grundschule, 5, 30-34. Köster, Lutz (2001): Wortschatzvermittlung. In: Helbig, G./ Götze, L. u.a. (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Berlin: de Gruyter, 887-893. Kuhn, Hans-Werner (2006): Metakommunukation im Politikunterricht. Wie argumentieren Oberstufenschüler/ innen? In: Grundler, E./ Vogt, R. (Hrsg.): Argumentieren in Schule und Hochschule. Tübingen: Stauffenburg, 147-156. Kühn, Peter (2007): Rezeptive und produktive Wortschatzkompetenzen. In: Willenberg, H. (Hrsg.): Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht. Schneider: Hohengehren, 159-167. Linell, Per/ Gustavsson, Lennart/ Juvonen, Päivi (1988): Interactional dominance in dyadic communication: a presentation of initiative-response analysis. In: Linguistics 26, 415-442. Luchtenberg, Sigrid (1991): Fachsprachenunterricht für Migrantenkinder - in welchem Fach? In: Deutsch Lernen. 16/ 1991, 4, 380-388. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (2004): Bildungsplan Hauptschule/ Werkrealschule. [http: / / www.bildung-staerkt-menschen.de/ service/ downloads/ Bildungsstandards/ Hs/ Hs_WZG_bs.pdf (aufg. am 14.1.2009)]. Peuser, Günter (2000): Sprachstörungen. München: Fink. Siebert-Ott, Gesa (2006): Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg. In: Auernheimer, G. (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaft, 161-176. Spiegel, Carmen (2006): Argumentieren lernen im Unterricht - ein funktionaldidaktischer Ansatz. In: Grundler, E./ Vogt, R. (Hrsg.): Argumentieren in Schule und Hochschule. Tübingen: Stauffenburg, 63-76. Vogt, Rüdiger (2002): Im Deutschunterricht diskutieren. Zur Linguistik und Didaktik einer kommunikativen Praktik. Tübingen: Niemeyer. Weingarten, Rüdiger/ Pansegrau, Petra (2000): Scripts. In: Glück, H. (Hrsg.): Lexikon Sprache. Stuttgart: Metzler, 616. Willenberg, Heiner/ Gailberger, Steffen/ Krelle, Michael (2007): Argumentation. In: Beck, B./ Klieme, E. (Hrsg.): Sprachliche Kompetenzen. Weinheim: Beltz, 118-129. Transkriptionskonventionen: (.) Mikropause (-), (--), (---) kurze, mittlere, längere Pause (2sec) 2 Sekunden Pause : , : : Dehnungen, je nach Dauer ja=un Verschleifungen, schnelle Anschlüsse GERne Akzentuierung ja ja¯ gleichbleibende Tonhöhe stark abfallende Tonhöhe stark steigende Tonhöhe <<all> > schnell <<p>...> leise (piano) <<f>...> laut (forte) [frei] Simultane Redeanteile ((lachen)) Paraverbale Elemente <<ironisch>> Interpretationen bezüglich der Modalität <?page no="75"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht Verschiedene Schulleistungsstudien wie PISA u.a. zeigen auf, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler über keine zufriedenstellende Lesekompetenz verfügt. Unter diesen Schülerinnen und Schülern sind Jugendliche mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) überproportional häufig vertreten (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 164). Im Fachunterricht ist aber eine gut ausgebildete Lesekompetenz erforderlich, um die Unterrichtsinhalte verstehen und am Unterrichtsgeschehen partizipieren zu können. Die Informationsentnahme aus Texten steht oftmals im Mittelpunkt des Fachunterrichts (vgl. Ehlers 2008: 215). In diesem Beitrag wird erläutert, welche Anforderungen an die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I gestellt werden, welche Einflussgrößen auf die Lesekompetenz einwirken, welche Leseschwierigkeiten beschreibbar sind und inwieweit diese Leseschwierigkeiten möglicherweise durch den Zweitspracherwerb beeinflusst werden. Im zweiten Teil dieses Beitrages werden diese Befunde anhand von vier Fallbeispielen hinsichtlich ihrer praktischen Wirkung erläutert. 1 Welche Anforderungen werden an die Lesekompetenz von Lernenden in der Schule gestellt? Lesekompetenz wird derzeit in Anlehnung an den Kompetenzbegriff Weinerts definiert. Bei diesem Verständnis von Lesekompetenz spielen neben kognitiven Merkmalen auch die Motivation und das Handeln im Leseprozess eine bedeutende Rolle. „Lesekompetenz ist nach diesem Verständnis eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von text- und lesebezogenen Anforderungen erfolgreich zu bewältigen“ (Artelt et al. 2007: 11). Um diese Kompetenz anwenden zu können, müssen „[...] Fähigkeit, Wissen, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation [...]“ (ebd.) in ein Verhältnis gebracht werden, das der Leseaufgabe angemessen ist. Oftmals wird im aktuellen fachdidaktischen Diskurs zwischen einer basalen und einer weiterführenden Lesekompetenz unterschieden. Ein Modell von Lesekompetenz im DaF-Unterricht nach Westhoff integriert diese beiden Kompetenzen. Für Westhoff ist der Leseprozess interaktiv und konstruktiv. Er beruht auf fünf Kenntnisbereichen des Lernenden, nämlich den Fähigkeiten, die Wahrscheinlichkeit von Buchstabenkombinationen und von Wortkombinationen einzuschätzen, der Fähigkeit, den möglichen Verlauf von Sätzen <?page no="76"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 70 zu antizipieren, der Fähigkeit, innere Zusammenhänge im Text zu erfassen und der Fähigkeit, diese Informationen mit dem eigenen Weltwissen in eine angemessen Relation zu setzen (vgl. Westhoff 1997: 58ff.). In der PISA-Studie (PISA 2000) wurde hingegen von einem Modell der Lesekompetenz, die sich an der Alltagsbewältigung messen soll, ausgegangen (reading literacy). Folglich wurden in diesem Konzept besonders das Verstehen von Texten durch eine zielgerichtete Informationsentnahme sowie das Reflektieren und Bewerten dieser Informationen in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Artelt et al. 2004: 141). Die basale Lesekompetenz spielte eine untergeordnete Rolle. Dieses Modell lässt sich in verschiedene Teilkompetenzen aufgliedern, von denen, ähnlich wie bei Westhoff, die Nutzung von textinternen Informationen und die Verwendung von textexternem Wissen hervorgehoben werden. Darunter lassen sich die Schritte des Ermittelns von Informationen, der Aufbau eines allgemeinen Verständnisses des Textes, die textbezogene Interpretation sowie die Reflexion über den Text fassen (vgl. Artelt u.a. 2004: 143). Die Inferenzbildung spielt demnach eine bedeutende Rolle für das Gelingen des Lesens. Es kann davon ausgegangen werden, dass die basale Lesekompetenz für diese weiterführende Lesekompetenz eine wichtige Grundlage darstellt. „Es geht hier also um die grundlegende Lesekompetenz, die der geübte Leser als Werkzeug einsetzt, um zum ‚Eigentlichen’, dem Inhalt, dem Sinn des Textes und seiner eigenen Stellungnahme, zu gelangen; im Stadium des Erwerbs stehen diese Prozesse dagegen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Lehrers/ der Lehrerin und des Kindes“ (Scheerer-Neumann 2003: 513). Wichtige Teilkompetenzen stellen die Fähigkeiten der Worterkennung, der Sinnentschlüsselung und der Übertragung von der geschriebenen in die gesprochene Sprache dar. Außerdem spielt der Einsatz von ersten Lesestrategien unter Berücksichtigung von syntaktischen Merkmalen, der Sinnkontrolle sowie das Lautieren eine Rolle (ebd.). Schülerinnen und Schüler, die diese Teilkompetenzen erwerben, haben gute Voraussetzungen für den Erwerb einer weiterführenden Lesekompetenz. Allerdings weist Schmid-Barkow (2002: 171) darauf hin, dass im Laufe der Leseentwicklung die Bedeutung des Dekodierens geringer, während die Fähigkeit zur Inferenzbildung bedeutsamer wird. Dabei lassen sich nach Baurmann/ Müller (2005: 6) zwei Verstehensebenen unterscheiden: Eine oberflächliche, bei der nur eine Zusammenfassung des Gelesenen reproduziert wird, und eine tiefer gehende, bei welcher das Gelesene in das eigene Vorwissen integriert wird. Schwache Leser neigen nach Westhoff zu einem oberflächlichen Verstehen, was durch reproduzierende Strategien, wie der des genauen Lesens, noch unterstützt wird (vgl. Westhoff 1997: 54). Das genaue Lesen kann dazu führen, dass auf die Inferenzbildung und die Bildung eines mentalen Modells zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet wird. Ziele des weiterführenden Lesens sind nach Müller hingegen: <?page no="77"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 71 • Informationen aus Texten zu erfassen; • Beziehungen zwischen Textinformationen und dem eigenen Vorwissen zu erstellen; • Texte unter bestimmten Gesichtspunkten zu lesen; • Beziehungen zwischen Informationen zu erkennen; • Standpunkte in Texten wahrzunehmen und Aussagen kritisch zu beurteilen; • Textinformationen dauerhaft zu behalten; • Informationen in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederzugeben (vgl. Müller 2000: 5). Diese Ziele können erreicht werden, wenn neben o.g. Voraussetzungen noch weitere Aspekte beachtet werden. So ist es wichtig, verschiedene Lesehaltungen und Vorgehensweisen einzuüben, da nicht alle Vorgehensweisen für alle Leseinteressen und Texte sinnvoll sind. Dies wird dadurch unterstützt, dass die ausgewählten Lesetexte für die Schülerinnen und Schüler von Interesse sind. Sie sollten zudem einen Bezug zur Lebenswelt bzw. dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler besitzen. Zudem müssen die Texte den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angepasst werden, um individuell eine mittlere Lernherausforderung zu schaffen. Leseschwierigkeiten entstehen auch dadurch, dass die Erwartungen und Normen der Schule auf der einen Seite und die Voraussetzungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler auf der anderen Seite häufig nicht austariert werden (vgl. Müller 2000: 5). 2 Welche Einflussgrößen erleichtern oder erschweren das Lesen? Die Leseforschung der letzten Jahre konnte einige Einflussgrößen identifizieren, die für den Leseprozess von besonderer Bedeutung sind, da sie über das Gelingen oder Scheitern des Lesens entscheiden. Das Gelingen des Leseprozesses, verstanden als eine komplexe Lernaufgabe, hängt von den Voraussetzungen des Lesers und den Merkmalen des Textes ab (vgl. Müller 2000: 5). Vier Bündel von Einflussgrößen lassen sich dabei unterscheiden: • Merkmale des Lesers (z.B. Vorwissen, Motivation etc.) s.o., • Leseanforderung (z.B. kritisches Lesen, genaues Lesen, verstehendes Lesen etc.), • Aktivitäten des Lesers (z.B. Einsatz von Strategien, Verstehenskontrolle etc.) s.o., • Beschaffenheit des Textes (z.B. Kohärenz, sinnunterstützende Grafiken, explizite Leserführung etc.) (vgl. Artelt et al. 2007: 12). Diese vier Bündel von Einflussgrößen stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander und können dadurch den Leseprozess erleichtern oder er- <?page no="78"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 72 schweren. Alle vier lassen sich durch schulischen Unterricht verändern. Eine besondere Rolle spielt der angemessene Einsatz von Lernstrategien durch den Leser (vgl. Artelt et al. 2007: 19). Daneben ist die Lesemotivation wichtig, da sie u.a. die Lesemenge beeinflusst, die sich grundsätzlich positiv auf die Lesekompetenz auswirkt (vgl. Artelt et al. 2007: 20) und die Anstrengungsbereitschaft beeinflusst (vgl. Ehlers 2008: 218). Die Leseanforderungen unterscheiden sich in der Lesehaltung, den Lesezielen und der Herangehensweise an den Text. Stehen z.B. für ein involviertes Lesen eher die Emotionen im Vordergrund, werden für ein eher verstehendes Lesen andere Schwerpunkte gesetzt: „Das heißt, es geht beim verstehenden Lesen (nach heutigem Forschungsstand) um den Aufbau eines mentalen oder Situationsmodells, in dem leserseitige Vorwissensbestände und textseitige Informationsaspekte zu einer kognitiven Konstruktion in Verbindung von anschaulichen und propositionalen Strukturen elaboriert werden“ (vgl. Artelt et al. 2007: 23). Neben den Lesehaltungen beeinflussen die Merkmale des Textes den Leseerfolg besonders. Den Leseprozess erleichtern folgende Merkmale eines Textes: „[...] (1) eine kohärente Inhaltsorganisation, (2) das hierarchisch sequenzielle Arrangieren von Textinhalten sowie (3) die Aktivierung von Vorwissensbeständen [...]“ (Artelt et al. 2007: 23). Damit diese Einflussgrößen durch Unterricht positiv verändert werden können, ist es notwendig, den Einsatz von Strategien einzuüben und zu fördern, verschiedene Leseanforderungen zu stellen sowie die Leseaufgaben an den Interessen und dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Die Texte müssen ebenfalls den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen angepasst und im o.g. Sinne leserfreundlich gestaltet werden. Wenn dies nicht gelingt, kann es zu Leseschwierigkeiten kommen. 3 Welche Schwierigkeiten haben „schwache“ Leserinnen und Leser? Für die Einteilung der Leseschwierigkeiten bietet sich die Orientierung an einer allgemeinen Fehlertypologie für das Lernen an. So unterscheiden Mindnich u.a. (2008: 155) in Anlehnung an die psychologische Forschung zwischen Reproduktionsfehlern, Verständnisfehlern, Anwendungsfehlern, Fehlern bei der Informationserzeugung sowie sonstigen Fehlern. In einer Pilotstudie ermittelten Mindnich u.a. (2008: 159f.), dass der Schwerpunkt der Fehler beim Lernen bei den Verständnisfehlern liegt. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der Leseforschung, die auch einen Schwerpunkt bei den Schwierigkeiten der Inferenzbildung feststellte. Dies ist nicht erst seit der PISA-Studie aus dem Jahr 2000 so, sondern wurde z.B. von Willenberg bereits in einer Studie aus dem Jahr 1991 ermittelt (vgl. Willenberg 2007: 116). Schmid-Barkow (2002: 182) kam in einer Studie zur Lesekompetenz von Hauptschülerinnen und Hauptschülern zum Ergebnis, dass vor allem <?page no="79"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 73 Schwierigkeiten bei der Inferenzbildung, dem Verstehen von Textstrukturen sowie beim Überprüfen des Textverständnisses vorhanden sind. Das Worterkennen stellte hingegen keine besondere Schwierigkeit dar (vgl. Pangh 2003b: 101f.). Müller (2000: 7) unterscheidet zwischen Schwierigkeiten bei den Basiskomponenten und Schwierigkeiten, die durch die Rahmenbedingungen entstehen: Schwierigkeiten bei den Basiskomponenten Schwierigkeiten, die durch die Rahmenbedingungen entstehen • geringe Wortschatzkenntnisse und damit verbundene Schwierigkeiten die Textbedeutung aus dem Kontext zu erschließen • Schwierigkeiten beim Dekodieren einzelner Wörter • Schwierigkeiten bei der Herstellung von Relationen zwischen einzelnen Wörtern und verstreuten Textinformationen • fehlende Vorkenntnisse über das Textthema • eingeschränkte Kontrolle des Vorverständnisses • den Voraussetzungen des Lesers nicht entsprechende Texte • ungeklärter Lesezweck • ungünstige räumliche, zeitliche und lernbiologische Voraussetzungen • innere Verfassung und Motivation des Lesers Tab. 1 Überblick zu den Leseschwierigkeiten nach Müller (2000: 7) Gerade Schulbuchtexte scheinen in dieser Hinsicht das sprachliche und inhaltliche Vorwissen der Schülerinnen und Schüler nicht angemessen zu berücksichtigen (vgl. Engin 2007: 4). Besondere Hürden stellt bei Schulbuchtexten, in semantischer Hinsicht, eine hohe Dichte an ungebräuchlichen Fachbegriffen dar. Auf der syntaktischen Ebene stellen der Einsatz von komplexen hypotaktischen Konstruktionen, komplexe Nominalphrasen sowie die Verwendung von Passivkonstruktionen hohe Anforderungen an schwache Leser. In lexikalischer und morphologischer Hinsicht bereiten die Verwendung von Indefinitpronomen und des Pronomens „es“ als Stellvertreter, einige Adjektivsuffixe, Mehrfachkomposita, Verben mit Präfixen, substantivierte Verben sowie Funktionsverbgefüge häufig Schwierigkeiten (vgl. Engin 2007: 5f.). Ein Teil der Schwierigkeiten entsteht durch dysfunktionale Aufgaben und Lehrerhilfen. Diese müssten, damit sie förderlich wären, inhaltlich und sozial bedeutsam für die Schülerinnen und Schüler sein (vgl. Pangh 2003b: 97). Etliche Lehrerhilfen fördern im Sinne von Baurmann/ Müller ein oberflächliches Verstehen, exemplarisch nennt Pangh (2003b: 98) tradiertes Lehrerhandeln, das sich z.B. in sofortigem Intervenieren bei Vorlesefehlern zeigt, unabhängig davon, ob das Leseverständnis dadurch gestört wird oder nicht. Auch die Annahme, dass Korrekturen beim <?page no="80"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 74 Vorlesen von Mitschülern übernommen würden usw., ist problematisch. „Das gemeinsame Reihum-Lesen, das nach Erfahrungswerten und Schülerberichten auch im Klassenunterricht bis weit in die Sekundarstufe das übliche Ritual für das Erlesen von Texten darstellt [...], erscheint in seiner Begründung damit umso bedenklicher“ (Pangh 2003b: 98). Insgesamt bemängelt Pangh (2003b: 106), dass der Leseunterricht sich vor allem am Leseprodukt und weniger am Leseprozess ausrichtet. Auch Westhoff kritisiert den Zwang zum genauen Lesen, da Schülerinnen und Schüler aus dem Kontext den Sinn erfassen können. Die Aufforderung, den Text exakt zu lesen, kann dabei sogar kontraproduktiv wirken (vgl. Westhoff 1997: 54). Neben den bislang genannten Gründen verursacht auch ein ungünstiges Selbstkonzept Leseschwierigkeiten. Diese negative Selbstwahrnehmung kann zu hartnäckigen Leseschwierigkeiten und zu einer stagnierenden Lesekompetenz führen. Häufig zeigt sich ein ungünstiges Selbstkonzept durch die Verwendung von Vermeidungs- und Vertuschungsstrategien, da ansonsten Lesefehler als Misserfolge interpretiert werden (vgl. Crämer u.a. 1998: 10). Außerdem lassen sich das Beharren auf einen unangemessenen Lösungsansatz bzw. ein Ergebnis, eine Reproduktion der Vorgaben des Lehrers sowie ein Resignieren bei Leseaufgaben, die dann nicht oder nur zum Schein bearbeitet werden, beobachten (vgl. Crämer u.a. 1998: 19). Leseschwierigkeiten finden sich deshalb häufig bei Schülerinnen und Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen sowie Jugendlichen, deren Lesebiographie vor allem aus Misserfolgserlebnissen besteht (vgl. Müller 2000: 6). „Insgesamt lässt sich festhalten, dass schwache Leserinnen und Leser neben Problemen mit einzelnen Zugriffsweisen vor allem Schwierigkeiten haben, die verschiedenen Teilfunktionen des Lesens miteinander zu verknüpfen und variabel einzusetzen“ (Crämer u.a. 1998: 19). Diese Schwierigkeiten werden dadurch verstärkt, dass die Schülerinnen und Schüler häufig wenig motiviert sind und ihnen die Defizite in ihrer Lesekompetenz im Fachunterricht ständig aufgezeigt werden, ohne entsprechende Unterstützung zu erfahren (vgl. Crämer u.a. 1998: 11). Diese Schwierigkeiten finden sich auch bei Jugendlichen mit DaZ, bei ihnen kommen aber weitere Schwierigkeiten hinzu. 4 Welche besonderen Leseschwierigkeiten finden sich bei Kindern mit DaZ? Wie eingangs angedeutet ist der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter den schwachen Lesern verhältnismäßig hoch. Dies wird aber nicht nur auf den Zweitspracherwerb, sondern auch auf den Zusammenhang zwischen Sozialmilieu und Lesekompetenz zurückgeführt. Der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist auch unter den Familien mit schlechtem sozioökonomischen Status überproportional hoch (vgl. Ehlers 2008: 221). Dies wird am Beispiel von Hauptschulen in PISA <?page no="81"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 75 2000 belegt: Hauptschulen mit einem Migrantenanteil von 75% und mehr erzielten bei der Lesekompetenz ihrer Schüler deutlich unterdurchschnittliche Leistungen. Diese Schulen hatten zugleich aber auch ein unterdurchschnittliches sozioökonomisches Umfeld, weshalb der Migrationshintergrund zumindest nicht die einzige Einflussgröße darstellte. „Die Verbindung verschiedener Faktoren, die Segregation verstärken bzw. mit ihr verbunden sind, macht es schwer, Effekte eines einzelnen Faktors wie des Migrantenanteils zu isolieren“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 164). Der Migrationshintergrund scheint aber auf die Lesekompetenz zu wirken (vgl. Schümer 2004: 93). Nach Pangh (2003a: 77) kommen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu den schlechten Startchancen eines schriftfernen Elternhauses Schwierigkeiten, die aus dem Zweitspracherwerb entstehen, hinzu. Diese werden in den fachdidaktischen Publikationen der letzten Jahre oft nicht als eigenständige Einflussgröße beschrieben, sondern oft nur pauschal berücksichtigt. Wenn einsprachige Schülerinnen und Schüler bereits Schwierigkeiten hätten, würden diese bei Kindern mit DaZ noch stärker auftreten. Auch Ehlers (2008: 215) weist darauf hin, dass es für die Leseschwierigkeiten bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund keine eindeutig auf diesen Status bezogene Ursachenzuschreibung geben kann, da die genaue Wirkung des Zweitspracherwerbs wegen des o.g. komplexen Ursachengefüges bislang nicht ermittelt werden konnte. Einige Besonderheiten, die im Zusammenhang mit dem Zweitspracherwerb stehen, können jedoch beschrieben werden. Unterschiede gibt es bei Kindern mit DaZ z.B. darin, in welcher Sprache der Leseerwerb erfolgt. Es zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler, die in ihrer Erstsprache bereits versiert lesen können, beim Lesen im Deutschen andere Schwierigkeiten haben als Schülerinnen und Schüler, die das Lesen in der Zweitsprache erlernt haben. „Lerner, die bereits in ihrer L1 lesen gelernt haben, können potentiell und unter bestimmten Bedingungen, die zuerst erworbene Lesefähigkeit auf das Lesen in einer zweiten Sprache transferieren“ (Ehlers 2008: 220). Einige weitere Tendenzen für spezifische Schwierigkeiten, die sich bei Kindern mit DaZ finden, sind nach Ehlers (2008: 220f.): • verringerte Lesegeschwindigkeit aufgrund von mangelndem Wortschatz bzw. Schwierigkeiten bei der basalen Lesekompetenz, • unzureichendes Welt- und Fachwissen für das Textverständnis, da die erforderlichen Konzepte fehlen, • Schwierigkeiten bei der Bildung von Inferenzen, da die Schüler auf die Ausdrucksseite der sprachlichen Zeichen fokussiert sind, weswegen die Inferenzbildung in einem angemessenen mentalen Modell erschwert wird, • fehlender oder zu wenig differenzierter Wortschatz auf der Ebene der Inhaltswörter, aber auch auf der Ebene der Funktionswörter, deren strukturierende Funktionen nicht erkannt werden. <?page no="82"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 76 Diese Schwierigkeiten finden sich wie o.g. auch bei anderen Schülerinnen und Schülern mit Leseschwierigkeiten. Bei Schülerinnen und Schülern mit DaZ treten sie jedoch verstärkt auf. Grütz/ Pfaff (2006: 61) ermittelten in einer Studie, dass die Leseleistung und der Strategieeinsatz bei Hauptschülerinnen und Hauptschülern mit DaZ signifikant schlechter ausfielen, als dies bei Jugendlichen mit Deutsch als L1 der Fall ist. Als besonders gravierend zeigte sich bei der Implementierung eines Lesefördertrainings ein geringer Wortschatz der Schülerinnen und Schülern mit DaZ im Deutschen (vgl. Mokhlesgerami u.a. 2006: 86). Dass aufgrunddessen Leseschwierigkeiten entstehen, ist klar ersichtlich: kann das Wort, welches technisch noch so gut erlesen wurde, nicht als bekannter Begriff in seiner Bedeutung erfasst werden, wird dieses nicht zum Textverständnis genutzt. Andersherum kann ein unbekanntes Wort häufig auch nicht korrekt erlesen werden: Betonung, Silbenstruktur und andere Hilfsmittel für das Erlesen eines Wortes greifen bei einem unbekannten Wort kaum. Für die Inferenzbildung erschwerend ist der Umstand, dass das Weltwissen häufig kulturspezifisch geprägt ist und nur partiell mit dem Weltwissen des Autors des Textes übereinstimmt (vgl. Westhoff 1997: 72). Die genannten Befunde finden sich auch in der praktischen Arbeit der Lese- und Schreibberatung der Schillerschule Esslingen (vgl. Schillerschule Esslingen 2009). Die Probleme beim Weltwissen und bei der Entwicklung eines fehlenden Konzepts von Begriffen stellen sich auch bei der Berufsorientierung als zentral dar. Dies sei an einem Beispiel illustriert: Auf der Homepage einer Firma findet sich die Aussage, dass die Firma schon seit über 100 Jahren bestehe. Ein Schüler, der sich bei dieser Firma bewerben möchte, wundert sich über die Aussage, da das Gebäude ganz neu aussehe. Das Wort „Firma“ ist für ihn ein Synonym für das Gebäude, und steht nicht für eine abstrakte Vorstellung der Abläufe in einem Betrieb. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei einem albanischen Schüler, der in einem Schulbuch den Prozess der Benzinherstellung erarbeiten soll. Er gibt an, dass er das Wort „Raffinerie“ nicht kenne, worauf er gemeinsam mit seinem Berater in einem Wörterbuch das albanische Wort nachschlägt, das dort ebenfalls „Raffinerie“ lautet. Auch hier fehlt es an Weltwissen, um Inferenzen im Text bilden zu können. Im Schulbuch wird der Begriff „Raffinerie“ an keiner Stelle erläutert, sondern als bekanntes Weltwissen vorausgesetzt. Um aufzeigen zu können, wie diese Leseschwierigkeiten im Fachunterricht bei konkreten Schülerinnen und Schülern anschaulich vorzufinden sind, werden anhand von Fallbeispielen die o.g. Befunde expliziert. <?page no="83"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 77 5 Fallbeispiele Alle vier Schüler, Serhat und Ferhat, zwei Schüler, deren L1 Türkisch ist, und Christian sowie Ben, zwei Schüler, deren L1 Deutsch ist, 1 sind in der neunten Klasse der Hauptschule und besuchen seit längerer Zeit die Lese- und Schreibberatung der Schillerschule Esslingen. Zunächst werden die Ausgangslagen der Schüler dargestellt, wonach anhand einer Unterrichtssequenz die spezifischen Schwierigkeiten verdeutlicht werden. Zwei der Schüler, Christian und Serhat, sind einigermaßen erfolgreiche Leser, Ben und Ferhat haben hingegen deutliche Leseschwierigkeiten. Christian verfügt über ein verhältnismäßig gut ausgebildetes Weltwissen. Er kann anderen Personen Begriffe und Sachverhalte angemessen erklären. Es fällt ihm relativ leicht, Inferenzen im Text zu bilden. Er kann Informationen, die im Text verstreut sind, zusammenfügen. Dazu nutzt er auch syntaktisches und morphologisches Wissen. Er liest relativ zügig und kann Informationen aus dem Kontext erschließen. Eine Verständniskontrolle führt er jedoch selten selbstständig durch. Insgesamt ist sein Selbstkonzept im Fach Deutsch ungünstig, was auf seine Misserfolge bei der Rechtschreibung zurückzuführen ist. Serhat ist in der Türkei geboren und besuchte dort acht Jahre lang die Schule, d.h. er wurde in seiner Erstsprache schriftsprachlich sozialisiert. Vor ungefähr zwei Jahren kam er nach Deutschland und besuchte zunächst eine Internationale Vorbereitungsklasse. Seit einem Jahr ist er Schüler einer Regelklasse. Kontakt zur deutschen Sprache hat er ausschließlich in der Schule, in seinem sozialen Umfeld wird nur Türkisch gesprochen. Serhat verfügt über ein breites Weltwissen und besitzt eigentlich ein positives Selbstkonzept hinsichtlich des Lesens, da er in seiner Heimat ein erfolgreicher Schüler war. Er zweifelt sein Selbstkonzept inzwischen jedoch stark an, da er trotz eines hohen Arbeitseinsatzes nicht so erfolgreich im Zweitspracherwerb ist, wie er es von sich erwartet. Schwierigkeiten in der Unterrichtskommunikation bereitet ihm sein lückenhafter Wortschatz, obwohl er diesen in den letzten zwei Jahren stark entwickelt hat. Auch die Unterschiede zwischen der Syntax des Deutschen und des Türkischen bereiten ihm noch Schwierigkeiten. So merkt er beim Schreiben oder Lesen, dass die von ihm hergestellten Zusammenhänge noch nicht zutreffend sind, weil er die Relationen zwischen den Sätzen nicht angemessen herstellen bzw. verstehen kann. Er führt gelegentlich selbstständig eine Verständniskontrolle durch, indem er seine Ergebnisse noch einmal mit der Aufgabe abgleicht. Teilweise versucht er aber auch, die an ihn gestellten Aufgaben durch Reproduktion zu lösen, und erhofft sich dadurch schnelle Erfolge. Beim Lesen zeigt sich diese Strategie durch den Versuch, Aufgaben durch oberflächliches Verstehen zu lösen. Allerdings stößt er mit dieser Strategie schnell an Grenzen, wenn ein vertieftes Verständnis gefordert wird. 1 Die Schülernamen wurden geändert. <?page no="84"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 78 Ben ist ein deutschsprachiger Schüler, der über ein brüchiges Weltwissen verfügt und Wortbedeutungen nur in Ansätzen richtig erklären kann. Dabei geht er davon aus, dass seine Erklärungen zutreffend seien. Er hat Schwierigkeiten, Inferenzen zu bilden. Funktionswörter kann er nur sehr begrenzt als Strukturierungsmittel nutzen, er selbst verwendet beim Schreiben als Konnektor im Text häufig nur „weil“. Komplexe Satzstrukturen und komplexe Nominalphrasen überliest er und kann nur Bruchteile der Information wiedergeben. Der Schüler ist aufgrund seiner schulischen Vorerfahrungen beim sprachlichen Lernen eher misserfolgsorientiert. Aufgaben, die sich durch Reproduktion erledigen lassen, beherrscht er sicher, bei der Anwendung anderer Strategien ist er eher unsicher. Eine Verständniskontrolle führt er nur durch Anregung eines Beraters durch, erkennt aber auch nur teilweise nicht zutreffende Lösungen, da sie auf der Grundlage seines Vorwissens stimmig erscheinen. Ferhat ist in Deutschland geboren, zuhause spricht er nach eigenen Angaben überwiegend Türkisch, da seine Eltern die deutsche Sprache kaum beherrschen. Kontinuierlichen Kontakt zur deutschen Sprache hat er lediglich in der Schule. Einen strukturierten Schriftspracherwerb hat er nur in der deutschen Sprache durchlaufen, dieser verlief aber zögerlich und die basale Lesekompetenz kann bei Ferhat nicht als gesichert angesehen werden. Ferhat hat Schwierigkeiten bei der Inferenzbildung, er verfügt über einen geringen Wortschatz in beiden Sprachen und besitzt ein stark eingegrenztes Weltwissen. Eine Verständniskontrolle führt er nur durch, wenn er dazu angeregt wird, er ist bei der Kontrolle stark an einer direkten Rückmeldung orientiert und ist sehr unsicher, Schwierigkeiten zu identifizieren und Lösungsalternativen zu entwickeln. Teilweise erledigt er Aufgaben formal, damit er eine Leistung nachweisen kann, ist aber überrascht, wenn darüber gesprochen wird, ob die Lösung richtig sein könnte. Er hat nach eigenen Angaben Schwierigkeiten einem Text selbstständig Informationen zu entnehmen. Bei der Bearbeitung von Aufgabenstellungen versucht er soweit wie möglich auf Reproduktionsstrategien zurückzugreifen. Andere Strategien wendet er nicht an oder ist zumindest sehr unsicher in ihrer Anwendung. Ferhat kann Gedanken und Informationen nur bedingt ordnen und in einen kohärenten Text überführen. Sein schriftlicher Sprachgebrauch ist bezüglich der Lexik und der Syntax eher einfach, so verwendet er einfache und kurze Satzkonstruktionen. Auch in Texten kann er Funktionswörter nicht als Strukturierungsmittel nutzen, komplexe Satz- und Phrasenkonstruktionen überliest er. In der Regel sucht er nach Wörtern, die in der Aufgabestellung formuliert sind, und gibt das, was er an der ersten Fundstelle im Text findet, als Antwort wieder. Mit allen vier Schülern wurde im Rahmen der Lese- und Schreibberatung eine Unterrichtssequenz zum Thema „Sachtexte lesen und verstehen“ durchgeführt. <?page no="85"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 79 Zunächst wurden die Schüler nach ihren Einschätzungen zu ihrem Strategieeinsatz in einer Gruppendiskussion befragt. Dabei wurden die Herangehensweise an einen Text, mögliche Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen eines Textes und Hilfen beim Lesen und Verstehen eines Textes erfragt. Die Schüler beantworteten die Fragen wie folgt: Wie gehst du beim Lesen eines Textes vor? Was ist beim Lesen und Verstehen für dich schwierig? Was hilft dir beim Lesen und Verstehen? Serhat „ Ich schau mir erst die Bilder an und lese die Sachen, die drunter stehen und am Rand.“ „Wörter, die nicht einmal im Wörterbuch stehen. Manche Verben / Wörter sind für mich schwierig, dann brauche ich ein türkisches Wörterbuch.“ „Mir helfen Bilder, Diagramme und Wörterbücher und auch Zusammenfassungen der Texte.“ Christian „Ich lesen den Text ganz normal.“ „Es fällt mir schwer die Texte abzukürzen bzw. umzuschreiben. Man muss genau suchen, um die Fragen dazu zu beantworten.“ „Den Text mehrfach zu lesen.“ Ferhat „Ich schaue mir den Text an und lese ihn und überlege dann.“ „Manchmal das komplizierte Deutsch und die Sätze und die Wörter.“ „Wenn es ein Beispiel gibt oder es daneben steht wie es geht.“ „Worterklärungen helfen mir nicht.“ Ben „Ich lese als erstes die Überschrift, dann schaue ich mir die Bilder an und mache mir ein Bild davon. Dann lese ich alles, wenn ich alles gelesen habe, schaue ich mir wieder die Bilder an und mache mir ein neues Bild davon.“ „Komische Zusammenhänge und Fragestellungen. Die Satzstellungen sind meistens sehr umständlich“ „Mir helfen die Bilder und Erklärungen an den Rändern der Texte und Wörterbücher.“ Tab. 2 Selbsteinschätzungen der Schüler Es wird deutlich, dass die Selbsteinschätzung der Schüler mit der Fremdeinschätzung korrespondiert. Serhat versucht, sich ein mentales Modell zu bilden und dafür Merkmale des Textes zu nutzen. Anhand der Grafiken führt er eine Verständniskontrolle durch, die Christian zwar auch als nütz- <?page no="86"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 80 lich ansieht, aber nicht selbstverständlich für ihn ist. Serhat hat allerdings Schwierigkeiten mit dem Wortschatz und Satzkonstruktionen, die Christian bei ähnlichen Ausgangsbedingungen nicht hat. Ben kann angeben, wie ein angemessener Einsatz von Strategien ablaufen könnte. Sein Strategieeinsatz scheitert aber an seinem Weltwissen, das ihn oftmals unzutreffende Inferenzen bilden lässt. Die sprachlichen Strukturen kann er dabei nicht als Hilfsmittel nutzen. Seine mentalen Modelle der Texte sind nicht angemessen. Bei Ferhat ist dies ähnlich, nur dass der Wortschatz und die Textstruktur generell für ihn schwierig sind. Aber auch er versucht, sich ein mentales Modell vom Text zu bilden. Im Anschluss an das Gespräch und die Beantwortung der Fragen bearbeiten die Schüler einen Schulbuchtext aus dem Schulfach „Welt-Zeit- Gesellschaft“ zu den Vereinten Nationen und ihre Rolle bei der Friedenssicherung. Dabei sollen sie bewusst darauf achten, wie sie mit der Doppelseite des Schulbuches umgehen. Nach einer kurzen Zeit wird den Schülern die Frage gestellt, welchen Inhalt der Text hat und wie sie diesen ermitteln, da zum vollständigen Lesen des Textes bewusst keine Zeit gegeben wurde. Auf diese Weise soll das Vorwissen der Schüler aktiviert werden. Sie sollen sich aufgrund der Bilder, deren Untertitel, der Überschrift und den Abbildungen erste Gedanken über das Thema machen. Im anschließenden Gespräch werden die Gedanken und Eindrücke ausgetauscht, erste Fragen geklärt und weitere Vermutungen geäußert. Serhat begann damit die kurzen Erläuterungen am Rand zu lesen und fand so heraus, dass es um eine Hilfsorganisation geht und diese die United Nations Organization ist. Ferhat kam nach kurzer Betrachtung der Bilder zum Schluss, dass es in dem ihm vorliegenden Text um Krieg gehen muss, da auf dem Bild Soldaten und Panzer abgebildet sind. Von den Vereinten Nationen hatte er zuvor nichts gehört. Anhand seines Vorwissens assoziiert er Soldaten und Panzer mit Krieg, er wundert sich, dass die Helme der Soldaten blau sind. Der Überschrift schenkt er zunächst keine Beachtung, auch die Untertitel der Bilder oder die Abbildung werden von ihm nicht in seine Überlegungen miteinbezogen. Ben hat zuerst die Überschrift gelesen und weiß, dass es im Text um die UNO geht. Da er davon schon gehört hat, kann er weitere Informationen über die UNO hinzufügen. Anschließend liest jeder Schüler in seinem individuellen Lesetempo den Text, wobei eine Arbeitsweise, die die Schüler in der Lese-Schreibberatung immer anwenden, berücksichtigt wird die Arbeit mit einer Wortliste, welche gerade bei Schülern mit DaZ eine wichtige Hilfestellung darstellt. In dieser Wortliste tragen die Schüler unbekannte deutsche Wörter und die Übersetzung des Wortes in der Erstsprache ein. Nachdem die Schüler den Text bzw. die komplette Doppelseite gelesen und auch betrachtet haben, findet ein Gespräch über den Inhalt statt. Dabei werden zunächst von den Schülern erfragte unbekannte Wörter geklärt, diese in die individuelle Wortliste aufgenommen und der Inhalt von den Schülern verbal grob skizziert. <?page no="87"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 81 Einige Textstellen stellen sich als schwierig für die Schüler heraus. So die Passage: „In der UNO existieren verschiedene Organisationen, die sich um ganz bestimmte Problembereiche kümmern: Sie suchen nach Lösungen, wie Massenvernichtungswaffen Stück für Stück abgebaut werden können.“ Betrachtet man diese Textstelle genauer, findet man einige Stellen, die für versierte Leser keine, aber für Schüler mit Leseschwierigkeiten eine hohe Herausforderung darstellen. Auf der Ebene der Lexik ist zum Beispiel das Wort existieren schwierig, aber es wird zunächst von keinem der Schüler als unbekannt in seine Wortliste aufgenommen. Es spielt für das allgemeine Verstehen des Textes auch zunächst keine große Rolle. Allerdings wird es zu einem Problem, wenn die Schüler den Inhalt des Textes genauer wiedergeben sollen. Weiter unten im Text wird auf die Organisationen erneut hingewiesen: Die bekannteste Organisation der UNO ist die UNICEF, die sich um die Rechte der Kinder in aller Welt kümmert. Im Gespräch wird deutlich, dass den Schülern nicht klar ist, was UNICEF ist, da oben nicht klar geworden ist, dass die UNO aus mehreren Organisationen besteht. Erst als besprochen wird, was das Wort existieren bedeutet und der obenstehende Satz erklärt wird, verstehen die Schüler auch den zweiten Satz. Das Verständnis wird größer, als das Schaubild in die Erklärung miteinbezogen wird. Eine weitere Schwierigkeit auf der Ebene der Semantik birgt die Wendung Stück für Stück. Auch hier ist für einen geübten Leser klar, was gemeint ist, aber für die Schüler, die die Mehrdeutigkeit der deutschen Sprache nicht kennen, kann dieser Ausdruck für Verwirrung sorgen. Stück für Stück abbauen im wörtlichen Sinn meint etwas Anderes, als es im Text gemeint ist. Es zeigt sich deutlich, dass für die richtige Informationsentnahme nicht nur der Wortschatz sowie die Erfassung von Bedeutungen wichtig sind, sondern dass das Weltwissen bzw. Fachwissen auch eine erhebliche Rolle spielt. Im Text heißt es: Zuerst versucht die UNO zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln, sie kann aber auch ihre Mitgliedstaaten auffordern, den Handel mit einem Land einzustellen, um es zum Nachgeben zu zwingen. In diesem Fall verhängt es ein Embargo. Embargo wird zunächst von Ferhat nicht in die Wortliste aufgenommen, weil er zu wissen glaubt, was es bedeutet. Auf Nachfragen hin kann er die Bedeutung allerdings nicht erklären. Er nimmt das Wort in seine Liste auf und sucht nach der passenden Erklärung. Die bekommt er im Beratungsgespräch von seinem Mitschüler Ben. Aber auch diese hilft ihm nicht weiter. Er versteht nur das, was er mit seinem Wissen vereinbaren kann (… das Handeln wird eingestellt). Auch eine Definition in Textform hilft ihm nicht weiter. Auch hier filtert er wieder nur Informationen heraus, die ihm bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt sind. In der Definition heißt es: Wenn ein Staat gegen das Völkerrecht verstößt, also zum Beispiel im Krieg absichtlich Krankenhäuser beschießt, dann können andere Staaten mit Strafen darauf reagieren. <?page no="88"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 82 Aus: Christoph, Dieter/ Kraus, Peter/ Leicht, Jürgen/ Pfefferer, Christian/ Spohn, Alexander (2007): WZG 5 Welt Zeit Gesellschaft - Hauptschule Baden-Württemberg. Stuttgart, Ernst Klett Verlag, S. 182-183. 2 2 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Klett Verlages. <?page no="89"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 83 Aus den Nachrichten weiß er, dass im Gaza-Krieg Krankenhäuser beschossen wurden und somit wird die Bedeutung des Wortes „Embargo“ durch „beschießen von Krankenhäusern“ paraphrasiert. Als nächsten Schritt bearbeiten die Schüler die Fragestellungen des Buches. In dieser Phase arbeitet jeder Schüler individuell, es zeigt sich schnell, dass es den Schülern nur durch Rücksprache zum einen untereinander und zum anderen mit Unterstützung durch die Lehrkraft sowie erneutem Erklären der Sachverhalte möglich ist, die Fragestellungen zu verstehen und auch zu beantworten. Aufgabe 1, „Liste auf, welche Aufgaben die UNO lösen soll; beachte dabei auch die in der Charta der UNO festgelegten Ziele“, die sich auf reine Reproduktion des Gelesenen bezieht, fällt allen vier Schülern leicht. Die Informationen hierfür können direkt aus dem Text entnommen werden. Als kleine Schwierigkeit stellt sich der Text der Charta heraus, da dort der sprachliche Stil nicht dem alltagssprachlicher Formulierungen entspricht. Ein großer Vorteil der Lese- und Schreibberatung ist, dass die Schüler jederzeit die Möglichkeit haben miteinander zu sprechen oder die Berater hinzuzuziehen, so konnte der Text der Charta besprochen und somit für die Schüler verständlich gemacht werden. Allein der Austausch untereinander über den Text und das Vergewissern der Richtigkeit bei der Lehrkraft hilft den Schülern, die Aufgabe zu lösen. Bei Aufgabe 2, „Erkläre mit wenigen Sätzen den Aufbau der UNO und finde heraus, welche Länder zur Zeit die 10 nichtständigen Mitglieder stellen“, in der es darum geht ein Schaubild zu erläutern und auch eigenständig Informationen zu finden, die nicht im Text stehen, sondern einer weiteren Informationsquelle bedürfen, haben die Schüler Schwierigkeiten. Auch hier hilft das Gespräch über das Schaubild weiter. Zunächst sollen die Schüler versuchen das Bild zu erläutern, so wie sie es verstehen. Nachdem dies geschehen ist, stellt der Berater Fragen, die die Schüler in die richtige Richtung bringen. (Welche Bestandteile hat die UNO? Wie kommen die jeweiligen Mitglieder zu ihrem Amt? Welche Aufgaben haben die verschiedenen Gruppen? ) Oft hilft in den Beratungsgesprächen der Austausch über das, was man verstanden hat, weiter. Die Lehrkraft steht den Schülern hierbei lediglich als Berater zur Seite. Das Beschaffen der weiterführenden Information ist für alle Schüler schwierig, da nicht klar ist, wo die Information gefunden werden kann. Aufgabe 3, „Nenne die Voraussetzungen für den Einsatz der Blauhelm-Soldaten zur Friedenssicherung“, stellte für alle vier Schüler eine Schwierigkeit dar. Im Text wird zwar genannt, wann die UNO Truppen entsendet, aber es wird nicht explizit von Voraussetzungen gesprochen. In der Frage wird aber nach den Voraussetzungen für den Einsatz von Blauhelm- Soldaten gefragt. Hier ist den Schülern zunächst nicht klar, welche Informationen aus dem Text ihnen weiterhelfen. Wie schon bei Frage zwei wird in einem Gespräch zunächst geklärt, was denn die Formulierung Voraussetzungen bedeutet und welche Informationen des Textes weiterhelfen können. <?page no="90"?> Alexandra Junk-Deppenmeier & Joachim Schäfer 84 Es zeigt sich, dass die Inferenzbildung, die einerseits von einem Welt- und Fachwissen und andererseits von der Nutzung sprachlicher Strukturen für die Schüler abhängt, generell eine Schwierigkeit darstellt. Je differenzierter das Weltwissen ist, desto leichter fällt den Schülern die angemessene Informationsentnahme. Dabei kann das Weltwissen kultur- und schichtspezifsch geprägt sein. Auf der anderen Seite unterscheiden sich die Schüler in der Art ihrer Verständniskontrolle und der Nutzung sprachlicher Strukturen. Dabei haben die Schüler mit Deutsch als Zweitsprache andere Schwierigkeiten als die Schüler mit Deutsch als L1. Serhat kann durch seine gut ausgebildete schriftsprachliche Sozialisation im Türkischen ein angemessenes Textverständnis ausbilden, Ferhat bereiten die unterdurchschnittliche schriftsprachliche Sozialisation, das mangelnde Weltwissen, der ungünstige Strategieeinsatz und der lückenhafte Wortschatz große Probleme. Erstaunlich ist auch, dass sinnvolle Strategien als deklaratives Wissen aber nicht als Problemlösewissen bzw. prozedurales Wissen verfügbar sind. Literatur Artelt, Cordula/ Stanat, Petra/ Schneider, Wolfgang/ Schiefele, Ulrich/ Lehmann, Rainer (2004): Die PISA-Studie zur Lesekompetenz: Überblick und weiterführende Analysen. In: Schiefele, U./ Artelt, C./ Schneider, W./ Stanat P. (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Wiesbaden: VS, 139 - 168. Baurmann, Jürgen/ Müller, Astrid (2005): Sachbücher und Sachtexte lesen. In: Praxis Deutsch, 32, 189, 6 - 13. Artelt, Cordula/ McElvany, Nele/ Christmann, Ursula/ Richter, Tobias et al. (Hg.) (2007): Förderung von Lesekompetenz. Expertise. Bonn, Berlin. Christoph, Dieter/ Kraus, Peter/ Leicht, Jürgen/ Pfefferer, Christian/ Spohn, Alexander (2007): WZG 5 Welt Zeit Gesellschaft - Hauptschule Baden- Württemberg. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 182 - 183. Crämer, Claudia/ Füssenisch, Iris/ Schumann, Gabriele (1998): Lesen ist wie Küssen - Leseförderung (k)ein Thema für die Klassen 5-10? In: Crämer, C./ Füssenich, I./ Schumann, G. (Hrsg.): Lesekompetenz erwerben und fördern. Braunschweig: Westermann, 6 - 21. Ehlers, Swantje (2008): Lesekompetenz in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 215 - 227. Engin, Hava (2007): Jeder Unterricht ist auch Sprachunterricht - Fachtexte lesen in der Sekundarstufe I. In: Lernchancen, 10, 59, 4 - 9. Grütz, Doris/ Pfaff, Harald (2006): Sachtexte in Hauptschulen verstehen - vom Vorrang des Mündlichen. In: Informationen zur Deutschdidaktik, 30, 1, 53 - 63 Konsortium Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann. <?page no="91"?> Lesekompetenz als Voraussetzung für das Lernen im Fachunterricht 85 Mindnich, Anja/ Wuttke, Eveline/ Seifried, Jürgen (2008): Aus Fehlern wird man klug? - Ein Pilotstudie zur Typisierung von Fehlern und Fehlersituationen. In: Lankes, Eva-Maria (Hrsg.): Pädagogische Professionalität als Gegenstand empirischer Forschung. Münster: Waxmann, 153 - 163. Mokhlesgerami, Judith/ Souvignier, Elmar/ Gentsch, Sandra (2006): Förderung von Lesestrategien - Erprobung eines Unterrichtsprogramms in Haupt-, Real- und Gesamtschulen. In: Empirische Pädagogik, 20, 1, 70 - 90. Müller, Astrid (2000): Sachtexte lesen und verstehen - Bedeutung des Lesens und Verstehens. In: Lernchancen, 3, 13, 4 - 12. Pangh, Claudia (2003a): Lesekompetenz - vom lauten zum verstehenden Lesen. In: Bohl, Thorsten/ Grunder, Hans-Ulrich/ Kansteiner-Schänzlin, Katja u.a. (Hrsg.): Lernende in der Hauptschule - ein Blick auf die Hauptschule nach PISA. Baltmannsweiler: Schneider, 68 - 88. Pangh, Claudia (2003b): Diagnosekompetenz - den Blick für das Lernen schärfen. In: Bohl, Thorsten/ Grunder, Hans-Ulrich/ Kansteiner-Schänzlin, Katja u.a. (Hrsg.): Lernende in der Hauptschule - ein Blick auf die Hauptschule nach PISA. Baltmannsweiler: Schneider, 91 - 112. Praxis-Deutsch-Redaktion (Hg.) (2007): Sonderheft - Lesen nach Pisa. Seelze/ Velber: Erhard Friedrich, 108 - 117. Scheerer-Neumann, Gerheid (2003): Entwicklung der basalen Lesekompetenz. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Paderborn: Schöningh, 513 - 524. Schmid-Barkow, Ingrid (2002): Bemerkenswert verschmurmelte Artgenossen - Eine empirische Studie zur Diagnose von Lesestrategien und Leseschwierigkeiten bei Hauptschülern. In: Kammler, Clemens/ Knapp, Werner (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Deutschdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 170 - 185. Schillerschule Esslingen (2009): Lese- und Schreibberatung. [http: / / www.schillerghs.es. schule-bw.de/ ]. (gesehen am 16.10.2009). Schümer, Gundel (2004): Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Schümer, Gundel/ Tillmann, Klaus-Jürgen/ Weiß, Manfred (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Wiesbaden: VS, 73 - 114. Westhoff, Gerard (1997): Fertigkeit Lesen. Berlin: Langenscheidt. Willenberg, Heiner (2007): Lesestrategien - Vermittlung zwischen Eigenständigkeit und Wissen. In: Praxis-Deutsch-Redaktion (Hrsg.): Praxis Deutsch Sonderheft - Lesen nach Pisa. Seelze/ Velber: Erhard Friedrich, 108 - 117. <?page no="93"?> Udo Ohm Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung: Zweitsprachenförderung als Befähigung zum Handeln 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass Zweitsprachenförderung als Befähigung zum fachlichen und beruflichen Handeln verstanden werden muss. Ich werde zunächst auf die Rolle bildungssprachlicher Kompetenz im Kontext fachlichen Lernens eingehen. Hierbei geht es insbesondere um die Befähigung zum Handeln in dekontextualisierten Kommunikationssituationen. Anschließend werde ich am Beispiel einer schriftlichen Bildbeschreibung einer Deutschlernerin erläutern, was unter eingeschränkter Handlungsfähigkeit aufgrund fehlender bildungssprachlicher Kompetenz zu verstehen ist. Dabei wird deutlich, dass das Wissen über sprachliche Mittel untrennbar mit Sprachhandlungswissen und Textsortenwissen verbunden ist. Mit Bezug auf Vygotskijs Begriff der Vermittlung werde ich mangelnde Sprachkompetenz als Einschränkung der Fähigkeit zur Steuerung des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer thematisieren. Aus dieser Perspektive muss bildungssprachliche Kompetenz als Voraussetzung für die Fähigkeit zum selbstgesteuerten, d.h. fachlich angemessenen und zielorientierten Handeln in Schule und Ausbildung betrachtet werden. Der Weg zur Selbststeuerung führt über eine Unterstützung der Lernenden bei der Bewältigung konkreter Aufgabenstellungen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Scaffolding eingeführt, der auf die Internalisierung von Wissen auf der Basis didaktisch-methodisch strukturierter Lernerfahrungen im sozialen Kontext abzielt. Auf dieser Basis werden abschließend exemplarisch zwei Unterrichtsvorschläge umrissen. 2 Zur Notwendigkeit bildungssprachlicher Kompetenz In industrialisierten Gesellschaften ist die schulische Vermittlung von Fachwissen untrennbar mit dem Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten verbunden. Kinder erlernen bereits in der Grundschule grundlegende sprachliche Handlungen, die zum Bewältigen fachlicher Aufgaben benötigt werden. Dazu zählen u.a. das Benennen und Beschreiben von Personen und Gegenständen, das Erklären einfacher Sachverhalte und Abläufe sowie einfache Formen des Schlussfolgerns, Bewertens und der argumentativen <?page no="94"?> Udo Ohm 88 Auseinandersetzung. Während solche sprachlichen Handlungen zu Beginn der Schulzeit noch mit relativ einfachen, weitgehend alltagssprachlichen Mitteln realisiert werden können, wird von den Schülerinnen und Schülern im Laufe der Schulzeit ein immer mehr an den spezifischen kognitiven Anforderungen fachlichen Lernens und Arbeitens orientierter Sprachgebrauch verlangt. Beim Eintritt in die berufliche Ausbildung sollten Jugendliche ein bildungssprachliches Niveau erreicht haben, das sie in die Lage versetzt, fachbzw. berufbezogene Aufgabenstellungen durch einen fachlich angemessenen Gebrauch sprachlicher Mittel zu bewältigen. Erfahrungen von Lehrenden und Ausbildenden in der Schule und im Betrieb zeigen jedoch, dass vor allem - aber nicht ausschließlich - Lernende nicht-deutscher Herkunftssprache dieses Niveau häufig nicht erreichen und daher den Anforderungen der beruflichen Ausbildung nicht gewachsen sind. Die besondere Rolle, die den bildungssprachlichen Fähigkeiten in Schule, Ausbildung und Beruf zukommt, wird seit Cummins gern mit dem Begriffspaar BICS (Basic Interpersonal Communicative Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency), das den Unterschied zwischen kontextualisierter Alltagssprache und dekontextualisierter Bildungssprache erfasst (Cummins 1979), verdeutlicht 1 . Im Kern geht es um die Unterscheidung zwischen einer Kommunikation, die nachhaltig durch kontextuelle oder interpersonelle Hinweise (wie etwa Gestik, Mimik und Intonation in einer Face-to-face-Situation) gestützt wird, und einer Kommunikation, die sich lediglich auf sprachliche Hinweise stützen kann, die wenig oder gar keinen Bezug zum unmittelbaren kommunikativen Kontext haben (Cummins 2000, 59). Bildungssprachliche Fähigkeiten sind daher besonders dann erforderlich, wenn das Handeln in Schule und Beruf nicht auf der Basis einer Face-to-face-Kommunikation erfolgt, sondern über schriftliche Texte vermittelt wird. Allerdings darf CALP nicht grundsätzlich mit schriftlicher Kommunikation gleichgesetzt werden. In einer hochtechnisierten Arbeitswelt gibt es auch eine Vielzahl dekontextualisierter mündlicher Kommunikationssituationen (z.B. telefonisch die Beschreibung einer Maschinenstörung übermitteln). Es gehört zur zentralen Aufgabe der Schule, Schülerinnen und Schülern eine bildungssprachliche Kompetenz zu vermitteln, die sie zum Handeln in dekontextualisierten Kommunikationssituationen befähigt. Insbesondere bei Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache muss von Seiten der Lehrenden dafür Sorge getragen werden, dass diese im Unterricht Gelegenheit erhalten, die Zweitsprache Deutsch auf bildungssprachlichem Niveau zu erwerben. Statt den sprachlichen Anforderungen durch wohlmeinende Vereinfachungen aus 1 An dieser Stelle kann nicht auf die kritischen Auseinandersetzungen mit diesen Begriffen und auch nicht auf die Stationen der Weiterentwicklung durch Cummins selbst eingegangen werden (vgl. hierzu u.a. den Überblick in Cummins 2000, 86-111). <?page no="95"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 89 dem Wege zu gehen, ist daher eine gezielte Förderung bildungssprachlicher Kompetenz angezeigt (vgl. Gibbons 2006, 270). 3 Beispiel: schriftliche Bildbeschreibung Das folgende Beispiel entstammt dem Korpus eines dreijährigen Forschungsprojekts zum Erwerb der deutschen Grammatik durch Schülerinnen und Schüler an Genfer Schulen (vgl. Diehl et al. 2000, 3-9) 2 . Genf ist offiziell eine französischsprachige Stadt. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung (Sept. 1995 bis Juni 1997) wurde Deutsch in der Grundschule ab der 4. Klasse täglich 10-20 Minuten in spielerischer Form - mit Konzentration auf die gesprochene Sprache - und ohne Benotung unterrichtet. Erst ab dem 7. Schuljahr wurde Deutsch zum regulären Wahlfach mit 4-5 Stunden in der Woche (vgl. Diehl et al. 2000, 16). Der folgende Text wurde von einer Schülerin zu Beginn des 8. Schuljahres verfasst. Die Schülerin hatte die Aufgabe, zu einem Bild eine schriftliche Bildbeschreibung zu erstellen. Der Kulschrank Kühlschrank ist offen.! Die Tomate sind rot. Er liest der Kochbuch. Der Hund laüft. Das Milch ist im der Kühlschrank. Es ist warm. Er schneidet die Wurst. Das Fleisch ist im Die Pfanne ist gelb. Die Mutter kommt. Der Vater ist dick. Der Hund ist braun. Die Schwester ist gesund. Der Bruder ist nicht schöner als sieine seine Schwester. Das Kotel l ett schmeckt gut. (http: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ digs/ corpusDIGS-CO7a-8a.html; vgl. Diehl et al. 2000, 348) Diehl et al. merken an, dass „ein etwas befremdlicher Text“ entstanden sei, „der nicht unbedingt für eine Bildbeschreibung typisch ist“ (Diehl et al. 2000, 348). Es sind vor allem vier Aspekte, die den Text befremdlich erscheinen lassen: 1. Das völlige Fehlen von Lokaladverbialien. 2. Die ausschließlich prädikative Verwendung von Adjektiven. 3. Der Gebrauch des bestimmten Artikels, ohne dass die jeweils benannten Redegegenstände zuvor explizit eingeführt wurden. 4. Der Gebrauch des Personalpronomens in der 3. Pers., sg., mask., ohne dass zuvor ein Redegegenstand eingeführt wurde, auf den verwiesen werden könnte. 2 Dass es in der zitierten Untersuchung nicht in typischer Weise um Deutsch als Zweitsprache geht, ist für die folgenden Überlegungen nicht relevant. Im Vordergrund steht zunächst nicht die Frage nach den spezifischen Lernschwierigkeiten im Kontext Deutsch als Zweitsprache. Der Fokus liegt vielmehr auf dem Übergang von alltagssprachlicher zu bildungssprachlicher Kompetenz. Dieser Übergang muss in fachlichen Kontexten von Lernenden mit Deutsch als Erst-, Zweit- und Fremdsprache bewältigt werden. Allerdings ist spätestens seit den PISA-Ergebnissen zur Lesekompetenz bekannt, dass Lernenden nicht-deutscher Herkunftssprache dieser Übergang besondere Schwierigkeiten bereitet (vgl. Stanat/ Schneider 2004: 257-260). <?page no="96"?> Udo Ohm 90 Insbesondere die Punkte 1, 3 und 4 machen klar, dass die Schülerin keine schriftliche Bildbeschreibung, sondern eher die Verschriftlichung einer mündlichen Bildbeschreibung erstellt hat. Bei einer mündlichen Bildbeschreibung in einer Face-to-face-Situation im Unterricht ist es nicht zwingend notwendig, die in einem Bild dargestellten Bildelemente zu lokalisieren. Da alle am Unterrichtsgespräch Beteiligten das Bild sehen, kann die Aufmerksamkeit einfach dadurch auf die entsprechenden Bildelemente gelenkt werden, dass man sie benennt („Der Kühlschrank …“; „Die Tomate …“). Obwohl es eher unüblich ist, kann in Face-to-face-Situationen auch auf im Bild dargestellte Personen mit Pronomen referiert werden, ohne dass die Personen zuvor eingeführt wurden. Das funktioniert ggf. sogar, wenn mehrere Personen gleichen Geschlechts vorhanden sind, sofern man diese z.B. anhand ihres Aussehens oder ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten identifizieren kann (vgl. „Er liest der Kochbuch.“ vs. „Er schneidet die Wurst.“). Eine explizite Lokalisierung einzelner Bildelemente durch den Gebrauch von Lokaladverbialien 3 ist nur dann zwingend, wenn Missverständnisse auftreten oder etwas nicht erkannt wird (z.B.: „Neben dem Herd sehe ich einen Mülleimer.“; „Ich meine den Mann am Herd.“). Die genannten Voraussetzungen treffen bei einer schriftlichen Bildbeschreibung nicht zu. Hier kann man nicht - oder jedenfalls nicht mit Sicherheit - davon ausgehen, dass dem Adressaten das Bild beim Lesen des Textes zur Verfügung steht. In einer schriftlichen Bildbeschreibung müssen die genannten Bildelemente deshalb explizit lokalisiert werden. Vorab sollte einleitend das dargestellte Motiv als Ganzes benannt und so ein Bezugsrahmen für die Detailbeschreibung hergestellt werden (z.B.: „Auf dem Bild ist eine Küche dargestellt.“ oder „Man sieht eine Familie beim Kochen.“). In jedem Fall kann aber erwartet werden, dass die für die Beschreibung relevanten Bildelemente mit Hilfe von Lokaladverbialien in den Bezugsrahmen eingeordnet werden 4 („Links steht ein Kühlschrank.“; „Vorne rechts sieht man einen Herd.“). Auf die einmal eingeführten Gegenstände oder Personen kann dann mit Pronomen referiert werden (z.B.: „Links steht ein Kühlschrank. Seine Tür ist offen.“). Wurde ein Bezugsrahmen eingeführt (z.B.: „Man sieht eine Familie beim Kochen.“) ist der Gebrauch des bestimmten Artikels unproblematisch, da er anaphorisch - im 3 Natürlich ist eine Lokalisierung in Face-to-face-Situationen auch mit anderen sprachlichen Mitteln möglich. Z.B. kann die Aufmerksamkeit von Kommunikationspartnern durch Angabe von Eigenschaften auf das fragliche Bildelement gelenkt werden (z.B.: „Der mit den roten Haaren.“). 4 Genau aus diesem Grund hatten Diehl et al. im Rahmen ihrer Forschungsarbeit die Aufgabe gestellt. Sie beabsichtigten, Inversionskontexte zu elizitieren. Die Überlegung war, dass eine schriftliche Bildbeschreibung die Voranstellung von Lokaladverbialien verlangt (z.B.: „An der rechten Wand steht ein Kühlschrank.“). Nimmt man weitere Texte der Schülerin hinzu, so wird deutlich, dass sie inversionsfordernde Kontexte als Gefahrenzone betrachtete und konsequent ausschließlich S-V-Sätze aneinanderreihte (Diehl et al. 2000, 348). Dies kann auch die Vermeidung von Lokaladverbialien erklären. <?page no="97"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 91 Sinne eines Ganzes-Teil-Verhältnisses - auf einen zuvor implizit eingeführten Redegegenstand verweist. So referiert das Nomen Familie z.B. auf eine Gruppe von Personen, zu der prototypisch auch ein Vater gehört („Man sieht eine Familie beim Kochen. Der Vater sitzt am Tisch. Er liest im Kochbuch.“). Abschließend noch einige Bemerkungen zur ausschließlich prädikativen Verwendung von Adjektiven (Punkt 2). Zählt man die einzelnen Sätze der Beschreibung durch, wird klar, dass die Mehrzahl der Sätze mit dem Kopulaverb sein gebildet wurde. Das passt zur Benennung isolierter Bildelemente. Die Bildbeschreibung der Schülerin besteht im Grunde aus einer unverbundenen Benennung einzelner Bildelemente, denen durch den Gebrauch von Prädikativen Eigenschaften zugewiesen werden. Bei einer schriftlichen Bildbeschreibung werden hingegen Bildelemente in Beziehung zueinander gesetzt. Eine explizite Prädikation einfacher Eigenschaften wie der Farbe von Gegenständen ist dabei eher ungewöhnlich („Die Pfanne ist gelb.“). Es ist in vielen Fällen angemessener, den Gegenstand bereits bei seiner Einführung entsprechend zu determinieren, was vor allem mit der attributiven Verwendung von Adjektiven geleistet werden kann („Auf dem Herd steht eine gelbe Pfanne.“). Fassen wir zusammen: Der von der Schülerin erstellte Text erfüllt nicht die Anforderungen der Textsorte Schriftliche Bildbeschreibung. Die Schülerin ist offensichtlich noch nicht in der Lage, die Sprachhandlung Beschreiben in der Fremdsprache Deutsch auszuführen. Sie versäumt es, einen einleitenden Bezugsrahmen herzustellen, in dem die dargestellten Bildelemente lokal und situativ verortet werden könnten. Auch die Wiedergabe der im Bild dargestellten Gegenstände, Personen und Handlungen trägt nicht den Charakter einer Beschreibung. Die Schülerin verwendet keine sprachlichen Mittel, die eine Kohäsion zwischen den einzelnen Sätzen herstellen könnten (phorisch gebrauchte Pronomen, Konnektoren, Thema-Rhema-Gliederung etc.). So entsteht nicht wirklich ein Text, sondern lediglich eine Sammlung unverbundener Benennungen. Die einzelnen Bildelemente werden von der Schülerin im Grunde lediglich aufgerufen. Gegenstände werden mit Eigenschaften prädiziert, Personen bzw. Lebewesen werden Handlungen zugeordnet. Selbst die für die Sprachhandlung Beschreiben konstitutive Sprachhandlung Benennen beherrscht die Schülerin nur unvollkommen. Benennen als Grundoperation einer schriftlichen Bildbeschreibung verlangt die lokale Vorortung zumindest der zentralen Bildelemente im Gesamtbild. Die von Diehl et al. angesprochene befremdliche Wirkung der Bildbeschreibung wird dadurch hervorgerufen, dass der Leser mit diesem Text nicht in der Lage ist, das Bild, das „beschrieben“ wird, zu rekonstruieren. Aus der Perspektive des Lesers kann man präzisierend festhalten, dass der Text nicht geeignet ist, die mentalen Prozesse eines Rezipienten in der Weise zu steuern, dass dieser ein imaginäres Bild des Bildes konstruieren kann. Aus der Perspektive der Schülerin muss festgehalten werden, dass sie bezüglich der gestellten Aufgabe nicht oder nur eingeschränkt handlungs- <?page no="98"?> Udo Ohm 92 fähig ist. Ihr stehen die erforderlichen bildungssprachlichen Mittel zur kontextfreien Kodierung von komplexen bildlichen Darstellungen nicht zur Verfügung. 4 Bildungssprache als Mittel der Steuerung des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer Im vorigen Abschnitt hatten wir gesehen, dass eine Schülerin aufgrund ihrer mangelnden Sprachkompetenz in der Fremdsprache Deutsch nicht in der Lage war, die ihr gestellte Aufgabe, eine schriftliche Bildbeschreibung zu erstellen, zu bewältigen. Im vorliegenden Beitrag ist dabei die Feststellung von zentralem Interesse, dass Sprachkenntnisse im engeren Sinne (Wortschatz, Grammatik etc.) untrennbar mit der Fähigkeit verbunden sind, die für die Bewältigung der Aufgabe notwendigen (sprachlichen) Handlungen zu vollziehen und das angestrebte Handlungsziel (schriftliche Bildbeschreibung) zu erreichen. Einer handlungsorientierten Zweitsprachenförderung muss demnach ein Sprachbegriff zugrunde gelegt werden, der die handlungsvermittelnde und -steuernde Funktion von Sprache berücksichtigt. Vermittlung und Steuerung sind zentrale Begriffe des soziokulturellen Ansatzes der Zweitsprachenerwerbsforschung, der sich in der angloamerikanischen Forschung spätestens seit Mitte der neunziger Jahre - anfangs vor allem mit Fokus auf Migrationskontexte - zu etablieren begann. Die Begriffe können hier nur stark verkürzt und mit Bezug auf den Anwendungskontext des vorliegenden Beitrags umrissen werden. Der soziokulturelle Begriff der Vermittlung geht auf Vygotskijs Begriff des Mittler-Reizes zurück (vgl. u.a. Vygotskij 1992, 122ff). Demnach zeichnet es den Menschen aus, dass er nicht nur unmittelbar und unwillkürlich auf Reize seiner Umwelt reagieren kann, sondern dass er auch in der Lage ist, seine Reaktionen durch die Einführung künstlicher Reize selbst zu bestimmen. Die Differenzierung zwischen der mittelbaren oder vermittelten und der unmittelbaren oder unvermittelten Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt in seiner Erfahrungswelt wird durch die Darstellung in Abb. 1 in schematisch vereinfachter Form erfasst (vgl. Lantolf/ Thorne 2006, 62). (Abb. 1) <?page no="99"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 93 Die mittelbare Beziehung wird durch die durchgezogenen Linien, die unmittelbare Beziehung durch die gepunktete Linie repräsentiert. Zur unmittelbaren Beziehung zählen u.a. die unwillkürliche Aufmerksamkeit (z.B. das unkontrollierte Wenden des Blicks in Richtung eines lauten Knalls), der unwillkürliche Reflex (z.B. das Schließen des Augenlids beim Auftreffen eines Fremdkörpers) und die unwillkürliche Erinnerung (z.B. emotional aufgeladene Erlebnisse, die immer wieder ins Bewusstsein drängen). Die mittelbare Beziehung umfasst die sich historisch aufschichtende kulturelle Hervorbringung von Mittler-Reizen, die zwischen das Subjekt und die geistigen und physischen Objekte treten. Als Mittler-Reize können alle künstlichen, d.h. vom Menschen hervorgebrachten, geistigen oder physischen Objekte (Artefakte) - zu denen Vygotskij auch das künstliche „Signalsystem“ Sprache zählt (vgl. u.a. Vygotskij 1992, 138-143) -, Begriffe (z.B. der Begriff der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Demokratie, der Familie, des Erfolgs, der Kundenzufriedenheit) und Tätigkeiten im Sinne sozialer Praktiken (habitualisierte Formen des Handelns wie z.B. Essgewohnheiten und Begrüßungsformen aber auch routinisierte Handlungsabläufe am Arbeitsplatz) fungieren. Durch die Einführung künstlicher Mittler-Reize ist das Subjekt in der Lage, seine Reaktionen auf Objekte selbst zu beeinflussen. Ein einfaches, von Vygotskij selbst erwähntes Beispiel ist der Knoten, den wir in ein Taschentuch machen, um in einer zukünftigen Situation unsere Aufmerksamkeit auf etwas in unserem Gedächtnis zu lenken, das wir andernfalls womöglich vergessen hätten. Durch die Einführung des künstlichen Mittler-Reizes „Knoten-im-Taschentuch“ sind wir somit in der Lage, unsere natürliche Gedächtnisfunktion zu erweitern. Laut Vygotskij entstehen mit der Schaffung von künstlichen Mittler-Reizen höhere, d.h. komplexere, Formen des Verhaltens. Das Verhalten von Menschen wird auch - aber nicht ausschließlich - von gegebenen Reizen determiniert. Insbesondere das „Signalsystem der Sprache“ versetzt Menschen in die Lage, auf ihr eigenes Verhalten (Selbststeuerung) und das Verhalten anderer Menschen (Fremdsteuerung) einzuwirken (vgl. Vygotskij 1992, 143). Während Vygotskij das Werkzeug als „Mittel der äußeren, auf die Unterwerfung der Natur gerichteten Tätigkeit des Menschen“ betrachtet (1992, 154), ist das Zeichen - und dazu zählt vor allem das sprachliche Zeichen - ein „Mittel der inneren, auf die Selbststeuerung ausgerichteten Tätigkeit des Menschen“. Das Zeichen ist „ein Medium der psychischen Einwirkung auf das Verhalten - auf fremdes wie auf eigenes“ (ebd.). Zusammenfassend kann man sagen, dass Menschen Sprache dazu gebrauchen, wechselseitig ihr Verhalten zu regulieren und zu koordinieren. Sie lenken wechselseitig ihre Aufmerksamkeit auf Phänomene der gemeinsamen Erfahrungswelt, beeinflussen wechselseitig ihre Wahrnehmungsperspektiven, nehmen wechselseitig Einfluss auf Konstruktion und Rekonstruktion von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen, auf Motivstrukturen ihres Handelns und auf ethisch-moralische Grundsätze und nicht <?page no="100"?> Udo Ohm 94 zuletzt konstituieren sie wechselseitig ihre sozialen Identitäten und ihr Selbstbild. Mit Blick auf den Gegenstand des vorliegenden Beitrags kann festgehalten werden, dass soziale Kooperation, etwa auf der Ebene der Koordination von Handlungsabläufen im Beruf, ohne die wechselseitige Stimulierung des Verhaltens der Beteiligten mittels Sprache oder anderer Mittler- Reize nicht möglich wäre. So ist das Beschreiben in vielen Arbeitsbereichen eine grundlegende sprachliche Tätigkeit, mit der ein Autor eine eigene Wahrnehmung oder Erfahrung einem Leser zum Nachvollzug wiedergibt (vgl. Fix 2008, 99). In institutionalisierten oder formalisierten Situationen kann dies auch für mündliche Beschreibungen gelten. Man denke hier z.B. an die „Störungsbeschreibung“, die ein Maschinenführer in einem Betrieb einem Techniker oder seinem Vorgesetzten telefonisch übermitteln muss (vgl. La Mura Flores 2007, 32). Hier sind präzise sprachliche Benennungen und kohärente Beschreibungen nötig, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Verallgemeinernd kann man sagen, dass ein Autor oder Sprecher mit einer Beschreibung den Nachvollzug seiner Wahrnehmung oder Erfahrung steuert, indem er mit dem Gebrauch entsprechender sprachlicher Mittel beim Leser oder Hörer die mentalen Prozesse auslöst, die diesem den „Gang durch den Vorstellungsraum“ (Rehbein 1984, 79, zit.n. Fix 2008, 99) ermöglichen. 5 Objektsteuerung vs. Selbststeuerung Wie wir am oben diskutierten Beispiel einer schriftlichen Bildbeschreibung feststellen konnten, ist die Schülerin nicht in der Lage, mit ihrem Text in einer Weise auf den Leser einzuwirken, dass dieser das Bild, das es zu beschreiben galt, mental rekonstruieren kann. Der Nachvollzug der Wahrnehmung, die die Schülerin unter dem Eindruck der Aufgabe von dem Bild hatte, ergibt kaum mehr als einige unverbundene Eindrücke von einzelnen Bildelementen. Aufgrund ihrer mangelnden sprachlichen Fähigkeiten konnte sie sprachlich nur weitgehend unwillkürlich auf das Bild reagieren. In Anlehnung an Vygotskij könnte man sagen, dass ihr das für eine Beschreibung notwendige Repertoire an sprachlichen Mittler-Reizen fehlte, um eine über die unmittelbare Wahrnehmung isolierter Reize hinausgehende, stärker vermittelte und willentlich gesteuerte Wiedergabe ihrer Bildwahrnehmung zu liefern. Wenn in Fällen wie diesem das Zentrum der Steuerung des Handelns weitgehend beim Objekt liegt, spricht Vygotskij von Objektsteuerung. Selbststeuerung liegt dann vor, wenn das Zentrum der Steuerung des Handelns beim Handelnden selbst liegt. Bilden wir das Beispiel der Bildbeschreibung der Zweitsprachenlernerin nun auf das Schema der Vermittlung aus dem vorhergehenden Abschnitt ab, ergibt sich in etwa das Bild in Abb. 2. <?page no="101"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 95 (Abb. 2) Das Gelingen einer schriftlichen Bildbeschreibung setzt ein hohes Maß an Selbststeuerung voraus. Ein Handelnder darf nicht sogleich und unwillkürlich auf isolierte Reize oder Eindrücke von einzelnen Bildelementen reagieren und diese benennen. Vielmehr muss er zunächst das Objekt Bild als Ganzes in den Blick nehmen, einordnen und sodann den Bezugsrahmen für die nachfolgenden Beschreibungsaktivitäten festlegen. Für die Erstellung einer sachgerechten Bildbeschreibung benötigt er das entsprechende Textsortenwissen (Bildbeschreibung), Wissen über die zu vollziehenden sprachlichen Handlungen (Benennen, Beschreiben) und natürlich die sprachlichen Mittel, mit denen er sie realisieren kann. Erst durch die Anwendung dieses komplexen Repertoires an Mittler-Reizen kann der Autor eine Bildbeschreibung erstellen, die geeignet ist, die mentalen Prozesse eines Lesers in der Weise zu steuern, dass dieser durch Nachvollzug der - selbst gesteuerten - Wahrnehmung des Bildes durch den Autor eine sachgerechte und präzise Vorstellung von dem Bild entwickeln kann. 6 Scaffolding als Weg zur Selbststeuerung Wie kann nun eine Zweitsprachenförderung aussehen, die Kinder und Jugendliche nicht-deutscher Herkunftssprache zu bildungssprachlicher Kompetenz verhilft? In Bezug auf die bildungssprachlichen Anforderungen in der Schule stellt Schleppegrell (2004, 25f) fest, dass Lernende wissen müssten, wie in einem bestimmten Kontext gehandelt werden muss, dass sie bereit sein müssten, die erwarteten Rollenverhältnisse anzuerkennen, und dass sie wissen müssten, wie sie den sprachlichen Erwartungen bei der Ausführung von Aufgaben im Unterricht gerecht werden können. Lehrer hätten solche Erwartungen an ihre Schülerinnen und Schüler, würden diese aber in der Regel nicht in Bezug auf den Gebrauch grammatischer oder diskursiver Strukturen konkretisieren, sondern lediglich in Form von Ermahnungen („verwende die richtigen Wörter“, „sei präziser“, „drück dich <?page no="102"?> Udo Ohm 96 klarer aus“ etc.) artikulieren. Viele Kinder seien vom Kindergarten an in der Lage, auf sprachliche Strukturen zurückzugreifen, die den Erwartungen ihrer Lehrer entsprächen. Sie würden deshalb als erfolgreiche Lerner betrachtet. Andere könnten diese Erwartungen jedoch nicht so ohne weiteres erfüllen. Nach Schleppegrell sind es die sozialen Erfahrungen in der frühen Kindheit - vornehmlich also die Erfahrungen in der Familie -, die darüber entscheiden, ob sich ein Kind erfolgreich an sprachbasierten Unterrichtsaufgaben beteiligen kann. Damit auch die bisher nicht oder wenig erfolgreichen Schülerinnen und Schüler - worunter überproportional viele mit nicht-deutscher Herkunftssprache zu finden sind - Zugang zu bildungssprachlichen Ressourcen erhalten können, ist es notwendig, Form und Funktion der erwarteten sprachlichen Mittel und Textsorten ins Zentrum des Unterrichts zu stellen. Dabei muss zum einen an den sprachlichen Voraussetzungen angeknüpft werden, die die Lernenden mitbringen, und zum anderen die sprachliche Weiterentwicklung gestützt werden. Eine didaktisch-methodische Strukturierung und Planung von Lehr-Lern-Prozessen, die den aktuellen Entwicklungsstand eines Lerners und den potenziellen Entwicklungsschritt, zu dem er in der Lage ist, berücksichtigt, wird häufig mit dem Begriff Scaffolding bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein „Gerüst“ aus didaktischmethodischen Maßnahmen, das einen individuellen Lernprozess im Bereich der potenziellen Entwicklung stützen soll und das wieder abgebaut werden kann, wenn der Lerner in der Lage ist, die ihm gestellten Aufgaben selbstständig zu bewältigen 5 . Grundlegend für Scaffolding ist der lerntheoretische Hintergrund, der auf Vygotskijs Begriff des Lernens als Internalisierung zurückgeht. Demzufolge beginnt Lernen immer in sozialer Interaktion. So wird das Wissen über eine Textsorte und über die für sie typischen sprachlichen Mittel im Kontext gemeinsamer Erfahrungen bei der Bewältigung einer konkreten Aufgabenstellung erworben. Scaffolding bedeutet, dass diese Lernerfahrung didaktisch-methodisch gesteuert wird 6 . Das soll im Folgenden an zwei Beispielen umrissen werden. 6.1 Beispiel: Eine schriftliche Bildbeschreibung verfassen In Abschnitt 4 hatten wir davon gesprochen, dass eine Bildbeschreibung dem Leser einen „Gang durch den Vorstellungsraum“ ermöglichen muss. Damit ist gemeint, dass es nicht ausreicht, beim Beschreiben die eigene Wahrnehmung einfach unstrukturiert wiederzugeben, weil der Leser auf 5 Scaffolding im Kontext der Zweitsprachenförderung setzt natürlich eine entsprechende Expertise der Lehrkräfte voraus. Hierauf kann im vorliegenden Aufsatz aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Einige Eckpunkte zur Orientierung von Fachlehrern und Ausbildern werden in Ohm (2009) umrissen. 6 Vgl. die Definition von Scaffolding als „guidance through interaction in the context of shared experience” durch Martin (1999, 126, zit.n. Schleppegrell 2004, 156). <?page no="103"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 97 diese Weise keine Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion des Bildes, sondern lediglich Hinweise auf isolierte Bildelemente erhält (vgl. das Beispiel in Abschnitt 3). Mit Feilke muss Beschreiben vielmehr „als eine kognitiv und kommunikativ anspruchsvolle, begriffs- und vorstellungsbildende Tätigkeit“ aufgefasst werden: „Beschreiben bildet die Wahrnehmung nicht einfach ab, es strukturiert sie“ (Feilke 2003, 7). Wir hatten festgehalten, dass zu Beginn einer Bildbeschreibung zunächst der Bezugsrahmen für die Beschreibung festgelegt werden muss (z.B.: „Das Bild zeigt eine Familie beim Kochen.“). Außerdem hatten wir gesagt, dass erst dann eine Beschreibung entsteht, wenn die benannten einzelnen Bildelemente durch geeignete sprachliche Mittel miteinander verknüpft werden (v.a. Pronomen). Von zentraler Bedeutung sind aber Lokaladverbialien, weil mit ihrer Hilfe die Bildelemente in den Bezugsrahmen eingeordnet werden können und so der Aufbau der Darstellung deutlich wird. Schließlich muss jede Beschreibung einem Anordnungsmuster folgen, das dem Hörer oder Leser den gedanklichen Nachvollzug ermöglicht. Fix (2008, 100) gibt mit Verweis auf Ossner (2005) u.a. folgende Beispiele: „vom Anfang zum Ende (zeitlich)“, „vom Auffälligen zum Unauffälligen“, „vom Bedeutsamen/ Wichtigen zum Unbedeutenden“, „direktional von links nach rechts oder umgekehrt“. Wichtig ist vor allem, dass markante Punkte gesetzt werden. Unsere Lernerin aus Abschnitt 3 hätte beispielsweise vom Auffälligen zum Unauffälligen vorgehen können: „In der Mitte steht ein Tisch. An dem Tisch sitzt der Vater. Er schneidet die Wurst. Hinten links steht ein Kühlschrank.“ usw. Im Folgenden wird nun das Rahmenkonzept für eine Gruppenarbeit umrissen, die Lernenden beim Lösen einer konkreten Aufgabenstellung gemeinsame Erfahrungen mit der Grundstruktur einer Bildbeschreibung und der Funktion von Lokaladverbialien ermöglicht 7 . Der Lernprozess wird mit einer entsprechenden Strukturierung der Aufgabenstellung (1. sagen, worum es auf dem Bild geht; 2. Bildinhalt beschreiben) und durch Vorgabe von Lokaladverbialien für das Verfassen der Bildbeschreibung unterstützt. In der ersten Phase der Gruppenarbeit (3-5 Lernende) soll ein Gruppenmitglied den anderen ein unbekanntes Bild beschreiben (Aufgabenblatt 1). Die Zuhörer haben die Aufgabe sich Notizen zu machen (Aufgabenblatt 2). Nachdem der Bezugsrahmen genannt wurde (1.), soll der Bildinhalt wiedergegeben werden (2.). Für die Aufgabe gibt es eine Zeitbegrenzung; so soll sichergestellt werden, dass nicht jedes Detail aufgezählt, sondern nur die als wichtig erachteten Bildelemente benannt werden. Abschließend soll über das Ergebnis reflektiert werden und es soll diskutiert werden, was man von einer guten Bildbeschreibung erwarten kann. 7 Das Rahmenkonzept muss natürlich an die Altersstufe und die Lernvoraussetzungen der jeweiligen Lerngruppe angepasst und ggf. auch im Hinblick auf fachspezifische Anforderungen konkretisiert werden. <?page no="104"?> Udo Ohm 98 Das Bild, das du bekommen hast, dürfen die anderen Mitglieder deiner Arbeitsgruppe nicht sehen. Du sollst ihnen das Bild beschreiben. Tu das in zwei Schritten: 1. Schau dir das Bild kurz an. Sag dann sofort, worum es auf dem Bild geht. 2. Beschreib, was du auf dem Bild siehst. Du hast dafür nur 2 Minuten Zeit. Wähl aus: Was müssen die anderen wissen, damit sie sich das Bild gut vorstellen können? 3. Schaut euch das Bild gemeinsam an. Haben sich die Zuhörer das Bild in etwa so vorgestellt? Diskutiert: Was war gut an der Beschreibung? Was hat gefehlt? (Aufgabenblatt 1) Du hörst gleich eine Bildbeschreibung. Notier dir das Wichtigste, damit du dir das Bild gut vorstellen kannst. Das Bild wird in zwei Schritten beschrieben: 1. Du erfährst, worum es auf dem Bild geht. Schreib dazu einen kurzen Satz. 2. Du hörst, was auf dem Bild zu sehen ist. Mach dir Stichwörter. 3. Schaut euch das Bild gemeinsam an. Haben sich die Zuhörer das Bild in etwa so vorgestellt? Diskutiert: Was war gut an der Beschreibung? Was hat gefehlt? (Aufgabenblatt 2) In der zweiten Phase soll die Arbeitsgruppe auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung, ihrer Notizen und unterstützt durch die Vorgabe von Lokaladverbialien eine schriftliche Bildbeschreibung verfassen (Aufgabenblatt 3). Zunächst müssen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam festlegen, was in die Bildbeschreibung aufgenommen werden muss (1.). Bei der Erstellung der Bildbeschreibung muss wiederum zunächst der Bezugsrahmen formuliert werden (2.). Erst danach soll der Bildinhalt beschrieben werden (3.). Durch die Vorgabe von Lokaladverbialien („Ortsangaben“) wird sichergestellt, dass auf die zentralen Bildelemente Bezug genommen wird. Die Lokaladverbialien geben Anknüpfungspunkte vor, von denen aus Bezüge zwischen den einzelnen Bildelementen hergestellt werden müssen. So werden die Schülerinnen und Schüler nicht nur klären müssen was „auf dem Herd“ steht, sondern auch, wo der Herd sich befindet (z.B. „rechts an der Wand“). <?page no="105"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 99 Verfasst gemeinsam eine Bildbeschreibung für das Klassenplenum. 1. Legt fest, was in die Bildbeschreibung hinein muss. Verwendet dazu eure Notizen. 2. Schreibt im ersten Satz, worum es im Bild geht. 3. Beschreibt, was zu sehen ist. Verwendet dabei mindestens die folgenden Ortsangaben: auf dem Herd/ im Kühlschrank/ am Tisch/ rechts an der Wand/ hinten links/ in der Mitte (Aufgabenblatt 3) Im Klassenplenum sollten die Bildbeschreibungen aus den verschiedenen Arbeitsgruppen vorgestellt und diskutiert werden. Ziel ist es, abschließend die grundlegenden Merkmale einer guten Bildbeschreibung mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam festzulegen und die Funktion textsortenspezifischer sprachlicher Mittel bewusst zu machen. Der Vorteil des hier vorgeschlagenen Vorgehens ist, dass die Lernenden das Wissen über die Struktur einer Bildbeschreibung und über die Funktion typischer sprachlicher Mittel auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung internalisieren können. 6.2 Beispiel: In Fachtexten dargestellte Prozesse rekonstruieren Die Lesekompetenzstufe I der PISA 2000-Studie verlangt, dass man sich mit Hilfe von Überschriften, Druckkonventionen und Redundanzen einen Eindruck vom Hauptgedanken eines Textes verschaffen und eine explizit genannte Information entnehmen kann. Die Ergebnisse der Untersuchung haben gezeigt, dass 22,3% der 15-Jährigen mit ihren Leseleistungen nicht über die erste Stufe hinauskommen. In diesen 22,3% sind 9,3% enthalten, die noch nicht einmal die erste Stufe erreichen, was bedeutet, dass sie aus einem Text in der Regel keine Informationen entnehmen können (vgl. Schaffner et al. 2004, S. 102 u. 103). Zu dieser Gruppe der „schwachen Leser“ zählen überdurchschnittlich viele Jugendliche mit Migrationshintergrund (vgl. Artelt et al. 2001, 116-120). Vertiefende Untersuchungen zu den PISA- Ergebnissen deuten an, dass sich eine schwache Lesekompetenz kumulativ auf Leistungen in allen Fächern auswirkt (vgl. Stanat/ Schneider 2004, 257- 260). In der Berufsausbildung wird im Bereich der Lesekompetenz deutlich mehr verlangt als eine einzelne Information aus einem Text zu entnehmen. Das Verstehen von Fachbuchtexten setzt beispielsweise voraus, dass Auszubildende sowohl auf lokaler als auch auf globaler Textebene Kohärenz herstellen (vgl. Ohm et al. 2007, 137-140) und Darstellungen von Prozessen und Sachverhalten rekonstruieren können. Abb. 3 zeigt als Beispiel einen Text über den Ansaugtakt aus einem Fachbuch für Kraftfahrzeugtechnik. <?page no="106"?> Udo Ohm 100 Während der Kolben sich nach UT bewegt (Abb. 2, S. 160), erfolgt eine Volumenvergrößerung und dadurch ein Abfall des Drucks p abs auf 0,8 bis 0,9 bar. Das hat eine Saugwirkung (Druckausgleich) im Zylinderraum zur Folge. Durch das geöffnete Einlassventil strömt das Kraftstoff-Luft- Gemisch in den Zylinder. (aus Gerigk et al. 2005, 159) (Abb. 3) Dieser Text zeichnet sich durch eine nicht untypische Häufung von schwierigen sprachlichen Strukturen aus (u.a. fachsprachliche Komposita; Abkürzungen; komplexe Satzkonstruktionen; sprachliche Mittel, die logische Verknüpfungen signalisieren; Verweis auf Abbildung). Der Text ist aber vor allem deshalb schwierig, weil er mehrere Einzelinformationen enthält, die vom Leser miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Zwar kann auf der Ebene der Druckkonventionen (Fettdruck der Schlüsselwörter) leicht erkannt werden, dass es im Text um Volumenvergrößerung und Saugwirkung im Zylinderraum geht, diese Einzelinformationen reichen für sich genommen aber nicht aus, um den beschriebenen Prozess (Ansaugtakt) zu rekonstruieren. Vielmehr muss der Leser verstehen, wie der Vorgang der Volumenvergrößerung abläuft und wodurch die Saugwirkung entsteht. Der Vorgang der Volumenvergrößerung wird im ersten Satz mit Bezug auf eine Abbildung beschrieben. Die Abbildung allein kann aber nicht den Vorgang erklären. Dazu bedarf es einer Vorgangsbeschreibung. Diese liefert der erste Satz. Von zentraler Bedeutung ist dabei die temporale Subjunktion während. Sie signalisiert die Gleichzeitigkeit des Geschehens im Hauptsatz („erfolgt eine Volumenvergrößerung …“) und im Nebensatz („Während der Kolben sich nach UT bewegt“). Ein Leser, der dieses Signal erkennt, kann mit Hilfe der Abbildung rekonstruieren, dass eine Kolbenbewegung nach unten gleichzeitig eine Volumenvergrößerung bewirkt. Im zweiten Schritt muss der Leser den Zusammenhang zwischen Volumenvergrößerung und Saugwirkung rekonstruieren. Dieser Zusammenhang wird sprachlich durch den Gebrauch des Konjunktionaladverbs dadurch sowie des Demonstrativpronomens das in Verbindung mit dem Funktionsverbgefüge zur Folge haben hergestellt. Das Konjunktionaladverb verweist nicht nur auf den Vorgang <?page no="107"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 101 der Volumenvergrößerung, sondern signalisiert zugleich dessen instrumentale Bedeutung für den Druckabfall (vgl. Eisenberg 1999, 328). Der Druckabfall wird demnach durch die Volumenvergrößerung hervorgerufen. Das Demonstrativpronomen bezieht sich zusammenfassend auf den im ersten Satz beschriebenen Vorgang (Druckabfall aufgrund der mit der Kolbenbewegung nach unten einhergehenden Volumenvergrößerung) und stellt die im zweiten Satz genannte Saugwirkung als dessen Folge dar. Eine zusätzliche Verstehenshilfe bietet der Text durch den Hinweis in der Klammer: Die Saugwirkung steht im Zusammenhang mit einem Druckausgleich. Es ist klar, dass selbst sprachlich kompetente Lernende Informationen, Sachverhaltsdarstellungen und Prozessbeschreibungen aus solchen fachlich anspruchsvollen und sprachlich komplexen Texten nicht beiläufig entnehmen können. Die Arbeit mit Fachtexten erfordert in vielen Fällen eine aufwändige Rekonstruktion von Sachverhalten und Prozessen durch das Anordnen, Gegenüberstellen, Hierarchisieren und Verknüpfen von Einzelinformation. Diese kognitiven Operationen werden bei einem guten Leser in der Regel problemlos durch textverknüpfende sprachliche Mittel in Gang gesetzt. Schwache Leser haben nicht nur mit Bedeutung und Funktion dieser sprachlichen Mittel Probleme. Weil es sich nicht selten um kurze oder zumindest unauffällige Einzelwörter handelt (vgl. das Demonstrativpronomen das und das Konjunktionaladverb dadurch im Beispieltext), nehmen sie sie häufig noch nicht einmal wahr. Das heißt aber, dass sie nicht zu den kognitiven Operationen in der Lage sind, die für die Rekonstruktion der in Fachtexten dargestellten Sachverhalte und Prozesse benötigt werden. Hier zeigt sich deutlich, dass fachliches Lernen nicht von sprachlichem Lernen getrennt werden kann. Für die Rekonstruktion fachlicher Inhalte sind die entsprechenden sprachlich-kognitiven Operationen konstitutiv. In Bezug auf den Fachunterricht bedeutet das, dass die für das fachliche Lernen relevanten sprachlichen Mittel gelernt werden müssen, wenn die Lernenden fachlich handlungsfähig werden sollen. Handlungsfähig sein heißt im vorliegenden Fall, in der Lage sein, die eigene Aufmerksamkeit willentlich auf die sprachlichen Mittel zu lenken, die es einem gestatten, in sich selbst die kognitiven Operationen auszulösen, die für die Rekonstruktion der dargestellten Prozesse benötigt werden. Auf das Schema der Vermittlung aus Abb. 1 abgebildet, ergibt sich in etwa Abb. 4. <?page no="108"?> Udo Ohm 102 (Abb. 4) In Ohm et al. (2007) wird exemplarisch gezeigt, wie im Fachunterricht sog. logische Verknüpfungen und Pro-Formen eingeführt, geübt und systematisiert werden können (S. 52-55, 63-69, 174-179). Entscheidend ist, dass die sprachlichen Mittel dann zum Gegenstand des Fachunterrichts gemacht werden, wenn sie benötigt werden, d.h. bei der Arbeit mit Fachtexten. Um für textverknüpfende sprachliche Mittel zu sensibilisieren, kann man sie in Fachtexten unterstreichen lassen und ihre Bedeutung und Funktion anschließend im Plenum besprechen (mit Overhead-Projektor arbeiten). Dies kann der Ausgangspunkt für eine Systematisierung sprachlicher Mittel sein, die aber möglichst immer mit den Lernenden gemeinsam vorgenommen werden sollte. Dass Lernende zu selbst erarbeiteten Übersichten einen besseren Zugang haben als zu vorgefertigten Systematisierungen, deckt sich mit dem oben eingeführten Begriff des Lernens als Internalisierung. Die gemeinsame Erarbeitung und Systematisierung von Wissen über Bedeutung und Funktion sprachlicher Mittel in der Auseinandersetzung mit konkreten Fachtexten liefert den einzelnen Lernenden Ansatzpunkte und Modelle für die selbstständige Arbeit mit Fachtexten. Vorgefertigte Übersichten hingegen sind selbst wiederum komplexe Texte, die die Lernenden sich nachträglich erschließen müssen. 7 Zusammenfassung Mangelnde Kompetenz in der Zweitsprache schränkt die Handlungsfähigkeit der betroffenen Lernenden ein. Zum einen können die Lernenden je nach Aufgabenstellung ihr eigenes Verhalten in der Zweitsprache nur eingeschränkt steuern, zum anderen sind sie nicht oder nur eingeschränkt in der Lage, ihr eigenes Handeln mit dem anderer zu koordinieren. Es ist daher dringend anzuraten, diejenigen sprachlichen Mittel, Sprachhandlungen und Textsorten, die zur Bewältigung fachlicher und beruflicher Anforderungen benötigt werden, in allen Fächern zum Gegenstand sprachlicher Förderung zu machen. Zweitsprachenförderung sollte sich dabei nicht auf die Vermitt- <?page no="109"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 103 lung von Sprachkenntnissen im engeren Sinne beschränken. Vielmehr sollten sprachliche Mittel anhand der jeweils zu bearbeitenden Fachtexte und in enger Verbindung mit dem fachlich notwendigen Textsortenwissen vermittelt werden. Darüber hinaus sollte sich die Vermittlung von sprachlichem Wissen systematisch am fachlich relevanten sprachlichen Handeln orientieren. Über alle Fächer und Berufsfelder hinweg lässt sich ein Kernrepertoire an Sprachhandlungen (z.B.: Benennen, Beschreiben, Erklären) identifizieren, das sich entsprechend den fachbzw. berufsspezifischen Anforderungen ausdifferenziert. Die Ausführung dieser sprachlichen Handlungen führt dabei je nach Anwendungssituation zur Produktion unterschiedlicher Textsorten (z.B. unterschiedlicher Arten von Beschreibungen, Erklärungen), die aber trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsame typische Strukturelemente aufweisen. Die frühzeitige und vor allem systematische Vermittlung und Anwendung von Textsortenwissen in Verbindung mit der Einübung der zugrunde liegenden Sprachhandlungen in allen Fächern ist daher anzustreben. Bildungssprachliche Kompetenz kann nur erworben werden, wenn die Lernenden im Unterricht mit dem entsprechenden sprachlichen Repertoire konfrontiert werden. Eine wohlmeinende Vereinfachung der Unterrichtssprache und die ausschließliche Arbeit mit didaktisierten Materialien sind daher in vielen Fällen kontraproduktiv. Vielmehr sollten Lernende in der Schule und in der Berufsausbildung Erfahrungen mit der für ihre schulische und berufliche Laufbahn relevanten Bildungssprache machen. Im Sinne des Scaffolding sollte die didaktisch-methodische Planung die Lernerfahrungen strukturieren, die Lernenden beim Bewältigen konkreter Aufgaben unterstützen und so die Voraussetzungen für eine Internalisierung von Wissen über die Ausführung von Sprachhandlungen sowie über Struktur und Funktion von Textsorten und der für sie typischen sprachlichen Mittel schaffen. Literatur Artelt, Cordula/ Demmrich, Anke/ Baumert, Jürgen (2001): Selbstreguliertes Lernen. In: Deutsches PISA-Konsortium 2001 (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 271-298. Cummins, Jim (1979): Cognitive/ academic language proficiency, linguistic interdependence, the optimum age question and some other matters. In: Working Papers on Bilingualism 19, 121-129. Cummins, Jim (2000): Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon [u.a.]: Multilingual Matters. Diehl, Erika/ Christen, Helen/ Leuenberger, Sandra/ Pelvat, Isabelle/ Studer, Thérèse (2000): Grammatikunterricht: Alles für die Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer. <?page no="110"?> Udo Ohm 104 Eisenberg, Peter (1999): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart; Weimar: Metzler. Feilke, Helmuth (2003): Beschreiben und Beschreibungen. In: Praxis Deutsch 30, 182, 6-14. Fix, Martin (2008): Texte schreiben. Schreibprozesse im Deutschunterricht. 2. Aufl., Paderborn: Schöningh. Gerigk, Peter et al. (2005): Kraftfahrzeugtechnik. Braunschweig: Westermann. Gibbons, Pauline (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in der Zweitsprache. In: Mecheril, P./ Quehl, T. (Hrsg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster [u.a.]: Waxmann, 269-290. La Mura Flores, Tatiana (2007): „Jetzt habe ich das verstanden“. Innerbetriebliche Weiterbildung Deutsch am Arbeitsplatz in einem norddeutschen Produktionsbetrieb. Koordinierungsstelle Deutsch am Arbeitsplatz, passage GmbH, Migration und Internationale Zusammenarbeit, Hamburg. Lantolf, James P./ Thorne, Steven L. (2006): Sociocultural Theory and the Genesis of Second Language Development. Oxford: Oxford University Press. Martin, J. R. (1999): Mentoring Semogenesis: ‘Genre-based’ Literacy Pedagogy. In: Christie, F. (Hrsg.): Pedagogy and the Shaping of Consciousness: Linguistic and Social Processes. London: Continuum, 123- 155. Ohm, Udo (2009): Fachliche Schwierigkeiten sind sprachliche Schwierigkeiten. Müssen Fachlehrer und Ausbilder auch Sprachlehrer sein? In: daf integriert: literatur : medien : ausbildung. Beiträge der 36. Jahrestagung DaF 2008 (= Materialien Deutsch als Fremdsprache, 80), (im Druck). Ohm, Udo/ Kuhn, Christina/ Funk, Hermann (2007): Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken - mit Fachsprache arbeiten. Münster [u.a.]: Waxmann. Online-Module zur Veröffentlichung unter http: / / www.sprachtraining-beruf.de (Zugriffsdatum: 28.02.2009). Ossner, Jakob (2005): Begriff und Beschreibung - zwei Seiten einer Medaille. In: Fix, M./ Jost, R. (Hrsg.): Sachtexte im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 120-132. Rehbein, Jochen (1984): Beschreiben, Berichten und Erzählen. In: Ehlich, K. (Hrsg.). Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr, 67-124. Schleppegrell, Mary J. (2004): The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. Mahwah; London: Lawrence Erlbaum Associates. Schaffner, Ellen/ Schiefele, Ulrich/ Drechsel, Barbara/ Artelt, Cordula (2004): Lesekompetenz. In: PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann, 93-110. Stanat, Petra/ Schneider, Wolfgang (2004): Schwache Leser unter 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in Deutschland: Beschreibung einer Risikogruppe. In: Schiefele, U./ Artelt, C./ Schneider, W./ Stanat, P. (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende <?page no="111"?> Von der Objektsteuerung zur Selbststeuerung 105 Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 243-273. Vygotskij, Lev S. (1992): Geschichte der höheren psychischen Funktionen. Münster; Hamburg: Lit (russ.: Istorija razvitija vysšich psichi eskich funkcii, 1960). <?page no="113"?> Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache 1 Einleitung Die folgenden Überlegungen stehen im Kontext der Bemühungen des Europarats, einen Rahmen zur Beschreibung von Schulsprache(n) zu entwickeln und diesen langfristig mit dem bereits existierenden Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER, Europarat 2001) zu verknüpfen. 1 Dadurch könnten auch für die Schulsprache entsprechende Kompetenzen beschrieben und kriteriengeleitet erfasst werden. Ein solches Beschreibungssystem, das bildungssystem- und sprach(en)übergreifend operiert, würde unterschiedlichen Zwecken dienen und unterschiedliche Funktionen erfüllen, die alle im Einklang mit den leitenden Prinzipien des Europarats sowohl zur Förderung sprachlicher Bildung und Erziehung als auch zur Sicherung demokratischer Bürgerrechte, sozialer Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts (social cohesion) stehen. 2 Den Lehrkräften, den Schulen und den Bildungssystemen könnte so ein Instrument zur Verfügung gestellt werden, mit dem u.a. • die sprachlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht in den einzelnen Schulfächern benannt werden können, • sprachliches Lernen und Lehren über die Grenzen der Fächer hinweg koordiniert und damit im Interesse der Lernenden optimiert werden kann (= whole-school language learning/ teaching policy), • Risikoschüler 3 ermittelt und sprachlich gezielt gefördert werden können, so dass ihre Chancen auf einen qualifizierten Schulabschluss verbessert werden, • die pädagogische Praxis für diejenigen Schüler systematisch weiterentwickelt wird, die eine Zweit- oder Fremdsprache als Arbeitssprache im Fachunterricht (CLIL) benutzen, 1 Wir danken Christof Arnold, Marcus Hammann, Udo Ohm und Sabine Schmölzer- Eibinger für ihre kritischen Kommentare. 2 Vgl. dazu Abschnitt 7 der “Warsaw Declaration - Council of Europe Heads of State and Government Summit 2005” (Council of Europe 2005). 3 Der Europarat spricht in diesem Zusammenhang von vulnerable learners und meint damit sowohl die Schüler aus bildungsfernen Familien sowie solche mit Migrationshintergrund. Die maskuline Form wird hier generisch verwendet und schließt alle femininen Formen mit ein. <?page no="114"?> 108 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann • Lehrkräfte in ihrer Professionalität gestärkt werden können, damit sie die spezifischen sprachlichen Unterstützungsbedarfe von Lernenden erkennen und darauf die Gestaltung ihres Unterrichts sowie die Gestaltung des Schullebens insgesamt abstimmen können, • die Wirksamkeit von eingesetzten (förder-)pädagogischen Maßnahmen und Ressourcen evaluiert und optimiert werden kann. In dem Projekt des Europarats geht es insbesondere um eine engere Verknüpfung allen Sprachenlernens in der Schule, ausgehend vom Erlernen der dominanten Schulsprache („Muttersprachenunterricht“ für die meisten, Zweit- oder Drittsprachenunterricht für viele andere Schüler) über die explizite Einbeziehung der Sprachlichkeit des Fachlernens bis hin zu den verschiedenen Fremdsprachen und der schulischen Förderung bzw. Anerkennung von Minderheitensprachen einschließlich der Herkunftssprachen von Migranten. Auch sollen langfristig die verschiedenen Ansätze und Formen des bilingualen Unterrichts (CLIL) einbezogen werden (Martyniuk 2007). In diesem Beitrag geht es weniger um Sprache als Fach und auch nicht so sehr um den Aspekt der Mehrsprachigkeit von schulischen Bildungsangeboten, sondern vorrangig um Sprache im Fach, also um die spezifischen sprachlichen wie kommunikativen Anforderungen und Gebrauchsmuster, die für den institutionellen Bildungsraum Schule und insbesondere für fachunterrichtliche Zusammenhänge typisch sind, also um Sprache im Kontext des Lehrens und Lernens von Sachfächern wie Physik oder Musik. Diese stellen sowohl für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache als auch für Deutsch als Fremdsprache - z.B. im Deutschsprachigen Fachunterricht (DFU) im Auslandschulwesen - eine besondere Herausforderung dar. 2 Zur Charakterisierung von Schulsprache Mit „Schulsprache“ und „schulsprachlichen Kompetenzen“ sind sowohl diejenigen Sprachfähigkeiten, die innerhalb der dominanten Sprache einer Schule im Rahmen eines eigenen Unterrichtsfaches vermittelt werden, als auch das für den Fachunterricht typische Sprachregister gemeint. Zwischen beiden gibt es Berührungspunkte und Überschneidungen, denn im fortgeschrittenen Deutschunterricht als Muttersprachenbzw. Zweitsprachenunterricht gibt es natürlich ebensolche anspruchsvollen und ausdifferenzierten kommunikativen Bedürfnisse und Anforderungen wie im nicht-sprachlichen Fachunterricht. 4 4 „ Schulsprache“ lehnt sich begrifflich an den eindrucksvollen Problemaufriss von Schleppegrell (2004) an, die von language of schooling spricht. Im deutschen Kontext, insbesondere im Rahmen des BLK-Programms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) wird in diesem Zusammenhang häufig von „Bildungssprache“ gesprochen (z.B. Gogolin 2006). <?page no="115"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 109 Die Gebrauchsmuster von Schulsprache werden oft in Anlehnung an die Terminologie von Jim Cummins (1979, 2000) als unterrichtliche Variante eines akademischen Sprachgebrauchs (cognitive academic language proficiency, CALP) bezeichnet. Im Gegensatz zur Alltagskommunikation (nach Cummins: basic interpersonal communication skills, BICS), in der Themen weniger komplex und nicht so spezifisch ausgeführt werden, kann Schulsprache als spezifisches Register aufgefasst werden, das sich generell durch Adjektive wie prägnant, präzise, vollständig, komplex, strukturiert, objektiv, distant, emotionsfrei, eindeutig, situationsungebunden und dekontextualisiert charakterisieren lässt. Wir haben es hier mit einem Register zu tun, das unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen kann, wobei die konkrete Wahl sprachlicher Mittel (Wörter, Redemittel, morpho-syntaktische Strukturen etc.) auf der Grundlage von tiefgehenden Verstehensprozessen und klaren Rede- / Schreibabsichten von spezifischen kommunikativen Strategien und Diskursstrukturen bestimmt wird. Das schulsprachliche Register ist Grundlage jeglichen unterrichtlichen Lehrens und Lernens. Es setzt die Fähigkeit, sich in Alltagssituationen verständigen, also lesend und hörend verstehen sowie Texte mündlich und schriftlich produzieren zu können, im Sinne funktionaler Grundbildung (literacy) voraus, geht jedoch in seiner Spezifik weit darüber hinaus, was man u.a. daran erkennen kann, dass sich die Produktion mündlicher Äußerungen den Gebrauchsmustern der Schriftsprache (conceptual literacy) annähert. Schulsprache verlangt den Lernenden sorgfältig ausgeführte Prozesse des Planens und Überprüfens eigenen Kommunikationsverhaltens ab sowie die Nutzung von Feedback für Optimierungsprozesse und die Weiterentwicklung der eigenen schulsprachlichen Kompetenzen. In gewisser Weise kann man Schulsprache auch als „Geheimsprache“ der Bildungs- und Lebenschancen zuteilenden Institution Schule bzw. als ihr eigentliches, aber geheimes Curriculum sehen, das bislang kaum transparent und eindeutig kodifiziert ist und an dem sich viele Lernende mächtig reiben oder gar scheitern. Man kann davon ausgehen, dass mit dem jeweiligen Schulsprachenunterricht eine gewisse Grundlage für alles weitere Sprachenlernen, eben auch in den sog. Sachfächern, geschaffen wird. Durch die Qualität und Ausprägung dieses schulsprachlichen Unterrichts (also des Deutschunterrichts in Deutschland, des Rumänischunterrichts in Rumänien usw.) werden die Perspektiven und die Basisfähigkeiten zum Erwerb und Gebrauch weiterer Sprachen (L2, L3 usw.) ebenso stark bestimmt wie die Bereitschaft und die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, die eigenen Sprachkompetenzen zu erweitern, um im schulischen Kontext erfolgreich handlungsfähig zu werden. Da dieser „Schulsprachenunterricht“ jedoch für einen erheblichen Teil der Schülerschaft in einer Zweit- oder Drittsprache erfolgt, entstehen auf der sprachlich-kognitiven Ebene gravierende Lern- und Vermittlungsprobleme, die besonderer Beachtung und eigener Analyse bedürfen, um diese Lern- <?page no="116"?> 110 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann gruppen angemessen sprachlich zu fördern, so dass sie vergleichbar den Mehrheitskindern Schule erfolgreich meistern und sich in Richtung auf eine funktionale Mehrsprachigkeit entwickeln können. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass Fähigkeiten, das schulsprachliche Register kompetent zu nutzen, von Risikogruppen deutlich langsamer erworben werden als die sprachlichen Fähigkeiten für Kommunikation/ Interaktion im Alltag (=BICS). Cummins (2006, 40) referiert empirische Studien mit bilingualen Schülern in den USA, deren Ergebnisse besagen, dass es erst in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren bilingualen Schülern gelingt, in schulsprachlicher Hinsicht (= academic proficiency) zu ihren muttersprachlichen Altersgenossen aufzuschließen. Die dominant mündlichen alltagssprachlichen Fähigkeiten (conversational proficiency) werden viel schneller erworben (bis zu zwei Jahren). Gründe für diese lange Latenzzeit mögen auch darin zu sehen sein, dass es Schule ohne ein geeignetes Beschreibungssystem nicht ausreichend gelingt, schulsprachliche Fähigkeiten gezielt zu fördern. Nicht nur für Migrantenkinder sind Defizite in der Beherrschung des fachunterrichtlichen Registers festzustellen. Betroffen sind davon ebenso deutschsprachige Kinder aus anregungsarmen, deprivierten Familien. Das Projekt des Europarats wird sich um diese sogenannten vulnerable groups besonders kümmern und Möglichkeiten präzisieren, wie diese in umfassender Weise sprachlich gefördert werden können, damit sie Bildungsgänge erfolgreich abschließen und ihre Bürgerrechte ohne wesentliche Einschränkungen wahrnehmen können. Es geht dabei um nichts weniger als um den Aufbau einer gelingenden Literalität oder Diskursfähigkeit, die fachbasiert, textbezogen und selbst-reflexiv ist und die in den verschiedenen Abschnitten institutionalisierten Lernens von der Grundschule bis zum Abschluss der Sekundarstufen systematisch unterrichtlich unterstützt werden muss. Im Folgenden werden wir den Begriff „Schulsprache“ im Wesentlichen in seiner engeren Auslegung verwenden, nämlich als Ausdruck jener sprachlichen bzw. kommunikativen Anforderungen in fachlichen Lernkontexten, hinter denen sich komplexe Herausforderungen in der Verwendung von Sprache als kognitivem Werkzeug verbergen. 3 Sprachliche Anforderungen im Fachunterricht Was die Sprachlichkeit des Fachlernens in allen nichtsprachlichen Fächern anbelangt, so gibt es im Rahmen des internationalen Schulsprachenprojekts des Europarats einen eigenen Bereich unter der Bezeichnung „Language in Other Subjects“ oder „Language Across the Curriculum“ (Vollmer 2006a, 2007a). Dazu hat es verschiedene länderübergreifende Vergleichsstudien für die Fächer Mathematik und Geschichte bzw. für den Lernbereich „Naturwissenschaften“ gegeben (vgl. Ongstad 2007; Beacco 2007; Vollmer 2007b; Council of Europe 2009). In diesen Kontext kann auch die Arbeit einer Gruppe deutscher Kollegen mit fachlich unterschiedlichen Anbindungen <?page no="117"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 111 eingeordnet werden, die neuere Curricula für die Fächer Biologie, Geschichte und Mathematik in fünf deutschen Bundesländern (Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen) systematisch mit dem Ziel analysiert hat, explizit oder auch implizit verankerte Konzepte eines fachbasierten Sprachenlernens zu ermitteln. Die Arbeit dieser Gruppe konnte dazu auf erste empirische Befunde von Eike Thürmann (2007) zurückgreifen, der vorab Entwurfsfassungen der nordrhein-westfälischen Kernlehrpläne für die Grundschule untersucht und zugleich einschlägige Analyseinstrumente erprobt hat. In den neuen Fachcurricula, die nach den curricularen Formaten der Bildungsstandards (KMK 2004) abgefasst sind, lassen sich sprachlich-kommunikative Anforderungen im Rahmen des Fachlernens zumeist an den Operatoren (überwiegend Sprachhandlungsverben) ablesen, die die Verbindung zu bestimmten Inhalten oder kognitiven Prozessen herstellen (z.B. ein Experiment beschreiben, eine Hypothese begründen, Befragungsergebnisse vergleichen, einen Befund bewerten). Wie diese fachunterrichtlichen sprachlichen Leistungen anzubahnen sind und wie sie mit einander systematisch zusammenhängen, darüber sagen die Curricula in der Regel nichts aus. Interessant und wichtig ist die Frage, ob sich solche Sprachhandlungen auf einzelne Unterrichtsfächer beschränken, oder ob die sprachlichen Anforderungen über mehrere Fächer hinweg vergleichbar sind, ob man sogar einen gemeinsamen Kern an Sprach- und Kommunikationskompetenzen identifizieren kann. Ein solcher gemeinsamer Kern von Fach zu Fach und Sprache zu Sprache transferierbarer Kompetenzen wäre zugleich das Programm für gezielte sprachliche Diagnose- und Fördermaßnahmen. In der schulischen Praxis ergeben sich Probleme dadurch, dass die Aufmerksamkeit der Lehrenden in den konkreten und situativ eingebetteten fachlichen Lerngelegenheiten stärker auf Bedeutung und Inhalt der Aussage gerichtet ist als auf ihre angemessene sprachliche Kodierung. So erhalten die Lernenden wenig steuernde Rückmeldung zur Angemessenheit ihres aktiven Sprachgebrauchs - und wenn, dann meist in diffuser, oft metaphorischer Weise. Many teachers are unprepared to make the linguistic expectations of schooling explicit to students. Schools need to be able to raise students´ consciousness about the power of different linguistic choices in construing different kinds of meanings and realizing different social contexts. (Schleppegrell 2004, 3) Die Institution Schule bemisst jedoch die Anschlussfähigkeit der Lernergebnisse und das Lernpotenzial der einzelnen Schüler - wenn auch selten explizit - an der Kompetenz der Lernenden, das eigene Sprachverhalten an die für den Bildungsraum Schule üblichen Konventionen anzupassen und sich der fachunterrichtlich vorherrschenden Gebrauchsmustern zu bedienen. Sprache und Sprachverhalten sind ganz ohne Zweifel das geheime und entscheidende schulische Curriculum. <?page no="118"?> 112 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Die vorläufigen Ergebnisse der nationalen Fallstudien, die vom Europarat im Rahmen seines Schulsprachenprojekts beauftragt wurden, und insbesondere die Studien der deutschen Gruppe (Vollmer/ Thürmann/ Arnold/ Hammann/ Ohm 2008) zeigen einerseits, dass die Fächer eigene historisch gewachsene bzw. funktional begründete Diskurskulturen entwickelt haben, die auch international zwischen Bildungssystemen in hohem Maße kompatibel sind, vor allem wenn man Fächer zu Lernbereichen oder „Domänen“ bündelt (z.B. Biologie, Chemie, Physik zu Naturwissenschaften- science education). Andererseits können jedoch bezüglich der sprachlichen Anforderungen für den (Sach-) Fachunterricht auch großflächig Überschneidungen zwischen den Fächern und Lernbereichen nachgewiesen werden. Die fachliche Spezifik ist sprachlich vorrangig (a) auf der lexikalischen bzw. begrifflichen Ebene zu sehen sowie (b) in der unterschiedlichen Gewichtung von Arbeitsformen, Methoden, Medien, Textsorten/ Genres und semiotischen Systemen (z.B. Formelsprache in der Mathematik und in den Naturwissenschaften). Darüber hinaus ist sie natürlich von bestimmten Denkformen und in Zugangsweisen zum jeweiligen Lern- und Untersuchungsgegenstand geprägt (z.B. naturwissenschaftlich-empirische versus hermeneutisch-interpretative Heuristik, vgl. auch die sog. unterschiedlichen Modi der Weltwahrnehmung und der Weltbegegnung, Baumert 2002). Dennoch sind die kommunikativen Formen des fachunterrichtlichen Erwerbs von Fähigkeiten und Kenntnissen und der Verständigung darüber weitgehend fachübergreifend vergleichbar. 4 Modell zur Beschreibung von Schulsprache im Fachunterricht Im Folgenden wird ein Modell zur Beschreibung von Schulsprache im Fachunterricht vorgestellt, das sich aus unseren Curriculumanalysen sowie aus weiterführenden theoretischen Überlegungen ergeben hat. Es skizziert vier Dimensionen, die eng mit einander verbunden sind. <?page no="119"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 113 Dimension 1: Felder sprachlichen Handelns im Fachunterricht Fähigkeit, sich an unterrichtlicher Interaktion/ Kommunikation zu beteiligen Fähigkeit, Informationen zu beschaffen, zu erschließen und zu verarbeiten Fähigkeit, eigenes Wissen zu strukturieren, anzupassen und zu erweitern Fähigkeit, Arbeitsergebnisse + Methoden d. Gewinnung zu präsentieren und zu diskutieren Fähigkeit, Ergebnisse und Vorgehensweisen kritisch zu reflektieren + optimieren Dimension 4: Textkompetenz - Diskursfähigkeit Diskursstrategien wie z.B. Fokussieren, Elaborieren, Hypothesen Bilden, „Grounding“, Leserführung, Positionieren Textualitätskriterien wie z.B.: Register, Textstruktur, Themenentfaltung, Kohäsion, Kohärenz Sprachliche Mittel: Aussprache, Schreibung, Wortschatz, Grammatik, Pragmatik/ Diskursmarkierung Kommunikative Aktivitäten: Hörverstehen, Leseverstehen, zusammenhängend Sprechen, an Gesprächen Teilnehmen, Schreiben, Sprachmitteln Abb. 1: Modell zur Beschreibung von Schulsprache im Fachunterricht Dieses Modell soll im Weiteren erläutert und auf Probleme des Fachunterrichts in Deutsch als Zweitsprache bezogen werden. 4.1 Dimension 1: Felder sprachlichen Handelns im Fachunterricht Die für den Bildungsraum Schule typische Ebene des fachunterrichtlichen Sprachhandelns ist auf den akzelerierten Erwerb von (Er-)Kenntnissen, Fähigkeiten und Dispositionen bezogen. Für die Schüler geht es also u.a. da- Dimension 3: Fachunterrichtliche Materialien, Textsorten, Genres, Zeichensysteme, Diskursfunktionen Dimension 2: Kognitivsprachliche Aktivitäten / Diskursfunktionen Unterrichtliche Lernaufgaben <?page no="120"?> 114 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann rum, dem fachlichen Diskurs im Unterricht folgen, die vorgesehenen Medien, Arbeitsmittel und Methoden nutzen, kognitive Prozesse zu Aufbau, Re- Strukturierung und Ausdifferenzierung von Wissen durchführen, Arbeitsergebnisse kommunizieren und präsentieren sowie das eigene Vorgehen auch unter Berücksichtigung der Zusammenarbeit mit anderen reflektieren zu können. Auf der Grundlage unserer Daten und weiterer Unterrichtsbeobachtungen lassen sich - zumindest idealtypisch - aus Sicht der Lernenden fünf Felder unterrichtlichen Sprachhandelns konstruieren, die sich durch jeweils unterschiedliche kognitive wie kommunikative Anforderungen auszeichnen. Im Handlungsfeld 1 geht es darum, dass sich die Schüler rezeptiv und produktiv an den unterrichtlichen Interaktionen sowohl in fachlich-sachlicher als auch in sozial angemessener Weise beteiligen können. In diesem Feld werden Prozesse des Lehrens und Lernens zwischen Lehrkraft und Schülern sowie zwischen den Schülern in der Gesamtgruppe wie in Kleingruppen ausgehandelt. Hier geht es z.B. um Arbeitsanweisungen und -empfehlungen, Hinweise, Einhilfen und Korrekturen, Bitten um Hilfe und Unterstützung, Klärungs- und Planungsprozesse, Konstituierung von Bedeutungen - meist in der Form von kurzgetakteten IRF-Zyklen (Initiate- Response-Feedback). Auch im Fachunterricht dominieren phasenweise alltagskommunikative Ausdruckweisen (BICS), jedoch treten daneben auch Diskursverläufe auf, die Lehrkräfen und Schülern einen akademischformalen Sprachgebrauch (CALP) abverlangen. Dieses Handlungsfeld ist dominant von mündlichem Sprachverhalten geprägt. Jedoch sind auch schriftliche bzw. schriftsprachliche Teilkompetenzen zu veranschlagen, wenn es um die Orientierung für unterrichtliches Lernen geht (z.B. schriftlich vorgegebene Aufgaben verstehen, Verstehen des Tafelanschriebs, Notizen zum Unterrichtsverlauf machen, Lernhilfen im Schulbuch verstehen). Im Handlungsfeld 2 geht es darum, dass sich die Schüler auf unterschiedlichen Wegen die von der jeweiligen Aufgabenstellung geforderten fachlich relevanten Informationen beschaffen und erschließen. Dabei treten sie über das gesamte Kontinuum des Informations- und Wissenserwerbs mit fachunterrichtlich üblichen Genres in Kontakt. Es geht z.B. in den sozialwissenschaftlichen Fächern um Recherchen, Erhebungen und Befragungen, im naturwissenschaftlichen Unterricht darum, Experimenten zu folgen oder diese selbst zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Zu diesem Handlungsfeld gehören auch die Fähigkeiten, Lehrwerktexte und Lehr- und Lernmaterialien zu nutzen und authentischen Sach- und Gebrauchstexten für die Aufgabenbewältigung relevante Informationen zu entnehmen. Im Handlungsfeld 3 geht es darum, dass die Schüler vorhandenes Wissen (deklarativ wie prozedural) aktivieren, in Bezug zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen setzen, Vergleiche und Wertungen vornehmen und Wissensbestände erweitern und umstrukturieren. Die Schüler setzen durch <?page no="121"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 115 Aufgaben des Fachunterrichts angeleitet und durch eigene Beschaffung aufgenommene Informationen in Bezug zu vorhandenem Wissen, sie überprüfen, erweitern, verfeinern vorhandene Konzepte und Schemata, bauen neue auf und entwickeln angemessene Fragehaltungen bzw. Problemlösungen. Im Handlungsfeld 4 geht es darum, dass die Schüler Arbeitsergebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen, eigene Positionen kohärent und fachlich angemessen darstellen oder anderen präsentieren und gegebenenfalls erklären können. Aufgabenstellungen können Schüler zu bestimmten Präsentationsformen oder zur Produktion bestimmter Textsorten explizit auffordern („Bereite dich auf eine computerunterstützte Präsentation vor, mit der du die Mitwirkungsrechte der Schüler einer neuen fünften Klasse adressatengerecht erläuterst“) oder durch Operatoren näher bestimmen. Schließlich gehört in dieses Feld die Bewältigung sämtlicher formaler punktueller Lernerfolgsüberprüfungen im Unterricht, in Klassenarbeiten, Klausuren und Abschlussprüfungen. Im Handlungsfeld 5 geht es darum, dass die Schüler allein oder in der Zusammenarbeit mit Mitschülern und/ oder in der Kommunikation mit Lehrkräften Lernwege und Lernergebnisse evaluieren, reflektieren und für die künftige Bewältigung von Aufgaben optimieren können. Sie überprüfen u.a., ob gewählte Strategien, Methoden, Verhaltensweisen zielführend und effektiv waren und wie sie gegebenenfalls zu verbessern sind. Hier wird auch über das Fach als Ganzes und die soziale Verwendung seiner Erkenntnisse nachgedacht. Diese allgemeine, obere Ebene des Modells, die „Felder sprachlichen Handelns im Fachunterricht“, ist vielleicht die wichtigste Dimension eines mehrdimensional konfigurierten Referenzrahmens für die fachbezogene Schulsprache, weil damit erwünschte sprachlich-kommunikative Verhaltensweisen möglichst ganzheitlich und komplex nach Niveaubzw. Entwicklungsstufen beschrieben werden können. 4.2 Dimension 2: Kognitiv-sprachliche Aktivitäten/ Diskursfunktionen Wie gezeigt, sind die sprachlich-kommunikativen Teilkompetenzen für die fünf Felder fachunterrichtlichen Sprachhandelns komplexer Art. Sie beziehen sich auf ein breites Spektrum unterschiedlicher sprachlich-kognitiver Operationen. Um diese Operationen lehr- und lernbar zu machen, sollte ein Referenzrahmen diese zu einer überschaubaren Zahl von funktionalen Kategorien zusammenfassen. Solche Sprach- und Denkhandlungen wie z.B. analysieren, begründen, Hypothesen bilden, beschreiben, berichten, klassifizieren, vergleichen, erklären, überzeugen sind wiederholt für den Fachunterricht, aber auch für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht bzw. für CLIL-Ansätze zusammengestellt worden (z.B. O´Malley, Chamot 1987, Snow, Met, Genesee 1989, Kidd 1996, Dalton-Puffer 2007a, Zydatiß 2005 und in diesem Band; Vollmer, 2006b, 2008, 2009 ). Eine weit akzeptierte kanonische Zusammenstellung solcher schulsprachlichen Diskursfunktionen exis- <?page no="122"?> 116 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann tiert nicht - wohl aber die Einsicht, dass man sie noch einmal in Makro-und Mikrofunktionen unterteilen sollte. Dazu Dalton-Puffer (2007b, 69): Bei näherer Betrachtung … bemerkt man auch, dass manche Funktionen an relativ klar umrissene lexikalische und syntaktische Muster gebunden sind, während andere viel gröbere und vagere Strukturmuster haben. Erstere könnte man auch als Mikrofunktionen bezeichnen, da sie typischerweise kurz sind und markante Satzmuster oder Diskursmarker mit sich bringen, wie z.B. Klassifizieren „x is a y“ oder Vergleichen „whereas, while, similar to, xer than“. Die Makrofunktionen andererseits umfassen wesentlich längere Diskursabschnitte und eine Analyse muss sich statt syntaktischer Deskriptoren rhetorischer und textlinguistischer Kategorien bedienen (…). So wäre es zum Beispiel äußerst schwierig festzumachen, durch welche spezifische lexikogrammatische Form die Funktion Überzeugen charakterisiert ist. Es geht hier also ganz wesentlich um den Zusammenhang von Sprache und Denken, um eine Fokussierung auf die kognitive Funktion von Sprachhandlungen. Pädagogisch hat die Zuordnung von Sprachmustern und Diskursfunktionen enorme Vorteile: Es lassen sich so die o. ausgeführten Felder unterrichtlichen Sprachhandelns vernetzen und lerntechnisch verdichten und damit den Lernenden Teilkompetenzen nachhaltiger verfügbar machen, u.a. weil diese die Funktionalität bestimmter Darstellungskonventionen für den Wissenserwerb nachvollziehen und in verschiedenen Fächern wieder erkennen können. Dies trifft allerdings nur unter der Voraussetzung zu, dass im fachpädagogischen Kontext einer Schule die Lehrkräfte mit identischen funktionalen Kategorien operieren und diese den Schülern auch so explizit zu Reflexion und Gebrauch anbieten, dass sie von einem Fach auf ein anderes transferiert werden können - und ebenfalls von einer Sprache auf die andere. Die in den Feldern unterrichtlichen Sprachhandelns rekurrenten sprachlich-kognitiven Muster wollen wir hier Diskursfunktionen 5 zuordnen. Mit Vollmer (2009, 178f.) werden solche Diskursfunktionen verstanden als integrative Einheit von Inhalt, Denken und Sprechen, die mit Makrostrukturen des Wissens sowie mit basalen Denkoperationen und deren Versprachlichung in elementaren Texttypen in Beziehung gesetzt werden können und in denen sich dieses Wissen und Denken sozial wie sprachlich vermittelt ausdrückt. Die folgenden sechs Makrofunktionen für den Fachunterricht sind aus den Ergebnissen der o. erwähnten Curriculumanalyse ableitet worden. Voraussetzung dafür war, dass sie relativ häufig in den Lehrplänen der drei untersuchten Fächer auftreten: 5 Oft auch verkürzt und missverständlich als reine Sprachfunktionen oder academic language functions bezeichnet. Es handelt sich aber um Kategorien des sprachlich realisierten Denkens und des Strukturierens von Wissen sowie der damit zusammenhängenden wissensbasierten Äußerungsformen. <?page no="123"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 117 • Erfassen, Benennen (engl. NAMING) • Beschreiben (engl. DESCRIBING) • Erklären (engl. EXPLAINING) • Argumentieren (engl. ARGUING) • (Be-)Werten (engl. EVALUATING) • Aushandeln (engl. NEGOTIATING). Die Curriculumanalyse lieferte weiterhin ein breites Inventar von Diskursfunktionen auf mittlerer und unterer Ebene der Abstraktion (z.B. Mikrofunktionen wie Zusammenfassen, Berichten, Strukturieren, Schlussfolgern, Vergleichen). Dieses Inventar kann hier aus Platzgründen nicht weiter vorgestellt werden (vgl. dazu aber Vollmer/ Thürmann/ Arnold/ Hammann/ Ohm 2008). 4.3 Dimension 3: Fachunterrichtliche Materialien, Textsorten, Genres, Zeichensysteme Die kognitiv-sprachlichen Operationen in den fünf fachunterrichtlichen Handlungsfeldern können sich produktiv wie rezeptiv auf die unterschiedlichsten Materialien und Dokumente beziehen, die hier generalisierend als „Texte“ bezeichnet werden. Diese Texte können verbal, aber auch non-verbal sein, sie können in schriftlicher Form abgefasst sein oder akustisch realisiert werden, sie können in einer medialen Form oder multimedial vermittelt werden. Ein Referenzrahmen sollte den Kosmos möglicher im Fachunterricht verwendeter, analytisch zu bearbeitender oder zu produzierender Texte strukturieren, eine überschaubare Anzahl von Kategorien bilden und Teilkompetenzen ausweisen. Auf der Grundlage der oben genannten Lehrplananalyse und weiterer Fachliteratur ist von uns ein umfassendes Inventar von unterrichtsüblichen Textsorten erstellt worden, das hier aus darstellungsökonomischen Gründen nicht reproduziert werden kann. Prinzipiell lassen sich Texte und Textsorten aber unter vielerlei Aspekten gruppieren, z.B. nach • dem Bezug zur Wirklichkeit, z.B. fiktionale Texte vs. nicht-fiktionale Texte (= Sach- und Gebrauchstexte), • nach Domänen der Verwendung, z.B. für die Schule didaktisiert vs. authentisch; privat vs. öffentlich; allgemein vs. spezialisiert, • nach dem Grad der Konventionalisierung, z.B. persönliche Briefe vs. Geschäftsbriefe; Erlebniserzählung vs. Unfallbericht, • nach grundlegenden Funktionen, z.B. Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion, Aufforderungsfunktion, poetische Funktion, • nach Darstellungsformen und der Art des verwendeten Zeichensystems, z.B. Körpersprache, Bilder, Bildfolgen, Zahlen/ Statistiken, Schemata, Karten, Text-Bild-Montagen, andere diskontinuierliche Texte, <?page no="124"?> 118 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann • nach medialer Realisierung, z.B. geschriebene/ gedruckte Texte, gesprochene Texte, dargestellte Texte, Text-Bild, Film, Fernsehen, Computeranimationen, Internetangebote. Diese Liste von möglichen Ordnungskriterien für Texte bzw. Textsorten, die im Unterricht „vorkommen“ können, ließe sich vermutlich noch beliebig verlängern. Der hier für den Fachunterricht unterstellte Kanon von Textsorten ist von Diskursfunktionen geprägt, wie sie unter Dimension 2 identifiziert werden. Dabei gibt es Textsorten, die von einer einzigen Diskursfunktion dominiert werden (z.B. Versuchsbeschreibung), während bei anderen in komplexer Weise strategiegeleitet mehrere Diskursfunktionen (z.B. Leserbrief: beschreiben, erklären, bewerten) kombiniert werden. Für Augst et al. (2007) besteht „Text-Sorten-Kompetenz“ vor allem darin, dass die Lernenden (a) die Konventionen der Textsorten im Sinne des „domänengebundenen Schreibens“ beherrschen und sie (b) bewusst mit „Modellen von Texthaftigkeit/ Textualität“ umgehen können. Bewusstheit für die Konventionen fachunterrichtlich relevanter Textsorten wird in aller Regel im Fachunterricht selbst hergestellt oder hat dort seinen systematischen didaktischen Ort. Bezüglich des reflektierten Umgangs mit Merkmalen, Strategien und Elementen der „Texthaftigkeit/ Textualität“ (s.u. 4.4 Textkompetenz - Diskursfähigkeit) verlässt sich der Fachunterricht darauf, dass dieser in der Schulsprache als Unterrichtsfach angebahnt wird, so dass er im Fachunterricht nicht mehr gesondert thematisiert werden muss. Dies führt jedoch dazu, dass es Schülern schwerfällt, „Textwissen“ auf die Sachfächer zu transferieren und anwendungsbezogen zu erweitern. 4.4 Textkompetenz - Diskursfähigkeit Wenn hier die Dimension 4 mit „Textkompetenz“ bezeichnet wird, dann fußt dieser Begriff nicht auf einer wissenschaftlich allseits akzeptierten Definition von „Text“, die im Übrigen nicht existiert. Vielmehr wird auf der Arbeitsebene unterstellt, dass damit eine in sich abgeschlossene und im Prinzip beschreibbare komplexe Struktur von Äußerungen gemeint ist, die aus mehreren Aussagen („Sätzen“) besteht, die miteinander inhaltlich und formal verbunden sind. Textkompetenz oder genauer mündliche wie schriftliche „Diskursfähigkeit“ wäre demnach die Fähigkeit, strategiegeleitet unter Berücksichtigung situativer Faktoren und eigener Suchbzw. Mitteilungsabsichten aus Inventaren sprachlicher Mittel begründet auszuwählen und diese sprachlichen Elemente zu Texten zu „verdichten“ bzw. bei der Rezeption von Texten aus der Verwendung spezifischer sprachlicher Mittel auf die Konstruktion spezifischer Bedeutungen und die Verwendung spezifischer Diskursstrategien unter Berücksichtigung situativer Faktoren zu schließen (vgl. dazu u.a. Schmölzer-Eibinger 2008). Daraus folgt, dass für die Model- <?page no="125"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 119 lierung eines Referenzrahmens in Dimension 4 wenigstens vier Komponenten zu berücksichtigen sind: • Diskursstrategien • Textualitätskriterien • sprachliche Mittel • kommunikative Aktivitäten/ Fertigkeitsbereiche. Mit dem Begriff der Diskursstrategien werden hier Optionen bezeichnet, eine mündliche oder schriftliche Aussage (Diskurs) als Ganzes so zu gestalten, dass die Mitteilungsabsicht/ Intention angesichts eines spezifischen situativen Kontextes erfolgreich realisiert wird. Sprachhandlungen sind in aller Regel durch das Machtgefüge und die persönlichen, sozialen und institutionellen Beziehungen zwischen den Handelnden geprägt. Mit entsprechenden Strategien sollen gegebenenfalls Unterschiede respektiert oder aber überbrückt und damit Handlungsabsichten möglichst effektiv und effizient umgesetzt werden. Der Strategiebegriff wurde vor allem für die Diskursanalyse von Gesprächen eingesetzt, vgl. z.B. die Pionierarbeiten von Goffman (1969) oder Gumperz (1982). In unserem Zusammenhang wird er auf mündliche und schrift(sprach)liche Kommunikation und die Rezeption/ Produktion von komplexen Texten erweitert. Dennoch trifft das folgende Zitat von Gumperz (1982, 34) den Kern dessen, was hier mit „Strategie“ gemeint ist: A speaker oriented approach to conversation, …, focuses directly on the strategies that govern the actor´s use of lexical, grammatical, sociolinguistic and other knowledge in the production and interpretation of messages in context. Linguistic rules and social norms, when seen from this perspective, can be regarded as constraints on message form and content which, when not observed or violated, may lead to interspeaker differences in interpretation or otherwise interfere with the quality of interaction. Für Strategien zur Umsetzung von fachlichen Aussageintentionen durch die Wahl geeigneter sprachlicher Mittel in komplexeren Texten gibt es in der Literatur keine allseits akzeptierte Typologie bzw. keinen konsensfähigen Kanon. In den diskursanalytischen Studien lassen sich jedoch Schwerpunkte von Zugängen und Forschungsinteressen ausmachen, die sich überwiegend auf kultur-, ethnie-, klassen- und gender-spezifische Besonderheiten in den Realisierungen von Strategien beziehen. Für den schulsprachlichen Referenzrahmen kommen u.E. folgende Strategien in Betracht: • Strategien der Fokussierung, des Elaborierens und der Hypothesenbildung (primär beim Textverstehen) • Strategien der Sicherstellung bzw. Überprüfung von gemeinsamem Wissen (common ground): Für die Produktion von mündlichen Äußerungen bzw. von schriftlichen Texten ist es wichtig festzustellen bzw. einzuschätzen, welche Wissensbasis mit dem Gegenüber, dem Rezipienten geteilt wird und welche nicht, bevor man sich sinnvollerweise an die Pla- <?page no="126"?> 120 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann nung des Eigenbeitrags machen kann. Erst danach kann es zur Folgestrategie einer entsprechenden Einstellung auf den Leser bzw. zu einer Leserführung kommen. • Strategien der Leserführung: Dazu gehören u.a. Strategien, virtuelle Zielgruppen anzunehmen, ihren Kenntnisstand in Bezug zu Thema/ Gegenstand zu veranschlagen und entsprechend Präsuppositionen zu kontrollieren bzw. zu vermeiden, den Grad der fachsprachlichen Ausprägung zu dosieren, performative Verben als Redeankündigung oder in kommentarischer Funktion einzusetzen. • Strategien der Positionierung des Verfassers bzw. der Adressaten: Dazu gehören u.a. Strategien der Aufwertung (z.B. Autoritäten zitieren, Kopplung mit positiven Werten, Berufung auf moralische Normen, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten), der Abwertung, der Beschwichtigung (z.B. Kompromisse anbieten, Gemeinsamkeiten verstärken, Widersprüche verschweigen) sowie der allgemeinen Einbettung in fachliche oder außerfachliche Fragestellungen und Wertesysteme. In enger Verknüpfung mit den Strategien der fachlichen Textanalyse bzw. der Texterstellung sind die Kriterien der Textualität zu sehen. Hier können wir folgende Prozesse der Entscheidungsfindung postulieren: • Wahl der angemessenen Textsorte bzw. des angemessenen Registers, • Fokussierung des zentralen Themas: Dazu gehört u.a., ein Thema geordnet einzuführen, es gegen Ähnliches abgrenzen, die Informationen klar zu benennen und dabei die angestrebte Bedeutung explizit zu kennzeichnen. • Strukturierung und Entfaltung eines Sach- und Problemzusammenhangs: Dazu gehören u.a. schrittweiser Aufbau von Informationen, des logischen Sequenzierens innerhalb von Sätzen und zwischen Sätzen (linear, dialektisch, steigernd, pointiert, logisch, systematisch; chronologisch, reihend, im Kreis; geradlinig, sprunghaft, verzweigt), das Verknüpfen, Differenzieren, Reduzieren, Elaborieren, Induzieren, Deduzieren, das Generalisieren, Abstrahieren, Exemplifizieren, Analogienbilden, das simulierte Nachdenken bzw. das Veröffentlichen innerer Monologe, das Vergleichen und Kontrastieren. • Herstellung von Textkohäsion, also Beachtung der formalen Zusammenhänge auf der Textoberfläche, hergestellt durch Konnektoren, Pro- Formen, Rekurrenz, Substitution, Deixis u.a.m. • Herstellung von Textkohärenz, also der Aufbau eines inhaltlich-logischen Gesamtzusammenhangs in der Bedeutungsstruktur und in der Textaussage. Sprachliche Mittel, mit denen Textualität erkannt bzw. hergestellt wird, lassen sich weitgehend mit den Kategorien der systemischen Linguistik darstellen. Kompetent sprachhandelnde Schüler müssen also über Repertoires von sprachlichen „Bausteinen“ verfügen, aus denen sie mehr oder <?page no="127"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 121 minder bewusst auswählen, wenn sie sich in einer bestimmten Situation zusammenhängend schriftlich oder mündlich äußern und Texte „konstruieren“ wollen. Dabei geht es um die Wahrnehmung von Optionen vornehmlich für folgende Bereiche: Aussprache: Im Prinzip wird die Verfügbarkeit des phonologischen Systems unterstellt. Optionen, die für das kompetente unterrichtliche Sprachhandeln relevant sind, betreffen in erster Linie die prosodischen Merkmale und die Ausprägung von dialektalen bzw. soziolektalen Färbungen. Es stellt sich für Schule und Unterricht die Frage, für welche Situationen von den Schülern erwartet wird, dass sie klar und deutlich artikuliert und möglichst gemäß den orthoepischen Normen der Standardsprache sprechen sollten bzw. ob die bewusste Kontrolle der Aussprache in Situationen unterrichtlichen Sprachhandelns überhaupt von Bedeutung ist. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien mit einer regionalen Variante der Standardsprache oder mit anderen Sprachen als der Schulsprache aufwachsen, phonetische Merkmale der Familiensprache auf die Schulsprache übertragen. Zu fragen ist, wie die Institution Schule diese Interferenzen bewertet und wie sich diese auf Prognosen für den weiteren Bildungsverlauf auswirken. Schreibung: Ähnlich wie für die Aussprache wird hier unterstellt, dass die Schüler mit dem Verschriftungssystem der Schulsprache(n) kompetent umgehen können. Die für schulsprachliche Kompetenz relevante Entscheidung ist darin zu sehen, ob die Schüler erkennen können, wann orthographische Korrektheit gefordert ist und wann Verstöße gegen diese Normen mit Sanktionen belegt werden (high-stake situations). Auch hier sind bei zwei- und mehrsprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen Interferenzen zu erwarten. Auch hier stellt sich die Frage, ob, in welchem Maße und für welchen Bildungsabschnitt die Institution Schule die weitgehend orthographische Korrektheit bei der Textproduktion erwartet. Grammatik: Über den interaktiven Sprachgebrauch im Alltag hinausgehend zeichnet sich die schulsprachlich kompetente Verwendung morphosyntaktischer Mittel u.a. dadurch aus, (a) dass die Lernenden über ein breiteres Spektrum von Synsemantika verfügen und diese kontrolliert und der logischen Struktur ihres Gedankengangs entsprechend einsetzen und damit auch entsprechende Verweisstrukturen aufbauen können, (b) dass sie innerhalb des Rahmens komplexer Sätze lokale, temporale und modale Beziehungen versprachlichen können, (c) dass sie innerhalb des Textrahmens mit den Tempora kontrolliert umgehen und das Zeitgefüge (Vor-, Gleich-, Nachzeitigkeit) abbilden können, und dass sie (d) dafür sensibel sind, wann sie die Modalität einer Aussage (z.B. den Grad der Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit) kennzeichnen sollten und welche Mittel dafür einzusetzen sind. Wortschatz: Ungleich Aussprache, Schreibung und Grammatik ist das mögliche lexikalische Repertoire nahezu unbegrenzt. Schule setzt im Regelfall den Wortschatz voraus, den Kinder und Jugendliche für die Bewältigung ihres <?page no="128"?> 122 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann außerschulischen Alltags (BICS) brauchen (Ausnahme: sprachliche Fördermaßnahmen für zugewanderte Schüler). Progredient im schulischen Bildungsverlauf wird der Wortschatz für die einzelnen Domänen im Fachunterricht ausgeweitet und spezialisiert. Schulsprachliche Kompetenz zeichnet sich in diesem Bereich wesentlich durch drei Faktoren aus: (a) durch die Verfügbarkeit der fachunterrichtlichen Wortschätze, (b) durch die Sensibilität für den treffenden Wortgebrauch bzw. durch die Vermeidung von Wörtern, die mit dem schulsprachlichen Register nicht kompatibel sind (Jargon, alltagssprachliche Ausdrücke), (c) durch die Fähigkeit, die Kohäsion von Texten nicht allein durch Reihung, sondern durch den expliziten Gebrauch von Konjunktionen und Satzadverbien sowie durch semantische Substitutionen (Synonyme, begriffliche Unterordnung, Überordnung etc.) herzustellen. Pragmatik/ Diskursmarkierung: Die Wahl der sprachlichen Mittel wird nicht allein über die Aktivierung und Verfügung der systemlinguistischen Elemente gesteuert, sondern auch über besondere Markierungen, deren Charakter eher als pragmatisch (oder diskursbedingt) einzustufen ist. Hierunter fallen z.B. Abtönungen oder Auftönungen aller Art (meist durch Modalisierung) sowie die Verwendung bestimmter Partikeln oder feststehender formelhafter Ausdrücke, denen konventionalisiert eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Hierunter fallen weiterhin alle sprachlichen Formen, die aus dem Gebot der Höflichkeit oder der Indirektheit resultieren (z.B. etwas durch Andeutungen hinterfragen statt eine Position oder gar eine Person anzugreifen bzw. abzuwerten). Die kommunikativen Aktivitätsbereiche (Sprechen, Hören, zusammenhängend Sprechen, an Gesprächen Teilnehmen, Schreiben, evtl. auch Sprachmittlung) steuern neben den drei bereits genannten Komponenten die realen sprachlichen Handlungen sowohl auf der Prozessebene (fachliches Rezipieren vs. Produzieren) wie auf der Modalitätsebene (auditive vs. schriftsprachliche Operationen). Mit dem Wechsel zwischen diesen Aktivitätstypen stellen sich jeweils neue Rahmenbedingungen für das fachlichsprachliche Agieren, das dann durch Entscheidungen in den bereits erwähnten Komponenten ausgefüllt wird. Zugleich können die kommunikativen Aktivitätsbereiche als Schnittstelle zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für (Fremd-)Sprachen (GER) fungieren und dann der Kalibrierung der Niveaustufen des zu entwickelnden Referenzrahmens für schulbzw. unterrichtssprachliche (Teil-) Kompetenzen dienen. Sollten sie in dieser Funktion eingesetzt werden, sind sie auch 1: 1 aus dem GER zu übernehmen. Mit der Beschreibung und Modellierung der Dimension 4 und seiner unterschiedlichen Komponenten (Diskursstrategien, Textualitätskriterien, sprachliche Mittel und kommunikative Fertigkeitsbereiche) ist die Gesamtstruktur für einen Referenzrahmen schul- und (fach-)unterrichtssprachlicher Kompetenzen aus unserer Sicht erst einmal komplett. <?page no="129"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 123 5 Überlegungen zur Detailliertheit und zur Abstufung von Deskriptoren Da aus der Verwendung des GER bekannt ist, dass unterschiedliche Zielgruppen ein Referenzinstrument für unterschiedliche Zwecke einsetzen, kann die Detailliertheit der Beschreibung je nach Beobachtungsnähe oder Verwendungsinteresse variieren bzw. abgestuft werden. Der GER operiert auf drei Ebenen, jedoch haben die Erfahrungen mit dem Europäischen Portfolio der Sprachen (= ELP) gezeigt, dass eine weitere Ebene der Detaillierung (Indikatoren) für die Selbstevaluation der Lernenden (und die diagnostische Evaluation durch die Lehrenden) von Nutzen ist. Daher werden hier für die Schulsprache vier Ebenen der Beschreibung von der Globalskala bis hin zur Indikatorisierung vorgeschlagen. Schulsprache kann bereits mit einer eindimensionalen Globalskala beschrieben werden, vergleichbar den „Common Reference Levels: Global Scale“ des GER (Council of Europe 2001, 24). Eine solche zusammenfassende holistische Darstellung würde sich im Wesentlichen für außerschulische Zielgruppen (Bildungspolitik, Bildungsadministration, Eltern etc.) eignen und eine schnelle Orientierung erlauben. Die darunter liegende zweite Ebene müsste eine erste Strukturierung und Differenzierung von Teilkompetenzen ermöglichen. Im Format wäre diese Darstellung vergleichbar mit „Common Reference Levels: Self-assessment Grid“ (Council of Europe 2001, 26f.). Im GER erfolgt die Strukturierung und Differenzierung nach den kommunikativen Aktivitäten (Hören, Lesen, zusammenhängend Sprechen, an Gesprächen Teilnehmen, Schreiben). Abweichend davon, jedoch analog dazu könnten für den hier zu diskutierenden Referenzrahmen die Felder sprachlichen Handelns im Fachunterricht (s.o. Dimension 1) eingesetzt werden. Die o. erwähnte deutsche Arbeitsgruppe des Europarats hat in einer ersten Entwurfsfassung Skalenwerte für die fünf Handlungsfelder als minimale sprachliche Anforderungen für die erfolgreiche Teilnahme am (Sach-) Fachunterricht formuliert, und zwar auch für unterschiedliche Alters- oder Niveaustufen (Vollmer et al. 2008). Aus Platzgründen können hier zur Veranschaulichung nur jene Skalenwerte zitiert werden, die der zweiten von insgesamt sechs Niveaustufen zugeordnet sind. Dies entspricht den Mindestvoraussetzungen, die im fünften Schuljahr für eine erfolgreiche Teilnahme am Sachfachunterricht erreicht sein sollten: Beteiligung an Kommunikation/ Interaktion im Fachunterricht Alle Schüler können klar strukturierte und in einfacher Umgangssprache formulierte Arbeitsanweisungen, Aufgaben, Verstehensimpulse und Zusammenfassungen von Unterrichtsergebnissen (z.B. Tafelbild) verstehen. Sie sind in der Lage, auf Fragen und Impulse mit einzelnen Wörtern und kurzen Sätzen so zu reagieren, dass Lehrkraft und Mitschüler ihn/ sie verstehen. <?page no="130"?> 124 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Informationen beschaffen und erschließen Alle Schüler können die wichtigsten Aussagen von Lehr- und Lernmitteln verstehen, wenn sie mit Abbildungen verdeutlicht werden oder wenn Hilfsmittel (z.B. Glossar) herangezogen werden. Sie können einfach strukturierte Fragen an Personen richten und Antworten in Stichwortform dokumentieren. Strukturierung und Erweiterung von Wissen Alle Schüler können die Bedeutung immer wieder vorkommender zentraler Fachbegriffe mit umgangssprachlichen Mitteln erklären. Sie können wesentliche Merkmale von Objekten der belebten und unbelebten Welt mit Stichworten erfassen und Beziehungen zwischen Objekten und Eigenschaften mit graphischen Mitteln verdeutlichen. Kommunikation und Präsentation von Lernergebnissen Alle Schüler können stichwortartig und mit sehr einfach strukturierten Sätzen eigene Erfahrungen und die Ergebnisse von Überlegungen sowie Inhalte von Gehörtem oder Gelesenem zusammenfassend wiedergeben. Evaluation von Lernwegen und Lernergebnissen Alle Schüler können sich eigene Lernwege und -techniken bewusstmachen und mit denen von Mitschülern vergleichen und Konsequenzen für das eigene Lernverhalten ziehen. Sie können die Bedeutung von schulischen Lernerfolgskontrollen erkennen und das eigene Lernverhalten darauf beziehen. Sie können wesentliche Zugangsweisen zur Realität durch das Fach sowie wichtige Fragestellungen des Faches benennen. Diese zweite Darstellungsebene eignet sich bereits für die Identifikation einzelner Schüler, die in besonderer Weise schulsprachlich gefördert werden sollten, weil sie sonst das Ziel einer grundlegenden Bildung und Ausbildung nicht erreichen bzw. ihr Recht auf Grundbildung nicht einlösen können. Unterhalb dieser zweiten Ebene sollte sich das Beschreibungssystem mit einiger Flexibilität verzweigen. So können z.B. für die Dimension 2 die Beherrschung von Diskursfunktionen auf der Makroebene mit sechs Skalen gestuft erfasst werden. Diese Darstellungsebene eignet sich zur Evaluation von spezifischen Lehr- und Lernprozessen, bezogen auf spezifische Fachaufgaben oder Fachkulturen, sowie zur diagnostischen Feststellung von spezifischem Förderbedarf. Bei der vierten, untersten Beschreibungsebene geht es um möglichst konkrete beobachtbare „Indikatoren“ (=hochgradig detaillierte Deskriptoren), die unter Aspekten der Praktikabilität und ihres potentiellen Nutzens einzelnen Skalen zugeordnet werden können. Zur Veranschaulichung seien hier Deskriptoren und Indikatoren für die Skala „Diskursfunktion: Benennen/ Erfassen“ ebenfalls für die zweite Stufe (entspricht Klasse 5) vorgestellt: <?page no="131"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 125 Deskriptor Indikatoren Die Schüler können durch Zeigegesten und andere nonverbale Mittel Verständnis signalisieren, wenn für den Fachunterricht typische Objekte, Sachverhalte, handelnde Personen, Vorgänge thematisiert werden. Er/ sie kann diese im Großen und Ganzen auch - so weit fachlich möglich - mit Wörtern der Umgangssprache bezeichnen. Er/ sie versteht die nahezu in jeder Stunde vorkommenden grundlegenden fachunterrichtlichen Begriffe. Sie können sich am Unterrichtsgeschehen mit Zeigegesten und umgangssprachlichen Wörtern beteiligen und damit das Verständnis für die fachunterrichtliche Begriffsverwendung signalisieren. Sie verstehen die Bezeichnungen für die im Fachunterricht häufig eingesetzten Arbeitsmittel und routinemäßig ablaufenden Aktivitäten. Sie verstehen die für das Fach grundlegenden Begriffe (z.B. Mathematik: Division, Deutsch: Adjektiv) und wissen, was damit gemeint ist. Sie können die morphologischen Ableitungen grundlegender Fachbegriffe verstehen (z.B. Division - Divisor - dividieren). Sie können an einzelnen Beispielen Wortgleichungen zwischen Umgangssprache und fachunterrichtlicher Sprache aufstellen und erkennen, warum es in den Fächern Regeln für den Sprachgebrauch gibt. Diese vierte Darstellungsebene mit Indikatoren dient vor allem der Selbstevaluation durch die Lernenden, Zwecken der Testkonstruktion und der Überprüfung von Kompetenzen sowie der Entwicklung eines kompetenzorientierten Fachunterrichts. Die Entwicklung solcher Skalen, ihrer Stufenwerte (Deskriptoren) und deren genaue Indikatorisierung - vor allem aber ihre empirisch abgesicherten Validierung - steht erst am Anfang und bedarf eines mit ausreichenden Mitteln geförderten Projekts bzw. der wissenschaftlichen Anstrengungen vieler nationaler Gruppen wie internationaler Kooperation. 6 Fachunterricht in Deutsch als Zweitsprache So wie der GER nicht auf die Bereitstellung von Skalen zur Beschreibung von (Teil-) Kompetenzen reduziert ist, sondern die Skalen in den weitläufigen explikativen Kontext eines spezifischen Konzepts von Sprach(en)lernen, -lehren und -beurteilen stellt, sollte ein Referenzrahmen für schulbzw. fachunterrichtssprachliche Kompetenzen ebenfalls diejenigen didaktischmethodischen Prinzipien erläutern, die dem Beschreibungsmodell zugrunde liegen und die insbesondere für den Fachunterricht in Deutsch als Zweitsprache relevant sind. Erläutert und begründet werden sollten u.a. die folgenden Prinzipien: <?page no="132"?> 126 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Language Awareness: Für den Unterricht in den Sachfächern stellt sich eigentlich nicht mehr die Frage, ob sprachlich-kommunikatives Lernen sensibel begleitet und unterstützt werden sollte, sondern wie dies am besten gestaltet werden kann. Explizites Sprachwissen wird von Kindern spätestens dann aufgebaut, wenn sie Schriftkompetenzen erwerben. In diesem Zusammenhang vermittelt Schule Wissen über Sprache im Sinne expliziter Regeln durch den Grammatikunterricht in der Schulsprache als Fach. Hier soll nicht weiter der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Maße dieses explizite Normwissen den Aufbau sprachlicher Handlungskompetenzen positiv beeinflusst. Vielmehr ist klar, dass im Sachfachunterricht Sprachreflexion auf anderen Wegen betrieben werden sollte - letztendlich auch schon aus dem Grund, dass Fachlehrer sich nicht zugleich als „Sprachlehrer“ begreifen und auch in ihrer Muttersprache nicht über die Regelfestigkeit und die Fachsprache der Grammatik verfügen. Da Kinder und Heranwachsende aber zum Glück auch ohne schulische Anleitung Beobachtungen an Sprache anstellen und über Sprache und Sprachgebrauch nachdenken, sollte diese „Sprachbewusstheit“ (language awareness) im Fachunterricht gezielt aufgegriffen und unterstützt werden. Andresen/ Funke (2003, 43) definieren language awareness als „Verfügbarkeit einer kognitiven Orientierung beim Sprachgebrauch“, als „Bereitschaft und Fähigkeit (…), sich aus der mit dem Sprachgebrauch in der Regel verbundenen Sichtweise zu lösen und die Aufmerksamkeit auf sprachliche Erscheinungen als solche zu richten“. Bezüglich der didaktisch-methodischen Strategien, Sprachbewusstheit im schulischen Kontext zu unterstützen, gibt es bereits eine reichhaltige Praxis, die in der einschlägigen Literatur dokumentiert ist. Diese müsste für die „nicht-sprachlichen“ Fächer wie Mathematik, Geographie, Physik weiter erschlossen werden, damit Schüler - auch ohne die scharfe Begrifflichkeit der normativen Grammatik - • Neugierde und Interesse gegenüber Kommunikation, Texten, Sprache und sprachlicher Vielfalt entwickeln, • Beobachtungen an Sprache und sprachlichem Handeln in fachunterrichtlichen Zusammenhängen anstellen, Hypothesen bilden, durch „sprachliche Experimente“ diese Hypothesen überprüfen, • über Sprachhandeln in seiner situativen und soziokulturellen Gebundenheit reflektieren, • sich auf metasprachliche Kommunikation einlassen. 6 6 Vgl. hierzu die einschlägigen Ergebnisse von Lena Heine (2007) aus dem DFG-Projekt „Fachlichkeit und (Fremd-)Sprachlichkeit: Aufgabenbasierte Kognition, Kommunikation, Kooperation“. Heine konnte zeigen, wie das Laute Denken während der Bearbeitung und Lösung von Problemen (geographischen Fachaufgaben) zu einer gleichzeitigen Bewusstheit von Inhalt und Sprache führt, die zwar getrennt gespeichert, aber im permanenten Wechsel abgearbeitet werden. <?page no="133"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 127 Schriftliche Arbeitsformen: Die Entwicklung schulsprachlicher Kompetenzen ist in erheblichem Umfang an die Präsenz schriftlicher Arbeitsformen im Fachunterricht gebunden. Die Schriftlichkeit „entschleunigt“ vor allem im Handlungsfeld 1 („Kommunikation/ Interaktion“) die Taktung des Lerngeschehens und gibt den Lernenden die erforderlichen Zeitressourcen für die bewusste Konstruktion von Äußerungen bzw. ihre reflektierende Redaktion der sprachlichen Oberfläche. 7 In einem Fachunterricht dagegen, der dominant oder ausschließlich durch Oralität geprägt ist, können sprachlich nur diejenigen Schüler mithalten und sich schulsprachlich weiterentwickeln, die bereits auf einem soliden Kompetenzsockel aufbauen können und auch entsprechende außerschulische Vorerfahrungen mitbringen. Der (schul-) sprachliche Entwicklungsstand von Risikogruppen und damit von vielen Lernern des Deutschen als Zweitsprache tendiert in einem weitläufig durch Oralität geprägten Fachunterricht zur Fossilisierung (vgl. Müller/ Dittmann- Domenichini 2007). Durch den übenden Umgang mit einer differenzierteren und abstrakteren (Schrift-) Sprache lernen Kinder auch abstrakter zu denken und abstraktere Vorstellungen zu bilden. Literalität und Schriftsprache treiben die kognitive Entwicklung voran, und vice versa beschleunigen erweitertes Weltwissen und erweiterte kognitive Kompetenzen die Entwicklung der Schulsprache. Sprachenlernen als Aufgabe der ganzen Schule: Die organisatorische und inhaltliche Abkopplung systematischer Sprachförderung und die damit oft verbundene (partielle) Ausgliederung von Schülern aus dem „Regelcurriculum“ hat - wie die großen internationalen Schulleistungsstudien zeigen - nicht die erwarteten Erfolge gebracht, offensichtlich weil das spezialisierte Sprachförderwesen stärker am Systemcharakter von Sprache und an den alltagskommunikativen Anforderungen (BICS) orientiert ist als an den sprachlichen Anforderungen des Fachunterrichts (CALP) und den psychologisch-kognitiven Prinzipien im Sinne eines integrierten Denk- und Kommunikationssystems. Den inhaltsneutralen oder inhaltstrivialen und organisatorisch gesondert im Curriculum ausgewiesenen Sprachfördermaßnahmen sollte deshalb eine integrierte und am ganzheitlichen Lernbegriff orientierte Strategie der Bildungsförderung über die Entwicklung und Unterstützung eines akademischen Sprachgebrauchs im Fachunterricht selbst (z.B. durch entsprechend differenzierende Maßnahmen) gegenübergestellt 7 In empirischen Untersuchungen zum deutschsprachigen wie englischsprachigen Geographieunterricht in Klasse des Gymnasiums hat sich gezeigt, wie wichtig und produktiv solche Erfahrungen und Phasen des Edierens und Überarbeitens von schriftlichen Produkten, und zwar sowohl eigener wie fremder, für die Lernenden sein können, weil es zugleich ihren Fokus auf die sprachliche Form verschiebt bzw. den intimen Zusammenhang zwischen sprachlicher Form und inhaltlicher Aussage bewusst macht (vgl. dazu Vollmer 2006, 2008 sowie vor allem Coetzee 2007, die eine Vielzahl von Skalen zur Selbst- und Fremdevaluation von schriftlichen Arbeiten (Lösung von Fachaufgaben) durch monolinguale wie bilinguale Schüler entwickelt hat). <?page no="134"?> 128 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann werden, weil nur damit die Erfolgschancen in der Institution Schule und weit darüber hinaus gesichert werden können. Für ein integratives Sprachförderkonzept sind bestimmte Konsequenzen abzuleiten: • Die Verfügbarkeit über sprachliche Mittel wird vor allem über Fachinhalte aufgebaut, so dass Lerner sprachliche Formen und kognitive Konzepte vernetzen können. Systematische Wortschatz- und Grammatikübungen, die vom fachlichen Lernen losgelöst sind, werden dadurch obsolet. Vielmehr bestimmen Themen und Inhalte, die für das fachliche Lernen relevant sind, den Aufbau sprachlicher Repertoires. • Ist die Schulsprache nicht identisch mit der dominanten Familiensprache, können und sollen familiensprachliche Kompetenzen für die kognitive, personale und soziale Weiterentwicklung so weit wie möglich genutzt werden. • Die Ziele und Prinzipien für das sprachliche Lernen müssen sowohl über das gesamte Sprachencurriculum als auch und vor allem (! ) mit den „nicht-sprachlichen“ Fächern bzw. Fachlehrern abgestimmt werden. Nur so kann im Rahmen des Schulprogramms eine einheitliche Sprachlehr- und -lernpolitik (a whole-school language learning policy) entstehen, die sich auch auf den außerunterrichtlichen Bereich bezieht und Eltern bzw. Sprachförderung (z.B. Leseförderung) in den Familien einbezieht. Scaffolding: Viele Schüler nicht-deutscher Herkunft erleben im Fachunterricht die Diskrepanz zwischen dem Sagen- oder Schreiben-Wollen (Inhaltskompetenz) und dem tatsächlichen Können (Sprachkompetenz). Für sie ist das referentielle Mitteilungsbedürfnis größer als das selbstreferentielle Sprachbedürfnis. Vielfach hat man in der Vergangenheit diese Kluft (Mangelerfahrung) dadurch überbrückt, dass man die Fachtexte sprachlich erleichtert oder dass man die Antwortformate für die Schüler spracharm (Lückentexte, Körpersprache, geschlossene Formate wie multiple choice) gestaltet hat. Diese Strategie führt in Hinblick auf die Entwicklung von schulsprachlichen Fähigkeiten eher zur Fossilisierung von Interimskompetenzen. Dagegen sollten gezielt Techniken des Scaffolding eingesetzt werden. Scaffolding bezeichnet im pädagogisch-psychologischen Kontext als Metapher die Unterstützung des Lernprozesses durch die Bereitstellung eines sog. „Lerngerüsts“, einer zunächst vollständigen sprachlich-inhaltlichen Orientierungsgrundlage in Form von Anleitungen, Denkanstößen, erforderlichen sprachlichen Mitteln und anderen Hilfestellungen wie Mustertexte oder - lösungen (z.B. zur Textrezeption oder Textproduktion). Es wird jedoch nur so viel Hilfe angeboten, wie der Schüler unbedingt braucht, um eine gestellte Aufgabe selbstständig bearbeiten zu können. Sobald Lernende fähig sind, (Teil-) Aufgaben eigenständig zu bearbeiten, wird das „Gerüst“ schrittweise wieder entfernt (vgl. dazu auch Nodari 2006; Ohm/ Kuhn/ Funk 2007). <?page no="135"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 129 7 Zusammenfassung und Ausblick Mit den hier formulierten Thesen wird sicherlich ein Maximalprogramm für einen schulsprachlichen Referenzrahmen skizziert, der sich auf Fachunterricht und fachliches Lernen über alle Fächer hinweg bezieht - vor allem dann, wenn man die projektierten Skalen bis auf die Ebene von Indikatoren ausformuliert und wenn man die Aspekte dazu rechnet, die hier nicht weiter ausgeführt sind, nämlich Schulsprache als Unterrichtsfach und das Sprachencurriculum einer Schule insgesamt. Andererseits hat die Auswertung der einschlägigen Literatur gezeigt, dass Fachdidaktikern, besonders aber Fachlehrern und z.T. auch den Spezialisten für die „Schul-/ Muttersprache“ noch überwiegend Sensibilität für die Sprachlichkeit von Fachlernen und für die Strukturen und Elemente der Schulsprache fehlen. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die Voraussetzungen und Lernbedürfnisse von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache. Es scheint also überaus lohnenswert, schulsprachliche Merkmale systematisch und intensiv aufzubereiten und darzustellen - vor allem auch zum Nutzen der unterprivilegierten Lerner nicht-deutscher Herkunft sowie zur Professionalisierung von Fachlehrkräften in Aus-, Fort- und Weiterbildung, die dringend erforderlich ist. Ob im Rahmen des Schulsprachenprojekts des Europarats für alle der oben aufgezeigten Dimensionen eine empirisch validierte und von unterschiedlichen nationalen und regionalen Bildungssystemen akzeptierbare Skalierung erfolgen kann, bleibt dahin gestellt und muss wahrscheinlich eher skeptisch beurteilt werden wegen des erheblichen Aufwandes an Entwicklungs- und Abstimmungsprozessen. Ein pragmatischer Kompromiss wäre der Versuch, eine Skalierung für die Ebene des unterrichtssprachlichen Handelns (Dimension 1) sprach- und bildungssystemübergreifend abzusichern und die darunter liegenden Ebenen sowie die konkrete Indikatorisierung den nationalen Bildungssystemen zu überlassen. Für das Fachlernen in Deutsch als Zweitsprache muss das bisherige Modell noch erheblich konkretisiert und heruntergebrochen werden (was aber sehr wohl möglich erscheint), um so im Schulalltag auf Lehrerwie auf Schülerseite für den schrittweisen Aufbau von fachlichen Verstehens- und Planungsprozessen anwendbar zu sein. Die Relevanz unserer systematischen Modellierung für beides, die Dekonstruktion bzw. Rekonstruktion von mündlichen wie schriftlichen Texten sowie für die Konstruktion von neuen fachlichen Bedeutungen oder Einsichten und deren Versprachlichung dürfte jedoch bereits deutlich geworden sein. Literatur Andresen, Helga/ Funke, Reinhold (2003): Entwicklung sprachlichen Wissens und sprachlicher Bewusstheit. In: Bredel, U./ Günther, H/ Klotz, P./ Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Band 1. Paderborn, 438-451. <?page no="136"?> 130 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Augst, Gerhard/ Disselhoff, Katrin/ Henrich, Alexandra/ Pohl, Thorsten/ Völzing, Paul-Ludwig (2007): Text-Sorten-Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt etc.: Lang. Baumert, Jürgen (2002): Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Killius, N./ Kluge, J./ Reisch, L. (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt: Suhrkamp. Beacco, Jean-Claude (2007): A descriptive framework for communicative/ linguistic competences involved in the teaching and learning of history. [http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ Source/ Prague07_HistoryLAC_EN.doc]. (02.12.2009). Coetzee, Debbie (2007): Assessment of subject-specific task performance of bilingual geography learners: Analysing aspects of subject-specific written discourse. Osnabrück: Universität. [http: / / elib.ub.uni-osnabrueck.de/ publications/ diss/ E-Diss864_thesis. pdf]. (02.12.2009). Council of Europe (2001): Common European Framework of Reference for Languages Teaching, Learning, Evaluating. Cambridge: CUP. (dt. Fassung: siehe Europarat) Council of Europe (2005): Warsaw Declaration. [http: / / www.coe.int/ t/ dcr/ summit/ 20050517_decl_varsovie_en.asp]. (02.12.2009). Council of Europe (2007): Languages of School Education. Dokumente und Fallstudien zu den internationalen Konferenzen in Strasbourg (Oktober 2006) und Prag (November 2007). [http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ Schoollang_EN.asp]. (02.12.2009). Council of Europe (2008): European Language Portfolio. [http: / / www.coe.int/ Portfolio]. (02.12.2009). Council of Europe (2009, in Vorb.). Platform of References and Resources for “Languages in and of Education”. Konferenz vom 8.-10.6.2009 in Strasbourg. Cummins, Jim (1979): Linguistic interdependence and the educational development of bilingual children. In: Review of Educational Research 29, 2, 221-251. Cummins, Jim (2000): Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon: Multilingual Matters. Cummins, Jim (2006): Sprachliche Interaktionen im Klassenzimmer: Von zwangsweise auferlegten zu kooperativen Formen von Machtbeziehungen. In: Mecheril, P./ Quehl, Th. (2006): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann, 36-62. Dalton-Puffer, Christiane (2007a): Discourse in Content and Language Integrated Learning (CLIL) Classrooms. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamin. Dalton-Puffer, Christiane (2007b): Die Fremdsprache Englisch als Medium des Wissenserwerbs: Definieren und Hypothesen bilden. In: Caspari, D. et al. (Hrsg.). Bilingualer Unterricht macht Schule. Beiträge aus der Praxisforschung. Frankfurt: Lang. 67-95. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, Lehren, Beurteilen. München: Langenscheidt. (engl. Fassung: siehe Council of Europe (2001)) Goffman, Erving (1969): Strategic Interaction. Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press. Gogolin, Ingrid (2006): Bilingualität und die Bildungssprache der Schule. In: Mecheril, P./ Quehl. Th. (Hrsg.) (2006): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann, 63-85. Gumperz, John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge: CUP. <?page no="137"?> Zur Sprachlichkeit des Fachlernens 131 Heine, Lena (2007): Kognitive Prozesse bilingualer Lerner bei der fremdsprachlichen Verarbeitung von Fachinhalten. Osnabrück: Universität. (Dissertation, Mikrofiche). (engl. Fassung: Problem solving in a foreign language Berlin: de Gruyter, erscheint). Hicks, Deborah (Hrsg.) (1996): Discourse, Learning, and Schooling. Cambridge: CUP. Kidd, Richard (1996): Teaching academic language functions at the secondary level. In: Canadian Modern Language Review 52, 285-307. KMK (Hrsg.) (2004): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10). München: Wolters Kluwer. Martyniuk, Waldemar (Hrsg.) (2007): Towards a Common European Framework of Reference for Languages of School Education. Kraków: Universitas. Mecheril, Paul/ Quehl, Thomas (Hrsg.) (2006): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann. Müller, Romano/ Dittmann-Domenichini, Nora (2007): Die Entwicklung schulischstandardsprachlicher Kompetenzen in der Volksschule. Eine Quasi-Längsschnittstudie. In: Linguistik online 32/ 2. [http: / / www.linguistik-online.de/ 32_07/ muellerEtA1.ht-ml]. (retr. 29.05.2007). Nodari, Claudio (2006). Mathematikaufgaben verstehen. Trainingsprogramm. Bern: h.e.p. Ohm, Udo/ Kuhn, Christina/ Funk, Hermann (2007): Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken - mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. O´Malley, J. Michael/ Chamot, Anna Uhl (1990): Learning Strategies in Second Language Acquisition. Cambridge: CUP. Ongstad, Sigmund (2007): Language in Mathematics? A comparative study of four national curricula. [http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ Source/ prag07_LPE_ LangMaths_Ong-stad_EN. doc]. Schleppegrell, Mary J. (2004): The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2008): Textkompetenz. Tübingen: Narr. Snow, Marquerite A./ Met, Myriam/ Genesee, Fred (1989): A conceptual framework for the integration of language and content in second/ foreign language instruction. In: TESOL Quaterly 23, 201-217. Thürmann, Eike (2007): Schulsprachliche Kompetenzen: Analyse von Kompetenzerwartungen in Lehrplanentwürfen für die Grundschule. [Ms.] Vollmer, Helmut J. (2006a): Language Across the Curriculum. Strasbourg: Europarat. [http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ conference06_docs_rev_EN.asp]. (02.12.2009). Vollmer, Helmut J. (2006b): Fachlichkeit und Sprachlichkeit: Zwischenbilanz eines DFG-Projekts. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 17(2), 201-244. Vollmer, Helmut J. (2007a): Language Across the Curriculum: A Way towards Plurilingualism”. In: Martyniuk, W. (Hrsg.) (2007): Towards a Common European Framework of Reference for Languages of School Education. Kraków: Universitas, 174- 193. Vollmer, Helmut J. (2007b): Language and Communication in the Teaching and Learning of Science in Secondary Schools. Strasbourg: Council of Europe. [http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ Linguistic/ Prague_studies07_EN.asp#TopOfPage]. (02.12.2009). Vollmer, Helmut J. (2008): Constructing Tasks for Content and Language Integrated Learning and Assessment. In: Eckerth, J./ Siekmann, S. (Hrsg.): Task-Based Language Learning and Teaching. Theoretical, Methodological and Pedagogical Perspectives. Frankfurt/ New York: Lang, 227-290. <?page no="138"?> 132 Helmut Johannes Vollmer & Eike Thürmann Vollmer, Helmut J. (2009): Diskursfunktionen und fachliche Diskurskompetenz bei bilingualen und monolingualen Geographielernern. In: Ditze, Stephan- A./ Halbach, Ana (Hrsg.), Bilingualer Sachfachunterricht CLIL im Kontext von Sprache, Kultur und Multiliteralität. Frankfurt: Lang, 173-192. Vollmer, Helmut J./ Thürmann, Eike/ Arnold, Christof/ Hammann, Marcus/ Ohm, Udo (2008): Elements of a Framework for Describing the Language of Schooling in Subject-Specific Contexts: A German Perspective. Strasbourg: Council of Europe (unveröff. Ms.). Zydatiß, Wolfgang (2005): Diskursfunktionen in einem analytischen curricularen Zugriff auf Textvarietäten und Aufgaben des bilingualen Sachfachunterrichts. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 34, 156 - 173. Zydatiß, Wolfgang (in diesem Band): CLIL und DaZ: Gegenstand, Aufgaben, Textsorten und verbal-visuelle Unterstützungssysteme - Parameter eines sprachsensitiven Fachunterrichts. <?page no="139"?> Wolfgang Zydatiß Parameter einer „bilingualen Didaktik“ für das integrierte Sach-Sprachlernen im Fachunterricht: die CLIL-Perspektive 1 Zur Kontextualisierung des Beitrags Der so genannte „bilinguale“ Sachfachunterricht an weiterführenden Schulen ist ein ‚echtes Eigengewächs’ der bundesdeutschen Bildungslandschaft und verfügt nunmehr über eine fast 40jährige Tradition (vgl. KMK 2006; Zydatiß 2007b). Da dieser „bilinguale Unterricht“ (der Begriff trifft das Konzept eigentlich nicht) in diesem Zeitraum sowohl eine quantitative Ausweitung und curriculare Differenzierung erfahren hat als auch eine rege Forschungstätigkeit in Gang gesetzt hat, lohnt es sich für die DaZ-Domäne (= Deutsch als Zweitsprache), die einschlägigen Arbeiten zu einer ’integrierten’ (das Sach- und das Sprachlernen verknüpfenden) Didaktik des Fachunterrichts in einer „fremden“ Arbeitssprache zur Kenntnis zu nehmen: vgl. etwa Bach/ Niemeier 2008; Bonnet/ Breidbach/ Hallet 2003; Caspari/ Hallet/ Wegner/ Zydatiß 2007; Hallet 2005; Heine 2008; Wildhage/ Otten 2003; Zydatiß 2002, 2005a, 2005b, 2007a, 2007b. Unter einer sprachen- und gesellschaftspolitischen Perspektive (der Erziehung zu einer Zwei- und Mehrsprachigkeit) haben im europäischen Kontext Konzepte des „content and language integrated learning“ (= CLIL) eine erhebliche Aufwertung erfahren. Von daher sollte der DaZ-Bereich die europaweiten Entwicklungen der so genannten „CLIL classrooms“ aufmerksam verfolgen: vgl. z.B. Marsh/ Maljers/ Hartiale 2001; Marsh/ Wolff 2007; Mehisto/ Marsh/ Frigols 2008; Dalton-Puffer 2007. Analoge Projekte zum fremdsprachigen Fachunterricht (in der Regel mit Englisch) laufen in Österreich und in der Deutschschweiz unter den Begriffen „Arbeitssprache“ bzw. „zweisprachiger Sachunterricht“ oder „Immersion“: vgl. etwa Abuja 1998; Abuja/ Heindler 1993; Jansen O’Dwyer 2007. Im Folgenden sollen die aus meiner Sicht zentralen Parameter einer „bilingualen Didaktik“ dargestellt werden; wobei die Leser(innen) mir gestatten mögen, dass ich zum einen mit den Beispielen bei ’meiner’ Arbeitssprache Englisch bleiben werde, und dass ich zum anderen besonders auf das so genannte „DEZIBEL“-Projekt eingehe (Zydatiß 2007a), da hier eine umfassend dokumentierte Evaluation des fremdsprachigen Sachfachunterrichts in den ’Deutsch-Englischen Zügen in Berlin’ vorliegt. Im Vordergrund soll dabei die Übertragbarkeit der bisher im Kontext des „bilingualen Unter- <?page no="140"?> Wolfgang Zydatiß 134 richts“ gewonnenen Einsichten, Kategorien und Konzepte auf die DaZ-Domäne stehen. 2 Zentrale Begriffe zum „bilingualen“ Fachunterricht Meines Erachtens schleppt der bilinguale Sachfachunterricht in der Vorstellung nicht weniger Beteiligter eine historische Altlast mit sich (siehe dazu Zydatiß 2002, 33f.; 2007a, 37ff), die sich dergestalt zusammenfassen lässt, dass dieses curriculare Konzept im Prinzip (nicht mehr als) eine Variante eines vertieften oder fortgeschrittenen, stärker inhaltsbasierten Fremdsprachenunterrichts sei. Nach diesem Verständnis steht vorrangig das anwendungsorientierte Fremdsprachenlernen im Vordergrund der Unterrichtsform. Gemäß dieser Auffassung zählt primär der zielsprachliche Mehrwert, wobei die Fremdsprache „gewissermaßen als Nebenprodukt“ (Wode 1995, 131) eines themenzentrierten Unterrichts erworben wird. Für die Vertreter einer integrierten bilingualen Didaktik ist diese einseitige Position nicht hinnehmbar; denn beim fremdsprachigen Fachunterricht handelt es sich zuallererst um eine Form eines unterrichtlich gesteuerten Wissenserwerbs von Inhalten schulischer Sachfächer. Hierbei wird in der heutigen kompetenzorientierten Sicht ein weiter Wissensbegriff zugrundegelegt; nämlich die umfassende Einheit von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen. In den Schulfächern geht es um die konvergente Entwicklung von Wissen, Können, Denken und Handeln; wobei die entsprechenden Inhalte immer sprachlich-kulturell ’vermittelt’ sind (im Sinne des psychologischen Mechanismus von mediation). Die auszubildenden Kompetenzen sind ebenso sprachlich-medial wie soziokulturell fundiert; d.h. „Fachlichkeit und Sprachlichkeit“ (Vollmer 2006) sind nicht voneinander zu trennen. Spätestens seit Wilhelm von Humboldt wissen wir (vgl. die jüngste Zusammenfassung und Wertung seiner sprachphilosophischen Grundlagen durch Nünning 2007), dass Bildung zum einen auf die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums zielt, was immer auch mit dem Hineinwachsen eines Menschen in die sozialen und normativen Strukturen einer Gesellschaft einher geht. Individuelle Bildung wird zum anderen über die diskursive Sprache ’vermittelt’: primär über expositorische und fiktionale Texte (= „kontinuierliche Texte“ im PISA-Jargon), aber auch über verbal-grafische Repräsentationsformen (wie Diagramme, Karten, Kurven, Tabellen, Schaubilder u.dgl.: die „diskontinuierlichen Texte“ der PISA-Studien) oder über medial realisierte kulturelle Artefakte (etwa Filme, Gemälde, Musikkunst, Karikaturen u.v.a. mehr). Somit bedingen die Bildungsziele der Schulfächer eine diskursive Auseinandersetzung mit den dort in didaktischer Hinsicht für relevant gehaltenen fachlichen Gegenständen. Der Sprachgebrauch in den Fächern (seien es nun die textbasierten Inputmaterialien, der gegenstandsbezogene Unterrichtsdiskurs oder die textproduktiven mündlichen wie schriftlichen Outputleistungen der Schüler) ist <?page no="141"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 135 von ’anderer Natur’ als die ’elementare’ Sprachverwendung der Alltagssprache; insbesondere die der spontanen, situativ eingebetteten face-to-face- Interaktionen unter Gleichaltrigen. Die Forschungsliteratur für bilingualimmersive Unterrichtskontexte hat dafür eine Reihe gut explizierter und begründeter Konstrukte vorgelegt: z.B. die Unterscheidung von „BICS v. CALP“ bei Cummins (1978, 1979), das Konzept der „Textkompetenz“ bei Portmann-Tselikas (2002) und Schmölzer-Eibinger (2008 sowie in diesem Band), die Idee der „bildungssprachlichen Kompetenzen“ bei Gogolin (2006) oder die Begriffe der „Sachfachliteralität“ bzw. der „sachfachbezogenen fremdsprachigen Diskurskompetenz“ bei Zydatiß (2002, 45; 2007a, 56). Der gemeinsame Nenner dieser Konstrukte ist der diskursive Charakter sprachlich-textuell und/ oder medial vermittelter Interaktionen in inhaltlich fokussierten Fachkontexten, wobei ein ’anderes’ (gegenüber der Umgangssprache), objektsprachlich stärker differenziertes und abstrakteres kognitivakademisches Sprach- und Diskursrepertoire zur Anwendung kommt; und zwar in der Rezeption der Fachtexte (was mit der heuristischen Funktion der Sprache einher geht: Textverständnis, Lesekompetenz, reading to learn and to critique) ebenso wie in der Textproduktion. Letztere betrifft die Konzeptualisierung fachlicher Gegenstände, die Strukturierung kognitiver Prozesse, die Aushandlung von Bedeutungen sowie die unterrichtsbezogenen diskursiven Darstellungsverfahren des Beschreibens, Berichtens, Erzählens, Zusammenfassens, Erklärens, Begründens, Argumentierens und Evaluierens; womit ein Bogen von der darstellenden bis zur epistemischen (erkenntnisfördenden) Funktion der Sprache gespannt wird. Wissenschaftlich fundiertes Sachwissen wird unter Unterrichtsbedingungen diskursiv und kumulativ aufgebaut; d.h. didaktisch angelegte Lernarrangements entwickeln die basalen Konzepte, Denkweisen, Wege der Erkenntnisgewinnung, Diskursgepflogenheiten und Urteilskompetenzen des jeweiligen Faches in systematischer und (hoffentlich) nachhaltiger Weise. Fachwissen erschöpft sich auf keinen Fall in der Verfügbarkeit der Fachterminologie. Die Arbeitssprache des Fachunterrichts (sei es nun für den Lernenden die Muttersprache, eine Zweit- oder eine Fremdsprache) ist nicht nur das ’Vehikel’ für die Bildung fachlicher Konzepte und Kategorien (vgl. Wildhage 2003, 90), sondern sie ist das Kommunikationsmedium für die Realisierung mehrfach dimensionierter, fachspezifisch ausdifferenzierter Bildungsziele. In der heutigen, stark pragmatisch ausgerichteten Bildungstheorie (vgl. Klieme u.a. 2003) werden diese in domänenspezifischen Kompetenzmodellen operationalisiert (vgl. Weinert 2001; Zydatiß 2007a, 50ff.). In substantieller Hinsicht kommen diese Überlegungen zum einen im Erwerb von Lerninhalten und Methoden zum Ausdruck, zum anderen aber auch in einer rational-kritischen und in einer reflexiv-bewertenden Haltung gegenüber den Annahmen, analytischen Verfahren, Anwendungsbereichen und Verwertungsinteressen wissenschaftlicher Ergebnisse. Letzteres ist zumindest der Anspruch einer „reflexiven Didaktik“, wie sie Breidbach (2007) für den „bilingualen Unterricht“ begründet hat (der damit über die pragmatische Bildungstheorie <?page no="142"?> Wolfgang Zydatiß 136 hinaus geht, die primär die Förderung funktionaler Kompetenzen betont). Hierbei kann zusätzlich (was immer wichtiger wird) interkulturelles Lernen freigesetzt werden; denn neue Wahrnehmungen, Sichtweisen sowie Differenzerfahrungen eröffnen (gerade in multikulturellen Klassen) erweiterte Deutungs-, Diskurs- und Handlungsoptionen, da das Selbst- und Weltverständnis des einzelnen Schülers durch den inhaltlichen Perspektivwechsel im Blick auf fachliche Gegenstände in anderen Gesellschaften und Kulturen bereichert und verändert werden kann. Man denke etwa an curriculare Gegenstände wie die Industrialisierung, den Kalten Krieg und die deutsche Wiedervereinigung oder an die Umwelt- und Klimawandeldiskussion bzw. an die Stammzellenforschung und die Debatte um Evolution vs. Schöpfung. Themen dieser Art müssen letztendlich inhaltlich wie objektsprachlich-diskursiv bewältigt werden können; und zwar gleichermaßen auf der textrezeptiven wie auf der textproduktiven Ebene sowie in den gesprochenen wie in den geschriebenen Modalitäten der jeweiligen Arbeitssprache des Fachunterrichts. Die sprachliche Förderung der Schülerinnen und Schüler kann und darf sich nicht auf die Vermittlung und Einübung lexikalischer und grammatischer Phänomene (im engeren satzbezogenen systemlinguistischen Sinne) beschränken. Sie muss kompetenzorientiert(er) werden. Sie muss darüber hinaus einerseits auf die Entfaltung der anspruchsvolleren diskursiven Leistungen, sprich die textbasierten „kommunikativen Sprachaktivitäten“ (wie der Europäische Referenzrahmen die ’älteren’ Fertigkeiten nennt: Council of Europe 2001), ausgerichtet werden. Sie muss andererseits dem substantiellen Wissenserwerb gerecht werden, der in den Bildungszielen der Fächer niedergelegt ist (wobei - wie bereits erwähnt - von einem weiten Wissens- und einem weiten Textbzw. Diskursbegriff ausgegangen wird). 3 Ein Aufgabenbeispiel aus dem naturwissenschaftlichen Lernfeld Hier ist leider nicht genügend Platz, um gleichermaßen auf Text- und Aufgabenbeispiele aus dem sozial- und dem naturwissenschaftlichen Lernfeld einzugehen. Ein Beispiel aus dem Fach Biologie muss deshalb genügen. Die Basiseinheit der schulisch-fachlichen Unterrichtsarbeit ist die Aufgabe (= task oder activity). Diese wird in aller Regel über eine fachrelevante Material- oder Textsorte (= genre) transportiert; und zwar für eine Aufgabenstellung, die über eine der drei Makrofunktionen eines jeden Fachunterrichts (Beschreiben/ Zusammenfassen, Analysieren/ Erklären und Bewerten/ Urteilen bzw. DESCRIBE, EXPLAIN & EVALUATE: siehe erneut 4.4) in selektiver Weise auf die im Inputmaterial angelegten Inhalte zugreift. In der Unterrichtsvorbereitung legt dann die Lehrkraft den Erwartungshorizont fest, indem sie die für die schülerseitige Bearbeitung der Aufgaben erforderliche inhaltlich-diskursive Leistung zu antizipieren versucht. Zu <?page no="143"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 137 diesem Zeitpunkt werden ferner unterrichtsmethodische Überlegungen zu verbalen und/ oder visuell-grafischen Hilfen im Hinblick auf die Bewältigung der Aufgabe und zur Ergebnissicherung angestellt (die oft in ein strukturiertes Tafel- oder Folienbild einmünden: siehe 4.6). Letzteres ist im Übrigen in den ’bilingualen Klassen’ deutlich häufiger zu beobachten als im deutschsprachigen Sachfachunterricht der Regelklassen (Zydatiß 2007a, 365f.), was den Stellenwert derartiger Stützmaßnahmen (das so genannte „scaffolding“) eindrucksvoll unterstreicht. Das nachstehende Beispiel kann nur einen kleinen Ausschnitt aus der komplexen Diskurswelt des Faches Biologie wiedergeben. Selbst wenn es aus Platzmangel auf die Diagramme verzichtet, die üblicherweise den Sachtexten in Lehrbüchern beigeordnet sind, so zeigt es doch einige prototypische Merkmale für die inhaltliche Darstellungsweise und die sprachlichkognitiven Anforderungen in naturwissenschaftlichen Unterrichtskontexten der weiterführenden Schulformen (Abb. 1). „Osmosis“ A. Basistext The biochemical processes in living cells always take place in a solution. A solution is made up of a solvent (the dissolving fluid) and a solute (the particles dissolved in the solvent). In living organisms, the solvent is water and the solution is called an aqueous solution. Living cells are separated from their surroundings by the partially permeable cell surface membrane. The contents of the cell, the cytoplasm, is one aqueous solution and the surroundings of the cell (e.g. pond water) is another aqueous solution. If the two solutions do not have the same concentrations of various substances, molecules may move from one to the other by diffusion, if the membrane is permeable to these substances. - A partially permeable membrane will allow the diffusion of water molecules but not glucose (the solute) molecules, if there is (for example) a weak glucose solution on the right and a strong glucose solution on the left. As a result water can move from the right, where there is a high concentration of water molecules, to the left, where there is a lower concentration of water molecules, by the process of diffusion. This diffusion of water is called osmosis, and will continue until a water equilibrium has been reached. Extract from W. R. Pickering: Complete Biology. OUP 2001. B. Tasks 1. What is meant by a solution, and what do you understand by a partially permeable membrane ? 2. Explain the physical processes that happen in a plant cell when a membrane allows the passage of a solvent in solutions having different concentrations. 3. Give an explanation for the observation that soft fruit tends to split when it rains a lot close to harvesting time. <?page no="144"?> Wolfgang Zydatiß 138 C. Erwartungshorizont 1. A solution is made up of / a substance consisting of a solute and a solvent. - It is a membrane which (because of the size of its pores) will only allow certain molecules to pass through. 2. If the cell solution is more/ less concentrated than the cell surroundings, then water will diffuse into/ out of the cytoplasm and vacuole (through the partially permeable membrane). 3. The root system takes in a lot of water, and (additionally) rain water runs over the fruit. Consequently the plant cells expand/ swell/ get turgid due to osmosis (because water diffuses into the cytoplasm and vacuole). Abb. 1.: Biologische Fachaufgabe (Arbeitsgrundlage und Erwartungshorizont) Abgesehen von den offenkundigen Fachbegriffen (wie u.a. cell, molecule, glucose, cytoplasm) finden sich unter den distinktiven Merkmalen dieses Textes eine Reihe von Begriffen auf einem mittleren Abstraktionsgrad (z.B. particle, process oder concentration), die in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen und Themen vorkommen und von daher einen hohen Transferwert für die rezeptive wie produktive Arbeit mit Fachtexten haben. Coxhead (2000) und Nation (2001) haben ca. 700 derartiger Begriffe in einer so genannten „Academic Word List“ zusammengestellt. Besonders auffallend ist die hohe Zahl von Definitionen (eine typische Diskursfunktion der wissenschaftlichen Fachprosa: siehe Abb. 5 in 4.6), die ineinander greifen und aufeinander aufbauen (= interlocking definitions): z.B. solution, solvent, solute, dissolving fluid. Diese letzteren Begriffe bilden ihrerseits eine Wortfamilie; d.h. sie gruppieren sich um ein bestimmtes zentrales head word und können dann häufig über die Kenntnis von Wortbildungsregeln selbstständig aus dem Kontext erschlossen werden, was den so genannten potentiellen Wortschatz von Lernern erheblich erweitern kann (im Englischen etwa um den Faktor 4; beim Deutschen als Lernsprache dürfte er noch höher liegen). Die zum übergeordneten Begriffsfeld der Lösung gehörenden Definitionen werden weiter ausdifferenziert in Definitionen von Begriffen wie aqueous, solution, partially permeable membrane, diffusion und schließlich osmosis: als systematisch abgeleiteter Oberbegriff zu dem gesamten, hier explizierten Phänomen. Linguistisch ist daran interessant, dass Osmose (ebenso wie etwa diffusion, concentration oder equilibrium) eine Nominalisierung ist; sprich eine Abstraktion, deren Verständnis eine Vielzahl vorher erläuterter Prozesse und Konzepte voraussetzt. Halliday (1993) spricht deshalb hier von „grammatical metaphor“; wobei der abstrakte Begriff (hier: Osmose) so etwas wie eine ’semantische Kurzschrift’ für einen komplexen, generalisierten Sachverhalt ist, der in die fachbezogene Wissensstruktur der Lernenden Eingang finden wird - vorausgesetzt die prozessbezogene Verarbeitung der Aufgaben (wie sie sich im Umgang mit dem Textmaterial und im Unterrichtsdiskurs zeigt) war ’erfolgreich’. Wer bis zum abstrakten Fachterminus gekommen ist und diesen verstanden hat, kann in aller Regel auch das zugrunde liegende Phä- <?page no="145"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 139 nomen in anderen Zusammenhängen erläutern und mit dem Begriff weiter arbeiten (sprich: sich weitere naturwissenschaftliche Sachverhalte erschließen). In einer funktionalstilistischen Sicht ist zusätzlich hervorzuheben, dass aufgrund des Verweises auf allgemein gültige Sachverhalte das generic present zur Anwendung kommt; also das simple present im Aktiv und Passiv (oft mit Adverbien wie always). Die physikalische Basis des sachfachlichen Gegenstands (Konzentrationsgradient Diffusion) kann nur expliziert werden, wenn Konditionalsätze (if x… y may/ will + Infinitiv) und Antonyme (hier: same - different, high - low) in Verbindung mit semantischen Konnektoren (etwa because of, as a result) zum Einsatz kommen. Der semantische Zusammenhang von URSACHE WIRKUNG/ KONSEQUENZ setzt mit anderen Worten auf Seiten des Lerners unabdingbar die funktionale Verfügbarkeit über spezielle sprachliche Mittel voraus. Deshalb spricht man im Kontext der Immersion seit Snow/ Met/ Genesee 1989 und Met 1991 von „content-obligatory language“. Ein Bewusstsein für derartige Interdependenzen von Inhalt und Sprache auf Seiten der Lehrperson ist eine wesentliche Voraussetzung für gelingendes integriertes Sach-Sprachlernen der Schülerinnen und Schüler im Fachunterricht. Damit dürfte der Punkt erreicht sein, an dem es sinnvoll ist, die bisher vorliegenden konsensfähigen Konstanten einer integrierten „bilingualen Didaktik“ zu systematisieren. 4 Umrisse einer „bilingualen Didaktik“ für das integrierte Sach-Sprachlernen im Fachunterricht Meines Erachtens lassen sich die bisherigen didaktisch-methodischen Überlegungen zu acht Komplexen bündeln. 4.1 Grundlegung in einer funktionalen Sprachtheorie Die herkömmliche (in der Regel systemlinguistisch und formal-strukturalistisch geprägte) Sicht von Sprache als einem ’objektivierten’, extern vorgegebenen ’Behälter’ (in den man ’beliebige Inhalte gießen kann’) bringt uns didaktisch nicht weiter. In einem funktionalen Verständnis von Sprache wird diese als ein Bedeutungen generierendes sozio-semiotisches System gesehen: a meaning-making system (Halliday 1978, 1985). Gemäß dem Ansatz der Halliday’schen systemic functional linguistics werden drei übergeordnete Funktionen von Sprache unterschieden, die in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen: die kognitiv-referentielle Funktion (= ideational/ reflective meaning), die adressatenbezogene Kontakt- oder Appellfunktion (= interpersonal function) und die zwischen diesen Polen vermittelnde textuell-diskursive Funktion (= textual function). Inhaltliche Aussagen können in der Regel nur transportiert bzw. ausgetauscht werden (mit Sicherheit im schulisch-akademischen Kontext), wenn die Äußerungsketten texture haben. Indem der kohärente Text (mit einer bestimmten thematischen Progression, <?page no="146"?> Wolfgang Zydatiß 140 Informationsstruktur und lexikogrammatischen Kohäsion) auf externe und/ oder interne außersprachliche Realitäten verweist, erfüllt diskursive Sprache die kognitiv-referentielle Funktion von Sprache-in-Gebrauch. Zugleich stellen Texte auf der Beziehungsebene der sprachlichen Tätigkeit Verbindungen zu Adressaten her (phatischer, instruierender, kontrollierender oder manipulierender Natur). Diese Interdependenzen gelten auch für Unterrichtskontexte: Gelingt es der Lehrkraft nicht (mittels diskursiver Sprache) eine Passung von fachlichen Inhalten (die meistens über ein Lehrbuch oder andere Zusatzmaterialien in den Unterricht eingebracht werden), von schülerseitigem Sach- oder Weltwissen, von objektsprachlichen Bedeutungsressourcen und von Verwendungskontext des Gelernten herzustellen, dann bleiben die ’generierte’ Sprache ’sinnlos’ und das Wissen ’träge’. Entweder das Textverständnis ist nicht gesichert (siehe 4.7: der Fachunterricht ’rauscht an den Schülern vorbei’), oder die Lernenden produzieren keine genreadäquate, textsortengebundene kohärent-diskursive Sprache, die dem fachlichen Gegenstand gerecht wird (was zu schlechten Noten, besonders für die schriftlichen Leistungen führt: siehe 4.8). Eine integrierte Didaktik muss gleichermaßen in Diskursgenres, Textvarietäten und fachlich fundierten Materialsorten, aber auch in sprachfunktionalen Kategorien und lexikogrammatischen Ausdrucksmitteln denken. 4.2 Ein curriculartheoretischer Rahmen Eine integrierte „bilinguale Didaktik“ sollte die starken Überlappungen zwischen (auf der einen Seite) Sprache und Denken bzw. zwischen Fachinhalten und Denken sowie die (auf der anderen Seite) zwischen Sprache und Kultur sehen. Coyle (1999; 2007, 51) hat dafür die sehr griffige Formulierung eines Curriculums mit den „4 Cs“ geprägt: CONTENT, COGNITION, COMMUNICATION & CULTURE. In dieses Konstrukt, das in leichter Abwandlung gegenüber den Coyle’schen Diagrammen die diskursive Kommunikation ins Zentrum rückt, gehen somit sowohl das sachfachliche Lernen mit den beiden Polen CONTENT COGNITION als auch das (fremdbzw. zweit-)sprachliche Lernen mit den beiden Polen COMMUNICATION CULTURE ein (Abb. 2). <?page no="147"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 141 CULTURE COMMUNICATION CONTENT COGNITION Abb. 2: Ein curriculartheoretischer Rahmen für CLIL-Angebote Der Fachkommunikation liegen (wie im Absatz 2 bei den Konzepten CALP, Textkompetenz und Sachfachliteralität herausgearbeitet wurde) ein weitgehend formal-expliziter und ein zugleich inhaltsbasierter, textgebundener Sprachgebrauch zugrunde. Die Verzahnung von Sache und Sprache sollte sich folglich (wann immer nötig oder möglich) auf der konzeptuell-kognitiven wie auf der objektsprachlich-(inter)kulturellen Ebene abspielen (vgl. Zydatiß 2002, 43 zum ’Dilemma’ der „doppelten Abstraktion & des doppelten Fokus“), was letztendlich eine „bifokale Unterrichtsplanung“ (Habekost 2006) erfordert. 4.3 Wechselbeziehungen zwischen Inhalt, Denken und Sprache Konzentrieren wir uns aus heuristischen Gründen auf die in Abb. 2 zentrale (’innere’) Trias von Inhalten, Denken und diskursiver Sprache (also ohne den kulturellen Überbau), dann entstehen dabei Schnittflächen, die für den bilingualen Sachfachunterricht besonders relevant sind; denn in diesen Bereichen kann bzw. muss das integrierte Sach-Sprachlernen didaktisch-intentional inszeniert werden. (Abb. 3). In Abb. 1 wurde deutlich, dass jede Fachaufgabe gemäß Aufgabenstellung auf eine Material- oder Textsorte bezogen ist, die rezeptive wie produktive Textverarbeitungsleistungen, spezifische kognitive Prozesse sowie fachbezogene Strategien, Handlungen und Arbeitstechniken frei setzt (die von Lernenden als positive Herausforderung aber auch als Über- oder Unterforderung erfahren werden). Auf die fachspezifischen concepts & categories wurde bereits in Absatz 3 im Kontext der Diskussion des Beispiels in Abb. 1 eingegangen; ansatzweise auch auf die Kognitionen, die über die jeweilige Makrofunktion der Aufgabenstellung induziert werden (Genaueres siehe 4.4). Die Arbeitstechniken unterscheiden sich zum Teil recht stark in den einzelnen Fächern (wenn man einmal an die Arbeit mit dem Atlas und Globus, an das chemische Experimentieren oder die Interpretation einer historischen Quelle denkt); andere Aspekte der so genannten Methodenkompetenz <?page no="148"?> Wolfgang Zydatiß 142 sind fachübergreifenden Charakters (etwa die Auswertung von Diagrammen, Karikaturen, Statistiken und Bildern oder die Recherchen im Internet). Gerade der Umgang mit den ’diskontinuierlichen Texten’ ist eine Basisqualifikation, die dringend zu erwerben ist, weil sie ein generalisierbares Merkmal von Literalität darstellt (Diskurskompetenzen across the curriculum). Deutschen Schülern wurden im Übrigen in den verschiedenen PISA-Studien teilweise deplorable Leistungen in diesen Aspekten der Lesekompetenz bescheinigt. Interessant ist das Kernsegment der Abb. 3 (als academic discourse functions bezeichnet); weil hier eine übergeordnete funktionale Kategorie vorliegt, die ein zentrales Charakteristikum des kognitiv-akademischen Sprachgebrauchs ist. Schließlich muss in der Fachkommunikation nicht nur ’definiert’ werden (siehe oben unter Punkt 3), sondern es werden Vermutungen angestellt, Hypothesen gebildet, Erklärungen versucht und Rangordnungen erstellt (Genaueres unter Absatz 4.5). Abb. 3: Interdependenzen zwischen Inhalt, Denken und Sprache SPRACHE INHALT DENKEN Fachspezifische Notionen (Konzepte & Kategorien) [siehe 3] Wissensstrukturen & kognitive Operationen [siehe 4.4] Fachspezifische Methoden & Arbeitstechniken Diskursfunktionen [siehe 4.5] <?page no="149"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 143 4.4 Zur Systematik von Wissensstrukturen Es ist Mohan (1986) zu verdanken, im Kontext der kanadischen Einwanderungs- und Zweitsprachenerwerbssituation darauf verwiesen zu haben, dass die Aufgaben in inhaltlich-themenbasierten Unterrichtszusammenhängen ein kognitives Äquivalent in einer bestimmten Systematik von Wissensstrukturen haben, wofür er den Begriff „knowledge framework“ geprägt hat (vgl. Zydatiß 2007a, 442: Abb. 7.17 sowie unten Abb. 4). Hierbei wird zwischen einer eher praktischen Ebene des erfahrungsgestützten Verhaltens und Lernens (= actions or modes of conduct) und einer stärker theoretischen Ebene des generalisierten, symbolisch vermittelten Verstehens über verbal-literate Techniken und reflektierendes Denken unterschieden (= reflective thought and deeper understanding). Beide Ebenen werden in kognitiv gestuften Aufgabenstellungen der verschiedenen Lernbereiche der Primarstufe und der Fächer der Sekundarstufen zusammengeführt (in Abb. 1 oben fehlt übrigens die dritte Makrofunktion, die der kritischen Reflexion). Dieser dreigeteilte Referenzrahmen nach DESCRIBE, EXPLAIN & EVALUATE findet sich bezeichnenderweise in der Struktur der so genannten Textaufgabe, die sowohl in den Sprachals auch in den Sachfächern der deutschen Schule die fachlogische Abstufung der unterrichtlichen Aufgabenstellungen widerspiegelt. 4.5 Akademische Diskursfunktionen In Abb. 3 ist die gemeinsame Schnittmenge von Inhalt, Denken und Sprache über die Schraffur bewusst hervorgehoben. Neuere empirische Untersuchungen (etwa von Dalton-Puffer 2007a, 2007b und Lose 2007) haben gezeigt, dass diese academic language functions (die bestimmte kognitive Operationen im sachfachlich-akademischen Diskurs repräsentieren) entweder nur höchst selten im Unterrichtsgespräch der verschiedenen Schulfächer explizit aufgegriffen werden bzw. (wenn sie verbalisiert werden) nur innerhalb einer extrem schmalen Bandbreite objektsprachlicher Ausdrucksmittel realisiert werden (die Schüler ’mogeln’ sich mit wenigen passe-partout-Formulierungen wie I think, because, then oder so durch). Innerhalb des dreigeteilten Rahmens an Wissensstrukturen der Abb. 4 (also der Makrofunktionen) brauchen die Schüler(innen) jedoch eine Fülle von micro genres, um die spezifischen Kognitionen des wissenschaftspropädeutischen Denkens zum Ausdruck zu bringen, die ihrerseits in diskursiv kohärente, textgebundene Sprache eingebettet sind: Benennen, Identifizieren, Beschreiben, Begründen, Definieren, Vergleichen; Hypothesen bilden; Ursache-Wirkung, Teil-Ganzes; Vorhersagen, Präferenzen oder Prioritäten formulieren; Gewichten und Bewerten von Argumenten u.dgl. mehr. Diese so genannten Diskursfunktionen sind (nicht zuletzt auch in ihrer objektsprachlichen Realisierung) auf eine Vielzahl fachlicher Kontexte übertragbar. Hinzu kommt, dass nicht wenige dieser Wissensschemata über grafische Repräsentationen visualisiert werden können (= scaffolding). Damit sind zwei Ansatzpunkte für methodi- <?page no="150"?> Wolfgang Zydatiß 144 sche Stützmaßnahmen zur Förderung diskursiver Sprachleistungen im fremdbzw. zweitsprachig durchgeführten Fachunterricht benannt: zum einen visuell-grafische Hilfen und zum anderen ein verbaler language support (Redemittel eines eher formalen Sprachrepertoires). Beide Modalitäten können Lernenden helfen, intellektuell anspruchsvolle kognitive Textoperationen in einer zielsprachlich angemessenen und differenzierten Form zu realisieren (siehe 4.6). BESCHREIBUNG ERKLÄRUNG BEWERTUNG Klassifikationen und Konzeptbildung Zeitliche Reihenfolge und Prinzipien Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen 1. Klassifikation 1. Daten und Schlussfolgerungen interpretieren 1. Meinungen und Präferenzen äußern • Beobachtungen: Gegenstände, Personen, Situationen… • Objekte beschreiben • Bewegung beschreiben: Lage, Position… • Funktion oder Verwendungsweise beschreiben • Klassifzieren: Taxonomien • Vergleichen: Unterschiede und Ähnlichkeiten • Teile und Ganzes • Chronologie von Ereignissen • Prozessbeschreibungen: Stufen, Phasen, Dauer, Zyklen • Prozessarten: linear, zyklisch, gegenläufig… • Anweisungen geben und ausführen • Ergebnisse von Prozessen fixieren • Daten interpretieren (inkl. Tabellen, Grafiken, Kurven) • Schlussfolgern • persönliche Meinungen bilden und ausdrücken • Fakten und Aussagen überprüfen • Belegen von Tatsachen, Textstellen, Zahlen oder Quellen • Tatsachen und Meinungen / Annahmen unterscheiden • Einstellungen oder Optionen ausdrücken und begründen • Relativierungen 2. Kategoriensysteme 2. Hypothesen bilden und überprüfen 2. Gewichtungen und Bewertungen • Identifizieren: Individuen, Gruppen, Typen, Klassen, Daten… • Sichtweisen, Haltungen, Positionen differenzieren • Übereinstimmung oder Äquivalenz feststellen • Hypothesen generieren, zurückweisen oder modifizieren • Veränderungen und evtl. Entwicklungen vorhersagen • Prozessabläufe und Funktion von Vorrichtungen erklären • Rangordnungen herstellen • Stellenwert von Meinungen und Sachverhalten einschätzen • Quellen, Methoden und Präsentationen sachbezogen bewerten • Kritisches Lesen <?page no="151"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 145 3. Konzeptbildung 3. Generalisierung 3. Lösungen und Entscheidungen • Benennen: Merkmale, Dinge, Personen… • Beschriften: Abbildungen, Schaubilder… • Konzepte verstehen, entwickeln, anwenden • Definieren: vorläufige und formale Definitionen • Ursache und Wirkung darstellen • Generalisierungen zu Motiven, Mitteln, Absichten oder Zwecken entwickeln • Kontinuität und Wechsel erläutern • Ziele, Strategien, Pläne u.dgl. analysieren und bewerten • Begründete Entscheidungen treffen und Empfehlungen geben • Komplexe Argumente aufbauen (Pro und Kontra) Abb. 4: Ein Ordnungssystem akademischer Diskursfunktionen für den sachfachlichen Unterricht 4.6 Kontextsensitive Spracharbeit und visuell-verbale Stützen Das materielle Substrat des fachlichen Lernens ist in aller Regel eine Inputressource, sprich eine Material- oder Textsorte eines bestimmten Genres, deren Inhalte - ausgerichtet auf die jeweilige Aufgabenstellung - zu er- und verarbeiten sind. Ein Sachfachlehrer, der eine Lerngruppe fremd- oder zweitsprachig unterrichtet, ist gut beraten, mit der didaktischen Kategorie der sprachlichen Vorentlastung an die Inputmaterialien heranzugehen, wenn die freie Anwendung der content-obligatory language nicht hinreichend gesichert erscheint (was jedoch immer noch Freiräume für die intellektuelle Selbsttätigkeit der Lernenden bei der Texterschließung lassen muss). Im Fall der Aufgaben der Abb. 1 etwa sollten verbale, nominale und/ oder adverbiale Kernbegriffe sowie logische Konnektoren über eine ’tangierende Situation’ eingeführt werden: z.B. über die konkrete Demonstration von Lösungsvorgängen mit farbigen Substanzen im Rahmen eines einfachen Versuchs, in dem Sprache und Handeln miteinander verknüpft werden (wodurch den Schülern Begriffe wie solute, dissolve, membrane, equilibrium, as a result/ result from, lead to/ cause verfügbar werden). Bei anderen Sachverhalten können Zeichnungen, Abbildungen oder Karikaturen dieses pre-teaching erfüllen. Es dürfte im bilingualen Unterricht inzwischen konsensfähig sein, dass streckenweise „Inseln der funktionalen Spracharbeit“ in den Fachunterricht eingebettet werden können (Vollmer 2008b, 146), ohne dass deshalb das übergeordnete Ziel des inhaltszentrierten Sachlernens aufgekündigt wird. Der Fachunterricht in einer Zweit- oder Fremdsprache braucht eine integrierte Text-Spracharbeit, die die Ebene der objektsprachlichen Ausdrucksmittel zweck- und adressatenorientiert sowie kontextsensitiv mit der Ebene des Textes bzw. Diskurses verbindet. Andere Unterrichtssituationen erfordern ad hoc-Entscheidungen der Lehrkraft, ob im Fluss der Arbeit am fachlichen Gegenstand eine Aufmerksamkeitslenkung der Lernenden im Hinblick auf bestimmte objektsprachliche oder textpragmatische Phänomene sinnvoll oder notwendig ist: sprach- <?page no="152"?> Wolfgang Zydatiß 146 erwerbstheoretisch unter Begriffen wie focussed input, focus on form bzw. noticing one’s gaps diskutiert (vgl. Zydatiß 2007a, 404ff.). Da fachliche Lehr- Lernprozesse immer sprachlich vermittelt sind, müssen diese in unseren heutigen multilingualen Klassen immer auch unter der (zweit)sprachlichen Erwerbsperspektive reflektiert und realisiert werden. Lehrwerkautoren verwenden meistens viel Mühe darauf, ihre Texte nach einer gegenstandsgerechten, sachlogischen Struktur aufzubauen, denn sie wollen das Verständnis der Fachinhalte sichern. Das Textverstehen lässt sich erheblich erleichtern bzw. vertiefen (und die Sachinhalte längerfristig speichern), wenn die jeweilige thematische Progression bzw. das rhetorische Muster des Fachtextes über grafisch-visuelle Schemata veranschaulicht wird (= scaffolding über visual organizers: Abb. 5). Die Fachkommunikation kennt u.a. folgende Textstrukturen: PROBLEM-LÖSUNG, ANSICHT 1 vs. 2, ANNAHME-BEGRÜN- DUNG, THEORIE-PRAXIS/ REALITÄT, FÜR & WIDER, GEWINNER & VERLIERER, DAMALS & HEUTE, VORHER & NACHHER, CHRONO- LOGIE VON EREIGNISSEN, PROZESSABLÄUFE, KONKURRIERENDE HYPOTHESEN & WAHRSCHEINLICHSTE ERKLÄRUNG u.v.a. mehr. Grafisch lassen sich die Textschemata über bestimmte visuelle Strukturhilfen darstellen (vgl. den Versuch einer Systematik in Zydatiß 2007a, 455f. sowie exemplarisch Abb. 5 obere Zeile). So gibt es Strukturgitter für hierarchisch gestufte Klassifikationen (insbesondere für fachsystematische Taxonomien: etwa in der Biologie); feldartig strukturierte Abbildungen für komplex vernetzte Prozesse; Darstellungen in Tabellen- oder Matrixform zum Vergleichen, Gegenüberstellen oder Abgrenzen verschiedener Merkmale; Repräsentationen zyklischer Abläufe (etwa bei Kreisläufen, spiralartigen Entwicklungen u.dgl.) sowie lineare zeitliche Ketten, die sich in chronologisch organisierte Stufen, Etappen oder Phasen gliedern. - Visuelle Stützen können ferner für fachspezifische Grundkategorien, aber auch für fächerübergreifende Diskursfunktionen eingesetzt werden (Abb. 5 untere Zeile sowie im Detail Zydatiß 2007a, 457, 465f., 475). Abb. 5: Visuelle Hilfen für ausgewählte Textschemata und Diskursfunktionen zur Förderung des Textverstehens Thema Merkmale Phänomen 1 2 a) …… b) …… c) …… Thema 1 2 3 4 y x [ solution ] …which consists of… genus [ substance ] differentia Definition Vorgang Vorgang A B C D E Ursache Wirkung <?page no="153"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 147 Die kontextgerechte Versprachlichung von Diskursfunktionen verlangt eine breite Palette von Redemitteln, die Schülern kumulativ (und damit immer stärker differenzierend) über die verschiedenen Jahrgangsstufen und Fächer hinweg systematisch zu vermitteln sind. Für die in Absatz 3 angesprochene Definition etwa (siehe Abb. 5 links unten) sollten die Lernenden verbale Realisierungen der folgenden Art aktiv verwenden können: an X is a Y which/ who…; an X can be defined/ is defined by/ is definable as…; by definition X is/ means/ stands for/ is known as…; an X refers to all [entities] which are called…; that is, i.e. usw. Eine ausführliche Liste englischer Ausdrucksmittel für die Systematik der Abb. 4 findet sich in Zydatiß 2007a, 465-467, 474-476. Die bisher erläuterten verbal-visuellen Stützmaßnahmen gliedern sich in ein übergeordnetes sachfachliches didaktisches Prinzip ein, das Leisen (2003, 2005) - im Kontext des naturwissenschaftlichen Unterrichts an deutschen Auslandsschulen mit DaF als Arbeitssprache - als „Wechsel des Abstraktionsniveaus“ bezeichnet hat. Ausgehend von der konkreten gegenständlichen Darstellung (Handlung, Gestik, Experiment oder Realia) oder einer ’direkten’ Abbildung (Foto, Bild, Film, Piktogramm oder Zeichnung) über objektsprachliche Redemittel und symbolisch-grafische Repräsentationen (Abb. 5 sowie Diagramme, Kurven, Karten und Tabellen) bis hin zur höchsten Abstraktionsstufe der Formel oder des Gesetzes werden Sachverhalte über unterschiedliche Darstellungsformen repräsentiert. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Darstellungsebenen ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Fachunterricht: zum einen um alle Schüler(innen) im Hinblick auf die Lernziele und -inhalte zu erreichen, und zum anderen um den Übergang von dem intuitiven, anschauungs- und erfahrungsgeprägten lebensweltlichen Wissen (das vornehmlich über Alltagsbegriffe transportiert wird) zum stärker abstrakten, systematischen und theoriegeleiteten Wissen (mithilfe wissenschaftlicher Begriffe) sicherzustellen. Das ist nicht nur für die Umsetzung der Bildungsziele der Sachfächer entscheidend, sondern auch dafür, dass Lehrkräfte nicht ’über die Köpfe der Schüler hinweg reden’, weil sie zu einseitig die Ebene der Fachbegriffe, Konstrukte, Modelle und/ oder Formelsprache fokussieren. 4.7 Fachspezifische Materialien und mentales Lexikon In aller Regel wird die Schwierigkeit eines Fachtexts nicht so sehr von der Komplexität und Elaboriertheit des Satzbaus bestimmt, sondern vom Abstraktionsgrad der Darstellung und der Informationsdichte. Diese spiegeln sich in den thematisch-fachlich definierten Inhaltswörtern, im Ausmaß der expliziten wie impliziten logischen Verknüpfungen, im Verzicht auf Redundanzen im Text und in der Menge bzw. Art kultureller Bezüge wider. Das geht häufig mit der Präferenz für den Nominalstil einher, was Lernenden Schwierigkeiten bei der Textrezeption und -produktion bereiten kann, weil davon der ’ganze Satz’ betroffen ist (und nicht nur ein Satzglied). Fachtexte zeichnen sich ferner durch den distinktiven Gebrauch bestimmter <?page no="154"?> Wolfgang Zydatiß 148 Strukturen (wie Passiv oder gerund) sowie temporaler und satzverbindender Adverbien aus. Während der Einsatz von Konjunktionen in der naturwissenschaftlichen Prosa häufig ist, werden die semantischen Verknüpfungen in sozialwissenschaftlichen Texten nicht selten eher implizit gehandhabt (durchaus eine Hürde zum Textverständnis). Die für die Inhalte des sachfachlichen Textes konstitutiven Bezugs-, Wort- und Ausdrucksfelder müssen erschlossen sowie behaltens- und aktivierungsgerecht strukturiert werden; etwa über mind maps, cluster, treppen-, kreis- oder matrixförmige Abbildungen. Das mentale Lexikon (als Metapher für das Langzeitgedächtnis) zeichnet sich durch vielfältige, redundant angelegte Ordnungsprinzipien aus (vgl. Zydatiß 2007a, 205f.), die dazu beitragen, unser gesamtes Alltags-, Sach-, Fach- und Weltwissen zu speichern und flexibel abrufbar zu machen. So kann es nicht verwundern, dass der Wortschatz von Fremdsprachenlernern sich als die effektstärkste linguistische Einzelvariable für die Ausbildung anderer sprachlich-kommunikativer Kompetenzen erweist (vgl. Zydatiß 2007a, 216, 267, 340 und Vockrodt- Scholz/ Zydatiß 2007, 219, 227f., 230); und zwar sowohl im Hinblick auf das mündliche Sprachkönnen und das generelle Kompetenzniveau in der Fremdsprache als auch in Bezug auf die sachfachlichen Diskurskompetenzen (wenn in der ’fremden’ Arbeitssprache Englisch unterrichtet wird). Die Fachprosa der Schulfächer ist von einer hohen lexikalischen Dichte charakterisiert, wie an der bereits erwähnten Häufung von Fachtermini, abgeleiteten Nominalisierungen, Antonymen, Wortfamilien, Konjunktionen, Satzadverbien und von Begriffen der Academic Word List deutlich wird. Gerade bei den Nominalisierungen ergibt sich für Schüler das Problem, dass diese Fügungen entweder semantisch mehrdeutig sind, oder dass ihre semantische Transparenz nicht sehr hoch ist (wer von uns kann selbst in Zeiten der Finanzkrise „Eigenkapitalrendite“ bzw. „return of equity“ korrekt definieren und erläutern? ). Andererseits ist ein Großteil des themenbezogenen Sachwortschatzes auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen Alltagssprache und wissenschaftspropädeutischer Fachsprache angesiedelt (= semi-technical language). Nominalisierungen wie transformation oder system sind vielfältig verwendbar und müssen deshalb im konkreten Kontext über diverse Schlussfolgerungen (= inferences) interpretiert und präzisiert werden, was dem Text (aus der Sicht des fachlichen Novizen) inhaltliche Unbestimmtheit oder semantische Diskontinuität verleiht (und somit eine Passage schwierig macht). In anderen Fällen ist der Sachwortschatz eines bestimmten Themas von speziellen, eher festen Wortverbindungen gekennzeichnet (etwa: wage war on someone, declare war, spark off a war oder be at war), die im Rahmen des Faches Geschichte einen hohen Transferwert haben (weil Kriege wiederkehrend besprochen werden), aber im Prinzip als Kollokationen auswendig gelernt werden müssen. Grundsätzlich soll dafür plädiert werden, die lexikalischen Schwierigkeiten des Textverstehens und des diskursiven Sprachgebrauchs nicht allein den Fachbegriffen zuzuschreiben. Es genügt nicht, das Fachvokabular in wenig behaltensfördernden (zweispra- <?page no="155"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 149 chigen) alphabetischen Glossaren zusammenzustellen. Ein fremdsprachiger Fachunterricht braucht eine gezielte textintegrative Wortschatzarbeit, der die Fachlexik auch noch nach anderen Ordnungsprinzipien strukturiert sowie systematisch festigt und umwälzt. 4.8 Das sachfachbezogene Schreiben Sowohl Vollmer (2006) als auch Zydatiß (2007a, 291-314) berichten, dass die sachfachlichen, schriftlichen Diskursleistungen von Schülern am Ende der Sekundarstufe I wenig befriedigend waren; unabhängig davon, in welcher Arbeitssprache (Deutsch oder Englisch) sie unterrichtet wurden. Defizite bei den textproduktiven, sachfachliteralen Kompetenzen dürften auch im Fall von DaZ ein Hauptgrund für eher schwache Fachleistungen von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache sein. Meines Erachtens sollte man das zweck- und adressatenbezogene Schreiben fördern, indem man den in Australien entwickelten Genreansatz der Schreiberziehung auf unsere schulischen Bedingungen adaptiert (vgl. Zydatiß 2007a, 468f.; Cope/ Kalantzis 1993). In Zu- und Einwanderungsgesellschaften sollte die genreadäquate diskursive Fachsprachlichkeit als genuine Aufgabe sachfachlichen Lernens gesehen und in den Curricula verankert werden - eine große Herausforderung für den Unterricht in multilingualen und -kulturellen Klassen (und damit auch für den DaZ-Bereich). Hier ist nicht mehr der Platz, die Umrisse eines derartigen Schreibcurriculums zu entwickeln (vgl. Zydatiß 2007a, 470); aber im Prinzip kann man sich wieder am Referenzrahmen für die Wissensstrukturen orientieren, denn Genres als soziale diskursive Prozesse folgen der Systematik der drei kognitiven Makrofunktionen der zusammenfassenden Beschreibung, der Erklärung (differenziert nach chronologischen Abläufen und nach dem Erläutern bzw. Begründen von Zusammenhängen) und der reflexiv-kritischen Bewertung bzw. Evaluation von Sachverhalten und Positionen. Das Schreiben über sachfachliche Inhalte ist ein explorativer, konstruktiver Prozess des sachbezogenen und erkenntnisfördernden Denkens, der dabei hilft, Sprache in ihrer kognitiven Funktion zu internalisieren und zu differenzieren. Damit wird für die Heranwachsenden der Grundstock gelegt, über eine funktionale Literalität an der Gesellschaft partizipieren zu können. Nach meiner Einschätzung brauchen gerade die Schüler aus weniger bildungsnahen Familien (und hier besonders die mit einem Migrationshintergrund) einen didaktisch strukturierten, bewussten Zugang zum textsortenbezogenen Schreiben. In unserer von einem hohen Grad an Literalität geprägten Gesellschaft hängt der Erfolg in Schule, Ausbildung, Beruf und/ oder Studium sehr stark mit der Kontrolle bzw. funktionalen Verfügbarkeit über fachliche und professionelle Diskursgenres zusammen. Die entsprechenden Kompetenzen dafür zu entwickeln, ist eine zentrale Bildungsaufgabe der Sprach- und der Sachfächer. <?page no="156"?> Wolfgang Zydatiß 150 5 Schlussbemerkung Die wissenschaftliche Disziplin Deutsch als Zweitsprache muss die Herausforderung annehmen, ihre Relevanz für die Didaktik der Sachfächer unter Beweis zu stellen. Die Sachfächer müssen sich umgekehrt stärker der sprachlichen Verfasstheit ihrer Gegenstände und ihrer inhaltlichen Lehr- Lernprozesse zuwenden; nicht zuletzt deshalb, weil die Unterrichtssprache an allen Schulformen für immer mehr Schülerinnen und Schüler eine Zweitsprache sein wird. Ohne die gezielte Förderung der Lesekompetenz und ohne ein systematisches Schreibcurriculum in den Sprachwie in den Sachfächern verspielen wir für nicht wenige Schüler(innen) - vermutlich weiterhin - das größte intellektuelle Pfand, das wir im Zuge unserer vielfältigen domänenspezifischen Wissenstransmission für die Gesellschaft insgesamt aufgebaut haben (Stichwort: kulturelle Evolution): die kognitive (d.h. heuristische wie epistemische) Funktion der Sprache - und dadurch wohl auch die bildenden Funktionen des Sprach- und des Sachfachunterrichts. Literatur Abuja, Gunther (Hrsg.) (1998): Englisch als Arbeitssprache. Bd. 4: Modelle, Erfahrungen und Lehrerfortbildung. Graz: Zentrum für Schulentwicklung. Abuja, Gunther/ Heindler, Dagmar (Hrsg.) (1993): Englisch als Arbeitssprache. Bd. 1: Fachbezogenes Lernen von Fremdsprachen. Graz: Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung. Bach, Gerhard/ Niemeier, Susanne (Hrsg.) (2008): Bilingualer Unterricht. Grundlagen, Methoden, Praxis, Perspektiven. Frankfurt/ M.: Lang (4. Auflage). Bonnet, Andreas/ Breidbach, Stephan/ Hallet, Wolfgang (2003): Fremdsprachlich handeln im Sachfach: Bilinguale Lernkontexte. In: Bach, G./ Timm, J.-P. (Hrsg.): Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis. Tübingen & Basel: Francke (3. Auflage), 172-196. Breidbach, Stephan (2007): Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht. Münster u.a.: Waxmann. Caspari, Daniela/ Hallet, Wolfgang/ Wegner, Anke/ Zydatiß, Wolfgang (Hrsg.) (2007): Bilingualer Unterricht macht Schule. Beiträge aus der Praxisforschung. Frankfurt/ M.: Lang. Cope, Bill/ Kalantzis, Mary (Hrsg.) (1993): The Powers of Literacy. A Genre Approach to Teaching Writing. London: Falmer. Council of Europe (2001): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, teaching, assessment. Cambridge: Cambridge University Press. Coxhead, Averil (2000): A new Academic Word List. In: TESOL Quarterly 2, 213-238. Coyle, Do (1999): Supporting students in content and language integrated learning contexts: planning for effective classrooms. In: Masih, J. (Hrsg.): Learning Through a Foreign Language. London: CILT, 46-62. Coyle, Do (2007): The CLIL quality challenge. In: Marsh, D./ Wolff, D. (Hrsg.), 47-58. Cummins, James (1978): The cognitive development of children in immersion programs. In: Canadian Modern Language Review 38, 855-883. <?page no="157"?> Parameter einer „bilingualen Didaktik“ aus der CLIL-Perspektive 151 Cummins, James (1979): Linguistic interdependence and the educational development of bilingual children. In: Review of Educational Research 49, 222-251. Dalton-Puffer, Christiane (2007a): Die Fremdsprache Englisch als Medium des Wissenserwerbs: Definieren und Hypothesenbilden. In: Caspari, D. u.a. (Hrsg.), 67-79. Dalton-Puffer, Christiane (2007b): Discourse in Content and Language Integrated Learning (CLIL) Classrooms. Amsterdam: Benjamins. Eckerth, Johannes/ Siekmann, Sabine (Hrsg.) (2008): Task-Based Language Learning and Teaching. Theoretical, Methodological and Pedagogical Perspectives. Frankfurt/ M.: Lang. Gogolin, Ingrid (2006): Bilingualität und die Bildungssprache der Schule. In: Mecheril, P./ Quehl, T. (Hrsg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster u.a.: Waxmann, 79-85. Habekost, Achim (2006): Bilingualer Unterricht Spanisch-Deutsch im Fach Chemie - Ein bifokales Unterrichtsplanungsinstrument. In: chimica didactica 30, 3, 201-220. Hallet, Wolfgang (2005): Bilingualer Unterricht: Fremdsprachig denken, lernen und handeln. In: Der fremdsprachliche Unterricht: Englisch 39, Heft 78, 2-8. Halliday, Michael A. K. (1978): Language as Social Semiotics. London: Arnold. Halliday, Michael A. K. (1985): An Introduction to Functional Grammar. London: Arnold. Halliday, Michael A. K. (1993): Some grammatical problems in scientific English. In: Halliday, M. A. K./ Martin, J. R. (Hrsg.): Writing Science. London: Falmer, 69-85. Heine, Lena (2008): Task-based cognition of bilingual learners in subject-specific contexts. In: Eckerth, J./ Siekmann, S. (Hrsg.), 203-226. Jansen O’Dwyer, Esther (2007): Two for One - Die Sache mit der Sprache. Didaktik des zweisprachigen Sachunterrichts. Bern: hep. Klieme, Eckhard u.a. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards: Eine Expertise. Frankfurt/ M.: DIPF. KMK (2006): Konzepte für den bilingualen Unterricht - Erfahrungsbericht und Vorschläge zur Weiterentwicklung. Bonn: Kultusministerkonferenz. Leisen, Josef (2003): Methoden-Handbuch Deutschsprachiger Fachunterricht (DFU). Bonn: Varus. Leisen, Josef (2005): Wechsel der Darstellungsformen. Ein Unterrichtsprinzip für alle Fächer. In: Der fremdsprachliche Unterricht: Englisch 39, Heft 78, 9-11. Lose, Jana L. (2007): The language of scientific discourse: Ergebnisse einer empirischdeskriptiven Interaktionsanalyse zur Verwendung fachbezogener Diskursfunktionen im bilingualen Biologieunterricht. In: Caspari, D. u.a. (Hrsg.), 97-107. Marsh, David/ Maljers, Anne/ Hartiala, Aini-Kristina (2001): Profiling European CLIL Classrooms: Languages Open Doors. Jyväskylä: The CLIL Compendium. Marsh, David/ Wolff, Dieter (Hrsg.) (2007): Diverse Contexts - Converging Goals: CLIL in Europe. Frankfurt/ M.: Lang. Mehisto, Peeter/ Marsh, David/ Frigols, María Jesús (2008): Uncovering CLIL: Content and Language Integrated Learning in Bilingual and Multilingual Education. Oxford: Macmillan. Met, Myriam(1991): Learning language through content: learning content through language. In: Foreign Language Annals 24, 281-295. Mohan, Bernard (1986): Language and Content. Reading/ Mass.: Addison-Wesley. Nation, Paul (2001): Learning Vocabulary in Another Language. Cambridge: Cambridge University Press. <?page no="158"?> Wolfgang Zydatiß 152 Nünning, Ansgar (2007): Bildung durch Sprache(n) und Literatur. Zur Aktualität von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 18, 2, 143-164. Portmann-Tselikas, Paul R. (2002): Textkompetenz und unterrichtlicher Spracherwerb. In: Portmann-Tselikas, P. R./ Schmölzer-Eibinger, S. (Hrsg.): Textkompetenz. Neue Perspektiven für das Lehren und Lernen. Innsbruck u.a.: StudienVerlag, 13-43. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2008): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. Tübingen: Narr. Skehan, Peter (1998): A Cognitive Approach to Language Learning. Oxford: Oxford University Press. Snow, Marguerite/ Met, Myriam/ Genesee, Fred (1989): A conceptual framework for the integration of language and content in second/ foreign language instruction. TESOL Quarterly 23, 201-217. Swain, Merrill (1985): Communicative competence: some roles of comprehensible input and comprehensible output in its development. In: Gass, Susan M./ Madden, Carolyn G. (Hrsg.) Input in Second Language Acquisition. Rowley/ Mass.: Newbury House, 235-253. Swain, Merrill/ Lapkin, Sharon (1995): Problems in output and the cognitive processes they generate: a step towards second language learning. In: Applied Linguistics 16, 3, 371-389. Vockrodt-Scholz, Viola/ Zydatiß, Wolfgang (2007): Zur Interdependenz von Englisch- und Sachfachkompetenzen im bilingualen Unterricht - ein empirischer Beitrag zur „Schwellen-Hypothese”. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2, 209-236. Vollmer, Helmut J. (2006): Fachlichkeit und Sprachlichkeit. Zwischenbilanz eines DFG-Projekts. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 17, 2, 201-244. Vollmer, Helmut J. (2008a): Constructing tasks for content and language integrated learning and assessment. In: Eckerth, J./ Siekmann, S. (Hrsg.), 227-290. Vollmer, Helmut J. (2008b): Förderung des Spracherwerbs im bilingualen Sachfachunterricht. In: Bach, G./ Niemeier, S. (Hrsg.), 131-150. Weinert, Franz E. (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen - eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert, F. E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim & Basel: Beltz, 17-31. Wildhage, Manfred/ Otten, Edgar (Hrsg.) (2003): Praxis des bilingualen Unterrichts. Berlin: Cornelsen-Scriptor. Wode, Henning (1995): Lernen in der Fremdsprache. Grundzüge von Immersion und bilingualem Unterricht. Ismaning: Hueber. Zydatiß, Wolfgang (2000): Bilingualer Unterricht in der Grundschule. Ismaning: Hueber. Zydatiß, Wolfgang (2002): Konzeptuelle Grundlagen einer eigenständigen Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts. Forschungsstand und Forschungsprogramm. In: Breidbach, S./ Bach, G./ Wolff, D. (Hrsg.): Bilingualer Sachfachunterricht. Frankfurt/ M.: Lang, 31-61. Zydatiß, Wolfgang (2005a): Chronological sequencing. Eine Methode zum integrierten Sach-Sprachlernen. In: Der fremdsprachliche Unterricht: Englisch 39, Heft 78, 50-53. Zydatiß, Wolfgang (2005b): Diskursfunktionen in einem analytischen curricularen Zugriff auf Textvarietäten und Aufgaben des bilingualen Sachfachunterrichts. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 34, 156-173. Zydatiß, Wolfgang (2007a): Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL). Eine Evaluation des bilingualen Sachfachunterrichts an Gymnasien. Frankfurt/ M.: Lang. Zydatiß, Wolfgang (2007b): Bilingualer Sachfachunterricht in Deutschland: eine Bilanz. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 36, 30-47. <?page no="159"?> Beate Lütke Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung. Der fachintegrative Ansatz im Master of Education an der Humboldt-Universität zu Berlin 1 Einleitung In der Vergangenheit wurde mehrfach die Notwendigkeit betont, den Gegenstand „Deutsch als Zweitsprache“ stärker als bisher in der Lehrerausbildung zu verankern (vgl. z.B. Barkowski 2003, 161f.; Bredel 2005, 109f.; Krüger-Potratz/ Supik 2008, 306ff.). Zudem wurde die Qualifizierung von Lehr- und Erziehungspersonal vor allem im sprachdiagnostischen Bereich gefordert (vgl. Ehlich 2005, 61; Reich 2005, 168). Im universitären Rahmen werden die Spezifika des Zweitspracherwerbs und die darauf reagierenden didaktischen Fragen hauptsächlich im Kontext von vermischten DaZ/ DaF-Lehrangeboten verortet (vgl. Krüger-Potratz/ Supik 2008, 304), ohne dass die unterschiedlichen Bedingungen des DaZ-Erwerbs - vor allem bei Kindern und Jugendlichen, die Grund- und Oberschulen besuchen - berücksichtigt werden. In der universitären Fachlehrerausbildung wurde DaZ bisher im Allgemeinen als Wahlpflichtmodul bzw. ergänzende Lehrveranstaltung für Lehramtstudierende im Rahmen des Germanistikstudiums angeboten. Die Studierenden anderer Lehramtsfächer kamen mit den Charakteristika und Herausforderungen der Schulsituation von Zweitsprachlernenden wenig in Kontakt, außer in erziehungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen mit dem Schwerpunkt interkultureller Pädagogik und Mehrsprachigkeit. 1 Eine universitäre Lehrerausbildung, die die zweitsprachspezifische Sozialisation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund mit der Perpsektive einer fachintegrativen Sprachförderung in den Blick nimmt, 2 wird aber allgemein noch als Desiderat betrachtet (vgl. Krüger-Potratz/ Supik 2008, 309). Die spezifischen Anforderungen, die eine auf die Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ausgerichtete sprach-be- 1 Einen ausführlichen Überblick zur Entwicklung und zum Stand von DaZ in der universitären Lehrerausbildung bieten Krüger-Potratz/ Supik (2008). 2 Vgl. hierzu die Hinweise der KMK, die eine „isolierte Förderung in der Zweitsprache ohne Anschluss an den übrigen (Fach-)unterricht“ als „weitgehend wirkungslos“ ansieht und die Anbindung an die Sachfächer als „entwicklungsbedürftig“ ansieht (vgl. KMK 2002, 11). <?page no="160"?> Beate Lütke 154 zogene Förderung an die fachdidaktische Ausbildung stellt, werden in den letzten Jahren - zumindest im Kontext deutschdidaktischer Literatur - verstärkt in den Blick genommen (vgl. z.B. Rösch 2005). Dabei werden u.a. schreib- und lesedidaktische Lösungsansätze mit Blick auf die Sekundarstufe diskutiert (vgl. Knapp 2007) oder die Konsequenzen unterschiedlicher Sozialisationsbedingungen für die Textrezeptionskompetenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufgezeigt (vgl. z.B. Rosebrock/ Nix 2007, 121f.). Dass eine den Kontext des Deutschunterrichts überschreitende Perspektive sinnvoll sein könnte, lässt sich mit Blick auf die PISA-Studie (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) begründen. Zu den Jugendlichen, die Probleme bei der Rezeption von kontinuierlichen und nichtkontinuierlichen Texten haben und damit der „Risikogruppe“ zugerechnet werden, gehören zu einem großen Teil Jugendliche mit Migrationshintergrund (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, 117ff.). Das Problem betrifft damit nicht nur Texte, die im Deutschunterricht relevant sind, sondern ebenso „Lehrtexte“ in den „Sachfächern“. Rosebrock/ Nix (2007) verweisen mit Blick auf die Hauptschule auf die Vorteile einer „Lesedidaktik als primäre[r] und integrierende[r] Basis aller Fächer und als Schulprogramm“ (vgl. Rosebrock/ Nix 2007, 128) und formulieren damit einen fachübergreifenden Handlungs- und Ausbildungsbedarf: „Dort, wo Lehrtexte unter textstrukturellen Fragestellungen dringend erarbeitet werden müssten, sind die Lehrkräfte nicht dafür ausgebildet und erachten das häufig auch nicht als ihre Aufgabe“ (vgl. Rosebrock/ Nix 2007, 75). In der Berliner Schule wird Sprachförderung hauptsächlich im Sinne „gestützter Submersion“ umgesetzt. Weiterhin soll Sprache aber auch integrativ als „Teilaspekt der Planung und Durchführung jeder Unterrichtsstunde in allen Fächern“ umgesetzt werden (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2007). Um dafür die ausbildungsspezifischen Voraussetzungen zu schaffen, wird an den Berliner Universitäten seit dem Wintersemester 2007/ 2008 in den Bachelorstudiengängen mit Lehramtsoption und im Master of Education ein Deutsch-als-Zweitsprache-Modul angeboten, das von den Studierenden aller Fachrichtungen absolviert werden muss. An der Humboldt-Universität ist hierfür ein spezifisches Curriculum entwickelt worden, das im Master of Education auf eine fachbezogene Sprachförderung abhebt, indem DaZ-theoretische, DaZ-diaktische und fachdidaktische Aspekte integriert werden. Dies heißt, dass neben dem theoretisch ausgerichteten Seminar „Grundlagen der Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung in der Schule“ fachorientierte Übungen angeboten werden, in denen die Studierenden an fachspezifischen Kommunikationssituationen, Lehrmaterialien und Textsorten Sprachförderkonzepte und darauf aufbauende Unterrichtsmaterialien entwickeln und diese an Kooperationsschulen im Unterricht erproben. <?page no="161"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 155 Im weiteren Verlauf dieses Beitrags werden zunächst das Deutsch-als- Zweitsprache-Bachelormodul und das -Mastermodul beschrieben und im Hinblick auf konkrete Inhalte präzisiert. In diesem Zusammenhang wird die Kooperation, die im Kontext des DaZ-Moduls zwischen der Humboldt-Universität und einzelnen Berliner Schulen teilweise in Zusammenarbeit mit dem Berliner Mercator-Projekt besteht, skizziert. Anschließend werden didaktische Modelle und methodische Orientierungen ausschnitthaft vorgestellt, die im Rahmen der Masterlehre rezipiert werden und die modifiziert oder in Einzelaspekten die Grundlage für die in den Lehrveranstaltungen entwickelten Unterrichtsmaterialien bilden. Das Ziel des an der Humboldt-Universität umgesetzten Curriculums besteht darin, eine Vernetzung universitären Lernens mit praktischer Unterrichtsarbeit herzustellen, die sich nicht nur auf die Zeit der für die Studierenden verpflichtenden Unterrichtspraktika (Berufsfelderschließendes Praktikum und zwei Unterrichtspraktika in den Lehramtsfächern) beschränkt. 2 Das Deutsch-als-Zweitsprache-Modul an der HU Berlin Das Bachelor-Grundlagenmodul und das Master-Anpassungsbzw. -Aufbaumodul bestehen an der Humboldt-Universität aus jeweils zwei Lehrveranstaltungen: einem Grundlagenseminar, das aus theoretischer Perspektive die Lernsituation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund betrachtet, und einer praktisch ausgerichteten Übung, in der die Studierenden die theoretischen Inhalte anwendungsbezogen umsetzen. Dies erfolgt im Master of Education deutlich fachbezogen, wobei fachdidaktische und zweitsprachdidaktische Komponenten in die von der Teilnehmerzahl her kleinen Übungen integriert werden. Alle Lehrveranstaltungen umfassen zwei Semesterwochenstunden und jedes Modul endet mit einer Modulabschlussprüfung. 3 2.1 Das Bachelor-Grundlagenmodul Das Deutsch-als-Zweitsprache-Bachelormodul („Grundlagenmodul“) wird im optimalen Studienverlauf von allen Bachelorstudierenden mit Lehramtsoption im Vorfeld des Berufsfelderschließenden Praktikums absolviert. Bevor die Studierenden die Modulabschlussprüfung in Form einer zentralen Klausur ablegen, besuchen sie ein Seminar zu den sprachlichen Grundlagen der Zweitsprache Deutsch und eine Übung zu Aspekten der Diagnose und Förderung. Die nachfolgenden Inhalte und Ziele sind der Modulbeschreibung entnommen: 4 „Die Absolventinnen und Absolventen … 3 Vgl. die DaZ-Modulbeschreibung unter http: / / studium.hu-berlin.de/ lust/ lehrer/ DaZ. 4 Ebenda. <?page no="162"?> Beate Lütke 156 • kennen Theorien zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache und ihre Relevanz für die Umsetzung in der Erziehungs- und Bildungsarbeit • unterscheiden zwischen DaZ als didaktischem Prinzip in allen Unterrichtsfächern und DaZ in der Lehrgangsvariante in allen Schulstufen • entwickeln diagnostische Fähigkeiten zur Feststellung lernerspezifischer Entwicklungen und kennen geeignete Umsetzungsinstrumente in verschiedenen Schulstufen sowie Feedbackverfahren zur Korrektur von Fehlern • kennen Prinzipien der Sprachaneignung (u.a. Hypothesenbildung, Monitoring, Transfer von sprachlichem Wissen) und des Sprachgebrauchs (berücksichtigen Aspekte der Mündlichkeit und Schriftlichkeit und domänenspezifische Faktoren) • kennen grammatische Besonderheiten der deutschen Sprache (z.B. Artikel, Präpositionen, Verbstellung, Deklination) und ausgewählter Minderheitensprachen • reflektieren Unterrichtskommunikation und berücksichtigen Heterogenität und Binnendifferenzierung im Unterricht, um die schriftlichen wie mündlichen Leistungen zu optimieren, z.B. durch Textentlastung, Lesestrategien • setzen sich kritisch mit DaZ- und Fachunterrichtsmaterialien hinsichtlich ihrer Einsatzmöglichkeiten auseinander.“ Im Rahmen der Übung werden die oben aufgeführten Inhalte an konkreten Lehr-Lernsituationen nachvollzogen. Dazu werden authentische Lernerdaten (Transkripte mündlicher Lernertexte, Texte zu schulischen Schreibaufgaben und Videomaterial) eingesetzt, um daran die Diagnosekompetenz der Studierenden zu entwickeln und die Spezifika von Lernersprachen zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang werden einzelne Diagnoseinstrumente betrachtet, die im schulischen Kontext, z.B. im Vorfeld der Einschulung, eingesetzt werden bzw. für den Einsatz im Fachunterricht funktional sein können. Zu den in der Übung betrachteten Diagnoseinstrumenten gehören z.B. das Erhebungsverfahren Deutsch Plus (vgl. Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport 2004), das in Berlin zur Erfassung des Sprachstandes und zur Bestimmung des Förderbedarfs im Vorfeld der Einschulung verwendet wird. Weitere Diagnoseverfahren für jüngere Lernerinnen und Lerner wie das zweisprachig angelegte Instrument HAVAS-5 (vgl. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg 2004) oder LiSe-DaZ (vgl. Schulz/ Tracy/ Wenzel 2008) werden vorgestellt und diskutiert. Für den Einsatz im Unterricht werden der C-Test (vgl. Baur/ Spettmann 2007) und die Profilanalyse (vgl. Grießhaber 2006) erprobt und reflektiert. Bei der Diagnose von mündlichen und schriftlichen Lernertexten steht die Methode der qualitativen Fehleranalyse (vgl. Ellis/ Barkhuizen 2005) im Zentrum, um auf diesem Wege zunächst Sprachprobleme zu bestimmen und diese vor dem Hintergrund zweitspracherwerbsspezifischer Kriterien zu interpre- <?page no="163"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 157 tieren. Ausgehend von Videomaterial wird im Rahmen der Übung ein Diagnosebogen entwickelt, den die Studierenden im Verlauf ihres Berufsfelderschließenden Praktikums einsetzen können. Einen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Übung bilden DaZ-spezifische Fördermodelle. Dabei stehen die in Deutschland aktuell diskutierten Förderansätze im Mittelpunkt, wobei nach länderbzw. bundesweiten Großprogrammen wie Mercator (vgl. Barzel/ Salek 2007) und FörMig (vgl. Gogolin/ Saalmann 2007) und nach unterrichtsmethodischen Orientierungen wie impliziten Förderansätzen (vgl. z.B. Hölscher 2007; Kaltenbacher/ Klages 2007) und expliziten Sprachförderkonzepten (vgl. Rösch 2003; 2005) unterschieden wird. Das Ziel besteht darin, die Studierenden für den Umgang mit mündlichen und schriftlichen Lernertexten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu sensibilisieren. Mehr ist im Rahmen zweier Lehrveranstaltungen kaum möglich. Das Wissen zur Analyse von Lernersprachen, zu Diagnoseninstrumenten und Förderkonzepten bildet die Grundlage für Entwicklung sprachsensibler fachspezifischer Lehrkonzepte im Mastermodul. 2.2 Das Master-Anpassungsbzw. -Aufbaumodul Im Mastermodul wird die Schul- und Unterrichtssituation der Berliner Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in den Blick genommen, um davon ausgehend die Funktionalität DaZ-didaktischer Modelle und fachspezifischer Unterrichtsmaterialien zu reflektieren. Die Modulbeschreibung umfasst die folgenden Inhalte und Ziele: 5 „Die Absolventinnen und Absolventen … • beurteilen und entwickeln Unterrichtsqualität unter besonderer Berücksichtigung von DaZ als didaktischem Prinzip in allen Unterrichtsfächern und von DaZ in der Lehrgangsvariante in allen Schulstufen • beurteilen Diagnoseverfahren und wenden sie zur Feststellung der Sprachentwicklung in ausgewählten Sprachaneignungsphasen an • unterscheiden zwischen Erwerbsweisen des Deutschen, kennen Zusammenhänge zwischen ungesteuertem und gesteuertem Erwerb von DaZ und verfügen über Möglichkeiten, den mündlichen und schriftsprachlichen Zweitspracherwerb unterrichtlich zu erweitern und auszubauen • berücksichtigen und nutzen Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer • vernetzen DaZ mit dem Fachunterricht und verwenden dazu authentische, unterrichtsrelevante Materialien des Fachunterrichts • planen, realisieren und evaluieren exemplarische Lehr- und Lernprozesse für sprachlich heterogene Lernergruppen unter besonderer Berücksichtigung von Binnendifferenzierung, Sprachlernprogression und der Entfaltung von Sprachbewusstheit durch angeleitete Sprachbeobachtung 5 Vgl. die DaZ-Modulbeschreibung unter http: / / studium.hu-berlin.de/ lust/ lehrer/ DaZ. <?page no="164"?> Beate Lütke 158 • kennen die Bedeutung der familiären/ außerschulischen Kommunikationspraxis und verfügen über Möglichkeiten, vor allem Eltern als Bildungspartner zu gewinnen.“ Im Zentrum stehen didaktische Modelle, die für den Fachunterricht mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund entwickelt worden sind. Hierbei werden einerseits die für den Fachunterricht mit Lernenden der Zweitsprache Englisch entwickelten Konzepte und die bisher dazu gewonnenen empirischen Erkenntnisse rezipiert (vgl. u.a. Gibbons 2006; McWilliam 2006; Echevarria/ Short/ Vogt 2007); weiterhin werden Methoden der Deutsch- und Fremdsprachendidaktik (vgl. u.a. Schmölzer-Eibinger 2008; Rösch 2005; Belke 2003) einbezogen, die im Sinne einer fächerübergreifenden Zielsetzung, aber auch im Kontext einzelner Fächer funktional sein könnten. 6 Der kompetenzspezifische Schwerpunkt liegt auf der Analyse fachsprachlicher mündlicher und schriftlicher Texte (z.B. aus aktuellen Lehrwerken) und auf schreib- und lesedidaktischen Anregungen. In den Übungen werden fachbzw. bereichsdidaktische Schwerpunkte gebildet. So werden z.B. Übungen zur Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht, im gesellschaftswissenschaftlichen Fachunterricht, im Fremdsprachen- und im Deutschunterricht, im Grundschulunterricht, im NaWi-Unterricht der Grundschule und im sonderpädagogischen Fachunterricht angeboten. Zudem gibt es eine interdisziplinäre Übung, die den Umgang mit Lehrbuchtexten in multilingualen Lerngruppen aus fächerübergeifender Perspektive thematisiert. Die curriculare Orientierung der Lehrenden des DaZ-Moduls erfolgt in Form einer HU-internen Fortbildung vor Beginn des jeweiligen Semesters. 7 In den fachspezifischen Übungen werden fachsprachliche Problemfelder an konkreten Fachtexten erarbeitet. Dazu werden Lehrmaterialien und Lernsituationen der Fächer analysiert, z.B. Lehrbuchtexte, Arbeitsformen, Aufgabenformate, fachspezifische Textsorten und Situationen mündlicher Kommunikation, und DaZ-orientierte Unterrichtsmaterialien entwickelt. Die entwickelten Materialien werden an einzelnen Kooperationsschulen semesterbegleitend erprobt. Dies sieht z.B. so aus, dass Studierende mit Lerngruppen der 8. Klasse Lehrbuchtexte des Faches Geschichte erarbeiten, wobei sie einen Schwerpunkt auf die Modifikation von Lehrmaterialien für solche Lerngruppen und die Ausbildung von Lesestratgien legen. 6 Die Auswahl der Modelle orientiert sich am jeweils aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand. 7 Die Lehrenden im DaZ-Mastermodul und in den Bachelorübungen verfügen über eine Lehramtsausbildung in zwei Fächern und über sprachdidaktisches Wissen, entweder durch eines ihrer Fächer (Deutsch oder eine Fremdsprache) oder durch ein DaF- Zusatzstudium. Damit ist die Voraussetzung für die Vermittlung eines fachintegrativen Sprachförderansatzes aus fachdidaktischer und sprachwissenschaftlicher bzw. didaktischer Sicht gegeben. <?page no="165"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 159 Neben solchen Kooperationen mit einzelnen Oberschulen, die einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aufweisen, bildet die Humboldt Universität zudem als Kooperationspartner des Mercator-Projekts Berlin Studierende zu Förderlehrerinnen und -lehrern für die Sekundarstufe II aus. Die Qualifizierung wird durch den Besuch des DaZ-Mastermoduls und die Durchführung eines der Fachpraktika an einer Mercator-Kooperationsschule erworben. 8 Die Studierenden haben also auch hier die Möglichkeit, die in der Master-Übung erworbenen Kenntnisse unterrichtspraktisch anzuwenden. 3 Didaktische Modelle zum Fachunterricht in multilingualen Lerngruppen Im Folgenden sollen kurz einzelne didaktische Modelle vorgestellt werden, die für den Unterricht in sprachlich heterogenen Lerngruppen entwickelt wurden und im DaZ-Mastermodul mit Blick auf die Berliner Situation reflektiert werden. Kniffka/ Siebert-Ott (2007) führen als ein aktuell rezipiertes Modell, das im Unterricht mit australischen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zudem empirisch erprobt wurde, das Scaffolding- Konzept von Gibbons (vgl. 2006) an und zeigen daran u.a. die Notwendigkeit, im Vorfeld von Fachunterricht eine Analyse der für die konkrete Stunde relevanten Fachsprache durchzuführen. Das Ziel dieses Konzepts besteht darin, zweitsprachspezifische Problembereiche zu antizipieren, um dann sprachliche Hilfen im Unterricht gezielt zu integrieren (vgl. Kniffka/ Siebert-Ott 2007, 111f.; Gibbons 2002, 122). Des Weiteren wird das amerikanische SIOP-Modell vorgestellt, das für den Fachunterricht in sprachlich heterogenen US-amerikanischen (ESL-) Lerngruppen 9 entwickelt wurde (vgl. Echevarria/ Short/ Vogt 2007). Das SIOP-Modell ist ein didaktisches Rahmenmodell, das die Planung, Durchführung und Evaluierung eines sprachfokussierten Fachunterrichts für eine sprachlich heterogene Schülerschaft anleitet und laut der Autorinnen in allen Fächern und auf allen Schulstufen eingesetzt werden kann. Ein weiteres kompentenzbezogenes Modell, das für den Fachunterricht mit Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache entwickelt wurde, ist das 3-Phasenmodell der Textkompetenz von Schmölzer-Eibinger 8 Hierbei handelt es sich um eine Sekundarstufe-II-spezifische Kooperation, an der nur Oberschulen mit einer gymnasialen Oberstufe und Oberstufenzentren mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund teilnehmen. 9 English as a second language-Lerner wird hier analog zu der deutschen Bezeichnung Deutsch-als-Zweitsprache-Lerner für Lernende verwendet, die die Zweitsprache ungesteuert im alltäglichen Umfeld und häufig aber auch gesteuert im institutionellen Kontext erwerben. Die Erwerbsbedingungen unterscheiden sich damit vom English as a foreign language (EFL)- oder Deutsch-als-Fremdsprache-Erwerbskontext, in dem Lerner zumeist nur im institutionellen Kontext und auf der Basis homogener Lernvoraussetzungen eine Fremdsprache erwerben. <?page no="166"?> Beate Lütke 160 (2008). Ihr Konzept zur Förderung literaler Kompetenz von Zweitsprachlernenden im Fachunterricht exemplifiziert sie an einzelnen Lerngegenständen. Neben diesen drei Modellen werden zudem kurz methodische Konzepte des integrativen Grammatikunterrichts, der Lesedidaktik und der Fremdsprachendidaktik umrissen, die ebenfalls im Kontext der Masterübungen rezipiert werden, weil sie fachübergreifend einsetzbar sind. 3.1 Sheltered Instruction Observation Protokoll SIOP, die Abkürzung für Sheltered Instruction Observation Protocol, bezeichnet einen konsequent operationalisierten Planungs-, Durchführungs- und Evaluierungsrahmen für Fachunterricht in ESL-Lerngruppen. Unter sheltered instruction wird eine sprachsensible Instruktion verstanden, die an den sprachlichen und fachlichen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler ansetzt und gezielt sprachliche Hilfen gibt. Der Ansatz basiert darauf, dass sowohl inhaltliche als auch sprachliche Lernziele in Orientierung an den geltenden Bildungsstandards gleichberechtigt definiert und in der Lerngruppe präsentiert werden. SIOP bietet dazu einen Planungsrahmen, der genau vorgibt, welche 30 Punkte bei der Planung, Durchführung und Evaluierung zu beachten sind (vgl. Echevarria/ Short/ Vogt 2007, 222ff.). Das Konzept wurde nach Angaben der Autorinnen zwischen 1996 und 1999 empirisch überprüft und soll in den Gruppen, die nach SIOP unterricht wurden, im Vergleich zur Kontrollgruppe zu signifikant besseren Ergebnissen im schriftsprachlichen Bereich geführt haben (vgl. Echevarria/ Short/ Vogt 2007, 239f.). Die Lernzieloperationalisierung des Modells bietet in behaviouristischer Konsequenz und der differenzierten Betrachtung der vielfältigen Faktoren, die Unterricht bestimmen, einen kleinschrittigen Beobachtungsrahmen, der für Lehramtsstudierende viele Orientierungspunkte bieten kann, aber in seiner Enge auch äußerst kritisch reflektiert werden muss. Die methodischen Vorschläge für die Förderung literaler Kompetenz in ESL-Lerngruppen, z.B. zur Förderung von Lesestrategien, bieten jedoch nützliche Hinweise, z.B. im Hinblick auf eine gelenkte Erstrezeption von Lehrtexten und deren „Entlastung“. Zudem gibt der Planungsrahmen u.a. Hilfen, welche Bereiche der Fachsprache im Vorfeld des Unterrichts für die Stundenplanung Beachtung finden sollten. 10 10 Neben der fachintegrativen Sprachförderung werden die Schülerinnen und Schüler zudem in ESL-Kursen gezielt in den grammatischen Bereichen gefördert, die nicht integrativ im Fachunterricht thematisiert werden können. <?page no="167"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 161 3.2 Scaffolding Ein zweiter Ansatz, der den Studierenden im Kontext des DaZ-Moduls vorgestellt wird, ist das Scaffolding-Konzept von Gibbons (vgl. Gibbons 2002). Gibbons Untersuchung zu naturwissenschaftlichem Fachunterricht in einer australischen ESL-Lerngruppe führt zu Erkenntnissen, wie durch eine sprachfokussierte Reflexion und einen gezielten Einsatz von Lehrersprache die Entwicklung von fachsprachlicher Kompetenz gefördert werden kann (Gibbons 2006). Auch dieser Ansatz setzt an den sprachlichen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler an und lässt die Fachsprachenanalyse in die Unterrichtsplanung einfließen. Konzeptionell mündliche Äußerungen werden durch eine gezielte Eingabe fachsprachlicher Strukturen weiterentwickelt, um langfristig den Aufbau konzeptionell schriftsprachlicher Kompetenz zu unterstützen. Ein besonderer Fokus liegt auf der konsequenten Einbindung schriftlicher Aufgaben, die die Lernenden zu einer immer stärker dekontextualisierten Realisierung einer Sachdarstellung hinleiten. Der aus der Gesprächsforschung übernommene Begriff des Scaffolding bezeichnet dabei das (fach-)sprachliche Gerüst, das den Lernenden durch die Lehrkraft zur Verfügung gestellt wird und über das die Entwicklung zu einer ausgeprägteren konzeptionellen Schriftlichkeit erfolgt. Für einen sprachintegrativen Fachunterricht ist dieser Ansatz deshalb interessant, weil er Hinweise bietet, wie über eine reflektierte Lehrersprache fachsprachliche Kompetenz gefördert werden kann. Wie bei SIOP wird das Fachthema auch als Sprachthema vorbereitet. Der Ansatz betont zudem das Potential der Kleingruppenarbeit, in der die Lernenden zunächst die eigenen Sprachressourcen aktivieren, um ihr sprachliches und fachliches Vorwissen zu aktivieren, bevor ein daran ansetzendes lehrerinitiiertes Feedback erfolgt. Dabei wird in beiden Modellen auch der Verwendung der Erstsprache zur Klärung inhaltlicher und sprachlicher Fragen Raum gegeben. 3.3 Das 3-Phasenmodell der Textkompetenz Ein drittes Modell, das den Fokus auf die Entwicklung literaler Kompetenz legt, räumt ebenfalls dem kooperativen Lesen und Schreiben einen hohen Stellenwert ein. Schmölzer-Eibinger definiert als Ziel einer literalen Didaktik, dass „Zweitsprachlernende (…) dazu befähigt werden, sich in der Welt der Texte zu orientieren und Texte lesen, verstehen, diskutieren, schreiben und als ein Instrument des Lernens nutzen können“ (Schmölzer-Eibinger 2008, 178). Ein Merkmal dieses Ansatzes besteht in Form eines „integrierte[n] Sprach- und Sachcurriculums“, womit die fächerübergreifende Perspektive dieses Ansatzes deutlich wird (Schmölzer-Eibinger 2008, 193). Die drei Phasen ihres „3-Phasen-Modells der Textkompetenz“ umfassen: 11 11 Sie verdeutlicht das Modell an einem Unterrichtsbeispiel für die 6. Klassenstufe zum Thema „Städte im Mittelalter“ (Schmölzer-Eibinger 2008, 193ff.). <?page no="168"?> Beate Lütke 162 1) die Phase der Wissensaktivierung, in der Gedanken und Assoziationen der Lernenden zum Fachthema über eine breite Phase assoziativen Schreibens und Sprechens angeregt werden, 2) die Phase der Arbeit an Texten, vornehmlich über produktive Verfahren, wie die Ergänzung von Textfragmenten und Lückentexten oder die Wiedergabe gelesener Texte in unterschiedlichen Realisierungsformen, 3) die Phase der Texttransformation, in der Texte aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und in neue Kontexte transferiert werden. Dies erfolgt über verschiedene Lese- und Schreibaufgaben, die zumeist in kooperativen Arbeitsformen umgesetzt werden. 4 Orientierung an Methoden des integrativen Grammatikunterrichts Die Deutschdidaktik bietet im sprachdidaktischen Bereich methodische Anregungen, die einer fachintegrativen Sprachförderung dienlich sein können. So kann z.B. an fachsprachlichen Strukturen Sprachbewusstheit erzeugt werden, wenn Irritationen oder Probleme bei der Produktion oder Rezeption solcher Strukturen auf Schülerseite zu beobachten sind. Verfahren der Distanzierung, Dekontextualiserung und Deautomatisierung (vgl. Bredel 2007, 23f.) können situativ eingesetzt werden, um vom Fachlichen auf das Sprachliche zu wechseln. Dort können systematisch für das Inhaltsverstehen wesentliche Sprachbereiche geklärt und Strategien zur Selbsthilfe angeleitet werden. Hier bietet die Fachsprache einen authentischen Kontext, um problematische Sprachbereiche induktiv oder deduktiv zu thematisieren und in ihrer innersprachlichen und über die Sprache hinausweisenden Funktion zu klären. 5 Orientierung an schreib- und lesedidaktischen Positionen Die unter 1. bis 3. umrissenen Konzepte weisen einer systematischen und kleinschrittig angelegten Einbindung von Phasen der Textproduktion im Unterricht eine besondere Bedeutung zu. Schmölzer-Eibinger (2008) schlägt z.B. vor, Vorwissen zu einem Sachthema zunächst über assoziatives Schreiben zu aktivieren (Schmölzer-Eibinger 2008, 195). Dieser Vorschlag ist ein Beispiel dafür, dass Unterrichtsphasen, die im Unterricht häufig mündlich durchlaufen werden, nach Vorschlag der drei vorab skizzierten Modelle verstärkt schriftsprachlich umgesetzt werden sollten. Für diese Orientierung bieten alle drei Konzepte vielfältige Beispiele in verschiedenen Phasen des Unterrichts. Aus deutschdidaktischer Sicht werden damit Methoden der prozessorientierten Schreibdidaktik (vgl. Böttcher/ Becker-Mrotzek 2007) eingesetzt. In einer prozessorientierten Schreibdidaktik rücken schriftliche Teilprozesse <?page no="169"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 163 in den Blick. Diese können mit Blick auf DaZ-Schülerinnen und -Schüler als Stadien auf dem Weg von konzeptionell mündlichen zu konzeptionell schriftsprachlichen Texten angelegt werden. Auch die im Kontext prozessorientierter Schreibdidaktik entwickelten Methoden des kooperativen Schreibens (vgl. z.B. Böttcher/ Becker-Mrotzek 2006, 44ff.) bieten Möglichkeiten, an den sprachlichen und inhaltlichen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler anzusetzen und zunächst in der Kleingruppe - ggf. auch in der Erstsprache - Inhalte und Texte erarbeiten zu lassen. Sprachliche Hilfen können sich dabei an den sprachlichen Voraussetzungen der Lerngruppe orientieren. Lesedidaktische Orientierungen können im Sinne einer fächerübergreifenden Lesedidaktik (vgl. Rosebrock/ Nix 2007) z.B. Verfahren zur Entwicklung von Leseflüssigkeit auf hierarchieniedrigen Leseprozessebenen in den Fachunterricht integrieren, ein fächerübergreifendes Lesestrategietraining umsetzen und Methoden zur Unterstützung des Verstehens globaler Strukturen von Fachbzw. Lehrtexten anleiten (vgl. Rosebrock/ Nix 2007, 39f, 82f.). 6 Fremdsprachdidaktische Orientierungen Die Fremdsprachendidaktik bietet vielfältige methodische Möglichkeiten für eine fachintegrative Sprachförderung, die hier nicht alle angesprochen werden können. Zu den bisher für DaZ-Lernende empfohlenen Verfahren gehören das generative Schreiben (vgl. Rösch 2005, 80f.), Verfahren zur mündlichen Fehlerkorrektur (vgl. Rösch 2007, 192) oder zum Einüben von sprachlichen Strukturen (vgl. Belke 2003, 848) u.v.m. Zudem bietet der Fremdsprachenunterricht Möglichkeiten, über die kontrastive Gegenüberstellung fremdsprachlicher mit deutschen Strukturen Bewusstheit für die Form und Funktion der deutschen Struktur zu entwickeln (vgl. Rösch 2005, 83). 7 Fazit Die vorab skizzierten Konzepte nennen einzelne Aspekte, die für das Curriculum des DaZ-Mastermoduls an der Humboldt Universität Berlin richtungsweisend sind. Ein Ziel der fachorientierten Übungen besteht in der langfristigen Erarbeitung DaZ-spezifischer fachdidaktischer Konzepte, die für die Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen anwendbar sind und außerdem perspektivisch die Erfordernisse der verschiedenen Schulstufen berücksichtigen sollen. Eine Hilfe für die Entwicklung solcher fachspezifischer Konzepte bietet die praktische Erprobung der Materialien im Unterricht. Eine empirische Evaluierung der dahinter stehenden Konzepte wäre perspektivisch wünschenswert. <?page no="170"?> Beate Lütke 164 An der Humboldt-Universität werden dazu sukzessive Kooperationen mit den einzelnen Fachdidaktiken aufgebaut. Die vorab skizzierten Ausführungen zu zweitsprachdidaktischen Modellen und zu fächerübergreifenden methodischen Orientierungen führen m.E. zu Ideen, die für die Planung von Fachunterricht in multilingualen Lerngruppen eine Orientierungshilfe sein können und den Abschluss dieses Beitrags bilden sollen: 1) Der Anspruch auf einen sprachfördernden Fachunterricht muss konsequenterweise mit mehr Zeit zur Einbindung mündlicher und vor allem schriftlicher Zwischenstufen einhergehen, in der das (wiederholte) Rezipieren und Produzieren mündlicher und schriftlicher fachsprachlicher Texte möglich wird. 2) Eine verstärkte systematische Einbettung kooperativer Lernformen beim Lesen und Verfassen von Texten im Fachunterricht unterstützt Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bei der Aktivierung von für das Verstehen fachsprachlicher Texte notwendigem fachlichem und sprachlichem Vorwissen. 3) Ein reflektierter Einsatz von Lehrersprache kann die Entwicklung von konzeptionell schriftsprachlichen Strukturen gezielt unterstützen. 4) Für das Rezipieren und Produzieren von mündlichen und schriftlichen (Lehr-)Texten im Fachunterricht mit multilingualen Lerngruppen erscheint die interdisziplinäre Einbindung von Methoden der Lese-, Schreib- und Fremdsprachendidaktik sinnvoll. 5) Die in weiten Teilen noch gänzlich ausstehende Entwicklung fachspezifischer DaZ-didaktischer Konzepte könnte ein vernetztes sprachliches und fachliches Lernen unterstützen. Literatur Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2007): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach. Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2008): Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Freiburg i.Br.: Fillibach. Ahrenholz, Bernt/ Oomen-Welke, Ingelore (2008) (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Barkowski, Hans (2003): Zweitsprachenunterricht. In: Bausch, K.-R./ Christ, H./ Krumm, H.-J. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Francke, 157-163. Barzel, Doreen/ Salek, Agnieszka (2007): Bessere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das Projekt „Förderunterricht“ der Stiftung Mercator. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 205-214. <?page no="171"?> Deutsch-als-Zweitsprache in der universitären Lehrerausbildung 165 Baur, Rupprecht S./ Spettmann, Melanie (2007): Screening - Diagnose - Förderung: Der C-Test im Bereich DaZ. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 95-110. Belke, Gerlind (2003): Methoden des Sprachunterrichts in multilingualen Lerngruppen. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (2003): Didaktik der deutschen Sprache. Band 2. Paderborn usw.: Ferdinand Schöningh, 840-853. Böttcher, Ingrid/ Becker-Mrotzek, Michael (2006): Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen. Berlin: Cornelsen Scriptor. Bredel, Ursula (2005): Sprachstandsmessung - Eine verlassene Landschaft. In: Ehlich, K. (Hrsg.): Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 78-119. Bredel, Ursula (2007): Sprachbetrachtung und Grammatikunterricht. Paderborn usw.: Ferdinand Schöningh. Deutsches PISA-Konsortium (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen. Echevarria, Jana/ Short, Deborah J./ Vogt, MaryEllen (2008): Making content comprehensible for English learners. The SIOP Model. Boston, New York usw.: Pearson. Ehlich, Konrad (2005): Sprachaneignung und deren Feststellung bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund: Was man weiß, was man braucht, was man erwarten kann. In: Ehlich, K. (Hrsg.): Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 11-75. Ellis, Rod/ Barkhuizen, Gary (2005): Analysing learner language. Oxford: Oxford University Press. Gibbons, Pauline (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register. In: Mecheril, P./ Quehl, T. (Hrsg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster usw.: Waxmann, 269-290. Gibbons, Pauline (2002): Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom. Portsmouth, NH: Heinemann. Goglin, Ingrid/ Saalmann, Wiebke (2007): Das Modellprogramm FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund): Konzept und Beispiel aus der Praxis im Länderprojekt Sachsen. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 187- 204. Grießhaber, Wilhelm (2006): Lernende unterstützen: die Profilanalyse als didaktisch nutzbares Werkzeug der Lernersprachenanalyse. [http: / / spzwww.uni-muenster.de/ ~griesha/ pub/ tlernendeunterstuetzen06.pdf]. (02.12.2009). Hölscher, Petra (2007): Lernszenarien. Sprache kann nicht gelehrt, sondern nur gelernt werden. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 151-167. Kaltenbacher, Erika/ Klages, Hana (2007): Deutsch für den Schulstart: Zielsetzungen und Aufbau eines Förderprogramms. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 135-150. <?page no="172"?> Beate Lütke 166 KMK (Hrsg.): Bericht „Zuwanderung“. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.05.2002. [http: / / www.kmk.org/ doc/ publ/ zuwander.pdf]. (Stand: 04.11.2008). Knapp, Werner (2007): Förderunterricht in der Sekundarstufe. Welche Schreib- und Lesekompetenzen sind nötig und wie kann man sie vermitteln? In: Ahrenholz, B. (Hrsg.) (2007): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 247-264. Kniffka, Gabriele/ Siebert-Ott, Gesa (2007): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und Lernen. Paderborn usw.: Ferdinand Schöningh. Krüger-Potratz, Marianne/ Supik, Linda (2008): Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 298-311. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (2004): HAVAS-5. Hamburg. McWilliam, Norah (2006): Reich ist die Schrift. In: Mecheril, P./ Quehl, T. (Hrsg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster usw.: Waxmann, 291-314. Mecheril, Paul/ Quehl, Thomas (Hrsg.) (2006): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster usw.: Waxmann. Reich, Hans H. (2005): Forschungsstand und Desideratenaufweis zu Migrationslinguistik und Migrationspädagogik für die Zwecke des „Anforderungsrahmens“. In: Ehlich, K. (Hrsg.): Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 121-169. Rösch, Heidi (Hrsg.) (2003): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung, Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Unterrichtspraxis Grundschule: Deutsch. Braunschweig: Schroedel. Rösch, Heidi (Hrsg.) (2005): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel. Rösch, Heidi (2007): Fachdidaktik und Unterrichtsqualität im Bereich Deutsch als Zweitsprache. In: Arnold, K.-H. (Hrsg.): Unterrichtsqualität und Fachdidaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 177-204. Rosebrock, Cornelia/ Nix, Daniel (2007): Grundlagen der Lesedidaktik und einer systematischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Schulz, Petra/ Tracy, Rosemarie/ Wenzel, Ramona (2008): Linguistische Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache (LiSe - DaZ): Theoretische Grundlagen und erste Ergebnisse. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Freiburg i.Br.: Fillibach, 17-41. Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport (2004): Deutsch Plus. Diagnoseinstrument zur Feststellung des Sprachstands vor dem Eintritt in die Schule. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (2007): [http: / / www.berlin.de/ sen/ bildung/ foerderung/ sprachfoerderung/ daz.html]. (02.12.2009). Schmölzer-Eibinger, Sabine (2008): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. Tübingen: Gunter Narr. <?page no="173"?> Tanja Tajmel DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 1 Einleitung Die Mathematik und die Naturwissenschaften gelten als jene Fächer, die sprachunabhängiger sind als andere Fächer: Mathematik verstehe man auch ohne Sprache, die Symbole und Formeln in den Naturwissenschaften seien universell. Es ist richtig, dass Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, die an deutschen Universitäten und Forschungsinstituten arbeiten, nicht notwendigerweise Deutsch schreiben oder sprechen können müssen. Ihr Beruf verlangt ein fachsprachliches Englisch, wobei grammatische Korrektheit oder Stilfragen zumeist der pragmatischen Funktion der Sprache untergeordnet sind. Vergleicht man die Situationen der im Beruf stehenden Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nicht deutscher Herkunftssprache mit jener von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher Herkunftssprache, so gibt es zwei wesentliche Unterschiede: den Ersteren wurde bereits naturwissenschaftliche Bildung vermittelt (dies offenbar erfolgreich und bevor sie nach Deutschland kamen), den anderen wird sie erst vermittelt (auf Deutsch, was nicht ihre Erstsprache ist). Für die einen ist deutsche Sprachkompetenz nicht erfolgsrelevant, für die anderen ist sie notwendig für einen Schulabschluss. Fachsprache und Unterrichtssprache sind also zwei unterschiedliche Sprachvarietäten: die Unterrichtssprache ist nicht die Fachsprache, sondern die Sprache auf dem Weg zum Fach (Leisen 1998). Der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht ist somit nicht von Sprache unabhängiger als jeder andere Unterricht auch. Fragt man Physiklehrerinnen und -lehrer, ob sie sich vorstellen können, Sprachförderung in ihren Unterricht zu integrieren, entsteht zuweilen der Eindruck eines Identitätskonflikts, der damit heraufbeschworen wird, nämlich, dass man doch Physiklehrer, und kein Deutschlehrer sei. Die vermeintliche Ferne der naturwissenschaftlichen Fächer von Sprache und im Gegensatz dazu die vermeintliche Nähe des Faches Deutsch zu Sprache beruht vermutlich auf den folgenden Annahmen: dass im Deutschunterricht Deutsch gelernt wird und dass Sprachvermittlung in erster Linie Grammatikvermittlung ist, also in hohem Maße metalinguistisches Wissen verlangt. Da die meisten Naturwissenschaftslehrkräfte zwei naturwissenschaftliche Fächer bzw. Mathematik unterrichten und nur in seltenen Fällen Deutsch oder eine Sprache als Zweitfach haben, liegt eine intensivere Auseinandersetzung mit Grammatik zumeist bis in die eigene Schulzeit zurück. Die Unsicherheit der <?page no="174"?> Tanja Tajmel 168 Lehrkräfte, was von ihnen verlangt wird, wenn sie Sprachförderung in den Fachunterricht einbeziehen sollen, ist somit nachvollziehbar. Nichts desto trotz besteht dieser Anspruch und es gilt, Konzepte zu finden, um DaZ in den naturwissenschaftlichen Fachunterricht erfolgreich zu integrieren. Dazu werden in diesem Beitrag die folgenden Fragen behandelt: • Warum soll sich der naturwissenschaftliche Fachunterricht mit DaZ beschäftigen? • Aus welchen Gründen wurde bis dato keine Sprachförderung in den Fachunterricht eingebunden? • Welche Bedingungen sind notwendig, damit Sprachförderung in den Fachunterricht eingebunden wird? • Wie kann DaZ im naturwissenschaftlichen Unterricht realisiert werden? Ich werde im Folgenden Argumente anführen, warum Sprachförderung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit darstellt. Ausgehend vom Ansatz des allgemeinen Rechts auf Bildung werde ich den Fokus auf fachspezifische Probleme lenken und dabei der Komponente Lehrkraft einen besonderen Stellenwert einräumen. Solange Lehrerinnen und Lehrer nicht davon überzeugt sind, dass sprachfördernder Unterricht auch besserer Fachunterricht ist, werden die erfolgsversprechendsten Sprachlernmethoden vermutlich nicht zum Einsatz kommen. Ich werde drei Hypothesen aufstellen, unter welchen Bedingungen Sprachförderung von Naturwissenschaftslehrkräften in den naturwissenschaftlichen Unterricht integriert werden könnte und davon ausgehend Lösungsansätze vorstellen. Abschließend stelle ich Beispiele für sprachfördernde Unterrichtsmaterialien für das Fach Physik vor, welche von Naturwissenschaftslehrinnen und -lehrern in Zusammenarbeit mit DaZ-Fachleuten am Institut für Physik der Humboldt-Universität Berlin entwickelt und in Schulen erprobt wurden. 2 Gründe für DaZ im Fachunterricht 2.1 Chancengleichheit In §2 Abs. 1 des Schulgesetzes für Berlin ist das Recht auf Bildung und Erziehung folgendermaßen formuliert: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identität und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten.“ (SenBJS 2004). Diesem Postulat der Chancengleichheit zufolge ist es nicht rechtens, den Zugang zu Bildung, also die Teilnahmemöglichkeit am Unterricht, davon abhängig zu machen, ob ein Schüler oder eine Schülerin über entsprechende Deutschkenntnisse verfügt. Für den Unterricht kann daraus abgeleitet werden, dass Schülerinnen und <?page no="175"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 169 Schüler aufgrund der Tatsache, dass Deutsch ihre Zweitsprache ist, keine Nachteile erfahren dürfen. Dies gilt vor allem für den Pflichtschulbereich. Mit der Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder der Schule zu überantworten, übernimmt die Schule die Pflicht, für einen diskriminierungsfreien Bildungszugang zu sorgen. Dass dies nicht im erforderlichen Ausmaß gelingt, zeigt die Unterbzw. Überrepräsentanz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den unterschiedlichen Schulformen und Bildungsabschlüssen ebenso wie in den Schulleistungsstudien. Manfred Prenzel resümiert die Ergebnisse der letzten PISA-Erhebung in Bezug auf Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund folgendermaßen: „Auch im Bereich der Naturwissenschaften finden sich in vielen Staaten (weiterhin) große Kompetenzunterschiede zwischen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. … Besonders stark ausgeprägt sind diese Unterschiede in Deutschland und in Belgien.“ (Prenzel 2007). Hätten alle denselben Zugang zu Bildung, wäre in allen Bereichen eine Verteilung der gesellschaftlichen Gruppen entsprechend der Proportion in der Gesamtbevölkerung zu erwarten. Ist dies nicht der Fall, kann davon ausgegangen werden, dass die unterschiedlichen Gruppen nicht über die gleichen Bildungschancen verfügen. Die unterrepräsentierte Gruppe erfährt also Benachteiligung. Eine Analyse der benachteiligenden Faktoren zeigt im Wesentlichen drei Bereiche an Barrieren auf: sprachliche, kulturelle und institutionelle (Tajmel et al. 2009a). Die genannten Barrieren sind hier im Gegensatz zum weit verbreiteten defizitorientierten Ansatz nicht als Defizite seitens der Schülerin oder des Schülers zu verstehen, sondern als Defizite der Schule bzw. des Unterrichts. Sprachliche Barrieren ergeben sich demzufolge aus der mangelnden Berücksichtigung des Sprachstands des Schülers oder der Schülerin im Unterricht und nicht aus den unzureichenden Kompetenzen der Schülerin in der Unterrichtssprache. Kulturellen Barrieren ergeben sich aus der Erwartung und Bevorzugung eines bestimmten kulturellen Habitus (Bourdieu 1992, Gogolin 1994) von Seiten der Schule und nicht aus der kulturellen Diversität der Schülerschaft. Institutionelle Barrieren ergeben sich aus der sozialen Konstruktion von ethnischen Minderheiten in der Institution Schule und damit zusammenhängenden Bereichen, wie etwa die Definition von Sprachkompetenz (einseitig deutschsprachig) oder die Rolle ethnischer Indikatoren bei grundsätzlichen Entscheidungen wie Schulüberweisungen (Buckow 1996). Neben dem defizitorientierten Ansatz gibt es eine weitere weitverbreitete Meinung, die den Fachunterricht von seiner Verpflichtung, die sprachliche Heterogenität zu berücksichtigen, zu entbinden scheint, nämlich, dass das „Problem“ ohnehin für alle Fächer und insgesamt gelöst wäre, wenn alle Kinder vor Schuleintritt ausreichend Deutsch lernen würden. Die Sprachförderung wäre somit Aufgabe der vorschulischen Einrichtungen bzw. der Eltern. Abgesehen davon, dass ein Kind mit bestimmten sprachlichen Regis- <?page no="176"?> Tanja Tajmel 170 tern erst in der Schule und im Fachunterricht konfrontiert wird, ist dies nicht realisierbar: In dieser Annahme wird von einer Homogenität ausgegangen, die ihrer Entsprechung in der Realität entbehrt, nämlich davon, dass alle Kinder mit Migrationshintergrund eine ähnliche Biographie haben und schon in Deutschland geboren wurden. Tatsächlich ist jedoch das einzige, was Kinder mit Migrationshintergrund gemeinsam haben, das Faktum, dass sie oder ihre Eltern in einem andern Land geboren wurden als sie jetzt leben. Die wahrgenommene Homogenität bezieht sich auch auf den vermeintlich „schwachen sozio-ökonomischen Hintergrund“ der Familien und damit einhergehend auf eine Zuschreibung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu einem bestimmten Milieu, dem eine gewisse „Bildungsferne“ attestiert wird. Es wird angenommen, dass Kinder aus diesem Milieu von ihren Eltern in ihrer Bildung nicht unterstützt werden. Zwar gilt diese Annahme auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund, letztere werden jedoch im Gegensatz zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund als heterogene soziale Gruppe wahrgenommen (Weber 2003). Der schwache sozioökonomische Hintergrund wird auch von Lehrkräften häufig als Ursache für schlechten Bildungserfolg genannt (Tajmel 2009b). Dabei stellt sich die grundlegende Frage, warum ein schwacher sozio-ökonomischer Hintergrund in einem offenen Schulsystem überhaupt eine Ursache für mangelhaften Bildungserfolg sein kann. Offenbar wird diesem sozio-ökonomischen Hintergrund auch eine gewisse milieubedingte Bildungsferne zugeschrieben und/ oder davon ausgegangen, dass es für Schulerfolg unerlässlich sei, außerschulische Unterstützung „ankaufen“ zu können (wie etwa Nachhilfeunterricht). Beides widerspricht dem Prinzip der Chancengleichheit, nämlich der Unabhängigkeit von der wirtschaftlichen Stellung der Erziehungsberechtigten. Zweifelsohne wäre es gleichsam erfreulich wie wünschenswert, wenn Eltern Interesse am schulischen Erfolg ihrer Kinder aufwiesen und auch private Maßnahmen setzten, um den Bildungsprozess zu unterstützen. Die Schule kann darauf jedoch nicht zählen, nicht zuletzt deshalb, weil die Eltern selbst über unterschiedliche Bildungsbiographien verfügen und letztlich häufig selbst Leidtragende ungleicher Bildungschancen sind. Bildungserfolg darf daher nicht von der Unterstützung der Eltern abhängig gemacht werden, wenn das Prinzip der Chancengleichheit nicht verletzt werden soll. Für jene für den Schulerfolg notwendige Sprachkompetenz in der Unterrichtssprache muss also innerhalb des Bildungssystems gesorgt werden. Inwieweit dies den Fachunterricht betrifft, werde ich im Folgenden auszuführen versuchen. 2.2 Rahmenlehrpläne In Bezug auf Sprachförderung und Rahmenlehrpläne äußern Lehrkräfte zumeist Bedenken in der Hinsicht, dass sie damit ausgelastet wären, die Rahmenlehrpläne zu erfüllen und somit keine Zeit für Sprachförderung bliebe. Der vermeintliche Widerspruch „Lehrplanerfüllung oder Sprachför- <?page no="177"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 171 derung“ ist jedoch in den Rahmenlehrplänen so nicht zu finden. Im Gegenteil: Es finden sich explizite Hinweise darauf, dass die Schülerinnen und Schüler bestimmte sprachliche Kompetenzen erwerben und Sprachfunktionen anwenden sollen. So sind im Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Naturwissenschaften in der Grundschule (SenBJS 2006a) unter 5.2.4 Körper- Gesundheit-Entwicklung folgende Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler angeführt (fett gedruckt die Sprachfunktionen): • Wahrnehmungsleistung der Sinnesorgane untersuchen und beschreiben • Schallentstehung und -ausbreitung erläutern • Zusammenhang zwischen Struktur und Fuktion am Modell erklären • Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung für die Gesunderhaltung aus Medien erschließen und beschreiben • Strategien zur Abwehr von Suchtverhalten miteinander diskutieren und beurteilen Im Rahmenlehrplan für Physik, Sekundarstufe 1 wird die Kommunikation neben Fachwissen, Erkenntnisgewinnung und Bewertung als Teil der naturwissenschaftlichen Handlungskompetenz angeführt: „Die Fähigkeit zu adressatengerechter und sachbezogener Kommunikation unter Einbeziehung geeigneter Medien ist ein wesentlicher Bestandteil naturwissenschaftlicher Grundbildung. Dazu ist eine sachgemäße Verknüpfung von Alltags- und Fachsprache erforderlich.“ (SenBJS 2006b). Es stellt sich also vielmehr die Frage, inwieweit der Rahmenlehrplan als erfüllt gelten kann, wenn bestimmte, für die naturwissenschaftliche Grundbildung notwendige Sprachfunktionen nicht vermittelt wurden. Fachlehrerinnen und -lehrer erwarten von den Schülerinnen und Schülern, dass sie „die Sprache schon können“ und meinen damit vermutlich einen altersgemäß ausgebildeten Sprachstand. Der Sprachstand im Deutschen ist bei DaZ-Schülerinnen und -Schülern in den meisten Fällen nicht altersgemäß ausgebildet (Rösch 2005), da Sozialisationsfaktoren wie die sprachliche Umgebung und die Gelegenheit zum Deutschsprechen sich wesentlich von jenen deutschsprachiger Kinder unterscheiden. In den Lehrplänen für Grundschule und Sekundarstufe 1 finden sich keine Hinweise darauf, dass der Unterricht auf eine Schülerschaft mit altersgemäß ausgebildetem Sprachstand im Deutschen ausgerichtet sein soll. Im Lehrplan für die Grundschule wird die Alltagssprache als Basis gesehen, von welcher ausgegangen werden soll, mit explizitem Hinweis auf DaZ-Schülerinnen und Schüler: „Ausgangspunkt ist die Alltagssprache der Schülerinnen und Schüler, aus der sich mit zunehmenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen eine alters- und sachangemessene Nutzung von Fachsprache herausbildet. Dabei sind die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen.“ (SenBJS 2006-1, S.23). Die Berücksichtigung des Sprachstandes der Schülerinnen und Schüler im Deutschen und die Einbeziehung bestimmter Sprachfördermethoden, die <?page no="178"?> Tanja Tajmel 172 dem Erwerb der erforderlichen Sprachfunktionen als Teil der naturwissenschaftlichen Grundbildung dienen, muss somit als notwendiger Beitrag zur Erfüllung des Rahmenlehrplans gesehen werden. 2.3 Leistungsbeurteilung Lehrerinnen und Lehrer haben eine gewisse Erwartung an eine Schülerantwort. Nach diesen Erwartungen beurteilen sie die Leistung. Welchen Einfluss die sprachliche Form auf die fachliche Leistungsbeurteilung haben kann, wird an folgendem Beispiel illustriert: Schülerinnen und Schülern einer 8. Klasse wurde ein Foto eines Baumstamms vorgelegt. Neben dem Foto stand ein kurzer Text: „Der Baumstamm ist so schwer, dass nicht einmal fünf starke Menschen ihn heben können.“ Darunter die Frage: „Schwimmt dieser Baumstamm, oder geht er unter? Bitte begründe deine Entscheidung.“ Die Schülerinnen und Schüler sollten ankreuzen und ihre Entscheidung schriftlich begründen. Im Unterricht wurde der Begriff Dichte noch nicht behandelt, sie konnten also nicht damit begründen, dass ein Körper mit größerer Dichte sinken, einer mit kleinerer Dichte schwimmen würde. Die Antwort einer Schülerin russischer Herkunftssprache ist an Abb. 1 dargestellt: Abb. 1: Originaltext einer Schülerin russischer Herkunft, 8. Klasse. Der Baumstamm schwimmt, weil … „das haub baum aus Holz entschteht.“ In der zweiten Aufgabe sollte sie beantworten, ob und warum eine Metallplatte schwimmt oder untergeht (Abb. 2). Abb. 2: Originaltext einer Schülerin russischer Herkunft, 8. Klasse. Eine Metallplatte geht unter, weil … „der platte aus Metall entschteht und der Metall ist immer schwer egal ob es leicht oder schwer ist wen es ein Metall ist dan deht es unter! “ <?page no="179"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 173 Beide Antworten sind aus physikalischer Sicht vollkommen richtig. Die Schülerin begründet beide Male das Schwimmen bzw. das Untergehen mit dem Material, dem Stoff, aus dem ein Gegenstand besteht und nicht mit der Größe oder dem Gewicht des Gegenstandes. Der Satz im zweiten Text „egal ob es leicht oder schwer ist wen es ein Metall ist dann deht es unter! “ macht deutlich, dass sich die Schülerin dieses physikalisch nicht-bestehenden Zusammenhangs zwischen Schwimmen und Gewicht eines Körpers sehr bewusst ist, sie betont dies sogar mit einem Ausrufezeichen. Die Schülerin bringt also aus physikalischer Sicht bestmögliche Voraussetzungen mit, um den Dichtebegriff als Stoffeigenschaft nun im Unterricht einzuführen. Was kann über die sprachliche Kompetenz der Schülerin in der Zweitsprache Deutsch gesagt werden? Die Schülerin bildet die Verbklammer („dann deht es unter“) und setzt das Verb in Nebensätzen korrekterweise ans Ende („weil das baum aus holz entschteht.“, „weil der platte aus Metall entschteht“, „egal ob es leicht oder schwer ist“). Dies entspricht nach Grießhaber (2007) der vierten Profilstufe, der Verbendstellung im Nebensatz. Die Schülerin ist also im Zweitspracherwerbsprozess bereits weit fortgeschritten. Wie würden Lehrerinnen und Lehrer diese Antwort bewerten? Die beiden Originaltexte der Schülerin wurden 32 Lehrerinnen und Lehrern, die mindestens ein mathematisch-naturwissenschaftliches Fach unterrichten, vorgelegt. Die Lehrerinnen und Lehrer erhielten die folgende Aufforderung mit Zusatzinformation: Bitte bewerten Sie die Antwort: 1. Ist die Antwort richtig oder falsch? 2. Wie viele von insgesamt 5 erreichbaren Punkten würden Sie geben? 3. Bitte begründen Sie Ihre Entscheidung! Zusatzinformation: Im Unterricht dieser Klasse wurde der Begriff „Dichte“ noch nicht eingeführt. Hier exemplarisch einige Beurteilungen zu den Texten (in der Klammer sind die Fächer des Lehrers oder der Lehrerin angegeben, nach dem Doppelpunkt die Angabe, ob die Antwort als richtig oder falsch gewertet wurde, danach die Punktezahl): Text 1: Baumstamm LehrerIn A (Bio, D): richtig, 5 Punkte: „Das Kind hat den Zusammenhang das Material - Eigenschaften erkannt.“ LehrerIn B (Ch, Inf): richtig, 4 Punkte: „Die Antwort ist korrekt, weil die Schwimmfähigkeit des Baumstamms mit dem Material zusammenhängt. Für eine ausführlichere Antwort hätte es einen weiteren Punkt gegeben.“ LehrerIn C (Bio, Inf): richtig, 3 Punkte: „Die Antwort scheint mir grundsätzlich in Ordnung zu sein, die Begründung ist mir allerdings zu knapp. Schön wäre noch eine Erklärung, z.B. "Holz ist meiner Erfahrung nach ziemlich leicht" oder ähnliches.“ <?page no="180"?> Tanja Tajmel 174 Abb. 3: Verteilung der Zustimmung von N=125 Lehrkräften zur Aussage „Jeder Unterricht ist auch Sprachunterricht.“ LehrerIn D (Ph, Ch, Bio, M): richtig, 2 Punkte: „Indirekt hat der Schüler etwas richtig aufgeschnappt, kann es aber nicht in Worte fassen.“ Text 2: Metallplatte LehrerIn E (M, D): richtig, 3 Punkte: „Die Antwort scheint grundsätzlich richtig zu sein. Schön ist auch die ausführliche Begründung. Leider widerspricht sich der/ die Schüler/ in in der Aufgabe selbst, so dass ich nicht die volle Punktzahl geben würde.“ LehrerIn F (Ph): falsch, 2 Punkte: „Dass die Platte aus Metall ist, verrät bereits die Bezeichnung "Metallplatte". Die Aussage, dass Metall immer untergehe, stimmt so nicht. Da das Material dennoch eine Rolle spielt, vergebe ich 2 von 5 Punkten.“ LehrerIn G (M, Inf, D): falsch, 2 Punkte: „Metallplatte geht unter. Richtig. Begründung aber falsch. => metallische Hohlkörper - 1 Punkt Abzug wg. der sprachl. Fehler“ Im Durchschnitt wurde der erste Text mit 3,3 Punkten, der zweite Text mit 2,7 Punkten bewertet. Der längere Text wurde im Schnitt um 0,6 Punkte schlechter beurteilt. Diese Beispiele begründen die Vermutung, dass Fachlehrkräfte i) hohe Ansprüche an die sprachliche Form stellen und ii) die sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler mitbewerten. 2.4 Fachunterricht ist Sprachunterricht Um zu erheben, inwieweit Lehrerinnen und Lehrer der Meinung sind, dass der Fachunterricht prinzipiell auch Anlass zum Sprachlernen bietet, wurde eine Fragebogenerhebung durchgeführt. Es wurden 125 Lehrerinnen und Lehrer befragt. Alle unterrichten zumindest ein mathematisch-naturwissenschaftliches Fach. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten ankreuzen, ob sie mit den angeführten Aussagen übereinstimmten (4-stufige Likert Skala: ja, eher ja, eher nein, nein). Die Ergebnisse sind in Abb. 3 dargestellt. Der Aussage „Jeder Unterricht ist auch Sprachunterricht.“ stimmten beinahe alle befragten Lehrerinnen und Lehrer zu. Niemand kreuzte nein an. Zusammenfassend kann also Folgendes festgehalten werden: Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind der Meinung, dass jeder Unterricht auch Sprachunterricht ist. Sie haben zum Teil sehr hohe Erwartungen an die <?page no="181"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 175 sprachliche Form fachbezogener Antworten und beurteilen diese auch danach. Die Rahmenlehrpläne der naturwissenschaftlichen Fächer benennen sprachliche Kompetenzen als wesentlichen Teil naturwissenschaftlicher Grundbildung. Zudem sieht das Schulgesetz vor, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sprachlichen Herkunft keine Benachteiligung erfahren dürfen. Die Voraussetzungen für Sprachförderung im Fachunterricht sind also gegeben. 3 Gründe gegen DaZ im Fachunterricht Ausgehend von oben angeführten Gründen, die für die Einbeziehung von DaZ in den naturwissenschaftlichen Fachunterricht sprechen, soll nun der Frage nachgegangen werden, warum bis dato Sprachlernen nicht in ausreichendem Maße in den Fachunterricht integriert wird. 3.1 Unzureichende Ausbildung In der oben erwähnten Befragung von 125 Lehrerinnen und Lehrern wurde danach gefragt, ob die Lehrerinnen und Lehrer für den Unterricht in multikulturellen/ multilingualen Klassen vorbereitet wurden. Die überwiegende Mehrzahl antwortete mit Nein (Abb. 4). Abb. 4: Verteilung der Zustimmungen von N=125 Lehrkräften zur Aussage „Ich wurde in meiner Ausbildung auf den Unterricht in multikulturellen/ multilingualen Klassen vorbereitet.“ Das Bewusstsein der Lehrkräfte darüber, nicht entsprechend ausgebildet zu sein und die damit einhergehende selbst wahrgenommene Inkompetenz dürften maßgebliche Faktoren für die mangelhafte Einbeziehung von Sprachlernen in den naturwissenschaftlichen Unterricht sein. <?page no="182"?> Tanja Tajmel 176 3.2 Unbeeinflussbare Faktoren Im Rahmen des Projekts PROMISE (Promotion of Migrants in Science Education) (Tajmel/ Starl 2005) wurden Lehrerinnen und Lehrer befragt, welche Faktoren ihrer Meinung nach am stärksten den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund behinderten. Anhand von Interviews und Diskussionsprotokollen konnten 3 Kategorien von Faktoren gebildet werden: i) die mangelnde Sprachkompetenz der Schüler/ innen, ii) der sozio-ökonomische Hintergrund und iii) die Rahmenbedingungen des Unterrichts. Die genannten Bereiche lassen eine defizit-orientierte Sichtweise erkennen, nämlich, dass die Probleme aufgund von Defiziten seitens der Schülerinnen und Schüler bzw. der Rahmenbedingungen bestehen und nicht aufgrund von Defiziten des eigenen Unterrichts. Alle drei genannten Bereiche sind von der einzelnen Lehrkraft nicht beeinflussbar. Offenbar nimmt sich der Lehrer oder die Lehrerin der Situation gegenüber selbst als machtlos wahr. Die Haltung, dass man „daran ohnehin nichts ändern könne“, bestätigte sich zudem auch in Interviews (Tajmel 2009b). 3.3 Sprachsensibilität Das unter 2.3 angeführte Beispiel zeigt neben den hohen Ansprüchen der Lehrkräfte an die sprachliche Form einer fachlichen Antwort auch, dass Lehrerinnen und Lehrer sich nicht darüber bewusst zu sein scheinen, wie hoch ihre Ansprüche insbesondere für DaZ-Schülerinnen und -Schüler sind. Dies zeigt die Analyse der Beurteilungsbegründungen der Lehrkräfte: • B würde sich eine ausführlichere Antwort wünschen. • C ist die Begründung zu knapp, er würde „Holz ist meiner Erfahrung nach ziemlich leicht“ erwarten. • D meint, dass die Schülerin die Antwort nicht in die richtigen Worte gefasst hätte. • F sieht eine Tautologie und daher keine Begründung darin, dass die Schülerin die Metallplatte als aus Metall bestehend beschreibt und damit das Untergehen begründet. Der Lehrer übersieht hier die sprachliche Leistung, dass sie als DaZ-Schülerin ein Kompositum erkennt, es richtig aufspaltet und die Bedeutung versteht. Die Tautologie, die der Lehrer hier sieht, kann aus keiner allgemeinen Regel abgeleitet werden, wie etwa, dass das erste Nomen immer jenen Stoff angibt, aus welchem der durch das zweite Nomen bezeichnete Gegenstand besteht. Eine Schallplatte besteht nicht aus Schall, ein Regenbogen besteht nicht aus Regen und ein Wasserhahn besteht nicht aus Wasser. Die Lehrerinnen und Lehrer sind sich der Höhe ihrer Erwartungen an die sprachliche Form nicht in demselben Maße bewusst, wie sie die sprachliche Leistung mitbeurteilten. Keine Lehrerin und kein Lehrer erwähnten in ihrer Beurteilung die sprachliche Leistung der Schülerin in Hinblick auf die <?page no="183"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 177 Zweitsprache Deutsch, wie etwa die Nebensatzbildung mit Verbendstellung. Durch die Einbeziehung von Sprache und DaZ in den Fachunterricht würden den Lehrkräften ihre eigenen sprachlichen Erwartungen bewusst werden. Zudem würden den Schülerinnen und Schülern die sprachlichen Anforderungen in einem fachlichen Kontext transparent gemacht, wodurch ihnen die Möglichkeit gegeben würde, den Erwartungen entsprechend zu antworten. Chancengleichheit Rahmenlehrpläne Leistungsbeurteilung Sprachunterricht ist Fachunterricht Unzureichende Ausbildung Gefühl der Machtlosigkeit Mangelnde Sprachsensibilität Gründe für Sprachförderung Gründe gegen Sprachförderung Abb. 5: Gründe für und gegen Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht. Für die Einbeziehung von DaZ und Sprachlernen in den naturwissenschaftlichen Unterricht sind also bestimmte Maßnahmen auf Lehrerseite erforderlich. Ich möchte hierzu drei Hypothesen aufstellen, welche Bedingungen notwendig sind, damit Lehrerinnen und Lehrer DaZ in den Fachunterricht integrieren: 1. Sensibilisierung: Die Lehrerinnen und Lehrer müssen für sprachliche Problemfelder, welche in ihrem Fach auftreten können, sensibilisiert werden. Erst dann werden sie die Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler nachvollziehen können. 2. Professionalisierung: Erst wenn die Lehrerinnen und Lehrer wissen, wie sie den Unterricht verändern können und welche Methoden und Möglichkeiten der Sprachförderung es gibt, können sie diese in den Unterricht integrieren. Dazu müssen entsprechende Aus- und Fortbildungsangebote zur Verfügung stehen. 3. Evaluation: Der sprachfördernde Fachunterricht muss sowohl in Hinblick auf die sprachlichen als auch auf die fachlich-naturwissenschaftlichen Fortschritte der Schülerinnen und Schüler evaluiert werden. Wenn sich durch Sprachförderung im Unterricht auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessern, wird die Einbeziehung von Sprachförderung in den Fachunterricht zum fachdidaktischen Gebot. <?page no="184"?> Tanja Tajmel 178 4 Sensibilisierung und Professionalisierung 4.1 „Prinzip Seitenwechsel“ Die Beobachtung eines Experiments gehört zu den Standardsituationen im naturwissenschaftlichen Fachunterricht. Die Beobachtung in Worte zu fassen scheint keine schwierige Aufgabe zu sein, insbesondere, wenn der Lehrer oder die Lehrerin explizit darauf hinweist, dass die Beobachtung in „eigenen Worten“ beschrieben werden soll. Doch diese Situation kann bereits eine Sprachnotsituation für Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache bedeuten. Um Lehrerinnen und Lehrer für diese spezielle Problematik zu sensibilisieren, werden sie in eine Situation versetzt, die ein vergleichbares Erleben von Sprachnot hervorruft. Lehrerinnen und Lehrer wechseln dabei die Seite: Sie sollen aus der Perspektive einer Schülerin oder eines Schülers ein einfaches Experiment beobachten und ihre Beobachtung niederschreiben, jedoch nicht in ihrer Erstsprache, sondern in ihrer besten Fremdsprache. Diese Sensibilisierungsmaßnahme wurde unter dem Namen „Prinzip Seitenwechsel“ mit 31 Lehrkräften erprobt. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten zusätzlich zur Beobachtung notieren, welche Probleme sie hatten, um die Aufgabe in der Fremdsprache zu bewältigen und welche Hilfsmittel sie sich wünschten. Die Auswertung der Antworten zeigte drei Kategorien von Problemen (dargestellt in Abb. 6): Abb. 6: Von Lehrerinnen und Lehrern genannte Probleme und gewünschte Hilfestellungen im Rahmen der Anwendung des „Prinzips Seitenwechsel“ an einem Demonstrationsexperiment. • Alle Lehrerinnen und Lehrer hatten Probleme, das richtige Vokabular zu finden. • Einige waren unsicher, ob die sprachliche Form, die sie gewählt hatten, die passende sei. Ich hatte die folgenden Probleme: Folgende Unterstützung würde mir helfen: Ich brauche mehr Zeit. Mehr Zeit lassen. Ich wusste die passenden Wörter nicht (Substantive, Verben). Mir fielen die passenden Wörter nicht ein. Benennung der Gegenstände; ein Wörterbuch, eine Skizze mit Beschriftung der Gegenstände Ich konnte den richtigen Ausdruck nicht finden. Satzteile oder Beispiele für ähnliche Beschreibungen vorgeben Ich war mir unsicher, ob man so sagt. Nomen-Verb-Verbindungen und Präpositionen vorgeben. <?page no="185"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 179 • Alle Lehrkräfte meinten, dass sie für die Verbalisierung in der Fremdsprache viel mehr Zeit brauchten als in der Erstsprache. Als gewünschte Hilfsmittel wurden von den Lehrkräften Wörterbücher, Nomen und Verben, Fachwörter als auch „Wörter aus der Alltagssprache, Verben und Strukturen für den Ausdruck“ (Zitat einer Lehrerin), sowie mehr Zeit genannt. Alle Probleme, die von den Lehrkräften genannt wurden, sind typische Probleme von DaZ-Schülerinnen und -Schülern: der Wortschatz, die passenden Kollokationen, die Sprachstrukturen und die zur Verfügung stehende Zeit. Durch die eigene Erfahrung der Situation wurden die Probleme der DaZ-Schülerinnen und -Schüler erkannt und nachvollziehbar. Das „Prinzip Seitenwechsel“ kann auch auf schriftliche Aufgaben, wie etwa jene aus 2.3 angewendet werden: „Schwimmt der Baumstamm oder geht er unter? Wie würde man dies in der Fremdsprache beantworten? “ In einem nächsten Schritt erarbeiten die Lehrkräfte Vorschläge, wie die Unterrichtssequenz aufbereitet werden könnte, sodass zum einen die Sprachnotsituation vermieden wird und zum anderen die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützt werden, korrekte Beschreibungen zu formulieren. 4.2 Professionalisierung Der Professionalisierungsprozess von Lehrkräften verlangt Strukturen und Rahmenbedingungen, die den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit geben, Wissenskreierende im Gegensatz zu Wissensrezipierenden zu werden. Netzwerke von Lehrkräften und Kooperationen zwischen Universitäten und Schulen gelten als empfehlenswerte Rahmenbedingungen für Professionalisierungsvorhaben dieser Art. Zur Qualitätsverbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts wurden in den 1990er Jahren Projekte ins Leben gerufen, die eine interdisziplinäre, an Alltagskontexte anknüpfende Themensetzung sowie eine Zusammenarbeit der Fächer Mathematik, Physik, Chemie und Biologie unterstützen. Beispiele hierfür sind der anglo-amerikanische STS (Science-Technology-Society)-Ansatz (Aikenhead 1994, Tal et al. 2001), das deutsche Projekt PING (Praxis Integrierte Naturwissenschaftliche Grundbildung) (Lauterbach 1992) oder das österreichische Projekt IMST (Innovations in Mathematics and Science Teaching) (Krainer et al. 2002). Einen neuen Aspekt erhält der Ansatz der interdisziplinären Zusammenarbeit, will man den naturwissenschaftlichen Unterricht in sprachlich heterogenen Klassen verbessern. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurde im Projekt PROMISE (Tajmel/ Starl 2005) ein neuer Ansatz gewählt: das Fach Deutsch wurde in den interdisziplinären Fächerkanon miteinbezogen. In sogenannten PROMISE-Teams erarbeiteten Lehrkräfte der Fächer Physik, Chemie und Mathematik zusammen mit Fachleuten der Fachdidaktiken Deutsch und Physik sprachfördernde Materialien für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Die Lehrkräfte erprobten die Materialien in ihren <?page no="186"?> Tanja Tajmel 180 eigenen Klassen, die Unterrichtssequenzen wurden zum Teil videographiert und die Erfahrungen im Team diskutiert. Hier wurde der Aktionsforschungsansatz (Altrichter et al. 1993) aufgegriffen, in welchem Lehrerinnen und Lehrer ihren eigenen Unterricht zum Forschungsgegenstand machen. Forschungsinstrumente waren neben Videos Fragebögen und Interviews. In Abb. 7 ist der Professionalisierungsansatz dargestellt. Abb. 7. Ansatz zur Professionalisierung von Lehrkräften naturwissenschaftlicher Fächer für Sprachförderung im Fachuntericht. Die Sensibilität der Physiklehrerinnen und -lehrer in Bezug auf Sprache stieg im Laufe der Arbeit im PROMISE-Team deutlich. Als beispielsweise die Fragebögen erstmals in den Klassen eingesetzt worden waren, wurde festgestellt, dass einige Fragen von den Schülerinnen und Schülern nicht verstanden wurden. Es wurde daraufhin angeregt, „sprachsensible Fragebögen“ zu entwerfen, in welchen die Schülerinnen und Schüler in einer eigenen Spalte ankreuzen konnten, wenn sie die Frage nicht verstanden hatten. Die Einbindung von Sprache in den Fachunterricht wurde von den Lehrkräften als qualitativ besserer Physikunterricht wahrgenommen. 5 Beispiele für sprachfördernde Materialien Die hier vorgestellten Arbeitsblätter sind Teil der Unterrichtseinheit „Schwimmen - Sinken“ (Tajmel et al. 2009c) und wurden im Rahmen der PROMISE-Teamarbeit entwickelt und werden in 5./ 6. und 7./ 8. Klassen eingesetzt. Lehrerinnen und Lehrer, die an der Entwicklung nicht beteiligt waren und die Arbeitsblätter in ihrem Unterricht einsetzen, erhalten einen Bogen zur Dokumentation ihrer Beobachtungen der Unterrichtssituation. Diese Rückmeldungen geben einerseits wertvolle Anregungen für Verbesserungen, andererseits können der Nutzen und die Anwendbarkeit des Arbeitsblattes abgeschätzt werden. Die beiden hier dargestellten Arbeitsblätter wurden von allen Lehrkräften als im Unterricht gut anwendbar bewertet. Die klare Darstellung der einzelnen Schritte der Volumenbestimmung in Kombination mit dem Vokabular auf Arbeitsblatt 1 wurde als besonders hilfreich bewertet. <?page no="187"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 181 Arbeitsblatt 1 Abb. 8: Arbeitsblatt zur Volumenbestimmung. Dieses Arbeitesblatt wurde entwickelt, nachdem die Volumenbestimmung im Unterricht zunächst ohne sprachliche Hilfsmittel durchgeführt wurde. Der Lehrer stellte fest, dass die Schülerinnen und Schüler beim Experimentieren die einzelnen Schritte vertauschten und dass sie den Messvorgang nicht erklären konnten. Im PROMISE-Team wurde daraufhin Arbeitsblatt 1 (Abb. 8) entwickelt. Die einzelnen Schritte des Messprozesses sind klar dargestellt, jeder Schritt ist mit dem zu seiner Beschreibung notwendigen Vokabular versehen. Mit Hilfe dieses Arbeitsblattes sollen die Schülerinnen und Schüler zunächst die Messung durchführen und dann mündlich und schriftlich ihr Vorgehen beschreiben. Arbeitsblatt 2 wird in Kombination mit Arbeitsblatt 1 eingesetzt. Ziel von Arbeitsblatt 2 ist einerseits die Vermittlung der fachspezifischen Kollokationen „Volumen bestimmen“ und „Messwert ablesen“, andererseits soll die Bildung von Sätzen geübt werden, die durch Voranstellung von Adverbien (ADV) eine Inversion von Subjekt (S) und Verb (V) verlangen: Die Schülerinnen und Schüler sollen zuerst Sätze bilden. Die Sätze sollen in einem zweiten Schritt dem Messvorgang entsprechend in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Im dritten Schritt sollen die Sätze durch Vorans- <?page no="188"?> Tanja Tajmel 182 tellung der Adverbien noch einmal verändert werden, um die chronologische Reihenfolge auch sprachlich auszudrücken. Arbeitsblatt 2 Abb. 9: Arbeitsblatt 2 zur Ablaufsbeschreibung der Volumenbestimmung. Beispiel für Satz E und Satz F Schritt 1: Satz E: Ich (S) fülle (V) Wasser in das Messgefäß. Satz F: Ich (S) lese (V) den Messwert für das Volumen des Wassers (ohne Körper) ab. Schritt 2: Die Reihenfolge ist bereits richtig. Schritt 3: Satz E: Zuerst (ADV) fülle (V)ich (S) Wasser in das Messgefäß.) Satz F: Dann (ADV) lese (V) ich (S) den Messwert für das Volumen des Wassers (ohne Körper) ab. Um die Sätze in eine sinnvolle Reihenfolge zubringen, muss der Schüler oder die Schülerin sich mit dem fachlichen Inhalt der Sätze auseinander setzen. Die Übung ist somit Sprach- und Physikübung gleichermaßen. DaZ im naturwissenschaftlichen Fachunterricht ist in sprachlich heterogenen Klassen eine Notwendigkeit, um naturwissenschaftliche Kompetenzen <?page no="189"?> DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht 183 zu vermitteln und allen Schülerinnen und Schülern erfolgreiche Schulabschlüsse zu ermöglichen. Dazu ist neben der Entwicklung von geeigneten Unterrichtsmaterialien eine entsprechende Sensibilisierung und Professionalisierung der Naturwissenschaftslehrkräfte notwendig. Literatur Aikenhead, Glen S. (1994): What is STS Science Teaching? In: Solomon, J./ Aikenhead, G.S. (Hrsg.): STS Education: International Perspectives on Reform. New York: John Wiley & Sons. Altrichter, Herbert/ Posch, Peter/ Somekh, Bridget (1993): Teachers investigate their own work: An introduction to the methods of action research. New York: Routledge. Bourdieu, Pierre (1992): Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital. In: Bourdieu, P. (Hrsg.): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA, 49-79. Bukow, Wolf-Dietrich (1996): Feindbild: Minderheit. Zur Funktion von Ethnizität. Opladen: Leske + Budrich. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. Grießhaber, Wilhelm (2007): Zweitspracherwerbsprozesse als Grundlage der Zweitsprachförderung. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 33. Krainer, Konrad/ Dörfler, Willibald/ Jungwirth, Helga/ Kühnelt, Helmut/ Rauch, Franz/ Stern, Thomas (Hrsg.) (2002): Lernen im Aufbruch: Mathematik und Naturwissenschaften. Pilotprojekt IMST2. Innsbruck: Studienverlag. Lauterbach, Roland (1992): Praxis Integrierter Naturwissenschaftlicher Grundbildung (PING). In: Häußler, P. (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung. Kiel: IPN. Leisen, Josef (1998): Sprache(n) im Physikunterricht. In: Praxis der Naturwissenschaften Physik, 2, 2-4. Prenzel, Manfred (Hrsg.) (2007): PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster: Waxmann. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2004): Schulgesetz für Berlin. Qualität sichern. Eigenverantwortung stärken. Bildungschancen verbessern. Berlin: moeller druck und verlag gmbh. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2006a): Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 1. Jahrgangsstufe 7-10. Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gymnasium. Physik. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2006b): Rahmenlehrplan Grundschule: Naturwissenschaften. Berlin. Rösch, Heidi (Hg.) (2005): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Braunschweig: Schroedel. Tajmel, Tanja/ Starl, Klaus/ Schön, Lutz-Helmut (2009a): Detect the Barriers and Leave Them Behind - Science Education in Culturally and Linguistically Diverse Classrooms. In: Tajmel, T./ Starl, K. (2009): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster: Waxmann. Tajmel, Tanja (2009b): Does Migration Background Matter? Preparing Teachers for Cultural and Linguistic Diversity in the Science Classroom. In: Tajmel, T./ Starl, K. <?page no="190"?> Tanja Tajmel 184 (2009): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster: Waxmann. Tajmel, Tanja/ Neuwirth, Johannes/ Holtschke, Jörg/ Rösch, Heidi/ Schön, Lutz-Helmut (PROMISE-Team) (2009c): Sprachförderung im Physikunterricht: Schwimmen - Sinken. Sekundarstufe 1. In: Tajmel, T./ Starl, K. (2009): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster: Waxmann, CD-ROM. Tajmel, Tanja/ Starl, Klaus (2005): PROMISE - Promotion of Migrants in Science Education. European Training and Research Centre for Human Rights and Democracy (ETC Graz), Occasional paper No.18. [http: / / www.etc-graz.at/ typo3/ index.php? id=74]. (Zugriff am 13. Januar 2009). Tal, Revital T./ Dori, Yehudit J./ Keiny, Shoshana/ Zoller, Uri (2001): Assessing conceptual change of teachers involved in STES education and curriculum development - the STEMS project approach. In: International Journal of Science Education, 23, 3, 247-262. Weber, Martina (2003): Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen: Leske + Budrich. <?page no="191"?> Simone Kuplas Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 1 Einleitung Der folgende Beitrag richtet sich sowohl an Deutsch-als-Zweitsprache- LehrerInnen als auch FachlehrerInnen und soll ihnen Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen, wie SchülerInnen mit Migrationshintergrund in einem sprachsensiblen Biologieunterricht gefördert und in ihrer Sprachentwicklung unterstützt werden können. Dementsprechend werden zum einen exemplarische Sprachprobleme von SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache im Biologieunterricht thematisiert, um die Notwendigkeit der Deutsch-als-Zweitsprache- Förderung als Unterrichtsprinzip in allen Fächern und die Behandlung sprachlicher Probleme in einem fachlichen Kontext aufzuzeigen. Zum anderen werden exemplarisch in der Analyse und Reflexion einer konkreten Lehr- und Lernsituation Möglichkeiten der Didaktisierung des Biologieunterrichts in sprachlich heterogenen Lerngruppen unter besonderer Berücksichtigung der fachintegrativen Sprachförderung und fachsprachlicher Aspekte aufgezeigt. Im Mittelpunkt stehen dabei Ansätze der mündlich und schriftlich realisierten Sprache im Biologieunterricht sowie Lerntechniken, die im Sinne der fachintegrativen Deutsch-als-Zweitsprache- Förderung Anwendung finden können. Der Fokus des Konzeptes der Sprachförderung im Biologieunterricht wird vor allem darauf gelegt, die SchülerInnen mit Migrationshintergrund anzuleiten, Strategien zum selbstständigen Erschließen von Fachtexten zu entwickeln. Die Ergebnisse der PISA- und DESI-Studie haben gezeigt, dass SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache große Defizite im Bereich der Lese- und Schreibkompetenz zeigen (Deutsches PISA Konsortium 2000, Klieme 2006). Zur Förderung der Schriftsprachlichkeit im Fachunterricht erscheint eine Reduktion des fachsprachlichen Anteils in den Texten nicht ausreichend, weil so kein aktives sprachliches Handlungswissen, das Bewusstsein über die Möglichkeiten und Methoden sprachlichen Handelns, aufgebaut wird. Die empirischen Ergebnisse machen deutlich, dass die Lernleistungen der SchülerInnen mit Migrationshintergrund nur verbessert werden können, wenn eine explizite und implizite Sprachförderung in den Fachunterricht integriert wird (vgl. Stanat/ Baumert/ Müller 2005). Im folgenden Beitrag wird kurz das Zusammenwirken von Sprache und Fach dargestellt und anschließend werden an einem Schulbuchtext aus dem <?page no="192"?> Simone Kuplas 186 Fach Biologie exemplarische fachsprachliche Lernprobleme der Schüler- Innen nicht deutscher Herkunftssprache aufgezeigt und hinsichtlich ihrer praxisorientierten Fördermöglichkeiten im Unterricht analysiert. Es ergeben sich folgende Fragestellungen: • Welche Problemfelder ergeben sich für SchülerInnen mit Migrationshintergrund bei der Arbeit mit biologischen Fachtexten? • Wie können SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache gleichermaßen in Fach und Sprache gefördert werden? • Welche Methoden und Strategien sind zielführend, um SchülerInnen bei dem Aufbau von Textverständnis, dem Erwerb von Fachsprache und der konzeptionellen Schriftlichkeit zu fördern? 2 Biologie- und Sprachunterricht Der Kenntnisstand der FachlehrerInnen und SprachlehrerInnen von dem jeweils anderen Gebiet ist oftmals sehr gering und häufig stößt die Forderung auf Unverständnis, neben der Förderung der fachlichen Kompetenz auch sprachorientiert und sprachsensibel in Bezug auf die Probleme der SchülerInnen mit Migrationshintergrund zu unterrichten. Das erste Missverständnis scheint sich hinter dem Wort „neben“ zu verbergen. Fach- und Sprachunterricht darf weder aus fach- und sprachdidaktischer noch aus lernpsychologischer Sicht getrennt voneinander, sondern muss miteinander vernetzt betrachtet und behandelt werden. Durch Sprache werden die fachlichen Inhalte des Biologieunterrichts nicht nur transportiert, sondern fachliche Inhalte und Strukturen werden durch Sprache auf der kognitiven Ebene zusammengeführt (vgl. Leisen 2003, 1). Ziel des Biologieunterrichts ist es, die SchülerInnen zum einen dazu anzuleiten, fachspezifische Aufgabenformen und wissenschaftliche Problemfelder zu bewältigen, zum anderen werden ihnen wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse und ausgewählte Inhalte des Faches Biologie, wie Experimente aus den unterschiedlichen Themenkomplexen, Fachbegriffe, Modellvorstellungen, Methodenkritik sowie Sachstrukturen, vermittelt. Das Sprachlernen im Fach Biologie befasst sich dabei konkret mit dem Lernen wissenschaftlicher Begriffe und der Verwendung fach-kommunikativer und fachsprachlicher Strukturen mit der Zielsetzung des Kompetenzerwerbs zur Bewältigung von fachlichen Denk- und Handlungssituationen. Damit lassen sich die sprachlichen Kompetenzbereiche in Bezug auf das Fach erweitern: Die SchülerInnen müssen Kompetenzen in den Bereichen fachsprachliches Hörverstehen, fachsprachliches Sprechen sowie Lesen und Schreiben fachsprachlicher Texte entwickeln. <?page no="193"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 187 3 Konzeption des Unterrichtsbausteins „Der Blutkreislauf des Menschen“ zur Förderung der Zweitsprache im Biologieunterricht Die Analyse des biologischen Fachtextes „Das Blut fließt in einem Kreislauf“ (Phillip/ Wendel/ Westerdorf-Bröring 2006, 230) zeigt exemplarische sprachlich bedingte Verstehensprobleme auf, die Lernende bei der Texterschließung haben könnten und die schließlich zu fachlichen Wissenslücken und Frustration führen könnten. Inzwischen kann es als erwiesen gelten, dass nicht mündliche Kommunikationskompetenzen, sondern vielmehr fehlende bildungssprachliche und fachsprachliche Kompetenzen für den ausbleibenden Bildungserfolg bei SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache verantwortlich sind (Siebert-Ott 2006, 164). Anhand eines für das Fach Biologie konzipierten Unterrichtsbausteins werden didaktisch-methodische Schritte aufgezeigt, wie SchülerInnen mit Migrationshintergrund in ihrem Lernprozess und bei der Lösung der damit verbundenen sprachlichen Probleme unterstützt werden können. Der Unterrichtsbaustein ist für die Sekundarstufe 1 (neunte/ zehnte Klassenstufe) entworfen und bearbeitet das biologische Thema „Der Blutkreislauf des Menschen“. Die gesamte Unterrichtseinheit bezieht sich auf die Kompetenzbereiche der Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung Rezeption, Produktion, sprachliche Interaktion und Sprachbewusstheit (Rösch 2005, 37). Die verschiedenen Lernbereiche werden entweder einzeln oder miteinander vernetzt in Anbindung an das biologische Thema vermittelt. Ziel der Anschauung ist es, anhand der von mir erstellten Unterrichtsmaterialien die didaktisch-methodischen Zielsetzungen aus einer lernerorientierten Perspektive in den Blick zu nehmen und dabei Aspekte der konkreten Spracharbeit zu fokussieren. Lässt man Lernende ihre sprachlich bedingten Verstehensprobleme benennen, die sie bei der Bearbeitung eines Fachtextes haben, so fällt auf, dass sie oftmals nicht das erfragen, was sie zum fachlichen Verstehen benötigen. Häufig werden grammatische Konstruktionen, Schlüsselbegriffe und syntagmatische Einheiten nicht erfragt. Aus Schülersicht ergeben sich vor allem Wortschatzprobleme, jedoch erfolgt hier die Erarbeitung des unbekannten Wortschatzes ohne Berücksichtigung des fachlichen Kontextes. Gespräche während der Textarbeit zeigen jedoch, dass die Schlüsselbegriffe im Text für die SchülerInnen oftmals erläuterungsbedürftig sind (vgl. Grießhaber 2002-2004). Besondere Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Fachtexten für SchülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache ergeben sich insbesondere im Bereich der Lexik, der Wortbildung, der Syntax und der Funktionsverbgefüge. Fix zeigt in seiner Untersuchung, dass SchülerInnen mit Deutsch als Zweitsprache im Sekundarbereich I vor allem eine Fehlerdominanz in den Bereichen Syntax und Morphologie zeigen, während die Wortstellung vergleichbar weniger problematisch erscheint (Fix 2002). Neben morphologisch- <?page no="194"?> Simone Kuplas 188 syntaktischen Problemen zeigen sich spezifische Schwierigkeiten im Umgang mit Präpositionen, bei dem Gebrauch von Passivkonstruktionen und in der Orthografie. Unzureichende Lese- und Schreibkompetenzen, wie zum Beispiel fehlende Lesestrategien und Schwierigkeiten beim Umgang mit komplexem Satzbau, erschweren die Arbeit mit Fachtexten (Knapp/ Pfaff/ Werner 2008). 1 Das Blut strömt in einem Kreislauf Blut erfüllt wichtige Aufgaben im Stoffwechsel und wird deshalb häufig als „ Saft des Lebens“ bezeichnet. Nur wenn es in alle Körperteile gelangt, kann es seine vielfältigen Aufgaben erfüllen. In vielen röhrenartigen Gefäßen wird deshalb das Blut durch den Körper geleitet. Zusammen bilden sie das Blutkreislaufsystem. (...) Im Zentrum des Blutkreislaufsystems befindet sich das Herz. Bei jedem Herzschlag wird das Blut mit hohem Druck durch den Körper gepumpt. Aus der linken Herzkammer gelangt sauerstoffreiches Blut in die große Körperarterie, die Aorta. Die Aorta verzweigt sich in mehrere größere Gefäße, die Kopf, Arme, Beine und innere Organe mit Sauerstoff versorgen. Auch das Herz selbst erhält durch eine dieser Adern, die sich in viele kleine Herzkranzgefäße verzweigt, den notwendigen Sauerstoff. Alle Gefäße, die vom Herzen wegführen, nennt man Arterien. (...) Sind die Blutgefäße haarfein und haben sie nur noch hauchdünne Wandschichten, werden sie Kapillaren genannt. Die Kapillaren umspannen und durchdringen die Organe. Hier erfolgt der Stoffaustausch mit den Zellen. Das umgebende Gewebe erhält dabei vor allem Sauerstoff, Nährstoffe, Mineralstoffe, Vitamine und Wasser. Kohlenstoffdioxid und nicht mehr verwertbare Stoffe werden von den Kapillaren aufgenommen. Anschließend vereinigen sich die Kapillaren wieder zu größeren Adern, den Venen. Nachdem das Blut die Kapillaren durchströmt hat, wird es durch diese Blutgefäße wieder zum Herzen zurückgeführt. (...) Zieht sich der starke Herzmuskel zusammen, so wird Blut in die Adern und damit in den Körper gedrückt. Die verschiedenen Körpervenen vereinigen sich zu einem besonders großen Gefäß. Durch diese Hohlvene wird das Blut wieder direkt ins Herz transportiert. Damit ist der Körperkreislauf des Blutes geschlossen. In der rechten Herzkammer beginnend, durchläuft es nun einen zweiten Kreislauf, den Lungenkreislauf. Durch die Lungenarterie gelangt kohlenstoffdioxidreiches Blut in die Lunge. In den Lungenkapillaren erfolgt der Gasaustausch. Sauerstoff wird aus der Lunge aufgenommen und Kohlenstoffdioxid aus dem Blut abgegeben. Die Lungenvene transportiert nun das Blut wieder zum Herzen zurück. Damit ist auch der Lungenkreislauf geschlossen. Der Mensch besitzt also ein doppeltes Blutkreislaufsystem. (...) Erst Störungen wie Schwindelgefühle bei schlechter Durchblutung zeigen uns deutlich, wie sehr wir uns auf ein gut funktionierendes Blutkeislaufsystem verlassen können. Abb. 1: Beispiel eines Schulbuchtextes aus dem Fach Biologie für die Jahrgangsstufe 7/ 8 (Philipp/ Wendel/ Westendorf-Bröring 2006, 230) 1 Auf die spezifischen Schwierigkeiten der einzelnen Kompetenzbereiche für SchülerInnen mit Migrationshintergrund wird hier nur exemplarisch eingegangen. Für weiterführende Analysen und Untersuchungen wird auf Ahrenholz 2008 (Mündliche Produktionen), Ehlers 2008 (Lesekompetenz), Grießhaber 2008 (Schreibkompetenz), Apeltauer 2008 (Wortschatz), Müller 2008 (Hörverstehen) verwiesen. <?page no="195"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 189 Der biologische Fachtext „Das Blut strömt in einem Kreislauf“ 2 birgt aufgrund typischer Merkmale der naturwissenschaftlichen Fachsprache viele sprachlich bedingte Verstehensprobleme für SchülerInnen mit Migrationshintergrund 3 . Am Beispiel des Schulbuchtextes werden einige exemplarische sprachliche Besonderheiten naturwissenschaftlicher Fachtexte dargestellt und konkrete Möglichkeiten ihrer Erschließung in einem sprachbewussten Fachunterricht aufgezeigt. Der Schwerpunkt liegt dabei zum einen auf der Vermittlung fehlender Lesestrategien und der Förderung der Lesekompetenz und des Verstehens fachlicher Texte. Zum anderen werden Probleme im Bereich der Wortbildung und des Wortschatzes fokussiert. In einem dritten Teil werden die Probleme in der konzeptionellen Schriftlichkeit näher betrachtet und Möglichkeiten der Kompetenz-förderung anhand der Visualisierung von Fachkontexten und der Versprachlichung eines Strukturdiagramms beleuchtet. 4 Textrezeption - Erschließen eines biologischen Fachtextes In einem ersten Schritt wird der biologische Fachtext „Das Blut strömt in einem Kreislauf“ erschlossen. Der Fokus wird auf der sprachdidaktischen Ebene auf die Anwendung von Texterschließungsverfahren und fachsprachlicher Grundlagenlexik gerichtet. Dabei steht die Förderung der rezeptiven und produktiven Fertigkeiten (Textverstehen, Lese- und Schreibkompetenz) im Mittelpunkt. Die SchülerInnen sollen in diesem ersten Schritt lernen, komplexe Inhalte zu gliedern und zu strukturieren, wichtige Informationen zu entschlüsseln und aus dem Text herauszulösen. Die Lernenden sollen dazu mit der Methode des Texterschließungsverfahrens arbeiten. Ziel dieses Unterrichtsbausteins ist es, die SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache dazu anzuleiten, einen Fachtext, der nicht vorentlastet ist, selbstständig zu erschließen. Dazu müssen sie Verstehensstrategien entwickeln, und diese lassen sich bewusst mit ihnen einüben. Hierbei werden folgende Arbeitsschritte geübt: 1. Orientierendes Lesen 2. Abschnittsweise intensives Lesen 3. Erkennen und Markieren von Proformen 4. Notieren von Schlüsselbegriffen aus jedem Textabschnitt als Randnotiz 5. Verfassen eines Paralleltextes 2 Aus Gründen der Textökonomie wurde der Text gekürzt bzw. Abschnitte zweier Texte verwendet. Die Unterstreichungen im Text markieren Begriffe und Satzstrukturen, die in den folgenden Kapiteln in einer sprachdidaktischen Analyse betrachtet werden. 3 Die sprachlichen Besonderheiten der Fachsprache können in diesem Aufsatz in ihrer Gesamtheit nicht dargestellt und analysiert werden. Die Auswahl der hier im Mittelpunkt stehenden sprachlichen Phänomene begründet sich mit den sprachdidaktischen Schwerpunkten der dargestellten Unterrichtsbausteine. Einen Überblick geben Möhn/ Pelka 1984. <?page no="196"?> Simone Kuplas 190 Orientierendes Lesen des Textes Die LernerInnen erschließen in einer zyklischen Bearbeitung des Textes (vgl. Leisen 2003) diesen durch unterschiedliche Lesetechniken schrittweise auf der Wort-, Satz- und Textebene und analysieren dabei ihre Rezeptionsprobleme. Bei dem Orientierenden Lesen wird zunächst das Vorwissen des Lerners über die Überschrift reaktiviert. Welche fachlichen Assoziationen verbindet der Lernende bereits mit der Überschrift „Das Blut fließt in einem Kreislauf“? Die Aktivierung von Vorwissen der SchülerInnen bei der Einführung von Fachtexten im Unterricht wird als geeignete Methode angesehen (vgl. Grütz/ Pfaff 2006), um die Ausbildung von Rezeptionsstrategien zu fördern (vgl. Schramm 2008, 98). Ein erfahrungsbezogener Zugang scheint insbesondere für die LernerInnen von Bedeutung, die den Sachverhalt über die Sprache allein nicht erschließen können (vgl. Rösch 2005, 113). In einem zweiten Schritt wird der Text als Ganzes erfasst. Dabei ist es nicht erforderlich, dass jedes Wort in seiner Bedeutung verstanden wird; vielmehr wird an dieser Stelle ein Globalverstehen gefördert, indem Informationen gesammelt und geordnet werden sowie die Problemstellung des Textes erfasst wird (vgl. Müller 2005). Abschnittsweise intensives Lesen Die SchülerInnen lesen den Text nochmals und untergliedern diesen dabei in Sinnabschnitte. Die LernerInnen sollen auf der Wortebene die ihnen unbekannten Wörter oder Satzbestandteile unterstreichen, im Wörterbuch nachschlagen und zum Beispiel Wortableitungen (z.B. das Verb hinführen) oder Wortzusammensetzungen (z.B. das Kompositum Herzmuskel) erschließen, indem sie den Wortstamm bzw. das Grundwort markieren. 4 Erkennen und Markieren von Proformen Die Kodierung von Informationen in Texten erfolgt linear. Dieses enge Geflecht textueller Beziehungen erfolgt über Prowörter, die auf Inhalte, Satzglieder oder größere sprachliche Einheiten im Text verweisen (vgl. Duden 2006, 1114). In Fachtexten kommen häufig Proformen vor, sodass ein Textverständnis nur möglich ist, wenn der Lernende diese Prowörter erkennt und dem jeweiligen Bezugswort zuordnen kann. In der Funktion als Ersatzform fungieren Pronomen wie Personal-, Frage-, Demonstrativ-, Relativ- und Possessivpronomina sowie Pronominaladverbien und Konjunktionaladverbien. SchülerInnen mit Migrationshintergrund haben häufig Schwierigkeiten, diese Prowörter bzw. das Bezugswort, auf welches sich die Ersatzform rückbezieht, im Text zu bestimmen (vgl. Ott 2000, Rösch 2005). 4 Die Darstellung einer sprachorientierten Erarbeitung des konkreten Kompositums (der Herzmuskel) bzw. der Ableitungen (hin-, wegführen) am Text erfolgt im nächsten Abschnitt. <?page no="197"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 191 Insbesondere Lernende, in deren Erstsprache keine Differenzierung über das Genus erfolgt, wie zum Beispiel in der türkischen Sprache, haben Probleme, die Proformen zu erkennen. „Nachdem das Blut die Kapillaren durchströmt hat, wird es durch diese Blutgefäße wieder zum Herzen zurückgeführt.“ Die Schwierigkeiten sind darauf zurückzuführen, dass die Ersatzformen in ihrer Bedeutung zunächst inhaltsleer sind. Ihr Inhalt lässt sich nur durch den Bezug zu den ersetzten Wörtern bzw. Wortgruppen ermitteln. Prowörter wie die Pronominaladverbien „dabei“ und „damit“ oder das Konjunktionaladverb „deshalb“ ersetzen häufig Wortgruppen und beziehen sich auf mehrere vorhergehende Sätze. Die Schwierigkeiten sind hier andere als bei Personalpronomina oder Demonstrativa und die Entschlüsselung dieser Satzzusammenhänge ist daher für LernerInnen mit Migrationshintergrund vermutlich erheblich schwieriger. Aber gerade das häufige Vorkommen von Proformen in Fachtexten bietet viele Möglichkeiten, diese Formen kontextbezogen zu üben. Die Schüler- Innen sollten zum Beispiel dazu angeleitet werden, Prowörter und ihre jeweiligen Bezugswörter zu markieren oder durch einen Pfeil zuzuordnen mit der Zielsetzung, dass sie Proformen auch in ihren eigenen Textproduktionen verwenden und in ihrer Funktion verstehen. Nachdem den SchülerInnen die Funktionsweise der Proformen erläutert wurde, werden die Lernenden durch konkrete Aufgabenstellungen dazu aufgefordert, diese in unterschiedlichen Zusammenhängen zu verwenden (z.B.: „Beschreibe den Blutkreislauf des Menschen und verwende in deiner Darstellung für den Begriff Blut die Ersatzformen es, dieses und welches! “). In einer anschließenden Besprechung werden die Ergebnisse der eigenen Texte in der Gruppe nicht nur auf Richtigkeit überprüft, sondern die einzelnen Ersatzformen und ihre jeweilige Funktion in dem fachlichen Kontext besprochen. So erfolgt nach der Arbeit am Fachtext und der Systematisierung der Ersatzformen die Sicherung und Festigung des neuen Lernbereichs. Notieren von Schlüsselbegriffen aus jedem Textabschnitt als Randnotiz Begriffe mit Funktion als Informationsträger werden aus dem Textkorpus herausgelöst und damit visualisiert. Damit wird der Fokus des Lernenden von den unterschiedlichen Informationsschichten des Textes auf das Wesentliche, der Problemstellung des Textes gerichtet (z.B. linke Herzkammer, sauerstoffreiches Blut in die Aorta, wegführendes Blutgefäß Aorta). <?page no="198"?> Simone Kuplas 192 Verfassen eines Paralleltextes Anhand der notierten Schlüsselbegriffe verfassen die SchülerInnen für jeden Abschnitt einen Paralleltext in ein bis zwei Sätzen. Hierbei werden einerseits die fachlichen Inhalte gefestigt, andererseits wird die Schreibkompetenz gefördert. Der Lernende wird dazu veranlasst, seine einfachen Satzstrukturen mit den komplexeren Strukturen des Originaltextes zu vergleichen. Damit wird das Verständnis der fachsprachlichen Strukturen und des fachlichen Inhaltes erleichtert. Anschließend sollte jedoch die Rückbindung an den Originaltext erfolgen, sodass die SchülerInnen sich nicht ausschließlich mit dem Paralleltext beschäftigen (Krischer 2005, 85). Wortschatz und Wortbildung Erschließung der Kompositabildungen und Ableitungen In einem nächsten Schritt werden auf der Wortebene schwierige Kompositabildungen und Ableitungen erarbeitet, um den Schülern die Regeln der Bildung zu vermitteln. Der biologische Fachtext weist viele fachsprachliche Begriffe auf, wie zum Beispiel Aorta, Arterien, Kapillaren, Venen etc. Die neuen Begrifflichkeiten müssen im Unterricht eingeführt und semantisiert werden. Im Bereich der Wortbildung erschwert die Anhäufung mehrgliedriger Komposita das Textverständnis, wie zum Beispiel Stoffwechsel, Herzmuskel, Pulsschlag, Blutkreislaufsystem oder Herzkranzgefäße. Während sich das Kompositum Herzmuskel leicht über die Konnotationen der einzelnen Begriffe Herz und Muskel erschließen lässt, bezeichnet der Begriff Stoffwechsel ein Abstraktum, das als Sammelbegriff einen wichtigen biologischen Prozess bezeichnet und damit als Schlüsselwort in besonderer Weise für das Textverständnis von Bedeutung ist. Ein wesentliches Prinzip der Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Fachunterricht ist, dass der Fachwortschatz zyklisch wiederholt und gefestigt wird. Dabei muss stets ein konkreter Bezug zum fachlichen Kontext hergestellt werden, sodass die LernerInnen nicht nur die Bedeutungsebene des einzelnen Wortes, sondern auch die Inhaltsebene, auf der sich der Begriff befindet, erschließen. Bezogen auf die Erarbeitung des Kompositums der Herzmuskel ist das erste Lernziel die Erkenntnis der Funktion von Grundwort und Bestimmungswort: Das Grundwort (rechtes Glied: Muskel) benennt, was das Nomen bezeichnet und bestimmt die Wortart; das Bestimmungswort (linkes Glied: Herz) differenziert bzw. spezifiziert diese Bedeutung und bestimmt die Grammatik der gesamten Konstruktion, bei Substantiven auch das Genus und die Flexionsklasse (Duden 2006, 672). Da das Grundwort (Determinatum) Muskel durch das Bestimmungswort (Determinans) Herz semantisch näher bestimmt bzw. eingeschränkt wird, handelt es sich um ein Determinativkompositum. So wird das Wort Muskel durch die Komposition <?page no="199"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 193 modifiziert, in dem genannten Beispiel nach der Lage (Stirn-, Jochbein-, Bauch-, Oberschenkel- oder Herzmuskel). Die SchülerInnen identifizieren bei dieser Aufgabe das Kompositum, indem sie es in seine einzelnen Bestandteile zerlegen. Durch die Bildung des Genitiv-Attributs erschließen die SchülerInnen die Beziehung zwischen Attribut und seinem Bezugswort. In einem weiteren Lernschritt stellen die Lernenden einen konkreten Bezug zur fachlichen Inhaltsebene her, indem sie die Bedeutung des Kompositums Herzmuskel in dem biologischen Zusammenhang, dem Blutkreislauf des Menschen, ermitteln. Dazu paraphrasieren sie den Begriff kontextbezogen und gliedern diesen in einen Relativsatz auf. Gleichzeitig lernen die SchülerInnen, eine präzise Definition für den Begriff zu formulieren und wenden damit eine wesentliche Arbeitstechnik des Faches Biologie an. Die Probleme, die SchülerInnen beim Verwenden und Verstehen von Definitionen haben, sind auf den Verbgebrauch zurückzuführen. Diese drücken keine Handlung bzw. keinen aktiven Vorgang aus, sondern sind unpersönlich und deskriptiv (Ohm 2007, 72). Definitionen zeigen Gleichheitsbeziehungen zwischen Gegenständen, Vorgängen oder Begriffen auf. Die SchülerInnen sollten daher zum aktiven Gebrauch von Definitionen angeleitet werden. Die Arbeitsmethode zur Erarbeitung des Kompositums sollte den SchülerInnen vertraut sein, sodass die Methode auch in anderen fachlichen Kontexten angewandt werden kann. Die Abbildung 2 zeigt eine mögliche Erschließung eines fachspezifischen Kompositums am Beispiel des Begriffes „der Herzmuskel“ mit dem Erwartungshorizont (kursiv gedruckt). Arbeitsaufträge: 1) Analysiere das Wort „Herzmuskel“, indem du im Aufgabenteil 1 bis 3 das Kompositum genau bestimmst! 2) Umschreibe im Aufgabenteil 4 a) das Wort „Herzmuskel“, indem du einen Relativsatz bildest! 3) Benenne die Funktion des Herzmuskels im Blutkreislauf, indem du im Aufgabenteil 4b) den Satz vervollständigst! Der Herzmuskel 1) Grundwort: der Muskel 2) Bestimmungswort: das Herz 3) Genitivkonstruktion: der Muskel des Herzens 4a) Bezüge herstellen (Umschreibung): Definition: Als Herzmuskel bezeichnet man den Muskel, der zwischen Innenhaut und dem Herzbeutel liegt. 4b) Funktion im Blutkreislauf: Wenn... sich der Herzmuskel zusammenzieht, wird das Blut in die Adern und damit in den Körper gedrückt. Abb. 2: Erschließung des Kompositums der Herzmuskel im Fach Biologie <?page no="200"?> Simone Kuplas 194 Ein weiteres Merkmal fachsprachlicher Texte stellen im Wortschatzbereich die Derivationen dar. Die Ableitung eines Wortes erfolgt dabei durch Vorsilben (Präfixe + Grundform), wie zum Beispiel verzweigen und umspannen oder durch Nachsilben (Grundform + Suffix), wie zum Beispiel Störung, Durchblutung. Dabei weist die Endung -ung auf einen Prozess hin und bestimmt das feminine Genus des Nomens. Bei der Wortbildung des Verbes unterscheidet man u.a. die Präfixderivation und die Partikelverbbildung. Der Präfixderivation und der Partikelverbbildung gemeinsam ist die Ableitung eines Verbs mithilfe eines Präelementes von einer verbalen, substantivischen oder adjektivischen Basis (Partikelverbbildung: führen+hin hinführen; Präfixderivation: Zweig+ver verzweigen). Beide Wortbildungen unterscheiden sich darin, dass bei der Partikelverbbildung anders als bei der Präfixderivation keine festen komplexen, sondern sogenannte trennbare Verben entstehen, die sowohl morphologisch als auch syntaktisch trennbar sind (vgl. Duden 2006, 677). Sie verursachen oftmals bei SchülerInnen mit Migrationshintergrund Verstehensprobleme, da das vorgeschaltete Morphem die Bedeutung des Verbs leicht bzw. völlig abwandelt. Die Grundbedeutung der Verben wird durch die Präfixe differenziert und spezialisiert. Daher ist es bei dem Erlernen der Partikelverben sinnvoll, diese vom Verb ausgehend und kontextgebunden zu lernen (vgl. Duden 2006, 23). Abbildung 3 zeigt eine Möglichkeit der Erarbeitung der Partikelverben über ihre Differenzierung im fachlichen Verwendungszusammenhang. Bei den Verben hin- und wegführen fungieren hier als Erstglieder Verbpartikeln mit den Richtungsadverbien hin und weg. Arbeitsauftrag: 1. Setze das jeweils passende Verb in die Lücken! führen a) Alle Gefäße, die vom Herzen _________________ , nennt man Arterien. b) Alle Gefäße, die zum Herzen __________________ , nennt man Venen. c) Eine Verengung der Arterie kann zu einem Herzinfarkt ____________. Abb. 3: Erarbeitung der Differenzierung und Spezialisierung von Partikelverben anhand des Verbes führen hinführen wegführen <?page no="201"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 195 5 Von der Textrezeption zur fachsprachlichen Textproduktion. Die Förderung der konzeptionellen Mündlich- und Schriftlichkeit durch die Verwendung bildlicher und symbolischer Darstellungsformen Hier wird der Fokus auf die Förderung der produktiven Fertigkeiten gelegt. Ausgehend von den Problemen, die SchülerInnen mit Migrationshintergrund bei der Konstruktion komplexer Sätze haben, wird in diesem Methodenkomplex eine Textkompetenz im mündlichen sowie schriftlichen Sprachgebrauch gefördert. Dabei wird die Verwendung diskursstrukturierender Mittel geübt. Die SchülerInnen sollen lernen, Begriffe in Beziehung zu setzen, um ihren Informationsgehalt zu entschlüsseln und zu festigen. Sie sollen ihren Wortschatz erweitern und sich in sprachlicher Interaktion üben. Im Bereich der Grammatik wird auf der Satzebene der Passivgebrauch betrachtet. Als Unterstützung werden den Lernenden einige Verben in der Infinitivangabe zur Verfügung gestellt, die sie in mündlichen und schriftlichen Texten verwenden sollen. Das Passiv stellt eine der wichtigsten Sprachstrukturen in der Schriftlichkeit dar und ist in Fachtexten häufig zu finden. Durch Passivkonstruktionen bzw. Passiversatzformen wird der dargestellte Sachverhalt entpersonalisiert. Es werden Verfahren und Zustände beschrieben und dabei hat es keine Relevanz, wer der Handlungsträger ist. Im Aktiv wird dagegen vom Träger des Geschehens ausgegangen (vgl. Ohm 2006, 169). Beim Passivgebrauch unterscheidet man das Zustandspassiv (Auxiliarverb sein + Vollverb) vom Vorgangspassiv (Auxiliarverb werden + Vollverb) und den Passiversatzformen. SchülerInnen mit Migrationshintergrund haben oftmals große Schwierigkeiten, das Passiv als sprachliches Mittel einzusetzen und weichen daher auf die Aktivform aus. Insbesondere der Passivgebrauch in biologischen Fachtexten ist jedoch notwendig, um biologische Kontexte richtig zu verstehen. Die Umwandlung in einen Aktivsatz würde dabei zu einem unscharfen bzw. inhaltlich falschen Sachverhalt führen. Die Aussagen „Das Blut wird durch den Körper geleitet.“ oder „Bei jedem Herzschlag wird das Blut mit hohem Druck durch den Körper gepumpt.“ beschreiben den passiven Vorgang, dass das Blut nicht aktiv durch das Gefäßsystem des Körpers fließt, sondern dass es durch die Pumpleistung des Herzens, durch die Kontraktionen der Herzmuskelschicht, in das Gefäßsystem des Körpers gepresst wird. Damit wird die Effizienz der Behandlung des Passivgebrauchs im Fachunterricht deutlich, wenn man die Schriftlichkeit der SchülerInnen mit Migrationshintergrund fördern und die Entfaltung der Sprachkompetenz ermöglichen will. Das Ziel besteht darin, die SchülerInnen bei der Entwicklung von Kompetenzen im Bereich konzeptioneller Schriftlichkeit und bei der <?page no="202"?> Simone Kuplas 196 Ausbildung von Produktionsstrategien (vgl. Schramm 2008, 98) zu unterstützen. Arbeitsaufträge: 1. Benenne die Bestandteile des Herzens! Schreibe dazu die zutreffenden Buchstaben zu den Zahlen in die Kreise! (Einzelarbeit) 2. Zeichne die Fließrichtung des Blutes durch Richtungspfeile in die Abbildung! (Einzelarbeit) 3. Ergänze die Verbtabelle! (Einzelarbeit) 5 4. Erläutert Euch gegenseitig mit Hilfe der Abbildung und der eingezeichneten Fließrichtung des Blutes den Blutkreislauf! Verwendet dabei die Verben aus der Tabelle im Passiv! (Partnerarbeit) Abb. 4: Aufgaben zur Erarbeitung des Blutkreislaufes des Menschen mit sprachdidaktischem Fokus (Westermann Schulbuchverlag 1997) In dem hier vorliegenden Beispiel steht die sprachliche Ebene im Mittelpunkt. Der Text, der einen hohen fachsprachlichen Anteil aufweist, besitzt eine große Informationsdichte und damit ein hohes Abstraktionsniveau. Durch einen Wechsel der Darstellungsform kann das Abstraktionsniveau 5 Erwartete Arbeitsergebnisse: Es wird gepresst. Es wird gepumpt. Es wird abgegeben. Es wird aufgenommen. Es wird transportiert. Infinitiv Passiv. 3. Person Singular pressen pumpen abgeben aufnehmen transportieren (A) die Hohlvene (B) die Segelklappe (C) die Herzscheidewand (D) die Aorta (E) die Taschenklappe (F) die Lungenarterie (G) die rechte Vorkammer (H) die linke Herzkammer (I) die Lungenvene (J) die rechte Vorkammer (K) die rechte Herzkammer <?page no="203"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 197 aufgehoben und das Augenmerk auf die wesentlichen Informationen des Textes gelenkt werden. Die Darstellung des Herzens in Abbildung 4 verwendet die Bildsprache. Die SchülerInnen wiederholen den Bau des Herzens und rekonstruieren durch die Einzeichnung der Fließrichtung des Blutes den Blutkreislauf. Damit werden die Informationen des Textes in die Bildsprache übersetzt und die fachlichen Begriffe und Sachverhalte werden in neue fachliche Zusammenhänge gebracht. Auf diese Weise üben und vertiefen die SchülerInnen den Blutkreislauf des Menschen. Im Aufgabenteil 4 soll durch die Versprachlichung des Sachverhalts die Sprachkompetenz und insbesondere die fachsprachliche Kompetenz gefördert werden. Indem die SchülerInnen sich in Partnerarbeit gegenseitig den Blutkreislauf mit Hilfe der Abbildung erläutern, wird die fachliche Kommunikationskompetenz gefördert und die Sprachkompetenz entfaltet. Im kommunikativen Ansatz, welcher von Hymes geprägt wurde (Harden 2006, 48), rückt das sprachliche Handeln des Lernenden im Unterricht in den Mittelpunkt. Der Lernende muss sich Kommunikationsstrategien aneignen, sodass sein Sprachgebrauch der jeweiligen Kommunikationssituation, einem fachwissenschaftlichen Ge-spräch über den Blutkreislauf des Menschen, angemessen ist. Abbildung 5 zeigt ein Strukturdiagramm zu der Differenzierung der Blutgefäße (vgl. Leisen 2003). Als Darstellungsebene wurde die symbolische Darstellung gewählt, zu der neben dem Strukturdiagramm Formen, wie zum Beispiel Diagramme, Graphiken, Tabellen etc. zählen. Die Symbolsprache fordert von dem Lernenden einerseits ein hohes Abstraktionsvermögen, andererseits soll sie ihm dazu verhelfen, die komplexen Informationen des Textes in eine anschauliche Struktur zu transformieren und dabei die fachlichen Zusammenhänge zu vertiefen (vgl. Leisen 2003, 20). In der in Abbildung 5 dargestellten Aufgabenform vertiefen die Schüler- Innen die Differenzierung der Blutgefäße im Blutkreislauf des Menschen. Dazu übertragen sie im ersten Aufgabenteil die Schlüsselbegriffe aus dem Text in das Strukturdiagramm. In einem zweiten Arbeitsschritt stellen sich die Schülerinnen in Partnerarbeit die Übersicht gegenseitig vor, verbessern und ergänzen diese gegebenenfalls. Hier werden neben den Produktionsstrategien auch Interaktionsstrategien ausgebildet, die für die Entwicklung der fachlichen Kommunikationskompetenz eine wesentliche Voraussetzung darstellen (vgl. Schramm 2008, 99). Ein weiterer grammatischer Schwerpunkt bildet die Verbkonjugation. Den Lernenden wird eine Verbtabelle mit trennbaren, nicht trennbaren und reflexiven Verben zur Verfügung gestellt, die sie bei der mündlichen Präsentation des Strukturdiagramms verwenden sollen. Dabei üben sie neben der Konjugation der Verben die Differenzierung zwischen trennbaren und nicht trennbaren Verben und ihre unterschiedliche Stellung im Satz. <?page no="204"?> Simone Kuplas 198 Abb. 5: Strukturdiagramm zur Erarbeitung der Differenzierung der Blutgefäße mit sprachdidaktischem Schwerpunkt 6 6 Erwartete Arbeitsergebnisse: Zu 1: A) Arterien B) Venen C) Kapillaren D) Aorta E) Lungenarterie F) Körpervene G) Lungenvene H) die Organe, den Kopf, die Beine, die Arme I) die Lunge J) Hohlvene Zu 3: Im Blutgefäßsystem unterscheidet man die Arterien und die Venen. Als Arterien bezeichnet man die Blutgefäße, die vom Herzen wegführen, während die Venen zum Herzen hinführen. Die Arterien und Venen verzweigen sich weiter in haarfeine Gefäße, die man Kapillaren nennt. Diese umspannen die Organe. Bei den Arterien werden zwei Blutgefäße unterschieden, und zwar die Körperarterie (Aorta) und die Lungenarterie. Die Aorta verzweigt sich in weitere große Blutgefäße, welche die Organe, den Kopf, die Arme und die Beine mit Sauerstoff versorgen. Durch die Lungenarterie gelangt kohlenstoffdioxidreiches Blut in die Lunge. Die Kapillaren vereinigen sich zu den Arbeitsaufträge: 1. Ergänze die Blutgefäße im Strukturdiagramm! (Einzelarbeit) 2. Erläutert Euch gegenseitig das Blutgefäßsystem und verwendet dazu die Verben aus der Tabelle! (Partnerarbeit) 3. Erläutere schriftlich das Blutgefäßsystem in ca. 8 Sätzen! Blutgefäße A B C Organe D E G F J O² in H CO² in I Verbtabelle unterscheiden hinführen wegführen umspannen sich vereinigen versorgen sich verzweigen unterteilen <?page no="205"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 199 Der hohe Anteil der eigenen Sprachproduktion der Lernenden in den hier dargestellten Unterrichtsbausteinen begründet sich mit den Ergebnissen der DESI-Studie, die den Sprechanteil der Lehrenden als zu hoch einstufte (Klieme et al. 2006, 36). Durch die mündliche Sprachproduktion können sich die SchülerInnen die neuen Fachbegriffe und fachsprachlichen Wendungen zunächst in einer ihnen bekannten Sprachvariante, der konzeptionell mündlichen, aneignen. Erst in einem folgenden Schritt werden die SchülerInnen an die konzeptionelle Schriftlichkeit herangeführt, indem sie einen eigenen Text ausgehend von dem Strukturdiagramm produzieren (vgl. Kniffka/ Siebert-Ott 2007, 18). Die erwarteten Arbeitsergebnisse zeigen die Komplexität der Aufgabenform und damit die hohe Anforderung an die SchülerInnen. Durch die Versprachlichung des Strukturdiagrammes in mündlicher Form können die SchülerInnen die einzelnen grammatischen Teilbereiche anwenden (Herstellung innertextueller Bezüge durch die Verwendung von Proformen, Verwendung diskursstrukturierender Mittel, Gebrauch von Passivkonstruktionen) und nähern sich somit über die Anwendung fachsprachlicher Mittel der Bildungssprache. Wie Pauline Gibbons in einer Untersuchung gezeigt hat, muss die konzeptionell schriftliche Variante, die Bildungssprache, im Unterricht durch eine offensive Vermittlung der Fachsprache systematisch aufgebaut werden (Gibbons 2006, 272). Wichtig ist dabei, dass die Textproduktion nun von der eigentlichen Textvorlage losgelöst ist, welches durch den Wechsel der Darstellungsebene ermöglicht wird. Die Methode greift ein typisches Problem auf, das nicht nur SchülerInnen mit Migrationshintergrund haben, sondern welches auch bei SchülerInnen deutscher Herkunftssprache vorzufinden ist: die Schwierigkeit, einen Text zusammenzufassen und sich dabei vom Original zu lösen. Die LernerInnen werden somit sukzessive von der Textrezeption über den Wechsel der Darstellungsform an die eigene Textproduktion herangeführt. 6 Didaktische Konsequenzen Überschaut man das Angebot der Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien für den Bereich der Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung, so zeigt sich eine vielfältige Auswahl an Materialien zur Sprachförderung von SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache. Doch genau auf die Gefahr der inhaltslosen Methodenschulung muss an dieser Stelle hingewiesen werden. Die Integration von Sprachlernen im Fachunterricht darf nicht mit dem willkürlichen Einsatz von Methodenwerkzeugen und Kopiervorlagen verwechselt werden. Die Lehrwerke müssen inhaltlich und methodisch Venen, bei denen man die Lungenvene und die Körpervene unterscheidet. Die Körpervene wird in die untere und obere Hohlvene unterteilt. <?page no="206"?> Simone Kuplas 200 stärker den konkreten Sprachlernbedürfnissen der SchülerInnen angepasst werden (vgl. Kuhs 2008, 315). Der vorliegende Beitrag zeigt, dass der Biologieunterricht viele Handlungsmöglichkeiten bietet, die sprachlichen Hürden für LernerInnen nicht deutscher Herkunftssprache im Fachunterricht zu thematisieren. Anhand des Fachtextes konnten exemplarische Schwierigkeiten von SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache beim Verständnis von Fachtexten beleuchtet und gezielte Übungsformen zum Textverständnis, zur Vermittlung von Lesestrategien und zur Entfaltung von Bildungssprache vorgeführt werden. Nur wenn auch im Fachunterricht die Sprachschwierigkeiten der SchülerInnen mit Migrationshintergrund ernst genommen werden und die Vermittlung von Fachsprache gefördert wird, lassen sich langfristig feste Sprachstrukturen aufbauen. Dabei kann Sprachförderung im Fachunterricht nur erfolgen, wenn nicht bloße Sprachanreize angeboten, sondern Sprachstrukturen systematisch vermittelt werden. Dabei gilt es, den SchülerInnen mit Migrationshintergrund nicht ausschließlich Methodenwerkzeuge zur Verfügung zu stellen, sondern ihnen vor allem Lernstrategien zu vermitteln (vgl. Schramm 2008, 95). Die Lernenden sollen dazu befähigt werden, die ausgewählten Methoden und Lernstrategien selbstständig bei der Rezeption eines Fachtextes und bei der eigenen Textproduktion anzuwenden. Interaktionsstrategien und metakognitive Strategien erhalten hier eine besondere Bedeutung, um interaktive Fertigkeiten und das Sprachlernbewusstsein der SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache zu fördern (vgl. Schramm 2008, 99). Ziel ist eine offensive Sprachförderung, bei der die fachliche und fachsprachliche Kompetenz gleichermaßen gefördert werden. Es erscheint nicht sinnvoll bzw. ausreichend, den fachsprachlichen Lernproblemen der SchülerInnen mit Migrationshintergrund mit der Vorentlastung und Vereinfachung der Fachtexte zu begegnen. Zum einen erfordert dieser Weg von der Lehrkraft eine intensive Unterrichtsvorbereitung und Abstimmung der Unterrichtsmaterialien, zum anderen können über die defensive Methode langfristig keine fachsprachlichen Kompetenzen und damit auch nicht Sprachbewusstheit gefördert werden. Nur wenn der Lernende in die Lage versetzt wird, die fachsprachlichen Hürden selbstständig zu überwinden, lässt sich Sprachkompetenz und vor allem Sprachbewussheit entfalten und mit der Fachkompetenz verbinden. Literatur Ahrenholz, Bernt (2008): Mündliche Produktionen. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 173 188. <?page no="207"?> Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung im Biologieunterricht 201 Apeltauer, Ernst (2008): Wortschatzentwicklung und Wortschatzarbeit. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 239 252. Deutsches PISA Konsortium (ed.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen. Dollnik, Meral (2002): Fachchinesisch für Grundschüler. Handreichungen zu Deutsch als Zweitsprache. LISUM. DUDEN (2006): Die Grammatik. Band 4. Mannheim: Bibliographisches Institut. Ehlers, Swantje (2008): Lesekompetenz in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 215 227. Fix, Martin (2002): ‚Die Rechtschreibung ferbessern‘ Zur orthografischen Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch. In: Didaktik Deutsch, 7. Jg., H. 12, 39 55. Gibbons, Pauline (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in der Zweitsprache. In: Mecheril, P./ Quehl, Th. (eds.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann, 269 290. Grießhaber, Wilhelm (2002-2004): Sprachlernen in den Fächern. Münster: WWU Sprachzentrum. [http: / / spzwww.uni-muenster.de/ ~griesha/ eps/ dzu/ bio/ pawlow-verstehen.html]. (02.12.2009). Grießhaber, Wilhelm (2002-2004): Sprachlernen in den Fächern. Münster: WWU Sprachzentrum. [http: / / spzwww.uni-muenster.de/ ~griesha/ pub/ tsprachlernen-in-den-faechern-07.pdf]. (08.12.2009). Grießhaber, Wilhelm (2008): Schreiben in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 228 238. Grütz, Doris/ Pfaff, Harald (2006): Sachtexte in der Hauptschule verstehen vom Vorrang der Mündlichkeit. In: Tanzer, U./ Winterstein, Werner (eds.): Kultur des Lesens. Informationen zur Deutschdidaktik (ide) Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, H. 1, 53 63. Harden, Theo (2006): Angewandte Linguistik und Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr. Klieme, Eckhard (2006): Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der DESI- Studie. Frankfurt am Main: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Knapp, Werner (2007): Förderunterricht in der Sekundarstufe. Welche Lese- und Schreibkompetenzen sind nötig und wie kann man sie vermitteln? In: Ahrenholz, B. (ed.): Deutsch als Zweisprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 247 264. Knapp, Werner/ Pfaff, Harald/ Werner, Sybille (2008): „Kompetenzen im Lesen und Schreiben von Hauptschülerinnen und Hauptschülern für die Ausbildung eine Befragung von Handwerksmeistern“. In: Schlemmer, <?page no="208"?> Simone Kuplas 202 E./ Gerstenberger, H. (eds.): Ausbildungsfähigkeit im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Praxis. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 191-206. Kniffka, Gabriele/ Siebert-Ott, Gesa (2007): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und lernen. Paderborn: Schöning. Krischer, Barbara: Fachunterricht Geschichte und Sozialwissenschaften. In: Rösch, H. (ed.): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe 1. Grundlagen Übungsideen Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel 2005, 84ff. Kuhs, Katharina (2008): Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien für die schulische Vermittlung und Förderung von Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 315 323. Leisen, Josef (ed.) (2003): Methoden-Handbuch deutschsprachiger Fachunterricht. Bonn: Varus. Müller, Andrea G. (2008): Hörverstehen in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (eds.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, 253 264. Müller, Annette (2005): Lesen in der Zweitsprache und die Förderung des Verstehens fachlicher Texte. In: Evi, M. (ed.): Deutsch als Zweitsprache in der beruflichen Bildung: fünf Studienbriefe zur Fortbildung von Lehrkräften. Berlin: BMBF. Ohm, Udo/ Kuhn, Christina/ Funk, Hermann (2007): Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Münster: Waxmann. Ott, Margarete (2000): Schreiben in der Sekundarstufe 1. Differenzierte Wahrnehmung und gezielte Förderung von Schreibkompetenzen. Baltmannsweiler: Schneider. Philipp, Eckhard/ Wendel, Christian/ Westendorf-Bröring, Elke (2006): Biologie heute entdecken 7/ 8 Berlin. Braunschweig: Schroedel. Rösch, Heidi (ed.) (2005): Sprachförderung in der Sekundarstufe 1. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel. Rösch, Heidi (2005): Nahtstelle Übergang vom Primarzum Sekundarbereich. In: Bartnitzky, Horst/ Speck-Hamdan, Angelika (eds.): Deutsch als Zweitsprache lernen. Beltz, 110 120. Siebert-Ott, Gesa (2006): Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg. In: Auernheimer, G. (ed.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Wiesbaden: VS. Verl. Für Sozialwiss., 161-176. Stanat, Petra/ Baumert, Jürgen/ Müller, Andrea G. (2005): „Förderung von deutschen Sprachkompetenzen bei Kindern aus zugewanderten und sozial benachteiligten Familien: Evaluationskonzeption für das Jacobs- Sommercamp Projekt“. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 51, 856 875. <?page no="209"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Ein didaktisches Modell für das Fach Chemie Sprache ist ein Medium und Instrument des schulischen Lehrens und Lernens. In mehrsprachigen Klassen sind Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gefordert, Wissen in einer Sprache zu erwerben, die nicht ihre Muttersprache ist. Wissen wird in der Schule in fast allen Fächern auf der Grundlage bzw. im Medium von Texten vermittelt und erworben. Dies gilt nicht nur für den Sprachunterricht, sondern auch für den Sachunterricht, denn Texte spielen eine zentrale Rolle bei der Wissensvermittlung und beim Wissenserwerb in allen Fächern. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bringen oft weder in ihrer Erstsprache noch in der Zweitsprache die nötigen Voraussetzungen im Umgang mit Texten mit. Selbst nach jahrelanger Mühe und Anstrengung gelingt es ihnen häufig nicht, anhand von Texten im Unterricht zu lernen - schulisches Scheitern ist vielfach die Folge. Eine intensive Förderung der Sprach- und Textkompetenz sollte daher nicht nur im Sprachunterricht, sondern auch im Fachunterricht stattfinden. Nur dann kann das Potential des Sprachlernens für das Sachlernen genutzt werden - und Sprache als ein Instrument des Sachlernens im Unterricht eingesetzt werden. Naturwissenschaftslehrerinnen und -lehrer agieren vielfach in Unkenntnis dieses Umstands oder verfügen nicht über die nötigen didaktischen Strategien, neben der Vermittlung von Fachinhalten auch die Sprach- und Textkompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern. In diesem Beitrag geht es darum, didaktische Möglichkeiten der Förderung von Sprach- und Textkompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht in mehrsprachigen Klassen aufzuzeigen. Als ein konkretes Beispiel wird eine Didaktisierung für den Chemieunterricht auf der Basis des „3- Phasen-Modells zur Förderung von Textkompetenz“ (Schmölzer-Eibinger 2008) vorgestellt. 1 Textkompetenz als Schlüsselkompetenz des Lernens im Sachunterricht Wissenserwerb im Sachunterricht setzt voraus, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, Wissen aus Sachtexten zu gewinnen, es mit ihrem vorhandenen Wissen zu verbinden und mündlich oder schriftlich kohärent <?page no="210"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 204 darzustellen. Textkompetenz ist im Sachunterricht daher nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Schreiben und Sprechen gefordert. Eine Untersuchung der Textkompetenz von Schülerinnen und Schülern in mehrsprachigen Klassen im Grundschulalter (Peltzer-Karpf 2003) hat gezeigt, dass zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und muttersprachigen Schülerinnen und Schülern große Leistungsunterschiede bestehen. Sie bleiben gemäß der PISA-Studie (OECD 2007) und der TIMSS-Studie (2000), in der vor allem naturwissenschaftliche Kompetenzen und Kenntnisse getestet wurden, auch bei älteren Jugendlichen bestehen. Eine deutliche Kluft zwischen Zweitsprachenlernenden und Muttersprachigen konnte auch Vollmer (2008) in seiner jüngst veröffentlichten Untersuchung fachlicher Diskurskompetenzen feststellen. 2 Texte im naturwissenschaftlichen Unterricht Vor welche Anforderungen sind Schülerinnen und Schüler nun im Chemie-, Biologie- oder Physikunterricht gestellt, wenn es darum geht, anhand von Texten zu lernen? Fragt man Lehrerinnen und Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer, so findet man große Übereinstimmung dahingehend, dass es vor allem der Fähigkeit bedarf, Sachverhalte rezeptiv zu erfassen und diese verständlich und nachvollziehbar wiederzugeben (vgl. Hanser 1999). Der adäquate Umgang mit Fachterminologie ist ein erwünschtes, aber kein vorrangiges Ziel. Wir möchten im Folgenden vor allem von den Schülerinnen und Schülern ausgehen und von ihren Texten, die sie im naturwissenschaftlichen Unterricht verfasst haben. In Schülertexten manifestieren sich nicht nur Verstehens- und Schreibkompetenzen, sondern auch vorhandene (oder fehlende) Fähigkeiten, mit fachbezogenen Konzepten und Fragestellungen umzugehen. 2.1 Schülertexte im Naturwissenschaftsunterricht Welche Schülertexte werden im naturwissenschaftlichen Unterricht überhaupt geschrieben? Grundsätzlich wird im naturwissenschaftlichen Unterricht wenig geschrieben; die Schülerinnen und Schüler sind vor allem kaum gefordert, längere kohärente Texte zu schreiben. Ein Schüler drückt das so aus: Es fällt mir auf, wie selten ich einen zusammenhängenden Text zu einem bestimmten Thema verfassen muss. „Stichworte“ sind die eigentliche Unterrichts-Technik. Wie chaotisch diese Notizen sind, zeigt sich erst, wenn man damit lernen sollte. (Hanser 1999) Zu den Texten, die im naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe I und II geschrieben werden, zählen vor allem Texte, die der Leistungsüberprüfung dienen: <?page no="211"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 205 • Texte für Referate und Präsentationen: Hier greifen Schülerinnen und Schüler häufig auf Texte aus dem Internet zurück. Zweitsprachenlernende können den Schwierigkeitsgrad dieser Texte oft nicht einschätzen und haben Probleme, sie zu verstehen. Sie lernen die Texte meist auswendig oder lesen sie vor. • Tests und Schularbeiten in Physik und Biologie: Besonders in Biologie werden bei Schularbeiten oft zusammenhängende Fachtexte erwartet. Schulbuchtexte werden von den Schülerinnen und Schülern häufig auswendig gelernt und in der Prüfungssituation reproduziert. • Fachbereichsarbeiten im Rahmen der Matura/ des Abiturs: Diese Arbeiten sind inhaltlich und fachlich anspruchsvoll und werden in den Naturwissenschaften meist nur von besonders interessierten und leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern geschrieben - Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in dieser Gruppe stark unterrepräsentiert. Texte, die nicht der Leistungsüberprüfung dienen, werden im naturwissenschaftlichen Unterricht kaum geschrieben. Das Schreiben spielt in der fachdidaktischen Literatur, in den Lehrplänen und in den Schulbüchern naturwissenschaftlicher Fächer keine oder nur eine marginale Rolle (vgl. Kaiser 2008). 1 Schreibaufträge kommen entweder gar nicht oder nur in Form reproduzierender Schreibaufgaben vor. Die wissensgewinnende Funktion des Schreibens, die gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern von großem Nutzen wäre, wird meist kaum berücksichtigt; dasselbe gilt auch für prozessorientierte, auf die Zerlegung und Überarbeitung des Schreibvorgangs abzielende Schreibformen. Am häufigsten werden im naturwissenschaftlichen Unterricht Protokolle bzw. Mitschriften verfasst. Der Zweck von Mitschriften besteht primär darin, die wichtigsten Informationen festzuhalten, um sie in Prüfungssituationen zu reproduzieren. In Mitschriften dominieren einfache, syntaktisch verkürzte, elliptische Sätze. Finite Verbformen und Artikel werden meist weggelassen; Kohäsionsmittel werden selten bzw. oft unangemessen verwendet und häufig durch mathematische Symbole - wie etwa Pfeile - ersetzt: 2 Alle Bewegungen verlangsamen sich sichtbar Winkel der Achse veränderbar (Hanser 1999, 176) Nashorn hat aufgestaute Energie Rivale, Konkurrent (Hanser 1999, 201) 1 Diese Feststellung bezieht sich vor allem auf die österreichische Situation. 2 Grafische bzw. mathematische Darstellungsformen dienen der Konkretisierung naturwissenschaftlicher Konzepte und sind im Unterricht unverzichtbar. Sie werden in den Naturwissenschaften eingesetzt, um die Klarheit und Prägnanz von Sachverhalten zu erhöhen; dieses Ziel wird im Diskurs von Expertinnen und Experten in der Regel auch erreicht. Um die Sachlogik solcher Darstellungen zu verstehen, ist es aber notwendig, sie zu verbalisieren. Dies unterbleibt jedoch im Unterricht meist; fehlendes Verständnis ist die Folge. <?page no="212"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 206 2.2 Schülertexte als Manifestationen von Textkompetenz Welche Schwierigkeiten zeigen sich in diesen Beispielen? Zunächst bleiben in diesen stichwortartigen Notizen potentielle sprachliche Probleme verborgen. Auch mangelhafte Sachkenntnis zeigt sich nicht auf den ersten Blick; sie ist jedoch zu vermuten, da die einzelnen Informationen nicht schlüssig aufeinander bezogen sind und ihr Zusammenhang nicht eindeutig erkennbar ist. Dafür spricht auch die Erfahrung vieler Lehrerinnen und Lehrer, dass stichwortartige Mitschriften als Lerngrundlage häufig zu Misserfolgen führen. In einer Untersuchung von Hanser (1999) hat sich herausgestellt, dass die sachlich besten Schülertexte zu den längsten Texten zählen und diese nicht stichwortartig, sondern explizit, gut strukturiert und kohärent sind. Hanser konnte weiter feststellen, dass Verstöße gegen orthographische und grammatikalische Regeln zu den häufigsten Fehlern in naturwissenschaftlichen Texten zählen (vgl. Hanser 1999, 147), diese jedoch für das Fachlernen weniger schwerwiegend sind als semantische Fehler oder Schwächen im Bereich der Textkohärenz. Auch Vollmer (2008) hat festgestellt, dass Schwierigkeiten bei der Themenentfaltung, beim Einsatz von Kohäsionsmitteln und bei der Verknüpfung von Informationen noch am Ende der 10. Schulstufe zu den häufigsten Problemen beim Schreiben im Sachunterricht zählen. Das gilt vor allem für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die mit dem Schreiben von sachadäquaten, kohärenten Texten im Fachunterricht vielfach überfordert sind. Schon beim Lesen gelingt es ihnen meist nicht, relevante Informationen in den Texten zu erkennen und diese in eigenen Worten zusammenhängend wiederzugeben; sie konzentrieren sich oft zu sehr auf einzelne Wörter und nicht auf den Text als Ganzes und verfügen über unzureichende bzw. ineffiziente Strategien der Texterschließung. Die Folge ist eine starke Verlangsamung des Textverarbeitungsprozesses, die dazu führt, dass wort- und satzübergreifende Sinnzusammenhänge nicht erkannt werden. Sätze und ganze Textpassagen werden oft einfach abgeschrieben oder unverbunden aneinander gereiht. Die Schülertexte, die auf diese Weise entstehen, sind meist brüchig, unstrukturiert und inkohärent (vgl. Schmölzer-Eibinger 2008). Das Schreiben von kohärenten Texten ist daher auch im Fachunterricht von besonderer Bedeutung. Mit Schreibaufgaben, die das prozessorientierte, epistemische Schreiben berücksichtigen, kann nicht nur die Sprach- und Textkompetenz der Schülerinnen und Schüler gefördert werden, sondern auch ihre Fähigkeit, Konzepte und Zusammenhänge im Fachunterricht besser zu verstehen. Demgegenüber wird bei der Vermittlung neuer Inhalte im Naturwissenschaftsunterricht meist einfach vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler die erforderlichen sprachlichen Kompetenzen bereits mitbringen; erklärt werden daher oft nur die besonderen Termini des Fachs, davon ausgehend, dass sie die größten Lernprobleme bereiten. Das eigentli- <?page no="213"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 207 che Problem liegt jedoch weniger im Verständnis der Fachterminologie als im komplexen, in der alltäglichen Sprachpraxis nicht vorkommenden textgeprägten Sprachgebrauch (vgl. Gogolin et al. 2004, 4). 3 Förderung von Textkompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht - am Beispiel Chemie Wie kann Textkompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht gefördert werden? Im Folgenden möchten wir ein didaktisches Modell zur Förderung von Textkompetenz vorstellen, mit dem Schülerinnen und Schüler dabei unterstützt werden können, Texte im Sachunterricht besser zu verstehen und als ein Instrument des Lernens zu nutzen. Dieses didaktische Modell ist ein zentraler Bestandteil der Literalen Didaktik (Schmölzer-Eibinger 2008), deren Ziel darin besteht, grundlegende Strategien im rezeptiven und produktiven Umgang mit Texten zu vermitteln, die unabhängig von der Komplexität der Texte, den textsortenspezifischen Merkmalen und den Inhalten der Texte beherrscht werden müssen, um anhand von Texten kommunizieren und lernen zu können. Ausgangspunkt ist nicht das, was die Lernenden im Umgang mit Texten können sollen, sondern das, was sie bereits können. Es wird somit nicht einfach vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler die erforderliche Textkompetenz in den Unterricht mitbringen - es wird vielmehr versucht, an der vorhandenen Textkompetenz der Lernenden anzusetzen und diese im Rahmen der individuellen Lernmöglichkeiten zu erweitern. Das 3-Phasen-Modell gründet auf sechs didaktischen Prinzipien 3 und ist die Grundlage für eine Aufgabentypologie zur Förderung der Textkompetenz. Wir möchten auf dieses 3-Phasen-Modell im Folgenden näher eingehen und eine Aufgabenabfolge vorstellen, die für den Chemieunterricht 4 zum Thema „Atommodelle“ für die 11. Schulstufe eines Realgymnasiums entwickelt und in mehrsprachigen Klassen eingesetzt wurde. 3 Bei den sechs Prinzipien handelt es sich um: Integriertes Sprach- und Sachlernen, authentische Sprachpraxis, Sprachaufmerksamkeit, Integrierte Fertigkeiten, Kooperation und Fokus auf Schreiben. 4 Die Förderung der Sprach- und Textkompetenz hat im Chemieunterricht einen geringen Stellenwert. Sowohl in den Fachdidaktiken als auch in den Lehrplänen und Schulbüchern wird etwa das Schreiben nur knapp erwähnt und nicht ausdrücklich gefordert; es finden sich auch kaum Vorschläge für komplexere Schreibaufgaben; lediglich das Protokollieren wird als Schreibform im Lehrplan erwähnt, in den Schulbüchern jedoch nicht angeregt (dies gilt wiederum im Besonderen für die österreichische Situation) (vgl. Kaiser 2008, 49). <?page no="214"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 208 3.1 Das 3-Phasen-Modell zur Förderung der Textkompetenz Das 3-Phasen-Modell zur Förderung der Textkompetenz gliedert sich in die Phase der Wissensaktivierung, die Phase der Arbeit an Texten und die Phase der Texttransformation. In diesen drei Phasen wird ein mehrstufiger Prozess der Arbeit an Texten durchlaufen, der intensive sprach- und inhaltsgerichtete Lernaktivitäten erfordert. Die Aufgaben in diesem Modell können auf vielfältige Weise miteinander kombiniert und an die individuellen Voraussetzungen der Lernenden angepasst werden. Einzelne Aufgaben dürfen jedoch nicht isoliert herausgegriffen und beliebig aneinander gereiht werden, denn der Lerneffekt ergibt sich aus der spezifischen Abfolge und Kombination der Aufgaben und den dafür vorgeschlagenen Handlungs- und Sozialformen. Die sprachlichen und kognitiven Anforderungen ergeben sich durch die Konzeption der Aufgaben und die Komplexität der Texte: Je einfacher der Text, desto einfacher die Aufgabe. 3.1.1 Wissensaktivierung In der Phase der Wissensaktivierung sollen die Assoziationen und Kenntnisse der Lernenden zu einem Thema aufgerufen und für die weitere Arbeit im Unterricht verfügbar gemacht werden; ausgehend davon, dass Lernprozesse vor allem dann ergiebig sind, wenn das vorhandene Wissen der Lernenden aktiviert und mit dem neuen Wissen verknüpft wird (vgl. Wolff 2002, 92). In dieser Phase sind vor allem assoziative und kreative Schreibaufgaben vorgesehen, gefordert ist meist individuelles Schreiben, in den späteren Phasen gewinnt das kooperative Schreiben an Bedeutung. Dieses und alle folgenden Beispiele sind aus einer Didaktisierung der AutorInnen zum Thema „Atommodelle“ entnommen: Die geheimnisvolle Welt der Atome: Einzelarbeit Gruppenarbeit o o Wähle eines der ausgestellten Bilder als Impuls für deine Arbeit. o o Schreibe entweder a) einen Text in der Art einer Kriminalgeschichte, einer Science-Fiction-Erzählung, einer Liebesgeschichte, eines Zeitungsartikels … oder b) ein Gedicht zu deinem Bild. o o Verwende dabei Ausdrücke wie: Elektronen, Elementarteilchen, Elektronenbahnen, Neutronen, Protonen, positive und negative Ladung, Elektronenwolken, Atomkern … ohne Rücksicht auf die wissenschaftliche Bedeutung dieser Ausdrücke. o o Finde alle Mitschüler/ innen, die dasselbe Bild gewählt haben wie du, und vergleiche deine Arbeit mit der ihren. (Lest euch eure Arbeiten gegenseitig vor.) o o Überlegt, ob und wie ihr eure Arbeiten durch sinnvolle Kombination miteinander interessanter machen bzw. durch Korrekturen verbessern könnt. o o Klebt vergrößerte Kopien eurer Texte auf ein Plakat und hängt dieses zu eurem Bild. <?page no="215"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 209 Lest nun auch die in den anderen Gruppen entstandenen Texte und sucht gemeinsam (z.B. durch eine Abstimmung) die besten heraus. Abbildung 1 zeigt zwei der sechs ausgestellten Bilder : Abbildung 1: Impulsbilder Wie sehen Texte von Schülerinnen und Schülern zu dieser Aufgabenstellung aus? 5 Dazu liefert der folgende von einer Schülerin verfasste Text ein Beispiel: 6 Irgendwie kann man das Leben mit einem Atom vergleichen. Es klingt zwar ziemlich komisch, aber es ist so. Also, ich sehe das so: *Die Atomhülle stellt in gewisser Weise die ganze Welt dar. Der Atomkern befindet sich im Mittelpunkt des Atoms und dort wiederum halten sich die Protonen auf. Somit könnte man sagen, dass man sich selber dort befindet und ein Proton ist. Rundherum gibt es viele Protonen, die sich aber gegenseitig abstoßen, obwohl sie ja den selben Aufbau haben. Sowie im wahren Leben: Man hat viele Menschen um sich herum, die in irgendeiner Weise vielleicht einem ähnlich sind, oder sogar mit einem seelenverwandt sind, aber dennoch fühlt man sich zu diesen Menschen einfach nicht hingezogen. Die Elektronen befinden sich in der Atomhülle - also ziemlich weit weg von den Protonen und bekanntlich ziehen sich Protonen und Elektronen gegenseitig an, auch wenn sie soweit voneinander entfernt und auch verschieden (aufgebaut) sind. Fakt ist - sie ziehen sich an. 5 Für die praktische Durchführung der Unterrichtseinheit wurde eine Moodle-Plattform herangezogen. Deshalb wurde die Mehrzahl der Schüler/ innentexte in Form von Textverarbeitungsdateien abgegeben. 6 Die Schülertexte in diesem Beitrag stammen aus einer Klasse mit einem 100 % Anteil an Migrantenjugendlichen. <?page no="216"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 210 Und das ist, meiner Meinung nach, zweideutig: Im wahren Leben lieben sich Menschen auch wenn sie eine große Entfernung trennt. Das kann man aber auch, wie schon erwähnt, so sehen, dass zwischen zwei Personen die Verschiedenheit so groß ist und sie sich dennoch lieben. Gewollt oder Ungewollt. Glücklich oder Unglücklich. Vielleicht liebt man jemanden und ist glücklich damit, vielleicht aber, liebt man jemanden ohne es zu wollen, aber das spielt keine Rolle - Fakt ist - man liebt ihn .. so oder so .. Genauso wie die Protonen und Elektronen in jedem Fall von einander getrennt sind und sich trotzdem gegenseitig anziehen. Wie schon gesagt, es muss ja nicht einmal unbedingt jemand sein, den man lieben möchte - es ist einfach so - sowie es in der Chemie einfach so ist, dass sich Elektronen und Protonen gegenseitig anziehen. Ein Naturgesetz eben .. Wenn die Chemie stimmt, dann spielt auch die Entfernung oder Verschiedenheit zweier Menschen keine Rolle mehr. 3.1.2 Arbeit an Texten Die Arbeit an Texten bildet den Kernbereich in diesem Modell. Es geht hier darum, Texte aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu bewerten, Texte zu rekonstruieren, zu überarbeiten, zu verbessern bzw. neu zu konzipieren. Die Schülerinnen und Schüler sind gefordert, Hypothesen zu bilden und zu testen, Informationen zu selektieren, zu fokussieren, zu abstrahieren und für andere verständlich darzustellen. Mündliche und schriftliche Aktivitäten sind immer eng aufeinander bezogen, die Aufmerksamkeit liegt immer sowohl auf den Inhalten als auch auf der Sprache. In drei Stufen der Textarbeit - Textkonstruktion, Textrekonstruktion, Textfokussierung & Textexpansion - stehen jeweils andere Aspekte im Umgang mit Texten im Zentrum. In den Textkonstruktionsaufgaben geht es darum, vorgegebene Textfragmente zu ergänzen und kohärente und sachadäquate Texte zu produzieren. Im ersten Beispiel 7 sind die fehlenden Konjunktionen zu ergänzen: 8 Entwicklung der Atommodelle ... Die Überlegungen zum Aufbau des Atoms sind bekanntermaßen recht alt. So formulierten Leukippos und Demokrit vor rund 2500 Jahren die Atomistik, 7 Originaltext: http: / / home.arcor.de/ m_enning/ leben/ atom.htm. 8 Dieses - und alle folgenden - Beispiele wurden mehrfach im Unterricht erprobt. Die Aufgabe wurde von den Schüler/ innen in Bezug auf einzelne Lücken als schwierig empfunden, aber gut gemeistert. Die Beispielwiedergabe wurde für den vorliegenden Beitrag aus Platzgründen gekürzt. <?page no="217"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 211 wonach der Baustein der realen Welt das unteilbare und unzerstörbare Atom (griech.: atomos) sei. Diese Theorie geriet im Laufe der Zeit in Vergessenheit, bis der englische Chemiker John Dalton sie im beginnenden 19. Jahrhundert für seine Gastheorie neu formulierte. Doch sie war nicht von Dauer, denn mit Atomzertrümmerung und Kernspaltung tauchen seit dem Wechsel vom 19. in das 20. Jahrhundert immer weitere subatomare Teilchen auf. Das bis heute mehr oder weniger akzeptierte und gelehrte Atommodell kommt von Niels Bohr. Er war dänischer Physiker und Nobelpreisträger von 1922. Er suchte nach Erklärungsansätzen für das Spektrum des Wasserstoffatoms und veröffentlichte im Jahre 1913 das nach ihm benannte Atommodell. Es fußt auf der Quantenhypothese von Max Planck dem Atommodell von Ernest Rutherford. Rutherfords Abteilung führte 1909 Experimente durch, bei der eine dünne Metallfolie mit Alphateilchen (doppelt positiv geladene Heliumkerne - 2 Protonen und 2 Neutronen) beschossen wurde. Dabei stellten sie fest, dass der größte Anteil der Teilchen ungehindert durch die Folie ging dass nur ein kleinerer Teil abgelenkt oder zurückgeworfen wurde. (…) In den Aufgaben der Textrekonstruktion sind die Schülerinnen und Schüler gefordert, vorgegebene Texte genau, sachadäquat und kohärent wiederzugeben. Die vorgegebenen Texte müssen aufmerksam gelesen und die eigenen Texte mehrfach überarbeitet und verbessert werden. Es gilt dabei für die Lernenden nicht nur auf ihr Gedächtnis, sondern auch auf ihre vorhandenen Sprach- und Sachkenntnisse zurückzugreifen und diese im Text gezielt zu verarbeiten. Im folgenden Aufgabenbeispiel wird ein Text mehrmals vorgelesen, während sich die Schüler/ innen Notizen machen. Im Anschluss können sie Fragen stellen, ehe sie den Text aus dem Gedächtnis bzw. mit Hilfe ihrer Notizen rekonstruieren. 9 Wir rekonstruieren Atommodelle Du bekommst einen von 3 Abschnitten (I, II oder III) eines Textes. o o Jede Schüler/ innen-Gruppe ist für ihren Text-Abschnitt zuständig. o o Der gesamte Text wird von deiner Lehrkraft dreimal vorgelesen, wobei deutlich auf den Beginn der Abschnitte hingewiesen wird. Zur Rekonstruktion deines eigenen Abschnitts musst du dir aber den ganzen Text einprägen. o o Versuche beim ersten Vorlesen so viel als möglich zu verstehen und zu behalten! Mach beim zweiten und dritten Vorlesen Notizen! Danach habt ihr fünf Minuten Zeit, Fragen zu stellen. o o Sodann wird euer eigener Abschnitt neu geschrieben. Jede/ r Schüler/ in arbeitet zunächst allein. Achte dabei besonders darauf, dass vollständige und sinnvolle Sätze entstehen. Nun vergleichst du deine Ergebnisse innerhalb deiner 9 Es wurde ein selbst verfasster Text über das quantenmechanische Atommodell vorgelesen. Die Schülerinnen haben diesen in Gruppenarbeit rekonstruiert. <?page no="218"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 212 Gruppe. Stellt nun gemeinsam aus euren Einzelarbeiten einen möglichst vollständigen Text eures Abschnitts zusammen. o o Sodann werden die 3 Teiltexte zu einem Gesamttext vereint und mit dem Originaltext verglichen. Achtet dabei besonders darauf, dass euer Text passende Worte kombiniert (Nomen, Verben, Adjektive und Bindewörter! ). o o Diskutiert offene Fragen! Bei den Aufträgen zur Textfokussierung & Textexpansion sind die Lernenden gefordert, wichtige Informationen in einem Text zu erkennen, auszuwählen, zu gewichten, zu verknüpfen und schließlich zu erweitern. Dazu wiederum ein Beispiel aus der Didaktisierung zum Thema „Atommodelle“: Wir entschlüsseln Atommodelle Einzelarbeit Gruppenarbeit Teil 1 Schlüsselworte suchen o o Alle Schüler/ innen bekommen den gleichen Text über das Quantenmechanische Atommodell. o o Überfliege den Text, um herauszufinden, wovon die Rede ist. o o Lies den Text sorgfältig und versuche, so viel als möglich zu verstehen. o o Markiere nun Schlüsselworte und schreibe sie in eine Liste. o o Vergleicht die Listen untereinander und ergänzt fehlende Begriffe. o o Teilt die Schlüsselworte untereinander auf und gestaltet ein Glossar. Teil 2 Einen schwierigen Text lesbar machen o o Du bekommst einen von 3 möglichen Texten. (Die 3 Texte sind durch farbiges Papier gekennzeichnet.) Der Text hat keine Überschrift und ist nicht in Absätze gegliedert. o o Überfliege den Text zunächst und lies ihn dann genau. o o Versuche den Text besser lesbar und verständlich zu machen, indem du *Absätze und eventuell Zwischenüberschriften einfügst; *Sätze teilst, sodass in jedem Satz nur eine neue Information enthalten ist; und/ oder Sätze umstellst; *komplizierte Formulierungen durch einfache ersetzt; *passende Abbildungen suchst und einfügst. o o Lies dir dein Ergebnis kritisch durch und finde heraus, ob du den Text nun besser verstehst. o o Vergleiche deine Arbeit mit der jener Kolleg/ innen, die den gleichen Text haben. Findet ein gemeinsames Ergebnis! Und so sieht einer der Texte aus, die lesbar gemacht werden sollen: Im Periodensystem der Elemente (PSE) sind die Elemente nach steigender Ordnungszahl geordnet. Das erste Element im PSE ist also der Wasserstoff mit der Ordnungszahl 1. Die Ordnungszahl ist gleich der Kernladungszahl, d.h. sie ist gleich der Anzahl der Protonen im Atomkern. In der Natur kommen Elemente mit einer höheren Ordnungszahl als 92 (Transurane) nur in Spuren bzw. gar nicht vor, aber in Kernforschungsinstituten bemüht man sich, immer weitere Elemente zu <?page no="219"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 213 erzeugen. Diese superschweren Elemente haben eine so kurze Lebensdauer, dass sie für die Chemie nicht von Interesse sind. Das PSE ist eine Tabelle mit Zeilen und Spalten, in die die Elemente nach bestimmten Regeln eingeordnet sind. Es wurde ursprünglich 1869 von Dimitrij Mendelejew und Lothar Meyer unabhängig voneinander fast gleichzeitig aufgestellt. Um zu verstehen, wie die Elemente im PSE angeordnet sind, muss man sich zunächst näher mit der Struktur der Elektronenhülle befassen. Die Elektronenhülle ist in Schalen gegliedert, die ihrerseits noch eine innere Struktur aufweisen. Wie Niels Bohr gezeigt hat, kann die n-te Elektronenschale maximal 2n 2 Elektronen aufnehmen. Die Besetzung der Schalen der Elektronenhülle mit Elektronen erfolgt nach definierten Regeln. Die Elektronenhüllen der Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich zunächst durch die Anzahl der Elektronen. Die Elektronen werden immer von der innersten Schale nach außen (das heißt nach steigender Energie) besetzt, sodass die ersten n Elektronen des (n+1). Elements genauso angeordnet sind wie beim Element mit der Ordnungszahl n, und das (n+1). Elektron wird außen hinzugefügt. Im PSE werden die Elemente zunächst in einer Zeile nebeneinander geschrieben, solange das jeweils hinzukommende Elektron in die gleiche Schale kommt, wie das letzte Elektron des vorhergehenden Elements. Alle Elemente einer Zeile des PSE (= Periode) haben daher gleich viele Elektronenschalen, die Elemente der 3. Schale haben also zum Beispiel 3 Elektronenschalen. Kommt das erste Elektron in die nächst höhere Schale, beginnt im PSE eine neue Zeile, wobei die Elemente so unter jene der vorhergehenden Periode geschrieben werden, dass Elemente mit gleich viel Elektronen in der äußersten Schale (= Valenzelektronen) in die gleiche Spalte kommen. Die Spalten heißen Gruppen des PSE, und alle Elemente einer Gruppe haben gleich viele Valenzelektronen. So ergeben sich 18 Gruppen, wobei in den ersten 3 Perioden nicht in allen Gruppen Elemente platziert sind, während in der 6. und 7. Periode nach der 2. Gruppe noch zusätzliche Elemente eingeschoben sind. Weil die erste Schale nur 2 Elektronen aufnehmen kann, sind nur zwei Elemente in der ersten Periode. Die zweite Schale kann acht Elektronen aufnehmen und die zweite Periode enthält acht Elemente. Danach werden die Verhältnisse wegen der Unterschalen in der Elektronenhülle komplizierter. Elemente, deren Atome gleich viele Valenzelektronen haben, haben ähnliche chemische Eigenschaften, sie bilden eine Elementfamilie. Im PSE treten so periodisch in jeder neuen Zeile Elemente mit bereits bekannten chemischen Eigenschaften auf. Das hat der Tabelle ihren Namen gegeben. Wie wird nun diese Aufgabe von den Schüler/ innen gelöst? Auch dazu ein Beispiel: 10 10 Dieser Text wurde von der Schülerin direkt mittels Textverarbeitungsprogramm erstellt. Im Original wurden die Änderungen des Aufgabentexts von der Schüler/ in rot und fett hervorgehoben. Die Arbeit zeigt, dass die Schülerin den Sinn der Aufgabe gut verstanden hat. <?page no="220"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 214 Das PSE wurde im Jahre 1869 von Dimitrij Mendelejew und Lothar Meyer gleichzeitig aufgestellt. Dimitrij Mendelejew Lothar Meyer Das Periodensystem (PSE) ist eine Tabelle mit Zeilen und Spalten, in der die Elemente nach steigender Ordnungszahl geordnet sind. Die Ordnungszahl, auch Kernladungszahl genannt, gibt die Anzahl der Protonen in einem Atomkern an. Mit der Ordnungszahl 1 ist also der Wasserstoff gemeint, das erste Element im PSE. Um zu verstehen, wie die Elemente im PSE angeordnet sind, muss man sich näher mit der Struktur der Elektronenhülle befassen: Die Elektronenhülle ist in Schalen gegliedert, die noch eine innere Struktur aufweisen. Nach Niels Bohr kann die erste Schale maximal 2n 2 Elektronen aufnehmen. Die Besetzung der Elektronen in den Schalen der Elektronenhülle erfolgt nach definierten Regeln: Die Elektronenhüllen der Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich durch die Anzahl der Elektronen. In die innerste Schale passen nur zwei Elektronen, also gibt es auch nur zwei chemische Elemente, die nur diese innerste Elektronenschale haben, das sind jene mit den ersten beiden Ordnungszahlen: 1 (Wasserstoff) und 2 (Helium). Im PSE werden die Elemente zunächst in einer Zeile nebeneinander geschrieben. Alle Elemente einer Zeile des PSE (= Periode) haben gleich viele Elektronenschalen. Die Elemente der 3. Schale haben also zum Beispiel 3 Elektronenschalen. Kommt das erste Elektron in die nächst höhere Schale, beginnt im PSE eine neue Zeile, wobei die Elemente mit gleich viel Elektronen in der äußersten Schale (= Valenz-Elektronen) in die gleiche Spalte kommen. Die Spalten heißen Gruppen des PSE und alle Elemente einer Gruppe haben gleich viele Valenz-Elektronen (Außenelektronen). So ergeben sich 18 Gruppen, wobei in den ersten 3 Zeilen bzw. Perioden nicht in allen Gruppen Elemente platziert sind. Weil die erste Schale nur 2 Elektronen aufnehmen kann, sind nur zwei Elemente in <?page no="221"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 215 der ersten Periode, wie schon vorhin erwähnt, das erste Element ist der Wasserstoff und das zweite Element, Helium. Die zweite Schale kann acht Elektronen aufnehmen und die zweite Periode enthält acht Elemente. Elemente, deren Atome gleich viele Valenzelektronen haben, haben ähnliche chemische Eigenschaften, sie bilden eine Elementfamilie. Im PSE treten so periodisch in jeder neuen Zeile Elemente mit bereits bekannten chemischen Eigenschaften auf. Das Periodensystem dient heute vor allem der Übersicht. Das heißt, dass man daraus folgendes ablesen kann: o o Ordnungszahl = Anzahl der Protonen = Anzahl der Elektronen (wenn das Atom ungeladen ist) o o Atommasse (meist die Zahl „oben“) zusammen mit Ordnungszahl die Anzahl der Neutronen (= Atommasse - Ordnungszahl) o o zu welcher Hauptgruppe gehörig da die Elemente einer Hauptgruppe ähnliche Eigenschaften haben, weiß man etwas über die Eigenschaften o o Anzahl der Atomschalen ergibt sich aus der Periode (= Zeile) Bildquellen: Mendelejew: http: / / www.fiebich-frankfurt.de/ MENDELEJEW.html Meyer: http: / / www.wou.edu/ las/ physci/ ch412/ perhist.htm Periodensystem: http: / / www.experimentalchemie.de/ 05-e-pse.htm <?page no="222"?> Sabine Schmölzer-Eibinger & Elisabeth Langer 216 3.1.3 Texttransformation In der Phase der Texttransformation werden Texte aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und in neue Kontexte transferiert. Die Lernenden sind gefordert, komplexe Sinnstrukturen zu erkennen, zu rekonstruieren bzw. neu aufzubauen. Vorgegebene oder selbst recherchierte Texte dienen als Impuls und Ressource für die eigene Textproduktion. Die Schülerinnen und Schüler sind in dieser Phase noch stärker als in den vorangegangenen Phasen dazu angehalten, Lernprozesse autonom zu steuern und zu gestalten. Hier wiederum ein Beispiel aus der Didaktisierung zum Thema „Atommodelle“: Atommodelle selbst beschreiben 1. Phantasietext Einzelarbeit Nimm deinen Phantasietext aus Phase 1 nochmals her und überlege, wo er mit den dir nun bekannten Erkenntnissen über Atome übereinstimmt und wo nicht. Ändere den Text bzw. das Gedicht so ab, dass keine offensichtlichen Widersprüche zu den naturwissenschaftlichen Thesen über Atome bestehen. 2. Eigener Sachtext Gruppenarbeit Zieh eines der Themen aus der Zettelbox und erstelle zusammen mit 2 Mitschüler/ innen einen eigenen Text zum Thema. Dabei dürft ihr alle verfügbaren Lehrbücher zu Hilfe nehmen. Euer Text sollte möglichst genau im Stil eines naturwissenschaftlichen Fachtexts verfasst sein, aber einfach und gut verständlich geschrieben. Das heißt: Die Sätze sollen nicht zu lang sein und die Fachausdrücke nicht mehr als nötig. Fügt einige wenige passende Abbildungen ein. Der gesamte Text (ohne Abbildungen) soll etwa die Länge einer A4-Seite haben. Sachtext-Themen: Bohr’sches und Quantenmechanisches Atommodell - eine Gegenüberstellung - Die historische Entwicklung der Atommodelle von Demokrit bis zur Gegenwart - Die Struktur der Elektronenhülle und das Periodensystem - Isotope: Definition, Vorkommen und praktische Bedeutung 3.2 Rückmeldungen aus der Praxis Bei der ersten Anwendung dieser Didaktisierung im Chemie-Unterricht wurde das 3-Phasen-Modell von den Schülerinnen und Schülern sehr positiv aufgenommen. Wo ihnen die Aufgabenstellung zu schwierig erschien, haben sie das rückgemeldet, sodass die Arbeitsaufträge durch zusätzliche Hinweise angemessen vereinfacht werden konnten. Kommentar eines Schülers: Die Aufgabenstellung hat mir zum Teil sehr gut gefallen, zum Teil weniger. Besonders lustig war der Anfang, also der Phantasietext, den wir selbst erfinden sollten. Sehr schwie- <?page no="223"?> Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht 217 rig fand ich den Text mit den fehlenden Sätzen - da hatte ich zuerst überhaupt keine Idee … Kommentar einer Schülerin: Die Aufgaben waren im Allgemeinen sehr interessant. Was mir persönlich besonders gut gefallen hat, waren die Phantasiegeschichten und ihre Korrektur, weil man sich dabei mit dem Thema auseinandersetzen konnte bzw. musste. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass man fast alle Aufgaben selbstständig bzw. in Gruppen erledigen konnte. Die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Texten wuchs im Laufe der Einheit und bildete eine solide Basis für die weitere Textarbeit. Der hohe Zeitaufwand, den ein angemessener Einsatz des 3-Phasen-Modells mit sich bringt, erscheint dadurch gerechtfertigt. Literatur Gogolin, Ingrid/ Kaiser, Gabriele/ Roth, Hans-Joachim/ Deseniss, Astrid/ Hawighorst, Britta/ Schwarz, Inga (2004): Mathematiklernen im Kontext sprachlichkultureller Diversität. Hamburg: Forschungsbericht an die DFG. Hanser, Claudia (1999): Schreiben im naturwissenschaftlichen Unterricht. Eine Untersuchung von Physik- und Biologietexten und deren Entstehungsbedingungen auf der Sekundarstufe II. Bern: Haupt. Kaiser, Elisabeth (2008): Der Stellenwert des Schreibens in den Sachfächern. Graz [Diplomarbeit]. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin/ Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften Kiel/ Humboldt-Universität Berlin (2000): TIMSS. In: [http: / / www.mpib-berlin.mpg.de/ TIMSSII-Germany]. (02.12.2009). OECD (2007): Pisa 2006: Science Competencies for Tomorrow’s World. Vol. 1: Analysis. Peltzer-Karpf, Annemarie (2003): Bilingualer Spracherwerb in der Migration. Psycholinguistische Langzeitstudie. Graz [unveröff. Manuskript]. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2008): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. Tübingen: Narr. Vollmer, Helmut Johannes (2008): Diskursfunktionen und fachliche Diskurskompetenz bei bilingualen und monolingualen Geographielehrern. In: Dietze, S./ Halbach, A. (Hrsg.): Bilingualer Sachfachunterricht (CLIL) im Kontext von Multilingualität, Plurikulturalität und Multiliteralität. Frankfurt/ M.: Lang. Wolff, Dieter (2002): Fremdsprachenlernen als Konstruktion. Grundlagen für eine konstruktivistische Fremdsprachendidaktik. Frankfurt/ M.: Lang. <?page no="225"?> Heidi Rösch DaZ im Literaturunterricht Literaturunterricht als Teil des Deutschunterrichts stellt für alle Schüler/ innen eine besondere Herausforderung dar, da literarische Texte wie Parabeln, Gedichte etc. verdichtet, in einer aus heutiger Sicht altertümlichen oder - gerade auch bei modernen Texten - verklausulierten Sprache gestaltet sind und entschlüsselt werden müssen. Hinzu kommt eine historische und kulturelle Distanz, die Literatur bei Schüler/ innen auslösen kann. Anders als beim Umgang mit Sachtexten müssen nicht nur Inhalt und Form, sondern auch Gehalt, Bedeutung und Wirkung des Werkes geklärt werden. Aus diesem Grund wird in der Literaturdidaktik besonderer Wert auf die Gestaltung der Anschlusskommunikation gelegt, die das Lesen von Literatur begleitet und ergänzt. Im Unterschied zu anderen Fächern ist DaZ im Literaturunterricht nicht nur zur Beschreibung der spezifischen Sprach(lern)situation von Schüler/ innen relevant, sondern findet sich auch im Lerngegenstand - vor allem in Texten der Migrationsliteratur wie dem Gedicht von Gino Chiellino. Es gibt also nicht nur den Blick auf DaZ-Schüler/ innen und deren Umgang mit Literatur im Deutschunterricht, sondern der Blick ist auch auf literarische Texte zu richten, die in DaZ verfasst sind, den Erwerb von DaZ thematisieren, Konflikte zwischen Deutsch als Erst- und Zweitsprachsprecher/ innen aufgreifen oder die einsprachige Dominanzkultur dekonstruieren. Im Folgenden sollen zunächst die DaZ-spezifischen Probleme benannt und Möglichkeiten ihrer Bearbeitung aufgezeigt werden. Anschließend werden Konzepte der Leseförderung sowie fremd- und erstsprachdidaktische Überlegungen zum Umgang mit Literatur aufgegriffen, um daraus die Konzeption eines zweitsprachdidaktischen Ansatzes abzuleiten. 1 DaZ-spezifische Probleme bearbeiten Neben allgemeinen, bereits gut erforschten Stolpersteinen für Schüler/ innen mit Problemen im Erwerb und Gebrauch der deutschen Sprache gibt es weniger gut erforschte fachspezifische Sprachprobleme. Die bekannten Stolpersteine finden sich in den Bereichen: Gino Chielino Jandeln für Ausländer ich wandel du handelst er jandelt oder sie jandelt wir mandeln ihr gandelt sie jandeln oder auch nicht <?page no="226"?> Heidi Rösch 220 • Lexik, insbesondere im Bereich des Strukturwortschatzes (Proformen, Partikeln, Präpositionen und Konjunktionen), Unsicherheit im Gebrauch von formelhaften Wendungen und der Fachsprache (z.B. Kompositabildung, Nominalisierung, Teekesselchen wie Tor). • Syntax, insbesondere in der Gestaltung und Entschlüsselung von Nominal- und Präpositionalphrasen, Genus- und Kasusmarkierung, Wortstellung im Satz (Stellung mehrteiliger Verbparadigmen), ‚sein‘ und ‚werden‘ als Hilfsverb (etwa zur Bildung des Passivs). • Orthografie, insbesondere die morpho-syntaktisch determinierten Bereiche. • Pragmatik, insbesondere im Bereich des Registergebrauchs (Alltags- und Fachkommunikation), des Textverstehens und -verfassens, wozu der Umgang mit Satzverknüpfungen, Gliederungssignalen, Textsortenmerkmalen etc. gehört. Diese „dem außerunterrichtlichen Spracherwerb schwer zugänglichen sprachlichen Erscheinungen“ (Barkowski 2003) sind idealerweise grundlegend in einer spezifischen DaZ-Förderung zu vermitteln, sollten dann aber integriert in den Fachunterricht gefestigt und fachspezifisch vertieft werden. Dies kann defensiv oder offensiv erfolgen. Defensiv meint eine enge Orientierung an den sprachlichen und ggf. auch fachlichen Problemen der Lernenden, das heißt, Texte werden entlastet, die Erstsprache wird als Semantisierungshilfe genutzt und die Lernerwartungen werden auf das von den Lernenden ad hoc Leistbare reduziert. Offensiv meint dagegen, dass die notwendigen, bislang noch nicht entwickelten Kompetenzen systematisch aufgebaut werden, um die Lernenden in die Lage zu versetzen, den Anschluss an die geforderten Leistungen zu finden. Die Gefahr eines rein defensiven Vorgehens ist die Unterforderung der Lernenden und ein Festschreiben ihres (vermutet geringen) Leistungsniveaus. Das Problem des offensiven Ansatzes ist die potentielle Überforderung der Lernenden, die Lernzuwächse gleichermaßen zu verhindern droht, weil die Lernenden mit für sie zu hohen Anforderungen alleine gelassen werden. Deshalb kann der Weg nur von der defensiven zur offensiven Lehrstrategie führen, das heißt, Lernende sollten auf dem Weg von der Assimilation, einer Wissensaneignung mit bereits vorhandenen Kategorien, zur Akkommodation, dem Erwerb neuer Kategorien und damit der Entfaltung ihrer bereits erreichten Kompetenzen begleitet werden. Lev Vygotskij (1978) nennt die Differenz zwischen dem „Actual Development Level“, das die erreichten Kompetenzen des Lernenden meint, und dem „Potential Development Level“, das auf Bereiche verweist, die der Lernende noch nicht selbständig lösen kann, die „Zone of Proximal Development“. Diese beinhaltet Anforderungen, die der Lernende nur mit Unterstützung eines Lehrenden („More-Knowledgable-Other“) lösen kann. Können diese Anforderungen auch zukünftig ohne Hilfe gemeistert werden, <?page no="227"?> DaZ im Literaturunterricht 221 so wächst das „Actual Development Level“ und eine neue „Zone of Proximal Development“ bildet sich. Um dies zu erreichen wird auf das Verfahren des „Scaffolding“ (vgl. Wood/ Bruner/ Ross 1976) verwiesen, das den Lernenden eine Art Baugerüst zur Verfügung stellt, um sich zu entwickeln, und das wieder entfernt wird, wenn der Prozess abgeschlossen ist. Das Gerüst beschränkt sich auf Bereiche, die den aktuellen Horizont übersteigen, denn das Verfahren zielt darauf, die Problemlösung weitestgehend ohne Anleitung zu ermöglichen. Voraussetzung für ein erfolgreiches Scaffolding ist ein strukturierter Plan, der es der Lehrperson ermöglicht, während der Durchführung die einzelnen Lernschritte genau zu beobachten. Die Umsetzung beginnt mit der Modellierung des Lernstoffes durch die Lehrperson, sie kann im Frontalunterricht, der aber kreativ zu gestalten ist, stattfinden, sollte aber bei den Lernenden durch das Verfahren des lauten Denkens eine Vorstellung von den anzustrebenden Zielen und hinführenden Methoden aufbauen helfen. Im nächsten Schritt assistiert die Lehrperson den Lernenden, wozu auch die Beobachtung und Einschätzung ihrer Lernfortschritte gehört. Im Verlauf des Prozesses wird die Komplexität der Aufgaben erhöht und die Unterstützung durch die Lehrperson soweit reduziert, dass die Lernenden selbständig arbeiten (vgl. McKenzie 1999). Dieses Verfahren, das gewisse Ähnlichkeiten mit dem didaktischen Prinzip Maria Montessoris, nach dem die Lehrkraft dem Kind hilft, es selbst zu tun, aufweist, setzt eine genaue Diagnose des bereits Erreichten voraus, erfordert eine intensive Vorbereitung und individuelle Unterstützung vor allem der ersten Lernschritte und eine begleitende Einschätzung der Lernfortschritte. Es unterstützt die Ausbildung von Lernstrategien und fördert die Ausbildung von Lernbewusstheit auf Seiten der Lehrenden und der Lernenden. Mir scheint dieses Verfahren aufgrund seiner Strukturiertheit in der Planung, Durchführung und Beobachtung sowie in der kleinschrittigen und zielführenden Unterstützung des Lernprozesses besonders geeignet für die Vermittlung von DaZ in Lerngruppen, die schon lange Zeit im deutschen Sprachraum leben und die deutsche Schule besuchen - eine Klientel, die sich im DaZ-Unterricht das aneignen muss, was sie im natürlichen Spracherwerb bisher nicht erwerben konnte. Somit eignet es sich für den DaZ-Unterricht, wobei die kontinuierliche Beobachtung der Lernfortschritte eine sehr hohe Anforderung an Lehrkräfte stellt 1 . Allerdings scheint mir ein solches Verfahren für die integrierte Förderung von DaZ im Fachunterricht weniger geeignet, denn dort kann nur punktuell auf Sprache fokussiert werden. 1 Berliner Studierende, die DaZ-Jugendliche in Ferienkursen über ein bis zwei Wochen nach einem strukturiert ausgearbeiteten Konzept (vgl. Rösch 2008) gefördert und den Sprachlernzuwachs auf Grundlage eines vorgegebenen Beobachtungsbogens, der die sprachlichen Lerninhalte abbildete, einschätzen sollten, brauchten trotz intensiver Schulung mehrere Durchgänge, bis sie diese Kompetenz erwarben. <?page no="228"?> Heidi Rösch 222 2 Lesen im Fremd-, Erst- und Zweitsprachenunterricht Lesen basiert nicht nur auf der Dekodierung von sprachlichen Zeichen bzw. Wörtern und ihrer Einbettung in den Satz und Text, sondern fordert auch die Koordinierung der Datenverarbeitung. Dazu gehört die Informationsaufnahme ‚von unten‘ (bottom up) aus dem Text heraus und die Informationsverarbeitung ‚von oben‘ (top down), indem sprach- und sachbezogenes Vorwissen aktiviert wird. Da die Informationsaufnahme von unten in der Fremdsprache sehr viel schwieriger ist als in der Erstsprache, wird für das Lesen im Fremdsprachenunterricht verstärkt auf den absteigenden Prozess und damit die Nutzung des vorhandenen Vorwissens über das Thema, die Textsorte, die sprachlichen Mittel etc. zurückgegriffen (vgl. Huneke/ Steinig 2005, 115f). Fremdsprachlernende werden angeregt, auf eine Wort-für-Worterschließung weitgehend zu verzichten und stattdessen ihre hypothetischen Sinnerwartungen (Vorwissen) zu formulieren und anschließend am Text zu überprüfen. Um dies zu unterstützen werden Lesetexte thematisch eingebunden, vorentlastet und an den Leseerfahrungen und -bedürfnissen der Lernenden orientiert. Da eine kulturspezifische Textgestaltung zu Missverständnissen führen kann, wird diese thematisiert, verglichen und in Beziehung gesetzt. Ergänzend wird statt einer nur produktionsorientierten auch eine rezeptive Grammatikarbeit (nach Heringer) gefordert, die eben nicht das Verstehen der Lexik, sondern auch das Verstehen morpho-syntaktischer Strukturen, von Konnektoren, Gliederungssignalen etc. in den Blick nimmt (vgl. ebd., S. 116f). In der Fremdsprachdidaktik wird zwischen niedrigstufigen Leseprozessen, die unbeeinflusst vom Hintergrundwissen des Lesers ablaufen, und höherstufigen Verstehensprozessen unterschieden (vgl. Würffel 2000). Da fremdsprachige Leser/ innen im Vergleich zu muttersprachlichen auf weniger effektive Vorkenntnisse über die Wahrscheinlichkeit von Buchstabenkombinationen, über den wahrscheinlichen Verlauf von Sätzen, über die Wahrscheinlichkeit von Wortkombinationen, über logische Strukturen verfügen und sich weniger effektiv auf ihr Weltwissen verlassen können, sollen sie durch ein Erwerbstraining unterstützt werden. Gerard Westhoff (1997, 2007) versteht Lesen im Fremdsprachenunterricht als interaktiven und konstruktiven Prozess von Wahrnehmen, Hypothesen bilden, Wahrnehmen, Hypothesen prüfen, Wahrnehmen usw. Entfaltet wird es über das Lesen vieler einfacher, authentischer Texte, bei dem die Lernenden Erfahrungen mit Buchstabenkombinationen, Satzverläufen und Wortkombinationen sammeln und lernen „aufgrund von gewissen Indizien im Text auf unterschiedlichen Textebenen Voraussagen zu machen“ (Westhoff 1997, 59). Im erstsprachlichen Deutschunterricht konzentrieren sich viele Ansätze zur Leseförderung auf den Bottom-Up-Prozess und führen vom überfliegenden zum gezielten Lesen, bevor Sinnabschnitte zusammengefasst und der Inhalt wiedergegeben wird (vgl. die Fünf-Schritt-Lesemethode in <?page no="229"?> DaZ im Literaturunterricht 223 Deutschlehrwerken von Klett). Im zweiten, oben ausgelassenen Schritt werden die Schüler/ innen aufgefordert, sich erstens über ihre Lesehaltung Gedanken zu machen, indem sie klären, was sie vom Thema bereits wissen, Fragen formulieren, oder überlegen, wofür sie die Information brauchen, und zweitens die Textsorte zu spezifizieren. Dieser Schritt ist die Grundlage für die Integration des Top-Down-Prozesses und sollte meines Erachtens an den Anfang gestellt werden. Entsprechend beginnt Heiner Willenbergs Lesestrategiemodell, das auf den Ergebnissen der DESI-Studie (vgl. Beck/ Klieme 2006, Willenberg 2004, Abb. 1) beruht, mit der Phase „vor der Lektüre“ zur Klärung des Vorwissens und endet mit der Phase „nach der Lektüre“ zur Synthesenbildung, das heißt, der Text wird zusammengefasst, es wird überprüft, was die Schüler/ innen behalten haben etc. Entscheidend ist aber die Phase „während der Lektüre“: Sie ist ausdifferenzierter als die oben genannte Methode und empfiehlt zunächst ein abschnittweises Vorgehen. In den einzelnen Abschnitten werden Wörter, Sätze und Bilder dekodiert, Inferenzen gebildet, Wissensschemata geöffnet und Emotionen geäußert. Anschließend werden mehrere Absätze verknüpft und ein (vorläufiges) mentales Modell gebildet. Eingeschoben wird die Fokussierung auf einzelne Stellen. Wie wichtig es für erfolgreiches Lesen ist, Inferenzen herzustellen, das vorhandene Vorwissen einzubringen und Verbindungen im Text nachzuvollziehen, zeigen auch die „Typen von Verstehensprozessen“, die der IG- LU-Studie (vgl. Bos u.a. 2004, Abb. 2) zugrunde lagen und damit das Grundschulalter betreffen. Prozessmodell des Lesens nach DESI Lexik identifizieren / Wörter u. Wortblöcke dekodieren Inferenzen bilden (zu Leerstellen) Fokussieren (auf schwierige Stellen, logische Verbindungen etc.) Schemata öffnen (Weltwissen, Wissen über Texte) Verknüpfungen herstellen (zwischen Textstellen) Mentales Modell bilden (Gesamtbild des Textes bezogen auf Figuren, Zeit, Ort, Motive) (Abb. 1) Typen von Verstehensprozessen nach IGLU ausdrücklich gegebene Informationen auffinden und verstehen einfache, offensichtliche Schlussfolgerungen herstellen komplexe Zusammenhänge (zu Weltwissen und Erfahrungen) herstellen und interpretieren Inhalt, Textstruktur und Sprache prüfen u. bewerten (Abb. 2) <?page no="230"?> Heidi Rösch 224 3 Leseförderung im Umgang mit Literatur Spezifische Lesefördermodelle für DaZ-Lernende liegen im Unterschied zu Sprachfördermodellen nur wenige vor. In der Regel wird auf vorhandene Ansätze zurückgegriffen wie in dem Projekt „Modulare Sprachförderung an Hauptschulen“ (vgl. Berkemeier/ Bohl/ Funke 2008), das im Baustein Lesen das Leseverstehenskonzept „Reciprocal Teaching“ von Annemarie S. Palincsar nutzt. Es sieht ebenfalls ein abschnittweises Lesen und die Bearbeitung im Gruppengespräch vor. Dabei werden folgende vier Schritte wiederholt: Formulieren von Fragen zum Gelesenen, zusammenfassen, klären von einzelnen Wörtern und Textpartien und voraussagen, wie es weitergehen könnte (vgl. ebd., 3). Mir erscheint die Zusammenfassung zu früh angesetzt, denn solange einzelne Wörter und Textpartien unklar sind, ist es sehr schwer, das Gelesene zusammenzufassen. Sinnvoll erscheint der Einstieg über das Formulieren von Fragen, wobei es DaZ-Schüler/ innen zumal in gemischten Gruppen mit DaM-Schüler/ innen erfahrungsgemäß sehr schwer fällt, dem nachzukommen. Oft halten sie ihre Fragen zurück, um ihr Nichtverstehen nicht öffentlich werden zu lassen. Nach meiner Erfahrung muss man das Formulieren von Fragen zu Texten mit DaZ-Schüler/ innen üben, damit sie dieses sinnvolle Verfahren auch nutzen können. Antje Dohrns Ansatz zur „Leseförderung mit literarischen Texten im DaZ-Unterricht“ ist sehr breit angelegt und erhebt den Anspruch die Lesekompetenz auch im Bereich Deutsch als Zweitsprache zu fördern (vgl. 2007, 107ff) und beschreibt Voraussetzungen und Bedingungen für einen DaZ- Unterricht auf der Grundlage von Literatur (ebd., 234ff). Im Zentrum steht die Vermittlung von Lesestrategien, die sich vom globalen über das selektive zum detailgenauen Lesen bewegen, um gerade im Umgang mit literarischen Texten textanalytisches Verstehen zu erreichen - etwa durch das Charakterisieren der Figuren, das Benennen und Analysieren von Sprache und Form sowie das Benennen von Stilmitteln in Verbindung mit dem Inhalt. Ihre Unterrichtsvorschläge, die sie an Kurzprosa, Migrationsliteratur, Kinder- und Jugendliteratur sowie fremdsprachiger Literatur ausführt, basieren auf dem Verfahren REGULESE nach Zoth (vgl. Dohrn 2007, S. 89). Auch hier wird zwischen den Phasen vor, während und nach der Lektüre unterschieden: • Vor der Lektüre werden die Aufgabenstellung gesichert, das persönliche Ziel, der Weg zur Erreichung und die Wahl der Methode geklärt. • Während der Lektüre kommen folgende „Detektivmethoden“ zum Einsatz: 1. Überschrift beachten (zur Aktivierung des Vorwissens zum Inhalt des Textes), 2. bildlich vorstellen (zur Veranschaulichung von Textstellen), 3. Umgang mit Textschwierigkeiten und 4. Verstehen überprüfen (als fortlaufende Überwachung des Leseprozesses), 5. Wichtiges unterstreichen und 6. Zusammenfassen (zur Reduktion des Textes auf seine <?page no="231"?> DaZ im Literaturunterricht 225 wichtigsten Aussagen), 7. Behalten überprüfen (als fortlaufende Überwachung des Leseprozesses). • Nach der Lektüre wird überprüft, ob die persönlichen Ziele erreicht wurden, welche Gründe den Erfolg/ Misserfolg bedingt haben und was beim nächsten Mal besser gemacht werden kann. Meines Erachtens setzt dieses Verfahren bereits kompetente Leser/ innen voraus, die z.B. mehrere Wege kennen und Methoden parat haben, um sich zu entscheiden, die in der Lage sind, ihren eigenen Leseprozess zu überwachen, zu beurteilen und daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Es scheint mir eher ein Verfahren für Lehrkräfte zu sein, die den Leseprozess strukturiert anleiten, um ihn durch Einschleifen bei den Lernenden in prozedurales Wissen zu überführen. Die Realisierung durch die Formulierung von Aufgaben zu ausgewählten Texten zeigt neben der Orientierung an den Lesestrategien eine Fokussierung auf Sprache durch Aufgaben zum Wortschatz, besonders im Blick auf ähnlich klingende Wörter oder Homophone, und seltener auch zur Syntax. Punktuell werden Stammformen von Verben geübt oder das genaue Verstehen durch Paraphrasierungen, Finden von Gegensätzen (zu Adjektiven) und Multiple-Choice-Aufgaben überprüft. Auch wenn diese sprachfokussierte Herangehensweise als sinnvoll zu betrachten ist, wird sie DaZ- Schüler/ innen nur bedingt gerecht. Denn, so hält Antje Dohrn nach ihrer ersten Erprobung fest, obwohl die Fehlerzahl insgesamt sinkt, machen DaZ- Schüler/ innen nach wie vor „ihre individuellen DaZ-spezifischen Fehler“ (ebd., 173). Das liegt meines Erachtens daran, dass auch ihr Modell keine strikte Fokussierung auf das DaZ-Spezifische, sondern einen verbundenen Sprach- und Literaturunterricht vorsieht, der sich an DaM-Schüler/ innen orientiert und die DaZ-Schüler/ innen punktuell in den Blick nimmt. Ich meine, dass es dringend erforderlich ist, Aufgaben nur für DaZ-Schüler/ innen zu konzipieren und diese im gemeinsamen Unterricht als DaZdidaktische Schleife ergänzend zum gemeinsamen Unterricht durchzuführen. Ergänzend, damit auch die DaZ-Schüler/ innen von dem ja auch für sie sinnvollen Angebot der Sprachfokussierung im Umgang mit literarischen Texten profitieren können. Auch ich plädiere dafür, die vorhandenen Lesekompetenzmodelle zu nutzen, diese dann aber konsequent auf DaZ-Schüler/ innen auszurichten. Bezogen auf das DESI-Leseprozessmodell bedeutet das: In allen Phasen - vor, während und nach der Lektüre - gilt es auf Deutsch als Zweitsprache zu fokussieren und interkulturelle Bezüge herzustellen. „Während der Lektüre“ sollten • nicht nur Inhalts-, sondern auch Strukturwörter dekodiert, Bezüge im Satz geklärt und Textbausteine identifiziert werden; • den Schüler/ innen zur Bildung von Inferenzen und mentalen Modellen Formulierungshilfen angeboten werden; <?page no="232"?> Heidi Rösch 226 • bei der Fokussierung und dem Öffnen von Schemata neben sprachlichen auch interkulturelle Bezüge hergestellt werden. Dieses Modell habe ich gewählt, weil es den Anspruch erhebt, auf Sach- und literarische Texte gleichermaßen anwendbar zu sein. Auch wenn es literarische Kompetenzen nicht differenziert abbildet, werden immerhin auf den drei oberen Ebenen Textstellen mit dem Ziel „Motive etc. aufzufinden“ verknüpft, beim Öffnen von Schemata spielt Wissen über Texte mit Konzepten wie Metapher, Komik etc. eine Rolle und das mentale Modell schließt die im Literaturunterricht übliche Beschäftigung mit Figuren, Zeit, Ort, Motiven ein. Im Unterschied zu literarisch akzentuierten Modellen bezieht es aber auch die Ebene der Identifikation der Lexik, der vergleichsweise schlichten Dekodierung von Wörtern und Wortgruppen ein. 4 Zum Umgang mit Literatur im Fremdsprachenunterricht Anders als im erstsprachlichen Deutschunterricht, der nach wie vor auf den zwei Säulen Sprache und Literatur, ergänzt um Medien als eigenständigen oder integrativ zu behandelnden Bereich, steht, haben sich im Fremdsprachenunterricht drei Säulen etabliert: Sprache, Literatur und (interkulturelle) Landeskunde. Allerdings wird der Fremdsprachenunterricht, der sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Fremdsprachen (vgl. Europarat/ Rat für kulturelle Zusammenarbeit 2001) orientiert, nicht entlang dieser drei Säulen, sondern entlang der sprachlichen Fertigkeiten (Verstehen: Hören und Lesen, Sprechen: am Gespräch teilnehmen und zusammenhängend sprechen sowie Schreiben) konzipiert. Unterschieden werden die Niveaustufen elementare (A1 und A2), selbständige (B1 und B2) und kompetente Sprachverwendung (C1 und C2). Dabei liegt der Fokus ganz deutlich im sprachlichen Bereich, die anderen Bereiche werden - leider nicht immer konsequent - integriert. So kann eine Person auf B1-Niveau mündlich „eine Geschichte erzählen oder die Handlung eines Buches oder Films wiedergeben und (ihre) Reaktionen beschreiben“, auf B2-Niveau kann sie „zeitgenössische, literarische Prosatexte“ lesen und verstehen. Auf C1- Niveau kann sie „Spielfilme“ und „literarische Texte“ rezipieren und „Stilunterschiede“ wahrnehmen. Erst auf C2-Niveau kann sie „literarische Werke“ mühelos lesen und verstehen und sich schreibend damit auseinandersetzen. Dabei deutet der gewählte Terminus Werk auf C2-Niveau gegenüber Text auf C1-Niveau auf eine anspruchsvollere Literaturauswahl hin. Berücksichtigt man, dass etwa in Baden-Württemberg „von den sechs Niveaustufen im schulischen Fremdsprachenunterricht bis zum Abitur die ersten vier Stufen erreicht (werden)“ (BW-Kultusministerium 2004, 3), so zeigt sich, wie gering der Spielraum für den Umgang mit Literatur in einem so beschriebenen Fremdsprachenunterricht ist. Gründe dafür sind ein Verständnis von Literatur als einer sprachlich anspruchsvollen Textsorte, die <?page no="233"?> DaZ im Literaturunterricht 227 eine hohe Rezeptionskompetenz voraussetzt, und die Annahme, dass eine (schreibende) Auseinandersetzung mit Literatur zusätzlich an eine hohe Textanalyse- und Sprachproduktionskompetenz gebunden ist. Heute beschränken nur noch formalistische Ansätze den Umgang mit Literatur auf Fortgeschrittene, während rezeptionsästhetische Ansätze, die „Leser als Mitspieler, urteilende Zuschauer und reflektierende Kritiker“ betrachten, schon im Anfängerunterricht Literatur einsetzen. Im kommunikativen Fremdsprachenunterricht handeln Lernende Bedeutungen in komplexen Kommunikationssituationen aus, was der Lernsituation im erstsprachlichen Unterricht sehr nahe kommt. Dort werden verschiedene Lesarten zugelassen und im Kontext von „Teaching the conflict“ zum Lerngegenstand gemacht. Gleiches gilt für interkulturelle Ansätze (vgl. Bredella 2007), die nicht mehr nur auf den Prozess des Fremd-, sondern auch des interkulturellen Verstehens zielen und davon ausgehen, dass Fremdsprachlernende kulturelles, (gesamt)sprachliches und literarisches Vorwissen mitbringen, das in den Erwerb und die Auseinandersetzung mit der Fremdsprache zu integrieren ist. So werden im modernen Fremdsprachenunterricht literarische Texte bereits im Anfangsunterricht zur Sprachvermittlung, Sprachreflexion und als Vorlage für eigene Sprachproduktionen genutzt. Ein Beispiel für Sprachvermittlung in Verbindung mit literarischen Texten liefert Matthias Augustin (2000), der die Bearbeitung des Spielfilms „Lola rennt“ im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht in Korea mit Wortschatz- und Strukturarbeit verbindet. Er präsentiert „Rola rön“ mit koreanischen Untertiteln verzögert und lässt die Lernenden mehrfach Vermutungen über den Fortgang (auch unter Verwendung der Erstsprache) äußern, übt dabei Vergangenheitsformen, Vergleiche zu formulieren und den Konjunktiv zu verwenden. Außerdem thematisiert er Berlin als Ort der Handlung unter landeskundlichen Aspekten und bearbeitet das Genre bereits vor Zeigen des Films, indem er typische Sprachmittel für einen, wie er meint, „Action- oder Gangsterfilm“ sammeln lässt. Natürlich könnte man kritisch anmerken, dass hier das literarische Werk für das Sprachlernen funktionalisiert und eine solche Bearbeitung der Vorlage literarisch nicht gerecht wird. Gleichzeitig zeigt der Versuch aber auch, dass ein kulturwissenschaftlich orientierter Umgang mit Literatur (vgl. Surkamp 2004) dafür geeignet ist, auch sprachlich und literarisch anspruchsvolle Literatur im Fremdsprachenunterricht zu behandeln. Der Referenzrahmen schließt ein solches Vorgehen keinesfalls aus. Kritisiert wird allerdings, dass Alltagsdiskurse dominieren, interpretative, ästhetische und interkulturelle Fähigkeiten weitgehend fehlen und Reflexionsfähigkeit und Bewusstheit erst auf den obersten Niveaustufen relevant sind (vgl. Krumm 2005). Dies korreliert mit dem oben genannten elitären Verständnis von Literatur, das den Umgang mit Literatur nicht nur im Fremdsprachenunterricht eher behindert als fördert. So zeigt sich auch im Deutschunterricht an deutschen Schulen eine Umorientierung auf nicht- <?page no="234"?> Heidi Rösch 228 literarische Texte und Kommunikationssituationen vor allem im Deutschunterricht der Haupt- und Berufsschulen. Die Abkehr von der Literatur wird oft mit der ihr unterstellten mangelnden Verwertbarkeit begründet, während etwa Hilmar Grundmann (2008) für den Umgang mit Literatur auch und gerade an berufsbildenden Schulen plädiert, denn die Kammern und Ausbildungsbetriebe fordern einerseits vom berufsschulischen Unterricht völlig zu Recht die Förderung von Schlüsselqualifikationen wie z.B. Team- oder Kooperationsfähigkeit und anderen sozialen Kompetenzen, diffamieren aber gleichzeitig genau jene Inhalte als überflüssigen Luxus, ohne die keine dieser Schlüsselqualifikationen zu haben ist: poetische Texte. 5 Zum Umgang mit Literatur im Erstsprachenunterricht Im Deutschunterricht wird der Umgang mit Literatur in den meisten Bildungsplänen unter den von der KMK (2003) in den Bildungsstandards formulierten Kompetenzbereich „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ subsummiert. Meines Erachtens ist der Umgang mit Literatur gleichermaßen in den anderen Kompetenzbereichen zu verankern. Denn selbstverständlich erfolgt der Umgang mit Literatur und insbesondere die eingangs genannte Anschlusskommunikation sowohl mündlich, wodurch der Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ berührt ist, als auch schriftlich, was auf den Kompetenzbereich „Schreiben“ verweist. Am Beispiel dieses Bereichs sollen spezifische Formen unterschieden werden: • Schreiben über Literatur findet im Kontext der traditionellen Aufsatzformen Inhaltsangabe, Charakterisierung, Textanalyse, Interpretation, Erörterung etc. statt und fordert von Lernenden die „untersuchende und erörternde Erschließung von Texten“ (KMK 2002). • Schreiben zu Literatur entspricht der „gestaltenden Erschließung von Texten“ (ebd.) und wird durch produktive Verfahren wie die Transformation oder Visualisierung von Texten, die Antizipation des weiteren Verlaufs oder die Reflexion des Textes aus der Perspektive einer Nebenfigur oder einer außerhalb des Textes stehenden Person etc. realisiert. • Das Schreiben von Literatur steht zwar nicht im Zentrum des Literaturunterrichts, es sieht aber ähnlich wie das Malen, Musizieren etc. im musisch-ästhetischen Unterricht im Kontext des freien oder kreativen Schreibens eigene Literaturproduktionen vor (wie etwa das Schreiben von „Elfchen“ bereits in der Grundschule). Eine wichtige Grundlage für die drei von der KMK festgelegten Aufsatzformen ist die Sprach- und Formanalyse literarischer Texte, die eng mit dem Kompetenzbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ verbunden ist. Statt eines integrativen Ansatzes, der den Umgang mit Literatur in alle Kompetenzbereiche integriert, ist natürlich auch die Etablierung eines eigenen Kompetenzbereichs denkbar, der in Analogie zum sprachlichen Kom- <?page no="235"?> DaZ im Literaturunterricht 229 petenzbereich „Literatur und ihre Wirkung untersuchen“ (Rösch 2008, 102) heißen könnte. Folgende von Clemens Kammler formulierten Standards für das Verstehen literarischer Symbole (vgl. Kammler 2006, 203f) liefern eine gute Grundlage für die Beschreibung der zu erreichenden Kompetenz: • Erfassen der (möglichen) Bildhaftigkeit sprachlich literarischer Elemente, • Bedeutungskonstitution durch In-Beziehung-Setzen und Überprüfen von Deutungshypothesen durch Bezugnahme auf andere Textpartien, • Bedeutungskonstitution durch In-Beziehung-Setzen von Deutungshypothesen zu historischen (und wirkungsgeschichtlichen) Kontexten, • Reflektieren des Spielraums, der dem Leser eingeräumt wird, • Kenntnis und kritischer Gebrauch einschlägiger Fachbegriffe. Doch der Weg dorthin bleibt offen. Für eine Umsetzung im Literaturunterricht mit DaM-Schüler/ innen ist zu klären, welche Bildhaftigkeit, Bedeutungskonstitution etc. in einem konkreten Text und von einer konkreten Lerngruppe erfasst werden kann oder erfasst werden soll, wie dieser Prozess zu unterstützen und in eine prozedurale Kompetenz zu überführen ist. Im Kontext interkulturellen Lernens sind die (inter-)kulturellen Dimensionen der Bildhaftigkeit, Bedeutungskonstitution etc. auszuloten. Im Blick auf DaZ-Schüler/ innen ist jeweils ergänzend zu klären: Welche sprachlichen Mittel sind nötig, um diese Aufgabe zu bewältigen, welche bringen die Lernenden mit, welche müssen vermittelt werden und wie kann gewährleistet werden, dass diese sprachlichen Mittel dauerhaft erworben und auf andere Situationen transferiert werden können. Dass dies im erstsprachlichen Deutschunterricht bislang kaum eine Rolle spielt, zeigt die Unterrichtseinheit von Matthis Kepser (2002) ebenfalls zu „Lola rennt“. Seine Unterrichtseinheit geht im Unterschied zur oben skizzierten DaF-Unterrichtseinheit weder auf die Sprache im Werk, noch auf die sprachlichen Herausforderungen für DaZ-Schüler/ innen ein. Im Vordergrund stehen Vergleiche zwischen dem Film und klassischen Dramen, die Analyse der Filmtechnik, die Auseinandersetzung mit der Uhr als Leitmotiv, dem Vergleich der drei Varianten und der Bedeutung dieser Struktur. Gemeinsam sind beiden Vorschlägen produktive Verfahren, wobei die für den erstsprachlichen Deutschunterricht sehr viel komplexer sind und neben dem Weiterschreiben der Dialoge auch das Verfassen einer Kurzgeschichte, was eine sehr hohe Anforderung an die literarische Kompetenz von Schüler/ innen darstellt, vorsehen. Während im erstsprachlichen Unterricht die literarische Ausrichtung der Einheit im Vordergrund steht, dominiert im fremdsprachlichen Unterricht die sprachliche - optimal wäre eine Verbindung beider Zielrichtungen, die Literatur und Sprache als gleichberechtigte Gegenstandsbereiche des Deutschunterrichts auffasst und diese auch im Blick auf DaZ-Schüler/ innen betrachtet. <?page no="236"?> Heidi Rösch 230 6 Literatur lesen mit DaZ-Lernenden Festzuhalten ist, dass Schüler/ innen mit Migrationshintergrund nicht grundsätzlich mehr oder andere Probleme im Umgang mit Literatur haben als ihre Mitschüler/ innen ohne Migrationshintergrund. Allerdings ist denkbar, dass sie aufgrund ihres familiären Umfelds oder ihres Schulbesuchs im Herkunftsland andere Literatur und eventuell auch andere Formen des Umgangs mit Literatur kennen und in die Schule mitbringen als ihre Mitschüler/ innen ohne Migrationshintergrund. Des Weiteren sind - wie in jedem anderen Fachunterricht auch - mögliche Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Fachsprache zu berücksichtigen. Zusätzlich zu den oben genannten sprachlichen Stolpersteinen stellt die Literatursprache durch den Schüler/ innen nicht geläufige (altertümliche, kulturell spezifisch geprägte, metaphorische oder auf den Schüler/ innen ferne Lebensbereichen verweisende) Wörter und Sprachmittel besondere Anforderungen an die Sprachkompetenz. Hier gilt es Semantisierungsverfahren (wie Worterschließungsverfahren, kontextuelles Erschließen, die Nutzung des inhaltlichen und sprachlichen Vorwissens, Paraphrasieren oder auch Übersetzung) gezielt zu vermitteln und einzuschleifen. Ein wichtiges Prinzip ist dabei, die vorhandene Sprachkompetenz zu entfalten, indem die Schüler/ innen gefragt werden, was sie verstanden haben, was sie (ggf. unter Anleitung) erschließen oder durch Paraphrasierung (als Randnotiz, durch die Lehrkraft oder andere Schüler/ innen) entschlüsseln können und erst das Übrige nachzuschlagen, zu erfragen, in die Erstsprache zu übertragen, sofern diese Sprache bezogen auf die relevante Sprachdomäne gut ausgebildet ist. Sprachliche Verdichtung und Verfremdung in literarischen Texten müssen nicht nur erkannt, sondern auch entschlüsselt und versprachlicht werden. Hierzu ist es wichtig, dass die Schüler/ innen lernen, Irritationen zu artikulieren, Vermutungen zu äußern oder selbst Fragen zu stellen. DaZ- Schüler/ innen sollten die entsprechenden Sprachmittel zur Verfügung gestellt werden und der Umgang damit solange geübt werden, bis sie sie selbständig und routiniert anwenden können. Damit die Schüler/ innen den in literarischen Texten (im Unterschied zu Sachtexten) intendierten nichtpragmatischen Diskurs nachvollziehen und in der Anschlusskommunikation, die die Lektüre literarischer Texte begleitet oder ergänzt, selbst führen können, brauchen sie zum Beispiel Sprachmittel zum Abwägen von Deutungsalternativen, die bei vielen DaZ-Schüler/ innen nicht vorausgesetzt werden können, sondern ihnen zur Verfügung gestellt werden müssen und durch unterrichtliche Verfahren in prozedurales Wissen überführt werden sollten. In DaZ-Feriensprachcamps mit Berliner Schüler/ innen der Sekundarstufe I wurde folgendes relativ simples, aber erfolgreiches Verfahren zum Austausch über gemeinsam gelesene Zeitungsartikel angewendet: Es wurden verschiedene Karten mit Redemitteln, die den Lernenden nicht geläufig <?page no="237"?> DaZ im Literaturunterricht 231 waren, in die Mitte gelegt, sie wählten eine und formulierten damit ihre Aussagen. Dieses Verfahren wurde mehrere Tage beibehalten, zum Teil kamen weitere Karten dazu, bis sich die Lernenden zunehmend von den Vorgaben lösen und auch ohne die Hilfsmittel die gelernten Redemittel selbständig nutzen konnten. Für die Anschlusskommunikation zu literarischen Texten könnten die Karten Vorgaben enthalten wie: „ich vermute“, „ich denke mir“, „im Unterschied zu …. meine ich“, „wenn man bedenkt, dass …“, „das sehe ich genauso/ anders als …, denn…“ etc. 7 Raster zum Knacken literarischer Texte In den DaZ-Feriencamps kam auch das Raster zum Knacken literarischer Texte (vgl. Abb. 4) zum Einsatz. Zunächst bearbeiteten die Jugendlichen die Parabel „Kleine Fabel“ von Franz Kafka, wobei der Fokus auf dem Prozess und nicht nur dem Ergebnis der Deutung lag. Der Text bot sprachlich kaum Schwierigkeiten. Auch bemerkten die Jugendlichen erst nach Aufforderung, wie lang der zweite Satz ist, obwohl „lange Sätze“ immer wieder auch in dem Kurs als Grund für Nichtverstehen genannt wurde. Die Jugendlichen zeichneten Bilder (vgl. Abb. 3 a+b), auf deren Grundlage der Text zunächst auf der Bildebene rekonstruiert wurde, indem zum Beispiel der Standort von Maus und Katze geklärt wurde, bevor die Sachebene angesprochen und zum Beispiel diskutiert wurde, warum „die Mauern aufeinander zueilen“, wofür sie stehen etc. Am Ende des produktiven Unterrichts wurde festgehalten, was in einem literarischen Text zu deuten ist: die Figuren(konstellation), die Sprache und das Ereignis. Der Text bot sich an, weil er sprachlich relativ einfach ist, aber hoch komplex in seinen Aussagen. Franz Kafka Kleine Fabel „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ - „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie. (Abb. 3a) (Abb. 3b) <?page no="238"?> Heidi Rösch 232 Anschließend arbeiteten die Jugendlichen mit dem Text „Kannitverstan“ von Peter Hebel aus dem Jahre 1809. Die Kursleiterin orientierte sich dabei an den Schritten des Rasters, das den Jugendlichen aber nicht vorlag. Die Jugendlichen antizipierten die Bedeutung des Titels und kamen relativ Literarische Texte knacken 1. Lies den Titel oder den ersten Abschnitt! Was erwartet dich: welcher Inhalt, welche Zeit, welche Figuren, welche Orte, welche Probleme? Welche Art von Literatur liegt vor: Gedicht oder Erzählung? Spielt das eine Rolle? 2. Lies den Text in kleinen Portionen und halte fest, was du verstanden hast! Wenn dir das schwerfällt, beseitige die Stolpersteine: a) Kläre unbekannte Wörter oder Wortgruppen! Tipp: Suche nach versteckten Wörtern in den Wörtern! Erschließe Bedeutungen aus dem Zusammenhang! Wenn das nicht klappt, frage andere oder schlage nach. b) Kläre komplizierte Sätze! Tipp: Markiere das Verb und finde heraus, wer handelt und wem etwas passiert, wo, wann und wie etwas passiert. c) Kläre Zusammenhänge zwischen den Sätzen! Tipp: Markiere Wörter, die dieselbe Person meinen oder auf denselben Sachverhalt verweisen! 3. Greife merkwürdige Stellen auf und denke darüber nach: Was bedeutet das? Was ist daran (für dich) merkwürdig? Sprich mit anderen darüber! 4. Formuliere eine Aussage über das Gelesene! Was sagt es dir? Was denkst du darüber? Wie könnte es weitergehen? Wenn du den Text ganz gelesen hast: 5. Greife etwas Besonderes heraus und verfolge es im Text! Tipp: Orientiere dich an Dingen, die immer wieder vorkommen. Wie wird im Text damit umgegangen: immer gleich, verschieden? 6. Ordne den Text ein! Worum geht es? Was hast du erfahren? Welche Fragen bleiben offen? In welcher Zeit spielt der Text? Wo spielt er? Welche Figuren kommen vor? Wie ist der Text: komisch, spannend, realistisch, phantastisch? Woran erkennt man das? 7. Formuliere eine Aussage über den Text! Was sagt dir der Text? Was denkst du darüber? Sprich mit anderen darüber! (Abb. 4) <?page no="239"?> DaZ im Literaturunterricht 233 schnell darauf, dass es um Verstehen geht und jemand sagt, er könne etwas nicht verstehen. Die Frage, um welche Sprache es sich handelt, führte zu wilden Spekulationen - auf Niederländisch kam niemand. Der Ort der Handlung wurde mit „irgendwo“, „in einem anderen Land“, „wo die anders reden“ treffend beschrieben. Die Kursleiterin begann zu lesen; die Schüler/ innen meldeten sich bei Unklarheiten. Anders als bei der Kafka-Parabel fand eine kontextuelle Klärung statt. Der Text wurde an der Stelle unterbrochen, an der das erste Mal im Text die Antwort „Kannitverstan“ auftaucht. Die Jugendlichen fanden eine sinngemäße Antwort, manche erinnerten sich auch an die Überschrift. Die Kursleiterin las weiter und brach vor der Erklärung des Missverständnisses „Aber der gute Fremdling glaubte, es (Kannitverstan, H.R.) sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte“ erneut ab. Nun bearbeiteten einzelne Gruppen einzelne Szenen des Textes. Sie lasen ihren Abschnitt, klärten Unklarheiten, wie sie es in der frontalen Phase gelernt hatten, selbstständig, markierten merkwürdige Stellen und besprachen sie mit anderen. Dabei musste immer wieder der Unterschied zwischen unklar und merkwürdig geklärt werden. Schließlich fassten sie den Inhalt für die anderen zusammen, was allerdings eher einer Nacherzählung gleich kam. Aus diesen Vorlagen wurden dann mit der Hilfskonstruktion „höchstens drei Sätze“ Inhaltsangaben erstellt. Diese wurden präsentiert und den Jugendlichen fiel auf, dass es in allen Abschnitten um dasselbe geht: Der Mann hält Kannitverstan für einen Namen und „will auch reich sein“. Sie überlegten sich ein Ende und lösten das Missverständnis mit „der Mann schämt sich“, „die anderen lachen ihn aus“. Das Originalende überraschte und führte zur Diskussion darüber, ob er am Ende glücklich ist, obwohl oder weil er sein Missverständnis nicht kennt, ob es besser oder schlechter ist, wenn man nicht alles versteht usw. Abschließend überlegten die Jugendlichen in Analogie zur vorher gelesenen „Kleinen Fabel“ von Kafka, ob es sich um eine Fabel handelt. Sie entschieden sich für eine „Fabel ohne Tiere“ und kamen damit dem parabolischen Charakter beider Texte ziemlich nahe. Die Schüler/ innen erhielten das Raster, zeichneten ab, was sie schon erledigt hatten (1-3, 6) und bearbeiteten den Rest. Das Raster kam bei anderen Erzähltexten erneut und diesmal ohne Vorbereitung zum Einsatz. Sicher können für dieses Verfahren alle für den Literaturunterricht als sinnvoll erachtete literarische Texte genutzt werden. Orientiert man die Auswahl an Themen wie Migration, Multiethnizität, Fremdheit, Globalisierung etc., kann dies auf DaZ-Schüler/ innen besonders motivierend wirken, weil sie in der Regel spezifische Aspekte in die Diskussion einbringen können. <?page no="240"?> Heidi Rösch 234 8 DaZ-Literatur lesen In dem schon genannten Schreibprojekt wurden deshalb auch Gedichte wie „Eigentum“ von Zehra Çirak behandelt. Die Kursleiterin legte zunächst nur die Nomen der ersten Strophe ohne Possessivpronomen auf. Die Schüler/ innen füllten die Lücken und experimentierten dabei mit un-/ bestimmtem Artikeln, Demonstrativ- und Possessivpronomen. Nachdem das Genus korrekt bestimmt war, sprachen sie über die unterschiedliche Wirkung von die Heimat, das Land etc. bzw. eine Heimat, ein Land etc. bzw. meine Heimat, mein Land etc. Nachdem sie den Originaltext der ersten Strophe gelesen hatten, sollten sie vermuteten, wer den Text verfasst haben könnte: Mann oder Frau, Minderheiten- oder Mehrheitsangehörige/ r. Die Mehrzahl vermutete „ein Deutscher“ oder „ein Nazi“. Entsprechend irritierend wirkte der Hinweis auf Zehra Çirak, eine türkisch-deutsche Autorin. Die Frage, welche Heimat, welches Land usw. sie denn wohl meine, blieb unentschieden. Auch die Titelsuche schaffte Verwirrung, bis einer der Jugendlichen leise vor sich hin sagte: „Mein, mein mein, alles mein“ und überrascht war, wie nah er damit dem Originaltitel gekommen war. Da er es ironisch gemeint hatte, wurde diskutiert, wie die Autorin zu diesem Eigentum steht. Die zweite Strophe wurde als Antwort auf diese Frage betrachtet. Abschließend formulierten die Jugendlichen die zentrale Aussage des Gedichts mit Hilfe von Redemitteln wie: „Land, Heimat und solche Sachen sind (nicht) das Eigentum von ....“, „Manche Menschen denken, ...“, „Wer (nur) an sein Eigentum denkt, ...“. Die vorgegebenen Redemittel lenkten die Gedanken der Jugendlichen, ohne sie einzuschränken. Die Jugendlichen in der Gruppe kamen mit den Vorgaben gut zurecht. Hätte jemand einen ganz anderen Gedanken formulieren wollen, so wäre dies natürlich möglich gewesen. Die Kursleiterin hätte dann die Aufgabe, den Jugendlichen darin zu unterstützen, ihn in anspruchsvoller Ausdrucksweise zu realisieren. Die Jugendlichen sollten das Gedicht in ihre Erstsprache übertragen, was auf geringe Begeisterung stieß. Ich hatte den Eindruck, dass sich manche dagegen sträubten, genau diesen Text in der Erstsprache zu verfassen. Ein Jugendlicher meinte, „mein Gott gibt es nicht“ im Sinne von Gott gehört niemandem. Erst durch die Übertragungsaufgabe war ihm und damit der Gruppe deutlich geworden, dass die Autorin offen- Zehra Çirak Eigentum meine Heimat mein Land meine Landsleute meine Sprache meine Geschichte mein Krieg mein Sieg meine Sehnsucht mein(e) Frau (Mann) mein Kind mein Haus mein Hab und Gut meine Zukunft meine Meinung mein Recht meine Person mein Nachbar mein Feind in meiner Zeit mein Gott steh mir bei dass mir alles bleibt da kommt einfach ein anderer mit seinem mein und nichts bleibt mir mehr nichts von mir ach du meine Güte <?page no="241"?> DaZ im Literaturunterricht 235 sichtlich auch gegenüber Gott Besitzansprüche thematisiert und gleichzeitig zurückweist. Die Arbeit mit dem Gedicht „Eigentum“ war eingebettet in eine Einheit zur Festigung des Genussystems in Kombination mit den unterschiedlichen Formen von Begleitern. Neben dem grammatischen Geschlecht ging es auch um die Bedeutung und Funktion des bestimmten, unbestimmten und Possessivartikels. Bei der literarischen Bearbeitung des Gedichts geriet dieser Aspekt immer wieder in den Hintergrund, wurde aber bei der Besprechung der herkunftssprachlichen Gedichte erneut aufgegriffen. Damit wurden zwei unterschiedliche Verfahren für den Umgang mit Literatur im DaZ-Unterricht vorgestellt: Das Raster zum Knacken von literarischen Texten, inklusive der vorgegebenen Redemittel, die durch den wiederholten Gebrauch sukzessive eingeschliffen und zu selbständig zu verwendenden Strategien werden (können). Auch die produktiven Verfahren im Umgang mit literarischen Texten fokussieren auf sprachliche Stolpersteine für Lernende oder aber auf die Leerstellen des Textes, die ja auch an sprachliche Mittel gebunden sind, wenn auch nicht immer so klar strukturierte wie im Falle des DaZ-Gedichts. Sie stellen - um auf den Ansatz des Scaffolding zurückzukommen - ein Gerüst dar, das an den konkreten Text angepasst werden muss und im Verlaufe des Leseprozesses wieder abgebaut wird, so dass der Originaltext stehen bleibt. Natürlich wird dadurch der Rezeptionsprozess gesteuert und eine unmittelbare Begegnung mit dem Original behindert, gleichzeitig lernen Jugendliche dadurch aber auch, sich literarischen Texten durch verzögertes Lesen, Antizipieren, Verändern und Transformieren selbständig zu nähern. Literatur Augustin, Matthias (2000): Tom Tykwer (1998) „Lola rennt“ im DaF-Unterricht (Korea). In: DaF-Szene Korea Nr. 12. [http: / / www.lvk-info.org/ lvk-121ola.htm]. (04.08.2007). Baden-Württemberg, Kultusministerium (2004): Leitgedanken zum Kompetenzerwerb Moderne Fremdsprachen. [http: / / www.bildung-staerkt-menschen.de / service/ downloads/ Bildungsstandards/ GS/ Grundschule_Fremdsprachen _Leitgedanken.pdf]. (12.10.2008). Barkowski, Hans (2003): Zweitsprachenunterricht. In: Bausch, K.-R./ Christ, H./ Krumm, H.-J. (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen, Basel: Francke, 57-163. Bausch, Karl-Richard u.a. (Hg.) (2003): Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion. Tübingen: Narr. Beck, Bärbel/ Klieme, Eckhard (Hg.) (2006): Deutsch Englisch Schülerleistungen International (DESI). Konzepte und Messung. Weinheim: Beltz Pädagogik. Berkemeier, Anne/ Bohl, Thorsten/ Funke, Reinhold (2008): Modulare Sprachförderung an Hauptschulen: Bausteine Lesen und Schreiben - Eine Projektskizze. Unveröffentlichtes Papier. Bos, Wilfried u.a. (Hg.) (2004): IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik im nationalen und <?page no="242"?> Heidi Rösch 236 internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. (Zusammenfassung im Internet: [http: / / www.erzwiss.uni-hamburg.de/ IGLU/ kurzversion-LV.pdf]. (13.6. 2005).) Bredella, Lothar (2007): Grundzüge einer interkulturellen Literaturdidaktik. In: Honnef-Becker, I. (Hg.): Dialoge zwischen den Kulturen. Interkulturelle Literatur und ihre Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 29-47. Dohrn, Antje (2007): Leseförderung mit literarischen Texten im DaZ-Unterricht. Frankfurt/ M. u.a.: Lang. Europarat/ Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin u.a.: Langenscheidt. (vgl. auch: [http: / / www.goethe.de/ Z/ 50/ commeuro/ 106.htm]. (21.10.2008).) Grundmann, Hilmar (2008): Der Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen - zentraler Ort für die Förderung sprachlicher und literarischer Kompetenzen oder so überflüssig wie sonst nichts? In: Rösch, Heidi (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Frankfurt/ M. u.a.: Lang, 153-163. Huneke, Hans-Werner/ Steinig, Wolfgang (2005): Deutsch als Fremdsprache. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kammler, Clemens (2006): Symbolverstehen als literarische Rezeptionskompetenzen. Zu Uwe Timm „Am Beispiel meines Bruders“ (Jahrgangsstufe 11-13). In: Ders. (Hg.): Standards Literarische Kompetenzen - Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Klett-Kallmayer, 196-212. Kepser, Matthis (2002): Tom Tykwer (1998) „Lola rennt“ im Deutschunterricht der Sekundarstufe II. In: Praxis Deutsch, 175, S. 49f. Krumm, Hans-Jürgen (2005): Lernen lehren - lehren lernen. Schwierigkeiten und Chancen des Autonomen Lernens im Deutschunterricht. In: Müller-Hartmann, A./ Schocker-von Ditfurth, M. (Hg.): Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 99-118. Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK) (2002): Beschluss zur Neuregelung der Einheitlichen Prüfungsordnung für das Abitur. Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK) (2003): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Bildungsabschluss (MSA). Martin, J. R./ Rose, David (2007): Learning to write/ reading to learn. Scaffolding. Democracy in literacy classrooms. London: Equinox. Mc Kenzie, Jamie (1999): Scaffolding For Success. In: FNO - The Educational Technology Journal. (vgl. auch [http: / / fno.org/ dec99/ scaffold.html]. (20.10.2008).) Rösch, Heidi (im Druck): DaZ-Ferienkurse mit Schüler/ innen der Sekundarstufe I. Schreibprojekt. Berlin: Institut für Berufliche Bildung und Weiterbildung. Rösch, Heidi (2008): Interkulturelle Kompetenz im Deutschunterricht. In: Dies. (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Frankfurt/ M. u.a.: Lang, 91-110. Surkamp, Carola (2004): Spielfilme im fremdsprachlichen Literaturunterricht: Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Filmdidaktik. In: Bredella, L. u.a. (Hg.): Literaturdidaktik im Dialog. Tübingen: Narr, 239-267. Vygotsky, Lev S. (1978): Mind in Society: Development of Higher Psychological Processes. Harvard University Press, 14. Ausgabe. Westhoff, Gerard (1997, 2007): Fertigkeit Lesen. Berlin u.a.: Langenscheidt (Fernstudieneinheit 17). Willenberg, Werner (2004): Lesestrategien. Vermittlung zwischen Eigenständigkeit und Wissen. In: Praxis Deutsch 187, 6-15. Wood, D./ Bruner, J.S./ Ross, G. (1976): The role of tutoring and problem solving. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry, 17, 2, 89-100. <?page no="243"?> DaZ im Literaturunterricht 237 Würffel, Nicola (2000): Rezension zu Westhoff: Fertigkeit lesen. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. [http: / / zif.spz.tu-darmstadt.de/ jg-04-3 / beitrag/ wuerff1.htm]. (22.2.2009). Chiellino, Gino (1987): Jandeln für Ausländer. In: Ders.: Sehnsucht nach Sprache. Kiel: Neuer Malik Verlag, 83. Çirak, Zehra (1991): Eigentum. In: Dies.: Vogel auf dem Rücken eines Elefanten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 86. Hebel, Johann Peter (1809): Kannitverstan. [http: / / gutenberg.spiegel.de/ hebel / hausfreu/ kannit.htm]. (02.12.2009). Kafka, Franz (1931): Kleine Fabel. [http: / / gutenberg.spiegel.de/ kafka / fabeln/ kleinefb.htm]. (02.12.2009). <?page no="245"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner Verstehen durch Schreiben. Anlage einer empirischen Studie zum produktiven Umgang mit mathematischen Textaufgaben 1 1 Durch Schreiben mathematische Textaufgaben verstehen Schreiben ist eine Tätigkeit, die wir originär mit dem Fach Deutsch verbinden. Es stellt einen wesentlichen Anteil des Deutschunterrichts dar, in dem die Schüler/ innen zunächst lernen, wie man schreibt (Schriftspracherwerb) und wie man richtig schreibt (Rechtschreibunterricht). Hierbei ist Schreiben ein Gegenstand des Unterrichts. Dies setzt sich beim Verfassen von Texten fort. Schüler/ innen lernen, wie man zum Beispiel eine Erzählung, einen Bericht oder eine Erörterung verfasst (vgl. Fritzsche 1994, 23). Darauf kann sich aber das Schreiben nicht beschränken. Fritzsche weist (1980, 100) dem Schreiben auch die Funktion eines „Lernmediums“ zu, durch das kommunikative, expressive, kognitive und vor allem schriftsprachliche Kompetenzen vermittelt werden. Schüler/ innen schreiben demnach also unter anderem, um sich einen Sachverhalt anzueignen, um ihn besser verstehen zu können und um schriftsprachlich verdichtete Informationen entschlüsseln zu können. Schreiben ist Lernmedium sowohl im Deutschunterricht als auch im Unterricht anderer Fächer. Fritzsche drückt das Verhältnis der Schulfächer zueinander so aus: „Der Deutschunterricht führt in das schriftliche Protokollieren, Interpretieren, ästhetische Gestalten ein, die anderen Fächer greifen auf diese Fähigkeiten zurück“ (1994, 23; vgl. Knapp 2003). Somit wird die Schreibaufgabe für Schüler/ innen als Mittel zum Zweck erkennbar, was ihr die Künstlichkeit und Lebensferne (Fritzsche 1994, 24) nimmt, von der manche schulischen Aufgaben bestimmt sind. Dass durch Schreiben auch anderes gelernt wird, rückt - nicht nur - in der Deutschdidaktik immer stärker in den Mittelpunkt, etwa im Themenheft „Lernen durch Schreiben“ von Praxis Deutsch (Fix 2008). Fix formuliert als These: „Schreiben kann […] in allen Bereichen des Deutschunterrichts […] und darüber hinaus in allen Fächern eine heuristische Funktion für das Lernen übernehmen“ (ebd., 6). Begründet wird diese These damit, „dass Schreiben solche Erfahrungen vermitteln kann, die für das Denken und Wissen gewinnbringend sind und somit Lernen bewirken“ (ebd., 7). Bekann- 1 Für wertvolle Hinweise danken wir Bernd Hafenbrak und Michael Kleine. <?page no="246"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 240 termaßen hängen Denken und Schreiben eng miteinander zusammen. Beim Prozess des Formulierens wird dies sichtbar. Es spielen sich kognitive Vorgänge ab, es werden Ideen gesucht, es werden Lösungswege entdeckt, es werden Gedanken verworfen, es werden Irrwege bemerkt. Der Schreiber stellt fest, dass sein Wissen unvollständig ist und sucht nach weiteren Informationen. Er sieht Widersprüche im formulierten Text und versucht sie aufzulösen, was zu neuen Widersprüchen führen kann. Diese Probleme behindern den Schreibprozess, sie wirken sich aber auch förderlich auf den Erkenntnisprozess aus (ebd., 7; Dörner 1987, 95ff.). Schreiben ist ein Mittel, um sich Sachverhalte anzueignen. Schreiber setzen sich im Schreibprozess mit den jeweiligen Bedeutungen intensiver auseinander, sie aktivieren Teile eines mentalen Netzes, aus dem sich unsere Erfahrungen und unser Weltwissen speisen (vgl. Quillian 1968). Sie erhalten Gelegenheit, ihre Haltung zum Inhalt zu reflektieren, sich zu distanzieren und sich daher (selbst)kritisch zu äußern. Auf diese Weise erfährt der Schreiber einen Lernzuwachs. Er kann neues Wissen in bereits bestehende Wissensnetze einfügen, also sein Wissen vernetzen. In unserem Zusammenhang ist relevant, dass Schreiben dazu beiträgt, Sachtexte besser zu verstehen. Beispielsweise wird in der Studie von Fix/ Schmid-Barkow (2005) nachgewiesen, dass durch Schreiben eines Sachtextes ein Problembewusstsein für die darauf folgende Lektüre eines Sachtextes zum selben Thema geschaffen wird. Das Verstehen von Sachtexten stellt für viele Schüler/ innen der Sekundarstufe ein großes Problem dar. Hierzu gehören vor allem Schüler/ innen mit Deutsch als Zweitsprache, auch wenn sie ausschließlich oder überwiegend die deutsche Schule besuchten. Schwierigkeiten gibt es beim Erkennen der Schemata von Texten, beim Wortschatz und beim Beherrschen von morpho-syntaktischen Strukturen (Knapp 1997; Ahrenholz 2006; Grießhaber 2006, 2008; DESI-Konsortium 2006). Die Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass die Erstsprache häufig zu wenig und daher auch die Zweitsprache unvollständig entwickelt ist, dass aber auch der Unterricht einer Schule mit „monolingualem Habitus“ (Gogolin 1994) zu wenig auf die spezifischen Voraussetzungen von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache abgestimmt ist. Für die Zielgruppe der Schüler/ innen mit Deutsch als Zweitsprache scheint es sinnvoll zu sein, Verstehensprozesse durch eigene Schreibprozesse zu unterstützen: Dabei sollen die Schreibaufgaben nicht zu komplex sein, um eine Überforderung zu vermeiden. Da Sprache, genauer Schreibprozesse, bisher in der Mathematik eine unterschätzte Rolle spielen, ist es sinnvoll und nötig, ein stärkeres Maß an sprachlicher Reflexion und an sprachlicher Produktion in den Mathematikunterricht zu implementieren (vgl. Knapp 2001). Insofern bietet sich ein fächerverbindender Unterricht zwischen Mathematik und Deutsch in besonderem Maße an (vgl. Ruf/ Gallin 1999; Knapp 2003; Knapp/ Pfaff 2008). Das Schreiben über mathematische Sachverhalte trägt zur Vernetzung des Wissens bei (vgl. Kunze/ Prediger 2005; Kleine/ Fischer 2005). Die Überle- <?page no="247"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 241 gungen, die zur mathematischen Lösung geführt haben, können erneut überdacht und damit transparenter gemacht werden, sie werden darstellbar und somit auch diskutierbar (vgl. Junker 2005). Mit der Aufgabe für Schüler, eigenständig Mathematikaufgaben zu verfassen, wird ein neuerer Ansatz der Mathematikdidaktik aufgegriffen (Gallin/ Ruf 1995; Hollenstein 1996; Pluspunkt Mathematik 2006). Bisher wurde beispielsweise durch Übungen mit sehr vielen Beispielaufgaben, mit Standardisierungen in den Fragestellungen und passenden Formalismen versucht, Routinehandeln zu erreichen. Dadurch kann tatsächlich eine befriedigende Lösungsquote bei Prüfungen erzielt werden. Tests wie bei TIMMS und PISA, bei denen die Aufgabenstellungen weniger vertraut sind, zeigen aber schnell, dass den Schülern ein tieferes Verständnis fehlt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern wurde seit der Reformpädagogik in der Mathematikdidaktik diskutiert. In den letzten Jahren wird in allen Unterrichtsfächern die aktive Rolle des Schülers beim Wissenserwerb betont. Auch das Ziel hat sich verändert: Nicht nur die Beherrschung von Formalismen wird angestrebt, sondern auch ein tragfähiges Grundverständnis der entsprechenden mathematischen Begriffe und Verfahren. In dieser Hinsicht ist die Grundschulmathematik führend. Schon lange wird durch Rollenspiele, bildliche Gestaltung, durch Erzählen und Erfinden von Rechengeschichten versucht, den Kindern eine aktivere Rolle zuzuweisen. Es gibt in didaktischen Veröffentlichungen und Schulbüchern der Grundschule inzwischen eine Vielzahl von Vorschlägen dazu. Die Sekundarstufe folgt dieser Entwicklung zunehmend. In den Abschlussprüfungen tauchen immer mehr problemorientierte Aufgaben auf, die ein tieferes Verständnis erfordern; die Schulbücher zeigen dieselben Veränderungen. Im neueren Mathematikunterricht gibt es verschiedene Situationen, in denen Schreiben als Lernmedium im oben genannten Sinne eingesetzt werden kann: • Schüler/ innen schreiben, um sich vertieft mit einem mathematischen Sachverhalt auseinanderzusetzen. Da das Schreiben mit einer Verlangsamung des Denkprozesses einhergeht, wird ein mehrfaches Überdenken angestoßen (vgl. Maier/ Schweiger 1999). • Schüler/ innen schreiben zur Reflexion des erworbenen mathematischen Wissens, vor allem zur Rückschau auf den eigenen Lösungsweg. In diesem Zusammenhang ist der konstruktive Umgang mit Fehlern bedeutsam, etwa durch diskursive Protokolle (vgl. Kaune 2005) oder durch so genannte „Nimm-Stellung! -Aufgaben“, in denen die Schüler aufgefordert werden, durch eigene Texte Mathematikaufgaben zu erklären oder ihre Fehler zu analysieren (vgl. Kaune 2001). Schreiben wird daneben im Mathematikunterricht unterstützend eingesetzt. Dabei steht die Bedeutung der eigenen Sprache für Schüler im Vordergrund: „Das Ausdrücken mathematischer Zusammenhänge in der eigenen Sprache <?page no="248"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 242 ermöglicht und verlangt, die gewonnenen Einsichten im individuellen Denken und damit auch in der eigenen Lebenswelt zu verankern“ (Kunze/ Prediger 2005, 5). Die genannten Schreibsituationen haben zwei Gemeinsamkeiten. Zum einen werden durch die Schreibprozesse Reflexionsprozesse unterstützt. Zum andern wird durch die Reflexion in Schreibsituationen neues Wissen in bereits bestehende Wissensnetze eingegliedert. Durch bewusstes und regelmäßiges Handeln wird dieses Wissen prozedural. Prozedurales Wissen liegt mental in einer Form vor, die es handlungsweisend werden lässt (vgl. Mandl/ Friedrich/ Hron 1988). 2 Explorative empirische Studie 2.1 Untersuchungsansatz Im Forschungsprojekt „Verstehen durch Schreiben - Produktiver Umgang mit mathematischen Textaufgaben“ an der PH Weingarten soll die Rolle des Schreibprozesses im Mathematikunterricht der Hauptschule am Beispiel der Produktion von Textaufgaben untersucht werden. Dies halten wir aus zwei Gründen für einen geeigneten Untersuchungsgegenstand (vgl. Knapp/ Pfaff 2008): 1. Textaufgaben sind Musterbeispiele für die Darstellung verdichteter Informationen. Bei einem geringen Textumfang können (und müssen) alle relevanten Operationen für Rezeption und Produktion durchgeführt werden. 2. Hauptschüler/ innen können aufgrund der Textkürze Aufgaben in überschaubarer Zeit selbst produzieren. Damit werden sie nicht vom Umfang der Aufgabe überfordert. Dies gilt insbesondere für Schüler/ innen mit Deutsch als Zweitsprache, deren Deutschkenntnisse gering sind. Von dem Verfassen von Textaufgaben erwarten wir folgende Effekte: • Es findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit mathematischen Sachverhalten statt, die sich in einer Verbesserung mathematischer Kompetenzen niederschlägt. • Es findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit sprachlichen Mustern statt, wie z.B. Textschemata oder Formulierungen, was zu einer Verbesserung der Schreib- und Lesekompetenzen führt. • Durch das Erfinden und Verschriftlichen von Textaufgaben entsteht vernetztes Wissen, das interdisziplinär für den Mathematik- und Deutschunterricht genutzt werden kann. Um diese Effekte zu überprüfen, videografieren wir Schüler/ innen, wenn sie in Partnerarbeit eine mathematische Textaufgabe verfassen. In diesen „Textherstellungsgesprächen“ handeln je zwei Schüler/ innen Fragestel- <?page no="249"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 243 lungen und Lösungswege zu vorgegebenen mathematischen Formaten aus und ermöglichen somit Einblicke in den Textherstellungsprozess. Am Ende des Textherstellungsprozesses (dem Kleist’schen „allmählichen Verfertigungen der Gedanken beim Reden“) steht dann die konstruierte Textaufgabe. Wir gehen von drei Problembereichen aus, die die Schüler/ innen im Umgang mit Textaufgaben zu lösen haben. Sie müssen: (1) den mathematischen Sachverhalt bewältigen (2) die Aufgabe planen, dabei (2.1) eine Alltagssituation vorschlagen (2.2) diese kommentieren und bewerten (2.3) eine Aufgabe für diese Situation entwickeln (2.4) die Aufgabe kommentieren und bewerten (3) die Textaufgabe formulieren Gleichzeitig müssen die Schüler/ innen in den Dialogen organisatorische und kommunikative Fragen lösen, worauf wir hier nicht eingehen wollen. Die drei Problembereiche werden nicht sukzessiv, sondern rekursiv bearbeitet. Wir erwarten, dass vor allem bei den Problembereichen (1) und (2) eine vertiefte Auseinandersetzung mit mathematischen Sachverhalten und vor allem bei den Problembereichen (2) und (3) eine vertiefte Auseinandersetzung mit sprachlichen Mustern stattfindet. Vernetztes Wissen kann bei der Bearbeitung aller drei Problembereiche entstehen. 2.2 Anlage der Prätests Um die Prozesse des Problemlösens beim Verfassen einer Textaufgabe zu untersuchen, führten wir zwei Prätests durch, bei denen je zwei Schülern/ innen einer 8. Hauptschulklasse Zahlen, Symbole und Operationen vorgelegt wurden (künftig „Vorgabe“ genannt). Die Schüler/ innen sollten dazu gemeinsam Textaufgaben entwickeln. Im ersten Prätest wurden vier Paaren je drei Vorgaben zur Dreisatzrechnung, im zweiten Prätest 13 Paaren je drei Vorgaben zur Prozentrechnung vorgelegt. Die Textherstellungsgespräche wurden videografiert. Durch das Textherstellungsgespräch sollten die Problemlöseprozesse sichtbar werden, die während der Textherstellung ablaufen. In der folgenden Analyse beziehen wir uns auf zwei Vorgaben, die zuerst vorgestellt werden, bevor wir ausgehend von den drei Problembereichen Sequenzen der Textherstellungsgespräche analysieren. Vorgabe 1: Prozentrechnung 100 % --- 220 1 % --- 2,20 19 % --- 41,80 220,00 41,80 261,80 <?page no="250"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 244 Beispiel für eine angemessene Textaufgabe: Ein Fernsehapparat kostet 220 Euro. Dazu kommen 19 % Mehrwertsteuer. Wie viel muss man insgesamt bezahlen? Der Lösungsweg besteht aus zwei Schritten: (1) Zuerst müssen 19 % von 220 Euro berechnet werden (Prozentrechnung in Form eines Dreisatzes). (2) Die Mehrwertsteuer von 41,80 Euro wird zu 220 Euro addiert (Additionsaufgabe). Vorgabe 2: Antiproportionale Zuordnung (auch Dreisatz) Beispiel für eine angemessene Textaufgabe: 30 Arbeiter benötigen für die Ausbesserung eines Autobahnabschnitts 5 Tage. Wie lange benötigen 50 Arbeiter? Als Basis für die Analyse nach den drei Problembereichen dient das Textherstellungsgespräch Dialog 1 zu Vorgabe 1, das im Anhang vollständig transkribiert wiedergegeben ist. In ihm kann man exemplarisch und zusammenhängend sehen, wie die Probleme „mathematischen Sachverhalt bewältigen“, „Aufgabe planen“ und „Textaufgabe formulieren“ zu lösen versucht werden. Um ein breiteres Spektrum an Problemlösungen aufzuzeigen, werden zusätzlich zu Dialog 1 noch Ausschnitte aus weiteren Textherstellungsgesprächen herangezogen (Dialog 2 und 3). Zuerst soll das Textherstellungsgespräch Dialog 1 näher charakterisiert und sequenziert werden. In Dialog 1 zu Vorgabe 1 konzentrieren sich die beiden Schüler A und B nur auf den rechten Teil der Vorgabe, der dem zweiten Lösungsschritt entspricht. Sie ordnen den drei Zahlen verschiedene Größen zu (Lose, Euro, Schüler). Sie suchen eine Situation und eine Größe, die zur Vorgabe passt, wobei sie auf 220 Euro Verdienst von Herrn Kleiner und 41,80 Euro Weihnachtsgeld kommen. Als Aufgabe entwickeln sie, dass in Prozent zu berechnen sei, wie viel Weihnachtsgeld Herr Kleiner erhalte. Damit stellen sie einen Bezug zum linken Kasten, also zum ersten Lösungsschritt her. Ihre Textaufgabe lautet: Herr Kleiner verdient 220 Euro monatlich. Er bekommt 41,80 Euro Weihnachtsgeld. Rechne in Prozent aus, wie viel Weihnachtsgeld er bekommt. Ein Lösungsweg zur Aufgabe der Jungen wäre beispielsweise: 220 € - 100 % 1 € - 100 %/ 220 € 41,80 € - 41,80 € * 100 %/ 220 € = 19 % 30 5 1 150 50 3 <?page no="251"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 245 Damit berücksichtigen sie aus der Vorgabe 1 die Zahlen und die Prozentaufgabe. Den rechten Teil der Vorgabe, also den zweiten Lösungsschritt, brauchte man für diese Aufgabe nicht. Der linke Teil der Vorgabe wird nicht adäquat umgesetzt. Die Schüler müssten eine Frage stellen, zu der 41,80 die Antwort ist. Stattdessen stellen sie eine Frage, zu der 19% die Antwort ist. Die beiden Schüler setzen die Vorgabe also nicht wie vorgesehen in eine Aufgabe um, was allerdings auch an einer Unzulänglichkeit der Vorgabe liegen könnte. Den Dialog 1 kann man in drei Sequenzen untergliedern (vgl. Anhang): 65 - 83 Bestimmung der Situation (Gehaltsrechnung) und der Größen (Euro) 84 - 104 Bestimmung der Rechenaufgabe: Rechne in Prozent aus, wie viel Weihnachtsgeld Herr Kleiner bekommt. 105 - 134 Formulieren bzw. Diktieren der Aufgabe 2.3 Mathematische Sachverhalte bewältigen 69 - 71 A sucht Größenbereiche für die gegebene Zahl 220. Zuerst schlägt er den Größenbereich „Losanzahl“ (Lose), nach Selbstkorrektur den Größenbereich „Geldwerte“ (Euro) vor. Diese Selbstkorrektur verdeutlicht seine Unsicherheit und stellt den Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses dar. 72 - 75 Beide suchen nach einem weiteren Größenbereich; mit der Größe „Schüler“ wird der dritte Vorschlag eingebracht. 77 - 84 Beide spielen ein Beispiel für die Additionsaufgabe (rechter Kasten) durch; zumindest bei B herrscht weiter Unsicherheit über den mathematischen Sachverhalt. 99 - 104 Beide handeln ihre unterschiedlichen Auffassungen in sechs Turns aus: (1) A möchte ausrechnen, wie viel Prozent 41,80 Euro sind (99). (2) B geht nicht darauf ein, macht aber einen Alternativvorschlag: er will den Endverdienst berechnen (100). (3) A widerspricht und begründet, dass der Dreisatz zur Berechnung des Verdienstes unnötig sei (101). (4) B kann seinen Widerspruch nicht artikulieren (102). (5) A setzt sich ohne weitere Argumentation durch (103). (6) B akzeptiert dies ohne Widerspruch (104). <?page no="252"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 246 117 - 119 B versteht A’s Vorschlag nicht, er will noch immer den Verdienst berechnen (100). A widerspricht implizit mit „in Prozent“. B scheint zu akzeptieren (119). 127 - 129 B versteht den Vorschlag von A immer noch nicht (127). A präzisiert, dass das Weihnachtsgeld in Prozent zu berechnen sei. Zusammenfassung: 1. An mehreren Textstellen gibt es Bedarf zur Klärung des mathematischen Sachverhalts; besonders an Stelle (101) geschieht dies durch explizite Argumentation. 2. Im weiteren Verlauf des Dialogs werden konkurrierende Auffassungen vorgetragen, wobei sich Schüler A durchsetzt. 3. Schüler B akzeptiert dies anscheinend (104, 119, 130, 132), sein Insistieren auf seiner Auffassung (117, 127) lässt aber vermuten, dass der mathematische Sachverhalt nicht wirklich geklärt ist. Für diese These spricht auch, dass die formulierte Aufgabe der Vorgabe nicht entspricht. Bei der Konstruktion einer Textaufgabe kann die Auseinandersetzung mit dem mathematischen Sachverhalt durchaus auch expliziter und argumentativer sein. Im folgenden Beispiel aus Dialog 2 wird der mathematische Sachverhalt explizit geklärt; dabei greifen die Schüler auf die mathematische Terminologie zurück und veranschaulichen den Sachverhalt auf einer konkreten Ebene („je mehr desto weniger…“). Die stillen und gefüllten Pausen (Kommentarpartikel) wie die gedehnte Sprechweise sind Indizien für längere Reflexionsphasen. Ausschnitt aus Dialog 2 zu Vorgabe 2 1 M: mein Gott ..\Ok, warte ..\also.\ 2 geteilt durch . 30 mal 30 .. geteilt durch .\ 3 nein warte oder\ 4 Oh nein . oh 5 N: Also geteilt durch 30 mal 30 ...\ 6 da isch mal 50 und da ..\ 7 geteilt durch 8 M: Ja geteilt durch 50, ok warte .\ 9 jetzt müssen mer uns konzentrieren\ 10 ... warte, 11 ..proportional isch je mehr umso mehr und weniger umso weniger 12 N: Mhm 13 M: Umgekehrt isch ja je mehr desto weniger oder je weniger desto mehr ..\ 14 ok .\ also warte 15 (4sek) ich würd ja sagn des isch ähm (6sek) je mehr desto weniger (6sek)\ <?page no="253"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 247 16 oder (5sek) ja 17 N: doch, je mehr desto weniger 18 M: Oder 19 N: Aber hier (4sek) je weniger desto mehr (29sek)\ mhm 20 M: Wenn mr die Rechnung vielleicht umdrehn (8sek)\ 21 jetzt wart mal wenn des ne Frage stellen würden, \ 22 da muss ja ne Frage stehn entweder je weniger desto mehr oder je mehr desto weniger 23 N: Mein Gott 24 M: Warte mal . oh . ( 11sek) also Bei der Konstruktion von Textaufgaben können Schüler/ innen vermutlich bewusst klären, wie sich der mathematische Sachverhalt darstellt, d.h. ihr „Textherstellungsgespräch“ kann einen intensiven Reflexionsprozess auslösen, bei dem Fachwissen und Fachterminologie herangezogen werden. Der Dialog 1 weist darauf hin, dass eine „Vorgabe“ allein nicht immer genügt, die explizite Bewältigung des mathematischen Sachverhalts anzuregen. 2.4 Aufgaben planen Um Textaufgaben zu planen, muss zuerst eine Alltagssituation gefunden werden, z.B. „Gehaltsabrechung“ (2.1), die im Gespräch kommentiert und bewertet wird (2.2); für diese Situation wird eine Aufgabe entwickelt (2.3), die ihrerseits wieder kommentiert und bewertet wird (2.4). Dies geschieht in Dialog 1 folgendermaßen: 69 Mit dem Größenbereich „Losanzahl“ wird implizit die Situation für die Aufgabe gewählt (2.1). A korrigiert sich selbst (70) und unterbreitet in (71) einen neuen Vorschlag. Die Korrektur bleibt implizit, der Vorschlag wird nicht begründet. 81 - 83 Mit „verdient monatlich 220 Euro“, „Vorschuss 41,80“ und „Endbetrag 261,80“ wird die Situation „Gehaltsabrechnung“ gewählt (2.1). Erster Vorschlag eines Aufgabenteils (2.3). 84 B stellt eine Rückfrage zum Aufgabenvorschlag (2.4). 89 A korrigiert ohne weitere Begründung seinen eigenen Vorschlag aus Zeilen 81 bis 83. 90 B ersetzt den Vorschlag der Aufgabe (2.3). 93 - 94 A greift seinen Vorschlag von (81 - 83) wieder auf. Dies könnte auch als Beginn des Formulierungsprozesses gedeutet werden. 95 B bestätigt (2.4). <?page no="254"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 248 96 - 99 A führt seinen Vorschlag weiter aus; er integriert die Anregung von B aus (90) und spitzt die Aufgabe in (99) zu (2.3). 100 B macht einen Gegenvorschlag, der nicht begründet wird. 101 A insistiert auf seinem Vorschlag und begründet ihn. 102 B setzt zu einem Widerspruch an, verfolgt diesen aber nicht konsequent. Die Suche nach einer Situation, für die die Aufgabe entwickelt werden soll, geschieht implizit, indem lediglich Größen wie „Vorschuss in Euro“ aus dem Größenbereich „Geldwerte“ etc. genannt werden. Ähnliches findet sich im folgenden Dialogausschnitt: Hier wird festgestellt, dass auf einer Party Getränke normalerweise unbegrenzt vorhanden sind, Kuchen jedoch nicht: Ausschnitt aus Dialog 3 zu Vorgabe 2 1 A: Party 30 Leute eingeladen, jeder von ihnen kann fünf Liter trinken. Wie viel trinken\ 2 B: Ich wär für Stücke Kuchen essen\ 3 A: Ja .. mit Kuchen essen 4 B: Schon Liter aber 5 A: Doch 6 B: Nein 7 A: Doch 8 B: Kuchen, weil Liter trinken kannsch soviel du willsch .. eigentlich\ 9 A: Ja, also In den angeführten Beispielen findet also keine systematische Suche nach einer geeigneten Situation statt. Mit einer Trial-and-Error-Methode wird gemeinsam ausgehandelt, ob eine Situation bzw. ein Größenbereich zu den Zahlen, Symbolen und Operationen der Vorgabe passen. Dabei werden mögliche Fehler oder Unangemessenheiten ausgeschaltet, ohne dass dies explizit reflektiert wird. Aufgaben werden meist implizit entwickelt, indem spontan mit dem Formulierungsprozess begonnen wird. Im Gespräch darüber gehen die Schüler wenig aufeinander ein; sie verharren in ihren jeweiligen Vorstellungen. Nur an einer Stelle (101) begründet Schüler A seinen Vorschlag für eine Aufgabe explizit. 2.5 Aufgaben formulieren Aufgaben werden implizit während des Formulierungsprozesses entwickelt, wobei die vorgeschlagenen Formulierungen (3.1) kommentiert und bewertet werden; auch Fragen zu Formulierungen werden gestellt (3.2). Dies geschieht in Dialog 1 folgendermaßen: <?page no="255"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 249 107 Beginn des Formulierungsprozesses, indem der Vorschlag aus (94) wieder aufgenommen wird (3.1). 108- 112 Fortsetzung des Formulierungsprozesses (3.1). 113- 114 Vorformulierung des nächsten Schrittes. 115- 131 Die Lösungsfrage der Textaufgabe wird gemeinsam in Form eines Diktats (3.1) formuliert, wobei (115 - 119) ein begleitendes Planungsgespräch darstellt. 132, 134 Bestätigungen (3.2). Die beiden Schüler formulieren, ohne auf sprachliche Merkmale der Textaufgabe zu achten. Sprachliche Merkmale werden von ihnen nicht von selbst kritisch reflektiert. Hier wäre zu überlegen, mit welchen Hilfestellungen sie dazu angeregt werden könnten. 2.6 Schüler vernetzen ihr Wissen Trägt die Produktion von Textaufgaben dazu bei, vernetztes Wissen im Schreibprozess herzustellen, der die drei Aufgaben „mathematische Sachverhalte bewältigen“, „Aufgaben planen“ und „Textaufgaben formulieren“ zu lösen hat? Flower/ Hayes (1980) modellieren den Schreibprozess als einen Prozess, bei dem rekursive Abläufe und Denkbewegungen (ähnlich den Prozessen beim Problemlösen) stattfinden. Auf dem Weg zum Schreibziel „Textaufgabe“ sind die Schüler vorwiegend mit der Lösung der drei genannten Probleme sowie zusätzlichen organisatorischen und kommunikativen Problemen konfrontiert, die sie lösen müssen. Dies führt zu Zielformulierungen, die Suchprozesse anstoßen. Wir sind davon ausgegangen, dass sich diese rekursiven Denkbewegungen in den „Textherstellungsgesprächen“ nachweisen lassen. Die Vernetzung des Wissens beim Suchen von Lösungen lässt sich mit dem Heurismus Dörners gut darstellen (vgl. Dörner 1978). Bei der Lösung eines dialektischen Problems entstehen die Kriterien für eine Lösung des Ziels „Textaufgabe“ erst mit der Konstruktion des Ziels. Die Schüler verfügen demnach zuerst über vage Kriterien, im Sinne von: „Noch nicht ganz, was ich als Textaufgabe beurteilen würde.“ Dadurch entstehen weitere Abläufe und Denkbewegungen mit der „Vorgabe“, damit ihnen das Ziel „Verfassen einer Textaufgabe“ klarer wird. Da sich das Wissen um das Ziel verändert hat, kann dies dazu führen, dass der allmählich entstehende Text den neu gefundenen Zielen nicht mehr entspricht, so dass wieder überarbeitet werden muss. <?page no="256"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 250 Dörner beschreibt diesen Vorgang wie folgt: Die Schüler ermitteln im Gespräch Probleme, die zeigen, welchen Kriterien ihr Text gerecht werden muss. Sobald diese ermittelt sind, wird geprüft, ob der bisherige Text mit dem neuen Wissen konsistent ist; das kann dazu führen, dass inkonsistente Textteile verworfen werden. Da Dörners Modell ein Flussdiagramm ist, beginnt eben an diesem Punkt erneut eine Ermittlung, ob der Text vor dem Hintergrund des neuen Wissens befriedigend ist. Falls das nicht so ist, muss durch ein erneutes „Zurückgehen“, also eine erneute Beschäftigung mit der „Vorgabe“, bestehendes Wissen mit neuem Wissen vernetzt werden. Diese Denkbewegungen lassen sich in den „Textherstellungsgesprächen“ finden. Jedoch zeigt sich auch, dass dies nicht zu einer grundlegenden Überarbeitung der Textaufgabe führen muss. Vielmehr werden meist nur Sätze oder Teilsätze verändert, die Inkonsistenz der gesamten im Entstehen begriffenen Textaufgabe mit der „Vorgabe“ wird nicht erkannt. Ein Beispiel: Im oben analysierten Textherstellungsgespräch (Zeile 91: „Aber nein wir sollen ja da ne Aufgabe zu machen“) fällt Schüler A das Erfordernis einer „Lösungsfrage“ am Ende einer Textaufgabe auf. Die beiden Schüler besprechen daher erneut, wie die Aufgabe aussehen soll. In Zeile 99 wird wieder die Lösungsfrage besprochen, was das Aufschreiben der Textaufgabe ins Stocken bringt. Obwohl schnell eine - allerdings der Vorgabe unangemessene - Lösung genannt wird, tritt das Thema erneut in Zeile 103 auf und wird schließlich erst in Zeile 106 gelöst: „Ja genau jetzt weiß ich wie“. Dieses Beispiel bestätigt die rekursiven Denkbewegungen in einer Schreibsituation. Durch Entwürfe von Textaufgaben wird Wissen vernetzt: Die Schüler mussten ihr Wissen über mathematische Sachverhalte, über die Situierung der „Vorgabe“ und über die Kriterien der Textsorte „Textaufgabe“ vernetzen. Zwar haben sie ein Teilproblem gelöst, dennoch haben sie keine angemessene Textaufgabe produziert. Ihnen ist zwar aufgefallen, dass sie nach Prozent fragen müssen, sie haben aber nie daran gedacht zu fragen, was kostet es mit 19 % mehr. Die Schüler sind von einem unangemessenen Ausgangspunkt ausgegangen (bezahlen/ Kosten), den sie auch nicht mehr aufgegeben haben. Ob ihnen dieser Ausgangspunkt durch die Vorgabe genügend nahegelegt wurde, müsste bei der Entwicklung weiterer Vorgaben im Rahmen des Forschungsprojektes diskutiert werden. 3 Zusammenfassung Wenn Schüler/ innen nach einer Vorgabe, die aus Zahlen, Symbolen und Operationen besteht, eine mathematische Textaufgabe verfassen, müssen sie drei Probleme lösen: Sie müssen den mathematischen Sachverhalt bewältigen, sie müssen die Textaufgabe planen, dabei vor allem eine Alltagssituation vorschlagen und die Textaufgabe formulieren. In den Prätests untersuchten wir drei erwartete Effekte. Dabei bestätigt sich die Erwartung, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit mathematischen Sachverhalten stattfindet. <?page no="257"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 251 Allerdings gibt es große Unterschiede im Grad der Explizitheit, in dem sich die Schüler/ innen mit mathematischen Sachverhalten beschäftigen. Wenig bestätigt hat sich bislang der zweite erwartete Effekt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit sprachlichen Mustern fand in den Textherstellungsgesprächen unserer Prätests kaum statt. Um dies zu erreichen, müsste man vermutlich die Versuchsbedingungen verändern. Dagegen gibt es Hinweise, dass durch das Erfinden und Verschriftlichen von Textaufgaben vernetztes Wissen entsteht, das interdisziplinär für den Mathematik- und Deutschunterricht genutzt werden kann. Im weiteren Verlauf unseres Forschungsprojektes wollen wir die Aufgabenstellung so modifizieren, dass sich die Schüler/ innen noch stärker als in den Prätests mit mathematischen Sachverhalten und mit sprachlichen Mustern auseinandersetzen. Literatur Ahrenholz, Bernt (2006): Wortstellung in mündlichen Erzählungen von Kindern mit Migrationshintergrund. In: Ahrenholz, B. (Hrsg): Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i.Br.: Fillibach, 221-240. Boueke, Dietrich u.a. (1995): Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink. DESI-Konsortium (2006): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Zentrale Befunde der Studie in Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International (DESI). Frankfurt/ M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Dörner, Dietrich (1987): Problemlösen als Informationsverarbeitung. Stuttgart: Kohlhammer, (3. Aufl.). Fix, Martin (2008): Lernen durch Schreiben. In: Praxis Deutsch, 210, 35, 6-15. Fix, Martin/ Schmid-Barkow, Ingrid (2005): Sachtexte schreiben und verstehen: Von der Produktion zur Rezeption und wieder zurück. In: Fix, M./ Jost, R. (Hrsg): Sachtexte im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider, 64-82. Flower, Linda/ Hayes, John (1980): The dynamics of composing: Making Plans and juggling constrains. In: Gregg, L. W./ Steinberg, E. R. (Hrsg.): Cognitive Process in writing. Hillsdale: Erlbaum, 31-50. Fritzsche, Joachim (1980): Aufsatzdidaktik. Kritische und systematische Untersuchungen zu den Funktionen schriftlicher Texte von Schülern. Stuttgart u.a.: Kohlhammer. Fritzsche, Joachim (1994): Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Band 2: Schriftliches Arbeiten. Stuttgart: Klett. Gallin, Peter/ Ruf, Urs (1995): Schüler schreiben Textaufgaben. Lesen durch Schreiben. In: Mathematik lehren, 68, 16-22. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus in der multilingualen Schule. Münster. Grießhaber, Wilhelm (2006): Die Entwicklung der Grammatik in Texten vom 1. bis zum 4. Schuljahr. In: Ahrenholz, B. (Hrsg): Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i. Br.: Fillibach, 150-167. Grießhaber, Wilhelm (2008): Zu den Bedingungen der Förderung in Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz, B. (Hrsg): Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Freiburg i.Br.: Fillibach, 211-227. <?page no="258"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 252 Hollenstein, Armin (1996): Schreibanlässe im Mathematikunterricht - Eine Unterrichtsform für den anwendungsorientierten Mathematikunterricht auf der Sekundarstufe. Bern: Haupt. Junker, Jörg (2005): „Fehl-leistungen“- Fehler oder Leistungen? In: Praxis der Mathematik in der Schule, 5, 47, 25-30. Kaune, Christa (2001): Weiterentwicklung des Mathematikunterrichts: Die kognitionsorientierte Aufgabe ist etwas mehr als „die etwas andere Aufgabe“. In: Der Mathematikunterricht. 35-46. Kaune, Christa (2005): Schreiben als Anregung zum Nachdenken über eigene Lernprozesse - Nimm-Stellung! -Aufgaben und diskursive Unterrichtsprotokolle. In: Praxis der Mathematik in der Schule, 5, 47, 7-12. Kleine, Michael/ Fischer, Eva (2005): Welche Aufgaben passen zu dem Term? Möglichkeiten für den Einsatz von Rechengeschichten am Beispiel der Subtraktion und Division von Brüchen. In: mathematica didactica, 2, 28, 88-103. Knapp, Werner (1997): Schriftliches Erzählen in der Zweitsprache. Tübingen: Niemeyer. Knapp, Werner (2001): Alltägliche Argumentation - mathematische Argumentation. Analyse von Dialogen zur Lösung von mathematischen Knobelaufgaben. In: Wirkendes Wort, 1, 51, 93-118. Knapp, Werner (2003): Sprachunterricht als Unterrichtsprinzip und Unterrichtsfach. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache - ein Handbuch. 2. Teilband. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh, 589-601. Knapp, Werner/ Pfaff, Harald (2008): Wie weit kommt Herr Bauer mit einer Tankfüllung? Durch Schreiben mathematische Textaufgaben verstehen. In: Praxis Deutsch, 210, 35, 26-30. Kunze, Sebastian/ Prediger, Susanne (2005): Ich schreibe, also denk ich - Über Mathematik schreiben. In: Praxis der Mathematik in der Schule, 5, 47, 1-7. Maier, Herrmann/ Schweiger, Fritz (1999): Mathematik und Sprache. Zum Verstehen und Verwenden von Fachsprache im Unterricht. Wien: ÖBV Verlagsgesellschaft. Mandl, Heinz/ Friedrich, Hans/ Hron, Aemilius (1988): Theoretische Ansätze zum Wissenserwerb. In: Mandl, H./ Spada, M. (Hrsg.): Wissenspsychologie. München/ Weinheim: Psychologie Verlags Union, 123-160. Pluspunkt Mathematik für die Hauptschule 4 - Baden-Württemberg (2006). Berlin: Cornelsen. Quillian, Ross (1968): Semantic Memory. In: Minsky, H. (Hrsg.): Semantic Information Processing. Cambridge, Mass.: MIT Press. Ruf, Urs/ Gallin, Peter (1999): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. 2 Bde. Seelze: Velber. <?page no="259"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 253 Anhang: Dialog 1 zu Vorgabe 1 65 L: Stufe 2 66 A: Wieder des Gleiche, oder? [SCHÜLER ZUM LEHRER] 67 L: Ja, wieder das Gleiche 68 B: (unverständlich: 4 sek) 69 A: Also ... Sagen wir 220 Lose \ 70 Nein warte 220 geht nicht \ 71 das müssen wieder Euro sein 72 B: (unverständlich: 5 sek) 73 Rek: [SCHÜLER HABEN MIT DER FEHLENDEN ANGABE PROB- LEME] 74 Rek: [EURO IST NICHT ANGEGEBEN - SIEHE RECHNUNG! ] 75 A: 220 Schüler 76 B: Wart mal (unverständlich: 2 sek) 77 A: Lange Pause (6 Sek.) [SCHÜLER BLICKT AUF DAS BLATT UND KLICKT 78 HÄUFIG MIT DEM KUGELSCHREIBER] Herr Kleiner (unverständlich: 1 sek) (8 Sek) 79 Ich blick irgendwie nicht \ [SCHÜLER GRINST] 80 oder warte guck hier \ 81 Kleiner verdient monatlich 220 Euro \ 82 und keine Ahnung und vielleicht kriegt er nen Vorschuss 41,80 irgendwie noch dazu Geld \ 83 und Endbetrag hat er 261,80. 84 B: (Rek: KEINE AHNUNG ) nein aber wo bleibt die 220 Euro 85 A: Herr Kleiner [SCHÜLER GRINST UND BLICKT ZUM ANDEREN] 86 B: Ja mach halt 87 A: Kleiner 88 B: Herr Kleiner 89 A: Nein des geht nicht 90 B: dann mach Weihnachtsgeld 41 Euro ... [SCHÜLER LACHT] 91 A: (4 Sek.) Aber nein wir sollen ja da ne Aufgabe zu machen 92 B: Ja ich weiß 93 A: Wie soll die Aufgaben denn heißen? 94 Sagen wir Herr Kleiner verdient 220 Euro 95 B: Ja 96 A: Und dann kriegt er \ 97 weiß nicht \ 98 Weihnachtsgeld 41,80 \ 99 aber was wird gesucht? ... Prozent <?page no="260"?> Werner Knapp, Harald Pfaff & Sybille Werner 254 100 B: Wie viel Geld er insgesamt verdient. 101 A: 200 Da kannsch ja den Dreisatz weglassen. 220 plus 41,80 102 B: Ja ich weiß aber 103 A: Ja wie viel Prozent er dazukriegt 104 B: Ja 105 A: Ach 106 B: Ja genau ich weiß jetzt wie 107 A: ( ) 220 Euro monatlich 108 B: Dazu bekommt er [SCHULGONG ERTÖNT] 109 A: Er bekommt \ 110 bekommt . vier 111 41 Euro 112 B: 41,80 Euro ... Weihnachtsgeld \ 113 und dann ausrechnen wie viel sind 41 Euro \ 114 in Prozent 115 A: Rechne aus wie viel Weihnachtsgeld er bekommt \ 116 In Prozent 117 B: ( ) wie viel Prozent er verdient 118 A: In Prozent. 119 B: Ja in Prozent ( ) 120 A: Rechne 121 B: Rechne \ 122 in Prozent \ 123 aus 124 wie viele 125 A: Rechne in Prozent aus \ 126 wie viele 127 B: wie viel Prozent er verdient 128 A: wie viel . er .\ 129 Weihnachtsgeld kriegt 130 B: Ja 131 A: Rechne in Prozent aus wie viel Weihnachtsgeld er bekommt 132 B: Ja das stimmt scho 133 A: Geld er bekommt [SCHÜLER KLICKT MIT DEM KUGELSCHREI- BER] 134 L: Gut Die Aufgabe, die A und B verfassen, lautet: Herr Kleiner verdient 220 Euro monatlich. Er bekommt 41,80 Euro Weihnachtsgeld. Rechne in Prozent aus, wie viel Weihnachtsgeld er bekommt. <?page no="261"?> Verstehen durch Schreiben - Anlage einer empirischen Studie 255 Transkriptionsregeln (vgl. Boueke u.a. 1995, 229, erweitert): . sehr kurze Pause (ca. 1 sek.) .. kurze Pause (ca. 2 sek.) ... längere Pause (ca. 3 sek.) ( X sek.) lange Pause mit Angabe der Länge / Abbruch eines Wortes * prosodisch markierte Zäsur (häufig ein kurzes Stocken, eventuell mit Betonung des folgenden Wortes) kursiv betont fett gedehnt ( ) unverständlich (unverst.: X sek.)unverständlich mit Angabe der Länge [ ] KOMMENTAR (IN GROSSBUCHSTABEN) [ Rek.: XX ] Rekonstruktion von unverständlichen Aussagen (KOM- MENTAR IN GROSSBUCHSTABEN) \ Grenze eines Struktursatzes <?page no="263"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen: Englischuntericht bei Lernern mit Migrationshintergrund 1 Hintergrund Zahlreiche Studien (z.B. Özdemir 2006, Wanders 2006, Hesse et al. 2008) kommen zu dem Ergebnis, dass Lerner mit Migrationshintergrund bei vergleichbarer sozialer Herkunft eher einen Vorteil beim schulischen Englischlernen haben, da sie bereits einschlägige Erfahrungen im Zweitsprachenerwerb gesammelt haben. Auf der anderen Seite stehen Arbeiten (z.B. Elsner 2007), die den Lernern mit Migrationshintergrund beim schulischen Englischlernen signifikante Nachteile bescheinigen. Ein etwas differenzierteres Bild zeichnet sich in der großflächig angelegten EVENING-Studie (Engel et al. 2009) ab. Auf der Grundlage von Befragungen der Lehrkräfte sowie einer statistischen Auswertung von Unterrichtshospitationen und Untersuchungen zum Hör- und Leseverstehen von Kindern mit Migrationshintergrund (beteiligte Sprachen: Türkisch und Russisch) kann gezeigt werden, dass die Unterschiede im Stand der Lernersprache Englisch zu den monolingual deutsch aufgewachsenen Mitschülern recht gering sind und weitgehend eher durch soziale Disparitäten als durch die Tatsache einer bilingualen Sozialisation der Lerner zu erklären sind. Unser Beitrag gliedert sich in drei Teile. Zunächst gehen wir der viel diskutierten Frage nach, ob Mehrsprachigkeit im Kontext schulischen Fremdsprachenlernens eine Bereicherung oder eine Überforderung darstellt. Daran anschließend geben wir einen Überblick über aktuelle empirische Studien und den daraus resultierenden kontroversen Stand der fachlichen Diskussion. Am Beispiel der von uns wissenschaftlich begleiteten EVENING-Studie 2 aus Nordrhein-Westfalen zeigen wir, welche Möglichkeiten und Grenzen der schulische Erwerb von Englisch als dritter Sprache ab der Grundschule für Kinder mit Migrationshintergrund bietet. Schließlich ziehen wir 1 Wir danken Gaby Engel vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, Außenstelle Soest für die wertvolle Diskussion der in diesem Beitrag dargestellten Thematik. Als Projektleiterin von EVENING gab sie zahlreiche wichtige Anregungen. 2 Die wissenschaftliche Begleitung von EVENING wurde durchgeführt von Otfried Börner (Hamburg), Jörg-U. Keßler (Ludwigsburg), Markus Kötter (Münster), Christian Paulick (Duisburg-Essen) und Dieter Wolff (Wuppertal). Koordiniert wurde das Projekt durch Gaby Engel, Bernd Groot-Wilken und Eike Thürmann vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW. <?page no="264"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 258 einige fachdidaktische Konsequenzen für das schulische Fremdsprachenlernen bei Kindern mit Migrationshintergrund und leiten daraus ab, wie in Zukunft schulischer Englischerwerb und Migrationshintergrund sowohl für die multilingualen als auch für die monolingualen Kinder möglichst erfolgreich erfolgen kann. 1 Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit - Vorteil oder Nachteil beim schulischen Fremdsprachenlernen? „Es ist eine spannende Situation, wenn Kinder sechssprachig fluchen können, aber die einsprachige Hausaufgabe nicht verstehen.“ 3 Nicht erst seit diesem stammtischtauglichen Zitat des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten während des Landtagswahlkampfes wird die Diskussion um Vor- oder Nachteile für das schulische Fremdsprachenlernen bei migrationsbedingter Mehrsprachigkeit erbittert - und leider häufig ohne wissenschaftliche Fundierung (Hesse et al. 2008) - geführt. Plakativ stehen die Aussagen zahlreicher Lehrkräfte, dass die Kinder mit Migrationshintergrund zunächst erst einmal „richtig deutsch“ lernen sollten, bevor sie in der Schule mit einer weiteren Fremdsprache „belastet werden“ (vgl. Özdemir 2006, Schmid-Schönbein 2008) am einen Ende der Skala. Das andere Ende dieser Skala wird u.a. von Krumm (2002) geprägt; in seinem gleichnamigen Aufsatz stellt er folgendes fest: „Einsprachigkeit ist heilbar“. Hesse et al. (2008: 209) verweisen auf die Problematik der sich widersprechenden Aussagen zum Nutzen von migrationsbedinter Mehrsprachigkeit für das schulische Fremdsprachenlernen und verdeutlichen gleichzeitig eindringlich, dass „die jeweils verfochtenen widersprüchlichen Thesen bisher kaum mittels wissenschaftlich fundierter, standardisierter Testverfahren in größer angelegten oder gar repräsentativen Studien geprüft worden sind. So sind die unterschiedlichen Standpunkte zwar häufig ausgetauscht, jedoch bisher nur selten empirisch belegt“. Ein aktuelles Beispiel für eine solch unbelegte Befürwortung des (frühen) Fremdsprachenlernens als ein Vorteil für die Lerner mit Migrationshintergrund findet man bei Schmid-Schönbein (2008: 32): Die Grundschule ist für diese Kinder also eine wichtige Schaltstelle. Man hört oft, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht noch zusätzlich mit einer Fremdsprache "belastet" werden sollten. Es sei schlicht Unsinn; sie sollten doch erst einmal "richtig Deutsch lernen". Eine solche Meinung verkennt, welche Chance gerade der Englischunterricht für diese Kinder und für deren Selbstbild bietet. Erstmals beginnen diese Kinder im Englischunterricht zusammen mit allen anderen in der Klasse am gleichen Punkt. Hier können sich Elena oder Enrico genauso 3 Mit diesen Worten zitiert die Neue Westfälische aus Bielefed den bayrischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein „über die Situation an bayrischen Schulen mit einem hohen Ausländeranteil“ (Neue Westfälische, S.3, 21.8.2008). <?page no="265"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 259 beteiligen und Fortschritte machen wie Lea oder Paul. Endlich einmal ist ihre Muttersprache kein Nachteil, sind ihre unzureichenden Deutschkenntnisse kein Hemmschuh. Vielmehr können diese Kinder, wenn sie schon eine gewisse Kompetenz im Deutschen erreicht haben, sogar von Vorteil sein. Sie haben schon Erfahrungen mit einer Sprache gemacht, haben gelernt, genau hinzuhören, fremde Laute auszusprechen, neue Wörter zu lernen. Nothing succeeds like success. Gute Chancen für Erfolgserlebnisse im Englischunterricht sind für diese Kinder angesichts ihrer sonstigen Schwierigkeiten in der Grundschule eine extrem wichtige Lernvoraussetzung, auch für andere Fächer. Auch wenn der Hinweis auf die Wichtigkeit von Erfolgserlebnissen im Schulalltag gerade für die Kinder mit Migrationshintergrund gut gemeint und richtig ist, wird eine so pauschale und nicht durch empirische Studien belegte Ausage der Komplexität der Sache nicht gerecht. Doch auch die Skeptiker, die in dem schulischen Fremdsprachenlernen durch Kinder mit Migrationshintergrund eher eine Überforderung für diese Lerner vermuten, belegen ihre Skepsis in den wenigsten Fällen mit empirischen Daten. So beklagt Füssenich (2001: 22) zwar das weitgehende Fehlen wissenschaftlicher Studien zu der Thematik, „vermutet“ dann aber dennoch, dass der frühe Kontakt mit einer weiteren Fremdsprache den Alphabetisierungsprozess dieser Lerner in deren ersten Fremdsprache Deutsch negativ beeinflusst. Der Frage nach möglichen Vor- oder Nachteilen von Mehrsprachigkeit für den schulischen Fremdsprachenerwerb nähert sich Thee (2006) in einer Zusammenstellung zahlreicher Studien auf eine differenziertere Art. Dabei stellt sie fest: Die Kinder mit Migrationshintergrund, die im Englischunterricht der Grundschule anwesend sind, haben alle unterschiedliche Sprachstände in den einzelnen Sprachen. Sie lassen sich demnach nicht alle in denselben Typ von Mehrsprachigkeit einordnen. (Thee 2006: 57) Nun ist die Erziehung zur Mehrsprachigkeit das erklärte politische Ziel der Europäischen Union für sämtliche Bürger ihrer Mitgliedsstaaten (vgl. Mackiewicz 2001). Spätestens seit dem Europäischen Jahr der Sprachen arbeiten beinahe alle Mitgliedsstaaten der EU mit besonderer Priorität an der Entwicklung tragfähiger Mehrsprachigkeitskonzepte für das Fremdsprachenlernen ab der Grundschule; beinahe alle Lehrpläne für das Fach Englisch in der Grundschule verweisen auf die Bedeutung des frühen Fremdsprachenlernens für das Erreichen von Mehrsprachigkeit (Keßler 2006). Dennoch gehen die Einstellungen zur Mehrsprachigkeit häufig stark auseinander. Thee (2006: 73) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auf der einen Seite zwar eine Mehrsprachigkeit eingefordert wird, die durch schulisches Fremdsprachenlernen erreicht werden soll, andererseits aber die bereits mitgebrachte und gelebte Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer durch Migration „negativ konnotiert“ wird. Diese Polarität gipfelt darin, dass Mehrsprachigkeit im Falle von Englisch oder Französisch als eine wichtige Qualifikation, im Falle von Herkunftssprachen der Kinder mit Migrations- <?page no="266"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 260 hintergrund jedoch als lernhemmender Faktor und von Lehrkräften sogar als Bedrohung angesehen wird (Hu 2003, Thee 2006). Dieser „monolinguale Habitus in deutschen Schulen“, der zu einem „sprachlichen Reinheitsgebot“ führe (Thee 2006: 52f), tabuisiert die Verwendung der Herkunftssprachen in der Schule. De Florio-Hansen (2003: 81) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „der Gebrauch der Herkunftssprachen außerhalb des so genannten muttersprachlichen Unterrichts in vielen Schulen sanktioniert“ werde, da er angeblich die Kompetenz in der deutschen Sprache gefährde. Die hier geführte kurze Diskussion zur Frage nach möglichen Vor- oder Nachteilen für Lerner mit Migrationshintergrund im schulischen Fremdsprachenerwerb zeigt, wie brisant diese Thematik ist und wie teilweise hoch emotional sie an den Stammtischen der Nation geführt wird. Es zeigt sich aber auch, dass sich die Wissenschaft selbst nicht einig ist, ob migrationsbedingte Mehrsprachigkeit schulisches Fremdsprachenlernen erleichtert oder behindert. Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf die Darstellung der wenigen bisher vorhandenen empirischen Studien zu der Frage nach den Fremdsprachenlernleistungen im Englischunterricht junger Lerner mit Migrationshintergrund. 2 Empirische Studien zum Fremdsprachenlernen im Fach Englisch bei Lernern mit Migrationshintergrund Zunächst geben wir einen kurzen Überblick über die in diesem Beitrag dargestellten empirischen Studien zum schulischen Englischlernen durch Lerner mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit. Die einzelnen Studien werden daran anschließend kurz diskutiert. Dabei werden wir besonders auf die DESI-Studie (Hesse et al. 2008) und die EVENING-Studie (Engel et al. 2009) als Beispiele für Studien, die in der mitgebrachten Mehrsprachigkeit der Lerner mit Migrationshintergrund einen Vorteil für das schulische Englischlernen sehen, eingehen. Die bisher einzige Studie mit einer vergleichsweise großen Probandenzahl, die - für den Fertigkeitsbereich des Hörverstehens - einen negativen Einfluss migrationsbedingter Mehrsprachigkeit auf das schulische Englischlernen festgestellt hat, ist die Studie von Elsner (2007). Auch sie werden wir etwas intensiver diskutieren. Die Studien von Özdemir (2006) und Wanders (2006) bescheinigen den Englischlernern mit Migrationshintergrund entweder keine Nachteile (Özdemir 2006) bzw. leichte Vorteile (Wanders 2006). Tabelle 1 gibt einen kurzen Überblick über die hier genannten Studien. <?page no="267"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 261 Autor/ Jahr Untersuchter Skill bzw. sprachlicher Aspekt Vorteil für Lerner mit Migrationshintergrund Nachteil für Lerner mit Migrationshintergrund Özedemir (2006) Sprechen Wanders (2006) Sprechen Elsner (2007) Hörverstehen DESI Hesse et al. (2008) Textrekonstruktion, Hörverstehen, Soziopragmatik, Grammatik, Leseverstehen, Textproduktion EVENING (Paulick / Groot-Wilken 2009) Hörverstehen, Leseverstehen Tab. 1: Überblick über aktuelle empirische Studien zum Fremdsprachenlernen im Fach Englisch bei Lernern mit migrationsbedinger Mehrsprachigkeit 2.1 Die Studie von Özdemir (2006) Im Rahmen einer empirischen Querschnittsstudie von „5 deutsch-türkischen bilingualen Kindern im Alter von 10 Jahren in den Sprachen Türkisch, Deutsch und Englisch an einer nordrhein-westfälischen Realschule“ (Özdemir 2006: 112) wurde untersucht, wie diese Lerner ihre Erstsprache (Türkisch) erwerben, wie der Erwerbsprozess im Deutschen aussieht und wie diese Lerner dann Englisch als L3 erwerben. Unter Anwendung der in der Processability Theory (PT; Pienemann 1998 und 2005) dargelegten Erwerbshierarchien für die Sprachen Deutsch und Englisch wurde die Lernersprachenentwicklung der Lerner analyisert. Für das Türkische wurde der Spracherwerbsstand nach der Erwerbshierarchie für Türkisch als L1 4 (Özdemir 2004) ermittelt. Alle Probanden hatten im Kindergarten im Alter von maximal vier Jahren begonnen, Deutsch zu lernen. Inwieweit sich der Deutscherwerb nach dem Muster des L1- oder L2-Erwerbs vollzogen hat, bleibt in der vorgelegten Studie offen, spielt für das Untersuchungsergebnis zum Englischerwerb jedoch auch keine bedeutende Rolle. 4 Die Ermittlung der Erwerbsstufen für Türkisch basiert auf der Analyse von Lernersprachedaten aus der CHILDES-Datenbank. Daraus abgeleitet wurden für die Analyse des L2 Türkischerwerbs Strukturen in den folgenden Kategorien: Nomen, Pronomen, Verb, Wortstellung und Sonstige. Für einen detaillierten Überblick siehe Özdemir (2004). <?page no="268"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 262 Als zentrale Ergebnisse stellt Özdemir fest, dass alle ihre in Deutschland aufgewachsenen Probanden sowohl im Türkischen als auch im Deutschen die höchsten Erwerbstufen erworben haben und somit in beiden Sprachen muttersprachliche Kompetenzen mitbringen 5 . Die Lerner mit türkischer Muttersprache lernen Englisch als dritte Sprache im Schulunterricht nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie ihre monolingualen Altersgenossen; allerdings scheint der Englischerwerb dieser Lerner im Vergleich zu den monolingual deutschsprachigen Kindern etwas verzögert zu verlaufen. So erreichten die untersuchten Lerner im Englischen alle die zweite Erwerbsstufe; einige monolingual deutschsprachige Lerner in der Schulform Realschule erreichten in der gleichen Zeit auch die Stufen 2 und 3 der Erwerbshierarchie (Keßler/ Keatinge in Vorb.). Abschließend stellt die Autorin anhand ihrer Daten fest, dass auch deutsch-türkische Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, durchaus Türkisch und Deutsch erwerben. Weiterhin sind sie auch fähig und nicht etwa durch ihre Zweisprachigkeit beeinträchtigt, eine weitere Sprache (in diesem Fall Englisch) in der (Grund)Schule zu erwerben. (Özdemir 2006: 120f; Betonung JUK/ CP) 2.2 Die Studie von Wanders (2006) Wanders untersucht vergleichend lernersprachliche „Stichproben von insgesamt 15 Probanden, nämlich fünf türkischen, fünf deutschen und fünf schwedischen Lernern der 3. bis 5. Klasse“ (Wanders 2006: 98). In der Studie soll geklärt werden, ob erstens bilingual (türkisch-deutsch) aufwachsende Kinder größere Schwierigkeiten im schulischen Englischerwerb haben als ihre monolingual deutsch sprechenden Klassenkameraden. Die zweite Frage der Studie untersucht, ob der größere typologische Unterschied zwischen Türkisch und Englisch im Vergleich zu den ebenfalls germanischen Sprachen Deutsch und Schwedisch zu mehr Lernschwierigkeiten und somit auch mehr Fehlern im Englischen führt. Als Forschungsrahmen basiert Wanders Studie ebenso wie die Studie von Özdemir auf der Processability Theory. Insbesondere die Frage des Transfers aus der Erstsprache wird untersucht. Dabei testet die Autorin sowohl die Full Access/ Full Transfer Hypothesis von Schwartz/ Sprouse (1996) als auch die Developmentally Moderated Transfer Hypothesis (Pienemann et al. 2005). Als Ergebnis der Studie zeigt sich, dass alle Lerner die gleichen Fehler im Englischen machen, unabhängig davon, welche Muttersprache sie haben. Der Transfer aus der L1 spielt zu Beginn des Englischerwerbs im Bereich der 5 Diese Einstufung basiert auf vornehmlich morpho-syntaktisch basierten psycholinguistischen Grundsätzen zum Erwerb und bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie beide Sprachen immer fehlerfrei produzieren konnten. Dies wird besonders daran deutlich, dass der Genus- und Kasuserwerb noch keine durchgängige, altersgemäße zielsprachliche Kompetenz aufweist (vgl. versch. Beiträge in Ahrenholz 2006 und Ahrenholz 2008). <?page no="269"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 263 Syntax keine Rolle: Obwohl Türkisch im Gegensatz zum Englischen eine SOV-Sprache mit vielen Flexionsendungen und wenigen Präpositionen ist, transferieren die Lerner mit L1-Türkisch am Anfang des Englischerwerbs nicht aus dem Türkischen, sondern beginnen - wie die Lerner mit L1- Deutsch und L1-Schwedisch - mit SVO-Konstruktionen. Abschließend fasst die Autorin die Ergebnisse ihrer Studie zusammen, dass die „türkischen Kinder beim Erwerb des Englischen also nicht aufgrund ihrer Erstsprache benachteiligt“ (Wanders 2006: 108) sind, sondern sogar eher auf Grund ihrer migrationsbedingten Mehrsprachigkeit bereits „Profis im Sprachenlernen sind“ (Wanders 2006: 108), die genau wie ihre monolingual-deutschsprachigen Mitschüler „gemeinsam bei null anfangen“ 6 . 2.3 Die Studie von Elsner (2007) Während die Studien von Özdemir (2006) und Wanders (2006) die Fertigkeit des (spontanen) Sprechens untersuchen, konzentriert sich Elsners Studie auf das Hörverstehen im Englischunterricht der Grundschule. Dabei vergleicht sie das Hörverstehen von insgesamt 214 Lernern am Ende der vierten Klasse in Bremen und Bremerhaven. Neben monolingual-deutschsprachigen 108 Kindern untersucht sie das Hörverstehen von 106 bilingualen Kindern mit türkischen Migrationshintergrund. Dabei geht Elsner (2007: 64) davon aus, „dass die nicht-deutsche Sprache beim Eintritt in den Primarbereich die ‚starke’ und somit die Erstsprache (L1) oder auch Muttersprache und die deutsche Sprache die ‚schwache’ Sprache (L2) dieser Gruppe ist“. In dieser Studie stehen zwei Hypothesen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Die erste Hypothese geht davon aus, dass die monolingualen Lerner mit L1-Deutsch am Ende der 4. Klasse bessere Leistungen im Hörverstehen der Fremdsprache Englisch aufweisen als ihre bilingual aufwachsenden Klassenkameraden mit L1-Türkisch und L2-Deutsch. In der zweiten Hypothese untersucht die Autorin zusätzlich den Einfluss der schulischen Leistungen im Fach Deutsch auf den Lernerfolg im Hörverstehen im Englischen. Um Ihre Hypothesen zu testen entwickelt Elsner eigens einen umfassenden Hörverstehenstest („Zeig was du kannst“; Elsner 2007: 117ff). Dieser kommunikative Test, der einschlägige Testgütekriterien (z.B. Lienert/ Raatz 1994) berücksichtigt, ermittelt in 13 von der Autorin ausführlich diskutieren Testitems verschiedene Teilbereiche von der Lautdiskriminierung über lexikalisches Wissen bis zum Grammatikverständis innerhalb der rezeptiven Fertigkeit des Hörverstehens. In der teststatistischen Auswertung kommt Elsner (2007: 172) zu folgendem Schluss: Anhand der hier verwendeten Daten lassen sich die […] Forschungshypothesen eindeutig bestätigen: Kinder mit türkischer Muttersprache erzielen schlechtere 6 Dieser Vorteil besteht jedoch nur dann, wenn der Englischunterricht auch tatsächlich in der Zielsprache gehalten wird (siehe hierzu auch Abschnitt 3 „Fazit“ in diesem Beitrag). <?page no="270"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 264 Ergebnisse im Bereich Hörverstehen in der Fremdsprache Englisch als Kinder mit deutscher Muttersprache. Neben dem Einfluss der Muttersprache auf den Lernerfolg im Hörvertehen im Englischen untersucht Elsner in einer umfassenden „Follow up Studie“ (Elsner 2007: 177-231), inwiefern sich defizitäre Kenntnisse im Unterrichtsfach Deutsch auch negativ auf die Leistungen in der Fremdsprache Englisch auswirken. Dabei kommt die Autorin zu dem Schluss, dass sich schlechte Leistungen 7 im Fach Deutsch als „signifikanter Einflussfaktor“ (Elsner 2007: 177) auf den Lernerfolg im Englischen erweisen. Unabhängig von der L1 der untersuchten Schüler erreichen alle diejenigen Lerner, die eine schlechte Deutschnote haben, auch schlechtere Leistungen im Hörverstehenstest im Englischen. Allerdings ist auch in diesem Teil der Studie der Anteil der schlechter abschneidenden Lerner bei den bilingualen Kindern deutlich höher. Auf den Grundschulenglischunterricht bezogen liefert die Studie Hinweise darauf, dass migrationsbedingte Mehrsprachigkeit nicht automatisch zu einem Vorteil beim Lernen einer schulischen Fremdsprache führt. Mit diesen Ergebnissen stellt Elsners Studie einen Gegenpol zu den bisher dargestellten Studien dar, die davon ausgehen, dass die Sprachlernerfahrung solcher Kinder stets positive Auswirkungen habe. Allerdings steht die Beobachtung Elsners (2007: 176) Es bestätigt sich: Kinder, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, deren Alltag von Sprachmischungen geprägt ist und die Sprachdefizite in der Zweitsprache Deutsch aufweisen, vermögen es nach 2 Jahren Grundschulunterricht nicht, in der Fremdsprache Englisch ähnliche Leistungen wie oder gar bessere Leistungen als Schüler mit deutscher Muttersprache zu vollbringen. nicht im Widerspruch zu den Studien, die in der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit nicht zwangsläufig einen Nachteil für den Erfolg dieser Lerner im Unterrichtsfach Englisch sehen. Einerseits zeigen die Daten von Özdemir (2006), dass Lerner mit Migrationshintergrund teilweise etwas langsamer, dann aber genauso erfolgreich wie ihre monolingualen Altersgenossen den Englischerwerbsprozess durchlaufen; andererseits bestreiten auch diejenigen Wissenschaftler, die in migrationsbedingter Mehrsprachigkeit einen Sprachlernvorteil sehen, nicht die Notwendigkeit einer vollständig erworbenen Muttersprache. Die in dem obigen Zitat angesprochene Problematik des Sprachmischens und der Sprachdefizite in der Zweitsprache Deutsch lassen sich als Problem nicht wegdiskutieren. Es ist jedoch fraglich, ob diese Problematik nicht eher eine Frage benachteiligter sozialer Herkunft - und dann auch unabhängig von der Muttersprache für monolingual-deutsche Lerner geltend - ist. 7 Aus Gründen der Arbeitsökonomität ermittelt Elsner die Leistungen im Unterrichtsfach Deutsch anhand der erteilten Schulnoten. <?page no="271"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 265 Die Frage der sozialen Herkunft ist ein entscheidender Bedingungsfaktor für das gesamte schulische Lernen. Insbesondere in der DESI-Studie (Hesse et al. 2008) wird darauf eingegangen und die Untersuchungsergebnisse um diesen Faktor bereinigt. Im Folgenden werden wir zentrale Ergebnisse der DESI-Studie zum schulischen Fremdsprachenlernen darlegen. 2.4 Die DESI-Studie (Hesse et al. 2008) Diese 2001 von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebene Studie untersucht vornehmlich die sprachlichen Leistungen von Schülern in den Fächern Deutsch und Englisch. Die 2003/ 04 in sämtlichen Schultypen durchgeführte Studie bestand aus einem vom DESI-Konsortium entwickelten Testverfahren, Befragungen von Schülern (etwa 11.000), Lehrkräften, Eltern und Schulleitung, sowie Videoaufzeichnungen des Englischunterrichts (vgl. Klieme 2008). Als bundesweit repräsentative Untersuchung und durch ihre breitgefächerte Anlage ermöglicht die Studie differenzierte Aussagen über Lehr-Lern-Prozesse und den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die für Unterrichtspraxis, Lehrerbildung und Bildungspolitik gleichermaßen wichtig sind. (Klieme 2008: 1) Neben der Leistungsverteilung in den einzelnen Kompetenzen im Deutschen und Englischen 8 befasst sich die DESI-Studie im Rahmen von individuellen und familiären Bildungsfaktoren sprachlicher Kompetenzen mit den Sprachkompetenzen von Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache (vgl. Klieme 2008). Ausgangspunkt für den Blick auf die sprachlichen Kompetenzen von mehrsprachigen Jugendlichen und Jugendlichen nicht-deutscher Erstsprache war, dass in den großen Studien TIMMS und PISA in erster Linie die Lesekompetenz untersucht wurde (vgl. Hesse et al. 2008). Laut Hesse et al. (2008: 208) zeigt sich hier regelmäßig „ein starker Zusammenhang von Migrationsstatus, sozialer Herkunft und Schülerleistungen.“ 9 Doch reicht für eine genauere Beurteilung ein Test im Bereich des Leseverständnisses nicht aus. Ein Blick auf die weiteren Kompetenzbereiche ist dringend notwendig. 8 Für eine detaillierte Betrachtung der Leistungsverteilung und der Testkonzeption siehe Klieme (2008, Kapitel 5-17). 9 Vgl. hierzu auch: OECD (2006). <?page no="272"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 266 Testergebnisse DESI-Studie Die Differenzierung 10 wurde nach folgenden Kriterien vorgenommen: Mehrsprachige Simultaner Bi- oder Multilingualismus, wobei eine Sprache Deutsch ist. Nicht deutsch Erstsprachige Andere Erstsprache als Deutsch. Deutschsprachige Erstsprache Deutsch „Erwartungsgemäß liegt auch in der DESI-Studie ein deutlicher Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Migrationsstatus vor“ (Hesse et al. 2008: 211). Bei den Gesamtleistungen im Englischen, erzielen die „Mehrsprachigen“ am Ende der neunten Klasse insgesamt deutlich bessere Ergebnisse als die Gruppen der „Deutschen“ und „nicht Deutschen“. Die Mittelwertunterschiede zwischen den Kindern mit Deutsch als Erstsprache und den nicht-deutsch Erstsprachigen sind, selbst nach Herausnahme der Kinder mit Englisch als Erstsprache, nicht signifikant. Allerdings fallen die Mittelwertunterschiede zwischen den nicht-deutsch Erstsprachigen und den anderen Gruppen (Mehrsprachige & Deutschsprachige) deutlicher aus. Laut Hesse et al. (2008: 216) fällt in der rein deskriptiven Darstellung der Testergebnisse der hohe Leistungsstand der mehrsprachigen Kinder auf. Bei einer Kontrolle der konfundierten Variablen zeigt sich dann im Englischen eine noch deutlichere „Überlegenheit der Testleistungen der Mehrsprachigen gegenüber den deutsch Erstsprachigen. Aber auch die Englischleistungen der nicht deutsch Erstsprachigen liegen signifikant über denen der deutsch Erstsprachigen“ (Hesse et al. 2008: 216f). Betrachtet man die Ergebnisse auf Grundlage einzelner Kompetenzbereiche, so fallen vor allem die guten Leistungen der Mehrsprachigen beim Leseverstehen, Hörverstehen sowie bezüglich der Grammatik und Sprachbewusstheit auf. Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die Kinder, „die ausschließlich oder zusätzlich eine andere Sprache als Deutsch erworben haben, im Englischen deutlich besser, im Deutschen hingegen deutlich schlechter sind als die Schülerinnen und Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache erworben haben“ (Hesse et al. 2008: 214). Das Resumée lautet: „Insgesamt gesehen scheinen insbesondere Mehrsprachige, aber auch nicht deutsch Erstsprachige von ihrer mehrsprachigen Lernumwelt beim Erwerb einer schulischen Fremdsprache zu profitieren.“ 10 Bei der Differenzierung und Zuordnung der Schüler in eine der Gruppen waren die Aussagen der Schüler ausschlaggebend (vgl. Hesse et al. 2008: 210). <?page no="273"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 267 2.5 Die EVENING-Studie 11 In den Jahren 2005 bis 2007 hat das nordrhein-westfälische Schulministerium eine umfassende Untersuchung im Englischunterricht der vierten Klasse (nach zwei Jahren Englischunterricht) durchgeführt - das EVENING- Projekt (EValuation ENglisch IN Grundschulen) (Engel et al. 2009). Untersucht wurden sowohl die produktiven mündlichen Fertigkeiten als auch die rezeptiven Fähigkeiten der Schüler in den Bereichen Hör- und Leseverstehen. Des Weiteren wurden Befragungen bei der Schulleitung und bei Lehrkräften durchgeführt, um die Sicht der Lehrenden in die Studie integrieren zu können. Ergänzend sollten Unterrichtsbeobachtungen mit anschließenden Interviews mit den Lehrkräften aufzeigen, wie die curricularen Vorgaben im schulischen Alltag in die Praxis umgesetzt wurden. Der erste Testdurchgang zu den rezeptiven Fertigkeiten wurde zwischen 2005 und 2006 durchgeführt. An diesem nahmen insgesamt 1748 Schülerinnen und Schüler aus 88 Klassen in 60 Schulen aus allen Landesteilen teil. Im Folgenden werden wir die beiden rezeptiven Testteile Hör- und Leseverstehen etwas genauer vorstellen. Für eine umfassendere Darstellung des Testinstrumentes und eine detaillierte Analyse der Ergebnisse, auch zum Testteil Sprechen, siehe Engel et al. (2009). 2.5.1 Hörverstehen Um verschiedene Formen des Hörverstehens anzusprechen, wurden zwei unterschiedliche Herangehensweisen an diese Fertigkeit gewählt. Im ersten Teil wurden den Schülerinnen und Schülern 12 Einzelsätze von einer CD vorgespielt, die sie zweimal hören konnten. Ihnen lagen zu jedem Satz vier Bilder vor, in denen unterschiedliche Situationen dargestellt waren. Ihre Aufgabe war es, aus den Bildern jeweils dasjenige auszuwählen, das zu dem gehörten Satz passte. Um den Schwierigkeitsgrad im Verlauf des ersten Teils des Hörverstehenstestes zu steigern, wurden die Distraktoren für die einzelnen Hörsätze dahingehend modifiziert, dass in den Sätzen vorkommende Wörter in mehreren der dargestellten Bilder aufgeführt waren, der Sinnzusammenhang jedoch nur eine einzige richtige Auswahlmöglichkeit pro Satz zuließ (vgl. Abb. 1). 11 hier: Teilstudie „Englischleistungen der Lerner mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit“ (Paulick/ Groot-Wilken im Druck). <?page no="274"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 268 “Take out your pencil cases and your activity books, please! “ Abb. 1: Beispiel aus dem Hörverstehenstest (Engel et al. 2009) Im zweiten Teil hörten die Kinder eine 112 Wörter umfassende Geschichte (Annabelle the witch), die zweimal von CD vorgespielt wurde. Anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler anhand von Multiple-Choice- Aufgaben ihr Textverständnis unter Beweis stellen. Da in diesem Teil die Überprüfung des Hörverstehens im Vordergrund stand, wurden die Aufgaben auf Deutsch gestellt. Sämtliche Hörverstehens-Aufgaben wurden von anglophonen Muttersprachlern gesprochen. 2.5.2 Leseverstehen Das Leseverstehen wurde in ähnlicher Weise getestet: Im ersten Teil wurden den Schülerinnen und Schülern vierzehn Einzelsätze vorgelegt, zu denen sie die richtige von vier vorgegebenen Antworten ankreuzen sollten. In diesem Fall waren sowohl die Sätze als auch die Antworten auf Englisch. Die Sätze waren jeweils so konstruiert, dass sich die Kinder die Antwort nicht aus einzelnen Wörtern erschließen konnten, sondern Teilsätze verstehen und logisch kombinieren mussten (vgl. Abb. 2). _____ He picks up his school bag _____ It’s half past seven. Peter jumps out of bed. “Oh, I’m late for school! “ _____ Then he runs back into the bedroom and gets dressed. _____ He goes to the bathroom, brushes his teeth and washes his face. Abb. 2: Beispiel aus dem Leseverstehenstest (Engel et al. 2009) Im zweiten Teil bekamen die Kinder eine kurze Geschichte (Early in the morning) vorgelegt, die aus neun Sätzen bestand. Zu jedem der acht Sätze <?page no="275"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 269 lag ein bildliches Äquivalent vor, das die Kinder den Sätzen zuordnen mussten. Dabei wurden den Lernern acht Bilder vorgelegt, die zu den Sätzen passten. Ein weiterer Satz wurde hinzugefügt, damit die Kinder, die einen Satz einem falschen Bild zugeordnet haben, nicht zwangsläufig einen weiteren (Folge-)Fehler begehen müssen. Einer der Schwerpunkte der Studie war herauszufinden, wie Kinder mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch mit der Herausforderung „Englisch ab der dritten Klasse“ umgehen und diese neue Situation bewältigen. 12 Die Ergebnisse der Zielgruppe von Kindern mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch als auch der Gruppe von bilingual aufwachsenden Kindern sollten besonders berücksichtigt werden, um gegebenenfalls Unterschiede zu Kindern aus monolingual deutschsprachigen Familien deutlich zu machen. Insbesondere sollte der Frage nachgegangen werden, ob das Erlernen einer weiteren Sprache bei Kindern mit anderen Herkunftssprachen und bilingual aufwachsenden Kindern wirklich zu signifikant schlechteren Ergebnissen als bei monolingual deutschsprachig aufwachsenden Kindern führt. Im Folgenden werden die Ergebnisse aus den Bereich Hör- und Leseverstehen dieser Gruppe von Kindern genauer dargestellt. 13 2.5.3 Testergebnisse EVENING-Studie Die Differenzierung 14 wurde nach folgenden Kriterien vorgenommen: deutschsprachige Kinder Einsprachig deutsch aufwachsende Kinder bilinguale Kinder Kinder, die in den Familien mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen, wobei eine dieser Sprachen Deutsch ist nicht-deutschsprachige Kinder Kinder, die in ihren Familien nur mit einer anderen Sprache als Deutsch aufwachsen mehrsprachige nicht-deutschsprachige Kinder Kinder, die in ihren Familien mit zwei oder mehreren Sprachen aufwachsen, wobei keine dieser Sprachen Deutsch ist 12 Der Anteil der nicht rein deutschsprachig aufwachsenden Kinder lag mit 412 Schülerinnen und Schülern bei 23,6 %. 13 Für eine detaillierte Betrachtung der Testbeschreibung und der Testergebnisse vgl. Paulick/ Groot-Wilken im Druck und Engel G./ Groot-Wilken B./ Thürmann, E. (2007). 14 Bei der Differenzierung und Zuordnung der Schüler in eine der Gruppen waren die Aussagen der Lehrkräfte ausschlaggebend. <?page no="276"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 270 Bei einer ersten Betrachtung der Ergebnisse der Hör- und Leseverstehenstests zeigt sich, dass die Kinder, die in ihren Familien nicht einsprachig deutsch aufwachsen, durchaus mit Erfolg am Englischunterricht teilnehmen. Hörverstehen (28 Punkte max.) Leseverstehen (22 Punkte max.) „deutschsprachige Kinder“ N 913 913 Mittelwert 17,52 15,12 Standardabweichung 3,99 4,45 „bilinguale Kinder“ N 236 236 Mittelwert 16,19 13,86 Standardabweichung 4,13 4,85 „nicht-deutschsprachige Kinder“ N 165 165 Mittelwert 15,53 13,59 Standardabweichung 4,22 5,23 „mehrsprachige nichtdeutschsprachige Kinder“ N 5 5 Mittelwert 13,00 9,00 Standardabweichung 3,08 5,24 Es zeichnet sich eine Staffelung in den rezeptiven Leistungen ab, wobei die in ihren Familien einsprachig deutsch aufwachsenden Kinder etwas bessere Ergebnisse erzielen als die hier als „bilingual“ zusammengefasste Gruppe, also Lerner, die in der Familie eine sog. Herkunftssprache und Deutsch verwenden. Die Ergebnisse der Schüler, die in den Familien ausschließlich die sog. Herkunftssprache verwenden, fallen etwas schlechter aus, wobei die Differenz recht gering ist, wenn die Schriftsprache beim Leseverstehen eine Rolle spielt. 15 Der Anteil der Schüler mit russisch- und türkischsprachigem Hintergrund lässt eine differenziertere Auswertung zu: 15 Die zwei- und mehrsprachig in den Familien ohne Deutsch aufwachsenden Kinder bleiben hier unberücksichtigt, da die Kennwerte (N, Standardabweichung) Schlüsse nicht zulassen. <?page no="277"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 271 Hörverstehen (28 Punkte max.) Leseverstehen (22 Punkte max.) „deutschsprachige Kinder“ N 913 913 Mittelwert 17,52 15,12 Standardabweichung 3,99 4,45 „Russisch+Deutsch“ N 48 48 Mittelwert 16,58 14,67 Standardabweichung 3,76 4,87 „Türkisch + Deutsch“ N 87 87 Mittelwert 15,10 12,26 Standardabweichung 4,28 4,59 N 101 101 „andere Sprache + Deutsch“ Mittelwert 16,94 14,84 Standardabweichung 4,01 4,74 N 38 38 „nur Russisch“ Mittelwert 16,03 14,47 Standardabweichung 3,90 5,17 N 76 76 „nur Türkisch“ Mittelwert 14,53 12,41 Standardabweichung 3,72 4,97 Hier zeigt sich, dass sowohl die einsprachig russisch als auch die zweisprachig deutsch-russisch aufwachsenden Schüler besser abschneiden als die Kinder mit türkischsprachigem Hintergrund. Die Differenz ist in beiden rezeptiven Bereichen signifikant. Auffällig sind die Ergebnisse der türkisch aufwachsenden Kinder für das Leseverstehen, indem sie das übliche Paradigma - wenn auch nur leicht - durchbrechen und die einsprachig türkisch aufwachsenden Kinder im Mittel leicht besser abschneiden als die zweisprachigen deutsch-türkischen Mitschüler. Offensichtlich fällt bei den einsprachig türkischen Schülern die Auseinandersetzung mit der Schriftsprache (Deutsch) im Lese-Schreib-Lehrgang intensiver und nachhaltiger aus als bei den türkisch-deutsch aufwachsenden Kindern, so dass sie die Effekte auf die Fremdsprache Englisch übertragen können. Die Ergebnisse der Gruppe „andere Sprache + Deutsch“ liegen in beiden rezeptiven Bereichen sehr nahe an den Mittelwerten für die einsprachig deutsch aufwachsende Gruppe. Die Auswertung der Ergebnisse zeigt, dass die bilingualen Kinder mit französischem, spanischem und polnischem Hin- <?page no="278"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 272 tergrund überdurchschnittliche Leistungen erbringen und somit den Mittelwert für diese heterogene Gruppe positiv beeinflussen. 2.5.4 Erfahrung der Lehrkräfte mit Kindern verschiedener Herkunftssprachen (Interviews mit Lehrkräften) Eine große Anzahl der Lehrkräfte sieht keine oder zumindest nur sehr geringe Unterschiede im Bereich des institutionalisierten Fremdsprachenlernens zwischen Kindern mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch und denen mit Deutsch als Herkunftssprache. Dies gilt zumindest für das Fremdsprachenlernen, da es für nahezu alle Kinder die erste institutionell zu erlernende Fremdsprache ist. Hingegen deuteten viele Lehrkräfte auf die Nachfrage, wie Erfahrungen der Schüler bezüglich ihrer Mehrsprachigkeit genutzt werden könnten, darauf hin, dass man die verschiedenen Herkunftssprachen der Kinder durchaus für den Englischunterricht positiv nutzen kann. So werden die Herkunftssprachen beispielsweise bei verschiedenen Begrüßungsritualen integriert und in bestimmten Situationen des interkulturellen Lernens (z.B. Feste, Lieder, Geschichten) mit einbezogen. Das Einbringen der Muttersprache, vor allem ein systematisch-struktureller Vergleich, findet nach Meinung vieler Lehrkräfte vorwiegend im Deutsch- und Sachunterricht und weniger im Englischunterricht statt. Als eine Ursache dafür wird die mit zwei Wochenstunden leider sehr begrenzte Zeit des Englischunterrichts genannt. Zugleich merken viele Lehrkräfte jedoch an, dass sie nicht genügend Kompetenzen mitbringen, andere Fremdsprachen in den Unterricht einzubringen. Die Nutzung der (Sprach)Erfahrung für die ganze Klasse gestaltet sich oft schwierig, da viele Lehrkräfte die sprachlichen Besonderheiten der verschiedenen Herkunftssprachen nicht kennen. Einige Lehrkräfte scheinen durchaus die Aufgabe an die Lerner abzugeben, und so profitieren Schüler von ihren Mitschülern, wenn untereinander ein Sprachenvergleich „beim gegenseitigen Helfen“ stattfindet. Sprachvergleiche finden dann statt, wenn sie von den Kindern selbst kommen; sie werden nicht - oder nur sehr selten - von den Lehrkräften initiiert. Insgesamt scheinen den Lehrkräften Strategien, Sprachlehrerfahrungen bewusst zu machen, bekannt zu sein, doch fehlt zum einen oftmals die Zeit für die Umsetzung im Unterricht. Zum anderen ist es möglich, dass sie einen gewissen Vorbehalt demgegenüber haben, was die Schüler können. Sprachlerntechniken und das Thematisieren von Sprachstrukturen spielen demnach eine eher untergeordnete Rolle und „passieren eher zufällig“. Hinsichtlich der Vorteile der Schüler mit anderen Herkunftssprachen bei Motivation, Sprachlerntechniken, Ausdauer oder Sprachgefühl herrscht weitestgehend Einigkeit unter den Interviewten. Gerade der Bereich der hohen Motivation und die geringere Hemmschwelle (keine „silent period“) im Umgang mit der neuen Sprache wird oft als sehr positiv herausgestellt. Die Kinder sind <?page no="279"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 273 „freier“ und „offener“ in ihrer Bereitschaft sich zu äußern und „mutiger“ im Umgang mit neuen Strukturen. Der Begriff der generellen Leistungsschwäche wird von vielen Lehrkräften in unterschiedlichster Form wiederholt. Demnach treten Unterschiede im Englischunterricht verstärkt dann auf, wenn ein Kind, unabhängig von seiner Herkunftssprache, insgesamt zu den Lernschwachen gehört; diese Beobachtung teilt auch Elsner (2007). Insgesamt wird der Fremdsprachenunterricht für Kinder mit verschiedenen Herkunftssprachen sehr positiv bewertet, da der Sprachlernprozess „natürlicher“ abläuft. 3 Fazit und Ausblick Gerade in Zeiten einer immer heftiger geführten Integrationsdebatte nimmt Sprache als ein zentraler Baustein von Integration einen besonders hohen Stellenwert ein. 16 Hier kommt dem Fach Englisch, entgegen einiger Vorbehalte, eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen verschiedenen „Sprachen“ und demnach auch „Kulturen“ zu. Nach der Diskussion der verschiedenen empirischen Studien zum Englischlernen bei Kindern mit Migrationshintergrund zeigt sich sehr deutlich, dass man diese Lerner nicht pauschal für den frühen Englischunterricht als Risiko-Gruppe veranschlagen kann. Die in der wissenschaftlichen Begleitung von EVENING entwickelten Testinstrumente für die rezeptiven Fertigkeiten und Fähigkeiten haben sich durchweg bewährt und sind praxistauglich. Die festgestellten Leistungen im Hör- und Leseverstehen liegen für den weitaus überwiegenden Anteil der Schülerschaft auf bzw. oberhalb des fachlichen Anforderungsniveaus, das der zum Testzeitpunkt geltende Lehrplan vorgibt. Die durchweg positiven Ergebnisse für das Hörverstehen kommen dann nicht überraschend, wenn man die Ergebnisse der ausführlichen Befragung der Lehrkräfte, der Unterrichtsbeobachtungen und der Interviews einbezieht. Sie bilden einen Unterricht ab, der in hohem Maße dominant mündlich in der Zielsprache geführt wird, wobei die Schüler überwiegend in der rezeptiven Rolle bleiben. Offensichtlich baut sich auf diesem Wege ein Verstehenspotential auf, das von den weiterführenden Schulen positiv veranschlagt und genutzt werden kann, wenn es denn wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Ein so geführter Unterricht in der Zielsprache ermöglicht gerade denjenigen Lernern mit Migrationshintergrund, die über eine fundierte Kenntnis einer Muttersprache (ganz egal, ob dies die Herkunftssprache oder die deutsche Sprache ist) verfügen (vgl. Keßler 2005, Wanders 2006), im Englischunterricht gute, den monolingual-deutschsprachigen Kindern zumindest ebenbürtige, Leistungen zu erbringen. 16 Wenngleich Integrationsmaßnahmen natürlich nicht auf den Spracherwerb allein reduziert werden sollten. <?page no="280"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 274 Die positiven Ergebnisse des Leseverstehens überraschen unter diesem Aspekt eher, da die schriftsprachliche Dimension in der Praxis des Englischunterrichts an Grundschulen geringer ausgeprägt ist und ihr im Bewusstsein der Lehrkräfte - wie Interviews, Befragung und Beobachtungen zeigen - nachrangige Bedeutung zugeschrieben wird. Gerade der Englischunterricht in der Grundschule bietet also eine Möglichkeit, auch Kinder mit unterschiedlichster sprachlicher „Vorbildung“ in einer Klasse gemeinsam zu unterrichten. Einer der oft genannten Vorteile des Englischen in der Grundschule ist der, dass Englisch eine Sprache ist, die für alle Kinder neu ist (vgl. Wanders 2006, Schmid-Schönbein 2008). Für gewöhnlich beginnen alle Kinder ohne Vorkenntnisse der Zielsprache, d.h. sie starten auf dem gleichen Sprachniveau (vgl. u.a. Mindt/ Schlüter 2003: 10). Dieser Aspekt wird in den Lehrerinterviews im Rahmen der EVENING- Studie (Engel et al. 2009) häufig als äußerst positiv angesprochen. Auch in den empirischen Testergebnissen der EVENING-Studie lässt sich diese Tendenz wiederfinden. Einschränkend lässt sich sagen, dass sicherlich nicht alle Schüler zu Beginn des Englischunterrichts genau die gleichen Voraussetzungen haben, so wie es oft von Kritikern des frühen Fremdsprachenunterrichts angemahnt wird. Dies bezieht sich jedoch nicht auf eventuell schon vorhandene Englischkenntnisse (Vorschulunterricht, Anglizismen), sondern auf die durch die Herkunft bestehende Sprachbiographie der Kinder. Die dadurch vorhandenen Vorteile im Hinblick auf Sprachstrukturen können und sollten im Fremdsprachenunterricht positiv genutzt werden (vgl. Hesse et al. 2008). Wie auch die gegenwärtige Diskussion und neue Ergebnisse im Bereich der Sprachstandsfeststellung zeigen, entwickeln zweisprachig aufwachsende Kinder ein besonderes „metalinguistisches Wissen“ (Schroeder/ Stölting 2005: 63). Zweisprachige Kinder haben demnach „die Fähigkeit der Analyse von und der bewussten Kontrolle über Sprache zu einem früheren Zeitpunkt und in höherem Maße entwickelt als Einsprachige“ (ebd. 63). Generell kann also nicht von einer Überforderung der nicht monolingual deutschsprachig aufwachsenden Kinder die Rede sein. Ein Grund dafür, dass u.a. Schüler mit der Herkunftssprache Türkisch schlechter abschneiden, könnte weniger das Problem des zweisprachigen Aufwachsens sein, als vielmehr der „Doppelten Halbsprachigkeit“ als extreme Form des Semilingualismus (vgl. u.a. Jampert 2002). Einige Kinder erwerben weder die eine noch die andere Sprache vollständig und haben somit in beiden Sprachen massive Schwierigkeiten. Diese Problematik geht jedoch eher mit einer generellen sozio-ökonomischen Benachteiligung als mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit an sich einher. Unter diesen Umständen ist natürlich auch das Erlernen einer weiteren (Fremd)Sprache mit erheblichen Problemen verbunden. Auch die, u.a. von Gogolin (2003) aufgezeichnete, Kluft zwischen deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund fällt im Englischunterricht deutlich geringer aus als in anderen Bereichen (vgl. Baumert et al. <?page no="281"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 275 2005). Schon die DESI-Studie (vgl. Klieme et al. 2007, Klieme 2008) hat Daten gewinnen können, die deutlich machen, dass Schülern, die Deutsch als zweite Sprache erworben haben, das Erlernen der Fremdsprache Englisch vergleichsweise leichter fällt. In der DESI-Studie wurde kein Nachteil beim Erlernen einer Fremdsprache für Kinder mit anderen Herkunftssprachen festgestellt. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zwischen Teilaspekten der DESI- und der EVENING-Studie. Auch wenn die Ergebnisse der Kinder mit anderen Herkunftssprachen in der EVENING-Studie nicht besser sind als die von monolingual deutschsprachig aufwachsenden Kindern, so fallen diese Unterschiede jedoch nicht so dramatisch aus wie oft vermutet und wie sie de facto in anderen Fächern der schulischen Ausbildung auftreten können. Im Englischunterricht der Grundschulen halten sich, den Ergebnissen zufolge, die Unterschiede in einem geringen Rahmen (vgl. Özdemir 2006, Wanders 2006). Somit widersprechen die Ergebnisse anderen Studien (vgl. u.a. Elsner 2007), welche bei mehrsprachig aufwachsenden Grundschulkindern von signifikant schlechteren Englischleistungen im rezeptiven Bereich sprechen. Jedoch werden auch die Desiderate in zweierlei Hinsicht deutlich: (a) Vertiefende empirische Forschung. Die Gruppe der Schüler mit Migrationshintergrund ist in ihrem Leistungsverhalten keinesfalls homogen. Warum z.B. die Gruppe der Kinder mit Türkisch als Familiensprache so deutlich schwächer abschneidet als die der einsprachig deutsch aufwachsenden Mitschüler (vgl. Elnser 2007, Paulick/ Groot-Wilken 2009), warum zweisprachige Schüler mit anderem sprachlichen Hintergrund auf gleicher Höhe mit den einsprachig deutsch aufwachsenden Kinder oder sogar bessere Ergebnisse erzielen, das ist mit den Daten der in Teil 2 unseres Beitrages diskutierten Studien nicht aufzuklären. Vor allem müssen sozio-ökonomische und bildungsrelevante Hintergrunddaten erhoben werden, da die Vermutung naheliegt, dass nicht nur die linguistischen Hintergründe bedeutsam sind, sondern diese mit anderen Faktoren interagieren (vgl. hierzu besonders Hesse et al. 2008). (b) Potenzial für die schulische Erziehung zur Mehrsprachigkeit. Wenn es gelingt, die sprachlichen Vorerfahrungen der Schüler im Englischunterricht noch besser zu integrieren, so wie es vordem im Begegnungssprachenkonzept in Nordrhein-Westfalen didaktisch angelegt und gewollt war (vgl. Thee 2006: 48f), dann sind die Schulen einen Schritt weiter auf dem Weg hin zu einem interkulturellen Sprachenlernen, wie es im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER; vgl. Europarat 2001) und im Lehrplan Englisch (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen 2003) propagiert wird. Dazu bedarf es allerdings einer noch gezielteren Nutzung des Potentials sprachlich heterogener Gruppen im Englischunterricht der Grundschule. Mehrsprachigkeit von Schülern muss an Schulen noch intensiver für die metasprachliche und metakommunikative Bewusstmachung genutzt werden und darf nicht als eine verminderte Sprachentwicklung verstanden werden, sondern als <?page no="282"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 276 besondere Kompetenz, die gerade im Fremdsprachenunterricht Englisch systematisch unterstützt wird. Noch zu oft werden sprachlich heterogene Gruppen nach didaktischen Konzepten für homogene deutschsprachige Gruppen unterrichtet (vgl. Leichsering 2003: 231f, Thee 2006: 69ff). Abschließend lässt sich festhalten, dass durch diverse Studien (z.B. Özdemir 2006, Wanders 2006, Hesse et al. 2008, Paulick/ Groot-Wilken 2009) der Vorwurf, dass für Kinder mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch der Englischunterricht in der Grundschule eine Überforderung darstellt, relativiert werden kann. Es zeigt sich also, dass die eingangs erwähnten Stammtischparolen nicht nur wenig hilfreich sind, sondern in dieser undifferenzierten Form auch weder den Lernern noch deren Lehrkräften gerecht werden. Allerdings sind undifferenzierte und nicht durch empirische Daten gedeckte pauschale Annahmen, migrationsbedingte Mehrsprachigkeit sei automatisch immer positiv (vgl. z.B. Schmid-Schönbein 2008), ebenso wenig haltbar. Hier ist es notwendig, weitere Studien anzuschließen, die diesen Sachverhalt noch detaillierter untersuchen. Erforderlich wären beispielsweise weitere Untersuchungen im Bereich des Fremdsprachen- UND des Deutschunterrichts, die zu korrelierbaren Daten im Bereich der Erst-, Zweit-, und Tertiärsprachen führen. Nur auf einer solch soliden Grundlage lassen sich weitere verlässliche Erkenntnisse für die zukunftsweisende Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch erzielen. Literatur Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2006): Kinder mit Migrationshintergrund - Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i.Br.: Fillibach. Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2008): Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Beiträge aus dem 2. 'Workshop Kinder mit Migrationshintergrund'. Freiburg i.Br.: Fillibach . Baumert, Jürgen/ Blum, Werner/ Lehmann, Rainer u.a. - Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2005): Ergebnisse des zweiten Ländervergleichs. Zusammenfassung. [http: / / pisa.ipn.uni-kiel.de/ PISA2003_E_Zusammenfassung.pdf]. (15.10.2008). De Florio-Hansen, Inez (2003): Mehrsprachigkeit lernen. Zum Stand der Forschung und den Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 56, 2/ 2003, 80-87. Elsner, Daniela (2007): Hörverstehen im Englischunterricht der Grundschule. Ein Leistungsvergleich zwischen Kindern mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache. Frankfurt/ M.: Lang. Engel, Gaby/ Groot-Wilken, Bernd/ Thürmann, Eike (2007): Listening and Reading Comprehension. Erste Ergebnisse einer Studie zu Englisch ab Klasse 3 an nordrhein-westfälischen Grundschulen. In: Forum Schule, 18, 1/ 2007. [http: / / www. forum-schule.de/ fs18/ magein.html am]. (12.12.2007). <?page no="283"?> Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen 277 Engel, Gaby/ Groot-Wilken, Bernd/ Thürmann, Eike (Hrsg.) (2009): Englisch in der Primarstufe - Chancen und Herausforderungen. Evaluation und Erfahrungen aus der Praxis. Berlin: Cornelsen. Europarat/ Rat für kulturelle Zusammenarbeit (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. München: Langenscheidt. Füssenich, Iris (2001): Frühes Fremdsprachenlernen in Sonderschulen. In: Grundschule, 10/ 2001, 21-23. Glumpler, Edith/ Apeltauer, Ernst (1997): Ausländische Kinder lernen Deutsch. Berlin: Cornelsen. Gogolin, Ingrid (2003): Gleiche Bildungschancen für Kinder mit Migrationshintergrund - möglich auch in Deutschland? In: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Förderung von Migranten und Migrantinnen im Elementar- und Primarbereich. Bonn: Universitätsdruckerei. Günther, Britta/ Günther, Herbert (2004): Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache. Weinheim & Basel: Beltz. Hesse, Herman-Günter/ Göbel, Kerstin/ Hartig, Johannes (2008): Sprachliche Kompetenzen von mehrsprachigen Jugendlichen und Jugendlichen nicht-deutscher Erstsprache. In: DESI-Konsortium (Hrsg.)/ Klieme, Eckhard (Hg.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI Studie. Weinheim und Basel: Beltz, 208-230. Hu, Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr. Jampert, Karin (2002): Schlüsselsituation Sprache. Opladen: Leske & Budrich. Keßler, Jörg-U. (2005): „Fachdidaktik meets Psycholinguistik - Heterogenität im Englischunterricht erkennen, verstehen und als Chance nutzen.“ In: Bräu, K. / U. Schwerdt (Hrsg.): Heterogenität als Chance. Vom Umgang mit Gleichheit und Differenz in der Schule. Münster: LIT; 263-284. Keßler, Jörg-U. (2006): Englischerwerb im Anfangsunterricht diagnostizieren. Linguistische Profilanalysen am Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. Keßler, Jörg-U./ Keatinge, Dagmar (in Vorb.): Englischerwerb in der Realschule. Ergebnisse einer Langzeitstudie: Vergleich zwischen Lernern des traditionellem Englischunterricht und des bilingualen Zweiges. Klieme, Eckard (2008): Systemmonitoring für den Sprachunterricht. In: DESI-Konsortium/ Klieme, Eckhard (Hrsg.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI Studie. Weinheim & Basel: Beltz, 1-10. Klieme, Eckard/ Beck, Bärbel (Hrsg.) (2007): Sprachliche Kompetenzen - Konzepte und Messung. DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Weinheim: Beltz. Krumm, Hans-Jürgen (2002): Einsprachigkeit ist heilbar. In: Deutsch lernen, 2/ 2002, 99-111. Leichsering, Tatjana (2003). Viele Sprachen - eine Schulklasse. Vom Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit. In: Budach, G./ Erfurt, J./ Hofmann, S. (2003): Mehrsprachigkeit und Migration. Ressourcen sozialer Identifikation. Frankfurt/ M.: Lang, 227-238. Lienert, Gustav A./ Raatz, Ulrich (1994): Testaufbau und Testanalyse. 5. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. <?page no="284"?> Jörg-U. Keßler & Christian Paulick 278 Mackiewicz, W. (2001): Sprachenlernen in Europa. Je früher desto besser. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/ 4 - Magazin. [http: / / www.ifa.de/ zfk magazin / europa/ dmackiewicz01_04.htm]. (aufgesucht am 24.11.2004). Mindt, Dieter/ Norbert Schlüter (2003): Englisch in den Klassen 3 und 4. Grundlagen für einen ergebnisorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (2003): Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Englisch. Frechen: Ritterbach. Nelde, Peter H. (1997): Einsprachigkeit ist heilbar. Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Tübingen: Niemeyer. Özdemir, Bengü (2004): Language Development in Turkish-German bilingual children and the implications for the development of English as a third language. Universität Paderborn: Unveröffentlichte Magisterarbeit. Özdemir, Bengü (2006): Bilinguale Kinder im Englischunterricht. In: Pienemann, M./ Keßler, J.-U./ Roos, E. (Hrsg.), 110-121. Oksaar, E. (2003): Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. Stuttgart: Kohlhammer. Paulick, Christian/ Groot-Wilken, Bernd (2009): „Rezeptive Fertigkeiten am Ende der vierten Klasse unter besonderer Berücksichtigung sprachlicher Schülerbiographien.“ In: Engel, G./ Groot-Wilken, B./ Thürmann, E. (Hrsg.): Englischunterricht in der Grundschule. Erfahrungssicherung und Evaluation. Berlin: Cornelsen, 179-196. Pienemann, Manfred (1998): Language Processing and Second Language Development. Processability Theory. Amsterdam: John Bejamins. Pienemann, Manfred (Hrsg.) (2005): Cross-Linguistic Aspects of Processabilty Theory. Amsterdam: John Bejamins. Pienemann, Manfred/ DiBiase, Bruno/ Kawaguchi, Satomi/ Håkansson, Gisela (2005): Processability, typological distance and L1 transfer. In: Pienemann, M. (Hrsg.), 85- 116. Pienemann, Manfred/ Keßler, Jörg-U./ Roos, Eckard (Hrsg.) (2006): Englischerwerb in der Grundschule. Ein Studien- und Arbeitsbuch. Paderborn: Schöningh. Schmid-Schönbein, Gisela (2008): Didaktik und Methodik für den Englischunterricht. Kompakter Überblick ; Ziele - Inhalte - Verfahren ; für die Klassen 1 bis 4. Berlin: Cornelsen Scriptor. Schroeder, Conrad/ Stölting, Wilfried (2005): Mehrsprachig orientierte Sprachstandsfeststellungen für Kinder mit Migrationshintergrund. In: Gogolin, I./ Neumann, U./ Roth, H.-J. (Hrsg.): Sprachdiagnostik bei Kindern mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann, 59-74. Schwartz, Bonnie D./ Sprouse, Rex A. (1996): L2 cognitive states and the full transfer/ full access model. In: Second Language Research 12/ 1, 40-72. Thee, Ira Lotta (2006): Englischunterricht in der Grundschule unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit Migrationshintergrund. Oldenburg: BIS-Verl. der Carl-von- Ossietzky-Univ. Wanders, Annika (2006): Die Rolle des Transfers. In: Pienemann, M./ Keßler, J.- U./ Roos, E. (Hrsg.), 97-109. <?page no="285"?> Claudio Nodari Fachdingsda - Fächerorientierter Grundwortschatz für das 5. - 9. Schuljahr 1 Die Forderung nach einer Sprachförderung in allen Fächern ruft bei Fachlehrern und Fachlehrerinnen unverzüglich die Frage hervor, wie das denn gehen soll. Diese Frage ist mindestens aus drei Gründen berechtigt: Erstens haben Fachlehrer in ihrer Ausbildung keine didaktischen Anleitungen dazu bekommen, wie die Fachsprachen innerhalb des Fachunterrichts gefördert werden können. Zweitens steht in keinem Schweizer Fachlehrplan, welche Ziele in Bezug auf die Fachsprache angestrebt werden sollen. Drittens enthalten Fachlehrmittel nur selten sprachfördernde Elemente, die die Sprachförderung in den Fachlektionen unterstützen. Die Notwendigkeit einer fächerübergreifenden Sprachförderung kollidiert somit mit der schulischen Realität und Tradition - ein Problem, das allein durch Empfehlungen oder Forderungen an die Fachlehrpersonen nicht gelöst werden kann. Im Rahmen der Integrationsmaßnahmen im Kanton Basel-Stadt wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt mit dem Auftrag, ein didaktisches Hilfsmittel für die fächerorientierte Sprachförderung auf der Sekundarstufe I zu erarbeiten. Es entstand ein Instrument für die gezielte Wortschatzarbeit in den neun Fächern Bildnerisches Gestalten, Geschichte, Geografie, Mathematik, Musik, Naturwissenschaft, Sport, Textiles Gestalten und Werken. Die Grundidee von Fachdingsda ist, dass in allen Fächern eine gezielte Wortschatzarbeit stattfinden soll mit dem Ziel, sowohl Fachtermini besser zu verstehen, als auch die Fachinhalte und die damit verbundenen Konzepte besser und nachhaltiger zu lernen. Fachdingsda besteht aus einer Broschüre von 64 Seiten und einer CD- ROM. Die Broschüre enthält im ersten allgemeinen Teil die Grundlagen für den Wortschatzerwerb und eine Beschreibung der Besonderheiten von Fachsprachen in Bezug auf Wortschatz und Satzstrukturen. Im zweiten Teil werden vielfältige didaktische Anregungen zur Arbeit am Fachwortschatz geliefert. Die CD-ROM enthält die Wörterlisten zu den neun erwähnten Fächern. Die Listen umfassen lediglich den produktiven Fachwortschatz. Das Ziel ist es, dass im Unterricht jeweils eine begrenzte Anzahl von Fachtermini behandelt wird. Die Auswahl der Wörter erfolgte durch entsprechende 1 Nodari, C./ Steinmann, C. (2008): Fachdingsda - Fächerorientierter Grundwortschatz für das 5.-9. Schuljahr. Lehrmittelverlag Kanton Aargau, Buchs (mit CD-ROM) - www.lmvag.ch <?page no="286"?> Claudio Nodari 280 Fachlehrpersonen aufgrund der Frage „Welche Fachwörter muss ein Jugendlicher aktiv beherrschen, um erfolgreich lernen zu können? “ Die Wörterlisten sind im Word-Format vierspaltig gestaltet und können von der Fachlehrperson in Bezug auf den Umfang, die Beispielsätze, Bilder und Schriftgrösse beliebig bearbeitet werden. Artikel Wort Beispielsatz / Wendung Bild/ Übersetzung/ Erklärung des Kindes die Anfangsmasche, -n Die Anfangsmasche heisst auch Zaubermasche. die feste Masche Die festen Maschen sind zu satt. Die vierte Spalte kann je nachdem gefüllt werden mit einem Bild, mit einer Übersetzung in die Erstsprache des Kindes oder mit einer Erklärung, die das Kind selbst formuliert. Auf der CD-ROM stehen dafür ca. 200 Schwarzweissillustrationen zur Verfügung zu den Fächern Musik, Mathematik und Naturwissenschaften. Diese Bilder im PDF-Format können durch Kopieren in die Listen eingesetzt werden. Die CD-ROM enthält auch Übersetzungen in den Sprachen Albanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Serbisch-Kroatisch, Tamil und Türkisch. Diese Listen sind ebenfalls im PDF- Format abgespeichert. Ein Fachlehrer kann also für einen bestimmten Lerngegenstand seine eigenen Listen erarbeiten. Wichtig dabei ist, dass sich die Auswahl der Fachtermini auf den angestrebten produktiven Wortschatz konzentriert. Die Beispielsätze können je nach Unterrichtsinhalt verändert werden. Die Schüler erhalten die Listen, nachdem ein bestimmter Unterrichtsgegenstand behandelt wurde. Sofern in der vierten Spalte kein Bild eingesetzt wurde, bearbeiten die Schüler diese Spalte und tragen die eigenen Erklärungen oder die Übersetzungen ein. Das Lernen der Fachtermini kann als Partnerarbeit oder als Hausaufgabe erfolgen. In der Broschüre werden zudem zahlreiche Übungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Eine Prüfung des Gelernten erhöht selbstverständlich den Anreiz, die Fachwörter auch wirklich zu lernen. <?page no="287"?> Fachdingsda - Fächerorientierter Grundwortschatz für das 5. - 9. Schuljahr 281 Beispiele aus der CD zu Fachdingsda mit Serbisch/ Kroatisch und Türkisch. 3.1 Geschichte allgemein - opšta istoruja/ op a povijest 3.1.1 Die Zeit in der Geschichte - vreme u istoriji/ vrijeme u povijesti das 15. Jahrhundert 15. stole e, vek/ vijek die Epoche, -n epoha die Geschichte istorija/ historija, povijest das Jahrhundert, -e stole e, vek/ stolje e, vijek das Jahrtausend, -e milenium, tisu lje e n. Chr. nakon Hrista/ Krista v. Chr. pre Hrista/ prije Krista Zeitalter doba 5.5 Redewendungen und Wortkombinationen die Klammern richtig setzen parantezleri do ru koymak eine bekannte Zahl bilinen bir say eine Graphik erstellen bir grafik yapmak eine Graphik verstehen bir grafi i anlamak eine Graphik lesen bir grafi i okumak eine Tabelle ergänzen bir listeyi/ tabelay tamamlamak eine Tabelle erstellen, bir liste/ tabela yapmak eine unbekannte Zahl bilinmeyen bir say eine irgendeine Zahl einsetzen herhangi bir say y koymak 8.2 Werkzeuge Artikel Wort Beispielsatz / Wendung Übersetzung oder Erklärung des Kindes das Bügelbrett, -er Das Bügelbrett hat einen Stoffüberzug. das Bügeleisen, - Brenn dich nicht am Bügeleisen! bügeln Ich bügle meinen Stoff. das Massband, ¨er Das Massband wird aufgerollt. messen Ich messe die Stoffbreite. nähen Ich nähe regelmässig. die Nähmaschine, -n Das Nähen mit der Nähmaschine macht Spass