Welt - Bild - Theater
Band II: Bildästhetik im Bühnenraum
0118
2012
978-3-8233-7612-5
978-3-8233-6612-6
Gunter Narr Verlag
Kati Röttger
Die Frage nach dem Zusammenspiel von Theater und Bild lässt sich nicht losgelöst von den medialen Komponenten beantworten, in denen dieses Zusammenspiel gegeben ist. Gleichzeitig ist es von ästhetischen Überschreitungen oder auch verschiedenen ästhetischen Einstellungen bestimmt, die nichtselten mit Medienwechseln oder auch dem Einsatz neuer Technologien einhergehen. Die Beiträge in diesem Band befassen sich mit der Frage, ob und inwieweit von spezifischen Bildästhetiken des Theaters in unterschiedlichenhistorischen Epochen die Rede sein kann. Sei es Theater, Tanz, High-Tech-Spektakel, Performance oder Musiktheater, für alle Bühnenkünste stellt sich dabei immer wieder das Problem, Bildhaftigkeit in Angrenzung zu Sprache, Raum, Zeit, Körper und anderen theatereigenen Phänomenen zu denken.
<?page no="0"?> Kati Röttger (Hrsg.) Welt - Bild - Theater Bildästhetik im Bühnenraum Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 38 <?page no="1"?> Welt - Bild - Theater Band 2: Bildästhetik im Bühnenraum <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 38 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Kati Röttger (Hrsg.) Welt - Bild - Theater Band 2: Bildästhetik im Bühnenraum Unter Mitarbeit von Anne Rieger <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Wendeltreppe im Neuen Museum, Nürnberg Architekt: Volker Staab Fotografie: Julien Dolenc Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft und der Studienstiftung Niessen. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-6612-6 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Kati Röttger Einleitung............................................................................................................. 9 Kapitel I Bildbeschreibungen Patrick Primavesi Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens in gegenwärtiger Tanz- und Theaterarbeit (Forsythe, Bozic, Chétouane) ................................................. 25 Veronika Darian Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt ............... 39 Sebastian Kirsch Es wird ein Mensch gemacht. Zu Laurent Chétouanes „Tanzstück#2: Antonin Artaud liest den zweiten Akt von Goethes ‚Faust II’ und“ ........ 49 Henri Schoenmakers Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort. Carmen in Worten und Bildern..................................................................................................................... 63 Kapitel II Dramaturgien der Wahrnehmung Benjamin Wihstutz Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater ... 77 Denis Leifeld Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers .................................... 87 Stefanie Husel The World in Pictures - Wissen im Spiel .................................................... 101 Andreas Englhart Was ist ein Theaterbild? Überlegungen zum Phänomen des Bildes im Theater.............................................................................................................. 115 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 6 Kapitel III Das Sagbare und das Sichtbare. Hören und Sehen im Angesicht des Textes Helga Finter Dante lesen als Performance. Lectura Dantis auf der zeitgenössischen Bühne................................................................................................................ 123 Matthias Spohr Das Paradigma des Performativen und die Vanitas ................................. 133 Romain Jobez Szenen der Tragikomödie. Das Mémoire de Mahelot und die französische Barockbühne ........................................................................................... 143 Svetlana Lukanitschewa Vom Sagbaren zum Sichtbaren. Das Monodrama-Konzept von Nikolai Evreinov im Kontext theatraler Wirkungsästhetik des frühen 20. Jahrhunderts ........................................................................................................... 153 Christina Schmidt Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef ....................... 167 Kapitel IV Szenarien der Physiognomie: Körper-Bilder Wolf-Dieter Ernst Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte............................................................................................................... 181 Petra Bolte-Picker Theater der Physiologie. Köper/ Teilung, Körper/ Dichte und der politisierte kopflose Rest......................................................................................... 193 Leif Murawski Prothetische Körper. Konzepte der Körperlichkeit im symbolistischen und postsymbolistischen russischen Theater ............................................. 207 Berit Mohr Das unsichtbare Kostüm................................................................................ 221 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 Annemarie Matzke Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt..................... 235 Kapitel V Zwischen Raum und Bild Clemens Risi Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum-Erfahrung. Raum der Musik und Musik des Raumes in Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka ......... 243 Stefan Tigges In den Raum der Bilder sehen. Ästhetische Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz.................... 251 Birgit Wiens Szenografie als Arabeske ............................................................................... 267 Julien Dolenc Museumsarchitektur und Theatralität oder: Was wollen die Räume? ... 281 Matthias Spaniel Theatrale Bildräume. Eine Begriffsdefinition für eine mediale Physiognomie des Theaters am Beispiel von Stefan Puchers „Othello“- Inszenierung ................................................................................................... 295 Epilog Werner Fritsch Natalität versus Fatalität - Einige Gedanken zum Theater des Jetzt im Kontext meiner Inszenierung von Das Rad des Glücks .............................. 309 Zu den Autorinnen und Autoren................................................................. 315 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 323 <?page no="9"?> Kati Röttger Einleitung Mit Bildästhetik im Bühnenraum liegt der zweite Band eines theaterwissenschaftlichen Publikationsprojekts vor, das mit dem Titel Welt-Bild-Theater überschrieben ist. Ganz allgemein gesprochen bezeichnet diese begriffliche Triade die Auseinandersetzung mit der Theatralität von Weltbildern in der europäischen Moderne. Damit einher geht das Vorhaben, die beiden frühmodernen Topoi Theatrum Mundi (Welt als Bühne) und Orbis Pictus (Welt im Bild) auf ihre gegenwärtige Wirkkraft hin neu zu befragen. Wie die thematische Schwerpunktsetzung der beiden Bände zeigt, eröffnen sich dadurch insbesondere zwei Blickwinkel für die theaterwissenschaftliche Forschung: ein erkenntnistheoretischer und ein ästhetiktheoretischer. Der erste, bereits im letzten Jahr erschienene Band, widmet sich dem ersten Blickwinkel gemäß dem Thema Politik des Wissens und der Bilder. 1 Er stellt eine Bühne für die ‚Weltschau’ bereit, insbesondere mit dem Blick „auf Brüche mit und Darstellungsweisen von Welterkenntnis und Weltansichten, die sich aus einer epistemologischen oder ideologischen Optik des Theaters generieren.” 2 Den Schwerpunkt dieses Bandes bilden mit anderen Worten theaterwissenschaftliche Beiträge zu historischen Ordnungen des Wissens, sowie deren épistème und deren Medien der Darstellung auf (auch metaphorischen) Bühnen. Der zweite, nun vorliegende Band befasst sich mit Bildästhetik im Bühnenraum. Hier richtet sich die Optik auf ästhetische Phänomene des Zu-Sehen- Gebens in Aufführungen. Dabei stehen insbesondere der Status des Bildes und die Bildwerdung in theatralischen Prozessen zur Debatte. Dass diese Auseinandersetzung notwendig auch mit methodologischen Überlegungen einhergeht, beweist die Mehrzahl der hier versammelten Beiträge eindrücklich. Denn was ein (oder kein) Bild im Theater ist, diese Frage muss jeweils wieder neu im konkreten Bezug auf die ästhetischen Mittel beantwortet werden, durch welche sich Bildwirkungen und Bildwahrnehmungen konstituieren. Dabei erweist sich die Notwendigkeit, sich gegenwärtig der Frage des Bildes im Theater zu stellen, nicht zuletzt aus den neuen ästhetischen und technologischen Praktiken der Visualisierung, die in den letzen 15 Jahren zunehmend in der Theater- und Performancekunst wie auch in den Kommunikationsmedien und in den Wissenschaften zu beobachten sind. Sie verlangen nach einer Neubetrachtung der Beziehungen zwischen Texten, (virtuellen und realen) Räumen, Körpern, Handlungen und Bildern. Das 1 Kati Röttger (Hrsg.), Welt-Bild-Theater. Politik des Wissens und der Bilder, Tübingen 2010. 2 Ebd., S. 8. <?page no="10"?> Einleitung 10 methodologische Feld für eine solche Neubetrachtung hat in einem ersten Schritt die kritische Ikonologie (critical iconology) oder Bildwissenschaft bereitet. Ob Gottfried Böhms Aufforderung zur Bildkritik, 3 Hans Beltings Vorschlag für eine anthropologische Bildwissenschaft, 4 oder W.J.T. Mitchells Picture Theory 5 : Für die Theaterwissenschaft boten diese Ansätze zunächst einen Anstoß, über die Kategorie des Bildes die genuine Heterogenität ihres Gegenstandes über intermediale oder semiotische Ansätze hinaus methodisch neu zu fassen. 6 Gleichzeitig aber lässt gerade die interdisziplinäre Ästhetik theatralischer Ereignisse gar nicht zu, sich allzu voreilig dem oft proklamierten „pictorial turn” 7 zu verschreiben und diesen damit als Reduktion in die Theaterwissenschaft hineinzutragen, so als ob wir es mit einer geradlinigen Ablösung der Sprache durch Bilder in Kunst, Kultur und Wissenschaft zu tun hätten. Eine theaterwissenschaftliche Perspektive lädt deshalb nicht zuletzt auch dazu ein, dem Weltbild als Phänomen der Moderne 8 das Bild der Bühne entgegen oder zur Seite zu stellen, eine Aufforderung, die im Titel Welt-Bild-Theater mit formuliert ist. Unter diesen Voraussetzungen legen die im vorliegenden Band vereinten Aufsätze aufschlussreiche Beobachtungen und kritische Analysen zu „Bilderfragen” 9 vor, die sich durchaus auch als Herausforderungen an das Bild als ästhetische und methodische Kategorie verstehen lassen. Sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu der über die disziplinären Grenzen der Theaterwissenschaft hinaus reichenden bildwissenschaftlich, kulturwissenschaftlich und philosophisch geprägten Diskussion über die notwendige Demontage des Bildbegriffs „als Allgemeinbegriff”. 10 Das heißt auch, sie tragen durch konkrete Analysen unterschiedlichster Bildpraktiken auf unterschiedlichsten Bühnen zu einer Verständigung über das Bildermachen und Bilderverstehen in der heutigen Kulturpraxis bei, ohne eine abstrakte ‚Bildhoheit’ zu etablieren. Die Analysen eröffnen insgesamt ein Feld, das durch interdisziplinäre Grenzgänge und -überschreitungen zwischen den Künsten 3 Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? München 1994. 4 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. 5 W.J.T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago, London 1994. 6 Kati Röttger und Alexander Jackob (Hrsg.), Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. Bielefeld 2009. 7 W.J.T. Mitchell, „The Pirctorial Turn“, in: Artforum, März 1992, S. 89-94. 8 Die hier veröffentlichten Beiträge gehen zurück auf Vorträge, die im Rahmen des 9. Internationalen Kongresses der Theaterwissenschaft im Oktober 2008 in Amsterdam gehalten wurden. Der Titel des Kongresses lautete Orbis Pictus - Theatrum Mundi. Welt/ Bild/ Theater. Perspektiven des 21. Jahrhunderts. Das im Titel anklingende Konzept des Weltbilds ist u.a. auf Martin Heideggers Ausführungen zur Moderne zurückzuführen. Vgl. Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbilds“, in: Ders., Holzwege. Frankfurt am Main 1950 (8. Auflage 2003). 9 Hans Belting (Hrsg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007. 10 Ebd., S. 11. <?page no="11"?> Einleitung 11 und Medien im Wechselspiel von Körper, Klang, Licht, Raum, Zeit, Sprache etc. geprägt ist und der Vieldeutigkeit des Bildbegriffs gerecht wird. Die im Untertitel dieses Bandes gestellte Frage nach einer Bildästhetik (im Bühnenraum) wird somit immer wieder auch als Frage nach den verschiedenen Medien der Bilderfertigung oder des Bildentzugs, 11 nach Weisen der Aufmerksamkeitserzeugung oder Blendung, nach Rahmungen durch Blick, Bühne oder andere Technologien diskutiert. Dabei zeigt sich, dass gerade die theaterwissenschaftliche Perspektive es ermöglicht, das Bild als Vollzug und Ereignis 12 zu fassen, indem sie es an die ästhetische Erfahrung der Zuschauer bindet. Schon Hans-Georg Gadamer hatte die „Verwicklung” zwischen Darstellung und Bild ins Spiel gebracht, indem er davon ausging, dass „die Seinsweise des Kunstwerks Darstellung ist” und sich fragte, „wie der Sinn von Darstellung an dem verifizierbar wird, was wir das Bild nennen”. 13 Diese Frage veranlasste ihn zur Kritik an der traditionellen Ästhetik und an den klassischen Begriffsbestimmungen des Schönen, die allgemein von den Kunsttheoretikern vertreten wurden. 14 Indem Gadamer das ästhetische Bewusstsein nicht mehr als reine Abstraktion gelten lassen wollte, hat er der (seinsbezogenen) ästhetischen Erfahrung philosophisch den Weg geebnet. 15 Während Gadamer jedoch in erster Linie eine ontologische Begriffsanalyse leistet, findet in den meisten theaterwissenschaftlichen Beiträgen in gewissem Sinne eine Umkehrung der Aufmerksamkeit statt, ohne dass diese allerdings explizit Erwähnung findet. Diese Umkehrung besteht darin, dass die empirischen Beschreibungen der verschiedenen Bildphänomene im Bühnenraum auf die ästhetische oder aisthetische Erfahrung als notwendige Voraussetzung für die Existenz dieser Phänomene, ob materiell oder imaginär, zurückverweisen (siehe u.a. den Beitrag von Wiehstutz). Zusammengefasst treffen sich kritische Ikonologie und Theaterwissenschaft in erstaunlich analoger Weise nicht nur in der Bestimmung der genu- 11 Vgl. hierzu auch Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main 2004, S. 205-227. 12 Vgl. die englischsprachige Zusammenfassung von Beltings bildanthropologischem Ansatz in: Hans Belting, „Image, Medium, Body: A new approch to Iconology”, in: Critical Inquiry 31 (winter 2005), S. 302-318, 302. 13 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke 1, Tübingen 1990, S. 142. 14 Ebd., S. 139-164. Seine Kritik der (reinen) Abstraktion des ästhetischen Bewusstseins entzündete sich an der von ihm verworfenen kunsthistorischen Definition vom Bild als Abbild oder Tafelbild, das dessen „unauflösbaren Bezug” zur Welt ignoriert. Vgl. S. 147. 15 Aus Gadamers ontologischer Begriffsanalyse lassen sich zwei wesentliche Richtungen ableiten, die Eingang in die Bildwissenschaft gefunden haben: Seine Kritik am Abbild wurde von Gottfried Boehm in seinen Studien zur Logik des Bildes und zur ikonischen Differenz weitergeführt. Seine Überlegungen zum Weltbezug des Bildes und zur Bilderfahrung wurden in erster Linie von der phänomenologischen Bildforschung aufgenommen. <?page no="12"?> Einleitung 12 inen Heterogenität ihrer Gegenstände, sondern auch in einem Begriff der Darstellung, der auf Vollzug (Performanz), dem Interaktionsverhältnis von Bild/ Körper und den Körpern der Betrachter und schließlich auf der konstitutiven Kraft der ästhetischen Erfahrung beruht. Genauer gesagt scheinen gerade diese dem Theaterereignis eigenen Grundvoraussetzungen von bildwissenschaftlichen Ansätzen adaptiert worden zu sein, 16 um den klassischen Bildbegriff theoretisch zu erweitern und diese Erweiterung zu legitimieren. Während diese Interdependenz auf wissenschaftstheoretischer Ebene bisher kaum kritisch diskutiert oder beachtet wurde, finden sich in den Arbeiten von W.J.T. Mitchell jedoch methodische Konsequenzen, die aufmerken lassen. Mitchell bedient sich nicht nur der Metapher der Bühne, um den Auftritt von theoretischen Bildern bzw. Metabildern zu inszenieren. 17 In seinem Aufsatz „Über den Vergleich hinaus: Bild, Text und Methode” geht er noch einen Schritt weiter, indem er fragt: „Was ergibt sich aus diesen [theoretischen] Bildern für die Frage der Methode bei der Untersuchung von Bildern und Texten? ” 18 Diese Frage nimmt er zum Anlass, um für eine „entdisziplinierende Übung” einzutreten, welche die disziplinäre Getrenntheit von Wort und Bild unterminiert. Damit wendet er sich gegen die traditionellen komparatistischen Methoden als historisch gewachsene einzige Möglichkeiten, um das Verhältnis zwischen Wort und Bild systematisch zu untersuchen, sei es unter der Prämisse des Vergleichs der ‚Schwesternkünste’ Poesie und Malerei, oder im Sinne der amerikanischen Literature and Visual Arts. Beide, so Mitchell, stoßen dort an Grenzen, wo die Bezeichnungen Wort und Bild für die Annahme der Getrenntheit von verbalen und visuellen Disziplinen bürgen müssten, obwohl ihre instabile Dialektik den je pikturalen und den diskursiven Rahmen ständig durchbräche. Um der „Falle des Vergleichs” 19 aus dem Weg zu gehen, schlägt er vor, gemischte Künste zum Ausgangspunkt zu nehmen, um die „Gesamtheit der Relationen” in den Blick zu nehmen, die sich in den intermedialen Künsten geradezu anbietet. Neben Film und Fernsehen stehen vor allem Theateraufführungen bei ihm hoch im Kurs, denn hier „trifft man auf eine konkrete Menge von empirischen Tatsachen, auf eine Bild-Text-Struktur, welche den herrschenden Konventionen in der Relation von visueller und verbaler Erfahrung entspre- 16 Ich beziehe mich auf die von mir in den Fußnoten 1-3 genannten. Siehe eine ausführlichere Darstellung, auch weiterer bildwissenschaftlicher Ansätze in Röttger und Jackob, a.a.O.: Alexander Jackob und Kati Röttger, „Einleitung: Theater, Bild und Vorstellung. Zur Inszeneirung des Sehens“, S. 7-39. 17 W.J.T. Mitchell entwickelt das Konzept der Bühne als Metabild unter anderem in seinem Aufsatz “Pictorial Turn”, in: Ders., Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 101- 135. 18 W.J.T Mitchell, „Über den Vergleich hinaus: Bild, Text und Methode”, in: Bildtheorie, a.a.O., S. 136-171, hier S. 136. 19 Ebd., S. 145. <?page no="13"?> Einleitung 13 chen (oder sich ihnen widersetzen).” 20 Dabei sind das Visuelle und das Verbale immer auch als relative Werte zu untersuchen, als „ein Nexus, wo politische, institutionelle und soziale Antagonismen sich in der Materialität der Repräsentation selbst darstellen.” 21 Die hier verwendeten Zitate deuten an, dass Mitchell sich schwer tut, die Alternative zur komparatistischen Methode überzeugend zu formulieren. Am Ende seines Aufsatzes gesteht er denn auch ein, seine „den Status des Text/ Bilds betreffenden Behauptungen nicht im Entferntesten bewiesen zu haben.” 22 Dennoch liefert sein Aufsatz einige Anhaltspunkte, an die sich mit vorliegendem Band anknüpfen lässt. Dass nämlich Mitchell zufolge Theateraufführungen sich eignen, um entdisziplinäre Übungen zu betreiben, wird in vielen hier vorliegenden Beiträgen auf überzeugende Weise vorgeführt. Sie zeigen nicht nur, dass sich die strikte Trennung von Wort und Bild methodisch für die Analyse von Bühnenästhetiken nicht aufrechterhalten lässt. Darüber hinaus belegen sie, dass die Interrelationalität der Medien über das Verhältnis von Wort und Bild hinausgeht und auch auf Körper, Klang, Licht, Raum usw. bezogen werden muss. Wenn hier dennoch der Akzent auf die Bildästhetik gelegt wird, dann ist dies als Beitrag zur Bildfrage gemeint, der die empirischen Herausforderungen, welche die Bühnenpraxis als intermediale Praxis stellt, zum Anlass nimmt, einen methodischen Beitrag für die bildwissenschaftliche Praxis zu leisten, der sich gewissermaßen aus dem Bild der Bühne ableitet. Das vorliegende Buch ist daher in fünf große Kapitel unterteilt, die sich jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten zu Fragen der Bildpraxis als Bühnenpraxis und umgekehrt der Bühnenpraxis als Bildpraxis widmen. Während sich das erste Kapitel unter der Überschrift Bildbeschreibungen mit dem Problem befasst, wie Worte Bilder entstehen lassen, widmet sich das zweite Kapitel den Dramaturgien der Wahrnehmung, argumentiert also vom Zuschauer aus. Unter dem Titel Das Sagbare und das Sichtbare. Hören und Sehen im Angesicht des Textes konzentriert sich das dritte Kapitel auf das Wechselverhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, wobei das Motto „Wie das Sehen die Sprache und die Sprache das Sehen lenkt” als wegweisend gelten kann. Das vierte Kapitel ist den physiognomischen Szenerien gewidmet, die sich aus der scheinbar unlösbaren Verschränkung von Körper und Bild ergeben. Das fünfte Kapitel stellt schließlich den Bühnenraum als Bildraum und Raumbild zur Diskussion. Der Epilog ist dem freien Schriftsteller und Dramatiker Werner Fritsch vorbehalten, der mit seinem Text Natalität versus Fatalität - Einige Gedanken zum Theater des Jetzt im Kontext meiner Inszenierung von Das Rad des Glücks einen performativen Bogen zurück zum ersten Kapitel schlägt, handelt es sich hier doch um ein Beispiel 20 Ebd., S. 146. 21 Ebd., S. 147. 22 Ebd., S. 171. <?page no="14"?> Einleitung 14 zeitgenössischer daramatischer Literatur, deren „dramatischer Ort der Kopf des Autors“ 23 ist. Fritsch macht einmal mehr anschaulich, wie sich dieser dramatische Ort über die Transformation von Kopfbildern in Text wiederum zur Bühne von Bildern generiert. Das Kapitel Bildbeschreibungen verdankt seinen Namen gleich zwei Quellen, auf die sich mehrere der hier zusammengestellten Beiträge beziehen. Das virulente Zentrum bildet der gleichnamige, 1984 fertiggestellte Theatertext von Heiner Müller. Gleichzeitig weist der Name aber auch zurück in die Romantik des 18. Jahrhunderts, auf Clemens Brentanos bekannte Beschreibung des Bildes Der Mönch am Meer von Caspar David Friedrich. Diese historische Verknüpfung löst Reflexionen auf das Genre selbst aus, die sowohl die Ekphrasis als auch das dialogische Kunstgespräch auf den Prüfstein stellen. Das damit thematisierte Verhältnis von Bild und Sprache bildet den Kern des Kapitels, der mit Begriffen wie Bilddiskurs, Metapher und Wort- Bild-Transfer erweitert wird. 24 Patrick Primavesi leistet in seinem Aufsatz Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens in gegenwärtiger Tanz- und Theaterarbeit (Forsythe, Bozic, Chétouane) eine Auseinandersetzung mit dem Prozess der Bildwahrnehmung im Raum des Theaters. Dabei interessiert ihn vor allem die Vorstellungs- und Einbildungstätigkeit als Blickaktivität des Zuschauers, die über eine gesetzte Bildrahmung hinausreicht. Ausgehend von Heinrich von Kleists Aufsatz Empfindungen vor Friedrichs Seelenlandschaft, einem Text, der zum großen Teil von Clemens Brentano stammte, analysiert er aus dem romantischen Kunstverständnis heraus die produktive Selbstreflexion des Sehens. Daraus leitet er die Frage nach der Verantwortung des Sehens bzw. des Sehenden ab, die sich im Angesicht der medial vermittelten Überfülle von Bildern des Schreckens von Kriegen und Gewalt stellt. Am Beispiel von drei Tanzbzw. Theaterproduktionen untersucht er die Wechselbeziehung von Bild und Sprache, die er bis in das rhetorische Genre der Ekphrasis zurückverfolgt. Damit entfaltet Primavesi eine transdisziplinäre methodische Perspektive auf Bilddiskurse als reflektierende Diskurse, die Sehen und Blick ebenso thematisieren wie Nicht-Sehen, Blendung und das Blinzeln, „zwischen Blick und Blick” (Heiner Müller): Ein Entzug der Rahmung, der insbesondere dann wirksam wird, wenn die Körperlichkeit des Sprechens oder der Körper als Klangraum artikuliert wird, wie er insbesondere am Beispiel von Laurent Chétouanes Tanzstück#1 zu Heiner Müllers Bildbeschreibung (2007) belegt. 23 Vgl. dazu Klaus Völker in seinem Aufsatz „Es ist nicht wahr, dass wir in einer Zeit ohne Dramen leben. Zu den Theaterstücken von Werner Fritsch“, in: Werner Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. Materialien und Werkstattberichte. Hrsg. von Hans-Jürgen Drescher und Bert Scharpenberg, Frankfurt am Main 2002, S. 98-101. 24 Siehe hierzu auch die kürzlich erschienene Publikation von Veronika Darian: Das Theater der Bildbeschreibung: Sprache, Macht und Bild in Zeiten der Souveränität. Paderborn 2011. <?page no="15"?> Einleitung 15 Auch Veronika Darian lotet, wie der Titel ihres Beitrag Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt bereits verrät, das Potential der Ekphrasis zur „Beschreibung der Bilder” aus. Im Rückgriff auf die Horazsche Formel ut pictura poesis erkundet sie das intermediale Verhältnis zwischen stummem Bild und blinder Sprache. Auch sie nimmt dabei auf Clemens Brentanos Bildbeschreibung Bezug. Sie bietet ihr einen Anlass, eine Antwort auf das Rätsel der Gattung zu finden, das im Paradox zwischen sequentieller Sprache und eingefrorenen sinnlich fassbaren Bildern eingefangen ist. Ihr Vorschlag lautet, in der Unentschiedenheit zwischen Bild und Sprache eine Möglichkeit für den Betrachter zu sehen, eine Position zu entwickeln, die sich in einer selbstreflektierenden, performativen Praxis vollzieht. Wiederum im Bezug auf Heiner Müllers Bildbeschreibung in der Inszenierung von Laurent Chétouane, diesmal aber mit dem umbenannten Tanzstück#2: Antonin Artaud liest den zweiten Akt von Goethes ‚Faust II’ und stellt Sebastian Kirsch die Frage, was eigentlich auf der Bühne Chétouanes zu sehen ist, das nicht als Bild wahrgenommen wird. Im Rückgriff auf Heiner Müllers Definition der Metapher als „Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder” nimmt Kirsch die Frage zum Anlass, um eine Statusbestimmung des Bildes auf der Bühne vorzunehmen. Chétouanes tänzerische Auseinandersetzung mit Goethes Faust II verhilft ihm dazu, mit dem Konzept des Inkarnationsbildes (Marie-José Mondzain) den Körper in das Wort- Bild-Gefüge einzubringen. „Die Inkarnation ist zunächst nichts anderes”, so Kirsch, „als eine Bildwerdung des Undarstellbaren in einem Träger, der dafür nicht prädestiniert ist. Die Inkarnation Christi etwa ist das Sichtbarwerden von Gottes Angesicht in einem menschlichen Körper.” Damit hat er auch eine Antwort für den Status des Bildes - und schlussendlich auch des Textes - im Theater Chètouanes gefunden: Sie liegt in der Fleischwerdung, indem das Unsichtbare, das Sichtbare und der Blick des Betrachters in der Verkörperung gewissermaßen verschmelzen. Eine ganz andere Annäherung an das Verhältnis zwischen Wort und Bild auf der Bühne sucht Henri Schoenmakers in seinem Aufsatz Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort. Carmen in Worten und Bildern. Am Beispiel eines studentischen empirischen Experiments entwickelt er einen methodischen Ansatz, um Transferprozesse von (auf der Bühne aus Worten generierten) Bildern zum Wort bei Zuschauern analysieren zu können. Ausgehend von einer transkulturell und historisch bekannten Bühnenfigur - in diesem speziellen Fall Carmen - wurden über Fragebögen bei niederländischen und deutschen Studierenden statistische Erhebungen durchgeführt, um (evtl. kulturell geprägte) Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen dem mentalen Bild der Bühnenfigur und ihrer praktischen, physischen Konkretisierung auf der Bühne feststellen zu können. Dieser Beitrag zur empirischen Rezeptionsforschung befasst sich zwar auch mit der Wahrnehmungsaktivität der Zuschauer, allerdings weniger im Sinne der Bildbeschreibung als vielmehr der (kulturell abhängigen) Bilderwartung. <?page no="16"?> Einleitung 16 Bereits in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Wort und Bild auf der Bühne, wie sie im ersten Kapitel geleistet wird, kommt die konstitutive Kraft der Zuschauerwahrnehmung bei der Bilderzeugung im Theater zur Sprache. Das zweite Kapitel, Dramaturgie der Wahrnehmung vertieft sich weiter in diese Problematik. Mit dem Begriff Dramaturgie wird hierbei auf die je unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen an die analytische Erfassung der Wahrnehmungsleistungen angespielt. Ob sie eher im Sinne einer synästhetischen Erfahrung und Einbildung, als Ästhetik des vielfach Möglichen oder als panoramatische Absorption untersucht wird, die grundsätzliche Frage nach dem Bild im Theater, so erweist sich, lässt sich ohne wahrnehmungsdramaturgische Überlegungen gar nicht stellen. In dem Aufsatz Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater beschäftigt sich Benjamin Wihstutz mit dem spezifisch theatralischen Problem der Flüchtigkeit bzw. Transitorik der Bilder, die den Zuschauer zum ultimativen „Bildträger” erhebt. Wie aber kann man diese Zuschauerleistung methodisch reflektieren? Im Theater lässt sie sich keineswegs nur auf visuelle Aspekte beziehen. Vielmehr - so lautet Wihstutz’ interessante These - „handelt es sich bei Wahrnehmungsereignissen des Zuschauens stets um die Eindrücke ganz unterschiedlicher Sinne, die sich im Hier und Jetzt zu Bildern zusammenfügen”. Es handelt sich um ein synästhetisches Einbilden, das Wihstutz anhand eindrucksvoller Ausführungen etwas zum „Riechen des Lichts” (Laurie Anderson) oder zum Hörbild des Helikopters in Adriane Mnouchkines Inszenierung Le Dernier Caravanserail phänomenologisch nachweist. Auch Denis Leifeld betont in Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers die Komplexität der ästhetischen Erfahrung insbesondere beim Theaterzuschauer. Er führt mit Wolfgang Iser die Formel der „Ästhetik des vielfach Möglichen” ein, um an so konträren Beispielen wie an den Arbeiten des Malers Jackson Pollock und an Romeo Castelluccis Inszenierung INFERNO aufzuzeigen, dass die radikale Offenheit, die die Ästhetik beider verbindet, über die Erfahrung hinaus auch das Denken mobilisiert: Ein Denken in Analogien, das durch den zwischenkörperlichen Prozess (Ko-Präsenz), der die performative Praxis im allgemeinen bestimmt, einen Zuschauer erzeugt, der sich als Schöpfer eigener Bildwelten erfährt und damit als Subjekt des „eigenen sinnlichen Wahrnehmens und ästhetischen Erfahrens”. Während also Denis Leifeld das Denken im Prozess der Wahrnehmung thematisiert, konzentriert sich Stefanie Husel in The World in Pictures - Wissen im Spiel auf das Problem des Wissens in Bildern. Dabei dient ihr das Panorama als Dispositiv. Am Beispiel von Forced Entertainments Inszenierung The World in Pictures untersucht sie die spezielle Kommunikationssituation, die in einer Aufführung entsteht, wenn Weltwissen im Bilderreigen vorgestellt wird. Damit spricht sie ebenfalls eine methodische Problematik an. Sie geht mit der Frage einher, wie Inszenierungspraktiken und Wahrnehmungsweisen in ihrer Wechselbeziehung <?page no="17"?> Einleitung 17 transparent gemacht werden können. In einer ausführlichen Aufführungsbeschreibung gelingt es Husel nachzuzeichnen, wie der Betrachter panoramatisch „in der Begegnung mit dem Gegenwärtigen” in das große Bild der Inszenierung eingesogen wird. Selbst die Grundsatzfrage nach dem ‚Sein’ des Bildes im Theater (Was ist ein Theaterbild? Überlegungen zum Phänomen des Bildes im Theater) muss auf die Zuschauerwahrnehmung zurückgeführt werden, wenn man Andreas Englhart folgt. Denn ihm zufolge wird „die Aufführung nur als Theaterbild erkannt, wenn dieses als solches vom Zuschauer wahrgenommen wird”. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein perzeptuelles Bild. Vielmehr ist es der Aufmerksamkeitsschwerpunkt, bzw. die Rahmung, die der Bildentstehung notwendig vorausgeht. Und es sind wiederum nicht nur visuelle Reize, die eine Bildwahrnehmung veranlassen, sondern die Physiognomie der Szene, die auch als Atmosphäre erfahrbar wird. Dass dabei die doppelte Differenz zwischen der Wahrnehmung von Theaterbildern und dem Theatermittel eine paradoxale Wirkung auslöst, sucht Englhart mit wahrnehmungspsychologischen, phänomenologischen und erkenntnistheoretischen Ansätzen zu begründen. Während die ersten beiden Kapitel Bilderwerdung und Wahrnehmung in Bezug auf das gesamte Aufführungsgeschehen thematisieren, fokussieren die folgenden Kapitel verschiedene Medien der Bilderzeugung, wobei auch diese, wie gezeigt wird, erst im Relationsgefüge ihre Wirksamkeit entfalten. Zunächst richtet sich das Augenmerk auf den Text als Bestandteil einer performativen Praxis der Sichtbarmachung und Hörbarmachung. Helga Finter nimmt in diesem Zusammenhang die Technik des Lesens in ihrem Beitrag Dante lesen als Performance. Lectura Dantis auf der zeitgenössischen Bühne in den Blick. Ausgehend von Romeo Castelluccis viel gerühmter Inszenierung von Dantes Divina Commedia (2008) stellt sie die These auf, dass die Komplexität der Aufführung in ihrer bilderreichen und sinnlich eindringlichen mala mimesia an den Text einen gewissenhaften Leser von Dantes Text voraussetzt. Genauer gesagt bezeichnet sie Castelluccis Commedia als Theater des Lesers dieses Textes. Die sich aufdrängende Frage, inwieweit es im Italien des Medienimperiums Berlusconis gerechtfertigt ist, diesen Horizont zu unterstellen, begegnet sie mit der überzeugenden These, dass gerade der Medienkontext durch öffentliche Lektüren für die Zugänglichkeit dieses Textes gesorgt hat. Ein breites Publikum wurde dadurch in die Lage versetzt, sich als „natural audio-visual author“ zu bewähren. Gerade der mündliche Vortrag, so Finter, macht das vokale theatrale Potential von Dantes Gedicht erfahrbar. Sie belegt dies im Vergleich der „Lecturae Dantis als Performances” von Carmelo Bene (1981), Vittorio Gassman (1993) und Roberto Benigni (2005). Matthias Spohr überführt keinen Text, aber ein frühneuzeitliches Motiv in einer performativen Bewegung in die Gegenwart. Er bringt den Begriff der Vanitas mit der Forderung nach einer Verbindung von Bild- und Sprachkritik zusammen und problematisiert somit das „Lesen” von Bildern. In Das Paradigma des Performativen und die Vanitas entwickelt er aus <?page no="18"?> Einleitung 18 dem historischen Begriffskontext heraus eine Systematik der Vanitas- Rhetorik, die an den Koordinaten des Gelingens und Scheiterns orientiert ist. Eben diese Koordinaten sind es, die ihn dazu veranlassen, eine Konkurrenz zwischen der „Institution Text” und den Überlebenschancen der Vanitas festzustellen. Diese Chancen, so legt Spohr nahe, scheinen sich nun, mit der performativen Überwindung der Fixierung auf den Text, im Medienzeitalter abzuzeichnen. Mit Romain Jobez und seinem Beitrag über Szenen der Tragikomödie. Das Mémoire de Mahelot und die französische Barockbühne begeben wir uns in die Aufführungsgeschichte des französischen Theaters der Barockzeit. Ein außergewöhnliches Dokument der Theaterhistoriographie, nämlich eine Aufführungsliste verschiedener Stücke zusammen mit kommentierten Bühnenskizzen (das Mémoire de Mahelot) dient ihm dazu, das Sagbare und das Sichtbare, oder auch Text und Bühnenbild, für das französische Theater jener Zeit in eine neue Beziehung zu setzen. Er orientiert sich dabei an den beiden Modellen des „Auges und des „Blicks”, die Ulrike Hass in ihrer Studie zum Drama des Sehens entwickelt hat. Am Beispiel von La Silvanire gelingt es ihm zu zeigen, dass das Schäferspiel jener Zeit gewissermaßen das ‚Spiegelstadium’ des Mémoire de Mahelot darstellt, indem es eine saubere Trennung zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren vornimmt. Svetlana Lukanitschewa beschäftigt sich mit der Evreinovschen Idee des Monodramas als symptomatischer Erscheinung des frühen 20. Jahrhunderts. In ihrem Aufsatz getitelt Vom Sagbaren zum Sichtbaren. Das Monodrama-Konzept von Nikolai Evreinov im Kontext theatraler Wirkungsästhetik des frühen 20. Jahrhunderts stellt sie es als Konzept vor, in dem sich gewissermaßen ein pictorial turn vollzieht. Denn nicht nur Evreinov, sondern auch Gordon Craig mit expliziter Affinität zu Evreinovs Konzept, sieht darin den Übergang vom literarischen zum visuellen Theater, bzw. viel mehr noch das Theater als visuelles Medium bestätigt. Auch wenn der Titel des letzten Beitrags in diesem Kapitel, Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef den Eindruck erweckt, hier falsch untergebracht zu sein, so trägt Christina Schmidt darin wertvolle Erkenntnisse bei, die das Verhältnis von Text, szenischem Ort und Bild erhellen. Sie arbeitet die These aus, dass Einar Schleef mit seinem Theater die von Adolphe Appia eingeleitete und vor allem durch seine Lichtinszenierungen praktizierte räumliche Definition der Theaterszene radikal weiterentwickelt hat. Am Beispiel von dessen Inszenierung Verratenes Volk (2000) zeigt sie auf, dass Schleef als Autor und Regisseur den politischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Darstellung neu definiert hat, indem er Texte in einen Theaterraum hinein ‚geschrieben’ hat, den er als Konfliktraum zwischen Wahrnehmung und Darstellung und somit zwischen Sprechen und Hören, Sehen und Zu-Sehen-Geben problematisierte. Körper und Schauspielkunst heißen die zentralen Stichworte des vierten Kapitels, überschrieben mit Szenarien der Physiognomie: Körper-Bilder. Der Titel verweist auf die allen Beiträgen gemeinsame komplexe thematische <?page no="19"?> Einleitung 19 Zusammenführung von Körperdiskursen, Techniken des Sich-Zeigens und Bildtechnologien. Dass vier der insgesamt fünf Beiträge sich im historischen Zeitraum um 1900 treffen, mag ein Zufall sein, kann aber auch als Beleg dafür gesehen werden, dass bildtheoretische Ansätze zumal dann zu einer Neubetrachtung der Wissens/ Geschichte von schauspielerischen Menschendarstellung führen, wenn deren Beginn mit der Revolution visueller Technologien einhergeht, wie sie im 19. Jahrhundert stattgefunden hat. Ein evidentes Beispiel hierfür kann gewiss der Beitrag von Wolf-Dieter Ernst zur Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte genannt werden. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Schauspieltheorie und Praxis um 1900 in der jüngeren medien- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschung erneute Aufmerksamkeit erlangt, stellt er einen epistemischen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen neuer technischer Bildmedien und dem wachsenden Interesse affektive Regungen zu ergründen her. Gerade die neuen Möglichkeiten der Übertragung von lebendigen Körperspuren in Diagramme und Schemata mit dem Mittel der Aufzeichnung und graphischen Darstellung machten sich die damaligen Forscher zunutze, um ein neues Wissen über den Körper durch die Sichtbarmachung ansonsten unkontrollierbarer Regungen zu erlangen. Ernst interessiert sich in diesem Zusammenhang vor allem für das Wechselspiel zwischen Schauspielstilen und technischen Bildern und schlägt deshalb eine poetologische Lesart technischer Bilder vor, die er am Beispiel foto-elektrischer Experimente von Duchenne der Boulogne und anhand von Diagrammen der Stimme von Alexander Moissi entfaltet. Auch das Interesse von Petra Bolte-Picker gilt dem Experiment. Sie beschäftigt sich in ihrem Beitrag Theater der Physiologie. Köper/ Teilung, Körper/ Dichte und der politisierte kopflose Rest mit dem am Ende des 19. Jahrhundert aufkommenden physiologischen Experiment als einer Lektüre von Körpern, die innere Vorgänge sichtbar zu machen sucht und sich damit gleichzeitig als Strategie verrät, voreingenommenes Wissen auf einer mentalen Bühne zu reproduzieren. Damit stellt sie u.a. unter Berufung auf Georges Canguilhem das medizinische experimentelle Wissen in einen Zusammenhang mit politischen und ethischen Fragen. Auch sie konzentriert sich dabei an Beispielen von Experimenten mit der Stimme, bzw. dem Vokalapparat. Dabei dienen ihr vor allem die Experimente des Physiologen Johannes Müller (1801-1858) als Beispiel, um einen drastischen Wandel des damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses nachzuweisen. Müller, der im Laufe seiner Experimente an Stimmlippen dazu übergegangen war, Schwingungsbewegungen der menschlichen Stimme am abgetrennten Kopf zu erzeugen, kann Bolte-Picker zufolge als paradigmatisch für die technische Instrumentalisierung des Organischen betrachtet werden. Unter der daraus abgeleiteten Formel „Diskurs des Akephalos” weist Bolte- Picker unter Berufung auf Bataille und Lacan die Folgen dieses Wandels für das soziale Körperverständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, das nicht zuletzt an phantasmatische Körperbilder der Zerstückelung gebunden war. <?page no="20"?> Einleitung 20 Fragmentierung, Instrumentalisierung und Substituierung der Leiblichkeit bilden auch das Thema des Beitrags von Leif Murawski, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Denn hier gilt diese Tendenz der Entwicklung eines künstlerischen Verfahrens, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee einer Geschlossenheit von Wirklichkeit aufzubrechen trachtet. Es handelt sich um den russischen Symbolismus. Der Beitrag Prothetische Körper. Konzepte der Körperlichkeit im symbolistischen und postsymbolistischen russischen Theater zeigt auf, wie das Konzept des inoj mir als Konzept einer wirklicheren Wirklichkeit, die durch die sichtbare Wirklichkeit hindurch wirkt, dem Vorrang des unsichtbaren Psychischen vor dem sichtbaren Leiblichen im symbolistischen Theater den Weg ebnet. Als eine der evidentesten Ausdrucksformen für die im Symbolismus thematisierte Abhängigkeit von der höheren Wirklichkeit zeigt Murawski die sich aus der biomechanischen Methode abgeleiteten Hinwendung zur Marionette auf, die als „Menschenattrappe” bis in das Theater von Kantor ‚überlebt’ und höchst wirksame Bilder erzielt. Von der Bildhaftigkeit des künstlichen Köpers schlägt Berit Mohr einen Bogen zur Bildhaftigkeit des Kostüms bzw. zum Kostümbild. In ihrem Beitrag Das unsichtbare Kostüm thematisiert sie das Zusammentreffen von Körper und Bild im Kostüm aus anthropologischer Perspektive. Über die Metapher des Kostüms als „zweite Haut” führt sie Körper und Kostüm im Sinne einer von Jean-Luc Nancy abgeleiteten Idee zur Existenz- Stätte als conditio humana zusammen. Was bedeutet das für die Arbeit des Kostümbildners mit dem Schauspieler? Während sich die traditionelle Auffassung des Kostümbilds noch an dem klassischen kunstgeschichtlichen Bildbegriff orientiert, so Mohr, neigen die Praktiken des unsichtbaren Kostüms, die auf zeitgenössischen Bühnen zu beobachten sind, eher zu einem Bildentzug, der an ein haptisches Sehen appelliert. Dennoch bleibt auch in diesem Fall die Arbeit des Kostümbildners eine Arbeit am Körperbild, und unter Umständen sogar am Selbstbild des Schauspielers. Inwiefern die Arbeit am Selbstbild auch im Sinne von Selbst-Inszenierung bereits im 19. Jahrhundert zum Beruf der Schauspielerin gehörte, legt Annemarie Matzke am Beispiel von Sarah Bernhardt dar. In ihrem Beitrag Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt geht sie der Frage nach, welche Bedeutung die Schauspielerin, die nicht zuletzt zum Bildmodell einer ganzen Epoche wurde, dem Selbstbild in ihren schauspieltheoretischen Schriften zumaß. Dabei verweist der von Matzke wohlweislich gewählte Begriff der Arbeit auf einen Bereich zwischen Körper und Bild, der die Differenz zwischen beiden auflöst. Selbstbild, Körperkonzept und schauspielerische Darstellung zeigen sich als komplexes Verhältnis. Damit, so Matzke, entzieht sich das Körperbild letztlich auch immer der Arbeit. Im letzten Kapitel, Zwischen Raum und Bild, begegnet uns wieder die Auseinandersetzung mit methodischen Ansätzen zur Untersuchung von Bildästhetik. Damit scheint sich eine gewisse Notwendigkeit zu erweisen, die Frage nach bildkonstitutiven Aktivitäten, wie sie in den ersten beiden <?page no="21"?> Einleitung 21 Kapiteln bereits im Hinblick auf die Wahrnehmung des Zuschauers thematisiert wurden, analytisch genauer zu justieren und in die kultur- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bildfrage hineinzutragen. Nun liegt diese Notwendigkeit bezüglich des Mediums Raum möglicherweise weniger auf der Hand. Allerdings hat die jüngere theaterwissenschaftliche Forschung vor allem aus phänomenologischer Perspektive deutlich gezeigt, dass die Raumfrage im Theater nicht mit einem statischen Containerbegriff beantwortet werden kann, sondern auch Raum ein Phänomen ist, das sich erst durch Handlungen und Inter-Esse bzw. das Miteinander konstituiert. Wie sich diese theoretische Voraussetzung auf die Auseinandersetzung mit dem Status des Bildes im Theater auswirkt, zeigen die in diesem Kapitel zusammengebrachten Beiträge. Clemens Risi macht den Anfang, indem er in seinem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum-Erfahrung. Raum der Musik und Musik des Raumes in Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka zunächst aus grundsätzlichen Überlegungen zu geeigneten Raumbegriffen heraus eine detaillierte Analyse der musikalischen Raumerfahrung in Goebbels Theaterarbeit vorlegt. Mit Maurice Merleau-Ponty und Michel de Certeau argumentierend vertritt er einen dynamischen Raumbegriff, der es ermöglicht, den Raum (und damit auch den Theaterraum) veränderlich - abhängig von einem Geflecht beweglicher Elemente - zu denken. Dabei wird die Bewegung, wie z.B. das Gehen, gleich einem Sprechakt zum konstitutiven Faktor der Raumerzeugung. Sich- Bewegen wird sozusagen ein Vollzug des Raumes. Demgegenüber steht die Wahrnehmung der Bewegung, die gleichsam als Pendant zur Raumbildung fungiert. Und hier haben wir natürlich den direkten Bezug zur Frage des Bildes im Raum oder des Raumbildes. In Risis Beitrag wird der Musik - oder noch genauer dem Rhythmus z.B. des Zwiebelhackens - eine entscheidende Rolle im Prozess der räumlichen Bildwerdung zugeteilt. Denn worum es geht, ist die Interdependenz zwischen dem gelebten und dem imaginierten Raum im Theater Goebbels, wobei die akustische Wahrnehmung der performativ erlebbar gemachten musikalischen Aktionen durchaus zu einer Korrektur einer ursprünglich angenommenen (imaginären) Räumlichkeit auffordern. Macht Risi auf die Leistung der Musik bei der ästhetischen Korrektur der Raumwahrnehmung aufmerksam, so weist Stefan Tigges eher auf die ästhetischen Maßverhältnisse hin, die sich beim Verlassen des konventionellen Bühnenbilds beim Eintritt in die Bühnen als Kunst- und Spielräume verschieben. Genauer gesagt thematisiert sein Aufsatz In den Raum der Bilder sehen. Ästhetische Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz. Am Beispiel der Arbeiten dieser beiden renommierten Regisseure/ Bühnenbildner möchte Tigges „einige bildraumtheoretische Fragen präzisier[en] [...] und dabei spezifische Spielästhetiken, raumtransformatorische Prozesse, sowie Aspekte der Raumzeitlichkeit/ Zeiträumlichkeit und der „Wirklichkeitswerdung” (Thomas Oberender) behandel[n], um zu zeigen, wie zentral der Raum in den Bildern bzw. die <?page no="22"?> Einleitung 22 Kategorie der Bildräumlichkeit in der (Theater)kunst ist [...].” Worauf seine Analyse der streng organisierten und sparsam eingerichteten Bildräume von Gosch und Schütz am Ende hinausläuft, ist ein deutliches Plädoyer für ein dadurch provoziertes neuartiges Sehen im Sinne von Max Imdahl und im Anschluss an Bernhard Waldenfels. Birgit Wiens präzisiert die Raumfrage im Theater um einen weiteren Schritt, indem sie sich in ihrem Beitrag Szenografie als Arabeske der dem Theater ureigenen Frage der Raumgestaltung im Sinne von In-Szene-Setzen widmet. Sie bezeichnet Szenografie als Bilderdiskurs, schränkt aber ein, dass die Geschichte der Szenografie der Moderne mit Appia mit einem veritablen Ikonoklasmus einsetzt, nämlich im Prinzip mit der Vertreibung des (Kulissen)bildes von der Bühne zugunsten rhythmischer Raummodule. Dies, so Wiens, war der Auftakt für eine Beweglichkeit bzw. ein Nomadentum der Bilder im theatralen Raum, das heute, mit dem Einzug der digitalen Medien, ihren Höhepunkt erfährt. Das sei auch eine interkulturelle Herausforderung. Inwieweit sich auch die gegenwärtige Theaterpraxis dieser Herausforderung stellt, beschreibt sie am Beispiel des ‚nomadischen Theaters’ von Hotel Pro Forma mit ihrer Inszenierung Algebra of Place. Im direkten Bezug auf Hans Beltings aufschlussreiche Analyse des Blickwechsels (im Hinblick auf Perspektiven) zwischen Ost und West arbeitet Wiens die Bildstruktur der Arabeske als wegweisend für diese kulturüberschreitende Inszenierung heraus. Julien Dolenc liefert einen Beitrag, der über den Raum des Theaters hinausweist. Dolenc befasst sich unter der Überschrift Museumsarchitektur und Theatralität oder: Was wollen die Räume? mit der Frage, inwieweit Museen die Wahrnehmung der Besucher inszenieren. Er analysiert die Rezeption von zeitgenössischen Kunstmuseen und deren Ausstellungen anhand eines Modells von Theatralität, das ihm ermöglicht, die Beziehungen zwischen Betrachten und Bewegen, zwischen Raum und Bild, zwischen Körper und Architektur als dynamische zu beschreiben. Am Beispiel von der Pinakothek der Moderne in München, dem Kunsthaus Bregenz und dem Guggenheim Museum in Bilbao kommt er zum Ergebnis, dass diese Ausstellungsgebäude ihre Funktionen als Museen überschreiten, indem sie sich als intermediale Transformationsräume gerieren, die eine Dynamik bewegungsgeleiteter Blickverhältnisse auslösen. Der letzte Beitrag schließlich thematisiert ebenfalls die Intermedialität von Räumen, führt jedoch in den Theaterraum zurück. Theatrale Bildräume. Eine Begriffsdefinition für eine mediale Physiognomie des Theaters am Beispiel von Stefan Puchers „Othello”-Inszenierung heißt der Beitrag von Matthias Spaniel. Der Autor gibt damit bereits im Titel das Theaterbeispiel preis, an dem er seine These durchexerziert. Ebenso wie Dolenc orientiert er sich unter anderem am Theatralitätskonzept von Helmar Schramm, um dann aber den von Max Herrmann eingeführten Begriff des „theatralen Raumerlebnisses“ mit medientheoretischen, bildanthropologischen und phänomenologischen Ansätzen zu erweitern. Damit kann er nicht nur zeigen, dass „eine Inszenierung spezielle räumliche und zeitliche Konfi- <?page no="23"?> Einleitung 23 gurationen theatraler Elemente erzeugt, die der Zuschauer in seiner Wahrnehmung zu einem Bild formt” und somit die räumliche (An)Ordnung und Handlung der Darstellerkörper transitorische bzw. performative Bilder hervorbringt. Es gelingt ihm auch, einmal mehr die Notwendigkeit der Anwendung interdisziplinärer Methodologien aufzuzeigen, wenn man Theater als atmosphärisches Ereignis medialer Bild-Räume verstehen und damit - und hier lässt er Heiner Müller das Schlusswort sprechen - „auch zu einem neuen Selbstverständnis dieses ‚Steinzeitmediums’ im 21. Jahrhundert“ verhelfen will. So gut wie alle hier aufgeführten Beiträge weisen eindrucksvoll nach, dass der Blickwinkel des Theaters notwendig den Eigensinn der leiblichen, sinnlichen und imaginativen Wahrnehmung in die „Bildfragen” hineinträgt. „Bildästhetik” zieht somit direkt „Bildaisthesis” nach sich, als sinnliche Erfahrung, die nicht nur gestaltet und strukturiert ist, sondern selbst auch gestaltet und strukturiert. Damit wird ein „Logos der Sinnenwelt” formuliert, der, mit Bernhard Waldenfels gesprochen, „eine eigentümliche Zerstreuung der Sichtbarkeit” 25 zur Folge hat. Diese Zerstreuung macht sich nicht nur, wie viele Beiträge nachweisen, in der Vervielfältigung der Medien (auch im Sinne von Synästhesie) bemerkbar, in denen sich die Wahrnehmung vollzieht, sondern auch im Verhältnis zwischen unterschiedlichen Weisen der Sichtbarwerdung und der Sichtbarmachung. Der Bühnenraum wird somit zum Seh-Labor, in dem die Bilder nicht einfach nur das Sagen haben. Vielmehr hängt es von den unterschiedlichen Konfigurationen des Sagens, des Sehens, des Hörens und selbst des Tastens ab, wann und wie Sichtbares und Hörbares zum Bildereignis werden. Zum Schluß möchte ich denjenigen meinen Dank aussprechen, ohne die dieses Buchprojekt gar nicht erst zustande gekommen wäre. Er richtet sich an erster Stelle an Anne Rieger, die in geduldiger und kompetenter, teilweise mühsehliger Kleinarbeit Fehler ausgemerzt, Zitate richtig gestellt und das Lay-Out versorgt hat. Darüber hinaus hat sie immer ein Ohr für die Autorinnen und Autoren gehabt, sobald es sich als notwendig erwies. Ihr ist in der Schlußphase Hubertus Martin Mayr zur Seite gesprungen, auch ihm mein Dank dafür! Dann möchte ich mich bei den hier vertretenen Autorinnen und Autoren für ihre unendliche Geduld beim Zustandekommen dieses zweiten Bandes bedanken, das sich länger hinausgezögert hat als vorgesehen war. Schließlich gilt mein Dank auch den finaniellen Födereren dieser Publikation. An erster Stelle möchte ich die Gesellschaft für Theaterwissenschaft nennen, die uns dankbarerweise großzügig unter die Arme gegriffen hat. 25 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3. Frankfurt am Main 1999, S. 102. <?page no="24"?> Einleitung 24 Und schließlich geht ein besonderer Dank an die Carl Niessen Stiftung, die diesem Projekt so viel Vertrauen geschenkt hat, dass sie ebenfalls einen wichtigen finanziellen Zuschuss gewährt hat. <?page no="25"?> Patrick Primavesi Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens in gegenwärtiger Tanz- und Theaterarbeit (Forsythe, Bozic, Chétouane) Mit einer gewissen Verspätung gegenüber den Bildenden Künsten arbeiten inzwischen auch gegenwärtige Tanz- und Theaterformen daran, das Sehen als einen komplexen Prozess zu thematisieren, in dekonstruktiven Formen der Bildbeschreibung ebenso wie mit einem Entzug des Rahmens. Kaum etwas stört unsere Wahrnehmungs- und Interpretationsgewohnheiten im Theater so sehr wie solche Momente, in denen die Rahmung und Abgrenzung einer szenischen Darstellung gegenüber einem Außerhalb, einer Wirklichkeit des alltäglichen Lebens unterlaufen oder aufgebrochen wird - wenn das Entstehen von Bildern jenseits einer Ästhetik der Abbildung zeitlich und räumlich entgrenzt und dadurch weitgehend dem Zuschauer und seiner Vorstellungsbzw. Einbildungstätigkeit überantwortet wird, wenn das Zuschauen als solches bewusst gemacht wird, der Blick des Betrachters als eine zwischen Voyeurismus und Zeugenschaft schwankende Aktivität. Der Prozess des Sehens kann im Theater auch eine Verunsicherung des eigenen Standpunktes bewirken, beispielsweise indem das traditionelle Prinzip der Verkörperung verweigert wird. Oftmals geht es gerade um Bilder entstellter Körperlichkeit, die der Vorstellung und zugleich der eigenen Verantwortung des Sehenden zugemutet werden. Was dabei auf ganz unterschiedliche Weise in Gang gesetzt werden kann, sind Reflexionsprozesse, Bilddiskurse, wie es hier an drei exemplarischen Aufführungen gezeigt wird: William Forsythes Three Atmospheric Studies, Andrea Bozics Still Life with Man and Woman und Laurent Chétouanes Tanzstück#1 zu Heiner Müllers Bildbeschreibung. Die bei diesen Grenzgängen zwischen Tanz, Performance und Theater eröffnete Auseinandersetzung mit der Suggestivkraft von Bildmedien steht schließlich im Kontext einer Politik der Wahrnehmung, die jede Interpretation mit ihrem eigenen Einsatz, ihren eigenen Setzungen konfrontiert. Bilddiskurse und die Selbstreflexion des Zuschauens Quer zur vorherrschenden, ökonomisch bedingten Logik des Bilderkonsums, der Fixierung auf schöne oder schreckliche, jedenfalls überwältigende Bilder, bleibt im Theater immer wieder Raum für eine Auseinandersetzung mit dem Prozess der Bildwahrnehmung von Zuschauern. Dabei geht es um Vorgänge eines reflektierenden Diskurses, der im Folgenden als Bilddiskurs <?page no="26"?> Patrick Primavesi 26 untersucht wird. Entsprechend einer kunstwissenschaftlichen Terminologie steht der Bilddiskurs auch für den in Bildern angelegten Verweisungszusammenhang, der den Blick des Betrachters umlenken und spiegeln, mit seiner eigenen Position konfrontieren und irritieren kann. 1 Derartige Bilddiskurse werden aufgegriffen und lesbar gemacht durch verschiedenste Formen von Bildbeschreibung, so dass ein Wechselverhältnis besteht zwischen Betrachtung bzw. Analyse und dem in Bildern angelegten Reflexionsmoment, das den Prozess der Wahrnehmung vorwegnimmt und mehr oder weniger offenkundig steuert. Wechselbeziehungen von Sprache und Bild lassen sich unter anderem im rhetorischen Genre der Ekphrasis zurückverfolgen bis in die Antike und auch an der Geschichte des Theaters, seiner Schauanordnungen und Wahrnehmungsverhältnisse untersuchen. An neueren, postdramatischen Theaterformen ist zu beobachten, dass jenseits der Tradition von dramatischem Rollenspiel und Illusionismus außer dem Status des Textes und des Körpers zumal die Funktion und Bedeutung von Bildern diskursiv in Frage gestellt werden. So ist davon auszugehen, dass auch die Bilddiskurse in Tanz und Theater dazu beitragen, die Auseinandersetzung mit dem Ort und der Tätigkeit von Zuschauern voranzutreiben und dadurch die keineswegs selbstverständlichen Rahmenbedingungen ihrer Aufführungen zu thematisieren und zu verändern. Bevor die damit angedeutete methodische Perspektive anhand der drei aktuellen Beispiele veranschaulicht werden soll, sei hier zunächst noch ein historischer Kontext erwähnt, der zugleich die transdisziplinäre und die verschiedenen Künste verbindende Funktion von Bilddiskursen erhellt. Kaum ein anderer Text analysiert die produktive Selbstreflexion des Sehens, den Zusammenhang von Bilddiskurs, Entzug des Rahmens und Bildbeschreibung so prägnant wie Heinrich von Kleists Aufsatz Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. Dabei handelt es sich bekanntlich um einen Text, der zum großen Teil von Clemens Brentano stammte, der ihn anlässlich einer großen Gemäldeausstellung in Berlin 1810 für die Berliner Abendblätter verfasst hatte. Deren Herausgeber war aber Kleist, der diesen Text zu Caspar David Friedrichs damals gerade entstandenem und zum ersten Mal ausgestelltem Gemälde Mönch am Meer stark verkürzt und verändert hat. 2 Brentanos Verfahren, seine eigenen ambivalenten Empfindungen beim Betrachten von Friedrichs Gemälde in der Tradition des Kunstgespräches vor allem 1 Vgl. dazu Oskar Bätschmann, Bild-Diskurs. Die Schwierigkeit des „parler peinture”, Bern 1977; und insgesamt Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? , München 1994. 2 Heinrich von Kleist, „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft”, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, hrsg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt am Maim 1990, S. 543f.; vgl. Clemens Brentano, „Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner”, in: Romantische Kunstlehre, hrsg. v. Friedmar Apel, Frankfurt am Main 1992, S. 351-356, und dazu Gerhard Kurz, „Vor einem Bild. Zu Clemens Brentanos ‘Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner’”, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 1988, S. 128-140. <?page no="27"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 27 indirekt zu formulieren, durch fingierte Dialoge von ignoranten oder begeisterten Ausstellungsbesuchern, wurde von Kleist auf einen einzigen Satz am Ende der Druckfassung des Textes reduziert. Übrig blieb ansonsten die Einleitung, mit kleinen, aber wesentlichen Änderungen. Kleist fügte insbesondere einen Satz ein, der an der grenzenlosen Weite der Aussicht auf Meer und Himmel einen Entzug des Rahmens beschreibt. In einer höchst eigenartigen Wendung spricht er dem Bild eine fast schon körperliche Wirkung zu: Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären. 3 Die apokalyptische Auslegung stammt bereits von Brentano, auch wenn dieser die Assoziation mit Edward Youngs Nachtgedanken, einer damals viel gelesenen Schrift über Nacht und Melancholie, Tod und Unsterblichkeit, eher als komisches Bonmot eingeführt hatte. Entscheidend ist aber die Fortführung des Satzes, wo Kleist die Einförmigkeit und Uferlosigkeit des Bildes betont. Genau genommen ist Friedrichs Bild nicht ganz uferlos, da es im Vordergrund den Sandstreifen mit dem einsamen Mönch darauf zeigt. Kleists eigenwillige Formel, dass das Bild „nichts, als den Rahm zum Vordergrund hat”, meint also etwas anderes, fordert uns zu einer anderen Deutung auf, zielt bereits auf den Prozess der Betrachtung, in dem das Bild in die Vorstellung übergeht: Der Rahm(en) wird in Kleists Vision des Bildes zum Thema, indem er sich entzieht, dem Blick vorenthalten bleibt. Diese Deutung entspricht dann auch der anschließenden Wendung von dem Eindruck, „als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären”. Der Betrachter steht in Kleists Perspektive jedenfalls nicht nur vor dieser Landschaft, sondern zugleich in ihr. Und gerade der schon von Friedrich nahegelegte Impuls, sich in den Mönch am Meer und damit in das gemalte Bild hineinzuversetzen, raubt dem Blick seine Begrenzung. Mit Kleists Formulierung geht es um einen Einschnitt, der die Bedeutung von ästhetischer Erfahrung in der Moderne maßgeblich geprägt hat - die Erfahrung des Erhabenen, wie sie bereits von Kant analysiert wurde als Entgrenzung des Blickfeldes und als extreme Herausforderung unserer Apperzeption. 4 Kleists Gedankengang führt aber noch weiter, sprengt die von Brentano und anderen entfaltete frühromantische Kunsttheorie ebenso wie 3 Kleist, Sämtl. Werke, Bd. 3, S. 543. 4 Zum Erhabenen vgl. Immanuel Kant, „Kritik der Urteilskraft”, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1981, Bd. 8, §§ 27-29, sowie Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1989, Bd. 5, S. 489-512 und S. 792-808, außerdem Ekkehard Zeeb, „Kleist, Kant und/ mit Paul de Man - vor dem ‘Rahmen’ der Kunst. Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft”, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall, Freiburg im Breisgau. 1994, S. 299-336, hier: S. 320-322. <?page no="28"?> Patrick Primavesi 28 die von Kant und Schiller eröffnete Möglichkeit einer Selbstvergewisserung des Subjekts im Angesicht des Unendlichen und Ungeheuren. „Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären” - suggeriert wird die Vorstellung eines anatomischen Eingriffs, der an Kastration und Beschneidung ebenso wie an eine phallische Bedeutung von Blick und Schaulust erinnern kann. Da Kleist das Verhältnis von Blick und Rahmen als solches zum Thema macht, radikalisiert er Brentanos Idee, dass der Betrachter sich in den Kapuziner hineinversetzt, so dass ihm das Bild zur Düne wird und die See, „wohinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte”, ganz fehlt. Im Unterschied zur romantischen Besetzung des Unendlichen mit Sinn und metaphysischer Tröstung besteht Kleist bei seiner Umschrift des Textes auf einer Operation, die den Blick des Betrachters mit sich selbst konfrontiert. So geht es auch für das Genre der Bildbeschreibung um eine Erfahrung des Entzugs, die nicht mehr, wie Brentano es noch versucht hatte, mit der dialogischen Handlung eines Kunstgespräches vor dem Bild zu kompensieren war, sondern selbst zur Szene geworden ist. Bei Kleist wird der Blick als solcher ver-rückt, indem die Empfindung des Erhabenen ihrer eigentlichen Voraussetzung beraubt wird, eines sicheren Abstands der Betrachtung. Das im romantischen Kunstverständnis und auch von Friedrich selbst artikulierte Bemühen um einen Ausgleich zwischen innerem und äußerem Sehen, zwischen Einbildung und Wahrnehmung, wird von Kleist im Verweis auf einen Bilddiskurs aufgebrochen, der schon das Werk als solches zu zersetzen beginnt, so dass im Vorgang der Betrachtung gerade dieser Zersetzungsprozess erfahrbar wird. Durch eine mise en abîme, die den Rahmen des Bildes in Bewegung setzt und seine definitorische und distanzierende Funktion aufhebt, wird der Betrachter in die apokalyptische Leere des Bildes hineingerissen. Was in Friedrichs Bild bereits als Diskurs angelegt ist, wäre also nicht nur (wie von Brentano ironisch konstruiert) ein melancholisches Grübeln im Sinne von Youngs Nachtgedanken, sondern ein Entzug jeglicher Gewissheit über den eigenen Standpunkt des Betrachters und über den Horizont seiner Deutung. So wird die Erfahrung des Erhabenen bei Kleist, im Vorgriff auf die Moderne des 20. Jahrhunderts (und darüber hinaus), zu einer Erfahrung des unendlichen Abgrunds, der den Betrachter der Möglichkeit des Selbstverlustes aussetzt. Von daher ist aber gleichzeitig zu denken an Kleists Entwürfe einer szenischen Praxis, eines Theaters, das die Bühnen und das Publikum seiner Zeit bewusst überfordern sollte. Der Entzug des Rahmens erweist sich als ein Potential auch für neuere Formen von Tanz und Theater, die das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung durch Rahmung, Illusion und einfühlsame Empfindungen enttäuschen, indem sie eine Vielzahl von Bilddiskursen in Gang setzen. Zu diesen Diskursen zählt neben dem Entzug des Rahmens, der Spiegelung des Betrachters und der körperlich spürbaren Entgrenzung des Blicks auch die Bildbeschreibung. Weniger im pragmatischen und systematischen Verständnis von <?page no="29"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 29 Ekphrasis als im selbstreflexiven Sprechen der Elemente eines Bildzusammenhangs. Das Bild beschreibt sich selbst - ähnlich wie ‘einen Kreis beschreiben’ heißen kann, ihn als Bewegung auszuführen. Und schließlich sind für das szenische Potential von Bilddiskursen verschiedenste Techniken der Dekomposition zu bedenken, die etwas im Bild Angelegtes durch Isolation und Vergrößerung zur Geltung bringen können. Schon bei Kleist gibt es ein Wechselverhältnis zwischen dem Entzug des Rahmens (Verlust der Augenlider) und der Bildbeschreibung als einem Zoom-Prozess, der den distanzierenden Rahmen versetzt und den Blick des Betrachters mit einer im Bild wirksamen Auflösungsbewegung konfrontiert. Damit liegt die These nahe, dass die Auseinandersetzung mit Bilddiskursen auch im Theater einer Selbstreflexion des Zuschauens dient, durch die Verunsicherung von Blick und Reflexion, Abstand und Standpunkt. Gewalt der Beschreibung: Three Atmospheric Studies Ausgangsmaterial von den Three Atmospheric Studies der Forsythe Company (2005-2006) waren mehrere Bilder, die aber nicht als solche sichtbar wurden. Vielmehr hat sich gerade in die Inszenierung ihres Fehlens, ihrer spürbaren Abwesenheit etwas anderes eingeschrieben - Erfahrungen eines sprachlosen Schreckens. Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens sind dabei zwei Elemente eines Theaters, in dem die phantasmatische Wirkungsmacht von Bildern einer szenischen Untersuchung ausgesetzt wird. Im Unterschied zur alltäglichen, im Medienkonsum gewohnten Beschreibung oder Abbildung von Gewalt wird eine Gewalt der Beschreibung und Abbildung selbst vorgeführt. Die drei Teile der Aufführung kreisen um die Unmöglichkeit adäquater Reaktionen im Zustand von Schock und Traumatisierung. Zwei Elemente sind gegenüber früheren Forsythe-Arbeiten verstärkt: ein narrativer Bogen, der den Abend wie ein dreiteiliges Altarbild umspannt, und die Stille, die nur von Geräuschen und Sprache unterbrochen ist, selbst als eine Art Unterbrechung wirkt. Am Anfang gibt es episches Theater, wenn aus der Reihe von Tänzern eine Frau und ein Mann nach vorne kommen, und sie zu den Worten „This is composition 1, in which my son was arrested” auf den Boden und dann auf den Mann zeigt. In immer wieder neuen Formen und Deformationen wird nun ein Bewegungsablauf wiederholt, der sich als die Gefangennahme des Sohnes durch zwei Polizisten deuten lässt, andererseits aber die chaotischen Bewegungen von Körpern nach einer Explosion oder einem Bombenangriff vorzuführen scheint. Der einleitende Hinweis der Frau (Jone San Martin) auf „composition 1” zielt aber zugleich auf die formale Struktur des Abends, wie sie auch im Programmheft angedeutet ist: Die drei „Studien” sind Komposition 1 bis 3, während als Komposition 4 ein Gemälde mit einer Kreuzigungsszene von Lucas Cranach bezeichnet wird und als Komposition 5 ein Foto mit dem Opfer einer Bombenexplosion im Irak, das von Polizisten aus einem bren- <?page no="30"?> Patrick Primavesi 30 nenden Haus getragen wird. So etablieren die atmospheric studies ein komplexes Spannungsverhältnis - zwischen einem öffentlichen, anonymen Schrecken und der Artikulation eines individuellen, persönlichen Schmerzes, zwischen der tänzerischen Auseinandersetzung mit Gewaltszenen und ihrer ästhetischen Ausgestaltung im Genre des christlichen Märtyrerbildes. Der Mittelteil des Triptychons konfrontiert die auf einen Stuhl gekauerte Frau mit dem an einem Arbeitstisch sitzenden arabischen Übersetzer, der sie schließlich den Tod ihres Sohnes realisieren lässt. Dabei wird gleichzeitig der formale Rahmen der Inszenierung zum Thema gemacht: Die Frau reagiert auf die Aussagen der anderen Akteure über die von ihr verdrängte Wirklichkeit mehrfach, indem sie sich auf die Komposition des ganzen Abends bezieht. Zunehmend hysterisch besteht sie darauf, nicht Teil von Komposition 3 oder 5 zu sein, sondern zu Komposition 1 zu gehören. Das verstärkt den Eindruck, dass sie das Ausmaß ihres Leidens nicht realisieren will. Andererseits wird sie dadurch aber gleichsam aus der Szene herausgesetzt, im Rekurs auf das ‘Ganze’. Die Schrecken der Kriegsereignisse werden nicht als solche abgebildet, aber auch nicht mit einem Tabu der Abbildung verdrängt. Im Gegenteil werden Mechanismen der Verdrängung reflektiert, indem die Bilder ihrer Rahmung entrissen und bruchstückhaft neu zusammengesetzt werden. Gerade der Rekurs der Akteure auf die ästhetische Struktur des Ganzen als einer Bild-Komposition sprengt den Rahmen. So sind auch die Kreuzigungsszene von Cranach und die Photographie aus dem aktuellen Krieg nicht mehr scharf voneinander zu trennen. Die Aufspaltung der Zeitebenen im einzelnen Bild nähert die historische Zeit und die Gegenwart einander an, entzieht uns mit dem raumzeitlichen Rahmen des Geschehens zugleich die Gewissheit des eigenen Blick- und Standpunktes. Die selbstreflexive Dimension dieser Tanz- und Theaterarbeit wird in Teil Drei noch verstärkt. In einer demonstrativen Bildbeschreibung, erinnernd an Kriegsreportagen, Wettervorhersagen und kunsthistorische Führungen, kommentiert David Kern die Wolken aus dem Kreuzigungsgemälde von Cranach. Nur ein kleiner Teil des Gemäldes ist zu sehen, aufgehängt in einer Türöffnung der auf der Bühne aufgebauten Holzwand. Ebenso indirekt wie die durch den Bildausschnitt ausgesparte Marterszene der Kreuzigung wird auch der Schrecken der gegenwärtigen Kriege evoziert. Das sprachlose Entsetzen, das die Opfer der Terroranschläge von Manhattan teilen mit den Kriegsopfern im Irak, spiegelt sich in Bewegungssplittern der Tänzer, in fragmentierten Kampfszenen und Explosionsgeräuschen. <?page no="31"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 31 Abb. 1 Clouds after Cranach / Three Atmospheric Studies 3, Ander Zabala, Sang Jijia, Foto: Surface. Wie er zuvor schon die Grauwerte der Wolken auf dem Gemälde geschildert hatte, beschreibt der neutral observer nun ein vorstellbares Terror-Szenario: Gebäudeteile, geschmolzenes Spielzeug, zerrissene Körperglieder. Parallel dazu spielt Dana Caspersen einen Militär-Psychologen, der die Frau aus den vorigen Teilen der Komposition überzeugen will, dass sie das Geschehen nicht persönlich nehmen darf. Die verzerrte Stimme und die Ordnungsgesten dieser Figur kontrastieren mit der apathischen Starre der Frau, die von einem anderen Tänzer schließlich auf den Boden gelegt wird, in einer Art verkehrter Pietà-Szene. War die sakrale Dimension der ersten Szene transformiert in einen stummen Protest der Körper, wird dieser Protest nun gewaltsam umgedeutet, der Propaganda einverleibt. Die Gewalt, die sich dem Körper der Tänzer und dem beobachtenden Blick mitteilt, ist aber stets kollektiv. Politisch an dieser Arbeit ist daher vor allem, dass sie Bilder des Krieges indirekt bearbeitet, als Einschreibung in tanzende Körper, denen man aber kaum zusehen kann ohne selbst physische Schmerzen zu spüren. So vollziehen die ‘atmosphärischen Studien’ den Übergang von der Abbildung oder Beschreibung gegenwärtiger Gewalt zu einer Gewalt der Beschreibung. Wieder ist es ein Bilddiskurs, der dem Zuschauer mit dem Rahmen auch die Sicherheit eines distanzierten Blicks entzieht. Die Zuschauer erfahren sich gleichzeitig als Voyeure, als zumindest potentiell Beteiligte und als Zeugen, die für das, was sie sehen oder meinen gesehen zu haben, Verantwortung tragen. <?page no="32"?> Patrick Primavesi 32 Geisterbilder - Still Life with Man and Woman In Antonionis Film Blow up (1966) wird ein Fotograf Zeuge einer Szene, die er in der späteren Vergrößerung seiner Aufnahmen als einen Mord entziffert. Entscheidend für den Film ist aber, dass die ‘Wahrheit’ der Situation bis zuletzt in der Schwebe bleibt, dass wir auch als Betrachter des Films keine letzte Gewissheit über das tatsächliche Ereignis erlangen. Im Vergrößern der Bilder werden mögliche Anzeichen für eine Gewalttat sichtbar, die immer unschärferen Bilder entziehen sich jedoch in diesem Prozess ihrerseits der Wahrnehmung. Mit der Bildersucht des Fotografen konfrontiert, wird auch der Filmzuschauer zu einem Mittäter, in den Film hineingerissen wie der Betrachter ins Bild in Kleists Lesart von Friedrichs Mönch am Meer. Dieser Bilddiskurs des Filmes von Antonioni war die Grundlage einer Theaterarbeit der aus Kroatien stammenden, derzeit in Amsterdam lebenden Regisseurin Andrea Bozic. Die 2006 entstandene Produktion mit dem Titel Still Life with Man and Woman basierte auf Antonionis Film, genau genommen nur auf der Szene im Park, wo der Fotograf die Frau und den Mann ablichtet, der ihm dann später als Opfer erscheinen wird. Insofern ging es Bozic nicht etwa um eine Theatralisierung des Films und seiner Arbeit an der stets auch imaginären Rekonstruktion eines Geschehens, sondern eher um eine gezielte choreographische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Wahrnehmung und medialen Hervorbringung von Bildern. Dem entspricht die lakonische Selbstbeschreibung der Produktion als „an absurdist suspense thriller based on one existential question: what is going on? ” 5 Die Aufführung spielt in einer weißen Raumecke, vor der ein Teil des Bodens ebenfalls weiß gefärbt ist. Zwei Tänzer, Frau und Mann, führen einen an die Parkszene aus Blow up erinnernden Bewegungsablauf vor, werden dabei aber zugleich von einer Videokamera aufgezeichnet. In die Wiederholung des Ablaufes schieben sich ihre eigenen Videobilder ein, die auf der zusätzlichen Leinwand wie Geister mit den leibhaftigen Tänzern zu interagieren scheinen, die sich ihrerseits stets verfehlen: „… they never manage to end up in the same space. Instead, the space develops a life of its own. They try to figure out what is going on but the rules are out of order. It is not even certain if the other is there at all.” 6 5 Bozic, Programm zu Still Life with Man and Woman, Künstlerhaus Mousonturm 2007. 6 Ebd. <?page no="33"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 33 Abb. 2 Still Life with Man and Woman, Aimar Perez Gali und Sarah Vanhee, Foto: Andrea Bozic. Mit den Bildern des Films spielen, in noch freierer Gestaltung, auch die Sequenzen, in denen der Bewegungsablauf verlagert wird in einen digital produzierten und auf eine zusätzliche Leinwand projizierten Raum. Die surrealen Deformationen und Veränderungen dieses Zimmers führen die Wahrnehmung des Theaterzuschauers in ein Labyrinth aus vielen weiteren medialen Bildräumen, in denen sich das Begehren nach dem eigentlichen Bild, der eigentlichen Szene immer wieder enttäuscht sieht. In diesem Sinne orientiert am Bilddiskurs in Antonionis Film ist auch Bozics Arbeit geprägt von einer Verunsicherung des Blickpunktes. Das Begehren des Betrachters wird selbst zum Thema gemacht, und zwar erneut durch einen Entzug des Rahmens, wenn sich die Wahrnehmung des still gestellten Bildes (still life) in die Kopräsenz körperlicher und immaterieller Gestalten aufspaltet: zwei Bildräume mit scheinbar identischen Szenen, darauf ein choreographiertes Spiel der Akteure mit einer Vielzahl einander überlagernder Bilder. Indem sich Begegnungen eher zwischen den künstlichen Figuren als zwischen den Menschen auf der Bühne ereignen, entfaltet sich auch die Wahrnehmung der Zuschauer vor allem als Vorstellung, die sich ihre eigenen Rahmungen schafft. Dabei sehen wir kaum, was ‘wirklich’ vorgeht, werden aber, in den wiederholten Lücken oder Sprüngen zwischen Körpern und Projektionen, mit den Aporien unsere Einbildungskraft konfrontiert. <?page no="34"?> Patrick Primavesi 34 Bildbeschreibung als Bewegung im Raum Das Theater Laurent Chétouanes ist geprägt von der intensiven Arbeit mit Texten, vor allem mit der Körperlichkeit des Sprechens. Anstelle von Psychologie, Einfühlung und Rollenspiel wird oft gerade das Sprechen als solches ausgestellt, die physische Anstrengung der Artikulation, der Körper als Klangraum. Dabei kann alles zum Bestandteil der Aufführung werden, was in einer abbildhaften Verkörperung von Texten gewöhnlich fehlt oder so weit wie möglich verborgen bleibt: Atmen, Schweigen, Flüstern, Keuchen etc. Dass in diesem Theater der Anblick des Sprechens, die Sichtbarkeit der stimmlichen Artikulation keineswegs verzichtbar ist, zeigt insbesondere Tanzstück#1 zu Heiner Müllers Bildbeschreibung (2007). Müllers Text (fertig gestellt 1984, nach langjährigen Vorarbeiten) geht bekanntlich nicht in der Beschreibung eines Bildes auf, sondern stellt durch Anhäufung vieler Bilder/ Perspektiven das Genre der Bildbeschreibung selbst in Frage. Ein Theatertext voller Szenen, der jedoch keinen Dialog von Rollenfiguren enthält, vielmehr ein postdramatisches Stadium markiert, als „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur”. 7 Zugleich entfaltet Müllers Text einen Bilddiskurs, der Sehen und Blick ebenso thematisiert wie Nicht-Sehen, Blendung und das Blinzeln „zwischen Blick und Blick”. So wird mit der Bildbeschreibung die Betrachtung selbst verunsichert: „Zuletzt wird der Betrachter selbst in Frage gestellt, also auch der Beschreiber des Bildes.” 8 Der Selbst-Kommentar verdeutlicht, dass das Theater der Bildbeschreibung ein Theater der Vorstellung ist, das uns in den Sog einer unablässigen Textbewegung hineinreißt. An Kleists Bemerkungen zu Friedrichs Seelandschaft erinnert Müllers Text bereits mit der Vorstellung, die womöglich wiederauferstandene Frau stehe „bis über die Knie im Nichts, amputiert vom Bildrand, […] bis die eine unaufhörliche Bewegung einsetzt, die den Rahmen sprengt, […] sichtbar zwischen Blick und Blick”. 9 Das Thema des Blicks zwischen „Sehzwang” und einem „Verlöschen der Welt in den Bildern” ist ein zentrales Element für die intertextuellen Verknüpfungen in Müllers Werk(statt) ebenso wie im einzelnen Text. 10 Ort und Gegenstand dieses Bilddiskurses ist, wie schon bei Kleist, eine Landschaft der Apokalypse, jenseits von Natur. Müller nennt die Landschaft, die zu Beginn des Textes „zwischen Steppe und Savanne” verortet wird und kaum weniger öde erscheint als das Meer in Friedrichs Seelandschaft, eine „Landschaft jenseits des Todes”. Der Text kreist um die Wiederkehr der toten Frau, deren „täglichen Mord” das Bild zeigen soll. So geht es 7 Heiner Müller, „Bildbeschreibung”, in: Shakespeare Factory 1, Berlin 1985, S. 14. 8 Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 342f. 9 Müller, Shakespeare Factory 1, S. 8f. 10 Genia Schulz, „Der zersetzte Blick. Sehzwang und Blendung bei Heiner Müller”, in: Frank Hörnigk (Hg.), Heiner Müller Material, Leipzig 1989, S. 165-182. <?page no="35"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 35 wie häufig bei Müller um ein Theater der Toten, deren unheilige Auferstehung in einer Art ritueller Wiederkehr des Gleichen inszeniert wird. Indem die Beschreibung immer wieder in Alternativen aufgespalten wird („oder” / „vielleicht”), eher eine Vielheit möglicher Bilder evoziert, bleibt dem Lesenden jede Gewissheit entzogen. Nicht von ungefähr kehrt in Müllers Entwürfen und Notizen zu Bildbeschreibung ein Motiv immer wieder - Landschaft unter Verdacht / Landschaft unter Überwachung: „etwas (jemand) beobachtet (beschreibt) diese Landschaft / wer? warum? Mit welchen Absichten? Erwartungen? Befürchtungen? […] bin es ich? in wessen Auftrag? ” 11 In Chétouanes Tanzstück #1 macht das Agieren von Frank Willens die Spannungen des Textes spürbar als Bewegung im Raum. Der Körper des Tänzers entfaltet eine extreme Variabilität, wie mit mehreren Stimmen, wechselndem Geschlecht, als Mensch, Tier, Pflanze, Maschine, als Stuhl oder auch als die „dunkle Flüssigkeit, Wein oder Blut”, die sich „ihren Weg in den Boden sucht”. Mitunter scheint er die gleichförmig gesprochenen Worte zu illustrieren, mimetisch nachzuvollziehen. Zumeist geht dabei aber der Körper dem Text voraus, beschreibt eine Geste, bevor das Bild von der Stimme aufgerufen wird. Indem die Glieder des Tänzers (eben darin besteht seine Leistung) sich zu verselbständigen scheinen, komm eine ‚andere’ Gegenwart, die (Ko-)Präsenz der Toten, zur Geltung: Die Worte „ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST TOT” spricht Willens mit dem Kopf nach unten, im Schulterstand auf dem Stuhl. Immer wieder überlagern die durch Sprache und Bewegung produzierten Bilder einander, verweigern eine lineare Interpretation. Chétouanes Tanzstück#1 bearbeitet nicht nur den im Text angelegten Bilddiskurs, mit dem das Bild sich selbst zu sehen, zu beschreiben und zu befragen beginnt. Darüber hinaus sind es die Projektionen der Zuschauer, die der Körper des Tänzers aufnimmt und mit denen er zu spielen vermag. Von daher erweisen sich gerade die Momente der Entsprechung oder Annäherung von Text und Bewegung - im Unterschied zu bloß illustrativer Verdopplung - als eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Zeitlichkeit der vom Text provozierten Bildvorstellungen. Der Vorgang des Sehens, der Spiegelung und der Projektion wird ausagiert durch das ständige Fallen, Stolpern und Zucken des Körpers von Frank Willens. Die Schwerkraft, das Gewicht des Körpers, bleibt jeden Augenblick spürbar. Und dennoch gibt es Momente plötzlicher Leichtigkeit, in denen sich Körperteile fast völlig isoliert bewegen. Damit wirkt der von Müllers Text produzierte Sog, mit dem ‘das’ Bild sich aufspaltet, auch auf die Bilder im Kopf der Betrachter ein. Entgegen dem Drang nach einer identifikatorischen Einverleibung und Aneignung des hörbaren Textes wie auch des sichtbaren Körpers arbeitet die 11 Müller, zit. n. Julia Bernhard: „‘So wurde allmählich dieses Bild‘ mit Schrift bedeckt’ …’ Das Konvolut Bildbeschreibung im Nachlass Heiner Müllers”, in: Ulrike Haß (Hg.), Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, Berlin 2005, S. 19-30 hier: S. 22. <?page no="36"?> Patrick Primavesi 36 Inszenierung an einer Erfahrung von Fremdheit in der „Wiederkehr des Gleichen”. Die fortgesetzte Dekonstruktion der Bildbeschreibung hat Chétouane vor allem mit choreographischen Mitteln erreicht, die er als Weiterentwicklung gegenüber seinen früheren Inszenierungen reflektiert: Ich glaube, ich habe vor der Arbeit an Heiner Müllers Bildbeschreibung und Georg Büchners Lenz keine Körper gesehen, ich habe nicht verstanden, warum sie gehen müssen? Es gibt doch genug zu hören. Doch es existiert diese Konfrontation zwischen Sprechen und Raum. Mich interessiert, wie das Gesagte - als Material, nicht unbedingt inhaltlich - den Raum beeinflusst. Und wie es einen Körper verändert. Was wird da produziert, wenn gesprochen wird? Und was ist dann die Rückwirkung auf mich als Betrachter? Höre ich die Sprache oder sehe ich sie eigentlich? 12 Zur Bewegung im Raum wird Bildbeschreibung bei Chétouane aber auch durch die Arbeit der Zuschauer, durch die vom Sog des Textes ebenso wie vom Agieren des Tänzers angetriebene Projektion von Vorstellungen. Darauf verweist besonders das Ende der Aufführung, wenn Willens das Licht eines Diaprojektors im sonst schon dunklen Raum auf sich selber richtet und dann, die letzten Worte des Textes sprechend („ICH, der gefrorene Sturm”), das Publikum blendet. Wenn die Bildbeschreibung als Bewegung im Raum freigesetzt und der Rahmen aufgebrochen ist, kommt schließlich auch der Betrachter ins Bild, aber ohne sich in sicherem Abstand spiegeln zu können, sondern seinerseits einem fremden Blick ausgesetzt. Abb. 3 Tanzstück #1, Frank Willens, Foto: Laurent Chétouane. 12 Laurent Chétouane, Günther Heeg, „‘Also werde Bild! Aber werde auch Beschreibung! ’ Ein Gespräch”, in: Veronika Darian (Hg.), Verhaltene Beredsamkeit? Politik, Pathos und Philosophie der Geste, Frankfurt am Main 2009, S. 247. <?page no="37"?> Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens 37 Viele weitere Beispiele wären zu nennen für die hier kursorisch skizzierte Tendenz neuer Theaterformen, den Prozess des Sehens und insgesamt der Wahrnehmung zu thematisieren. Gerade in der Verbindung von Tanz, Performance und Theater wird mit Inszenierungsweisen und Bewegungsformen experimentiert, die nicht mehr nur das Erscheinen des Körpers im Blickfeld des Betrachters zum Thema machen, sondern auch das Erscheinen des Betrachters im Blickfeld von Körpern, die aus dem Bildrahmen heraus schauen und diesen aufbrechen. Exemplarisch dafür sind die weiteren Tanzstücke von Chétouane ebenso wie die Arbeiten von Antonia Baehr (Lachen und Faces), die Produktion Tremor von Sebastian Matthias, oder auch die Anarchiv-Serie von deufert&plischke. Wie sich im Einzelnen gezeigt hat, findet die Arbeit an den immer mehr von neuen technischen Medien determinierten Wahrnehmungsverhältnissen oft in einer Art Recycling-Prozess statt, mit dem die Bilddiskurse früherer Kunstwerke oder Dokumente (Gemälde, Literatur, Fotos, Filme etc.) in neue Zusammenhänge gebracht werden. Mit einem Entzug des Rahmens wie auch mit dekonstruktiven, ihren eigenen Diskurs in Frage stellenden Formen der Bildbeschreibung wird das Zuschauen selbst in szenische Situationen überführt - quer zur Fixierung auf Illusionswirkungen, wie sie der kommerzielle Medienbetrieb hervorbringt. <?page no="39"?> Veronika Darian Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt 1. Von den Möglichkeiten der Bildbeschreibung Ut pictura poesis (Wie die Malerei so sei die Dichtung) - diese viel zitierte Horaz’sche Formel galt geraume Zeit zweifelsohne als Kondensat und Engstführung eines als ideal gedachten intermedialen Verhältnisses zwischen den zwei Schwesternkünsten Sprache und Bild. In der Übersetzung von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer klingt das - zitiert aus der Einleitung der von ihnen herausgegebenen Anthologie Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung - wie folgt: Das stumme Bild und die blinde Sprache hatten im jeweils anderen Medium ihre Ergänzung. [...] Der Name Ekphrasis stand für diese Gleichung von Bild und Wort, er meinte anschauliche Beschreibung allgemein, später dann besonders die Beschreibung der Bilder. 1 Ergänzung und Gleichung waren denn auch die Schlagworte, die dieses intermediale Verhältnis im allgemeinen Verständnis von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart hinein meist ausmachten und häufig noch ausmachen. Das, was das Bild nicht auszudrücken vermag, wo es (Verständnis-)Lücken und Deutungsnöte (bzw. Deutungs-Notwendigkeiten) aufweist, da soll die Sprache helfend einspringen. Als „verbal representation of visual representation”, 2 so formuliert vom Bildwissenschaftler W.J.T. Mitchell, ist die Ekphrasis als Medium gerade dazu angetreten, Störungen, Unklarheiten, Unbzw. Missverständnisse auszuräumen und zu umgehen. Lieb gewordene Wahrnehmungsgewohnheiten sollen eben nicht aufs Spiel gesetzt, sondern vielmehr soll Gewohntes gefestigt und bestätigt werden. In ihrer gesamten Gattungsgeschichte, sowohl als Stilmittel im Rahmen der antiken Rhetorik, als auch später als eigenständige Gattung, wird die Ekphrasis eben bevorzugt zur Überredung und Überzeugung des Hörers oder Lesers eingesetzt. 1 Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer, „Einleitung: Wege der Beschreibung”, in: Dies. (Hg.), Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 9-19, hier S. 9. Hervorhebungen V.D. 2 W.J.T. Mitchell, „Ekphrasis and the Other”, in: Ders., Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994, S. 151-182, hier: S. 152. <?page no="40"?> Veronika Darian 40 Dass dieses Medium also mit Vorliebe als Paradebeispiel einer synthetisierenden, die Medien quasi gleichschaltenden Inter-Medialität im Dienste eines überzeugenden Gesamteindrucks angeführt wird, erstaunt keineswegs. Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist nun, dass zunehmend - und im angelsächsischen Raum schon länger als hierzulande - vor allem der Aspekt der gegenseitigen Herausforderung der Medien hervorgehoben und als Konsequenz auch die Irritation des jeweiligen Rezipienten mit bedacht wird. Diese beiderseitige Herausforderung zwischen den Medien hat in der Geschichte der Gattung(en) die beteiligten Künste im so genannten Paragone - dem Wortsinne nach - durchaus kämpferisch aufeinander prallen oder auch auseinander fallen lassen. Ein Kampf, der auch den Widerstand spiegelt, das Widerstreben, im anderen Medium aufzugehen, sich aufzulösen, übermalt oder überschrieben zu werden, ohne die eigene Eigenheit bewahren zu können. Dieses „Problem der Ekphrasis” fasst der Literaturtheoretiker Murray Krieger in seinem so auch betitelten Aufsatz als „ekphrastische[n] Ehrgeiz”, der der Sprachkunst die ausgefallene Aufgabe zu[weist], danach zu streben, das nicht mit Worten Darstellbare darzustellen. Und doch ist jeder Versuch der verbalen Sequenz, in einer Gestalt zu erstarren [...], unweigerlich mit der Tendenz verknüpft, sich selbst aus der Begrenzung des eingefrorenen, sinnlich faßbaren Bildes zu befreien. Wonach der Autor folgert: „Damit stellt die Ekphrasis mit Sicherheit ein schwer greifbares und herausforderndes theoretisches Rätsel dar”. 3 Das Paradox der Gattung besteht demnach einerseits in dem ehrgeizigen Willen, das eigentlich vorgängige Bild in der Fähigkeit zur Darstellung zu überflügeln. Andererseits ist sie geprägt durch die Rätselhaftigkeit, die daraus entsteht, dass sich die Ekphrasis diesem Vorgängigen (also dem Bild) zu nähern versucht in dem Wissen, es doch nie erreichen zu können - sie aber ihrerseits danach strebt, es in einem Akt der Befreiung zu verlassen, zu überschreiben, zu überschreiten. Die Ekphrasis selbst wird dabei unweigerlich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie weder dem einen noch dem anderen Zeichen-System gänzlich zu folgen vermag: Weder kann sie die sich gleichzeitig bietenden Bild-Zeichen in gleicher Art nachvollziehen, noch ist sie rein dem sprachlichen Nacheinander der Erzählung verpflichtet. Der hier von Krieger diagnostizierte enigmatische Charakter der Ekphrasis spiegelt zudem auch noch die Rätselhaftigkeit, die den beschriebenen Bildern selbst von ihren Ekphrasten oft zugesprochen wird. So verweist die Diagnose der Rätselhaftigkeit auch in diesem Fall zuallererst auf denjenigen, für den ein Rät- 3 Murray Krieger, „Das Problem der Ekphrasis. Wort und Bild, Raum und Zeit - und das literarische Werk”, in: Boehm, Pfotenhauer, Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung, S. 41-57, hier S. 43. Hervorhebungen V.D. <?page no="41"?> Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt 41 sel - bzw. eine nicht zu beantwortende Frage - im Raume steht. Nicht selten wird schon mit der Fragestellung suggeriert, aus welcher Richtung des Rätsels Lösung zu erwarten ist. Eine mögliche Antwort auf das im oben genannten Zitat beschriebene Rätsel scheint sich in einem Zwischenraum zu formieren: nämlich zwischen der - hier so benannten - sequenziellen Sprache als dem einen und dem eingefrorenen, sinnlich fassbaren Bild als dem anderen Begrenzungspol dieser Zwischen-Sphäre. Die Unfähigkeit, sich dem einen oder anderen System grundsätzlich zu ergeben, ist der Ekphrasis von Bildtheoretikern oft als Mangel oder Schwäche ausgelegt worden. Beispielsweise versucht Emil Angehrn in seinem programmatisch betitelten Aufsatz „Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung” deren „Illusion eines Immediatismus des Beschreibens” zu entlarven. Dazu diagnostiziert er der Ekphrasis zunächst eine „unausweichliche Selektivität jeder Darstellung”, darüber hinaus eine „nicht-Festgelegtheit der Perspektive” und schließlich auch noch „den formierenden Akt der Konstitution”. 4 Doch lassen sich diese - im beschriebenen Zusammenhang eigentlich negativ konnotierten - Charakteristika durchaus als positive Potentiale der Bildbeschreibung deuten. Tatsächlich galt lange Zeit die Vermittlung einer objektiven Wahrheit auch für die Ekphrasis als das zu erreichende Ziel, solange sie - wie auch das Bild - dem mimetischen Dogma unterstand. Doch im Lauf der Entwicklung der Ekphrasis und der damit einhergehenden zunehmenden Emanzipation vom Dogma des mimetischen Nachvollzugs sind es eben genau die - oben in abwertender Absicht angeführten - Momente der Selektivität, der verschiedenen Perspektiven und der eigenständig konstitutiven Schöpfung, die mehr und mehr zu ihren grundlegenden Eigenschaften avancieren. Das Potential der Ekphrasis besteht also darin, sich nicht ausschließlich entscheiden zu müssen zwischen Sprache und Bild, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Abbild und Schöpfung, 5 Fiktion und Realität zugunsten der einen oder der anderen Position. Im Gegenteil: Sie entwickelt sich zu einer performativen Praxis, die wesentlich rezipientenbezogen agiert, indem sie die genannten Zwischenräume als Angebote für eine subjektive Positionierung eröffnet. So kann sich zwischen den Systemen ein Aktionsbzw. Spielraum öffnen, in dem der Rezipient sich zwischen den angebotenen Standpunkten und Aspekten eigens positionieren kann. Die Ekphrasis selbst erscheint dabei als Aktionspartner für den involvierten Rezipienten. Deshalb können und sollten Ekphrasen nicht nur als Antworten verstanden oder verfertigt werden, die das Rätsel eines Bildes zu lösen versuchen, sondern als Ansätze 4 Die drei Zitate bei Emil Angehrn, „Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung”, in: Boehm, Pfotenhauer, Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung, S. 59-74, hier S. 65. Hervorhebungen im Original. 5 Siehe auch der Titel des eben genannten Aufsatzes von Emil Angehrn: „Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung”. <?page no="42"?> Veronika Darian 42 gelten, die die Bilder selbst nach ihren Zwischenräumen befragen, die sie ihrerseits für den Rezipienten bereithalten. Dies wird besonders offensichtlich, wenn die Ekphrasis als kommentierende Gattung zum aktiven Zwischenglied wird zwischen Bild und Beobachter. Denn sobald, nochmals mit Boehm und Pfotenhauer gesprochen, „Ironisierung, Distanzierung, Relativierung - Modi, die man gemeinhin nur der kommentierenden Ekphrasis zutraut -, [...] sich auch die Bilder durch ihre eigenen visuellen Mittel zueignen”, entsteht „eine Ekphrasis gleichsam ohne gesprochene Sprache, ein stummes ‘Sprechen’ der Bilder über sich selbst”. 6 Das wäre dann die Ekphrasis der Ekphrasis, sozusagen die Ekphrasis in potentia, ein sich selbst reflektierendes und zugleich über sich selbst hinausweisendes performatives Phänomen. 2. Bilder betrachten - beschreiben - begehen Genau in ein solches performatives Da-Zwischen gerät auch Clemens von Brentano als ein prominenter Bild-Beschreibender. Angesichts von Caspar David Friedrichs Der Mönch am Meer (Abb. 1), entstanden in den Jahren 1808-1810, fürchtet er, sich in - so der Titel seiner Überlegungen - Verschiedene[n] Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner zu verlieren. Und so formuliert er - nach einer ersten Beschreibung des Gemäldes, die auch die Beschreibung einer Seelandschaft in natura sein könnte: [...] [D]as, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mir das Bild tat, indem es denselben nicht erfüllte; und so wurde ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne […]. 7 Er setzt sich als Bildbeschreibender also selbst ‘ins Bild’, wird ‘selbst der Kapuziner’, findet die Herausforderung der Situation ‘zwischen sich und dem Bild’. Und weiß sich in seiner temporären Ort- und Orientierungslosigkeit im Weiteren nicht anders zu helfen, als zum gelehrigen Lauschangriff überzugehen: Dieser wunderbaren Empfindung nun zu begegnen, lauschte ich auf die Äußerungen der Verschiedenheit der Beschauer um mich her, und teile sie als zu die- 6 Beide Zitate zu Kemp bei Boehm, Pfotenhauer, „Einleitung”, S. 12. Kemp beschreibt die Kommentierung durch Bilder im Bild anhand des Beispiels von Jan van Eycks Arnolfini-Doppelbildnis von 1434. 7 Clemens Brentano, „Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner” (1810), in: Ders., Werke, Band 2, hrsg. v. Friedhelm Kemp, München 1963, S. 1034-1038, hier S. 1034. Hervorhebungen V.D. Siehe dazu auch die ineinander geschobene Zusammenführung der Texte in: Heinrich von Kleist, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner, Megaphone eBooks 2008, S. 4. <?page no="43"?> Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt 43 sem Gemälde gehörig mit, das durchaus Dekoration ist, vor welchem eine Handlung vorgehen muß, indem es keine Ruhe gewährt. 8 Diese Brentanosche Positionssuche ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und nicht erst in Form der frechen Zitierung, Übersetzung, Überschreibung durch Heinrich von Kleists verkürzte und modifizierte Fassung Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft für unsere Belange von einiger Bedeutung. Denn aus einem, zunächst resigniert erscheinenden Positionswechsel - zum einen ins Bild hinein, sich in die Beobachterposition einer Bildfigur begebend, zum anderen aus der Stellung des Redenden in die des Lauschenden - ergibt sich auch ein Wechsel der Form hinsichtlich der Annäherung an das Bild. Von der Bildbeschreibung gehen wir mit Brentano über zum Kunstgespräch, wobei dieser Schritt von einer Gattung zur nächsten hier bemerkenswerter Weise im Durchgang durch eine Theaterszenerie hindurch geschieht: Denn Brentano evoziert eine Situation vor der ‘Dekoration’ des Bildes, ‘vor welchem eine Handlung vorgehen muß’. Vor dieser Szene finden nun - angesichts des Gemäldes - die Dialoge verschiedener ‘Damen und Herren’ statt, teils als ‘vielleicht sehr geistreich’ beschrieben, als ‘Kunstverständige’, aber auch in Gestalt ‘junger Frauen mit blonden Kindern’ oder eines zuletzt auftauchenden ‘glimpflichen langen Mannes’. 9 Diese, mal naiven, mal gelehrt scheinenden Dialoge lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Gattung des Kunstgesprächs als einer, der Ekphrasis durchaus ähnlichen, aber in einigen Aspekten deutlich unterschiedlichen Form und liefern uns zugleich einen hoffentlich gelingenden Über-Gang zum dritten Teil meiner Ausführungen, der da handelt: 3. Von den Möglichkeiten des Kunstgesprächs „[…] [D]iese Art von Gemurmel, das ich, das Sie im Kopf haben, wenn ich (Sie) Bilder anschaue(n)”, 10 das sich im Gespräch mit anderen erst zu verfestigen vermag - und sich gleich wieder verflüchtigt, indem „in das jetzt und hier angeschaute Bild ein anderes gleitet und noch ein anderes...” 11 - dieses Geschehen vollzieht sich in Art einer ‘naiven’ Kunstbetrachtung, die direkt im Ansehen von Kunstwerken stattfindet. Diese darf als noch nicht zielgerichtete, flanierende, sich einfach vollziehende Bewegung in Annäherung an die Kunst und um die Kunst herum verstanden werden. Im Gegensatz zum akademischen Betrachten, Be-Sprechen und Be-Schreiben muss das hier gefällte Urteil über die Kunst noch keinen Regeln folgen oder in kunsttheoretische Überlegungen münden. Im Gegenteil: Diese unbefangenen, im Vor- 8 Brentano, „Verschiedene Empfindungen”, S. 1034. Hervorhebungen V.D. 9 Vgl. ebd. 10 Louis Marin, „Über das Gespräch”, in: Ders., Über das Kunstgespräch, S. 11-30, hier S. 15. 11 Ebd., S. 16. <?page no="44"?> Veronika Darian 44 beigehen nahezu unbewusst unterlaufenden Aneignungsakte erinnern an die Peripatetiker - den Kreis um Aristoteles und seine Schüler - , die den Raum der Wandelhalle (peripatos) nutzten als Ort des Gehens und Denkens, zweier nach Thomas Bernhard durchaus ähnlicher Bewegungsformen. Doch bereits zu Aristoteles’ Zeiten wandelt sich das ‘um...herum’ des peripatetischen Wandelgangs und des philosophischen Gesprächs zum stärker gerichteten Lehrgespräch zwischen dem Meister und seinen Schülern, immer noch im Dialog gehalten, aber bereits zu verstehen als ein quasi beidseitiges Reden-Halten in der Situation einer - mit Louis Marin gesprochen - Rede-zuzweit. 12 Das peri (um...herum) der passierenden Bewegung wird so im Lauf der Geschichte zum meta (nach, gemäß) des abgesteckten Weges, zur analytischen Methode (meta hodos - Weg zu etwas hin). Doch ob naives Nachdenken oder gelehrtes Gespräch - das Gespräch über das Kunstgespräch soll uns im Folgenden beschäftigen. 4. Bilder besprechen - überschreiben - überschreiten Der soeben bereits zitierte Theoretiker der Bildgewalten und Sprachmächte, Louis Marin, versteht ein solches, selbst so benanntes ‘Meta-Gespräch’ als das Angebot zu einer Art theoretischem (oder rhetorischem) Vertrag mit sich selbst und mit dem Gesprächspartner, und zwar mit dem Zweck, die Grenzen für einen Diskurs abzustecken, der unweigerlich dem Risiko ausgesetzt ist abzudriften, oder der Gefahr, in Improvisation zu verfallen, weil ein anderer die Rede mit sich hält und ein Teil von dem, was da gesagt wird, wenn nicht das Ganze in der Form einer Antwort verlautet, durch eine Frage provoziert, über die keiner der beiden Gesprächspartner wirklich Herr ist. ‘Eine Rede halten’ zu zweit, ist das möglich, wenn schon der Ausdruck ‘eine Rede halten’ unweigerlich die Infragestellung provoziert, und zwar durch all die Formen der Beherrschung, der Kontrolle, der Überwachung, der Aneignung und der Versicherung, die der Ausdruck einzuschließen scheint. 13 Durch diese Passage leitet Marin ein Gespräch über das Kunstgespräch ein, für das er seinerseits die Form des Dialogs wählt. So einfach der Einfall, so luzide entfaltet sich das Beschriebene in seiner ihm genuinen Gestalt. Zusätzlich fächert sich das Autoren-Ich - wie schon bei Brentanos Verschiedene[n] Empfindungen - folgerichtig in verschiedene, hier kunsttheoretisch und -historisch geschulte Stimmen auf: Es erschallt ein vervielfachtes „Konversationsecho” 14 zwischen dem Professor - wahlweise auftretend als Historiker, Philosoph oder „eigentlich Soziologe” -, dem Kunstliebhaber und dem Semiologen - „zugleich ein wenig Linguist”, mal „ein bißchen Semantiker”, dann 12 Marin, „Über das Gespräch”, S. 11. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 15. <?page no="45"?> Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt 45 wieder „ein wenig als Philologe” oder auch „ein wenig Pragmatiker”. 15 Schließlich zitiert der Stimmendirigent Marin - als historischen Rückgriff und dialogischen Höhepunkt - den Historiographen André Félibien, die Schrift gewordene Stimme der barock-absolutistischen Kunsttheorie Frankreichs. Dieser wirkte unter anderem als Protokollant der Académie, indem er die tatsächlich stattgefundenen Gelehrtengespräche vor ausgewählten Gemälden der königlichen Sammlung Ludwigs XIV. schriftlich fixierte und daraus letztendlich die Gesetze einer akademischen Kunstdoktrin fertigte. Félibien also kommt zu Wort mit seiner Erklärung der Wahl einer dialogischen - und didaktisch angelegten - Form für die Vermittlung von Wissen über die Kunst: [...][W]eil ich sowohl den Gebildeten als auch den angehenden Berufskünstlern eine bessere Kenntnis von der Malerei vermitteln wollte und glaubte, ihnen von den Malern und ihren Bildern sprechen zu müssen, hielt ich es für nötig, die Form von vertraulichen Gesprächen zu wählen. 16 Mit der Stimme des Semiologen erfolgt die Replik - in Form des Zitats eines Zitats, das seinerseits das Zitieren umspielt: Das Gespräch wird so das bevorzugte didaktische Mittel, um sowohl dem kultivierten Publikum als auch den professionell Interessierten die Malerei bekannt zu machen. Es ist die literarische Form, welche die theoretische Abhandlung ebenso wie das kunstgeschichtliche Werk am besten ‘herüberbringt’. Um Pascal zu zitieren, der Montaigne zitiert: die literarische Form, die ‘am gebräuchlichsten ist, die sich am besten einschmeichelt, die besser im Gedächtnis bleibt und die am ehesten zu zitieren ist’ [...]. 17 Das Zitat als Überschreibung, aber auch als das Weiterschreiben und - sprechen in einem nicht enden wollenden Austausch: So wird das „Gespräch [...] aus einstmaliger Rede zu zweit ein unendlich wiederholter oder wiederholbarer Sprachgegenstand”, 18 heißt es bei Marin an anderer Stelle. Dafür gibt es in der Linguistik den Terminus des präsens iterativum, den der Literat Italo Calvino seinem Reisenden in einer Winternacht folgendermaßen vorstellt: „Hören Sie: ‘Ich bin im Begriff, meine Überzeugung darauf zu lenken...’ Nein: ‘Fortschreitend überzeuge ich mich vom Akt des Übermittelns...’[...]”. 19 Von Calvino werden diese zwei Satzanfänge als Übersetzungsversuche eines als nicht übersetzbar eingeschätzten Textes geschrieben. Die Wiederholung eines Geschehens im Zustand des präsens iterativum, das Wieder- Holen durch eine zum Scheitern verurteilte Übersetzung, das Zitieren eines 15 Siehe die Stimmenzuweisung ebd., S. 16-30. 16 André Félibien, „Préface” zu seinen Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellents peintres anciens et modernes, zit. n. Marin, ebd., S. 27. Hervorhebung V.D. 17 Ebd., S. 27. Hervorhebungen V.D. 18 Ebd., S. 13. 19 Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München 1993, 7. Auflage, S. 64. <?page no="46"?> Veronika Darian 46 nicht zu fassenden Vorgängigen charakterisieren ebenfalls die Akte des Be- Sprechens und Be-Schreibens von Kunst. So sind auch die Herren des Gesprächs dabei nicht unbedingt Herren über das Gespräch. Auf diese Weise steckt das hier ausgebreitete Gesprächsfeld seine eigenen Koordinaten im Stimmenaustausch ab. Die Rede ist hier von der Feststellung der nur eingeschränkten Beherrschbarkeit der angewandten (Sprach-)Mittel und des damit einhergehenden Risikos der Improvisation. Darin spiegelt sich nicht zuletzt auch die autopoetische Reflexion der zu Schrift gewordenen Stimmen selbst. Dadurch führt das geschriebene Gespräch das kaskadenhafte Ineinanderfließen von Betrachten, Be-Sprechen, Be-Schreiben und Beurteilen nicht nur vor, sondern führt es quasi auch durch. 20 Diese performative Selbstbezogenheit verweist nicht von ungefähr auf eine strukturelle Ähnlichkeit zum Phänomen der Ekphrasis in potentia als autopoetisches Medium. Epilog Ich komme zum Ende meiner Rede-in-vielen-Stimmen: Beide, die Ekphrasis und das Kunstgespräch, erweisen sich als autopoetische wie auch performativ agierende Medien angesichts ihres jeweiligen, potentiell reflexiven Verhältnisses erstens zum beschriebenen Gegenstand, zweitens zum Rezipienten und drittens auch und vor allem zu sich selbst. In der oben versuchsweise vollzogenen Gegenüberstellung der zwei Gattungen, die sich beiderseits als Spiegel der Kunst anbieten, erweisen sie sich darüber hinaus auch als jeweiliges Echo der Subjektivität des Zuhörers, Lesers oder Betrachters. Denn wo Bild oder Sprache unter dem normativen Ballast zu ersticken oder in einer synthetisierenden Einheit sich selbst zu verlieren drohen, folgt für den Rezipienten aus einem möglichen Gefühl der Orientierungslosigkeit nahezu notwendig ein Wechsel oder ein Verlassen des vorher eingenommenen Standpunktes. Der Betrachter wird Beschreibender wird Bild- Begehender. So wie er dann - wie auch in Brentanos Fall - wiederum in die Position eines lauschenden Theaterbeschauers gerät. In dieser Situation und auf diese Weise werden die Zuschauer - in aller Unmittelbarkeit - selbst zur Szene. Am Schluss seiner selbst erschaffenen Theaterszene verlässt Brentano die Dialoge der verschiedenen Empfindungen samt seinem Posten als gelehrig Lauschender. Dies tut er zugunsten eines sicheren (oder auch: gesicherten) 20 „In Wahrheit ist jedes geschriebene Gespräch die Fiktion eines mündlichen Gesprächs, selbst wenn dieses ‘wirklich’ stattgefunden hat [...]. Die schriftliche Abfassung eines Gesprächs ‘führt’ diese Fiktion ‘durch’ [‘opère’]”. Marin, „Über das Gespräch”, S. 13. <?page no="47"?> Ekphrasis im Ausfallschritt oder Wie das BildAusSprache tritt 47 Disputs in der Rolle des Gastgebers in der heimischen Wohnstatt - übrigens zusammen mit seinem Mitbewohner Achim von Arnim, als desjenigen ‘glimpflich langen Mannes’, der ihn zuletzt aus seiner Bildfigur-Starre erlöst. Fernab von den Herausforderungen, die in Anbetracht von Bild, Gespräch und Theatersituation drohen, liegt auch diese Wahl für den Rezipienten im Bereich des Möglichen. Doch aufreibender und letztlich wohl auch berührender verheißt das Gespräch zu werden, in das man involviert ist. So obliegt der Austausch über die Phänomene des Kunstgesprächs respektive der Bildbeschreibung vielleicht am ehesten der Situation, in der sich lauschende und spähende Wahrnehmung zu entfalten und selbst zu inszenieren vermag: im Theater der Bild/ Beschreibung bzw. des Kunst/ Gesprächs selbst. Abb. 1: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808-10, Öl auf Leinwand, 110 cm x 171,5 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin. <?page no="49"?> Sebastian Kirsch Es wird ein Mensch gemacht Zu Laurent Chétouanes „Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den zweiten Akt von Goethes ‚Faust II’ und” 1 Heiner Müller hat die Funktion der Metapher einmal als „Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder” bestimmt. 1 Ich möchte mit dieser Formulierung beginnen, da sie eine Ambivalenz in sich trägt, die meines Erachtens auch die Tanzstücke Laurent Chétouanes auszeichnet. Kein Zufall, handelte es sich bei der ersten dieser mittlerweile auf eine Serie von vier angewachsenen Tanzarbeiten doch um eine Inszenierung von „Bildbeschreibung” (2007), die zudem mit der zitierten Wendung Müllers beworben wurde. Erst nach der Premiere einer weiteren Produktion, von „Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den zweiten Akt von Goethes ‚Faust II’ und” (2008), wurde „Bildbeschreibung” dann in „Tanzstück #1” umbenannt - übrigens ein Beleg dafür, dass auch diese Serie erst rückwirkend und mit der Zwei begonnen hat. 2 Nicht von ungefähr insistiert diese Ziffer so stark im Titel der „Faust”-Arbeit. Eine „Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder”. Auf den ersten Blick scheint sich Müllers Formulierung einer ikonoklastischen oder auch exorzistischen Tradition einzureihen, wie sie die kulturkritische Standardwarnung vor einer gefährlichen „Bilderflut” prägt, die sich heute, in Zeiten des Internets, erneuter Beliebtheit erfreut. Ungezählt die Beschwörungen einer (Über-)Macht der Bilder, die mit den Neuen Medien unkontrollierter und inflationärer denn je über die Konsumenten hereinbrächen und die Welt in ihre eigene Simulation überführten. Freilich hat diese Rede die Einführung neuer Bildmedien und -träger - ob Fotografie, Visitenkarte, Film oder Fernsehen - noch immer begleitet, und letztlich ist der in ihr sich artikulierende Exorzismus nichts weiter als die Rückseite des „Bilderfetischismus”, 1 Heiner Müller, „Fatzer +/ - Keuner”, S. 224, in: Ders., Werke 8 (Schriften), hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2005, S. 223-231. 2 vgl. zu diesem Aspekt der Serie auch in Bezug auf die „Rotbuchausgabe” von Müllers Schriften: Barbara Hahn, „Das Gesetz der Serie und das Gesetz des Werkes. Zu Heiner Müllers Projekt”, in: Christian Schulte, Brigitte Maria Mayer (Hg.), Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 2004, S. 265 - 273. <?page no="50"?> Sebastian Kirsch 50 dem der Angriff gilt. Nicht nur, weil der Exorzist mindestens ebenso fanatisch an die Macht der Bilder glauben muss als es sein Widerpart, der Fetischist, tut, sondern auch, weil beide Positionen letztlich derselben Präsenzlogik folgen und sich daher austauschen lassen: Hält der Bilderfetischist die Abbildung für einen vollgültigen Ersatz der abgebildeten Sache, so denunziert der Exorzist das Bild als pure Besatzungsmacht, die den ursprünglich reinen Gegenstand entfremdet und unterdrückt hat. Anders gesagt: Der Rahmen von Exorzismus und Fetischismus wird von den gleichen präsenzmetaphysischen Prämissen abgesteckt - die Annahmen eines klar definierbaren Ursprungs und einer ebenso klar definierten Oberfläche - und in diesem Spielraum kann sich dann die althergebrachte Dialektik von Sein und Schein entfalten, Fragen der Art: „Ist das Bild auch wirklich naturgetreu? ” oder aber: „Was ist der wahre Gegenstand hinter dem Bild? ” Lacan hat diesen sich wechselseitig befördernden Mechanismus, das „perpetuum mobile von Fetischismus und Exorzismus”, treffend als „Hokuspokus” bezeichnet, der mit der eigentlichen Problematik des Sehens nichts zu tun habe. 3 Jedenfalls ist es angesichts der Müller’schen Formulierung kein Wunder, dass die Tageskritiken in der provozierenden „Armut” von Chétouanes Tanzstücken immer wieder besagten Bildexorzismus am Werk sehen wollen. „Abschied von den Bildern” und „Ein Abend, dem die Bilder abhanden kamen” lauten typische Zeitungsformeln (wenn den Arbeiten nicht gleich mit völligem Unverständnis begegnet wird bzw. sie als feindlicher Akt wahrgenommen werden). 4 Umso befremdlicher müssen daher Aussagen Chétouanes wie etwa diejenige wirken, es gehe ihm gerade nicht darum, „die Bilder zu töten”, sondern sie „zu vervielfältigen”. 5 Indes deckt sich 3 Jacques Lacan, „Vom Blick als Objekt klein a”, S. 100, in: Ders., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI; übers. v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin 1996, S. 71-126. Dabei ist die Selbstironie nicht zu übersehen, schließlich ist da, wo man gegen einen „Hokuspokus” anschreibt, ein neuer Teufelskreis von Exorzismus und Fetischismus nicht weit. Die Wendung vom „perpetuum mobile” übernehme ich von dem Bochumer Kunsthistoriker Holger Kuhn, der in seiner (noch unveröffentlichten) Dissertation den Zusammenhängen von Bild, Geld und Fetisch nachgeht. 4 Beide Formeln stammen aus der Premierenkritik von „Bildbeschreibung” in der WAZ vom 12.02.2007 (Dirk Aschendorf). „Fünf Stunden Feindschaft” lautete hingegen die Überschrift des grobschlächtigsten Verriss von „Faust II” in Weimar, einer Inszenierung, in die „Tanzstück #2” eingearbeitet war (Kerstin Decker im Tagesspiegel vom 23.03.2008). Die Kritikerin ließ sich in ihrem Artikel sogar dazu hinreißen, von denjenigen, die in Chétouanes Umgang mit diesem „wohl größten Stück des deutschen, ach was, des Welttheaters” (Decker) nicht das von ihr ausgerufene „Desaster, wie es der Theatergänger höchstens einmal im Leben erlebt” erblicken wollten, als den „letzten Menschen” zu sprechen, die sich „selbst endgültig verpasst haben und das als Verdienst nehmen”. 5 Ich beziehe mich hier und an weiteren Stellen auf (zum Teil gekürzte) Passagen aus einem Gespräch, das Nicole Gronemeyer und ich 2008 mit Chétouane geführt haben (abgedruckt in: Theater der Zeit 03/ 08). <?page no="51"?> Es wird ein Mensch gemacht 51 diese vermeintliche Widersprüchlichkeit sehr genau mit der Ambivalenz, die auch Müllers Formulierung bei genauerem Hinsehen innewohnt: Die „Sichtblende” kann nämlich auf der anderen Seite auch als ein Bündelungsinstrument verstanden werden, das die Sicht auf die Bilder überhaupt erst ermöglicht, ähnlich einem Augenlid, das visuelle Eindrücke dadurch ermöglicht, dass es das Auge vor ihnen schützt. Zu klären wäre also, welches Konzept vom Bild einem Sehen zu Grunde liegt, das auf Chétouanes Bühne keine Bilder erkennen kann oder will. Bzw. das umgekehrte Problem: Was ist auf dieser Bühne denn eigentlich dann zu sehen, wenn es nicht als „Bild” wahrgenommen wird? Wie ist der Status dessen, was dort sichtbar wird? 2 Schon die Choreographie von „Bildbeschreibung” mit dem Tänzer Frank Willens stellt sich, wie man in einem vorläufigen Charakterisierungsversuch sagen könnte, als unaufhörliche, sich beständig vervielfältigende und verschiebende Bewegung dar. Ruhig und in gleichförmigen Abständen kommt der Text aus Willens heraus, einer permanent sich unterbrechenden und umwendenden Linie vergleichbar, während sich darunter der Körper des Tänzers zu öffnen und in immer wüsteren Verzerrungen im Bühnenraum geradezu zu zerfließen scheint. 6 Die zweite Tanzstudie über „Faust II” entwickelt diese Praxis offensichtlich weiter, doch diesmal treffen gleich drei Tänzer (Jan Burkhardt, Sigal Zouk und abermals Willens) auf Goethes „Klassische Walpurgisnacht” und die Homunkulus-Szenen. Anders als in „Bildbeschreibung” bleiben von „Faust II” freilich nur wenige vereinzelte Sätze oder auch Satz- und Versreste: „Heute wollen wir erkunden, ob ihr mehr als Fische seid”, oder „Vor solchen hat einst Ödipus gestanden” lauten die Bruchstücke etwa, die dem Dramentext entnommen worden sind wie Stichproben. Kontexte, Bezugssysteme oder Richtungen der herausgelösten Teile bleiben indes unklar, und selbst die akustische Verständlichkeit ist erschwert, da die Worte bisweilen extrem gedehnt, aus den Mündern geradezu herausgeschoben und in den Raum gestellt werden. Markant sind zudem die Akzente der Beteiligten, die schon das pure grammatische Verständnis des Gesprochenen erschweren. Allerdings: Im selben Moment befördern diese Hindernisse das Verstehen auch, nötigen sie doch zur permanenten Konzentration auf den Vorgang der Wort- und Bedeutungsbildung selbst. Bedeutung entsteht im Raum, neben und zwischen den Sprechenden, nicht in ihnen, hat Chétouane eine Grundannahme seines Theaters einmal 6 vgl. zur Probenarbeit an „Bildbeschreibung” Alexander Kerlins Werkstattbericht „Leere Wiederholung, andere Wiederkehr”, in: Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Schauplatz Ruhr 2007. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet, Berlin, Bochum 2007, S. 4-6. <?page no="52"?> Sebastian Kirsch 52 beschrieben, die auch in „Tanzstück #2” offensichtlich zu ihrem Recht kommt. Und weiter: Die Sichtblende, die gleichzeitig verschließt und eröffnet, scheint eine auditive Schwester zu haben, eine „Hörblende”, die hier von Chétouane ein weiteres Mal zum Einsatz gebracht wird. Über weite Strecken bleibt die Choreographie allerdings auch vollständig stumm. In „Bildbeschreibung” liefen Sprechen und Tanz noch ständig mit-, gegen- oder nebeneinander her, so dass sich ein konfliktuöses Gleichgewicht zwischen den beiden Ebenen herstellte. Diesmal entsteht hingegen der Eindruck, als werde das Sprechen immer wieder gewissermaßen in die Körper zurückgenommen und die Intensität ihrer Bewegungen in eben diesem Maße verstärkt. Mit enormer Konzentration, Heiner Müller würde vielleicht von „Arbeit” sprechen, stellen die Tänzer Gesten und Gänge in den Bühnenraum, nicht anders, als sie es mit den einzelnen Worten und Sprachstücken tun. Dann wieder beginnen sich Körperteile plötzlich zu verselbständigen: Arme fangen an zu zappeln, als gehörten sie nicht mehr zum Rest des Körpers; einmal sackt Burkhardts gesamter Leib minutenlang immer wieder in sich zusammen, fällt zu Boden, richtet sich wieder auf. Das bedrohliche Schweigen, in dem sich das alles vollzieht, erinnert gerade in solchen Momenten an die Stille in Büchners „Lenz”, von der es heißt, dass sie eine entsetzliche Stimme sei, die um den ganzen Horizont schreie. 7 (Und nicht umsonst bezeichnet Chétouane seine „Lenz”-Inszenierung mit Fabian Hinrichs aus dem Jahr 2005 inzwischen auch als „Tanzstück #0”.) Dennoch: Solchen Verbalisierungsversuchen haftet etwas Unbeholfenes, Unzureichendes an. Nicht nur weil das tänzerische und sprachliche Material auf den ersten Blick so fremd zu sein scheint, entzieht es sich der Beschreibung immer wieder; schon seine pure Fülle erschwert den direkten Zugriff. Hinzu kommt, dass dieses wie auch die anderen Tanzstücke in extremer Weise von den jeweiligen Beziehungen und Anwesenheiten im Raum abhängt, das heißt das Geschehen steht und entsteht in engem Verhältnis zu den jeweils Zuschauenden, und das, obwohl es gleichzeitig auf einer strikten Choreographie basiert. Man könnte nun natürlich beginnen, jeden einzelnen Moment jeder einzelnen Aufführung „nachzuerzählen”, würde damit aber zunächst nichts anderes leisten als eine sprachlose Verdoppelung. Ähnlich wie im Fall der Chöre Einar Schleefs bliebe es übrigens auch ein unzureichendes Hilfsmittel, Videoaufzeichnungen zu zeigen, nicht nur, weil das Raumerleben in der Abbildung notwendig verloren geht, sondern auch, weil das zentralperspektivische Dispositiv der Kamera auf einen Protagonisten ausgerichtet ist und vor dem Geflecht der Tänzer ebenso hilflos bleiben muss wie vor dem Chor. Diese grundsätzliche Sprachlosigkeit gegenüber dem Geschehen nicht einzugestehen, wäre nicht nur unredlich, sondern würde tatsächlich auch ein wesentliches Moment der Arbeit übergehen. Es 7 vgl. Georg Büchner, „Lenz”, S. 249, in Ders., Dichtungen, Frankfurt am Main 1992, S. 223-250. <?page no="53"?> Es wird ein Mensch gemacht 53 ist in diesem Rahmen nicht möglich, dies hinreichend zu theoretisieren - ich versuche das an anderer Stelle - aber ich vermute, dass die Schwierigkeit mit der Beschreibung jener anfänglichen Sprachnot korrespondieren dürfte, die sich als Konstante durch die Versuche zieht, Kunstwerke zu erfassen, die der historischen Barockepoche entstammen. 8 Ob wütend konstatiert, hilflos oder in der Angst, von einer Art Wahnsinn befallen zu werden, der anscheinend auch dem Gegenstand eignet - immer wieder findet sich am Anfang der Versuche, barocke Texte oder Räume in den Griff zu bekommen, der Hinweis, dass man mit seinem Latein am Ende sei. Meist folgt dieser Feststellung dann eine Art Oberflächenaufzählung, die den Gegenstand jedoch nur reproduziert und sich am Ende kaum mehr von diesem selbst unterscheidet. Hier nur ein kurzer Hinweis auf ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Goethes Bestreben, in der „Italienischen Reise” die „Villa Pallagonia” zu beschreiben, ein seinem unwirschen Urteil nach „barocker” und „wunderlicher” Palast, der von einem Verrückten mit allem möglichen Gerümpel vollgestopft wurde, endet damit, dass der „Wahnsinn” des Raumes auf die Beschreibung selbst übergreift. 9 Der Reisebericht mutiert zur end- und zusammenhanglosen, rein äußerlichen Aufzählung der einzelnen Gegenstände, zur wuchernden Liste, der keinerlei interpretatorischer Wert mehr innewohnt und die nur dadurch abbricht, dass Goethe von seinem Begleiter Kniep zum Gehen gedrängt wird. Bezeichnenderweise ist dieser ein Zeichner, der die besuchten Orte mit dem Instrument der Zentralperspektive auf Papier zu übertragen sucht und in der Villa Pallagonia den Zusammenbruch seiner Mittel erleben muss. 3 Umso interessanter ist nun, dass dieselbe Hilflosigkeit auch die Reaktionen kennzeichnet, die dem Text von „Faust II” häufig zuteil wurden oder werden. Ausgerechnet Goethe, der immer wieder als Verächter des „Barockstils” aufgetreten ist - ein Attribut, das zu seiner Zeit noch synonym war mit Krankheit, Wahnsinn und Verfall - hat hier ein Stück geschrieben, das in der Tat signifikante Parallelen zur Gestalt gerade des deutschen Barockdramas aufweist. Wie dieses stellt auch „Faust II” sich zunächst als eine schier endlose Anhäufung von disparatem, häufig allegorischem Material dar, das scheinbar unbesorgt miteinander verschraubt wird, ob es nun der griechischen Mythologie, der christlichen Theologie oder dem mittelalterlichen Legendenschatz entstammt. Es verwundert daher nicht, dass Walter Benja- 8 Die hier vorgetragenen Überlegungen entstammen dem Umkreis einer größeren Forschungsarbeit zur „Gegenwart des Barock” und der Lacan’schen Psychoanalyse. 9 In: Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe), Band 11, Autobiographische Schriften III, München 1981, S. 242-247. <?page no="54"?> Sebastian Kirsch 54 min in seiner Studie zum „Epischen Theater” den „Faust II” als markante Station auf jenem „Schleichpfad” bezeichnet, auf dem das barocke Drama seinen Weg in die Bestrebungen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts gefunden habe, die sich der Suche nach dem „untragischen Helden” verschrieben hätten. 10 Innerhalb der komplizierten Architektur des zweiten „Faust” nimmt der zweite Akt indes noch einmal eine besondere Stellung ein. Deutlich zerfällt das Riesendrama in drei Stücke. Der erste Teil spielt am Kaiserhof, wo Mephisto dem verschuldeten Staat das vergiftete Geschenk des Papiergeldes macht. Von der unweigerlich einsetzenden Inflation lenken Karneval und teuflische Zauberei ab; Faust beschwört Paris und Helena und verliebt sich in das virtuelle Frauenbild. Natürlich bricht am Ende die kaiserliche Wirtschaft aber doch zusammen und das Chaos ein, worauf Mephisto mit Faust in dessen alte Studierstube flieht. Dort beginnt Teil zwei. Die beiden treffen auf Fausts alten Famulus Wagner, der gerade in der Retorte den künstlichen Körper des Homunkulus brutzelt: „Es wird ein Mensch gemacht”. War kurz zuvor das virtuelle Bild eingeführt und mit Fausts Begehren gekoppelt worden, so weitet sich das Thema nun zum virtuellen Körper, der sich künstlich erzeugen, aber auch ständig verwandeln, verflüssigen und ummontieren lässt. Daher folgt nun - wie eine Art Testlauf für dieses protheische Körperwesen - die „Klassische Walpurgisnacht”. Die ungleich populärere „Walpurgisnacht” des ersten Teils war noch klar im Harzgebirge situiert und beschränkte sich weitgehend auf typische Hexengestalten, die zweite jedoch entwickelt sich zum gigantischen „Crossover” heidnischen, mythologischen, christlichen oder auch profanen Zusammenhängen entnommener Figuren. Damit ist zugleich der Übergang zu den restlichen drei Akten geschaffen, die Zeiten, Räume und Figuren wild durcheinanderwirbeln. Die Körper, die in diesem dritten Teil quer durch Zeit und Raum, durch Antike, Unterwelt und Kriegsschauplätze reisen, lösen sich permanent auf, verwandeln sich, nehmen verschiedenste Gestalten an - falls man hier überhaupt noch von Körpern sprechen kann und nicht von Cyberwesen, die der sich beständig metamorphisierenden Killermaschine aus James Camerons „Terminator 2” ähneln (übrigens ein weiterer serienbegründender zweiter Teil). In Chétouanes Worten: „Goethe erschreibt hier ein virtuelles Reich, als sähe er technische Dispositionen des 21. Jahrhunderts voraus.” 11 Zugleich sieht, wie angedeutet, Goethe allerdings auch zurück: Das virtuelle Reich des “Faust II“ ist auch ein barockes Reich der Trugbilder, optischen Täuschungen, Träume, Scheinwelten und sich unendlich entfaltenden Allegorien. Barock- und Gegenwartsdrama fallen mit diesem Stück in eins, und 10 Walter Benjamin, „Was ist das Epische Theater”, S. 523, in: Ders., Gesammelte Schriften II2, Frankfurt am Main 1977, S. 519-531. 11 Zitiert nach dem Programmheft der Weimarer Inszenierung von „Faust II”. <?page no="55"?> Es wird ein Mensch gemacht 55 Chétouane, so meine These, nimmt genau diese Übereinanderfaltung zur Grundlage seiner Choreographie. Dabei führt der Hinweis auf den Cyborg aus „Terminator 2” weiter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dieser ist zum Beispiel in der Lage, sich oder auch nur seine Extremitäten mit Gegenständen und Lebewesen seiner Umgebung zu verbinden, in einer Küche aus seinem Arm ein Messer zu machen, sich mit einem Auto zu verschmelzen, die Gestalt anderer Menschen anzunehmen etc. Chétouanes Tänzer hingegen vergleichen immer wieder ihre Körperteile mit dem Außenbild der im Raum vorhandenen Gegenstände, etwa Beine oder Arme mit Stuhlbeinen. Und in solchen Momenten geschieht etwas Seltsames: Das Stuhlbein scheint sich dann gleichermaßen zu beleben wie sich das Körperglied quasi vom restlichen Körper abzutrennen beginnt und sich mit dem Holz des Stuhls verbindet. Ein andermal liegen die drei Tänzer fast nackt neben- und übereinander, während ihre Arme zappeln und sich aneinander reiben. Für einen Moment ist nun nicht mehr klar sagbar, welcher Arm zu welchem Körper gehört, ob sie überhaupt noch zu einem Körper gehören, oder ob nun nicht vielmehr die Arme abgetrennt sind von den Körpern, sich zusammenschließen und einen eigenen Zeit-Raum teilen. Es liegt also nahe, von der protheischen Logik, die den „Faust II” beherrscht, auf das Körpergeflecht der Chétouan’schen Tänzer zu schließen. Es geht um Körper, die in dem Moment, da sie bei sich zu sein scheinen, schon wieder andere sind, unaufhörlich. In diesem Sinn fällt aber auch die definierende Körpergrenze, die das Innen (das „Bei-sich- Sein”) von einem Außen (die anderen Dinge und Körper) abzutrennen sucht. Diese Körper sind im eigentlichen Sinn des Wortes „außer sich”. Es sind in einem sehr konkreten Sinn offene, geöffnete Körper, Körper, denen man vielleicht die Haut abgezogen hat - oder noch nicht übergezogen: ”Es wird ein Mensch gemacht.” Oder anders gesagt: Es handelt sich eher um Fleisch als um Körper. Dies entspricht aber nicht nur der Platzierung des zweiten Faust-Aktes in einem anatomischen Laboratorium, sondern auch dem Status dieses Aktes im Drama selbst: eine offene Passage. Die angeführten Beispiele illustrieren zudem, wie sich während der permanenten Suche nach dem Zustand des „Außer-sich-Seins” ein Beziehungsnetz zwischen Körpern, Raum und Dingen - kurz: zwischen allem Anwesenden - entspinnt. Und auch die Beschaffenheit der Knoten, über die das Netz sich herstellt, lässt sich ihnen entnehmen. Es sind Korrespondenzen oder auch Ähnlichkeiten: Tänzerbein und Stuhlbein, oder auch Arm und Arm. Solche Korrespondenzen lassen sich natürlich nur begrenzt kalkulieren, da im Raum viel mehr passiert, als sich bewusst beherrschen lässt, Ähnlichkeiten immer wieder selbständig entstehen und das Netz der Gesten, Blicke und Verknüpfungen von Körpern und Gegenständen sich auch selbst spinnt. Chétouane schickt seine Tänzer daher auf die Suche nach einem Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit, der dieses Überborden weder kontrolliert, noch es in die Beliebigkeit entlässt. Dem entspricht eine völlig ver- <?page no="56"?> Sebastian Kirsch 56 änderte Konzeption dessen, was man sonst als „Souveränität” zu bezeichnen pflegt. Begründet diese sich traditionellerweise durch eine strikte Grenzziehung zwischen Innen und Außen, so geht es hier darum, gerade die Öffnung ins Außen, zum Unbeherrschbaren zum Grund einer anderen Souveränität zu machen. Der Einspruch gilt der gewohnten Trennung von „Resten”, die keinem souveränen Willen gehorchen wollen und dem Subjekt daher nicht zugerechnet werden, und vermeintlich beherrschbaren „Instrumenten” wie Augen, Armen und Beinen. Lacan zählt beispielsweise auch den Kot zu den „Organen”, weil er exakt an der Grenze angesiedelt ist, an der über Innen und Außen entschieden wird. 12 Auf Chétouanes Bühne hingegen verselbständigen sich umgekehrt gerade Arme, Beine und vor allem auch Augen. 4 Mit der Ähnlichkeit ist zugleich die zentrale Kategorie des vorneuzeitlichen Wissens angesprochen, der „Epoche der Ähnlichkeiten” (Foucault), die den Weltbezug aller Dinge und Lebewesen über Analogien und sympathetische Beziehungen herstellte. 13 Auch der menschliche Körper wird auf dieser epistemologischen Grundlage noch nicht als einheitliches, autonomes System wahrgenommen, sondern als Konglomerat von Partialobjekten, die in die Umwelt eingebettet sind: Die Epoche des Analogiedenkens liegt vor der Verbildlichung des Einzelnen, vor der Erfindung definierender Körperkonturen, die sich analog zur zentralperspektivischen Erschließung der Welt seit der Renaissance herausbildeten. Fast beiläufig zitiert „Tanzstück 2” denn auch die wichtigste Bühnenform, die die vorperspektivische Weltauffassung hervorbrachte, die „Simultan-” oder „Stationenbühne” nämlich. 14 Auf dieser konnten sich zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse oder sogar die Lebensstadien einer einzigen Figur in ein und derselben Landschaft ansiedeln. Diese Anlage bezeugt die Herkunft der Stationenbühne aus der Prozession und dem Kreuzweg. Ihr Betrachter ist daher auch noch nicht der moderne Zuschauer, der das Bühnengeschehen von einem einzigen perspektivisch eingerichteten Punkt aus anschaut, sondern ein quasi serieller Betrachter, der Station für Station abschreitet, selbst wenn er realiter bereits auf ein und demselben Platz bleibt. Auch „Tanzstück 2” macht den Zuschauer bisweilen zu einer Art innerlichem Prozessionsteilnehmer. Zum Beispiel steht Burkhardt einmal an der seitlichen Fensterfront des Raumes und öffnet eines der Fenster. Zur glei- 12 vgl. Jacques Lacan, Der Blick als Objekt klein a, S. 97. 13 vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971. 14 vgl. zur Stationenbühne auch Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 160-171. <?page no="57"?> Es wird ein Mensch gemacht 57 chen Zeit schultert Willens eine gerahmte Fensterscheibe, die zuvor zur Bühnenmitte getragen wurde, und nimmt sie auf den nackten Rücken - ein Bild, die übrigens deutlich an die Ikonographie der Passion und an den Kreuzgang Jesu erinnert. Im Hintergrund spricht Zouk unterdessen Goethe- Texte. In diesem Moment verbinden sich die Männer (qua Fenster) miteinander, teilen einen Zeit-Raum, der ein deutlich anderer ist als jener, in dem Zouk spricht. Vielleicht ist es aber auch nur der Raum, den die beiden Männer teilen, während sie gleichzeitig in unterschiedlichen Zeiten sind; beispielsweise könnte einer der beiden in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft sein - so könnte der Fensterträger sich etwa in jenem künftigen Moment bewegen, in dem einmal das Fenster ausgebaut werden wird, oder er könnte in der Vergangenheit sein, in der das Fenster gebracht wurde. Tatsächlich erleben laut Chétouane die Tänzer selbst solche Beziehungsmöglichkeiten äußerst konkret. Sie sagen hinterher beispielsweise: „In diesem Moment konnte ich dich nicht ansprechen, denn du warst in einer anderen Zeit. Du warst in der Vergangenheit.” Nun beruht das historische Analogiedenken allerdings noch auf der Vorstellung eines harmonischen, göttlich geordneten Kosmos, in dem alle sichtbaren Dinge zur selben Zeit lesbare Zeichen im großen „Buch der Welt” sind. Spätestens mit der epistemologischen Wende um 1600 geht dieser Zusammenhang verloren. Übrig bleiben einerseits funktionslos gewordene Bruchstücke, die untereinander austauschbar geworden sind und ihre kosmische Verbindung wie ihre wechselseitige Beziehung aufgegeben haben. Sie werden fortan das sprachlose Material abgeben, über dem sich die perspektivische und rationalistische Einrichtung der Welt erheben kann. Und andererseits wird die Ähnlichkeitswahrnehmung, die ihre weltbzw. diskursbildende Kraft verloren hat, auf die „dunkle Rückseite” des neu entstehenden Subjekts verbannt, wo sie beispielsweise die Zonen des Traumes, des Wahnsinns oder überhaupt des sogenannten „Unbewussten” bestimmt. Oder vom Heute aus formuliert: Jene Wahrnehmungsmodi und Codes, die im neuzeitlichen Subjekt den Bereich des „Unbewussten” strukturieren, sind im historischen Analogiedenken noch externalisiert und stehen in einem anderen Verhältnis zum Sichtbaren sowie im Kontext eines anderen Zeichentypus. In dieser Perspektive nimmt die historische Barockepoche des 17. Jahrhunderts eine Sonderstellung ein. Noch einmal häuft und inszeniert sie die Bruchstücke und Partialobjekte, die sich allerdings nicht mehr in den harmonischen Kosmos des Analogiedenken eingebettet finden, sondern ihren einstigen Bindungen entrissen, sprachlos geworden und in ihre pure Sichtbarkeit gehüllt sind. Es sind, so Foucault, nur mehr „Gespinste der Ähnlichkeit”. 15 Anders gesagt: Es handelt sich beim Barock gewissermaßen um eine (Neu-)Veröffentlichung der ähnlichkeitsgeleiteten, stummen Be- 15 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 83. <?page no="58"?> Sebastian Kirsch 58 standteile des neuzeitlichen „Unbewussten” die freilich nicht mehr im strukturellen Zusammenhang des Ähnlichkeitsdenkens zu diskursivieren, zu füllen und zu ordnen sind. In diesem Kontext entsteht nun auch ein bestimmter Bildtypus, der sich wie die katastrophische Reprise mittelalterlicher Simultandarstellungen ausnimmt: Das 17. Jahrhundert erfindet die anarmophotische Simultanmontage, die keine gleichzeitigen Stationen mehr versammelt, sondern nur mehr von verschiedenen Geometralpunkten her konstruierte Anamorphosen. 16 Um diese verzerrten Darstellungen zu entschlüsseln, muss der Betrachter beständig seinen Standort ändern und nacheinander jene Punkte einnehmen, von denen aus der Maler die einzelnen Segmente aufs Bild gebracht hat (wobei es auch „unmögliche”, mittels Spiegelreflexionen erstellte Konstruktionspunkte gibt). Der eine, frontale Standpunkt, von dem aus das Bild sich als Ganzes erschließen würde, ist freilich verloren. Je weiter das Anamorphosenspiel getrieben wird, desto hoffnungsloser verfällt der Betrachter jener Spiegellogik, die ich oben am Beispiel der „Villa Pallagonia” skizziert habe. Er gerät „außer sich” und wird Bestandteil eines unabschließbaren Prozesses, in dem jede entschlüsselte Anamorphose immer nur wieder zu einer anderen führt: Ein „Bombardement” von Anamorphosen, deren Beziehungsnetz nicht mehr in einer vorangehenden Ordnung gegründet ist, sondern immer wieder neu und anders entsteht. Der Barock erfindet also, so ließe sich resümieren, einen Bildtypus, der einerseits die zentralperspektivische Konstruktion voraussetzt, sie aber andererseits radikal überschreitet und in die permanente Bewegung überführt. Es ist ein Bild „jenseits des Bildes”, ein sich beständig vervielfältigendes Bild, das offenbar auch das perpetuum mobile von Exorzismus und Fetischismus hinter sich lässt. Strukturell analog ist ihm eben jener Körper, der im selben Augenblick „bei sich” und doch schon ein anderer geworden ist. Damit aber sind wesentliche Momente benannt, die sich auch in „Tanzstück 2” beobachten lassen. 16 Lacan diskutiert die Anamorphose am Beispiel von Hans Holbeins „Gesandten” an prominenter Stelle der Vorlesung „Vom Blick als Objekt klein a”. In der Anamorphose bündeln sich, kurz gesagt, die Eintragung des Begehrens und der Zeitlichkeit in die perspektivische Konstruktion, der Aspekt der Umkehrung und Umwendung, der nicht nur für die barocke Ästhetik, sondern auch für den Umbruch um 1600 selbst paradigmatisch ist, das „vanitas”-Motiv, das die barocke Melancholie begründet sowie der Moment des „Erblicktseins”, der den Betrachter vor dem Bild entortet und zum Bestandteil der Anordnung macht. Überdies liegt es nahe, die Anamorphose aus Lacans Begriffsbildung heraus als Version des „imaginären Phallus” zu deuten, als das grundlegende Mangelobjekt also, durch dessen Verbot (Privation bzw. Kastration) die Zeugungskraft des „symbolischen Phallus”, in diesem Fall der perspektivischen Ordnung, überhaupt erst zustande kommt. Auch auf diese Zusammenhänge rekurriert „Tanzstück 2” deutlich, etwa wenn Willens gegen Ende mit blauer Farbe zwei große Flecke auf die Fensterscheibe malt, die an gleichermaßen starrende wie blinde Oszellen erinnern. <?page no="59"?> Es wird ein Mensch gemacht 59 5 Man könnte nun verschiedene Überlegungen zum Zusammenhang der Anamorphose mit den Größen des Begehrens oder der barocken Melancholie anschließen oder auch über das bereits angedeutete Verhältnis der Tänzerkörper zur Figur des Chores nachdenken. Ich möchte zum Schluss jedoch noch einmal auf meine obige Bemerkung zurückkommen, dass die Tänzer in „Tanzstück 2” quasi hautlos sind und die Choreographie eher Fleisch denn Körper zu sehen gibt. Denn auch diese Gegenüberstellung lässt sich historisch genauer fassen und überdies mit der Tatsache verbinden, dass Goethes „Faust” als „Osterdrama” gilt (und Chétouanes „Faust II”-Premiere auf den Karfreitag 2008 fiel). Dass die Choreographie von „Tanzstück 2” ohnehin bisweilen an die Passionsikonographie erinnert, habe ich ja bereits erwähnt. In einem kurzen Essay mit dem Titel „Können Bilder töten? ” hat die französische Philosophin und Kunsttheoretikerin Marie-José Mondzain zwischen zwei Bildtraditionen und -strategien unterschieden, die sie beide in der Tradition des Katholizismus verortet und deren Geschichte sie bis zu dem ersten großen christlichen Bilderstreit vor über zehn Jahrhunderten zurückverfolgt: Das „Inkarnationsbild” - die Fleischwerdung also - und, ihm entgegengesetzt und doch mit ihm verschränkt - das „Inkorporationsbild”, die Verkörperung. 17 Was ist ein Inkarnationsbild? Die Inkarnation ist zunächst nichts anderes als eine Bildwerdung des Undarstellbaren in einem Träger, der dafür nicht prädestiniert ist: Die Inkarnation Christi etwa ist das Sichtbarwerden von Gottes Angesicht in einem menschlichen Körper. Bereits an diesem Beispiel kann man sehr gut sehen, dass Inkarnieren weder bedeutet zu imitieren, noch zu reproduzieren oder zu simulieren. Christus tut nichts desgleichen mit Gott, und dennoch wird Gott „in” ihm sichtbar. Ein anderes Beispiel für die Inkarnation liegt in der etwas sentimentalen Antwort des Priesters, der dem Kind, das fragt, wo es Gott denn sehen könne, erklärt, Gott zeige sich in jedem lächelnden Gesicht. Entscheidend ist jedenfalls, dass die Beziehung, die zwischen Inkarniertem und Inkarnation besteht, einen unüberwindlichen Abstand markiert. Mondzain schreibt über den inkarnierenden Bildtypus deswegen: „Das Bild ist von Grund auf irreal, und darin, in seiner Rebellion gegen jede Substantialisierung seines Inhalts, liegt seine Kraft. Inkarnieren bedeutet, Fleisch und nicht Körper zu geben.” 18 Durch die Kluft bilden sich im Vorgang der Inkarnation drei getrennte, aber gleichzeitig voneinander untrennbare Instanzen heraus: Das Unsichtbare (Gott), das Sichtbare (der Mensch Jesu, das lächelnde Gesicht) und der Blick eines Betrachters, der beide in Beziehung setzen muss. Demgegenüber zielt die Inkorporation oder Verkörperung immer auf die Verschmelzung eben dieser drei Instanzen. Inkorporiertes und Inkorporierendes sollen miteinan- 17 Marie-José Mondzain, Können Bilder töten? , Zürich-Berlin 2006. 18 Ebd., S. 24. <?page no="60"?> Sebastian Kirsch 60 der, und zusammen mit ihnen auch noch die Zeugen der Inkorporation verschmelzen. Mondzain: „Einen Körper zu geben, bedeutet, die konsumierbare Instanz irgendeines Realen und Wahren Gästen anzubieten, die mit dem Körper, mit dem sie identifiziert werden, verschmelzen und darin aufgehen.” 19 In dieser einheitsstiftenden Funktion ist das Inkorporationsbild in der Lage, einen institutionellen Körper zu formen und eine Gemeinde zu bilden. Die katholische Kirche hat nun, so Mondzain, beides praktiziert. Mit den inkarnierenden Funktionen hat sie den Bildern „Leben und Freiheit gegeben”, 20 die inkorporierenden Funktionen hingegen hat sie als institutionelles Machtmittel eingesetzt. In ihrem zentralen Ritus, dem Abendmahl, sind beide Funktionen bis zur Ununterscheidbarkeit verschränkt: Brot und Wein ähneln einerseits der Gottheit in nichts. Sie sind ein Inkarnat, in dem die Gottheit erscheint. Andererseits jedoch ist nach katholischem Dogma das, was nach der Inkarnation von Leib und Blut in Brot und Wein nicht dem Blick, sondern dem Gaumen der Gläubigen angeboten wird, tatsächlich die reale Substanz Christi und nicht sein Bild. Dieser Übergang von der Inkarnation zur Inkorporation tilgt den Distanzraum zwischen den drei Instanzen. Er zwingt den Zeugen eine Identifikation auf, die sie in der Substanz eines imaginären Körpers verschlingt, zu Gemeindemitgliedern macht und von jeder Alterität, jeder Möglichkeit des Abseitsstehens abschneidet. Deswegen haben sich machtkritische kirchliche Gegenbewegungen, insbesondere natürlich die Reformation, immer wieder an der Frage nach symbolischem oder realem Gehalt des Abendmahls entzündet: Es ist der Versuch, die Falte wieder aufzutrennen, in der Inkarnation und Inkorporation ineinander übergegangen sind. Andererseits hat sich laut Mondzain die (moderne) Kunst aus eben diesem Grund von ihrem kirchlichen Überbzw. Unterbau losgesagt. Die Künstler entfalteten „eine ikonische Welt, die der freien Inkonsistenz der Bilder die Treue hielt und sich gegen jede institutionelle Eingliederung auflehnte. Die Kunst brach mit der Kirche, um der bildlichen Inkarnation des Unsichtbaren treu zu bleiben.” 21 Damit scheint mir aber auch sehr genau der 19 Ebd., S. 24. 20 Ebd., S. 24. 21 Ebd., S. 26. Insgesamt ist allerdings anzumerken, dass Mondzains Gegenüberstellung etwas holzschnittartig ausfällt. Zu fragen wäre nicht nur, ob die beiden Bildtypen wirklich zu trennen sind, sondern auch, ob nicht auch die Inkarnation eine repräsentative Seite in sich trägt (und es trotz allem vielleicht auch einen nicht-repräsentativen Gebrauch der Inkorporation gibt). Nicht zufällig kommt Mondzain zum Schluss kurz auf Gregor von Nyssa zu sprechen, der im Kontext der Trinitätslehre bereits, ähnlich wie viel später Ignatius von Loyola, die Inkarnation zur institutionellen Machttechnik umgebaut hat. Demnach lässt sich Macht gerade durch die permanente Vorführung solcher Bilder festigen, bei denen der Betrachter sich beständig versichern muss, dass ihm der sich inkarnierende Gott auch tatsächlich erscheint... <?page no="61"?> Es wird ein Mensch gemacht 61 Status der Bilder umrissen, die sich auf Laurent Chétouanes Bühne herstellen. Es sind Inkarnationsbilder, die zudem auf der Rückseite des neuzeitlichen perspektivischen Paradigmas spielen. Diese Bestimmung betrifft übrigens auch den Status der inszenierten Texte: In einer Arbeit wie „Tanzstück 2” wird Goethes Dramengrundlage gerade nicht inkorporiert, also verkörpert oder qua simulierender Nachahmung reproduziert - was für viele Zuschauer noch immer unerträglich zu sein scheint - sondern vielmehr inkarniert und zur Erscheinung gebracht. In diesem, und nur in diesem Sinn kann man bei Chétouanes Theater von einem Bildertheater sprechen, das sich dem Diskurs der Exorzisten wie der Fetischisten radikal entzieht. Denn, so Mondzain: „Das Bild hat weder den Anhängern der Idolatrie noch den Ikonoklasten nachgegeben. Es bahnt sich unbeirrbar seinen eigenen Weg, weitab von den Wächtern, die es kontrollieren oder verdammen.” 22 22 Ebd., S. 26. <?page no="63"?> Henri Schoenmakers in Zusammenarbeit mit Wilfried Passow (†) und Willmar Sauter 1 Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort Carmen in Worten und Bildern Einleitung Theateraufführungen bewirken Bilder im Kopf der Zuschauer, Bilder, die wir lange mit uns herumtragen können, vor allem wenn sie emotional konnotiert sind. Aber auch Worte erzeugen Bilder. In der Produktionspraxis von Theateraufführungen, die sich auf Dramentexte stützen, sind Prozesse vom Wort zum Bild und vom Bild zum Wort ganz üblich. Vom Wort zum Bild auf der Produktionsseite und vom Bild zum Wort auf der Rezeptionsseite. Ein Wort deutet Klassen von Objekten und allgemeine Kategorien an. Das Wort 'Hund' deutet die Menge von allen möglichen Hunden an. Das Bild eines spezifischen Hundes kann man nicht mit nur einem solchen Substantiv, sondern nur mit einer Reihe von Worten vermitteln und sogar dann nur annähernd. Im Bild sieht man dagegen konkrete Exemplare mit ganz unterschiedlichen Merkmalen, zum Beispiel einen Dackel oder einen Pitbull, die nicht nur ganz unterschiedliche Merkmale haben, sondern auch ganz unterschiedliche Wirkungen erzeugen können. Oft sind es nicht die intersubjektiv wahrnehmbaren Charakteristiken, sondern die Wirkungen, die benutzt werden, um das Objekt zu beschreiben. Ein Wort wie 'erotisch' sagt nicht unbedingt viel aus über das, was man genau sehen kann, sondern sagt sehr viel aus über eine bestimmte Erfahrung oder Wirkung. Auf Grund dieser Erfahrung oder Wirkung projizieren wir bestimmte Merkmale in eine Figur, wenn sie nicht in spezifischeren Worten beschrieben wird. Ein Bild einer Figur dagegen zeigt bestimmte Merkmale, welche dann eventuell eine derartige Erfahrung oder Wirkung auslösen, die man mit dem Wort 'erotisch' beschreiben könnte. In diesem Beitrag wird über einen Teil eines explorativen Projektes berichtet, das als vornehmliches Ziel hatte eine Methode zur Festlegung der Wahrnehmung, Erfahrung und Wirkung einer theatralen Figur zu entwickeln. Ein 1 Die Methodologie der hier beschriebenen Forschung ist zusammen mit Wilfried Passow in den neunziger Jahren entwickelt worden. Die Forschung ist mit Hilfe von Willmar Sauter und Wilfried Passow in Stockholm, München und Utrecht durchgeführt worden. Die statistische Auswertung der Daten konnte erst kürzlich vorgenommen werden. <?page no="64"?> Henri Schoenmakers 64 weiteres Ziel war es, mit einer solchen Methode die Wahrnehmung, Erfahrung und Wirkung der gleichen Figur in unterschiedlichen Kulturgebieten zu analysieren. Die Forschung In der Rezeptionsforschung hat bis jetzt die Frage nach der Beziehung zwischen kulturellem Hintergrund der Zuschauer und ihrer Reaktion auf theatrale Figuren oder Theateraufführungen allgemein wenig oder gar keine Aufmerksamkeit bekommen. Um herauszufinden, ob das zu Recht so ist, wurde eine explorative Forschung durchgeführt. Die Frage war: Können wir eine Methode entwickeln, um herauszufinden wie bedeutsam der kulturelle Hintergrund (vorläufig in der Bedeutung 'als gehörend zu einer bestimmten Nationalkultur'), als Variable in der Rezeptionsforschung im Vergleich zu den üblichen soziografischen Variablen, wie Gender, Alter, usw. ist? Ein Problem bei einer solchen Thematik war natürlich die Frage: Sollte man weit auseinander liegende Kulturen, zum Beispiel nordische und mediterrane Kulturen erforschen oder gerade Kulturen, die nah beieinander liegen? Wir entschieden uns dafür einander nahe liegende Kulturen zu wählen. Wenn dort noch Unterschiede gefunden werden, dann wird klarer, wie wesentlich der kulturelle Hintergrund für die Wahrnehmung und Erfahrung der Zuschauer ist. Allerdings ist es dann ein Problem, dass, wenn man bei nahe liegenden Kulturen keinen Unterschied findet, das Resultat noch wenig über mögliche Unterschiede bei weiter auseinander liegenden Kulturen aussagt. Wir haben letztlich die nahe beieinander liegenden Kulturgebiete Deutschland, die Niederlanden und Schweden gewählt. In der vorliegenden Studie werden jedoch vor allem die Forschungsergebnisse der Vergleichsstudie zwischen deutschen und niederländischen Studenten besprochen. Eine nächste Frage war, welche theatrale Figur man wählen sollte. Manche berühmten theatralen Figuren sind nur Element einer bestimmten Kultur und können in einer anderen Kultur eine unwichtige Rolle spielen. Man muss hierbei an bestimmte Figuren von Goethe oder Schiller denken, die in nicht-deutschsprachigen Kulturen viel weniger bekannt sind. Das gleiche kann für wichtige französische theatrale Figuren von Corneille oder Racine gelten. Wir brauchten eine theatrale Figur, die in den Ländern unserer Forschung bekannt ist, aber nicht aus diesen Ländern stammt. Da der erste Vergleich zwischen Deutschland und den Niederlanden stattfinden sollte, haben wir in beiden Ländern Erstsemester in der Theaterwissenschaft gebeten, die berühmten männlichen und weiblichen theatralen Figuren, die sie kannten, so wie die wichtigsten Merkmale dieser Figuren, aufzulisten. Wir konnten dann die Figur, die in beiden Ländern am meisten erwähnt wurde, für die Forschung auswählen. <?page no="65"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 65 Bei den deutschen Studenten wurden wie erwartet Faust, Gretchen und Mephisto erwähnt, die von den niederländischen Studenten gar nicht genannt wurden. Die Figur, die beide Länder am meisten gemeinsam hatten, war die Figur von Carmen (siehe Tabelle 1). Diese Figur wurde dann auch für unsere Forschung gewählt. Tab. 1: Berühmte theatrale Figuren, genannt durch deutsche und holländische Studenten der Theaterwissenschaft (Erstsemester). Carmen, ihre Merkmale und die Carmenbilder Wie kann man die Transferprozesse vom Bild zum Wort bei Zuschauern analysieren? Um eine Methode zu entwickeln haben wir: (a) die Charakteristiken inventarisiert, mit denen Prosper Merimée in seiner 1848 erschienenen Novelle die Figur von Carmen mit Beschreibungen, Eigenkommentar und Fremdkommentar charakterisiert hat 2 (b) Auf die gleichen Weise wurde das Libretto der Oper von Henri Meilhac und Ludovic Halévy von 1875 analysiert; (c) Diese Daten haben wir mit Merkmalen, die die Befragten in dem erwähnten Fragebogen über berühmte theatrale Figuren als Merkmale von Carmen auflisteten, ergänzt. 2 Siehe Pfister 1976. Berühmte theatrale Figuren genannt von Erstsemestern; gelistet in der Reihenfolge der Frequenz (>5: n = 110) in fett die Figuren, die in beiden Ländern erwähnt wurden DEUTSCHLAND • Gretchen • Faust • Carmen • Hamlet • Mephisto • Romeo • Juliet • Othello • Oedipus • Medea • Ophelia • Wilhelm Tell • Shylock NIEDERLANDE Hamlet Carmen Romeo Juliet Penthesileia Medea Ophelia Macbeth Cyrano de Bergerac Phedre <?page no="66"?> Henri Schoenmakers 66 Mit Hilfe von diesen Daten ist ein Fragebogen mit Merkmalen der Figur Carmen erstellt worden, die Produzenten und Rezipienten als wichtig bezeichnet haben (siehe Tabelle 2). Diese Merkmalliste wurde in dem Fragebogen mit Intensitätsskalen ergänzt, mit denen man angeben konnte, in welchem Maß bestimmte Merkmale als zutreffend für die Figur betrachtet werden. 3 Tab. 2: Liste mit den Carmenmerkmalen Berühmte theatrale Figuren existieren in den Köpfen von Menschen einer bestimmten Kultur, auch wenn sie noch nie eine Aufführung, in der diese Figur dargestellt wird, gesehen haben. Medea, Hamlet, Oedipus, Antigone, Romeo, Juliet, Carmen usw. - sind Figuren, die Elemente eines kollektiven Gedächtnisses von mehreren oder vielleicht allen europäischen Kulturen sind. Das ist der Grund, dass wir erst das Bild, das unsere Befragten in ihrem Kopf herumtragen, analysiert haben. Dieses Bild ist als Gedächtnisbild bezeichnet worden. Nach der Frage nach dem Gedächtnisbild zeigten wir den Befragten eine Auswahl von Carmenfiguren, basierend auf berühmten Inszenierungen in der Oper und im Film. Dazu gehörten sowohl Abbildungen der ersten Inszenierung in Paris 1875 als auch Carmen-Inszenierungen und Filme aus den achtziger Jahren (siehe die Anlage für die Carmenbilder und Tabelle 3 für 3 Der Fragebogen wurde in die Landessprache übersetzt. Allerdings wurde in einem separaten Projekt einen Fragebogen in englischer Sprache und in holländischer Sprache benutzt, um herauszufinden, ob wegen der Übersetzungsprobleme Unterschiede gefunden werden konnten. Das war nur bei 'fiery' der Fall, weshalb es mit der Bezeichnung 'hot blooded' ergänzt würde. Carmen Merkmale • Temperamentvoll • Verführerisch • Schuldig • Sympathisch • Stark • Egoistisch • Feurig • Mitleiderregend • Leidenschaftlich • Gefährlich • Kompliziert • Frei • Hart • Erotisch • Teuflisch • Temperamental • Seductive • Guilty • Sympathetic • Strong • Selfish • fiery / hot blooded • Pitiable • Passionate • Dangerous • Complicated • Uninhibited • Hard • Erotic • devilish <?page no="67"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 67 die Liste der Schauspielerinnen). Die Überlegungen dabei waren: Um einen Zusammenhang mit dem kulturellem Hintergrund zu analysieren, sollten unterschiedliche Abbildungen der Figur von Carmen, gewählt aus Inszenierungen, die chronologisch und geographisch weit auseinander liegen, benutzt werden. Dann entsteht am wenigsten das Risiko, es mit einer zufälligen Präferenz einer Kultur zu tun zu haben. Auch ist die Chance dann am geringsten, dass eine Aufführungstradition, die in einem bestimmten Kulturgebiet dominant ist, die Resultate beeinflussen könnte. Bei der Forschung haben wir nicht nur den Fragebogen mit den Charakteristiken und deren Intensitäten benutzt, die auch bei der Analyse des Gedächtnisbildes angewandt wurde, sondern auch die folgenden Fragen hinzugefügt: „Inwieweit stimmt die Schauspielerin/ Figur mit dem Bild, das Sie von der Rolle haben überein? ”, und „Ist die Schauspielerin, die Carmen spielt, eine gute Wahl für die Rolle? ” Bei der Benutzung einer solchen Reihe von Figuren aus der Aufführungsgeschichte von Carmen ist es notwendig zu bedenken, dass die Wahrnehmung, Erfahrung und Wirkung einer Figur in der Vergangenheit ganz anders gewesen sein kann als bei Zuschauern so viele Jahrzehnte später. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss also betont werden, dass eine Methode, wie hier präsentiert, nicht geeignet ist, um etwas über die historische Rezeption auszusagen. Es ist nur ein konstruiertes Messinstrument, um bei heutigen Zuschauern so intersubjektiv wie möglich Vergleiche in Wahrnehmung, Erfahrung und Wirkung durchführen zu können. In einer nächster Phase des Projektes möchten wir aber auch versuchen, die historische Rezeption einigermaßen zu rekonstruieren. „Einigermaßen”, weil man von den sehr beschränkt zur Verfügung stehenden Rezeptionsquellen abhängig ist. Außerdem sind Rezeptionsquellen auf eine Aufführung, d.h. nicht auf das statische Bild sondern auf das dynamische Bild, das im Laufe der Aufführung entstanden ist, bezogen, wodurch der Vergleich von vorneherein nur sehr beschränkt möglich ist. Für unsere Forschung sind Carmengestalten gewählt worden, die in Tabelle 3 in chronologischer Folge aufgelistet sind (die aber in der Forschung durcheinander präsentiert wurden). 4 4 Die Bilder von Grace Bumbry, Julia Miguenes Johnson und Laura del Sol wurden aus forschungstechnischen Gründen in zwei unterschiedlichen Ausschnitten gezeigt, um herauszufinden, inwieweit der Ausschnitt (nur Kopf oder Kopf und Dekolleté) bei den Probanden zu unterschiedlichen Bewertungen führte. Dieser Aspekt ist in diesem Bericht, weil es keine signifikanten Unterschiede gab, nicht weiter berücksichtigt; nur die Bilder mit einem Ausschnitt nur des Kopfes wurden verwendet. <?page no="68"?> Henri Schoenmakers 68 Tab. 3: Die benutzten Carmengestalten in chronologischer Folge (zwischen Klammern die Folge in der Forschung) A (19) 1875 Celestine Galli-Marié Opera Comique, Paris B (2) 1905 Emmy Destin Covent Garden, London C (12) 1911 Genevieve Vix Opera Comique, Paris D (11) 1927 Dolores del Rio The Loves of Carmen (Raoul Walsh) E (6) 1935 Martha Eggert Die Blonde Carmen (Victor Janson) F (5) 1961 Grace Bumbry Paris, Opera Comique H (14) 1972 Marilyn Horne Metropolitain, New York I (3) 1983 Laura del Sol Carlos Saura, Carmen K (4) 1983 Zehava Gal La Tragédie de Carmen * (Peter Brook) L (8) 1983 Eva Saurova La Tragédie de Carmen * (Peter Brook) M (10) 1983 Helene Delavault La Tragédie de Carmen * (Peter Brook) O (7) 1984 Julia Migenes Johnson Carmen (Francesco Rosi) Die Resultate Die Zahl der Probanden ist in Tabelle 4 aufgelistet. Wie üblich bei Erhebungen im Bereich der Theaterwissenschaft ist die Zahl der weiblichen Befragten viele Male größer als die der männlichen Befragten. Um bei der statistischen Auswertung eine Interaktion zwischen der Variable Gender und kultureller Hintergrund zu vermeiden sind für unsere Zielsetzung wesentliche interkulturelle Analysen nur mit weiblichen Probanden durchgeführt worden. <?page no="69"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 69 Tab. 4: Befragte in den Niederlanden, in Deutschland und in Schweden Frauen Männer Total NL 47 24 71 DE 43 11 54 SW 44 11 55 Total 134 46 180 Eine weitere Entscheidung betraf die Frage, was für ein Kriterium man benutzen könnte, um die Bedeutung der Variable kultureller Hintergrund festzustellen. Weil es sich bei Carmen um eine theatrale Figur handelt, die mit dem Streit der Geschlechter assoziiert wird, bot der Vergleich mit der Variable Gender ein überzeugendes Kriterium und zwar auf folgende Weise: Wenn die Unterschiede bei der Erfahrung der Figuren zwischen Kulturgebieten größer sind als die zwischen Frauen und Männern innerhalb eines Kulturgebietes, dann ist das einen Grund, um der Variable kultureller Hintergrund in der Rezeptionstheorie und Forschung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eine dritte Entscheidung, die getroffen worden ist, betrifft die Signifikanzgrenze. Die statistischen Daten sind mit einem Signifikanzniveau von 1% getestet, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Daten unabhängig von einander sind, wodurch Chance-Kapitalisierung auftreten könnte. 5 Das Kriterium, mit dem die Bedeutung der Variable kultureller Hintergrund festgestellt werden soll, ist - wie erwähnt - zu dem Zweck gewählt worden, diese Resultate mit den Unterschieden bezüglich der Variable Gender zu vergleichen. Tabelle 5 zeigt, bei wie viel Prozent der Variablen signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Antworten im Fragebogen gefunden wurden. Daraus wird klar, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männer extrem gering sind. Allerdings gelten diese Resultate natürlich nur für die befragten Studierenden. Tab. 5: Unterschiede zwischen Männern und Frauen (1% Signifikanzniveau) NL 0% DE 0% SW 1% 5 Siehe Mellenbergh 1976. <?page no="70"?> Henri Schoenmakers 70 Wie verhält es sich mit den Unterschieden zwischen den Ländern? Tabelle 6 zeigt die Unterschiede bei der Variable kultureller Hintergrund. Wir können schlussfolgern, dass die Unterschiede zwischen Ländern erheblich größer sind als zwischen Männern und Frauen in einem Land. Für unsere Hauptfrage, ob der kulturelle Hintergrund nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte, ist das ein wichtiges Ergebnis: tatsächlich ist es notwendig der Variable kultureller Hintergrund mehr Aufmerksamkeit in der Rezeptionsforschung zu schenken. Allerdings fällt auf, dass die Unterschiede zwischen Schweden einerseits und Deutschland und den Niederlanden anderseits erheblich größer sind als die zwischen Deutschland und den Niederlanden. Tab. 6: Unterschiede zwischen Kulturgebieten (Signifikanzniveau 1%) 6 Frauen Deutschland / Niederlande 2% Deutschland / Schweden 7% Niederlande / Schweden 6% Diskussion Welche Unterschiede resultieren aus der Untersuchung, und bei welchen Bildern der Carmenfigur sind diese besonders frappant? Es ist an dieser Stelle nur möglich einige Beispiele zu erwähnen. Ausgewählt worden sind (a) der Vergleich des Gedächtnisbildes bei den niederländischen und deutschen Probanden. (b) die historische Carmenfigur mit dem größten Unterschied zwischen deutschen und niederländischen Befragten und die Figur, bei der die größte Übereinstimmung gefunden wurde. 6 Um Interaktionen zwischen Gender und Kulturgebiet zu vermeiden, sind nur die weiblichen Befragten der beiden Länder verglichen. <?page no="71"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 71 Fig. 1: Kultureller Hintergrund und Gedächtnisbild der niederländischen und deutschen Befragten. Die Antworten bei den deutschen und niederländischen Probanden bei der Frage, wie sehr die unterschiedlichen Carmen-Merkmale bei ihrem gespeicherten Bild von Carmen zutreffen, zeigen, dass die deutschen Befragten eine Carmenfigur mit sich herumtragen, die egoistischer (egoistic) und verführerischer (seductive) ist als das Bild der niederländischen Befragten (Signifikanzniveau 1%). (Bei einem Signifikanzniveau von 5%, was als eine Tendenz betrachtet werden kann, ist Carmen außerdem gefährlicher, stärker und schuldiger in der Erfahrung der deutschen Befragten. Bei mehreren historischen Carmenbildern wurden Unterschiede festgestellt. Hier werden nur die Resultaten von den folgenden Bildern gezeigt, die auffällige Unterschiede bei einer 1% Signifikanzgrenze zeigten: Martha Eggert, die blonde (Film)Carmen von 1935, und Genevieve Vix, die (Oper)Carmen von 1911. Schließlich wird auch als Kontrast das Carmenbild, das die meisten Ähnlichkeiten mit dem Gedächtnisbild aufweist, nämlich Laura del Sol, aus dem Carmenfilm von Carlos Saura (1983) gezeigt. MARTHA EGGERT (1935): Figur 2 zeigt die Unterschiede zwischen niederländischen und deutschen Probanden, sowie den Vergleich mit dem Gedächtnisbild der niederländischen Probanden (die durchgehende Linie). 0 1 2 3 4 5 6 temperamental rtl. hot--blooded passionate erotic seductive strong uninhibited dangerous hard complicated sympathetic egoistic devilish guilty pitiable NL DE <?page no="72"?> Henri Schoenmakers 72 Fig. 2: MARTHA EGGERT. Die niederländischen und deutschen Befragten. Bei dieser blonden Carmen, dargestellt von Martha Eggert, sind zwei wesentliche Unterschiede festgestellt worden: die deutschen Befragten betrachten sie als sehr viel weniger temperamentvoll und als weniger leidenschaftlich als die niederländischen Befragten. Bei diesem Bild muss man besonders beachten, dass es sich für die deutschen Befragten nicht nur um ein Bild aus der eigenen Kultur handelt, sondern auch aus einer sehr problematischen Periode der eigenen Kultur, was zu einer Distanzhaltung zu einem solchen Bild hätte führen können. Überraschend ist dann eigentlich, dass nur bei diesen zwei Charakteristiken Unterschiede gefunden werden und zum Beispiel bei verführerisch und erotisch keine. Neben diesen Unterschieden in Charakteristiken, wurde sie auch durch die deutschen Befragten im Vergleich zu den niederländischen Befragten als eine signifikant schlechtere Besetzung für die Rolle betrachtet. Außerdem entsprach sie signifikant weniger den Vorstellungen der Befragten von der Carmenfigur, wie der Vergleich zwischen Gedächtnisbild und die Intensitätsandeutungen für die Merkmale klarmachen. Die Ergebnisse führen zu der Frage, ob vielleicht im Allgemeinen eine Figur, die als exotisch gesehen wird und die von einem Schauspieler der eigenen Kultur dargestellt wird, grundsätzlich als weniger geeignet für die Rolle betrachtet wird. 0 1 2 3 4 5 6 temperamental hot--blooded passionate erotic seductive strong uninhibited dangerous hard complicated sympathetic egoistic devilish guilty pitiable NL-Eggert DE-Eggert NLGedächtnisbild <?page no="73"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 73 GENEVIEVE VIX (1911): Auch das ältere Carmenbild von Genevieve Vix, zeigte einige auffällige Unterschiede zwischen niederländischen und deutschen Befragten: Die Niederländer sind der Meinung, dass Genevieve Vix stärker verführerisch, sympathisch, feurig, leidenschaftlich (und außerdem eine bessere Besetzung für die Rolle und besser das Carmen Image beantwortend) sei. Die Resultate aus dem Vergleich der beiden Carmenbilder aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, sowohl von Genevieve Vix als auch von Martha Eggert, zeigen aber auch, wie wenig die beiden Bilder, vor allem bei den bedeutsamen Carmenmerkmalen (die mit der höchsten Intensität beim Gedächtnisbild) Übereinstimmung mit diesem Gedächtnisbild aufweisen. Festgehalten werden kann, dass die historische Distanz zu Abbildungen von einer so berühmten theatralen Figur nicht dazu führt, dass in der Wahrnehmung und Erfahrung einer Abbildung aus einer ganz anderen Periode die Unterschiede zwischen Zuschauern verschiedener Kulturbereiche geringer sind als bei zeitgenössischeren Bildern. Fig. 3: GENEVIEVE VIX: Die niederländischen und deutschen Befragten Wegen der geringen Systematik in den festgestellten Unterschieden zwischen den Kulturen, ist es aber (noch) nicht möglich substantiellere Aussagen über Kulturunterschiede zu formulieren. Dafür gibt es zu wenig Re- 0 1 2 3 4 5 6 temperamental hot--blooded passionate erotic seductive strong uninhibited dangerous hard complicated sympathetic egoistic devilish guilty pitiable NL-Vix DE-Vix NLGedächtnisbild <?page no="74"?> Henri Schoenmakers 74 gelmäßigkeiten hinsichtlich der wahrgenommenen Unterschiede bei den analysierten Bildern. 7 LAURA DEL SOL (1982/ 3) Die Ergebnisse bei der Carmenfigur von Laura del Sol werden hier gezeigt, weil sie die Carmenfigur gestaltet, die am meisten Ähnlichkeit mit den gespeicherten Gedächtnisbildern der Niederländer und Deutschen zeigt. Bei den 'negativen' Persönlichkeitsmerkmalen, wie gefährlich, hart, egoistisch und teuflisch, geben sowohl die deutschen als auch die niederländischen Befragten an, dass diese Merkmale noch mehr als beim Gedächtnisbild bei der Carmenfigur von Laura del Sol zutreffen. Nur mitleiderregend bekommt eine geringere Intensität als beim Gedächtnisbild. Auffällig ist, wie sehr die Befragten beider Kulturen nicht nur bei den Ähnlichkeiten mit dem Gedächtnisbild übereinstimmen, sondern auch keine signifikanten Unterschiede zeigen. 8 Fig. 4: LAURA DEL SOL. Die Unterschiede zwischen niederländischen und deutschen Respondenten. 7 Auch ist nochmals überlegt worden, ob vielleicht doch die Übersetzungen des Fragebogens für Unterschiede mitverantwortlich sein könnten. Dieser Gedanke musste verworfen werden, weil dafür zu wenig konsequent bei den gleichen Merkmalen Unterschiede gefunden wurden. 8 Ausnahme ist die Variable egoistisch: die niederländischen Befragten erfuhren diese Figur als weniger egoistisch im Vergleich mit den deutschen Befragten. 0 1 2 3 4 5 6 temperamental hot--blooded passionate erotic seductive strong uninhibited dangerous hard complicated sympathetic egoistic devilish guilty pitiable NL-Saura DE-Saura NLGedächtnisbild <?page no="75"?> Vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort 75 Epilog Ziel dieser explorativen Forschung war zu untersuchen, ob die Tatsache, dass die Variable kultureller Hintergrund in der Rezeptionsforschung beinah keine Aufmerksamkeit bekommt, auch mit Hilfe von empirischen Daten begründet werden kann. Als Kriterium für die Schlussfolgerung, ob die Variable kultureller Hintergrund von Bedeutung sein könnte, ist das Kriterium gewählt worden, dass wenn es mehr Unterschiede gibt zwischen Männern und Frauen innerhalb einer Kultur als zwischen Befragten mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, es nicht dringend ist, dieser letzten Variable mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Ergebnisse der Forschung zeigen aber, dass die Unterschiede zwischen unterschiedlichen (aber nahe liegenden) Kulturen bei einer theatralen Figur, die mit Geschlechterkampf assoziiert werden kann, erheblich größer sind, als die Unterschieden zwischen Geschlechtern innerhalb einer Kultur. Das heißt, dass die Variable kultureller Hindergrund in theoretisch-empirischen Rezeptionsforschungen mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte. Versuche, die Art der Unterschiede zwischen deutschen und niederländischen Befragten präziser aufzeigen zu können, sind leider fehl geschlagen. Dafür gibt es zu wenig Systematik in den Antworten der Befragten. Auch konnte nicht festgestellt werden, ob ein Zusammenhang zwischen dem Alter des Carmenbildes und dessen unterschiedlicher Bewertung besteht. Im Gegenteil, das Carmenbild von Laura del Sol wies die größten Gemeinsamkeiten zwischen den erforschten Kulturen und außerdem die meisten Gemeinsamkeiten mit dem Gedächtnisbild, das die Befragten speichern, aus. Die Tatsache, dass die Forschung verdeutlicht hat, dass die Variable kultureller Hintergrund viel mehr Aufmerksamkeit in Rezeptionstheorie und Forschung bekommen sollte, impliziert auch, dass die Rezeptionstheorie bei Generalisierungen von Forschungsresultaten hinsichtlich anderer Kulturgebiete vorsichtiger werden muss. Bis jetzt suggerieren die Verallgemeinerungen in der Rezeptionstheorie und Forschung, dass Kulturgrenzen gar keine Rolle spielen. Das Problem bei der Erforschung der Images, dass wir zwar feststellen konnten, dass kultureller Hintergrund eine bedeutsame Variable zu sein scheint (jedenfalls in bestimmten Fällen bedeutsamer als die Variable Gender), aber (noch) keine stärker theoretische Erklärung für die gefundenen Unterschiede gegeben werden konnte, könnte vielleicht mit ergänzenden Methoden, wie Interviews, und mit Hilfe der Analyse von anderen berühmten theatralen Figuren, die zum kulturellen Wandteppich von verschiedenen Kulturgebieten gehören, gelöst werden. Dabei ist vermutlich auch eine wichtige Aufgabe, das Konzept des kulturellen Hintergrunds stärker zu nuancieren und besser zu operationalisieren, vor allem auch um feststellen zu können, <?page no="76"?> Henri Schoenmakers 76 ob es sich vor allem um Unterschiede zwischen Kulturgebieten handelt oder vielleicht auch um Unterschiede innerhalb eines Kulturgebietes. Außerdem wäre es eine interessante nächste Aufgabe, nicht nur die statischen Bilder, sondern auch die dynamischen Bilder, d.h. die Bilder, die während einer Aufführung entstehen, zu erforschen. Ein erster Schritt dazu ist in einer explorativen Forschung bei der Carmenfigur von Eva Saurova (in einem der drei Carmenfilme von Peter Brook) gemacht worden. Als statisches Bild zeigte Eva Saurova wenig Übereinstimmung mit dem Gedächtnisbild. Nachdem die Probanden den ganzen Film gesehen hatten, war das Bild erheblich in die Richtung des Gedächtnisbildes von Carmen verschoben. Weitere Fragen, die für eine Rezeptionstheorie relevant sein könnten, sind: Inwieweit funktioniert ein Gedächtnisbild als Norm bei der Bewertung der Leistung eines Schauspielers und/ oder Regisseurs, und inwieweit hängen Prozesse von Involvement mit einem solchen Bild zusammen? <?page no="77"?> Benjamin Wihstutz Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater Dass sich über Bildlichkeit im Theater nicht in derselben Weise wie über Filmbilder oder über Werke der bildenden Kunst sprechen lässt, ist für die Theaterwissenschaft eigentlich eine Binsenweisheit. Denn die Bilder des Theaters sind ebenso flüchtig und transitorisch wie die Aufführung selbst. Zudem erscheint es fragwürdig, Theaterbilder allein auf visuelle Aspekte zu beziehen. Zwar spielen zahlreiche Regisseure und Inszenierungen des Gegenwartstheaters auf vielfältige Weise mit den visuellen Möglichkeiten der Bühne: sie beeindrucken mit aufwändigen Bühnenbildern, Videotechnik oder computergesteuertem Lichteinsatz; sie verwenden Bildzitate, Bluescreens oder ahmen gar Kameraperspektiven und Schnitttechniken des Kinos nach. 1 Doch unabhängig von der Art und Weise der Inszenierung handelt es sich bei den Wahrnehmungsereignissen des Zuschauers stets um die Eindrücke ganz unterschiedlicher Sinne, die sich im Hier und Jetzt der Aufführung zu „Bildern” zusammenfügen. Der folgende Essay versucht daher, sich diesen Bildern des Theaters weniger über Fragen nach der Bildhaftigkeit oder nach einer spezifischen Visualität der Aufführung zu nähern als vielmehr über das Zuschauen als performativ vollzogenen Akt, der sich als synästhetisches Ein-bilden beschreiben lässt. Es gilt, das Zuschauen als eine aktive und produktive Tätigkeit zu begreifen, die den Wahrnehmenden mit einem nicht lokalisierbaren Zwischen der Ein-bildung konfrontiert, welches zum einen die Grenzen der Sinne, zum anderen die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination, zwischen Realem und Imaginärem in Frage stellt. I. Das Riechen des Lichts Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet ein bemerkenswerter Satz der amerikanischen Performerin und Musikerin Laurie 1 So lässt die New Yorker Wooster Group in ihren Produktionen „Hamlet” und „La Didone” mit der Hilfe von Rolltischen eine spezifisch filmische Ästhetik auf der Bühne wiederauferstehen, indem die Akteure beispielsweise bei einem Close Up der jeweils verwendeten Filmvorlage nahe an die Zuschauer heranrücken oder bei einem Kameraschnitt innerhalb von wenigen Sekunden die Position der nächsten Einstellung übernehmen. Es kommt somit zu einem ‚Reenactment‘ filmischer Visualität auf der Bühne. <?page no="78"?> Benjamin Wihstutz 78 Anderson, mit dem sie im Sommer 2005 im Berliner Hebbel-Theater (HAU1) die Zuschauer am Ende der von ihr präsentierten Performance „The End of the Moon” zurückließ: „Sometimes I think I can smell light.” Die Performance war in erster Linie geprägt von den biografischen Erzählungen Andersons aus ihrer Zeit als artist in residence bei der NASA, die sie in einem großen violetten Ohrensessel vortrug, außerdem von einigen ihrer Musikkompositionen, die sie zwischen den Geschichten auf einer elektrisch verstärkten und teilweise mit einem Effektgerät verfremdeten Violine spielte. Abgesehen von den genannten Requisiten und dem kurzen Einsatz einer Minikamera gab es für die Zuschauer an diesem Abend nicht viel zu sehen. Die Repräsentation der Erzählungen fand nicht auf der Bühne, sondern - eher wie bei einer Lesung - hauptsächlich in den Köpfen des Publikums statt. So ist mir die fiktive Mondbasis, von der die Performerin sprach, besonders bildhaft in Erinnerung geblieben, ebenso ihr Hund Lolabelle, der nach einer traumatischen Greifvogel-Attacke beim Wandern in den Bergen laut Anderson fortwährend eine ähnliche Kopfhaltung eingenommen habe wie ihre New Yorker Nachbarn nach den Terroranschlägen des elften Septembers. Beide hätten die neue Erkenntnis gewonnen: „They can come from the air.” Die Aufführung lebte somit weniger von ihren szenischen Darstellungen als vielmehr von der imaginativen Bebilderung durch die Zuschauer. Diese ‘inneren’ Bilder entfalteten eine durchaus starke Wirkung, was an eine Aussage Herbert Blaus hinsichtlich der Intensität mentaler Bühnen-Bilder denken lässt: „The Brain is the best stage of all” 2 stellt Blau fest, bezieht sich mit diesem Satz allerdings auf die Probenarbeit von Schauspielern respektive die Dramenlektüre eines Regisseurs. Es ist jedoch kaum zu leugnen, dass auch für den Zuschauer die ‘innere Bühne’ oftmals ebenso wichtig und eindrucksvoll erscheint wie die tatsächlichen, visuellen Sinneswahrnehmungen. Trotz des Mangels an visueller Darstellung beschränkte sich das Theater Laurie Andersons freilich nicht allein auf Bilder der Phantasie. Begleitet wurden die imaginativ bebilderten Erzählungen von der Wahrnehmung einer dichten und intimen Atmosphäre, welche der spezifischen Inszenierungsweise der Bühne geschuldet war. Denn von Beginn an war die Performerin von einem Meer aus etwa hundert flackernden Kerzen umgeben, die den Raum in ein sakrales, beinahe kitschig anmutendes Licht tauchten. Sometimes I think I can smell light. Was hatte dieser letzte Satz zu bedeuten? Offenbar sprach Anderson hier von einer Synästhesie, von einer Verknüpfung zweier Sinne, die sich nach alltäglichem Verständnis nur getrennt voneinander wahrnehmen lassen. Nun könnte man behaupten, dass sich das Riechen von Licht, das für die 2 Herbert Blau, „The Nothing That Is: Aesthetics of Anti-Theatre”, in: Forum Modernes Theater, 1/ 2009, S. 49-59, hier 52. <?page no="79"?> Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater 79 meisten Menschen eine eher merkwürdige Vorstellung darstellt, in The End of the Moon für die Zuschauer gewissermaßen leiblich erfahren ließ, wurden doch die Kerzen nicht allein visuell, sondern auch olfaktorisch wahrgenommen. Die Formulierung Andersons brachte damit die Wahrnehmung der Zuschauer auf merkwürdige Weise auf den Punkt; es schien mehr als nur ein Geruch in der Luft zu liegen, vielmehr eine dichte, nicht in seine Einzelkomponenten zerlegbare, Atmosphäre, die den gesamten Raum erfüllte. Das Spüren dieser Atmosphäre, einer Mischung aus sakralem Licht, dem Kerzenduft, der ruhigen durch ein Mikrophon vortragenden Stimme Andersons und dem Klang ihrer elektronisch verfremdeten Violine ließ sich nicht auf die Summe einzelner Sinneswahrnehmungen reduzieren, sondern betraf als eine Art synästhetisches Spüren mehrere Sinne zugleich. Aber Laurie Anderson sagte nicht: „Sometimes I can smell light”. Sie sagte: „Sometimes I think I can smell light.” Offenbar war mit diesem „I think” kein ‘Nachdenken’ gemeint, keine rationale Überlegung. Vielmehr ließe sich in diesem Fall „I think” mit „Ich meine” oder „Ich glaube” übersetzen, am treffendsten vielleicht mit: „Ich bilde mir ein”. Manchmal bilde ich mir ein, dass ich Licht riechen kann. War das Riechen von Licht in The End of the Moon eine Einbildung? Beruhte das Spüren der Atmosphäre auf Imagination? Es liegt nahe, diese Fragen zu verneinen. Ohne Zweifel war die vom Kerzenlicht und den anderen Sinneseindrücken ausgehende Atmosphäre der Aufführung real wahrnehmbar. Auf den zweiten Blick gestaltet sich die Antwort schwieriger. Denn die ‘inneren’, imaginierten Geschichten und Bilder der Aufführung hatten zweifellos ihren Einfluss auf das Spüren der Atmosphäre. Es ist sogar äußerst fraglich, ob sich die Sinneseindrücke diesbezüglich von den imaginativen Eindrücken trennen ließen, waren doch die Vorstellungen der Zuschauer der Hauptbestandteil der Aufführung und damit auch entscheidender Bestandteil der gespürten Atmosphäre. 3 Die Musikkompositionen zwischen den Erzählungen gaben den Zuschauern immer wieder Zeit, die von den Geschichten evozierten Vorstellungen wie die fiktive Mondbasis oder die New Yorker Nachbarn entfalten zu lassen. Wahrnehmung und Imagination, äußere und innere Bilder vermischten sich auf diese Weise und brachten gemeinsam die Ästhetik der Aufführung hervor. Aber es ist auch der Begriff ‘Einbildung’ selbst, der eine Trennung von Innen und Außen, von Imagination und Wahrnehmung fragwürdig erscheinen lässt. Während Einbildung gewöhnlich als innere Vorstellung verstanden wird, die nicht der wahrnehmbaren Wirklichkeit entspricht, lässt sich 3 Zur Bedeutung der Imagination für das Spüren von Atmosphären im Theater siehe Wihstutz, „Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraft des Zuschauers”, in: Stefan Tigges, Katharina Pewny, Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld 2010, S. 316-329. <?page no="80"?> Benjamin Wihstutz 80 der Begriff ebenso als Ein-bildung lesen - als leibliches Aufnehmen und Verinnerlichen von Bildern. ‘Einbildung’ beschreibt somit bereits dem Wortsinn nach einen Austausch imaginativer und perzeptiver Bilder, eine Verschränkung von Wahrnehmung und Fantasie, die sich nicht in Dichotomien wie innen und außen oder wahr und falsch einordnen lässt. Bernd Hüppauf und Christoph Wulf schreiben dementsprechend: „Die Einbildungskraft verwandelt die Außenwelt der Menschen in ihre Innenwelt und ihre Innenwelt in Außenwelt. Sie transformiert Bilder, erzeugt Differenzen und bringt Neues hervor.” 4 Auch Laurie Andersons Formulierung „Sometimes I think I can smell light” scheint nicht nur die Trennung der Sinne, sondern auch die vermeintliche Dichotomie von Wahrnehmung und Einbildung aushebeln zu wollen, und ihr ein imaginatives Zwischen entgegenzustellen. Dieses Zwischen ist für die Zuschauerwahrnehmung konstitutiv. Von Laurie Andersons Diktum ausgehend, kann daher die Hypothese aufgestellt werden: Theaterbilder lassen sich niemals eindeutig aufspalten in die Wahrnehmungen unterschiedlicher Sinne, geschweige denn in Innen und Außen, in Wahrnehmung und Imagination oder Präsenz und Repräsentation. Zuschauen ist Ein-bildung in doppelter Hinsicht, als Aufnehmen von ‘äußeren’ Bildern und gleichzeitiges Projizieren von ‘inneren’ Bildern. II. Der Helikopter Über Bilder im Theater zu schreiben heißt mithin, über mehr als über visuelle Wahrnehmung zu schreiben. Von einem iconic turn oder einer visual culture kann für das Theater kaum die Rede sein. Gerade Regisseure, deren Ästhetik häufig auf ein visuelles Bildertheater reduziert wird, entpuppen sich bei genauerem Blick als Meister synästhetischer Inszenierung. So wird beispielsweise bei der Rezeption von Robert Wilsons bilderreichem Theater bisweilen vergessen, dass dieser grundsätzlich mit bedeutenden Komponisten und Musikern zusammenarbeitet sowie gezielt Geräusche einsetzt, die mit visuellen Elementen korrespondieren. Auch die Wooster Group experimentiert nicht allein mit den neuesten Techniken visueller Medien, sondern ebenso geradezu exzessiv mit Audiotechnik. Um die synästhetische und imaginative Dimension des Theaterbildes genauer zu veranschaulichen, lohnt es sich, etwas näher auf ein ‘Bild’ aus einer anderen Inszenierung einzugehen. Es handelt sich um die vielleicht beeindruckendste und effektvollste Szene aus Le Dernier Caravanserail des Theatre du Soleil (2003, Regie: Ariane Mnouchkine), von der sich nicht ohne Grund auch eine Abbildung auf den Plakaten der Inszenierung wiederfand. Statt von einem Foto der Aufführung möchte ich in der folgenden Beschrei- 4 Bernd Hüppauf, Christoph Wulf, „Einleitung: Warum Bilder die Einbildungskraft brauchen”, in: Dies., Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 9-44, hier S. 40. <?page no="81"?> Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater 81 bung allerdings von einem Bild der Erinnerung ausgehen. Zugegebenermaßen bedient sich diese Vorgehensweise eines Tricks, der den Leser buchstäblich hinters Licht zu führen gedenkt: Die Beschreibung der Erinnerung konzentriert sich zunächst ganz bewusst allein auf die visuellen Eindrücken der Szene, um erst anschließend auf die synästhetische Dimension des Bildes hinzuweisen. Erst die Analyse des Bildes der Erinnerung schaut hinter seine Kulissen und offenbart die Grenzen seiner Visualität. Die Szene zeigte eine stürmische See aus blau-grauem Stoff, der die gesamte Bühne bedeckte und dessen permanente Bewegung den illusionären Eindruck von hohen Wellen erzeugte. In der Mitte dieses tosenden Meeres befand sich ein kleines, aus Bambus, Holz und Seilen zusammengezimmertes Boot, das von den Wellen hin- und hergeschaukelt wurde und jeden Moment zu kentern drohte. Einige Menschen unterschiedlicher Hautfarbe waren auf dem Boot zu sehen, teilweise oben an Deck beim sichtlich überforderten Steuermann, teilweise guckten sie unten dicht gedrängt aus den Fenstern heraus. Offenbar handelte es sich um Flüchtlinge, die die gefährliche Ozeanüberfahrt auf sich nahmen, um in einem westlichen Staat um Asyl zu bitten. Im ‘Wasser’ der Stoffbahnen waren ebenfalls Köpfe von Menschen zu sehen, die aufgrund des Sturmes bereits über Bord gegangen waren und um Hilfe riefen. Während sich unten im Meer diese Szene abspielte, schien Rettung von oben zu kommen. Von rechts näherte sich ein Helikopter, aus dem sich ein hellhäutiger Mann mit einem Megaphon abseilte. Doch anstatt den verzweifelt rufenden Menschen zu helfen, forderte er das Boot zum Umkehren auf. Was unterscheidet eine solche Beschreibung eines Theaterbilds der Erinnerung von der Beschreibung eines Fotos oder Videostandbilds der Aufführung? Zunächst einmal handelt es sich offensichtlich um ein bewegtes, flüchtiges Bild, und damit nicht um ein Artefakt wie bei einem Foto. In diesem Fall verdeutlichen die Bewegungen der Stoffwellen und der Menschen im Wasser, dass die Zeitlichkeit fundamental für die Wirkung des Theaterbildes war. Genau genommen befand sich nahezu alles Sichtbare auf der Bühne in Bewegung: Vom blau-grauen Stoff, der sich durch viele unsichtbare Körper permanent auf- und abbewegte, über die Menschen im Wasser und auf dem Boot bis hin zum Akteur mit dem Megaphon, der sich aus dem Helikopter abseilte. Wenn so etwas wie eine ikonische Differenz für Theaterbilder bestimmt werden sollte, ließe sich hier die konstitutive „Sinneinheit des Bildes” 5 - um ein Begriff Gottfried Boehms zu zitieren, zweifellos nur innerhalb seiner zeitlichen Einbettung in die Szene bestimmen. Eine Momentaufnahme einer Aufführung wie ein Foto oder Standbild würde lediglich ein beliebiges Detail des Bildes darstellen. Die Einheit des Theaterbildes entsteht hingegen erst in ihrer flüchtigen Wahrnehmung, indem die erscheinenden Dinge auf 5 Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder”, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? , München 1994, S.11-38, hier S. 30. <?page no="82"?> Benjamin Wihstutz 82 der Bühne immer in ihrem zeitlichen Zusammenhang wahrgenommen werden und mithin ein „anschauliches Ganzes” 6 bilden, die das Vergangene und erwartete Zukünftige einbezieht. Die Verbindung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem knüpft der Zuschauer durch das Addieren von Vor- und Nachbildern, oder, um ein Husserlschen Begriff zu verwenden, durch Protention und Retention. 7 Zweifellos handelt sich bei dieser Einbeziehung von Vor- und Nachbildern um eine Tätigkeit, die an ein imaginatives Grundvermögen gekoppelt ist, Kant nannte sie die Synthesis der Einbildungskraft. Aber auch neueste neuro- und kognitionswissenschaftliche Forschungen weisen immer wieder darauf hin, dass Wahrnehmung an sich nicht ohne den Abruf imaginativer Schemata existiert. Da für das Sehen des Menschen nicht allein das Auge, sondern vor allem der visuelle Cortex der Großhirnrinde verantwortlich ist, ist jedes erkennende Sehen mit dem Abruf ‘innerer Bilder’ verbunden. Zum einen, um einen Wahrnehmungsfluss der Gegenwart zu ermöglichen, zum anderen um die Wiedererkennung wahrgenommener Objekte zu gewährleisten. Natürlich sprechen die wenigsten Neuroästhetiker von ‘Einbildung’ oder ‘Einbildungskraft’, meist ist von ‘Konstruktion’ oder ‘Simulation’ die Rede. 8 Und doch steht außer Zweifel, dass aus neurowissenschaftlicher Sicht Wahrnehmung und Imagination nicht als Gegensätze aufgefasst werden können. So bemerkt der Kognitionswissenschaftler Mark Johnson bereits 1987 in seinem Buch The Body in the Mind: Without Imagination nothing in the world could be meaningful. Without imagination we could never make sense of our experience. Without imagination we could never reason towards knowledge. 9 Wenn sich das Theaterbild als Sinneinheit der sich in der flüchtigen Wahrnehmung mittels imaginativer Synthesis zusammengefügten Details begreifen lässt, stellt sich aufgrund der zeitlichen Verfasstheit des Bildes zwangsläufig die Frage, welche Rolle dabei die nicht-visuellen, vor allem akustischen Wahrnehmungen der Aufführung spielen, zumal keine Materialität des Theaters flüchtiger ist als die Lautlichkeit. Die Beschreibung des Theaterbildes von Ariane Mnouchkine gibt hier bereits einige Hinweise, die darauf schließen lassen, dass das Ohr des Zuschauers in der Szene eine wesentliche Rolle spielte. So habe ich Hilferufe der Menschen im Wasser erwähnt oder die Aufforderungen durch das Megaphon des Mannes, der sich aus dem Helikopter abseilte. Ebenso weisen die Adjektive der Bildbeschreibung ‘stürmisch’ und ‘tosend’ auf akustische Wahrnehmungen hin, die sich 6 Ebd. 7 Vgl. Edmund Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hamburg 1985. 8 Vgl. Hüppauf, Wulf, a.a.O., S. 11-12. 9 Mark Johnson, The Body in the Mind. The bodily basis of Meaning, Imagination and Reason, London 1987, S. ix. <?page no="83"?> Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater 83 nicht allein auf die Bewegung des Stoffes und der Körper auf der Bühne beziehen lassen. Der illusionäre Eindruck, der hier für die Zuschauer erzeugt wurde, war ganz offensichtlich nicht allein visuell, sondern auch akustisch inszeniert worden. In der Tat wurde die Szene die gesamte Zeit akustisch beherrscht von Sturmgeräuschen, die über Lautsprecher für die Zuschauer zu hören waren, vom Pfeifen des Windes und dem Klatschen der Wellen, der lauten, durch das Megaphon verzerrten Stimme und den Hilferufen der Menschen im Wasser und auf dem Boot - all diese Geräusche trugen entscheidend zur Wahrnehmung eines spannungsgeladenen und von einer verzweifelten Stimmung geprägten atmosphärischen Bildes bei. Ein akustisches Detail der beschriebenen Szene dürfte die synästhetische und imaginative Verfasstheit des Bildes jedoch stärker als alles bisher Genannte veranschaulichen. Es handelt sich genau genommen um eine Wahrnehmungstäuschung der Erinnerung, die mir selbst erst beim längeren Nachdenken über die inszenatorische Realisierung der Szene auffiel. In meiner Beschreibung war bereits mehrmals von einem Helikopter die Rede, aus dem sich der Akteur mit dem Megaphon abseilte. Wie dieser Helikopter ausgesehen haben könnte, ob es sich dabei um ein Modell oder einen Hubschrauber in originaler Größe handelte, war der Beschreibung nicht zu entnehmen. Die Gründe für diese Unklarheit lassen sich leicht erklären: In Wirklichkeit gab es zu keinem Zeitpunkt der Szene für die Zuschauer einen Helikopter zu sehen. Dass dieser dennoch ein zweifellos unverzichtbares Detail des beschriebenen Bildes darstellt, ist allein auf die Verknüpfung von akustischer und visueller Wahrnehmung und auf die Imagination der Zuschauer zurückzuführen. Denn für das Publikum zu sehen war lediglich ein vom Bühnenboden herabgelassenes Seil, an dem der Akteur mit dem Megaphon hing. Zu hören war jedoch das unverwechselbare ohrenbetäubende Geräusch des Motors und der sich drehenden Rotorblätter, das bereits vor dem Auftauchen des Akteurs, zunächst leise beginnend, dann immer lauter werdend, das Nahen des Helikopters ankündigte. Obwohl der Hubschrauber für die Zuschauer nicht zu sehen war, bestand so keinerlei Zweifel an seiner Präsenz - im Gegenteil: allein durch seine Hörbarkeit rückte er in den Mittelpunkt des Geschehens und nahm einen exponierten Platz des Bildes ein. Die Inszenierung machte sich dabei die imaginative Fähigkeit des Zuschauers zu Nutze, indem sie ein heruntergelassenes Seil als pars pro toto mit dem Lärm des Helikopters kombinierte. Die Imagination des Zuschauers fügte das visuelle und akustische Bild zu einer synästhetischen Einheit zusammen, die sich auch als „synästhetische Einbildung” bezeichnen ließe. Denn der visuellen Einbildung des Helikopters - also ihn zu sehen, obwohl nichts zu sehen war - ging eine akustische Ein-bildung voraus. Beide zusammen fügten sich zu einem synästhetischen Bild zusammen, das die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Imagination, zwischen Präsenz und Repräsentation verwischen ließ und somit überhaupt erst die illusionäre Wirkung der Szene ermöglichte. <?page no="84"?> Benjamin Wihstutz 84 III. Der Zuschauer im Zwischen Geht man von einem weit gefassten Synästhesiebegriff im Sinne der ursprünglich griechischen Bedeutung Zusammen-Wahrnehmung aus, die sich bis zu Aristoteles’ Bestimmung des gemeinsamen Sinnes zurückverfolgen lässt, 10 so kann ein Theaterbild auch bereits aufgrund seiner atmosphärischen Wahrnehmung als Synästhesie verstanden werden. Anknüpfend an ein Beispiel des Phänomenologen Bernhard Waldenfels, bei dem er die Sinneswahrnehmung einer mittelalterlichen Kathedrale „mit ihren Bild- und Lichtteppichen aus Glas, ihrer raumvertiefenden Akustik, ihren Weihrauchschwaden und Kerzendüften” 11 als Synästhesie bezeichnet, vermögen wir genauso wenig im Theater alle einströmenden Sinneseindrücke zu zählen oder genau zwischen ihnen zu differenzieren. Wie anhand der Beispiele der Laurie Anderson-Performance und der Mnouchkine-Szene deutlich wurde, werden Theaterbilder niemals rein-visuell, vielmehr als atmosphärisch-synästhetische Bilder erfahren, die sowohl aus perzeptiven als auch aus imaginativen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Wenn hingegen nach der Rolle der Einbildungskraft des Zuschauers gefragt wird, so müssen die bisherigen Überlegungen dahingehend ergänzt werden, dass diese nicht allein für das Zusammenfügen der Sinneseindrücke und Imaginationen des Bildes zu einem „anschaulichen Ganzen” (Böhm) zuständig ist, sondern auch für die Verschränkung von Subjektivem und Objektivem, sprich dem Hinzufügen von Assoziationen und sogar abschweifenden Phantasien zum Wahrgenommenen. So mag ein Zuschauer angesichts der Ozeanüberfahrt der Flüchtlinge an Dokumentationen aus dem Fernsehen denken, an eine ähnliche Szene aus einer anderen Inszenierung oder gar an einen furchteinflößenden Sturm im letzten Badeurlaub. Entscheidend ist, dass sich Theaterbilder niemals allein objektiv wahrnehmen lassen, sondern dem Wahrgenommenen mittels der Einbildungskraft zugleich assoziative Eindrücke unterlegt werden, die dem Bild zusätzliche Bedeutungen verleihen. Diese imaginativen Elemente der Wahrnehmung sind dem Zuschauer teilweise bewusst und teilweise unbewusst, so wie sich auch über die Einbildungskraft sagen lässt, dass sie sowohl ein empirisches Vorstellungsvermögen als auch das Grundvermögen des Menschen bezeichnet, bei der Wahrnehmung ‘äußerer Bilder’ zugleich abwesende Bilder ‘innerlich’ als Schemata abrufen zu können. Ein Text, der auf dieses grundlegende, chiastische Verhältnis von Imaginärem und realen Sinneseindrücken hinweist, ist das postum veröffentlichte Fragment Maurice Merleau-Pontys Das Sichtbare und das Unsichtbare. So schreibt der Phänomenologe über die Wahrnehmung eines roten Kleides, die Farbe Rot sei nicht einfach eine „Haut des Seins ohne Dichte”, sondern 10 Vgl. Aristoteles, Über die Seele, griechisch-deutsch, Hamburg 1995, Buch III, 425a-427a. 11 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, Frankfurt am Main 1999, S.55. <?page no="85"?> Zuschauen als Ein-bildung: Synästhesie und Imagination im Theater 85 bereits „vollgestopft mit Sichtbarkeit”. Als „Zeichensetzung im Feld der roten Dinge, das die Dachziegel, die Fahne der Grenzwärter und der Revolution, gewisse Böden bei Aix oder auf Madagaskar umfasst”, sei das rote Kleid immer auch „ein Fossil, hervorgeholt aus dem Untergrund imaginärer Welten”. 12 Im Theater lässt sich dieses ‘Hervorholen’ des Imaginären für den Zuschauer mittels der Einbildungskraft immer wieder erfahren, wenn beispielsweise angesichts eines bestimmten Farbtons, eines Geräuschs oder einer gespürten Atmosphäre unerwartete Assoziationen und damit imaginativ ausgelöste, neu konstituierende Bedeutungen der Theaterbilder emergieren. Merleau-Pontys Begriff des Fleisches [ la chair ] , der das chiastische Verhältnis von Subjekt und Welt in einem leiblichem Zwischen verortet, vermag darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass im Theater die Verkörperung der Akteure auf der Bühne einer verkörperten Wahrnehmung des Zuschauers als Ein-bildung gegenübersteht, die zugleich wiederum umgekehrt imaginative Elemente an das Aufführungsgeschehen rückbindet. Zuschauen lässt sich dementsprechend als pendelnde oder zirkulierende Bewegung zwischen subjektiven Phantasien, Imaginationen der Szene und leiblich wahrgenommenen Sinneseindrücken beschreiben, als ein von der Einbildungskraft angetriebener Kreislauf der Ein-bildung, bei dem sich innere und äußere Bilder austauschen und immer neue Bedeutungen entstehen lassen. Wie bereits Aristoteles in seinen Ausführungen über die Seele bemerkte, lassen sich Einbildungskraft und die Verbindung der Sinne, phantasia und gemeinsamer Sinn nicht einer Seite zuordnen, sondern als vermittelnde Vermögen zwischen Wahrnehmung und Denken, zwischen Körper und Geist bestimmen. Erstaunlicher Weise scheinen diesbezüglich heutige neuro- und kognitionswissenschaftliche Forschungen wie die Mark Johnsons, dem Aristotelischen Begriff der Seele als Einheit von Körper und Geist oder den Überlegungen Merleau-Pontys viel näher zu stehen als die cartesianische abendländische Tradition. 13 Wahrnehmung und Imagination lassen sich auch im Theater auf grundlegende Prozesse der Einbildung eines embodied mind beziehen, die sich niemals strikt in perzeptive und kognitive Elemente trennen lassen. Wenn sich Zuschauen als synästhetische Ein-bildung zwischen Wahrnehmung und Imagination, zwischen Körper und Geist sowie zwischen Präsenz und Repräsentation bestimmen lässt, so liegt die Vermutung nahe, dass dieses undefinierbare, alle Dichtomien in Frage stellende Zwischen der Einbildung in der Lage ist, ästhetische Erfahrungen besonderer Art im Theater auszulösen. Erika Fischer-Lichte hat mit Bezug auf Victor Turners Begriff 12 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 2004, S. 174-175. 13 Zu den Parallelen von Aristoteles’ Begriff der Seele und gegenwärtiger Kognitionsforschung zur Synästhesie und Imagination siehe auch Arbogast Schmitt, „Synästhesie im Urteil aristotelischer Philosophie”, in: Hans Adler, Ulrike Zeuch (Hg.), Synästhesie - Interferenz - Transfer - Synthese der Sinne, Würzburg 2002, S. 109-147. <?page no="86"?> Benjamin Wihstutz 86 der Liminalität ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung bestimmt, bei der der Zuschauer in einem Zustand des „betwixt and between” versetzt wird, 14 wie ihn Turner für die rites de passage beschrieben hat, bei der geltende Normen, Regeln und Rahmen außer Kraft gesetzt werden: Ästhetische Erfahrung lässt sich in der Tat als Schwellenerfahrung beschreiben. In ihr erfährt sich der Rezipierende in einem Zustand des „Zwischen”; zwischen unterschiedlichen Zuständen seines Bedeutungssystems, zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten seiner Praxis. 15 Die Bestimmung des Zuschauens im Theater als eine von Synästhesie und Imagination geprägten Ein-bildung im Zwischen von inneren und äußeren Bildern, von Wahrnehmung und Denken sowie von Präsenz und Repräsentation vermag dieser Redefinition ästhetischer Erfahrung als Schwellenerfahrung einen neuen Aspekt abzugewinnen. Eine ästhetische Erfahrung des Imaginativen würde demnach die bewusste Erfahrung einer Schwelle innerhalb des Wahrnehmungsprozesses bezeichnen, gleichsam eine Konfrontation des Zuschauers mit dem undefinierbaren und irritierenden Zwischen der Einbildungskraft, mithin ein Außerkraftsetzen jeglicher dichotomischen Wahrnehmungsmuster und -kategorien. Um diese Art ästhetische Erfahrung genauer zu untersuchen, ließen sich sicherlich radikalere Aufführungsbeispiele als die hier angeführten synästhetischen Ein-bildungen bei Laurie Anderson oder Ariane Mnouchkine finden. Schlussfolgern ließe sich jedoch zumindest, dass die Untersuchung von Theaterbildern die Synästhesien des Theaters und die Einbildungskraft des Zuschauers nicht außer Acht lassen darf. Vielmehr lohnt es sich, den Fokus immer wieder auf jene Komplexität von ‘Theaterbildern’ zu richten, die sich dem Zuschauer als synästhetische Ein-bildung zeigt. 14 Victor Turner, The Ritual Process, Structure and Anti-Structure, London 1969, S. 95, zitiert nach Erika Fischer-Lichte, „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung”, in: Joachim Küpper, Christoph Menke, Dimensionen ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 2003, S. 138-161, hier S.139. 15 Fischer-Lichte, ebd., S. 143. <?page no="87"?> Denis Leifeld Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers Eigentlich sind es nur bunte Farbkleckse und wilde Linien. Doch während ich ein abstraktes Bild von Jackson Pollock betrachte, nehme ich gleichzeitig auch noch vieles mehr wahr. Assoziationen unterschiedlichster Art drängen sich auf und überschreiten das aktuell Gegebene auf vielfältige Weise: Situationen der Unruhe, hektisch eilende Menschen, reißende Flüsse, ein lautes Durcheinander von Stimmen oder auch das Gewusel in einer Börse tauchen blitzschnell in meiner inneren Bildwelt auf und verselbstständigen sich. In einer Aufführung von INFERNO des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci scheinen ähnliche Dinge zu passieren. In Viererreihen kommen bis zu fünfzig Performer von rechts auf die Bühne. In einer langen Schlange marschieren sie ein und sinken Körper für Körper zu Boden. Kein offensichtlicher Sinn geht von deren Körpern aus. Vielmehr entstehen unzählige Imaginationen, die ungeordnet zirkulieren: Sie wirken wie eine sanfte Welle, gleichzeitig aber auch wie ein unaufhörlicher Todessog, ein langsames und grausames Sterben, das mich an Leichenberge, an Kriegsberichterstattungen oder auch an private Todesfälle erinnern lässt. Diese beiden Wahrnehmungssituationen weisen Ähnlichkeiten auf. Denn meine Gedanken bewegen sich nicht auf einen ruhenden Pol zu, sie bleiben in Bewegung, streben in die vielfältigsten Richtungen und erweitern sich in einem scheinbar unaufhörlichen Und-so-weiter. Das Verhalten der Performer sowie die spezifische Materialität des abstrakten Bildes scheinen andere Wahrnehmungen, Erfahrungen und Denkweisen auszulösen. Wahrnehmende werden in einen anderen Modus des ästhetischen Erlebens versetzt. Es drängen sich Fragen auf: Worin liegt diese Andersheit des Wahrnehmens tatsächlich begründet? Wie lassen sich diese Wahrnehmungsmomente beschreiben, die mitunter nur ganz kurz sein können oder auch ganze Aufführungen andauern können? - Gerade über die vergleichende Beschreibung von performenden Körpern und abstrakten Bildphänomenen soll sich diesen besonderen Wahrnehmungssituationen angenähert und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Selbstverständlich gibt es auch gravierende Unterschiede, die sich durch die spezifische Medialität der Künste ergeben, doch trotzdem werden hier Gemeinsamkeiten zu akzentuieren sein. Ich werde von bildtheoretischen Überlegungen über die ästhetische Erfahrung von abstrakter Kunst ausgehen und dort die besondere Freiheit des Wahrnehmens, Denkens und Deutens herausarbeiten. In einem zweiten Schritt sollen diese Ansätze für die Analyse des Performers nutzbar gemacht werden. Der Begriff des Performers taucht in Performativitätsdiskursen und <?page no="88"?> Denis Leifeld 88 Debatten des Postdramatischen zunehmend auf, meist bleibt jedoch die Frage bestehen: Was ist mit dem Verb performen wirklich gemeint? Es wird meist dem Schauspielen gegenübergestellt als etwas anderes, das nicht mit Rollenspiel und der Hervorbringung einer Figur verbunden wird. Doch wie kann dieses Andere des Performers beschrieben werden? Welche ästhetischen Wahrnehmungen und Erfahrungen lösen Performer aus? - Hier werden über die Analyse ästhetischer Wahrnehmungsprozesse erste Überlegungen zu einer noch zu begründenden Ästhetik und Theorie des Performers angestellt. Wahrnehmungen abstrakter Kunst Jackson Pollocks Action Paintings, insbesondere die monumentalen Drippings zwischen 1947 und 1950, sprengen die traditionellen Regeln der Staffelmalerei. Sie verzichten auf die abbildende Funktion von Kunst. Wenn ich vor einem Gemälde Pollocks stehe, wie beispielsweise vor NUMBER 1A von 1948 bin ich mit einem gigantischen Wust aus Farbklecksen, Linien und Formen konfrontiert. Abstrakte Gemälde sind nicht mehr dem „Zwang der Repräsentation” unterworfen, beschreibt Jean-François Lyotard. 1 Die Wahrnehmung heftet sich infolgedessen auf das Sosein, auf das besondere Now des Bildes, das Lyotard für die nicht-gegenständliche Kunst entwickelt. 2 Die Materialität des Bildes rückt in den Vordergrund: das heterogene Spiel der Spritzer, Tropfen, Flecken und Farben. Meine Wahrnehmung verselbständigt sich, da das Bild Pollocks kein Zentrum zu haben scheint. Ich tauche an einem Punkt ein, lasse mich von den vielen dynamischen Linien und Farbspritzern über das Gemälde führen und setze wieder an einem neuen Punkt an. Diese gigantische Leinwand zieht mich regelrecht in das Gemälde hinein. Mein Blick ruht nie an einem Punkt. Er wird immer wieder hektisch über die Leinwand gehetzt. - Auf den ersten Blick erweckt diese Wahrnehmungsperspektive den Eindruck, man wäre der Zeichenhaftigkeit eines Bildes entkommen. Man könnte meinen, die von Dieter Mersch beschriebene „Duplizität von Bedeutung und Materialität” eines ästhetischen Gegenstandes würde bei der abstrakten Kunst zugunsten der Materialität aufgegeben worden sein. 3 Doch vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Ein „Entkommen” aus dem Feld der Repräsentationen kann - mit W.J.T. Mitchell gesprochen - „niemals gelingen”. 4 Auch wenn abstrakte Bildphänome- 1 Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde” (1983), in: Ders., Das Inhumane, Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 179. 2 Ebd., S. 160. 3 Dieter Mersch, „Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Erfahrung”, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen, Basel 2001, S. 297. 4 W.J.T. Mitchell, Bildtheorie, hrsg. von Gustav Frank, Frankfurt am Main 2008, S. 96. <?page no="89"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 89 ne nicht explizit auf etwas außerhalb ihrer selbst verweisen, kann dies nicht automatisch heißen, sie würden jegliche Zeichenhaftigkeit und jedweden deutenden und interpretierenden Zugang verweigern. Abstrakte Bildlichkeiten können nicht als „non-relational art” betrachtet werden, denn Bilder - und eben auch abstrakte Bilder - sind in gewisser Weise immer referenziell. 5 Sie verweisen immer auf etwas außerhalb ihrer Materialität. Schon alleine die Farben des Gemäldes sind mit gewissen Bedeutungen verbunden. Die wenigen roten Farbtropfen in Pollocks Action Painting können beispielsweise an Blut, Rosenblätter, Feuer oder durchaus auch an Hass, Aggression und Liebe erinnern. Nur weil sich abstrakte Kunst nicht der Abbildung von Menschen, Landschaften und Objekten verschreibt, verweigert sie sich keinesfalls der semiotischen Analyse. Meine ästhetische Wahrnehmung des gigantischen Gemäldes von Pollock gestaltet sich als hektisches und unruhiges Abtasten des Bildes. Gerade dieses Erfahren öffnet mögliche Bedeutungshorizonte. Assoziationen an Situationen der Unruhe, Hektik, Überforderung und Heterogenität entstehen im permanenten Austausch zwischen dem Bild und mir. In einem Moment erinnere ich mich an Georg Büchners nervös-gehetzten Woyzeck, im nächsten an eine mit Menschen vollgestopfte Fußgängerzone, darauf wieder an einen unruhig fließenden Fluss, der durch enge Felsen fließt. Je nach aktiviertem mentalem Bild färben sich meine Interpretations- und Deutungsansätze. Wenn ich mich an einen Fluss erinnere, der von der Sonne angestrahlt wird, sodass die ständig in Bewegung befindende Oberfläche des Wassers in immer neuen Variationen hell schimmert, so nehme ich vielleicht eher die helleren Bildflächen von Pollocks Gemälde wahr und ich könnte eher darin die vielfach beschworene, schillernde amerikanische Freiheit sehen. Und imaginiere ich eine dunkle Fußgängerzone, verfolge ich zunehmend die dunklen Farbgebungen des Bildes, und ich könnte eher dahingehend interpretieren, dass das Bild für die Überforderung des Individuums in unserem Informationszeitalter stehen könnte. Die Phänomenalität des Gemäldes tritt mit dem Betrachter in ein kreatives Wechselverhältnis. Ein offener Prozess entsteht, in dem je nach aktivierter mentaler Bildwelt das Gemälde immer wieder anders und neu erscheint. Ein prinzipiell unendliches Feld möglicher Bedeutungen, Bezugnahmen und Interpretationen öffnet sich. Gerade abstrakte Gemälde weisen einen weiten Horizont möglicher semiotischer Betrachtungen auf, da die Materialität des Bildes nicht mehr auf einen konkreten Gegenstand, eine Situation oder Narration verweist. Vielmehr weitet sich beim abstrakten Kunstwerk das Feld zeichenhafter Wahrnehmungen: Zeichen erscheinen in 5 Anna Moszynska, „Purity and Belief: The Lure of Abstraction”, in: Christos M. Joachimides, Norman Rosenthal (Edd.), The Age of Modernism - Art in the 20 th Century, Stuttgart, Berlin 1997, p. 203. <?page no="90"?> Denis Leifeld 90 einer „unübersehbaren Fülle”. 6 Natürlich sind bei figürlichen, gegenständlichen Gemälden auch prinzipiell unabschließbare Deutungen und Bezugnahmen möglich: Ein gemalter roter Apfel kann für die Idee der Fruchtbarkeit oder der Verführung stehen, für die Sünde oder das Paradies, die Weiblichkeit oder auch die Märchenfigur Schneewittchen. Doch durch das Wegfallen der abbildenden Funktion bei der abstrakten Kunst sind die Möglichkeiten der Interpretationen umso weiter und freier. Der Wahrnehmende sieht sich mit dem Unklaren, Unbestimmten, Fremden, Anderen und Heterogenen konfrontiert. Kein ordnendes Zentrum scheint die deutenden Bezugnahmen zu beruhigen. Das abstrakte Bild bleibt rätselhaft. Diffuse Verweise gehen von ihm aus, im Sinne von frei flottierenden Zeichen ohne bestimmtem Signifikat - wie es Jean Baudrillard ausdrücken würde. 7 Es findet eine „Emanzipation des Zeichens” statt, das sich von der „Verpflichtung” löst, „etwas bezeichnen zu müssen”. 8 Doch keinesfalls heißt dies, dass es nichts mehr bedeutet. Es ist eher vom Gegenteil auszugehen: Das abstrakte Bild bedeutet umso mehr. Man wird mit dem Sosein des nichtgegenständlichen Bildes allein gelassen. Oft verwirrt diese unbestimmte Phänomenalität und überfordert, sodass es zu dem vorschnellen Ausspruch verleitet: Das verstehe ich nicht! - Es entsteht der Eindruck, als gäbe es nichts zu verstehen, als gäbe es nichts Bedeutendes. Doch dieser Eindruck täuscht: Das abstrakte Kunstwerk konfrontiert den Wahrnehmenden mit einer radikalen Pluralisierung von Bedeutungen. Bildwelten Bevor ich diese Gedanken auf den Performer übertrage, muss noch ein differenzierterer Bildbegriff skizziert werden, um dieses besondere Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem umschreiben zu können. Ich gehe von einem Bildbegriff aus, der sich zwischen materiellexterner und immateriell-mentaler Bildlichkeit bewegt. Wenn ich von Bildwelt spreche, meine ich innere, geistige und nur subjektiv wahrnehmbare Vorstellungen, Imaginationen, Assoziationen, Erinnerungen, Ideen, die das Denken und Erfahren prägen. Doch es kann nicht davon die Rede sein, dass eine klare Trennung von materiellen und geistigen Bildern möglich wäre. Materielle Bilder zeigen sich für unterschiedliche Rezipienten nie gleich. W.J.T. Mitchell betont, dass „Sehen selbst ein Produkt der Erfahrung und Akkulturation ist - einschließlich der Erfahrung des Bildermachens -”, und 6 Rüdiger Bubner, „Ästhetische Erfahrung und die neue Rolle der Museen”, in: Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main 2003, S. 40. 7 Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 140. 8 Ebd., S. 18. <?page no="91"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 91 folglich „ist das, womit wir die bildlichen Darstellungen vergleichen, in keiner Weise eine nackte Wirklichkeit, sondern eine Welt, die bereits in unsere Repräsentationssysteme gekleidet ist”. 9 In meiner sinnlichen Wahrnehmung des Gemäldes von Pollock spielt auch immer meine subjektive Perspektive mit ein. Vielleicht habe ich erst einige Tage vorher Woyzeck gelesen, und schon kann dies die Prozesse der Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung im ästhetischen Erleben beeinflussen. Materielle Bilder sind nicht in sich ruhende Gegenstände. Vielmehr verändern sie sich je nach subjektiver Perspektive des Wahrnehmenden. Sie sind immer schon durch unsere subjektive Brille gefärbt. Dieser Ansicht geht auch Jens Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters nach, in der er die Ebene der „Tatsächlichkeit und Wirklichkeit” einerseits und die des „Erlebens und des Bewusstseins” anderseits “von ihrer Verbindung her zu verstehen und zu beschreiben” sucht. 10 Anhand Bernhard Waldenfels Untersuchungen zeigt Roselt die doppelte Bewegung der phänomenologischen Analyse, die annimmt, dass „Seinsgehalt und Zugangsart der Erfahrung unzertrennlich zusammengehören”. 11 Der Betrachter belebt erst durch sein je besonderes Erleben das ästhetische Objekt. Er konstituiert es. 12 Diese Perspektive schärft den Blick für gerade diejenigen Phänomene, in denen das wahrnehmende Subjekt durch die je eigene Perspektivität das Wahrnehmen und Erfahren des ästhetischen Gegenstandes permanenten Transformationen unterzieht. Diese Transformationen entstehen insbesondere in der abstrakten Kunst. In diesen Momenten, in denen Interpretationsansätze verworfen werden und man immer wieder neu ansetzen muss, spielt die Subjektivität des Erfahrenden eine besonders große Rolle. Einmal vermittelt die Materialität des Bildes eine eher hellere und freiere Atmosphäre, da ich die mentale Bildwelt eines von der Sonne beschienenen reißenden Flusses imaginiere. Ein andermal erscheint das Bild viel dunkler und hektischer, da ich das Gehetztsein eines Menschen assoziiere und mit negativen Gefühlen verbinde. Die deutenden Bezüge verändern sich radikal, was in einer solchen Intensität insbesondere bei nicht-gegenständlichen Bildlichkeiten das ästhetische Erfahren prägt. Plötzlich tritt etwas hervor und anderes zurück. Meine Aufmerksamkeit wechselt blitzartig. Derartige Augenblicke, in welchen die Prozesshaftigkeit der Wahrnehmung thematisiert und der subjektive Gehalt im Konstituieren des ästhetischen Gegenstandes regelrecht ausgestellt wird, zeigen sich besonders in der abstrakten Kunst. 9 W.J.T. Mitchell, Bildtheorie, hrsg. von Gustav Frank, Frankfurt am Main 2008, S. 65. 10 Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 148. 11 Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main 1997, S. 66. 12 Vgl. Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 212. <?page no="92"?> Denis Leifeld 92 Ästhetik des vielfach Möglichen Auch beim Erleben von Performern auf der Bühne kommt es zu solchen Wahrnehmungsumschwüngen. In einer enormen Intensität und Geschwindigkeit werden Bedeutungen verschoben, verworfen, umgestaltet und ins Gegenteil verkehrt. Nie scheinen sie sich zu stabilisieren. Das Wahrnehmen gestaltet sich als extrem unruhig, denn diffuse Verweise gehen vom Körper des Performers aus, die mit der mentalen Bildwelt des Zuschauers ausgehandelt werden. Durch die von Dieter Mersch beschriebene „Fülle des Sichzeigenden” kann es ebenfalls zu einer Überforderung kommen. 13 Auch hier hört man oft den schon oben angeführten Ausspruch: Das verstehe ich nicht! - Man fühlt sich wegen dieser enormen Freiheit möglicher Deutungen überfordert. Immer wieder setzt man an, scheitert, beginnt von neuem und verliert den Ansatz schlussendlich doch wieder. Aber gerade dieses Nichtverstehen zeigt, dass man sich in einem „Möglichkeitsraum für einen Möglichkeitssinn” befindet, indem sich grundsätzlich unendliche Möglichkeiten deutender Bezugnahmen auftun. 14 Es scheint, als bewege sich der Körper des Performers in dieser Ästhetik des vielfach Möglichen: Er verweigert Verweise in Richtung eines ordnenden Zentrums, sodass der Zuschauer in seiner Imagination mit einer Vielheit konfrontiert wird. Der Zuschauer ist weit davon entfernt, in diesen Augenblicken in der Wahrnehmung eine konkrete fiktive Figur entstehen lassen zu können. Doch nur weil dem Zuschauer das Erkennen von etwas als etwas verweigert bleibt, heißt es hier eben nicht, dass es überhaupt keine Verweise, keine Bedeutungen, keinen Sinn gibt, sondern hier muss wie auch bei abstrakten Bildern gesagt werden: Der Sinn multipliziert sich. In der Inszenierung INFERNO von Romeo Castellucci (Socìetas Raffaello Sanzio) bewegt sich in einer Szene eine bunt gekleidete Menschenmenge in langsamen Schritten von der rechten Bühnenhälfte in die Mitte. Ruhig setzen die unzähligen Frauen und Männer unterschiedlichen Alters einen Schritt vor den nächsten. In Viererreihen schieben sie sich im Halbdunkel der Bühne nach vorn. In meiner Bildwelt sehe ich einen langsam voranschreitenden Trauermarsch. Ich erinnere mich an Beerdigungen. Nur für einen Augenblick taucht die Assoziation an eine große Menschenansammlung auf, evtl. von einer Faschingsparade. Die Menschenmasse bewegt sich auf einen Jungen zu, der in der Mitte der Bühne steht, einen Basketball auf den Boden prellt und mit dieser Bewegung die vielfältigsten Geräusche 13 Dieter Mersch, „Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Erfahrung”, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen, Basel 2001, S. 294. 14 Philipp Stoellger, „Wo Verstehen zum Problem wird”, in: Juerg Albrecht u.a. (Hg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich, Wien, New York 2005, S. 26. <?page no="93"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 93 auslöst - Klänge zwischen zerschellenden Steinen und untierähnlichen Schreien. Kurz imaginiere ich Mütter, die abends nach ihren Kindern suchen, um sie vom Spielen zurück nach Hause zu bringen. Liegt dieses Bild vielleicht in der Sanftheit der Bewegungen begründet? Gleichzeitig wirkt dieses unaufhörliche Voranschreiten der Körper auch bedrohlich, als würden sie den Jungen gleich umreißen wollen. Plötzlich sinken die Akteure am Ende der Schlange in sich zusammen, knien teilweise nieder, setzen ihre Hände auf den Boden und legen sich ausgestreckt auf die Bühne. Dies löst eine Welle des Hinlegens aus, die sich in fließender Harmonie von hinten nach vorne durch die große Gruppe an Performern arbeitet. Wird der Junge in den Tod gerissen? Schlussendlich liegen alle mit dem Rücken nach oben auf der riesigen Bühne. Nur der Junge bleibt in der Mitte stehen und blickt irritiert in die Luft. Diese körperlichen Handlungen erscheinen mir wie eine Welle, wie ein sanftes Wasserspiel, so harmonisch sind sie. Gleichzeitig weisen sie aber auch eine enorme Brutalität auf. Sie zeigen sich mir wie ein kontinuierlicher Todessog, ein Szenario der Hölle, des Infernos. Mir kommen Bilder von Leichenbergen eines Kriegszenarios in den Sinn. Schon verliere ich mich in der mentalen Bildwelt von Kriegsberichterstattungen aus Nachrichten und Fernsehdokumentationen. Ich erinnere mich an einen Jugendfreund, der beim nächtlichen Weg nach Hause mit einem anderen Fahrradfahrer zusammenstieß, auf den Kopf fiel und im Krankenhaus starb. Auch die Körperlichkeit des kleinen Jungen löst vielfältige und auseinanderstrebende Assoziationen aus. Die Menschenmenge liegt ihm zu Füßen. Er erscheint wie ein trauriges, ängstliches und alleingelassenes Kind, wie ein kleiner Punkt auf der riesigen von unzähligen Körpern bedeckten Bühne. Auf einmal setzen sich die Leiber in Bewegung. Sie rollen ihm entgegen. Er klemmt seinen Ball unter den Arm und steigt über die langsam sich fortbewegende Menschenmasse. Nun scheint er diese Unsicherheit und Ängstlichkeit abgelegt zu haben. Ruhig setzt er seine Schritte zwischen die Körper und geht unbeirrt über sie hinweg. Für einen Moment sehe ich ihn in meiner Bildwelt über Wasser schreiten, als könne er darauf gottgleich gehen. Er bleibt stehen und blickt souverän ins Publikum. Sein Ball klemmt noch immer unter dem Arm. An seinem Körper vereinigen sich widerstrebende Eigenschaften, mal wirkt er unsicher und ängstlich, dann wieder unbeirrt, souverän und sogar gottgleich. An seinem Körper überlagern sich die Gegensätze. Keinesfalls lässt sich sein Körper in einen ruhenden Pol verwandeln. Er ist rätselhaft, nie endgültig und eindeutig. Auch in den Szenen zuvor warf er sich auf geheimnisvolle Weise ein Wolfsfell um den Rücken, kroch auf allen Vieren über die Bühne, als hätte er sich in dieses Tier verwandelt, steht im nächsten Moment auf und sprüht mit einer Dose die Lettern JEAN an die Wand. Diese körperlichen Handlungen bleiben unbestimmt, viele Deutungsmöglichkeiten bestehen: Will sich das Kind mit dem Wolfsfell schützen? Hatte es Angst? Nimmt er die Identi- <?page no="94"?> Denis Leifeld 94 tät des Akteurs an, der zuvor das Fell um sich geworfen hatte? Steht es für das Tierische im Menschen? Wird er zu einem Höllenhund, wie es vielleicht der Titel der Performance suggerieren lässt? usf. - Keine dieser Fragen beantwortet sich im Verlauf der Aufführung. Ich werde mit ihnen alleingelassen. Kein bestimmter Sinn deutet sich an. Imaginationen entstehen, die mit dem Sichzeigenden in einem irgend gearteten Ähnlichkeitsverhältnis stehen. So begleiten mich beispielsweise zahlreiche Assoziationen während der Junge langsam die Wand besprüht: Ich sehe Graffiti-Künstler, die an Hauswände sprühen. Ich sehe wütende Jugendliche, die kurze Slogans an Wände sprayen, um gegen die herrschende Ordnung zu rebellieren. Ich sehe mich in der S-Bahn sitzen, wie ich Graffitis unter Brücken und an Lärmschutzmauern beobachte. Ich sehe, wie ich in meiner Gedankenwelt auch meinen Namen an die Wand schreibe. Jedes dieser inneren Bilder kann das Erscheinende verändern: In einem Moment wirken die Handlungen des Jungen aggressiv und aufsässig, im nächsten wieder beruhigend. Der Körper des Performers rebelliert regelrecht vor jeglicher eindeutigen Zuschreibung. Unerwartete Wahrnehmungsmöglichkeiten tun sich auf - nach dem Motto: Immer mehr ist möglich. Der performende Körper zeigt sich in einer Vielheit, die sich jeglicher eindeutigen Benennung entzieht. In meiner Wahrnehmung bildet sich nichts Konstantes, nichts Vereindeutigendes. Vielmehr bin ich mit einer Verweisungsfülle konfrontiert, in der „die Dinge noch vieles bedeuten können”, wie es der Phänomenologe Bernhard Waldenfels ausdrückt. 15 Im Erscheinen des Performer-Körpers zirkulieren spannungsvolle Bedeutungen. Auch hier bewahrheitet sich wieder die schon eingangs formulierte These Mitchells, man könne nie der Repräsentation entkommen, denn das ästhetische Denken und Imaginieren kommt nie zu einem Ende und ist ständiger Begleiter des Wahrnehmens von ästhetisch Erscheinendem. Eine Ästhetik des vielfach Möglichen entsteht, die durch eine radikale Offenheit charakterisiert ist. Denn grundsätzlich kann alles mit allem in Beziehung gesetzt werden. Dem Wahrnehmenden wird so viel freieres und individuelleres Erfahren und Denken gestattet. Mit Wolfgang Iser kann diese Ästhetik des vielfach Möglichen umschrieben werden. Er zeigt am Beispiel der abstrakten Kunst, inwiefern sich diese Möglichkeitsvielfalt auf das wahrnehmende Subjekt auswirkt: Der Wahrnehmende kann sich dieser Fülle schwerlich entziehen und sieht sich mit „Kaskaden von Möglichkeiten” konfrontiert, die das Erfahren, Denken und so auch das Bildermachen regelrecht mobilisieren. 16 Er spricht auch von einer ästhetischen „Possibili- 15 Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, S. 106. 16 Wolfgang Iser, „Von der Gegenwärtigkeit das Ästhetischen”, in: Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main 2003, S. 192. <?page no="95"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 95 sierung”, die sich durch diese schier unbegrenzte Offenheit ergibt. 17 Und nicht nur in der abstrakten Kunst, eben auch beim Wahrnehmen des Performer-Körpers fächern sich Deutungsmöglichkeiten regelrecht auf. Das Erscheinende verändert sich in schnellem Wechsel: In einem Moment wirkt das Kind verloren und ängstlich, im nächsten wieder souverän und stark. Durch die Verweigerung des Erkennens von etwas als etwas entsteht eine Erfahrung des Indeterminierten, Heterogenen und Fremden, wie es schon bei Jackson Pollock erkannt wurde. Individuelle mentale Bildwelten entstehen, die ungeordnet und chaotisch sind - eine intensivierte „cognitio confusa”, die mit einer Thematisierung, Ausstellung und Intensivierung der Subjektivität einhergeht. 18 Ein viel größerer Spielraum des Deutens und Interpretierens entsteht - im Modus etwas als ähnlich wie sehen: ein Denken in Analogien. 19 Die unzähligen Körper der Performer erscheinen mir wie eine Welle, wie ein Bild der Hölle, wie ein Bild des Krieges, des Todes. Ästhetisches Denken in Analogien Wie kann nun dieses andere Denken beschrieben werden, das zwischen den Performer-Körpern und den Wahrnehmenden ausgehandelt wird? Wie kann dieses Denken in Analogien verstanden werden, das sich in den Mittelpunkt der Ästhetik des vielfach Möglichen positioniert - und somit der Ästhetik und Theorie des Performers? Dieses andere Denken kann mit dem berühmten analytischen Psychologen Carl Gustav Jung als assoziatives Denken bezeichnet werden. 20 C.G. Jung stellt diese Art zu denken dem gerichteten Denken gegenüber, das die Aufmerksamkeit lenkt. Man könnte sagen, dass beim Schauspielen im Literaturtheater die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Sosein des sich im Raum bewegenden Körpers auf eine Figur gelenkt wird. Die Figur dient als Orientierungspunkt im Prozess der Wahrnehmung. Dieses gerichtete Denken sucht natürlich der abschweifenden Haltung des Assoziativen entgegenzuwirken, die jedoch nicht immer verhindert werden kann. - Das assoziative Denken hingegen ähnelt vielmehr der Bildersprache eines Träumenden und gestaltet sich sprunghaft, ist sehr stark subjektiv geprägt und von unbewussten Motiven geleitet. Dieses Denken bezeichnet Jung auch als archai- 17 Ebd. 18 Vgl. dazu A.G. Baumgarten, Theoretische Ästhetik, übers. u. hrsg. von. H.R. Schweizer, Hamburg 1983. Dazu auch: Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2003, S. 16. 19 Vgl. Ursula Brandstätter, Grundfragen der Ästhetik. Bild - Musik - Sprache - Körper, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 23. 20 Vgl. Carl Gustav Jung, „Kapitel II: Über die zwei Arten des Denkens”, in: Ders., Symbole der Wandlung, Zürich 1952, S. 9-51. <?page no="96"?> Denis Leifeld 96 sches Denken, da es den Menschen mit tieferen, älteren Schichten des Geistes unter der Schwelle des Bewussten verbindet. Ich erinnere mich an einen in der Nacht mit dem Fahrrad verunglückten Jugendfreund oder assoziiere einen Todesfall in der Familie, also ich erinnere mich an zutiefst persönliche und private Bildwelten. Das von C.G Jung beschriebene Denken gestaltet sich durch Analogie, im Sinne von etwas ähnlich wie sehen. Assoziatives Denken zeichnet sich so durch ein hohes Maß an Individualität und Subjektivität aus und kann von dem sinnlich Erscheinenden völlig wegführen, sodass man in den privatesten Bildwelten kurz verweilt, wieder in neue eintaucht und sich erneut durch das ästhetische Objekt an eine andere Bildwelt erinnert fühlt. In meiner Bildwelt sitze ich kurz in der S-Bahn, beobachte Graffiti-Künstler, sehe Höllenhunde oder erschaffe sogar Wasser, über das ein kleiner Junge schreitet. Persönliche Imaginationen, vergangene Erfahrungen, Ideen, Assoziationen und Erinnerungen entstehen, die die Wahrnehmung prägen und die Erfahrungen mitgestalten. Jeder Zuschauer einer Theateraufführung hat sich schon einmal dabei ertappt, dass ein Assoziationsstrom das Denken in ganz andere Welten geführt hat. Das passiert häufig bei Langeweile; oder bei einem besonderen Moment, der Erinnerungen hoch holt, die mit dem Sichzeigenden nur in einem losen Analogieverhältnis stehen; oder eben bei Momenten des Performens, wenn ein Möglichkeitsraum geschaffen wird, eine Art ästhetischer Zwischenraum, an dem sich das Denken ungeordnet in jegliche Richtungen verstreuen kann. Das assoziative Denken kann eben auch als ungeordnetes Denken bezeichnet werden. Es muss keiner Logik folgen, sondern kann widersprüchlich sein und dem gesunden Menschenverstand gegenüber unabhängig bleiben. Natürlich kann der Junge in INFERNO nicht über Wasser gehen, doch in meiner Bilderwelt befreit er sich von dieser Ordnung, bricht vertraute Wahrnehmungsmuster auf und schlägt im wahrsten Sinne einen neuen Weg ein. Alles scheint möglich zu sein. Niemals gelangt das assoziative Denken zu einem endgültigen Schlusspunkt. Vielmehr können auch widersprüchliche Ideen geleichberechtigt nebeneinander bestehen bleiben. Der Junge wirkt nicht nur schwach und ängstlich, sondern eben auch stark und souverän. Beides kann in kreativer Spannung an seinem Körper zirkulieren. Die hier vertretene These, dass beim Performen assoziatives Denken intensiviert wird und das ästhetische Erleben prägt, schließt natürlich nicht aus, dass auch das gerichtete Denken eine Rolle spielen kann. Der Zuschauer versucht auch, kausal zu denken, Zusammenhänge zu entziffern, einen konkreten Verweispunkt zu erkennen. Man konstituiert seine individuelle Bedeutung und bahnt sich seinen eigenen - nur für sich selbst schlüssigen - Weg. Für eine gewisse Zeit kann dieser geordnete Denkweg auch aufrechtgehalten werden. Doch durch die intensivierte Polysemie einer postdramatischen Aufführung wird das gerichtete Denken immer wieder aus der Bahn <?page no="97"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 97 geworfen. Man wird gezwungen, neue Wege zu gehen, da man von neuen Assoziationen eingeholt wird - das regressive, ungeordnete Denken in Bildern zwängt sich auf. Die mentalen Bildwelten des Zuschauers sind so ständigen Wandlungen unterworfen, die viel mehr Freiräume für subjektive und individuelle Perspektiven gewähren. Eine Analyse des Performers muss immer auch diese assoziativen und subjektivierten Bildwelten mit einbeziehen, dieses ständig fortschreitende individuelle Bildernetz. Gerade auch die Vieldeutigkeit muss begrüßt werden. Denn es gibt nicht die eine Bedeutung, die es zu finden gilt, sondern es sind immer viele. Über die Analyse dieser Bedeutungs- und Bilderwelten wird auch immer etwas über das Phänomen selbst ausgesagt, also über den phänomenalen Leib des Performers. Warum muss ich gerade jetzt abschweifen? Warum erinnere oder assoziiere ich plötzlich dieses oder jenes mentale Bild? Wodurch entstehen diese Bildwelten? Was sagen sie über den Körper des Performers aus? In welchem Ähnlichkeitsverhältnis stehen meine Assoziationen zu den Handlungen auf der Bühne? Ich muss mich fragen: Warum erinnere ich gerade jetzt eine Trauergemeinde? Durch welche Mechanismen wird bei mir dieses Bild hervorgerufen? Sind es vielleicht die ruhigen und gleichförmigen Bewegungen der Performer? Oder auch die unheimliche Geräuschkulisse? Oder aber vielleicht auch ein erst kürzlich zurückliegender Trauerfall? - Anhand dieser Fragen ist zu erkennen, dass nicht nur in Richtung des ästhetischen Ereignisses gedacht werden kann, sondern immer auch in Richtung des Wahrnehmenden selbst. Ich erfahre nicht nur etwas über das ästhetische Objekt, sondern auch etwas über mich. Durch das Handeln der Performer findet eine radikalisierte Subjektivierung statt, in dem Sinne, dass eigene Assoziations-, Erinnerungs- und Bildwelten aktiviert werden und den Prozess des Erlebens begleiten, verändern und letztendlich das Erscheinende erst hervorbringen. Bei Momenten des Performens wird die Körpergebundenheit der Wahrnehmung besonders bewusst. In radikaler Weise wird deutlich, dass im Prozess der Wahrnehmung der eigenen Körper immer mitspielt. Bernhard Waldenfels zeigt in Rückgriff auf die Philosophie Maurice Merlau-Pontys, dass der Leib immer auf die Zugangsweise zurückwirkt, in der uns dieses oder jenes begegnet. Denn der „Leib ist immer da”. 21 Er kann nicht wie ein Hut abgelegt werden, sondern nimmt im Wahrnehmungsgeschehen immer einen zentralen Platz ein, von dem aus das Wahrzunehmende wahrgenommen wird. Wahrnehmen ist in gewisser Weise selbst eine performative Praxis, die erst Phänomene erscheinen lässt und ein Ding oder Vorgang mitbestimmt. In Aufführungen treffen Körper aufeinander - Schauspieler-Körper und Zuschauer-Körper. In diesem intersubjektiven und zwischenkörperli- 21 Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, S. 31. <?page no="98"?> Denis Leifeld 98 chen Prozess entstehen und vergehen Bedeutungen. Und eben dieser kreative Vorgang wird beim Performen besonders thematisiert, indem der Zuschauer seine unhintergehbare Perspektivität erfährt. Er nimmt wahr, wie sich das ästhetisch Erscheinende durch plötzlich neu auftuende mentale Vorstellungen wandelt. Die subjektive Bezugnahme, die individuelle Präsenz des Zuschauers und dessen kreative Rolle in der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes werden hervorgehoben und schaffen einen Raum der Subjektivität und Individualität, in dem man sich mit sich selbst konfrontiert sieht. Der Zuschauer spürt die eingangs formulierte Verbindung von Tatsächlichem und Erleben, seine kreative Rolle im Prozess des Sichzeigens des ästhetischen Ereignisses. Ähnlich wie bei der abstrakten Kunst herrscht beim Performen eine viel freie Erfahrung vor, die mehr Raum für subjektiv imaginierte Bildwelten lässt. In der gegenständlichen Kunst oder beim Rollenspiel des Schauspielers gestaltet sich die Wahrnehmung viel gerichteter, sie steuert auf konkretere Bedeutungen hin und verschwindet nicht sofort in diesem diffusen Feld des vielfach Möglichen, in dem jede Zuschauererfahrung auf radikale Weise individualisiert wird. In Momenten des Performens verfolgt jeder Zuschauer einen anderen Strom der Analogien und Assoziationen, der vom ästhetischen Gegenstand ausgeht. Der Wahrnehmende verschwindet nicht in der Masse der Rezipienten, die alle ungefähr das gleiche wahrnehmen und erfahren. Vielmehr erfährt man sich in dieser Ästhetik des vielfach Möglichen als Schöpfer des eigenen sinnlichen Wahrnehmens und ästhetischen Erfahrens. <?page no="99"?> Der Performer und die Bildwelten des Zuschauers 99 Abb. 1: Die ästhetische Wahrnehmung des Action Paintings von Jackson Pollock verselbständigt sich, sodass Imaginationen in die unterschiedlichsten Richtungen streben, sich über das Bild legen und es immerfort verändern. In ähnlicher Weise gestaltet sich auch das ästhetische Erleben von Performern, das in einer radikalen Vielheit belassen wird. - Jackson Pollock, Number 1A, 1948. 1948. Oil on canvas, 68’’ x 8’8’’. The Museum of Modern Art, New York. <?page no="101"?> Stefanie Husel The World in Pictures - Wissen im Spiel Hello, Hi, my name is Terry, and ...um... I'm gonna be doing the... the talking bit' tonight. I'm going to be talking you through the story of mankind ...and, ...um... everybody else here, as you probably already gathered everybody else here is going to be physically bringing the story to life....(! ) Bringing the story to life before your very ...eyes… 1 Mit dieser Behauptung leitet die Figur Terry, gespielt von der Schauspielerin Terry O'Connor, in Forced Entertainments Inszenierung The World in Pictures eine Erzählung der kompletten „History of Mankind” ein - in lebende Bilder gegossen von den pantomimischen Bemühungen neun weiterer Darsteller. Im ausufernden Versuch, die ganze Geschichte der Menschheit - vom Urmenschen bis zu Präsident Bush - zu erzählen, verselbständigt sich deren „szenische Illustration” zunehmend: Der wüste Tanz einer Höhlenmenschen-Horde in künstlichen Fellen und billigen Langhaarperücken geht über in Szenen mit einer Ausstattung aus Bettlaken und Plastikschwertern, Bebilderung für das römische Reich bzw. das Mittelalter. Unterbrochen wird dieser Bilderreigen zeitgenössischen Weltwissens von den seltsam intimen Monologen der Figur Jerry. Ich möchte Forced Entertainments „World in Pictures” entsprechend der zitierten Selbstbeschreibung als ein ironisches Panorama der Weltgeschichte bezeichnen. Dabei beziehe ich mich auf den Begriff des Panoramas, wie ihn Bruno Latour in Paris ville invisible einführte und in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft weiterentwickelte. Der Begriff des Panoramas ist ein vermutlich im England des 19. Jahrhunderts aufgekommenes griechisches Kunstwort und lässt sich grob als die „Alles-Sicht” übersetzen. Zeitgenössisch wird der Begriff als „Rundblick, Ausblick” oder „Rundgemälde” bzw. „Rund-Fotografie” verstanden. Latour bezieht sich in seinen metaphorischen Überlegungen zum Panorama auf dessen Ursprung. Inszenierte, begehbare Panoramen erfreuten sich im 19. Jahrhundert großer Popularität. Zylindrisch in einen Raum projizierte oder tapezierte Abbildungen z.B. von Stadt- oder Berg-Umgebungen sollten, zum Teil ergänzt mit dreidimensionalen Objekten im Vordergrund, größtmögliche Naturtreue bei maximalem Erleben für ihr Publikum herstellen. Man verstand diese begehbaren Pano- 1 Die hier verwendeten Zitate aus dem Stück wurden aus einem 2006 von Forced Entertainment herausgegebenen Aufführungsmitschnitt transkribiert. Dabei wurden Pausen und Füllgeräusche berücksichtigt. <?page no="102"?> Stefanie Husel 102 ramen als eine vergnügliche und doch wissenschaftliche Darstellung des Weltwissens ihrer Zeit. 2 Mit seiner Metapher vom begehbaren Panorama warnt Latour vor der Verführungskraft großer Zusammenhänge, die kohärent, offensichtlich und folgerichtig erscheinen: Wie die Etymologie nahe legt, sehen Panoramen […] alles. Doch sie sehen auch nichts, denn sie zeigen bloß ein Bild, das auf die dünne Wand eines Raums gemalt (oder projiziert) wurde, der nach außen hin völlig abgeschottet ist. 3 Die panoramische Darstellung von Weltwissen, vom großen Ganzen, verlangt von ihrem Zuschauer, einen Standpunkt im Innern des Panoramas einzunehmen: „… if we can see everything from all sides it's because we're inside a room in which the illusion is mastered”. 4 Derart konstruierte Gesamtschauen sind nicht alleine visuell arrangierten Panoramen vorbehalten. Daher bezieht sich der erkenntniskritische Panoramenbegriff Latours auch auf Zusammenhänge wie z.B. die „großen Erzählungen” Lyotards. Der Begriff des Panoramas erweist sich als besonders produktiv, weil er in die Lage versetzt, sowohl auf bildhafte wie diskursive Qualitäten solcher Zusammenhänge zu verweisen. Die Metapher vom Panorama erinnert an die reelle soziale und materielle Verfasstheit aller Darstellungen von Weltwissen, und sie erlaubt, den Zusammenhang zwischen der Darstellung des „großen Ganzen” und den zugehörigen betrachtenden Standpunkten als wechselseitig reaktiv zu beschreiben: The outside, the general framework, is not what dominates me; it is what I dominate with my gaze. But what I dominate I don’t see unless I refrain from looking outside […] hence, there is never much sense in distinguishing the individual and the context, the limited point of view and the unlimited panorama […]. 5 Als prototypisches wie plakatives Beispiel für ein zeitgenössisches Panorama führt Latour das Buch zehn hoch an, ein populärwissenschaftliches Bilderbuch aus den 1980er Jahren. 6 zehn hoch zeigt eine Anordnung ganzseitiger Bilder, denen als Überschriften dezente Schritte der Zehnerpotenzen des Meters beigeordnet wurden, beginnend bei 10 23 Metern, entsprechend einem Entfernungsmaß von einer Milliarde Lichtjahre, bis hinunter zu 10 -16 Metern, etwa der Größenordnung der Quarks. Unter der Überschrift 10 21 Meter ist 2 Vgl. zur Kulturgeschichte der Panoramen des 19. Jhd.: Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main, 1980. 3 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007, S. 323. 4 Bruno Latour, Emilie Hermant, Liz Carey-Libbrecht, Paris: Invisible City, o.O., Übersetzung aus dem Französischen 2006. 5 Ebd. S. 11. 6 Vgl. z.B. die deutsche Erstausgabe: Philip und Phylis Morrison; Charles und Ray Eames, zehn hoch. Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien, Heidelberg 1984. <?page no="103"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 103 z.B. ein „Bild der Milchstraße” zu finden, das Bild mit der Überschrift „10 0 ” zeigt einen aus einem Meter Höhe aufgenommenen mutmaßlichen Angloamerikaner. Die Bilder-Reise setzt sich fort ins Innere dieses Mannes. Dort sind, nach vielen weiteren Stationen, in allseits bekannter Doppelhelixformation, dessen „DNA-Stränge”abgebildet („10 -8 m”). Mit Latour lässt sich nun die Frage stellen: „…wo sollte die Kamera lokalisiert sein, um die Milchstraße als Ganzes zeigen zu können […] entlang welchen Maßstabes ließen sich die Bilder so regelmäßig anordnen? ” 7 zehn hoch erweist sich als eingängige und gefällige Konstruktion von Offensichtlichkeit, Folgerichtigkeit und Geschlossenheit eines zeitgenössischen Wissens um den Aufbau der Welt - im Allergrößten wie im Allerkleinsten. Forced Entertainments Welt in Bildern In Forced Entertainments The World in Pictures fällt die ironische Grundhaltung des in der Inszenierung gebotenen Panoramas auf. Zelebriert werden dort gerade die Brüche, es gelangen die Inkohärenzen, und der konstruierte, eklektizistische Status der in Bildern illustrierten „History of Mankind”auf die Bühne. Der Verlauf des Abends soll im Folgenden - von innen, aus dem Zuschauerraum betrachtet - beschrieben werden. Forced Entertainments Panorama nimmt seinen Ausgang im pantomimischen Tanz fellgekleideter Höhlenbewohner. Diese Darstellung urmenschlichen Lebens, aus deren Mitte das einleitende Zitat stammt, besteht im Reenactment einer Filmszene, was auf der Bühne explizit erwähnt und damit in seiner Bedeutsamkeit betont wird. Die Szene wird zudem vom Soundtrack des nachgespielten Film- Ausschnittes begleitet. Grundlage für dieses Nachspielen ist ausgerechnet das sechziger Jahre B-Movie One Million Years BC (in dem „eine Millionen Jahre vor unserer Zeit” animalisch unartikulierte Blondinen in Fell-Bikinis gegen Dinosaurier kämpften, die zum Beispiel von stark vergrößerten Hausschildkröten dargestellt wurden). Während des ohne Text vollzogenen Reenactments bleibt die Bühne leer, sie wirkt dennoch ausgefüllt durch die vielfältigen Bewegungen der in Plüsch und Perücken gekleideten Darsteller. Schließlich betritt „Erzählerin” Terry in neutraler Kleidung die Bühne und stellt sich vor (vgl. Zitat oben). Sie beginnt unverzüglich, in bester Sprecherposition links vorn an der Rampe, ausgerüstet mit Stativ und Mikrophon, mit der Erzählung der „History of Mankind”. Ihre Position behält Terry während der gesamten Erzählung bei, die pantomimischen „Illustration” ihrer Kollegen spielen sich hinter und neben ihr ab. Die von One Million Years BC inspirierten „Höhlenmenschen” versorgen sich derweil aus dem Off mit verschiedenen Requisiten und beginnen, einige kleinere klischeehaf- 7 Latour 2007, S. 319-320. <?page no="104"?> Stefanie Husel 104 te Szenen urmenschlichen Lebens pantomimisch darzustellen. Diese Darstellung gerät jedoch immer wieder ins Hintertreffen: Sie macht exzessiv dargestellten Rivalitäten Platz oder weicht der Beschäftigung mit plötzlich ins Spiel getragenen Gegenständen. Diese Form des vielfach ausufernden Spielens wird in den folgenden Szenen immer weiter vorangetrieben. Dadurch füllt sich die Bühne mit allerlei Dingen, allen voran Requisiten, die keine offensichtliche Funktion erfüllen. Schon ganz zu Anfang des Abends entwickelt sich damit zwischen der verbalisierten Geschichte und deren spielerischer „Illustration” eine Kluft. Während von der Frühzeit des Menschen als Jäger und Sammler erzählt wird, finden tatsächlich nur wenige erkennbar kohärent ausgespielte Illustrationen statt, die zudem drollig unbeholfen erscheinen; so bebildern kleine Heizöfen am linken Bühnenrand die Nutzbarmachung des Feuers, das Spiel mit einer Schneeschaufel gerät kurzzeitig zum Bild für den aufkommenden Ackerbau, etc. Den Mittelpunkt der Bühne, den größten Teil der Zeit und damit die meiste Aufmerksamkeit besetzen hingegen all jene Aktivitäten, die im Falle eines „ernstgemeinten” Panoramas, einer nicht ironisierten Darstellung von Weltwissen, hinter der sichtbaren Oberfläche zurücktreten müssten. Nur mehr einzelne Gesten und das Ins-Spiel-Treten weißer Laken zeigen in der folgenden Sequenz an, dass die „History of Mankind” im alten Griechenland bzw. gleichzeitig im Römischen Reich angelangt ist. Zur Illustration der „Dark Ages” ist tatsächlich das Licht auf der Bühne fast gänzlich ausgeblendet, während die Heizöfen bedrohlich flackern; das hohe Mittelalter präsentiert sich heimgesucht von karnevalesken Kreuzrittern und von der Pest, dem „Black Death”. Dargestellt wird dieser durch einen Schauspieler im augenscheinlich selbstgebastelten Skelettkostüm, der eine Schubkarre vor sich herführt. Spätestens ab dieser Szene kommt immer wieder Kunstschnee in großen Mengen zum gleichsam wirkungsvollen wie selbstreferenziellen Einsatz, indem er von einer fahrbaren Leiter herab rieselt und sich mithilfe einer Windmaschine über die Bühne verteilt; dabei repräsentiert er genauso heißes Öl, von Burgen auf feindliche Truppen gegossen, wie die Keime der Pestepidemie. Vor allem aber trägt der inflationäre Einsatz des Bühnenschnees zu einer stetig anwachsenden Verschmutzung der Bühne bei, deren Boden zu diesem Zeitpunkt schon mit einem regelrechten Teppich verbrauchter und zerstörter Requisiten bedeckt ist - ein Zeugnis der gemeinsam verspielten Zeit, Materialisierung aller bis dahin getätigten Spielzüge und Anstrengungen, ästhetische Manifestation der ablaufenden und höchst konkreten Bühnenzeit (vgl. Skizze ). <?page no="105"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 105 Abb. 1: Zwei Skizzen der Bühne in The World in Pictures einander gegenübergestellt; links die Bühne zu Beginn, rechts zum Ende der „History of Mankind”. Die bald heraufziehende Renaissance veranlasst Darsteller Richard, sich nackt in DaVinci-Pose zu zeigen, während seine Kollegen dies zu verhindern suchen. Im „Age of Reason” gelangt eine Schubkarre voller Literatur auf die Bühne. Während des lang währenden „Dance of Peace” (dem 19. Jahrhundert) erinnert Sprecherin Terry, nun unterstützt von einem Kollegen, an die Gräuel des 20. Jahrhunderts, die „noch in ferner Zukunft” lägen. Diese Gräuel, 1. und 2. Weltkrieg, Vietnam, Kambodscha etc., gehen, zu einer traurig poetischen Ballade zusammengefasst, über den Bilderzirkus hinweg. Unterdessen schweben ausgerissene Seiten aus den zuvor auf die Bühne gelangten Büchern sanft von der Bühnenleiter herab und gesellen sich zum überall verstreuten Kunstschnee. Plötzlich bricht unvermittelt die Mitte des 20. Jahrhunderts aus, in Form einer überzeugenden Playback- Aufführung des bekannten Songs 20th Century Boy der Gruppe T-Rex. Dabei wird die bis dorthin unangetastete Höhlenmenschen-Mähne eines Darstellers eingängig zur Glamrock-Frisur umkodiert. In der letzten Szene dieses Panoramas der Menschheitsgeschichte erklären Sprecherin und Kollege ihrem Publikum, sie würden nun etwas weniger Sorgfalt in der Darstellung an den Tag legen, denn: „People lived thru this stuff didn’t they? We can afford to go quickly.” Ich fasse zusammen: Thema des ironischen Panoramas in Forced Entertainments Stück wird keineswegs das dort ausgebreitete panoramische Wissen um die Geschichte der Menschheit, sondern die gleichsam dreckige Performativität in der materiellen Herstellung des Panoramas, das Unordentliche des Produzierens, das Spiel, das hinter jedem Requisit lauert. Dabei wird gleichzeitig auf die Notwendigkeit verwiesen, ein Publikum zu haben, an das sich ein Panorama richten kann, ein Publikum das mitspielt: Zwar muss ein Publikum jedem Panorama, egal ob ernst oder ironisch, seine Imagination und sein Vorwissen leihen; in Forced Entertainments The World in Pictures werden diese Publikumsqualitäten aber in besonderem Maße eingefordert, beispielsweise im erwähnten Spiel mit der Umkodierung vom <?page no="106"?> Stefanie Husel 106 Urmenschen zum Glamrock-Star. Auch das Mitspielen des Publikums erfährt somit eine deutlich erfahrbare Betonung, es wird ästhetisiert. Statt einem Blick auf das „Wissen unserer Zeit”, wie es die Panoramen des 19. Jahrhunderts boten, erlaubt das Panorama Forced Entertainments die ästhetische Erfahrung eines viel elementareren, praktischen Wissens: eines Wissens um die materielle wie soziale Konstruiertheit allgemeiner Wissensschätze. „Jerry” im ironischen Panorama The World in Pictures enthält einen weiteren Erzählstrang bzw. Handlungs- Komplex, der dem ironischen Panorama in gewisser Weise gegenübergestellt werden kann: An prominenten Stellen des Stücks, am Anfang, in der Mitte und zum Schluss, richtet die Figur Jerry, gespielt vom Schauspieler Jerry Killick, jeweils einen Monolog ans Publikum. Diese Monologe wirken hochgradig intim und authentisch. Als einzige Figur des Stückes erhält Jerry durchgängige Mehrdimensionalität, „er” spricht zu „uns”. Die Monologe seien hier ebenfalls kurz beschrieben. Zu Beginn des Stückes wird Jerry dem Publikum von seinen Darsteller- Kollegen vorgestellt als derjenige, der den Anfang der Show „machen” müsse. Hierzu erteilen ihm alle Kollegen, in ein Mikrophon sprechend, jeweils einen guten, zum Teil sehr persönlich anmutenden Rat, bevor sie Jerry auf der Bühne zurücklassen. Hierauf folgt Jerrys erster Monolog, während dessen er sich alleine auf der zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen leeren Bühne befindet; Jerry spricht mit dem Blick ins Publikum, er verwendet kein Mikrophon. Während der oben erwähnten Sequenz „Dark Ages”, die sich in der Mitte des Stücks befindet, spielt sich der mittlere Monolog ab. Jerry ist unterdessen gleich neben einem Fernseher, hinter einem Laptop platziert. Beide Geräte sind Teil des nicht weiter zweckmäßig erscheinenden Equipments, das während der bis dorthin vergangenen Szenen auf die Bühne geschafft wurde. Jerrys dritter Monolog ist nach dem Ende des ironischen Panoramas positioniert; die bebilderte „History of Mankind” ist beendet, nachdem sie in der Gegenwart angelangt ist. Jerry tritt in die Mitte der zu diesem Zeitpunkt mit Requisiten, Möbeln, „zweckfreien” Dingen und deren zerstörten Überbleibseln übersäten Bühne. Nachdem auch Jerrys dritter Monolog zu Ende gegangen ist, wird er erneut, diesmal von zweien seiner Kollegen, kritisierend angesprochen: Er solle sich einen besseren Schluss für das Stück ausdenken; auch hier verstärkt ein Mikrophon die Ansprache. Jerry verweilt daraufhin auf der Bühne, während um ihn herum gesäubert wird, begleitet von einer melancholischen Playbacknummer von Darsteller- <?page no="107"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 107 kollegin Wendy. 8 Stück für Stück verschwinden alle Requisiten, jede zu Boden gefallene Buchseite, die künstlichen Schneeflocken. Schließlich steht Jerry dem Publikum alleine auf leerer Bühne gegenüber, wie zu Beginn des Stückes - doch diesmal umgeben von wenigen übriggebliebenen Kunstschneeflocken als einzigen Zeugnissen eines langen Theaterabends (vgl. Skizze). Abb. 2: Skizzen zur szenographischen Wirkung der Figur Jerry; im Uhrzeigersinn: Jerry während seines ersten Monologs, während seines dritten Monologs, während die Bühne gesäubert wird und ganz zum Schluss der Aufführung. Die Figur Jerry wirkt insofern szenografisch als der Dreh- und Angelpunkt in Forced Entertainments The World in Pictures. Die Präsenz der Figur rahmt, umklammert und unterbricht das zuvor beschriebene ironische und doch in sich kohärente Panorama. Wie wörtlich Jerrys Zentralität im Stück genommen werden kann, verdeutlichen die eingefügten Skizzen (Abb. 2), die jeweils leicht rechts vom Zentrum der Bühne die Figur Jerry während verschiedener Szenen einer Aufführung zeigen. Inhaltlich arbeiten Jerrys Monologe mit narrativer Suggestivkraft. Sie setzen eine stark visualisierende Sprache ein. Die Bühne hält unterdessen keine illustrierenden Bilder als gemeinschaftlichen Bezugspunkt für alle Zuschauer bereit. Vielmehr wird Jerry in seinen Monologen als Ruhepol und 8 Es handelt sich bei dieser Playbacknummer um das Lied Harmonium der Gruppe Stereolab, dessen Text die Melancholie des Herbstes und der Vergänglichkeit besingt. <?page no="108"?> Stefanie Husel 108 Sprecher der großen Ernsthaftigkeit in Szene gesetzt. Alle Monologe adressieren das Publikum unmittelbar in der zweiten Person: Im ersten Monolog laufen wir mit Jerry einen langen Weg durch eine bevölkerte Stadt, folgen ihm in ruhigere Randbezirke, wir dringen in ein Haus ein, dessen Treppenhaus offen steht und klettern nach oben, bis wir schließlich alleine auf einem fremden Dach stehen. Angeleitet von Jerrys Erzählung stürzen wir uns virtuell hinab, berauscht von einer trügerischen Lust am „letzten großen Geheimnis”, unserer Sterblichkeit: „And ... you look to where your head would be and you know that somehow your brains are supposed to be...(! ) grey, so...you imagine them...on the...on the pavement”. Der mittlere Monolog Jerrys findet statt, während sich die panoramische „History of Mankind” in den „Dark Ages” befindet. Jerry kommentiert hier, selbst im Dunkeln kaum sichtbar, Bilder, die über einen auf der Bühne stehenden Fernseher laufen, und die willkürlich Dinge, Tiere, Menschen, Räume oder Landschaften zeigen. Zum Ende der Aufzählung heißt es: „These are...these are all just... ...some of the things that might...go through your mind when you are falling”. Im letzten Monolog schließlich resümiert Jerry über das Vergehen der Zeit. Über die Gegenwart der Aufführung, ihr Verstreichen und die vielleicht gar nicht so ferne Zukunft des Todes eines (oder gar einiger) der im Raum Anwesenden: „...And in...in five years time maybe one. or. some...of. the people in this room will have died… It's possible.” Vergleicht man beide thematischen Komplexe aus The World in Pictures mit Blick auf das dort vorkonstruierte Publikum, kann zusammenfassend festgestellt werden, dass das „ironische Panorama” der „History of Mankind” ein bildhaftes Weltwissen aufruft. In der Aneinanderreihung historischer Klischees (Römer, Ritter, Präsident Bush…) wird auf Wissen rekurriert, das jedes Publikumsmitglied mit hoher Wahrscheinlichkeit teilt. Dieses allerbanalste Allgemeinwissen des Publikums wird in seiner praktischen Verfasstheit kommentiert, gebrochen und verspielt. Forced Entertainments „History of Mankind”, so ironisierend und brüchig sie inszeniert ist, spricht doch immer ein Publikum als Ganzes an, sie erlaubt dem Einzelnen im Publikum die Erfahrung eines kollektiven Gewahr-Werdens, Lachens oder Kopfschüttelns. Adressaten der Jerry-Monologe sind ebenfalls die Personen, die dieses Publikum formen. Hier jedoch werden sie vereinzelt: Wenn Jerrys suggestive Erzählung vom Gang durch die Stadt beispielsweise vorschlägt: „So you have a look and you decide, what you will probably do is, on your way back, stop of there and have a cup of coffee... ”, ist es jeder Einzelne im Publikum, der sich selbst als Subjekt des erzählten Erlebnisses imaginiert. Trotz der numerischen Unbestimmtheit des englischen Personalpronomens bezieht sich Jerrys „You” eindeutig auf den einzelnen Hörer, wohingegen die Ansprache aus der „History of Mankind”ein Publikum als Gruppe einbezieht. Tim Etchells kommentierte diese für Forced Entertainment typische Darstellungstechnik wie folgt: <?page no="109"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 109 Build the audience. Draw them in. Mass them. Make them feel at home. Make them part of ‘it’. Make them part of the crowd. Call them ‘human beings’. Give them the taste of laughing together. […] Split the audience. Make a problem of them. Disrupt the comfort and anonymity of the darkness. […] Give them the taste of laughing alone. The feel of a body that laughs in public and then, embarrassed, has to pull it back. 9 In den Monologen der Figur Jerry, die die große ironische „History of Mankind” einklammern und in der Mitte unterbrechen, ihr damit schon rein formal entgegenstehen, wird ein Gegenentwurf zu diesem ersten großen Panorama geboten: Während die „History of Mankind” sich zwar ironisch, doch immer vergemeinschaftend an eine große Gruppe wendet, vereinzeln die Jerry-Monologe ihr Publikum. Sie thematisieren solche Vereinzelung darüber hinaus radikal im immer wieder getätigten Verweis auf die je ganz persönliche, subjektive Furcht vor dem Tod. Die „Rolle des Zuschauers” befindet sich in The World in Pictures damit im ständigen Wechsel zwischen der Position des anonym im Kollektiv genüsslich Beobachtenden und der des vereinzelt Lauschenden. Bis hierhin konnte im Nachvollzug der Dramaturgie von Forced Entertainments The World in Pictures gezeigt werden, dass sowohl die eingangs zitierten Überlegungen Latours zum Panoramenbegriff wie auch die besprochene Inszenierung Forced Entertainments an einer Entlarvung der großen Bilder, der großen Erzählungen arbeiten. Dabei reicht die entlarvende Geste aus The World in Pictures noch weit über ihre erste und sichtbarste Manifestation hinaus, die in der Ironisierung des Vorhabens besteht, eine große „History of Mankind” zu illustrieren. Es ist vielmehr die Aufführungssituation selbst, die entlarvt wird - ihre Möglichkeitsumstände und die jeweils situativ sich neu kodierende Rolle des Zuschauers werden Gegenstände der ästhetischen Thematisierung, sie werden situativ erfahrbar. Das Panorama verlassen Latours Sozialwissenschaftler muss den Standpunkt im Inneren des Panoramas verlassen, um etwas über dessen Beschaffenheit, sozusagen über dessen Hinterbühnen zu erfahren: Das ‚große Bild‘ ist nämlich nicht mehr als das: ein Bild. Dann lässt sich allerdings die Frage formulieren: In welchem Kino, in welcher Ausstellung wird es gezeigt? 9 Tim Etchells, „ Not Part of the Bargain ” , in: Tilmann Broszat, Gottfried Hattinger (Hg.), Theater etcetera, München 2001, S. 122. <?page no="110"?> Stefanie Husel 110 Durch welche optischen Hilfsmittel wird es projiziert? An welches Publikum ist es adressiert? 10 Wäre ein vom idealen Standpunkt des Zuschauers entfernter, analytischer Blick etabliert, erschlössen sich damit höchst vielfältige, neue Orte und Ansichten. Ein Wissen über das Wissenkönnen verspräche sich zu zeigen: „We suddenly notice that, if we spoke of Paris, the Invisible City, it was essentially […] to give back, in a little beauty, some of the lavish splendor that the City of Light has in store.” 11 Um einer Aufführung im Theater reibungslos beiwohnen zu können, benötigt jeder Beteiligte einen reichen Schatz Vorwissens. Solches Wissen ist eingekörpert, in diffuse Erwartungen verpackt, es ist „in der Praxis”, bleibt implizit und ist dabei doch selbstverständlich. Es garantiert die stabile Hinterbühne, auf der jede Aufführung aufbaut. Forced Entertainments The World in Pictures bietet dem Publikum ein Spiel möglicher Standpunkte. Das Stück eröffnet einen kleinen Blick auf die Hinterbühnen seiner Darstellung, von wo ein wenig des ungeahnten Reichtums an implizitem Wissen aufblitzt, erfahrbar, explizierbar wird. Sowohl das Stück The World in Pictures als auch das Künstlerkollektiv Forced Entertainment befinden sich mit solch selbstreferenzieller Form der Theaterarbeit in guter Gesellschaft; die zugehörige ästhetische Programmatik kann als paradigmatisch für zeitgenössische, postdramatische Theaterarbeit begriffen werden. 12 Doch besitzt auch ironische, selbstreflexive Panoramisierung (notwendigerweise) ein „Innen”. Analytische Arbeit an einem Gegenstand wie The World in Pictures würde der Reflexivität dieses Gegenstandes nicht gerecht, wenn sie es nicht ihrerseits verstünde, ihre Zuschauerperspektive im Zentrum der Aufführung zu verlassen. Ich möchte mich daher im Folgenden in wenigen Beispielen ein zweites Mal Forced Entertainments The World in Pictures nähern: Ich verlasse die Kohärenz des dramaturgisch umschmeichelten Blicks aus dem Zuschauerraum und wage mich daran, meinen Forschungsgegenstand, ganz konkret, nach den Bedingungen seines Entstehens zu befragen. Wie das ironische Panorama Forced Entertainments, das auf seine konkrete soziale und materielle Verfasstheit rekurriert, um den Reichtum seiner „Hinterbühnen” erfahrbar zu machen, möchte auch ich auf die konkreten Möglichkeitsumstände von The World in Pictures abzielen: auf die Kommunikationssituation der Aufführung. Wie können sowohl die Praktiken der Inszenierung wie die der Wahrnehmung hervorgehoben werden, die sich während einer Aufführungssituation wechselseitig beeinflussen und ermöglichen? Wie werden Situationen, inhaltliche Konstellationen oder Atmosphä- 10 Latour (2007), S. 323. 11 Latour, Hermant, Libbrecht (2006), S. 103. 12 Zum Begriff und der ästhetischen Programmatik des „Postdramatischen Theaters” vgl. Hans-Thies Lehmanns gleichnamige Arbeit, Frankfurt am Main 1999. <?page no="111"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 111 ren in der Theateraufführung greifbar gemacht? Wie wird die Situation der Aufführung aufrecht erhalten, wie wird Präsenz produziert? 13 Die Leitfrage zu dieser Form analytischer Arbeit könnte lauten: Was macht Theater wirklich? Im doppelten Wortsinn des Satzes. Presence, as Herbert Blau has pointed out, may be one of theatre's most powerful illusions, but this does not release us from the need to understand the particular ways in which theatre's ‘magic’ makes those illusions present for us. 14 Bezogen auf The World in Pictures sollen im Folgenden die Konstruktion der Figur Jerry und ihrer speziellen Präsenz konkretisiert werden: Welche Techniken ermöglichen, dass die Figur Jerry ihre intensive Plastizität erhält? Welche Praktiken lassen die fast schon erschreckende Nähe und Authentizität dieser Figur entstehen? Diesen Fragen möchte ich mich anhand einer kurzen Analyse dreier Inszenierungstechniken nähern. Jerry ist die einzige Figur in The World in Pictures, die einen offenen Rollenwechsel vom „Sprecher” zum „illustrierenden Darsteller” vollzieht: Eine Maske wird angelegt. Andere Figuren hingegen spielen ihr Verharren in ihren jeweiligen Rollen aus. Besonders deutlich wird dies z.B. an „Darsteller Robin”, der in den letzten erzählten Jahrhunderten „Erzählerin Terry” mit seinem Geschichtswissen aushilft. Seinen Wechsel vom „Darsteller” zum „Sprecher” vollzieht er nur verschämt, er spricht nicht selbst ins Mikrophon, sondern flüstert ausdauernd in Terrys Ohr. Ganz anders Jerry: Der steigt nach seinem ersten Monolog, in der Mitte der Bühne platziert und gerade noch letzte Worte an das Publikum richtend, beschwingt in sein „Höhlenmenschenkostüm”. Darüber hinaus wird auf diese Aktion des Umziehens sogar mehrfach im Text der Figur rekurriert, z.B. wenn Jerry, zum großen Vergnügen des Publikums, in die Runde fragt: „Are we doing it with our pants on? ”. Dieser gleichsam offizielle Rollenwechsel lässt zunächst eine Rollenfigur entstehen: einen „Höhlenmenschen”. Ebenfalls entsteht aber die Figur des Darstellers Jerry als Mitglied des pantomimischen Bebilderungsensembles - im Kostüm eines Höhlenmenschen. Jerrys „Höhlenmenschen-Figur” wird dabei komplex, gehört sie doch ganz offensichtlich in eine Theater-auf-dem- Theater Ebene. Darüber hinaus betont der hervorgehobene, inszenierte Rollen- und Kostümwechsel aber gerade denjenigen, der als „Mensch unter der Maske” fungiert; im selben Moment wie die geschachtelten Figuren „Höhlenmensch” und „Höhlenmenschendarsteller” ins Leben gerufen werden, entsteht auch ein seltsam hybrider „authentischer Jerry” als Träger dieser Figur(en). Die Verwendung der tatsächlichen Vornamen der Schauspieler für die in The World in Pictures agierenden Bühnenfiguren bzw. deren darge- 13 Nach der „Produktion von Präsenz” fragt z.B. Hans Ulrich Gumbrecht, vgl. Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt am Main 2004. 14 Cormac Power, Presence in Play, Amsterdam 2008, S. 207. <?page no="112"?> Stefanie Husel 112 stellte Darsteller als ein weiteres Moment dieser Inszenierungspraxis könnte Gegenstand weiterführender Forschungsarbeiten werden: Man könnte sich dabei z.B. daran erinnern, dass Helmuth Plessner den Namen als extremste Form der Bekleidung, als internalisiertes Ornat begriff. 15 Die Figur Jerry wird weiterhin in aufwändiger Inszenierung vom Rest der (dargestellten) Darsteller separiert. So betreten alle Schauspieler aus The World in Pictures zu Beginn des Abends gemeinsam die Bühne, formieren sich dann aber zu einer Jerry gegenüberstehenden Menge. Aus dieser Menge heraus adressieren Jerry verschiedene Ratschläge (vgl. Abb. 3). Wie in der großen Geschichte von der Geburt des Theaters im Griechenland des fünften Jahrhunderts a.C., tritt hier der Einzelne aus der Gemeinschaft heraus. 16 Die Figur Jerry steht nun zwei Kollektiven gegenüber: den übrigen Figuren und dem Publikum (vgl. Skizze). Abb. 3: Die räumliche Separierung Jerrys in der Anfangsszene von The World in Pictures. Durch diese mehrfach angewandte Inszenierungstechnik der Separierung kann Jerry zur wirkmächtigen Identifikationsfigur werden, erfährt „er” doch, gleichzeitig wie das Publikum, eine beständige Umkodierung vom Vereinzelten zum Gruppenmitglied. 15 Vgl. Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers”, z.B. in: Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften VII. - Ausdruck und menschliche Natur, S. 313. 16 Georg Hensel spricht zum Beispiel von einem „feierlichen Augenblick” in dem eine der „Grundlagen unserer Kultur” entstanden wäre. Vgl. Georg Hensel, Spielplan, München 1999, S.18. <?page no="113"?> The World in Pictures - Wissen im Spiel 113 Zudem bleibt Jerry die einzige Figur, mit der abgeschlossene Sequenzen interner Kommunikation inszeniert werden. Andere Figuren sprechen zu Jerry. Sie erteilen ihm Ratschläge oder kritisieren seine Monologe, wenden sich ihm dabei körperlich zu und erhalten von „seiner” Seite entsprechende Reaktionen, wie z.B. offen ausgespieltes „Zuhören” oder „Stirnrunzeln” etc. In den wenigen weiteren Fällen, in denen einzelne Figuren während The World in Pictures auf ähnliche Art angesprochen werden - z.B. in Terrys Replik: „It's all right Richard, I think we are pretty safe here in the theatre” - kommt keine ausgespielte, beidseitige interne Kommunikation zustande: Die Angesprochenen reagieren nicht, Sprecher wenden den Blick ins Publikum anstatt zum Adressaten, oder aber die komplette Sequenz findet unhörbar, als angedeutetes Flüstern von einem (dargestellten) Darsteller zum nächsten statt. Anhand solcher Kontrastierung der internen Kommunikation mit Jerry gegen die brüchige, theatral dysfunktionale interne Kommunikation der anderen Figuren, erfährt die Figur Jerrys eine seltsame Naturalisierung. Die speziell „realistische” Darstellung interner Kommunikation mit der Figur Jerry entlarvt sich jedoch augenblicklich als Konstruktion: Alle Ansprachen von anderen Figuren an Jerry (und nur an Jerry) werden mit einem Mikrophon verstärkt, auch wenn dies akustisch vollkommen unnötig bleibt; sie kommentieren somit beständig die Tatsache, dass Jerry als Bühnenfigur auf einer Bühne steht, dieser Bühne seine Präsenz, seine Authentizität verdankt. Erst die bis hierhin angedeuteten vielfältigen Fallhöhen produzieren die schillernde Fülle im Aufbau der Figur Jerry, die zur Faszination und zur fast schon unheimlichen Nähe führt, die die Figur schließlich dem Publikum gegenüber generieren kann - Jerry als der privat präsente Mensch jenseits der Maske, der Ansprechbare, der Ansprechende. Die Analyse der Produktion von Präsenz im Falle Jerrys benötigt die Blickverschiebung auf die hier besonders kunstvoll gestaltete und doch weiterhin höchst funktionale theatrale Kommunikationssituation, um den Reichtum ihrer „Hinterbühne” zeigen zu können. 17 Mit Martin Seel besteht die grundlegende Funktion jeder ästhetischen Inszenierung in ihrer Produktion und Betonung von Gegenwart. 18 Die paradox anmutende Behauptung „vergegenwärtigter Gegenwart” definiert sich in der - erst durch Inszenierung ermöglichten - Wahrnehmung momentaner, konkreter und unfassbarer Fülle, wie sie dem Zuschauer in der ästhetischen Aufführung geboten wird. Gegenwart und Präsenz werden fühlbar gemacht, indem sie unfassbar ge- 17 Der Begriff der Hinterbühne wird auf die hier intendierte metaphorische Art und Weise v.a. von Erving Goffman verwendet, der sich in seinen Schriften für die Ermöglichung von Erfahrungen interessierte. Vgl. z.B. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1989. 18 Vgl. Martin Seel, „ Inszenierung als Erscheinenlassen ” , in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main 2008. <?page no="114"?> Stefanie Husel 114 halten werden. Solche Unfassbarkeit entsteht zum Beispiel, indem die „Rolle des Zuschauers” oder die Wahrnehmungsmöglichkeiten für eine Figur in Oszillation gehalten werden, wie es an verschiedenen Beispielen aus The World in Pictures gezeigt werden konnte. Insofern baut Inszenierung einen (zeitlich, räumlich und sozial) übersehbaren und doch unfassbaren Horizont der Begegnung mit dem Gegenwärtigen auf. An diesem Punkt schließt sich der Kreis, erinnert diese Definition der Inszenierung doch sehr an die des Latour’schen Panoramas. Denn Panoramen zeichnen „…ein Bild, das keine Lücke aufweist, sie geben dem Betrachter den starken Eindruck, er sei vollkommen eingetaucht in die wirkliche Welt”. 19 Herausforderungen und entlarvende Gesten den „großen Panoramen” gegenüber, wie sie in Bruno Latours Schriften wie in Forced Entertainments bestehen, könnten aus Sicht der Theaterwissenschaft als ein Appell zur Sorgfalt, zur Liebe zum Detail und zum Konkreten verstanden werden. Denn in der Verschiebung des Blicks auf den Reichtum ihrer „Hinterbühnen” kann die verschwenderische Fülle von Arbeiten wie The World in Pictures eventuell aufgehoben, bewahrt und in ein verändertes Wissen überführt werden. Jerry: ...to be honest, I don't think that I have anything to add to what I said before ...you know... we ARE all going to be dead in 10.000 years time ...you know... there is nothing I can do about that. (…10sec…) I suppose... if you wanted to put some kind of positive spin on that you could say that that means we should make the most of the time that we do have ...and... I have certainly enjoyed the last ...two hours or so, and I hope that you have too. (…10sec…) So. Yeah. Thanks very much for coming. And good night. Alle szenographischen Skizzen wurden von Stefanie Husel 2009 erstellt und orientieren sich an Videostills aus dem von Forced Entertainment 2006 auf DVD herausgegebenen Aufführungsmitschnitt zu The World in Pictures. 19 Latour (2007), S. 325. <?page no="115"?> Andreas Englhart Was ist ein Theaterbild? Überlegungen zum Phänomen des Bildes im Theater 1 Wahrnehmungsakt und ‘Ort der Bilder’ In meinen folgenden Überlegungen soll es um die grundlegende Frage gehen, was denn ein Theaterbild überhaupt ist. Denn wir sprechen zwar gerne über das Theaterbild, aber wir werden dabei kaum konkret. Mit guten Gründen, denn die Suche nach dem Theaterbild gleicht dem Turmbau zu Babel: Umso mehr man sich dem Ersehnten zu nähern scheint, umso divergenter werden die Thesen, Ansätze und Aussagen. Vielleicht macht aber gerade die Unbestimmbarkeit den Reiz des Theaterbildes aus. Die Unbestimmbarkeit liegt eigentlich schon in der Frage begründet, was denn ein Bild überhaupt ist. Die Frage öffnet ein weites Feld der Möglichkeiten zur Annäherung an das Phänomen, aufgrund des beschränkten Raums muss das Folgende auf eine grobe Skizze der Problematik beschränkt werden. Der Titel dieser Zeilen spielt natürlich auf den bekannten Aufsatz „Was ist ein Bild? ” von W.J.T. Mitchell, der für einen auch historisierenden Dialog zwischen sprachlicher und bildlicher Repräsentation plädiert, an. 1 In diesem Spannungsverhältnis konstituieren sich mutmaßlich das Interesse und die Motivation einer interdisziplinären Bildwissenschaft. Sie resultiert aus der Erkenntnis, dass man, um eine bekannte Sentenz von Augustinus abzuwandeln, zwar eigentlich weiß, was ein Bild ist, aber, wenn man es erklären und gedanklich begreifen will, methodischen Schwierigkeiten gegenübersteht, denen sprach- und textverbundene, insbesondere linguistische und strukturalistische Methoden nicht wirklich beikommen. Die Erfahrung des Bildes ist zwar begrifflich anzuzeigen, kann aber auf dieser Ebene nicht erklärt werden, dies gilt umso mehr für das Theaterbild, das vor allem wahrgenommen wird, weil es wirkt. Roland Barthes folgend ist Theater tatsächlich jene Praxis, die einkalkuliert, wo die Dinge gesehen werden: Bringe ich das Geschehen hier an, so wird der Zuschauer das sehen; bringe ich es dort an, so wird er es nicht sehen, und ich kann dieses Versteck benutzen, um mit ei- 1 W.J.T. Mitchell, „Was ist ein Bild? ”, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit, Frankfurt am Main 1990, S. 17-68. <?page no="116"?> Andreas Englhart 116 ner Illusion zu spielen: Die Bühne ist jene Linie, die sich quer durch das optische Bündel zieht und es in seiner Entfaltung gleichsam begrenzt: Somit wäre als Widerpart [...] zum Text die Abbildung begründet. 2 Die Aufführung wird dabei nur dann als Theaterbild erkannt, wenn dieses als solches vom Zuschauer wahrgenommen wird. In der Wahrnehmung des Zuschauers ist das Theaterbild keineswegs das perzeptuelle Bild. Es unterscheidet sich als Bild vom Nicht-Bild durch seinen Rahmen und seinen Mittelpunkt. Für Georg Simmel „schließt” das Bild „alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der es allein ästhetisch genießbar ist”. 3 Die ästhetische Wirkung des Theaters wird also erst durch den Rahmen und den Mittelpunkt des Theaterbildes möglich. Der Mittelpunkt des Bildes ist jedoch nicht der Aufmerksamkeitsschwerpunkt. Die immer schweifende Wahrnehmung generiert es und interagiert mit dem Gesamtbild im Spiel der Augenbewegungen, die die empirische Psychologie als ruhende Fixationen und springende Sakkaden ermittelt. Der Aufmerksamkeitsschwerpunkt ist mit der Ballung der Fixationen gleichzusetzen, er deckt sich fast nie mit dem Mittelpunkt des Bildes. Was die Aufmerksamkeit des Zuschauers erregt, hängt dabei vor allem von einer ‘dritten Partei’ ab. Im Akt der Wahrnehmung ist immer diese ‘dritte Partei’ beteiligt, die dem Zuschauer insbesondere in traditionellen Theaterformen kaum bewusst ist, da diese nicht auf die Bedingungen des Wahrnehmungsvorganges selbst reflektieren. Auf diese Partei deutet Roland Barthes mit seinem Bildrepertoire. Mit Wolfgang Metzger gesagt, dessen phänomenologischer Ansatz in der Psychologie bei Weitem einflussreicher ist als der Maurice Merleau- Pontys: Relevant ist für den Zuschauer nicht das Bild, das sich physikalisch ausprägt, sondern das Bild, das im Kopf des Betrachters entsteht, die Gehirnforscher Gerhard Roth, Wolfgang Singer und Ernst Pöppel nennen es Konstrukt. 4 Letztlich berührt der Vorgang der Konstitution und Wahrnehmung eines Theaterbildes annähernd alle ‘Arten’ aus Mitchells „Familie der Bilder”, also das grafische, das optische, das perzeptuelle, das geistige und das sprachliche Bild. 5 Ich betone annähernd. In diesem Sinne könnte man das grafische und eventuell das optische als das theatrale sowie das perzeptuelle als das zuschauerperzeptuelle Bild interpretieren. Und zudem das geistige Bild als 2 Roland Barthes, „Diderot, Brecht, Eisenstein”, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 94-102, hier S. 94. 3 Georg Simmel, Zur Philosophie der Kunst: Der Bilderrahmen, Potsdam 1922, S. 46. 4 Wolfgang Metzger, Psychologie, Darmstadt, 1963; Ernst Pöppel, Der Rahmen, München 2006; Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt 1997; Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main 2002, S. 108. 5 W.J.T. Mitchell, „Was ist ein Bild? ”, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit, Frankfurt am Main. 1990, S. 17-68, hier S. 19-20. <?page no="117"?> Was ist ein Theaterbild? 117 die immer auf Erinnerung und Fantasie angewiesene Verarbeitung der Sinneseindrücke sowie das sprachliche Bild als mündlichen oder schriftlichen Bericht aus der Black Box des Zuschauers, der - etwa in der Theaterkritik - das ästhetische Erlebnis am besten in Metaphern reflektiert, deuten. Evident ist, dass zwischen dem produzierten und dem rezipierten Bild die ‘dritte Partei’ ins Spiel kommt, die sich aus bildanthropologischer Sicht für die Begegnung des ‘Ich’ mit dem Anderen in der medialen Konstellation des Theaters ergibt und ihre Basis im kulturellen Gedächtnis (Jan Assmann), in der mentalen Disposition des Einzelnen und im ‘Bildrepertoire’ (Barthes), dem mentale Stereotypen inhärent sind, hat. Für Hans Belting, für den der „Doppelsinn innerer und äußerer Bilder” vom „Bildbegriff nicht zu trennen” ist und dadurch „dessen anthropologische Fundierung” verrät, ist ein Bild „mehr als ein Produkt von Wahrnehmung”, denn es „entsteht als das Resultat einer persönlichen oder kollektiven Symbolisierung”. Über das Kollektive erscheint im anthropologischen Blick der, so Martin Heidegger, ‘weltbildende’ Mensch nicht als Herr seiner Bilder. Er ist eher der „‘Ort der Bilder’, die seinen Körper besetzen: Er ist den selbst erzeugten Bildern ausgeliefert, auch wenn er sie immer wieder zu beherrschen versucht”. 6 Die „Ungewißheit über sich selbst” evoziert im Menschen, so Belting, die „Neigung, sich als anderen und im Bild zu sehen”. 7 Insofern ist das Theaterbild ein Resultat der ständigen Bemühung, der existenziellen Fremdheit der Welt einen ‘eigenen’ Ent-Wurf entgegenzusetzen, der zugleich die Welt ist und darüber hinaus tragischerweise Welt entzieht und sich nur indirekt im Begehren des Ganzen oder der ‘wirklichen’ Wirklichkeit anzeigt. Dieser Entwurf wird dann vom perzeptuellen Bild zum Theaterbild, wenn die Inszenierung als Rahmensetzung sichtbar wird, wenn etwas in Szene gesetzt wird, das eben nicht ‘wirklich’ ist, sondern auf ‘Wirklichkeit’ verweist. 2 Warum betrachten wir etwas, ein Bild der Dinge oder ein Theaterbild? Wie die Wahrnehmungspsychologie nachweist, richtet man die Aufmerksamkeit nur auf einen minimalen Bruchteil der angebotenen Reizmenge, des potenziellen Inputs an physikalischer ‘Wirklichkeit’. Das Wahrgenommene und damit auch das rezipierte Bild entsteht im Kopf des Betrachters als Konstrukt im Sinne einer Funktion aus im Inneren gebildeten Hypothesen und den die Sinnesorgane anregenden physikalischen Reizen. Sehr vereinfacht kann man sagen, dass das beachtet wird, was relevant und prägnant für den Zuschauer erscheint. Relevant sind Wahrnehmungen, die für den Zuschauer von persönlichem Interesse sind, prägnant sind Gestal- 6 Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001, S. 11-12. 7 Ebd. <?page no="118"?> Andreas Englhart 118 ten, die sich für den Betrachter als einfache, als ‘gute’ Gestalten deutlich vom Grund abheben. Prägnante Formen können durch Farbe, Struktur, Aufbau, Komposition, jedoch auch durch Bewegung, insbesondere durch die Bewegung einer Figur auf der Bühne, gegeben sein. Uns interessiert als Menschen natürlich trotz mancher avantgardistischer Ent-Psychologisierungen weiterhin der Andere als Mitmensch. Und in seiner Gestalt ist der Aufmerksamkeitsmittelpunkt das Gesicht und im Gesicht wiederum sind es die Augen. Bezüglich der Augen muss ein seltsamer Widerspruch festgestellt werden. Denn einerseits sind sie der Projektionsmittelpunkt aller unserer Vorurteile, Stereotypen und Meinungen über den Anderen, andererseits sind sie, Emmanuel Lévinas zufolge, die Aufforderung des Anderen, ihn als immer Fremden, Unbegreifbaren anzuerkennen. In dem Blick des Anderen auf uns im Theater - eine mediale Spezifizität des Theaters, die sich atmosphärisch dann besonders bemerkbar macht, wenn wir denken, wir werden vom Schauspieler angeblickt und direkt wahrgenommen - bündelt sich das Spiel zwischen der im Extrem totalitären Interpretation des Anderen und der Auflösung aller Interpretationen durch den An-Blick des Anderen. Aufmerksam wird der Betrachter bzw. Zuschauer demzufolge grundsätzlich auf Reize, deren Anziehung als Wirkung im Betrachter durch semiotische Methoden nicht erklärt werden kann. Die Psychologie spricht hier von Anmutungen, welche mit der kognitiven Verarbeitung konvergieren, im gemeinsamen Wirkungsverhältnis aber generell den stärkeren Part übernehmen. Michail A. Čechov, der Stanislawskijschüler und weithin unterschätzte Schauspielertheoretiker, hat bereits in den 30er Jahren postuliert, dass Schauspieler eine Atmosphäre als gemeinsame Sphäre zwischen Bühne und Zuschauerraum herstellen. Den Begriff der Atmosphäre benutzt auch Gernot Böhme, um die Anmutung durch prägnante Reize begrifflich zu markieren. 8 Obwohl Böhme neben der Prägnanz die Wirkung der Relevanz unterschlägt, macht er auf ein nicht ausschließlich, doch stark visuell determiniertes Phänomen aufmerksam, das die Wirkung des theatralen Ereignisses auf den Zuschauer betrifft und das vor allem der bildlichen Komponente der Inszenierung geschuldet ist. Die Anmutung oder Atmosphäre ist dabei etwas, das Bert O. States der phänomenologischen Anschauung, nicht der Zeichenhaftigkeit des Ereignisses subsumiert und das Barthes bereits 1970 für das Bild als „den dritten Sinn” neben der „Ebene der Kommunikation” und der „Symbolik” bezeichnet. Dieser wäre der der „Ebene der Signifikanz” zuzuordnende „stumpfe Sinn”, der „eine gewisse Emotion mit sich bringt”, der „einfach bezeichnet, was man liebt, was man verteidigen möch- 8 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main. 1995; Gernot Böhme, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998. <?page no="119"?> Was ist ein Theaterbild? 119 te” und letztendlich „eine Wert-Emotion, eine Bewertung” ist. 9 Vor diesem Hintergrund zeitigt das Bild und damit die visuelle Komponente im Theater eine Eigen-art, die sich der sprachlich grundierten Analyse entzieht, obwohl sie vermutlich den stärksten Anteil an der Wirkung des theatralen Ereignisses auf den Zuschauer hat. Diese Eigen-art des Bildes wirkt intensiviert im Vergleich zur reinen Wahrnehmung der Dinge durch den Verweis des anwesenden Bildes auf etwas Abwesendes: Jedes Bild, in dem Wirklichkeit prägnanter wird, erzeugt aufgrund der Auslassungen das Begehren nach einem weiteren Bild - letztendlich das Begehren nach Wirklichkeit. Mit Merleau-Ponty gedacht, ‘sieht’ uns das Bild an und betrifft uns, indem es individuelle Wahrnehmung als Akt des reinen Sehens der Dinge zu überschreiten, dabei in Frage zu stellen und folglich zu verändern vermag. Dem Verdacht und der Neugier der bildlichen Erscheinung des Körpers und des Gesichts gegenüber, ab dem späten 18. Jahrhundert ein Motiv der Physiognomik, korrespondiert eine oberflächliche Wirkung der bildlichen Erscheinung, die im Theater anzieht. In diesem Sinne argumentiert Böhme, wenn er feststellt, dass das Theater ein Bild produziert, eine Physiognomie der Szene, die als bestimmte Atmosphäre wahrgenommen wird. 10 Und ich möchte diese Physiognomie der Szene um die Physiognomie des Anderen erweitern, die meines Erachtens die Atmosphäre des Mediums Theater ganz besonders ausmacht. Das Bild des Theaters als Spur des Realen, als System von ikonischen Zeichen, welche in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den Dingen stehen, rückt somit perpetuierend etwas in die Ferne, was nah erscheint und umgekehrt, sodass eine Anziehungskraft der Bühne erzeugt wird, welche die einer reinen Sichtbarkeit der Dinge überschreitet. Der blinde Fleck, auf den das Bild dadurch verweist, dass es dem Betrachter signalisiert, sein Auge würde nicht alles sehen bzw. nur deshalb sehen können, weil es das Unsichtbare als das Unendliche im Sinne von Levinas gibt, wird im Akt der Anschauung indirekt erkannt - womit eine Ethik des Bildes als Kunstwerk in der experimentalen Öffnung der Wahrnehmung des Betrachters zu fundieren wäre. Andererseits verdeutlicht der Blick des Betrachters auf das Bild, dass dieses ebenfalls dem blinden Fleck unterliegt, da es niemals die Welt vollständig abbilden kann. Angesichts dessen wäre eine Differenz zwischen Bild und Wahrnehmungsbild im und außerhalb des Theaters schon deshalb wichtig, weil das Bild gegenüber der Wahrnehmung als komplexitätsreduzierendes Medium in höherem Maße auf den blinden Fleck jeder Wahrnehmung verweist, als dies die ‘natürliche Wahrnehmung’ zu bewirken imstande ist. Ein perfekter ‘Naturalismus’, der im Extrem der Performance als purer ‘Live- 9 Bert O. States, Great Reckonings in Little Rooms: On the Phenomenology of Theatre, Berkeley 1985; Roland Barthes, „Der dritte Sinn. (1970)”, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 47-66, hier S. 56-57. 10 Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München 1999, S. 92. <?page no="120"?> Andreas Englhart 120 Art’ deshalb ähnlich, wenn nicht gleich ist, weil er kein Bild abgibt, sondern nur ‘ist’, wäre daher kein ideales Mittel, um eine Öffnung im Sinne einer ethischen Erweiterung des Wirklichkeitsdurch den Möglichkeitssinn zu erlangen. 3 Zwischen Aktualisierung der Differenz und dem Blick des Anderen Zur Wahrnehmung eines Bildes sind zwei grundlegende Differenzierungen notwendig, zum einen die wahrnehmungspsychologisch relevante Differenzierung zwischen Figur und Hintergrund im Bild, zum anderen die zwischen Bildträger und dem Bild selbst. Denn das Bild zeitigt ein Paradox: Wie die Inszenierung des Theaters bringt es etwas zum Vorschein, das so zuvor nicht vorhanden war. Dabei wird nach Gottfried Boehm das zugrunde liegende Material in seinem Selbstausdruck in den Hintergrund versetzt, fungiert jedoch im selben Moment als unverzichtbare Basis des Bildes: „Schon die erste Spur von Farbe, die der unbekannte Maler einer grauen Vorzeit gesetzt haben mag, jede erste Schicht der Darstellung negiert den Bildgrund und bringt ihn zugleich neu hervor.” In diesem Sinne wäre die Negation die Grundlage der bildlichen Erscheinungen. 11 Dem Bild ist also eine fundamentale Differenz eigen, die einen ambivalenten Wahrnehmungseindruck hervorruft. Dieser ‘hermeneutische’ Befund wird von der visuellen Neurowissenschaft bestätigt, Sebastian Walter meint hierzu: „Wir erfassen einerseits den Bildinhalt (eine dargestellte Szene), andererseits erkennen wird die Bildhaftigkeit (z. B. Pinselstriche auf einer Leinwand)”. 12 Diese Differenz konvergiert mit einer zweiten Differenz, der ikonischen Differenz. Analog der Heideggerschen ontologischen Differenz geht es um diejenige zwischen Sein und Seiendem, jedoch auf das Bild und seine Wahrnehmung bezogen, wie Boehm ausführt: Was Bilder in aller historischen Vielfalt ‚sind’, was sie ‚zeigen’, was sie sagen, verdankt sich mithin einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der Geburtsort jedes bildlichen Sinnes genannt werden kann. Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, [es] verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstärke der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die ‚ikonische Differenz’ nennen. 13 11 Gottfried Boehm, „Die Bilderfrage”, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? , S. 325-343 hier S. 340. 12 Sebastian Walter, „Wahrnehmung und Kunst”, in: Karl R. Gegenfurtner, Gehirn und Wahrnehmung, Frankfurt 2003, S. 114-120, hier S. 114. 13 Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder”, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? , S. 11- 38, hier S. 30. <?page no="121"?> Was ist ein Theaterbild? 121 In der Gestaltpsychologie kennen wir die Differenz von Figur und Grund, welche ständig eine Spannung zwischen Flächengrund und Elementen auf der Fläche generiert, die, wie Michael Polanyi betont, als Verhältnis zwischen begleitender und fokussierender Wahrnehmung aktuell wird. 14 Ganz ähnlich arbeitet die Theaterinszenierung, in der sich das Prägnante wie Relevante vom Hintergrund und das Rollenspiel von der Eigenart, der Präsenz und Materialität der Szene und des Schauspielers abhebt, zugleich aber mit dieser verbunden bleibt. In diesem Sinne wäre das Theaterbild über das Verhältnis zwischen begleitender und fokussierender Wahrnehmung zu definieren, mithin verstanden als mehr oder weniger bewusste Aktualisierung der Differenz zwischen dem ‘Theaterbild’ und dem ‘Theatermittel’ bzw. dem Inszenierten und dem Inszenierenden, letzteres verstanden als anwesender Raum und Anwesenheit des Anderen. Und vor allem als Anerkenntnis des Anderen als ganz Anderen, das sich im Blick des Anderen zu erkennen gibt. So haben wir das Theater-Bild auch hier von zwei Seiten her kenntlich gemacht: Es ist kein rein naturalistisches und es ist kein ‘leeres Bild’ der völligen Bedeutungslosigkeit, so wie es auch kein ‘reines’ oder ‘ideales’ dramatisches Theater gibt und keine ‘reine’ oder ‘ideale’ Performance. Insofern verweist gerade das Bild darauf, dass wir die Existenz des Anderen als uneinholbare Fremdheit niemals in den Griff bekommen, seine Unausdeutbarkeit gemahnt uns an die menschliche Existenzbedingung, dass alle unsere Bilder nicht nur konstruierte sind, sondern immer auch nur einen minimalen Ausschnitt des Ganzen wiedergeben. Bilder lügen und sagen die Wahrheit zugleich, das macht ihren Reiz, aber auch ihre Gefährlichkeit aus. 14 Michael Polanyi, „Was ist ein Bild? ”, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? , S. 148- 162. <?page no="123"?> Helga Finter Dante lesen als Performance Lectura Dantis auf der zeitgenössischen Bühne Dantes Göttliche Komödie zwischen mala und divina mimesis Im Juli 2008 war beim Festival d’Avignon eine Divina commedia in drei Teilen zu sehen, die Romeo Castellucci als seine, von Dantes Gedicht frei „inspirierte” Version präsentierte. Zwar war weder im Inferno im Ehrenhof des Papstpalastes, noch im Purgatorio in einer, auf einem Industriegelände angesiedelten Ausstellungshalle, noch in seiner Installation Paradiso in der Église des Célestins, ein Vers aus Dantes Jenseitsgedicht zu hören. Jedoch zeigte sich Castellucci ausdrücklich als Autor und Protagonist einer heutigen commedia, als er sich, selbst „in der Mitte des Lebens” stehend, zu Anfang seines Inferno dem Publikum mit seinem Namen - „je m‘appelle Romeo Castellucci” 1 - vorstellte und seinen, bis auf Kopf und Hände von einem wattierten Anzug geschützten Körper dem wütenden Angriff von drei Bestien in Form dressierter Kampfhunde aussetzte, verloren auf dem Diesseitsort der riesigen leeren Bühne - seiner selva - vor dem hohen bedrohlich aufragenden Gemäuer des Papstpalastes. Romeo Castelluccis Commedia dramatisierte und aktualisierte mit unerhörten Bildern und der Musik von Scott Gibbons auf seine Weise das, was bei Dante den theologischen Grundstein der drei Jenseitsreiche bildet. Der primo amore, die das göttliche Wort und das Jenseitsuniversum Dantes strukturierende Kraft der Liebe, wird hier auf den Prüfstein einer mala mimesis 2 gestellt: ihre zeitgenössischen Formen und Perversionen, ihre Möglich- und Unmöglichkeiten werden in Bilder- und Szenenfolgen von Hölle und Läuterungsberg ausgelotet. Liebe wird nicht nur in Form überdimensionaler Lettern, als AMOR auf der Palastrückwand der Bühne sichtbar gemacht. Das Wort „je t’aime” wird auch zum Rauschen, geflüstert im Chor der zahlreichen Performer, und seine Varianten werden choreographisch und dramatisch durchgespielt. Das Paradies hingegen, das nur kniend durch eine runde Öffnung für jeweils fünf Minuten von einzelnen Zuschauern eingesehen werden kann, ist nicht mehr die Transfiguration jenes amor, der das Univer- 1 Dies waren dann auch die einzigen explizit an das Publikum gerichteten Worte des Abends. 2 Zum Begriff siehe Pier Paolo Pasolini, „La mala mimesis”, in: Ders., Empirismo eretico, Mailand 1972, S.104-114. <?page no="124"?> Helga Finter 124 sum und die Gestirne bewegt, noch die Klangraumskulptur eines göttlichen Gesamtkunstwerks, dessen Sphären die Engel, die sie bewegen, zum Klingen und Schwingen bringen. Vielmehr wird dieser Ort durch das Schlagen überdimensionaler, von Schauspielern manipulierten Vorhängen immer wieder verdunkelt, um dem Zuschauerblick die überwältigende Schönheit eines Raums nach der Sintflut zu entziehen, in dem allein ein in fließendes Wasser eingetauchtes Klavier eine Musik mental vorstellen lässt, die jedoch ans Zuschauerohr nur als Dröhnen zu dringen vermag. Castellucis Commedia ist das Theater eines Lesers von Dantes Text. Es setzt dessen genaue Lektüre voraus und nimmt sie, zumindest für Italien, als, durch die Schullektüre zum Beispiel, bekannt an. Seine szenische mala mimesis stützt sich so implizit auf die Lektüre von Dantes göttlicher Mimesis, um sie zu subvertieren. Doch inwieweit ist ein solcher Rezeptionshorizont noch gültig? Dem Land von Berlusconis Medienimperium sind keineswegs Diskussionen um die mangelnde Lesefähigkeit seiner Bewohner fremd. So haben nach einer neueren Statistik von 2007 mehr als 37 % der Italiener während eines Jahres kein Buch geöffnet, zwanzig Millionen Nichtleser werden vermerkt, während unter den neun Millionen italienischer Leser 500 000 dieser Tätigkeit allein aus professionellen Gründen nachgehen. 3 Dieses Bild wird zudem ergänzt durch einen täglichen Fernsehkonsum von fünf Stunden. In einem solchem Kontext bekommt eine Nachricht aus den Seiten für „Vermischtes” - cronaca - der Tageszeitung La Repubblica vom 11. Oktober 2008 eine besondere Bedeutung. Unter dem Titel „Ladro legge Dante tra un furto e l’altro” („Ein Dieb liest zwischen den Diebstählen Dante”) wird aus Sizilien folgendes berichtet: „Palermo. Bei einem, wegen Diebstahl festgenommenen Verdächtigen fanden Polizisten unter dem Sitz seines Motorrads die Göttliche Komödie. Der Mann erklärte, sie dank Benigni im Fernsehen entdeckt zu haben und sich allein mit dem Lesen einiger ihrer Seiten entspannen zu können”. 4 Dieser erstaunliche fait divers ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zuerst macht er deutlich, dass unter Umständen das kritisierte Fernsehmedium zum Lesen eines schwierigen und komplexen poetischen Textes verleiten und gar für Unterlassungen der Schule einzuspringen vermag. Weiter wird mit dem Verweis auf den Filmstar und Komiker Roberto Benigni, dessen öffentliche Lektüren eines Großteils des Infernos und einiger Gesänge 3 Istituto nazionale di Statistica (Istat), La lettura di libri in Italia, 10 Mai 2007. http: / / www.istat.it/ salastampa/ communicati/ non_calendario/ 20070510_00/ testoint egrale.pdf. 4 La Repubblica, Samstag, 11. Oktober 2008, S. 21: „Palermo. Ladro legge Dante tra un furto e l’altro. Un pregiudicato è stato arrestato per furto e sotto il sellino della sua moto gli agenti hanno trovato la Divina Commedia. L’uomo ha spiegato di aver scoperto Dante grazie a Benigni in tv e di non riuscire a rilassarsi senza leggerne qualche pagina.” <?page no="125"?> Dante lesen als Performance 125 aus dem Paradiso in den letzten Jahren vom nationalen Fernsehen übertragen wurden, 5 die seit dem 14. Jahrhundert fortdauernde Bedeutung wie auch der Wandel eines Aufführungsgenres, der Lectura Dantis, angezeigt, die als Vorläufer der lecture performance verstanden werden kann. Nach dem 1321 erfolgten Tode Dantes eingerichtet, um die Gefährlichkeit individueller Lektüren seines Werks zu bannen - Giovanni Boccaccios öffentliche Lektüre in der Kirche Orsanmichele in Florenz am 23. Oktober 1373 machte den Auftakt - scheint sie heute in lesearmer Zeit darauf abzuzielen, einzelnen Lesern singuläre Lektüren von Dantes Text zu ermöglichen. Letztlich wird mit diesem fait divers zudem auch ein positiver Wirkungsaspekt von Benignis Unternehmen offensichtlich, das im Kreuzfeuer negativer Kritiken, nicht nur von Danteexperten, steht. Gibt man beispielsweise bei Youtube das Stichwort lectura Dantis ein, so findet man eine ganze Reihe von Video-Clips, in denen Protagonisten öffentlicher Dantelektüren aus den letzten dreißig Jahren sich zum Teil posthum, dank ihrer Fans, einen Kampf um den Primat in diesem Format liefern: Carmelo Bene mit seiner Lectura Dantis in Bologna 1981, Vittorio Sermonti in den achtziger Jahren, Vittorio Gassman in den neunzigern und Roberto Benigni im neuen Jahrtausend sind die bekanntesten Namen, die in die Arena geschickt werden, um mit Aufzeichnungen von Ausschnitten öffentlicher Performances von Dantes Text, die jeweilige Lektüre als einzig gültige zu behaupten. Zuerst soll dieses Genre kurz in seiner historischen Struktur und Funktion skizziert werden, um sodann, anhand der Charakteristika der szenischen Lesungen der obengenannten Protagonisten, Hypothesen über deren gesellschaftliche Funktion und das sie implizierende Verhältnis zum Text zu formulieren. Lectio und/ oder lectura? Das zwischen 1307 und 1320 entstandene Jenseitsgedicht Dantes beinhaltet für den Kontext der Institution Literatur des Trecento vor allem zwei Innovationen, die auch eine Transgression der Lesepraxis darstellen: Die Divina Commedia beansprucht nämlich nicht nur für sich den figuralen Lesemodus heiliger Texte nach dem vierfachen Schriftsinn, 6 sondern appelliert in einem 5 Sie liegen heute, 2008, in einer Edition von 15 DVDs unter dem Titel „Tutto Dante” vor. 6 Nach Erich Auerbachs Aufsatz Figura [1938/ 1944) sind hier v.a. zu nennen: Jean Pépin, Dante et la tradition de l’allegorie, Paris 1970 sowie Armand Strubel, „Allegoria factis et Allegoria in verbis”, in: Poétique VI, 1975, S. 342-357, sowie Henri de Lubac S.J., L’éxégèse médiévale. Les quatre sens de l’écriture, Paris 1959-1961. <?page no="126"?> Helga Finter 126 Kontext kollektiven lauten (Vor-) Lesens an mehreren Stellen ausdrücklich auch an einen singulären Leser, den Leser auf seiner Bank. 7 Dantes Text impliziert so einen doppelten Anspruch an den Leser, der zugleich eine Gefahr für die Gemeinschaft beinhaltet: er spricht sein singuläres Imaginäres, sein Gedächtnis und seine affektive Erfahrung an und fordert gleichzeitig von seinem säkularen Leser eine theologische, philosophische, wissenschaftliche und historische Urteilskraft in einem individuellen Leseakt, der nicht mehr durch das Korrektiv des Kollektivs garantiert ist. So ist nicht verwunderlich, dass sehr schnell, schon 1335 in Florenz ein Verbot durch den Dominikanerorden erlassen wurde, das sowohl den privaten Besitz als auch die individuelle Lektüre der Divina Commedia betraf: „di tenere o di studiare i libri composti in volgare da quello che chiamasi Dante.” 8 Um die ‘richtige’ Lesart zu gewährleisten, wurden in der Folge bald öffentliche Lektüren eingerichtet, so als erste die schon genannte Lectura Giovanni Boccacios 1373. Boccaccios öffentliche Lektüre, zu der ihn die Stadt Florenz beauftragt hatte, gab strukturell das Modell vor, an dem sich in den folgenden Jahrhunderten Dantelesungen orientieren werden: Eine gelehrte, einführende und erläuternde Textexegese geht dabei zumeist dem (Vor-) Lesen des jeweiligen Gesangs voraus. Der Kommentar bereitet die Lektüre vor, liefert zu einem der Gesänge den Kontext und erläutert die impliziten intertextuellen theologischen, philosophischen, historischen, wissenschaftlichen, mythologischen und literarischen Informationen. Die eigentliche lectura erfolgt am Ende als Vortragen bzw. Vorlesen von Dantes Text. Damit wird die lectura zugleich zu einer Lektion, deren proportionale Struktur der von kommentierten Danteausgaben ähnelt, in denen auf einer Seite zumeist zwei Drittel oder drei Viertel Kommentar einem Drittel oder Viertel Gedichttext gegenüber stehen. Wie konnte Dante bei einem solchen Übergewicht der Gelehrsamkeit überhaupt auf singuläre, individuelle Leser hoffen, zumal ein Laienpublikum zumeist der breiten Bildung entbehrte, die er zum Beispiel mit seinem Convivio, seinem Gastmahl für Laien, im volgare zu vermitteln suchte? Die Antwort ist in Dantes Konzeption der Lektüre nach dem vierfachen Schriftsinn zu suchen: Ihr zufolge wird gerade die sinnlich wahrnehmbare Ebene des Textes, der literale, buchstäbliche Sinn der allegoria in verbis, wie auch die Sinnebene des reinen Handlungsgeschehens, der allegoria in factis, als Generator der spirituellen Ebene, das heißt seines moralischen, allegorischen und 7 Erich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958; drs., „Dante's addresses to the reader”, in: Romance Philology 7, 1954, S. 268-278. 8 Prov. rom. ed. Th. Käppeli, Monumenta Ordinis Fratrum Predicatorum Historica XX, Rom, 1941, S. 286. <?page no="127"?> Dante lesen als Performance 127 anagogischen Sinnpotentials verstanden, 9 was hier nur angedeutet werden kann. Die literale Ebene erfassen, heißt für Dante, sich zugleich potentiell die spirituelle Ebene zu eröffnen. Die öffentlichen Lektüren der letzten dreißig Jahre im Theater- und Medienkontext unterscheiden sich nun gerade von denen, 10 die in Zirkeln der nationalen Dante Gesellschaft oder in Gelehrtenakademien gepflegt wurden und werden, dadurch, dass sie Dante einem breiten Publikum, so Rino Caputo, als „natural audio-visual author” nahegebracht haben. Dies wird, so meine These, dadurch möglich, dass der Vortrag jeweils das vokale theatrale Potential von Dantes Gedicht sinnlich erfahrbar zu machen wusste. Dies beinhaltet aber auch, dass die Kraft der materiellen literalen Textebene nicht nur ausgestellt, sondern auch als ein Vorstellungen generierendes theatrales Textpotential, in seiner Performativität hörbar wird. Die Lectura Dantis ist dann eine Performance lecture, die Sinnpotentialitäten des Textes stimmlich aktualisiert. Vier dieser Lektüren sollen im Folgenden in ihren Charakteristika skizziert und näher beleuchtet werden: Zuerst die Carmelo Benes, dann, in einem zweiten Punkt, die Vittorio Gassmans, Vittorio Sermontis und Roberto Benignis. Lecturae Dantis als Performance 1. Carmelo Bene, 31. Juli 1981, Bologna Den Auftakt gab Carmelo Benes Gedächtnislesung als Teil einer viertägigen Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag eines am 31. Juli 1980 durch Neofaschisten im Bahnhof von Bologna verübten mörderischen Bombenattentats. 11 Für seine Lesung traf Bene eine Auswahl von Ausschnitten aus den bekanntesten Gesängen von Dantes Jenseitsgedicht, 12 entgegen dem Vorschlag des Bürgermeisters, Renato Zangheri, der für Gesänge mit einer direkten inhaltlichen Anbindung an das politische Ereignis plädiert hatte. 13 9 Augustin Daceus 1260: „littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia,” zitiert in: Henri de Lubac, 1959, I, S. 1. 10 Siehe die Überblicke von Rino Caputo, „Dante by Heart and Dante Declaimed. The Realization of the Comedy on Italian Radio and Television“ in: Amilcare A. Janucci, Dante , Cinema and Television, University of Toronto Press 2004, S. 213-222; sowie „Dante and Television” in: The Dante Encyclopedia, hrsg. von Richard H. Lansing und Teodolinda Barolini, Taylor &Francis 2000, 283; Vittorio Coletti, „Lettura di Dante”, in: Genuense Athenaeum, Nr. 69-70, settembre-dicembre 2007. 11 Siehe Rino Maenza, Carmelo Bene legge Dante per l’anniversario della Strage di Bologna, Venedig 2007. 12 Aus dem V., XXVI., XXXIII. Canto des Infernos, aus dem VI. und VIII. Gesang des Purgatorio und aus dem XXIII., XXVII. Und VII. Gesang des Paradiso. Siehe Carmelo Bene legge Dante per l’anniversario della strage di Bologna, hrsg. von Rino Maenza, Venedig 2007, Buch und DVD. 13 Siehe Rino Maenza, S. 9-23. <?page no="128"?> Helga Finter 128 Auch die Lektüre selbst durchbrach die hergebrachten Konventionen, erfolgte sie doch über ein technisch aufwendiges Lautsprecher- und Tonverstärkerdispositiv von einem der beiden mittelalterlichen Stadttürme, der Torre degli Asinelli, im Zentrum der Stadt aus, so dass sie in der ganzen Innenstadt für eine mehr als hunderttausend Menschen zählende Menge zu hören war. Diese erste Probe von Benes späterem „unsichtbaren Theater” war für das Genre der Dantelesung in vielfacher Weise wegweisend. Dabei kam dem auditiven Verstärker-Dispositiv eine entscheidende Rolle zu: Es erlaubte nämlich Bene, die gerade durch Schauspielerlesungen bekannte Identifikation mit der Stimme der Dichtung wie auch mit den Stimmen ihrer Protagonisten auf innovative Weise zu dekonstruieren. Lautes Lesen realisiert eine Atemeinheit mit dem Text, wird zu dessen Stimme, wenn sie, wie dies auch Bene tun wird, dessen disseminierte, Affektsignifikanten metaphorisierende Lautstruktur selbst lustvoll besetzt. Eine solche Inkarnation der poetischen Stimme(n) des Textes mimt dann deren Ursprung im multiplen Körper des Schauspielers. Doch das technische Dispositiv von Benes Lectura löst eine solche Ursprungsfiktion durch die Trennung der Stimme vom Körper auf: Zwar ist eine Körperlichkeit der Stimme vernehmbar, doch ist sie durch Mikrophon zugleich vom Körper getrennt und doppelt so die visuelle Abwesenheit des Vorlesenden, der hoch oben auf dem Turm im Stadtzentrum nur als ferner Leuchtpunkt im Himmel wahrzunehmen ist. Die polyphone Körperlichkeit der von Bene gelesenen Protagonistenstimmen vergegenwärtigt zwar in auditiven Close ups die Stimmen von Paolo und Francesca, Ugolino und Ulisse, wie auch die Paradiesstimmen des letzten Gesangs der dritten Cantica. Doch durch das technische Dispositiv werden sie zugleich als einem anderen Raum entstammend, einem zugleich extrem nahen und äußerst fernen heterotopen Klangraum vernehmbar. Bene macht die heterogene doppelte vokale Theatralität von Dantes Text erfahrbar. Die durch Mikrophon vom Körper getrennten, durch Lautverstärkung nahen Protagonistenstimmen sind gerahmt und eingebunden in eine zweite Stimme, die sie forttragen: Denn die, nach dem Trinitätsprinzip symbolisch strukturierte Versstimme des endecasillabo, des elfsilbigen Verses der Commedia, ist, ebenfalls vom Sprecherkörper getrennt, durch die sonore Verstärkung und das Klangecho des Widerhalls als jenseitig, als transzendent indiziert und auratisch als eine Ferne wahrnehmbar, so nah wie sie auch, dank der sonoren close ups, sein mag. Diese vokale Theatralität von Präsenz und Absenz macht die Textauswahl Benes im Hinblick auf das zu memorierende Ereignis sprechend: Indem Carmelo Bene als orale und aggressive Lust der Protagonisten die in den Vers eingeschriebene poetische Lautstruktur der vorgelesenen Höllengesänge emphatisch als von einem Körper und Atem produziert unterstreicht, stellt er zugleich nicht nur Formen des Verneinens, Verleugnens <?page no="129"?> Dante lesen als Performance 129 und Verwerfens eines Symbolischen aus, welches gerade die auratische Versstimme des endecasillabo indiziert. Er bringt diese Negativität in actu auch in Analogie zum sprachlosen mörderischen Terror, zu dessen Gedächtnis er liest. Oralität oder Vokalität des dichterischen Wortes scheinen so als Alternative zur Sprachlosigkeit des gewaltsamen acting outs auf. Die Lectura Dantis wird als poetisches Sprechen zum politischen Akt. Carmelo Bene setzt in seiner Lectura Dantis auf die ästhetische Sensibilität des Zuhörers und vertraut zugleich auf eine vorausgehende, durch die Schule vermittelte Leseerfahrung: Erst sie erlaubt, die ästhetische Hörerfahrung auf den aktuellen historischen Anlass zu beziehen und die Analogie zum politischen Ereignis mental herzustellen. Benes Stimme, durch das Mikrophon und das Lautsprecherdispositiv vom Körper getrennt, wird als Dialog von Protagonistenstimmen und Versstimme eines Textes in einen Raum ohne Ort projiziert, wo sie einen Klangraum zwischen Körper und Sprache entfaltet, der als Sinnpotential wirken kann. Benes Lectura bedarf weder einer Einführung noch eines Kommentars, doch sie appelliert an die ästhetisch sensible Intelligenz eines Hörens, das laut- und sinngerichtet zugleich schwebend aufmerksam ist. 2. Lecturae Dantis in der Folge von Bene Die Lecturae Dantis der folgenden Jahre teilen nicht mehr, mit Ausnahme Sandro Lombardis 2001/ 2, das alleinige Vertrauen in die Hörsensibilität des Publikums. So wird Vittorio Sermonti seit Mitte der achtziger Jahre, wie auch Vittorio Gassman 1993 oder Roberto Benigni seit 2005 wieder auf den kontextualisierenden Kommentar ebenso wie auf die Exegese zurückgreifen. Zugleich behandeln sie jedoch wie Bene den Text auch als Partitur für eine Lektüre, die sich nun zwischen lautem Vorlesen - Sermonti, Benigni - und Rezitieren bzw. Deklamieren - Vittorio Gassman - spannt. Vittorio Gassman, der 2000 verstorbene, hochgebildete und belesene matadore der italienischen Bühne, ist mit einer, für das italienische Staatsfernsehen RAI produzierten, Dantelektüre präsent, die an Orten des kulturellen Erbes Italiens von Rubino Rubini gefilmt wurde. 14 Sein Kommentar richtet sich an ein gebildetes Publikum, seine Lektüre selbst ist die eines Schauspielers, der aus seinem sprichwörtlich immensen Gedächtnis die Gesänge einfühlend rezitiert, wobei er die Figurenrede geradezu spielt. So zwischen Rezitation und Deklamation oszillierend, wird jedoch sein Vortrag selbst kaum als gemimter stimmlicher Ursprung des Textes problematisiert. Vittorio Sermontis, schon Mitte der achtziger begonnene Lektüre kommentiert, von einem Linguistenteam beraten, ebenfalls, doch liest er die Gesänge in einer Weise, die dem Rhythmus des Verses die Führung über- 14 Gassman legge Dante, Regie Rubino Rubini. 4 DVD, Rom: Garad 2004; Neuedition zusammen mit dem Buchtext, Bologna 2006. <?page no="130"?> Helga Finter 130 lässt. Denn die Stimme des Textes, so sagt er, wisse mehr als er selbst. 15 Sein Kommentar stellt die materielle Ebene des Textes heraus und entwickelt von ihr ausgehend seinen gelehrten, doch zugleich die materielle literale Ebene in den Vordergrund stellenden Kommentar. 16 Mit dem Filmschauspieler und Komiker Roberto Benigni wird die Dantelektüre ins Zeitalter des Spektakels transponiert. Ihr gelingt es, Massen für Dante zu einem Zeitpunkt zu versammeln, als in Italien der Ausschluss des Dichters aus dem Lektürekanon der Schulen wegen „zu großer Schwierigkeit und fehlender Aktualität” auf politischer Ebene diskutiert wird. In einer, dem Autor Dante gewidmeten Literatursendung der RAI, Babele, hatte Benigni schon im Juli 1998 sein Dante-Coming-out vor der ganzen Nation, als er aus dem Stegreif den 5. Gesang des Inferno mit der Episode von Paolo und Francesca vortrug. 17 Eine öffentliche Dantelesung fand sodann ab dem 27. Juli 2006 auf einer Holztribüne neben der Dantestatue vor der Kirche Santa Croce in Florenz während dreizehn, jeweils einem Gesang gewidmeten, Abenden statt. Vom nationalen Fernsehen, der RAI, erst im Herbst 2007 ausgestrahlt, liegt ihre Aufzeichnung seit 2008 in fünfzehn DVDs vor, 18 nachdem diese Lesung in verschiedenen Städten zu verschiedenen Anlässen in den letzten Jahren wiederholt worden war. Zwischen 2008 und 2009 folgte schließlich die Krönung mit einer Welttournee unter dem Titel TuttoDante. 19 Eine zufällig von mir zu nächtlicher Stunde Ende 2007 eingeschaltete Ausstrahlung der RAI von einer der Benigni-Lesungen aus dem Sommer des Vorjahres in Florenz, war in der Tat zuerst verstörend im Kontrast zu den bis dahin mir bekannten öffentlichen Dantelektüren. Zu einer Musik, die das Universum der commedia dell’arte evoziert, hüpft der Komiker in der ihm eigenen Manier auf die Bühne, zieht mehrere Kreise und empfängt mit wieherndem Gelächter und ausgebreiteten Armen die Ovationen der auf dem weiten Platz versammelten Menge. Nach Begrüßung des zahlreichen Publikums und der Beteuerung der Aktualität Dantes, der jeden einzelnen als Individuum anspräche, beginnt er aus dem Stegreif den auf einem Notenständer liegenden Gesang Wort für Wort zu kommentieren, wobei er sich Alltagsweisheiten, Witzen, Kalauer oder ironischen Anspielungen auf das politische Tagesgeschehen keineswegs enthält. Er kommentiert offensichtlich für Personen, die nicht oder selten lesen, er lehrt buchstäblich, die litera- 15 Siehe Sermonti, zitiert in Rino Caputi , S. 219. 16 Siehe zum Beispiel Dante Alighieri, L’Inferno, a cura di Vittorio Sermonti, con la supervisione di Gianfranco Contini, Mailand: Rizzoli, 1991-1993. 17 Ab 1991 hatte es schon einen Auftritt zum 750. Geburtstag der Gründung der Universität Siena gegeben, dem 1999 weitere in den Universitäten Rom, Padua und Bologna folgten, siehe Valentina Pattavina, „TuttoDante”, in: Roberto Benigni, Il mio Dante, Turin 2008, S. 141-142. 18 Roberto Benigni, Tutto Dante, Band 1-6, Cecchi-Gori Home Video 2008. 19 http: / / www.tuttodante.it/ . <?page no="131"?> Dante lesen als Performance 131 le Ebene der Handlung zu verstehen, indem er deren gestische und bildliche wie auch lautliche Konkretheit dem Wahrnehmungshorizont des Zuhörers nahebringt, um sie seinem mentalen Auge vorzuführen. Die am Ende fast einer Stunde sich anschließende Lektüre des Canto ist dagegen eine fast neutrale, zurückhaltende vom Vers gelenkte Rezitation aus dem Gedächtnis. Auf diese Weise wird die spirituelle Ebene von Dantes Jenseitsgedicht als numinös und sakral über die Musikalität der Versstimme wieder evoziert, der Text selbst wird dabei als Text eines Anderen ausgestellt. 20 Benignis Lectura Dantis legt den Akzent auf den Aspekt der mala mimesis des Textes, die Sprachebene, die mit rechtfertigte, ihn commedia zu nennen. Als lectura, die zugleich als lectio lesen lehrt, erscheint sie die adäquate Form in dürftiger Zeit, ihre Pop-Version: Eine Performance lecture, die den Nimbus der Spektakularität der eigenen Person in den Dienst eines volkspädagogischen Auftrags stellt, welcher sich aufgibt, der Nation das Lesen seines Sprachschöpfers zu lehren. Ein vorläufiges Fazit könnte so lauten: Jede Zeit hat die lectura Dantis, die sie verdient, sagt sie doch jeweils etwas über das gesellschaftliche Verhältnis zum Text und zur Sprache aus. Die Gleichzeitigkeit ästhetisch dekonstruktiver Formen der Lesung - hier wäre nach Bene auch Sandro Lombardi zu nennen - mit im engeren Sinne theatralen, aber auch gelehrten oder populär-pädagogischen Formen, ihr offensichtlicher Erfolg wie auch der lebendige Wettstreit unter ihren Anhängern, wovon die vielen Einträge im Web, sowohl bei Google als auch Youtube, zur lectura Dantis zeugen, all dies zeigt, dass es, trotz allem Kassandraraunen, mit dem Lesen auf dem Theater nicht allzu schlecht, wenigstens in Italien, bestellt ist. Auch für das Theater selbst bedeutet das Interesse an der Lektüre eher ein gutes Omen. Denn die Kunst des Theaters hängt von der Fähigkeit zu lesen ab. Großes Theater entspringt ihr. Romeo Castellucci war hierfür Zeuge. Ist diese Fähigkeit bedroht durch das Spektakel, können Theaterkünstler, die noch lesen, den vielfältigen Aufgaben des Theaters, wie Robert Benigni gezeigt hat, auch die Regeneration der Kunst des Lesens hinzufügen. Schließlich ist die Erforschung des Verhältnisses zur Sprache und zum Text auf der Bühne selbst im postdramatischen Theater immer noch zentral, da es sich gerade vorgenommen hat, die Repräsentation, verstanden mit Philippe Lacoue-Labarthes als Modus des Präsentierens, szenisch zu verhandeln. Insofern Sprechen die erste Form eines solchen Präsentierens des Machens von Repräsentation ist, hat auch der öffentliche Leseakt an der Befragung der Sprache als Repräsentation teil. Die durch (Vor-)Lesen verlautete 20 Im Vorwort zum zitierten Buch, das Benignis Kommentare zu 13 Höllengesängen versammelt, unterstreicht Umberto Eco die Kunst Benignis als ein „recitare Dante”, das sowohl die Klippe des singenden Deklamierens - cantare als auch die eines Vortrags, der die Versstimme prosaisch annulliert, zu umschiffen weiß ( ebenda S. 5-11). <?page no="132"?> Helga Finter 132 Relation zur Sprache bedeutet eine Stellungnahme hinsichtlich der Krise der Repräsentation, metaphorisiert doch gerade Lesen ein Verhältnis zu dem Symbolischen, welches, neben dem Imaginären, die Beziehung zum Körper und damit für ein Subjekt das Reale bestimmt. Dieses Verhältnis, das Lektüren wie auch Sprechen als Beziehung zum Text dramatisieren, ist letztlich ein Verhältnis zum Anderen. Über die Stimme wird seine Anerkennung, aber auch seine Verneinung, seine Verwerfung oder seine Vernichtung zu Gehör Gebracht. So erhält Sprechen wie Lesen auf der Bühne eben durch den Modus des Verlautens seine jeweilige politische Signifikanz. <?page no="133"?> Mathias Spohr Das Paradigma des Performativen und die Vanitas Vanitas ist gewissermaßen ein niederländisches Thema: Es wird im 17. Jahrhundert im Umkreis der Universität Leiden und vor allem in der Ölmalerei aktuell, ist aber gewiss nicht auf das Bild beschränkt. Das Stichwort erinnert an Theatrum mundi als Jahrmarkt der Eitelkeiten, an Stillleben mit Totenschädeln, an Gryphius und den Dreißigjährigen Krieg, an den Schein im Schein der Dramen von Calderón. Vanitas-Motive zeigen mit moralisierender Absicht das Eitle, Scheinhafte, Vergangene und Vergehende. Sie sind so allgegenwärtig, dass man sie oft nicht beachtet. Die Literatur zu diesem Thema ist mehrheitlich älteren Datums. 1 Die Diskussion der vanité scheint heute eher im französischen Sprachgebiet bei Medientheoretikern wie Baudrillard oder Virilio 2 beheimatet zu sein. Ist der Vanitas-Begriff im Zusammenhang mit heute oft genannten Begriffen „Ereignis” oder „Performativität” sinnvoll? 3 Auch wenn Vanitas als Oberbegriff in diesem Zusammenhang ungewohnt erscheint, gehen viele Ansätze in diese Richtung, so etwa Gottfried Boehms Forderung nach einer Verbindung von Bildkritik und Sprachkritik. 4 Hier soll das Thema Vanitas in einen historischen Zusammenhang mit der viel zitierten „performativen Wende” gebracht werden. Dazu ist dieser Text in drei Teile gegliedert: Ein erster ist dem Begriff der Vanitas und seiner historischen Dimension gewidmet. Ein zweiter Teil schlägt eine Systematik für die Vanitas-Rhetorik vor. Ein dritter Teil schließlich enthält eine These über die Beziehung zwischen Vanitas und Performativität am Ende des 20. Jahrhunderts. 1 Eine klassische Arbeit über das Vanitas-Stillleben stammt von Ingvar Bergström, Dutch Still-Life Painting in the Seventeenth Century [1956], New York 1983; einen guten Überblick über bildnerische Varianten der Vanitas von der Antike bis zum Barock gibt Alain Tapié (Hg.), Les vanités dans la peinture au XVIIe siècle, Caen 1990; über Vanitas in der deutschen Literatur gibt es etwa die ausführliche Darstellung von Ferdinand van Ingen, Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groninge 1966. Einen interdisziplinären Ansatz verfolgt Liana DeGirolami Cheney (Hg.), The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music. Comparative and Historical Studies. Lewiston 1992. 2 Zu denken wäre etwa an Jean Baudrillard, L’Échange symbolique et la mort, Paris 1976, oder Paul Virilio, Esthétique de la disparition, Paris 1980. 3 Etwa in der Art, wie Dieter Mersch diese Begriffe braucht in: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002. 4 Gottfried Boehm, Was ist ein Bild? Bild und Text, München 1995. <?page no="134"?> Mathias Spohr 134 I. Vanitas und Vanitas-Überwindung: Geschichte In Mittelalter und früher Neuzeit gehörte das Ephemere der Darstellenden Künste ganz selbstverständlich zum Motivbereich der Vanitas: Es stand für die Vergänglichkeit und Eitelkeit des menschlichen Eigensinns, deren reuiges Eingeständnis als Legitimation für jede Art der Darstellung diente. Der Tänzer, die Frau Welt oder der Narr, die sich im Spiegel betrachten, sind Sinnbilder der Vanitas. Die Vanitas-Stillleben seit dem 16. Jahrhundert zeigen vergilbte Briefe oder Musiknoten neben verwelkenden Blumen. Der Dichter klagt „Ubi sunt? ”, „Wo ist es hin? ”, und ist sich dabei bewusst, dass er selbst bald nicht mehr existiert. Der Maler oder Bildhauer hat zwar etwas vom Flüchtigen festgehalten, aber er muss zugleich beteuern, dass ihm das Lebendige entgangen und nur das Leblose in Händen geblieben ist. Ein Geschäftsmann hat vielleicht wertvolle Güter gesammelt und ein Künstler etwas Schönes geschaffen, aber indem beide zugleich die Nichtigkeit dieses Schönen und Wertvollen zugeben, schützen sie sich vor dem Vorwurf der Überheblichkeit. Es wird oft übersehen, dass die Vanitas-Motivik als Rechtfertigung für Darstellungen oder Veröffentlichungen aller Art dient, also auch für die künstlerische Betätigung selbst: Es ist die Eitelkeit der Schaustellung, die zum Thema gemacht wird. Reichtum darf ausgestellt werden mit dem Hinweis auf seine Nichtigkeit. Täuschung darf geschehen, wenn sie vor Täuschung warnt. Kunst darf sich entfalten, wenn sie ihr unabwendbares Scheitern zugibt. So wie das Bild nur täuschen kann, so täuscht auch der Schauspieler von Berufs wegen. Beide werden den Makel ihrer Theatralität nicht los. Der Schauspieler, der von vorneherein dem Vorwurf ausgesetzt ist, ein Heuchler und Hochstapler zu sein, stellt daher einen Heuchler dar und warnt sein Publikum damit vor Heuchelei. Durch diese Rechtfertigung wird der Vorwurf der Heuchelei zwar nicht ausgeräumt, aber die Darstellung wird gesellschaftsfähig. Die Darstellung rechtfertigt sich durch eine Warnung, weil sie im selben Verdacht steht wie das Dargestellte, nämlich zu blenden und zu täuschen. Bis zum 17. Jahrhundert wird das flüchtige Menschenwerk im Rahmen der höfischen Repräsentation aufgewertet. Der Vorwurf der Eitelkeit tritt außer Kraft, wenn der ausgedrückte Stolz dem Staat und seiner Größe gilt, was durch antike Vorbilder gerechtfertigt wurde, die nun vom Makel des Heidnischen befreit waren. Dieser Aufwertung folgt seit dem 18. Jahrhundert eine Gegenbewegung: Die zuvor hoch geschätzten ephemeren Ausdrucksmittel wie Tanz und Improvisation, die im unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen, verlieren an Ansehen, und das schriftlich Fixierbare eines Textes wird an erste Stelle gerückt. Das Fixierte erscheint daraufhin nicht mehr wie bisher als Inbegriff des Leblosen, dem die höflich vermittelnde Geste vorgezogen wird, sondern es wird beredt durch seine Leser oder Betrachter. Das er- <?page no="135"?> Das Paradigma des Performativen und die Vanitas 135 forschbare Relikt, die weiterführende Spur emanzipieren sich von der Reliquie, die weiterhin ein Beweis für die Vergänglichkeit allen Seins bleibt. Diesem Sinneswandel verdankt etwa die Archäologie ihr Entstehen. Auch zum Beispiel der Schatten in den damals modernen Schattenrissen, ein Vanitas-Symbol wie Echo und Spiegelbild, wird zu etwas, was sich festzuhalten lohnt. „Vanitas” verstehe ich als ein semiotisches Phänomen, das in Literatur, Theater oder bildender Kunst gleichermaßen zu beobachten ist. Ich mache in diesem Zusammenhang keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Schrift und Bild: Beides sind behauptete Zustände, die den Handlungen gegenüber stehen. Entweder indem sie ihnen nachfolgen oder indem sie ihnen vorausgehen. In den Erscheinungsformen der Vanitas drückt sich ein fixiertes Verhältnis zwischen Darstellung und Dargestelltem aus. Es erlebt einen grundlegenden Umschwung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 5 Zu den älteren Vanitasmotiven, die bestehen bleiben, aber in eine Populärkultur abgleiten, gesellen sich die neueren Vanitas-Überwindungsversuche. Das Bewusstsein des Abwesenden oder Vergangenen, wie es sich bis zum 17. Jahrhundert als selbstverständliche Konvention in Texten und Bildern niederschlägt, die bloß behaupten können, etwas Lebendiges wiederzugeben, erfährt zwischen 1750 und 1900 eine Umkehrung ins Gegenteil: Das signifié ist (nach de Saussure gesprochen) nicht mehr grundsätzlich ein Abwesendes, Unerreichbares, sondern es ist ein präsentes „inneres Bild”, machbar geworden durch Vorstellungskraft. Diese Voraussetzung erlaubt es erst, „gültige” Strukturen festzuhalten und diesem „natürlichen” System die fixierende Schrift als „künstliche” Technik unterzuordnen. 6 Aufzeichnungen fordern seither die Imagination heraus, die nicht mehr Schein, sondern eine selbst gemachte Wirklichkeit sein soll. Georg Friedrich Hegel erklärte in seinen Ästhetischen Vorlesungen, es gebe in der wahren Kunst ein „sinnliches Scheinen der Idee” 7 ohne den Flitterglanz der Eitelkeit - und versuchte, den Vorwurf der Vanitas auf diese Weise zu entkräften. Seit die Überwindung der Vanitas solcherart zum Programm wird, sind die älteren Vanitas-Traditionen nicht mehr erwünscht. Sie verlagern sich in eine Populärkultur, etwa als Horror-Motiv, oder werden humoristisch abgeschwächt. 5 Die Umwertung von Vanitas-Motiven seit dem 18. Jahrhundert, bereits von Jan Bialostocki angedeutet (Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, darin: „Kunst und Vanitas”, Dresden 1966, S. 187-230, hier S. 212) ist meines Wissens bis heute nicht eingehend behandelt worden. 6 Solche Paradoxien hat Jacques Derrida ausführlich behandelt in: De la grammatologie, Paris 1967. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Rüdiger Bubner (Hg.), Stuttgart 1971, S. 47. <?page no="136"?> Mathias Spohr 136 Molières Komödienfiguren gehen stets noch davon aus, dass sich der Schauspieler für den Betrug seines Rollenspiels rechtfertigen muss, indem er Betrugsversuche seiner Figuren entlarvt (Der eingebildete Kranke, Tartuffe, Der Bürger als Edelmann). Er kann nicht mehr sein als ein Möchtegern und muss es sich und seinem Publikum ständig vor Augen halten. Auch die gekränkte Eitelkeit des Bürgers, der trotz vornehmen Verhaltens nicht zum Edelmann wird, sondern in dessen Augen ein Komödiant bleibt, ist ein soziales Grundproblem des 18. Jahrhunderts. Daher rührt eine neue bürgerliche Solidarität mit dem Schauspieler. Die Kunst des Darstellens sollte vom Scheitern zum Gelingen werden. Seit Ende des 18. Jahrhunderts geschieht eine grundsätzliche Aufwertung der „täuschenden” Künste. Die rührende „List aus Liebe” wird zu einem allgegenwärtigen Bühnenmotiv, ethisch unangreifbar gemacht etwa in Beethovens Fidelio. Leonores Aufopferung ist keine Hochstapelei. Die arglose Täuschung oder die „verstellte Einfalt” sind beliebte Theaterthemen der Zeit. Damit wird das einst Verwerfliche zum Akzeptablen oder gar Fördernswerten. Der „Illusionist” kann sich allerdings auch als Betrüger betätigen, was Cagliostro mit Vorliebe tat, der nicht nur Tricks mit der Camera obscura vorführte, sondern die Leichtgläubigkeit seiner Bewunderer nutzte, um sich zu bereichern. Doch sein Publikum wollte das offenbar nicht wahrhaben. Es blieb wider besseren Wissens bei dem Vorsatz, dass es durch die List nicht bedroht, sondern „bezaubert” werde. Das Nichtige der List wird aufgewertet zum „Künstlerischen” im modernen Sinn. Das deutlichste Zeichen für die Umkehrung der Vanitas-Symbolik ist meiner Ansicht nach die Ausbildung eines musikalischen Repertoires: Musik, die unmittelbar verklingt und damit noch vergänglicher ist als Kochkunst, wird dabei zum Garant des Ewigen. „Denkmäler der Tonkunst” entstehen. Das Musikinstrument ist nach moderner Vorstellung kein stummer Kadaver mehr wie die Musikinstrumente in den bildlichen Vanitas- Darstellungen des 17. Jahrhunderts. Die Stradivari-Geige ist kein verletztes, als Objekt missbrauchtes und verlassenes Medium, sondern scheint auf ihren Spieler zu warten und in ihrer Klangfrische ewig neu zu bleiben. Text oder Bild sind keine Zeichen eines zwangsläufigen Fehlens mehr, sondern eine Aufforderung, zu lesen und sich dabei etwas zu imaginieren. Die Stimme des Lesers wird von einem ungenügenden Ersatz für die verklungene Stimme des Schreibers zur jederzeit möglichen und berechtigten Verwirklichung des Textes. Texte, Bilder, Objekte signalisieren Präsenz statt Absenz. <?page no="137"?> Das Paradigma des Performativen und die Vanitas 137 II. Versuch einer Systematik Wechseln wir die Perspektive von der Historik zur Systematik. 8 Kombinatorisch betrachtet, gibt es vier Varianten einer Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem im Kontext der Vanitas: 1. Gelingen im Scheitern, 2. Scheitern im Scheitern, 3. Gelingen im Gelingen, 4. Scheitern im Gelingen. (Scheitern bedeutet hier: Es gelang nicht, etwas Lebendiges festzuhalten oder zu erzeugen - Absenz statt Präsenz.) Die beiden ersten Varianten gehören zur Vanitas-Rhetorik bis zum 17. Jahrhundert, die beiden letzten entwickeln sich als Vanitas-Überwindungsversuche seit dem 18. Jahrhundert. 1. Ein Gelingen im Scheitern zeigen die religiösen Darstellungen, etwa Schilderungen von Wundern, denen die Schilderung nicht gleichkommen kann und darf. Der Ostertropus als Beginn der nach-antiken europäischen Theatergeschichte im 10. Jahrhundert vermittelt etwa diese Botschaft. Es handelt sich um einen neu gedichteten Zusatz zur Ostermesse, der als Dialog zwischen Engeln und Frauen am Grab Christi aufgeführt wurde, zunächst von Klerikern in der Kirche. Die Auferstehung Christi ist gelungen, aber am leeren Grab ist nichts mehr zu sehen. Nur die Einsicht, dass Präsenz nicht herstellbar ist, kann präsentiert werden. Das Wunder kann nur erzählt werden. Ähnlich verhält es sich mit den spätmittelalterlichen Theatralisierungen der Eucharistie im spanischen Auto sacramental: Was aussieht wie Brot und Wein, ist in Wirklichkeit Leib und Blut Christi. Die Sinneswahrnehmung muss scheitern. „Hinter” dieser unzulänglichen Vermittlung befindet sich jedoch das gelungene Wunder. 2. Das Scheitern im Scheitern ist die häufigste Variante der Vanitas- Rhetorik, nicht zur Darstellung von Gotteswerk, sondern von Menschenwerk: Der Kadaver mit geöffneten Augen auf den Vanitas-Darstellungen des 17. Jahrhunderts täuscht Leben nur vor, so wie das Bild, auf dem er abgebildet ist. Das Bild legt sein Versagen bloß, wenn auch sehr kunstreich. Es ist wie das Abgebildete selbst Jagdbeute; ein Zeichen der Besitzgier, die das Lebendige einfangen wollte, aber nur das Leblose in den Händen behalten hat. Auch die bildliche Darstellung des Feuerwerks hat das Ephemere nicht festgehalten, sondern zeigt in seiner unnatürlichen Statik nur, dass es dazu nicht fähig ist. 3. Das Gelingen im Gelingen gehört zu den Vanitas-Überwindungsversuchen seit etwa 1750. Der Bildhauer Pygmalion kann seine Statue lebendig machen, bei Jean-Jacques Rousseau (1762/ 70) erstmals ohne göttliche Hilfe, und das Theaterstück oder der Tanz, die diese Handlung enthalten, verstehen sich selbst als etwas Gelungenes, indem sie Gemeinschaft stiften. Dies ist das dramaturgische Schema des sogenannten Rührstücks: Die Trä- 8 Einen Abriss der vorgestellten Systematik mit Beispielen habe ich in einem Wikipedia- Artikel vorgestellt: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Vanitas (abgerufen am 15.10.2009). <?page no="138"?> Mathias Spohr 138 nen gelten einem Erfolg. Ein weiteres historisches Beispiel ist die Gluck- Oper Orphée (1762/ 74), in der Orpheus Eurydike erstmals aus dem Totenreich zurückholen darf. Nach diesem Prinzip funktionieren auch Berichte über menschlich vollbrachte Wunder wie medizinische Erfolge. Die Darstellung verbindet sich nicht mehr durch ein gemeinsames Scheitern mit dem Dargestellten, sondern durch einen gemeinsamen Erfolg. Das Rührstück grenzt eine Erfolgsgemeinschaft von einer älteren Leidens- und Mitleidensgemeinschaft ab. 4. Das Scheitern im Gelingen gehört ebenfalls zu den Vanitas- Überwindungsversuchen, allerdings als schroffe Abgrenzung einer erfolgreichen Darstellung vom erfolglosen Dargestellten. Der Sänger der Sterbearie triumphiert über den Tod seiner Figur, indem er die Illusion bricht und den Applaus entgegen nimmt. Er und sein Publikum haben überlebt. Das ältere Lamento ist dagegen erfüllt von der gemeinsamen Trauer über das Verklingen. Auch die Tänzerin, die den sterbenden Schwan (in Michel Fokines Choreografie 1904) darstellt, sollte im Unterschied zum dargestellten Schwan im Vollbesitz ihrer Kräfte sein. Höhepunkt der bühnendramatischen Katastrophenszenarien ist vielleicht Richard Wagners Götterdämmerung (1876). Der Autor, der sich seine Götter selbst geschaffen hat, lässt sie untergehen und sich als Überlebenden feiern. Natürlich funktionieren ästhetische Zeitungsbilder von Katastrophen grundsätzlich nach demselben Prinzip. Aber auch die Vanitas-Darstellungen des 17. Jahrhunderts stehen bereits im Verdacht, insgeheim über das Dargestellte zu triumphieren. Es ist ein Gelingen der Darstellung, das als Scheitern getarnt wird. Die beiden Varianten der Vanitas-Überwindung 3 und 4 haben die Tendenz, sich paradox zu verbinden: In die „Darstellung des Gelingens” (Das Museumsstück bleibt lebendig! ) mischt sich die gegenteilige Haltung, nämlich ein „Triumph über sein Scheitern” (Seine Autorität ist endlich überwunden! ): Die Autoritäten, denen man im 19. Jahrhundert riesenhafte Denkmäler setzt, wie dem österreichischen Kaiser der Restauration Franz- Joseph I., verlieren fortwährend ihre Macht. Das Ephemere dieser Autorität will man nicht wahrhaben, aber das Lob der Größe, die Beschwörung der Geltung („Darstellung des Gelingens”) gehen unterschwellig mit einem realen Geltungsverlust einher, der durchaus begrüßt wird („Triumph über das Scheitern”). Die Autorität wird zur symbolischen Autorität, zu einem Fixierten, Imaginierbaren, über das die Betrachter triumphieren. Der Ersatz des Lebendigen durch das fassbare, aber leblose Denkmal liefert das signifié der Macht seiner Betrachter aus. Dies begründet aus meiner Sicht den Erfolg jener Vanitas-Überwindungsversuche, die das Reale durch das Virtuelle ersetzen. Auch die Autorität des bürgerlichen „großen Autors”, der den Monarchen ersetzt, aber wie er die Gestalt von Denkmälern annimmt, ist durch eine solche Rezeption in Frage gestellt. - Es ist ein Scheitern des Dargestellten, das als Gelingen getarnt wird. <?page no="139"?> Das Paradigma des Performativen und die Vanitas 139 III. Vanitas und performative Wende Nach dieser historisch-systematischen Darlegung nun die Frage: Was steht zwischen der Vanitas und der performativen Wende des 20. Jahrhunderts? Nach meiner These ist es die Vorstellung der „Institution als Text”. Sie ist vielleicht der prägnanteste Vanitas-Überwindungsversuch. Dieser Begriff der Institution entspricht ungefähr Benedict Andersons „Imagined Communities”. 9 Nicht mehr das Loslassen nichtiger Bilder und Texte im Vertrauen auf göttliche und fürstliche Gnade, sondern das Festhalten an Grundsätzen und Vorbildern, seien sie auch imaginäre Welten, wird seit dem 18. Jahrhundert zum Fundament einer neuen bürgerlichen Gesellschaft. Was sind die Indizien in jener Zeit? Jean-Jacques Rousseau schreibt sein Melodram Pygmalion 1762, im gleichen Jahr wie den Gesellschaftsvertrag (Contrat social), in dem er seine Theorie der Volonté générale entwickelt: des Gemeinwillens, der in Veröffentlichungen zum Ausdruck kommt. Eine Öffentlichkeit von Lesern oder Betrachtern ersetzte dabei die persönliche Abhängigkeit von einer Autorität wie des Monarchen oder Dienstherrn. Textualität lässt sich aus meiner Sicht kaum von der Vorstellung der Institution als Personenverband trennen, einer Beziehung im Umweg über Texte. Die Frage: In welchem sozialen Zusammenhang sind Text oder Bild kommunikativ? 10 führt auf die Spur solcher Institutionen. Nationalliteratur begründet eine Nation gleichberechtigter Leser, die Verfassung einen Staat, die Satzung einen Verein. Als Vorschriften engen sie nach damaligem Verständnis nicht ein, sondern ermöglichen eine gemeinsame Befreiung von der als flüchtig und willkürlich empfundenen obrigkeitlichen Gnade. Den leichtfertig tanzenden Adligen standen die Text produzierenden Autoren als neue Leitfiguren gegenüber. Der Text als Sicherheit richtet sich gegen die Vanitas der besseren Gesellschaft, die durch den Absolutismus salonfähig geworden war. Im 19. Jahrhundert ermöglichen die Vorschrift oder das Vorbild des großen Künstlers eine kollektive Befreiung von den Standesschranken. Nicht anders wurden die Theaterrollen und die Geschlechterrollen seit dem späteren 18. Jahrhundert verstanden. Vorschriften, oder Vorbilder als Totems wie Fahnen und Uniformen, wurden als Befreiung, nicht als Einengung empfunden. Richard Wagner hat das gemeinsam realisierte Kunstwerk als Keimzelle der bürgerlichen Institution definiert. 11 Theatertexte ebenso wie 9 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1985. 10 Den sehr unterschiedlichen Definitionen von Textualität ist zumeist gemeinsam, dass ein Text kommunikativ sein solle. Zur Einführung etwa: Klaus Brinker, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 2005. 11 Wagner sprach von „Genossenschaft”; siehe etwa Mathias Spohr, „Wirkung ohne Ursache? Richard Wagner zitiert Pierre-Joseph Proudhon”, in: Thomas Betzwieser u.a. (Hg.), Bühnenklänge, München 2005, S. 139-146. <?page no="140"?> Mathias Spohr 140 Gesetzestexte bleiben durch die Kontinuität ihrer Interpretation als Grundlagen bürgerlicher Freiheiten lebendig. Das Werk oder das soziale Geschlecht sind nach meinem Verständnis ebenso Institutionen wie ein Verein, ein Unternehmen oder ein Staat. Sie werden machbar durch Festlegung von Regeln, die für alle ersichtlich sind. Der begehrte Text schien schon von sich aus mit einem „Geist” beseelt zu sein. Der Konsens seiner Leser schien vorausgesetzt. Das konnte nur so lange gut gehen, wie er begehrt war. Heute kommt es vor, dass ein neues Theaterstück von seinen Interpreten zum vorneherein so leidenschaftlich bekämpft wird wie ein ungeliebter Klassiker, der stets von Neuem auf den Spielplan gesetzt werden muss. Sein Autor ist dann nicht mehr eine Leitfigur für die eigene Befreiung, sondern eine in Frage stehende Autorität, dessen Schrift ihren Lesern bis hin zur Zerstörung ausgeliefert ist. Das „Ereignis” der lesenden oder auf andere Art ausführenden Interpreten möchte sich von der Schrift des Autors emanzipieren. Die ins Wanken gekommene Solidarität von Werk und Interpretation diente einst der Gleichberechtigung: Der Darsteller des Hamlet sollte keine bloße Nachbildung einer historischen Figur sein, sondern ebenso ein Hamlet wie jeder Interpret. Er „war” ein Hamlet, zwar nicht „der” Hamlet, aber „ein” Hamlet. Schauspielkunst führt zu Sein statt Schein. Das wird im 20. Jahrhundert aufgebrochen. Die individuelle und momentane Handlung wurde sich bewusst darüber dass sie kein Text und kein Bild ist und vielleicht gar keine Vorschriften und Vorbilder darzustellen braucht, um zu existieren. Die Medientechnologie, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt hat, bietet ungezählte Möglichkeiten, das Flüchtige festzuhalten, und macht dadurch umso bewusster, dass wir sterblich sind und der soziale Moment der Begegnung vergänglich ist. So ist eine ähnliche Situation entstanden wie in der Barockzeit auf dem handwerklichen Höhepunkt der Ölmalerei. Darüber, dass das theatrale oder performative Ereignis auf irgendeine Weise ein Ritual ist, herrscht bis heute Einigkeit. 12 Wenn Rituale Beziehungen bestätigen sollen und dies im Bewusstsein der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit des Lebens tun, und wenn wir einverstanden damit sind, dass Kunst immer etwas Rituelles besitzt, dann zeigt ihre moderne Tendenz zum Performativen etwas ganz Selbstverständliches an: dass Beziehungen nicht auf eine Präsenz der Beteiligten verzichten können. Kunstwerke als Vorschriften ebenso wie Satzungen oder Verfassungen gewährleisten für sich allein, also ohne konkrete gesellschaftliche Situation, keine emotionale Sicherheit. Beziehungsnetze haben sich von den institutionell zugrunde gelegten Texten entfernt, und es erfolgt eine Besinnung auf ursprünglichere 12 Siehe etwa Erika Fischer-Lichte (Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen 2003. <?page no="141"?> Das Paradigma des Performativen und die Vanitas 141 Formen des Rituellen, wie es Erika Fischer-Lichte mit vielen Beispielen belegt. Hat die in der Mitte des 20. Jahrhunderts viel beschworene Werktreue nun dem individuellen Selbstbewusstsein der Ausführenden und Zuschauenden Platz gemacht oder wird das ideologische Scheitern des klassischromantischen Kunstwerks als eigenes Scheitern verstanden? Sind wir triumphierende Überlebende der Werkästhetik (Scheitern im Gelingen), tanzen wir den sterbenden Schwan im Bewusstsein, noch zu leben, oder beklagen wir den Untergang der „großen Werke” zusammen mit unserem eigenen nahenden Untergang (Scheitern im Scheitern)? Endgültige Vanitas- Überwindung oder Rückkehr der Vanitas? Die Rührstück-Variante, das Gelingen der Schrift im Gelingen ihres Lesens, ist weniger aktuell. Am Schluss ein Beispiel, das Fischer-Lichte ihrem Buch Kulturen des Performativen voransetzt: Der Stern, den Marina Abramovic während der Performance The Lips of Thomas (1975/ 2005) mit einer Rasierklinge in ihren Bauch einritzte, 13 ist ebenso etwas Dargestelltes wie eine Theaterrolle, die dem Körper ihres Darstellers aufgezwungen wird. Ob von ihm selbst oder von einer hintergründigen Autorität, bleibt offen. Das gehört zum hergebrachten Repertoire der Vanitas: Das Einritzen einer Form in ein Medium ist ein Gewaltakt, der keine Dauer schaffen kann, denn das Medium verändert sich fortwährend und lässt die Form vergehen. Die Überheblichkeit einer Formgebung ist aber verzeihlich, wenn sie sich gegen sich selbst richtet und die Selbstverletzung als eine Art Buße ausstellt. Beim Nacherzählen der Performance ist man sich des eigenen Scheiterns bewusst, man kann sie ja nicht wiedergeben, und man weiß nicht recht, ob es ein Scheitern oder ein Gelingen ist, worüber man berichtet, und ob die eigene Erzählung ein Gelingen oder Scheitern ist. Wie wären sie in die vorgestellte Systematik einzuordnen? Dieser Frage müsste mit einer größeren historischen Distanz nachgegangen werden, als wir sie jetzt besitzen. 13 Erika Fischer-Lichte, Kulturen des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 9-12. <?page no="143"?> Romain Jobez Szenen der Tragikomödie Das Mémoire de Mahelot und die französische Barockbühne Die Aufführungsgeschichte des französischen Theaters in der Barockzeit und am Anfang der Klassik ist äußerst lückenhaft. Selbst bei namhaften Autoren sind die ikonografischen Quellen dürftig. Aus diesem Grund blieb die französische Theatergeschichtsschreibung lange Zeit allein Sache der Literaturwissenschaft, die das Performative der Darstellung außer Acht ließ, da sie sich auf die Debatte um die klassischen Normen der drei Einheiten (Ort, Zeit und Handlung) fokussierte. Fortan wurden alle unregelmäßigen Dramenformen wie etwa die Tragikomödie als unvollkommene Vorstufen des Tragödiengenres herabgesetzt. Demgegenüber war die Tragödie, und somit auch ihre zeitgenössische Inszenierung auf der Perspektivbühne, einziges Aushängeschild der französischen Klassik. Es gibt jedoch ein außergewöhnliches Dokument von großem Wert für die Theaterhistoriografie, das so genannte Mémoire de Mahelot. Dieses Manuskript enthält eine Aufführungsliste verschiedener Stücke, die im Laufe des 17. Jahrhunderts gespielt worden sind, darunter Klassiker von Corneille, Molière und Racine, und 47 mit ausführlichen Kommentaren versehene Bühnenskizzen. Diese gewähren einen Einblick in die Aufführungspraxis im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, die sich vornehmlich auf ein Repertoire aus Tragikomödien und Schäferspielen stützte. Im Folgenden soll das Problem der Darstellung in der barocken Szenografie in den Vordergrund gerückt und die bisher von der Regelpoetik gering geschätzten Theatergattungen an ihren Aufführungsqualitäten gemessen werden. Ein solcher Ansatz erscheint umso notwendiger als die meisten Stücke dieser Zeit als verschollen gelten und deren Handlung sich nur durch die Abbildungen des Mémoires de Mahelot rekonstruieren lässt. Die Identität des Hauptverfassers dieses bühnenbildliches Kompendiums, Laurent Mahelot, der seinen Namen auf dem Titelblatt des Mémoire eingetragen hat, bleibt jedoch bis heute ein Geheimnis. 1 Unter den namhaften Szenografen, die in der Herrschaftszeit von Ludwig XIII und Ludwig XIV tätig waren und sich noch nach der mittelalterlichen Tradition „feinc- 1 Vgl. Marc Bayard, „Les Dessins du Mémoire de Laurent Mahelot: Sur les traces d'un peintre du roi au service de Richelieu”, in: Revue d’Histoire du Théâtre 4 (2006), S. 313- 324. <?page no="144"?> Romain Jobez 144 teurs” nannten, ist er nicht aufzufinden. Dagegen sind die detailreichen Abbildungen von Bühnenbildern dem tatsächlichen Aufführungsort zuzuordnen. Es handelt sich um das Hôtel de Bourgogne, Frankreichs ersten, festen Theaterbau. 2 Nach den Religionskriegen im 16. Jahrhundert wurde die Tätigkeit der Wandertruppen aufgrund von Unruhen wesentlich eingeschränkt, insofern als sie religiöse Tragödien spielten, die jeweils Protestanten oder Katholiken anstößig erscheinen konnten. Lediglich die „Confrérie de la Passion”, ein Verein von Pariser Bürgern, durfte Mysterienspiele aufführen. 1548 kauften sie ein Grundstück in der Rue Mauconseil, der heutigen Rue Etienne Marcel im III. Arrondissement, die an den nördlichen Teil des Stadtteils Les Halles angrenzt, und ließen einen Theatersaal errichten. Im selben Jahr aber erließ das Pariser Parlament ein Aufführungsverbot für Mysterienspiele, so dass die Confrères sich dazu gezwungen sahen, die Räumlichkeiten an Schauspieltruppen zu vermieten. Der Prinzipal Valleran Le Comte und sein Nachfolger Robert Guérin setzten sich gegen die Konkurrenz von Schwankerzählern wie Gros-Guillaume und Gautier-Garguille oder Turlupin durch und ließen sich um die Jahrhundertwende mit ihren Komödianten am Hôtel de Bourgogne nieder. Ab 1622 genossen sie königlichen Schutz und durften sich fortan „Comédiens du Roi” oder „Troupe Royale” nennen. Das erste feste Ensemble im französischen Königreich stellte Autoren ein, so genannte „poètes à gages”, die exklusiv für die Truppe Stücke schrieben. Sie durften erst veröffentlicht werden, nachdem sie auf dem Theater keinen Erfolg mehr hatten. Die Stellung des Dramatikers war daher mit keinem literarischen Prestige verbunden. So erstritt sich Alexandre Hardy seine Autorenrechte erst nach langen Auseinandersetzungen und sogar Prozessen mit der Truppe. Unter der Prinzipalschaft von Bellerose wurden Schauspieler von konkurrierenden Truppen abgeworben, so dass die „Comédiens du Roi” bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine vorherrschende Stellung im Pariser Theaterleben hatten. Im Folgenden soll es um die Szenografie der Jahre um 1630 gehen, die erste Blütezeit des französischen Barocktheaters mit der Aufführung zahlreicher Tragikomödien. Ihr Hauptmerkmal ist die Komplexität der Handlung, die zumeist spanischen Romanen entlehnt ist. Sie als Tragödien mit glücklichem Ausgang zu bezeichnen ist, entgegen der in der Literaturwissenschaft weit verbreiteten Meinung, irreführend. Der tragikomische Held wird nicht mit seinem Schicksal in einem eindimensionalen Handlungsablauf konfrontiert, sondern muss zahlreiche Hürden überwinden, die seinen Weg entlang der verschiedenen Schauplätze versperren. 3 2 Zur Geschichte des Hôtel de Bourgogne vgl. Sophie Deierkauf-Holsboer, Le Théâtre de l’Hôtel de Bourgogne, Paris 1968-1970. 3 Vgl. Hélène Baby, La tragi-comédie de Corneille à Quinault, Paris 2001. <?page no="145"?> Szenen der Tragikomödie 145 Das Hôtel de Bourgogne wurde 1647 abgerissen und wieder aufgebaut. Der Bauplan, einer der wenigen Belege der damaligen Theaterarchitektur, ermöglicht es jedoch, sich die Größe des Theatergebäudes in der ersten Phase seines Bestehens vorzustellen. Der Saal bestand hauptsächlich aus einem Parkett von ca. 14 Metern Länge und ca. 9 Metern Breite. Er war von Zuschauerlogen flankiert und verfügte in seinem hinteren Teil über Tribünen, die einen besseren Blick über das Bühnengeschehen ermöglichten. Dort nahmen die Theaterliebhaber und die Gelehrten, die so genannten „doctes”, Platz. Letztere wachten über die Einhaltung der Regelpoetik. Die Bühne selbst war nicht tiefer als 10 Meter und nicht breiter als 13 Meter. Was ihre Ausstattung anbelangt, so gibt das Mémoire zahlreiche Auskünfte, die deren Funktion definieren. Neben Georges Buffequin, dem bekannten Bühnenaustatter der Comédiens du Roi, war wahrscheinlich auch Laurent Mahelot mit der Szenografie beschäftigt und trug sämtliche technische Elemente, die zur Aufführung und Wiederaufführung der Stücke nötig waren, in das Mémoire ein. Jede Bühnenskizze verweist auf eine Notiz, die Informationen über die Kulissen, die Requisiten und die Schaueffekte enthält. Das eigentliche Bühnenbild, die Kulissen, waren aus mit bemaltem Stoff gespannten Holzrahmen gebaut. Ihre Zusammenstellung ergab drei hintereinander gestaffelte Prospekte, wobei der letzte der Bühnenhorizont war. Das Bühnenbild war also nach den Vorschriften von Vignolas Traktat Le due regole della prospettiva pratica (1583) konzipiert. 4 Eine Besonderheit der Bühnenausstattung bestand darin, dass die Prospekte oft geöffnet waren und abgetrennte Räume bzw. Kammern (so genannte „compartiments”) bildeten, meistens auf der ersten Kulissenebene, wo ein Teil der Handlung stattfand. Wenn sie nicht im Bühnengeschehen benutzt wurden, blieben diese Kammern gewöhnlich mit einem Vorhang geschlossen. Die Bühnenskizze von Alexandre Hardys La Folie de Clidamant (Abb. 1) zeigt einen solchen Vorhang und die entsprechende Notiz verweist ausdrücklich auf seinen notwendigen Einsatz: Il faut Milieu du theatre un beau palais, et a un des costez une Mer ou paraist un Vaisseau, garny de Mats, et de Voiles, ou paraist une femme qui se Jette dans la mer, et a lautre costé une belle chambre qui souvre et ferme [Hervorhebung, RJ], ou il y ayt un lict bien paré avec des draps, du san. 5 4 Vgl. Anne Surgers, „Les Décors de l'Hôtel de Bourgogne: Usage et détournements du type ‘à l'italienne’ en France dans la première moitié du XVIIe siècle”, in: Charles Mazouer (Hg.), Les Lieux du spectacle dans l'Europe du XVIIe siècle, Tübingen 2006, S. 73-86. 5 „Man braucht in der Mitte der Bühne einen Palast, und auf der einen Seite ein Meer, wo ein Schiff mit Mästen und Segeln erscheint, während eine Frau sich ins Meer wirft; auf der anderen Seite ein Prachtzimmer, das sich auf- und abschließen lässt, mit einem schön gemachten Bett; man braucht auch Blut.” Zitiert nach Pierre Pasquier (Hg.), Le Mémoire de Mahelot, Paris 2005, S. 255. <?page no="146"?> Romain Jobez 146 Das Bühnenbild umfasste in der Regel fünf Kammern, selbst wenn diese für die Handlung nicht notwendig waren. Diese Kammern korrespondieren mit verschiedenen, immer wiederkehrenden Ortsbezeichnungen der Handlung, wie etwa der Höhle, dem Haus, dem Palast („beau palais”), dem Prachtzimmer („belle chambre”), dem Gefängnis, der Festung, dem Wald, dem Garten und dem Felsen. Einige Elemente waren im Bühnenbau kombinierbar. Viele Prospekte waren auch für mehrere Inszenierungen verwendbar. 6 Sie entstammen der Tradition der standardisierten Prospekte in den Mysterienspielen. Vermutlich hatte die Confrérie de la Passion der Troupe Royale ihre frühere Bühnenausstattung zur Verfügung gestellt. Man mag sich folglich fragen, ob die Szenografie am Hôtel de Bourgogne nach dem Vorbild der mittelalterlichen Simultanbühne funktionierte. Dieser Begriff selbst ist allerdings nicht unumstritten, stützt er sich doch auf sehr wenige Belege, die von der Aufführungspraxis im Mittelalter zeugen. Man kann aber vermuten, dass neben den Vorhängen, die die verschiedenen Kammern kaschierten, größere Vorhänge nach den von Nicola Sabbatini beschrieben Techniken benutzt wurden. Jedoch ist anzumerken, dass der Bühnenraum des Hôtel de Bourgogne aufgrund seiner relativen Enge keine komplexe Theatermaschinerie zuließ, die auch die Einschiebung der verschiedenen Prospekte hätte ermöglichen können. Ferner muss man sich daran erinnern, dass Sabbatinis Abhandlung Pratica di fabricar scene e macchine ne' teatri erst 1638 in Ravenna erschien. Größere Elemente der Kulissen wie das Schiff aus La Folie de Clidamant (Abb. 1), die die Nachbildung fließenden Wassers voraussetzten, ließen sich schwerlich während des Theaterabends abmontieren. Auf der anderen Seite weisen die Bühnenskizzen des Mémoire eine Grundkenntnis der Perspektivgesetze auf, die einen italienischen Einfluss nachvollziehbar macht, umso mehr als Sebastiano Serlio im 16. Jahrhundert am französischen Hof tätig war. So bleiben die Prospekte entlang der Zentralachse nach einem Fluchtpunkt organisiert, der sehr oft deutlich markiert wird, wie etwa in Les Folies de Cardenio (Abb. 2). Das Bühnenbild des Mémoire de Mahelot erweist sich also als Mischform zwischen dem mittelalterlichen Simultanbau und dem barocken Guckkasten. Die Innenarchitektur des Theaterhauses, die eher an die spanischen Corrales erinnerte als an die Hofbühne, hatte für die Zuschauer gravierende Nachteile bezüglich der Sichtmöglichkeiten, umso mehr als die Schauspieler auf einer relativ kleinen Fläche spielten. Zudem war die Aufmerksamkeit des Publikums nicht immer der Aufführung gewidmet. Man konnte sich im Parkett nicht hinsetzen, und dieser Teil des Hôtel de Bourgogne war aufgrund seiner spärlichen Beleuchtung Schauplatz von krummen Geschäften 6 Dies erkennt man schemenhaft bei der zweiten Kulissenebene von Les Folies de Cardenio und La Folie de Clidamant an den Seitenflügeln der Paläste (Abb. 1 und 2). Andere deutlichere Beispiele können hier aufgrund von Platzmangel nicht aufgeführt werden. <?page no="147"?> Szenen der Tragikomödie 147 und Treffpunkt zwielichtiger Gestalten. 7 Die Zuschauerblicke waren also nicht unbedingt auf die Darstellung konzentriert: Im Prinzip ist der Augenblick des Theaters der, in dem sich die Fiktion auf der Bühne in den Farben der Darstellung und der Illusion abspielt, doch gibt es während der Theatervorstellung noch andere Augenblicke (die sich außerhalb der Zeit der Darstellung einfügen oder während dieser Zeit, wie in Opposition parallel dazu), welche die Übung des Theaters in eine Praktik verwandeln, die nicht zwangsläufig oder ausschließlich um die Darstellung herum zentriert ist. 8 Die Fragmentierung der Zeit- und Blickebenen im Augenblick des Theaters entsprach der Aufsplitterung der Darstellung durch die hybride Szenografie des Mémoire de Mahelot. Neben der Wiederverwendung von Elementen aus den Mysterienspielen sind meines Erachtens die Gründe für diese seltsame Bühneneinrichtung auch in den Stücken selbst zu suchen. Das Repertoire bestand mehrheitlich aus Tragikomödien wie etwa Les Folies de Cardénio. Dieses 1628 aufgeführte Stück von Pichou, das jedoch mit der Komödie Cardenio und Celinde von Gryphius nichts gemeinsam hat und vielleicht an das verschollene Werk von Shakespeare erinnert, entstammt einer Episode aus Don Quichotte. Der Held von Cervantes’ Roman erscheint selber in der Tragikomödie und wirbt vergeblich um Dulcineas Hand, während der Protagonist gegen Fernant um die Hand von Luscinde kämpft. In der Parallelhandlung werden der spanische Ritter und der junge Liebende beide Opfer der Illusion: Don Quichot verwechselt eine Gaststätte mit einem Schloss, während Cardenio zeitweise verrückt wird und einen Friseur für seine Geliebte hält. Am Ende des Stücks beklagt Sancho Pança den Triumph der Illusion, in der sein Herr verfangen bleibt. Die verschiedenen Episoden des Romans werden an verschiedenen Bühnenorten aufgeführt, die mit den jeweiligen Prospekten korrespondieren: Au Milieu du Theatre forme de Palais Rustique a La fantaisie du feinteur, Au costé gauche du theatre, une hermitage haute eslevée et dessous un Antre il doit avoir entrée devant et derriere Lhermitage, de lautre costé du Theatre, un bois, une Maison dans Ledict bois. 9 Aus der Wüste der Mancha macht Mahelot einen Wald („bois”) und eine Höhle („Antre”). Das Kloster, in das sich Luscinde zeitweise zurückzieht, 7 Vgl. Jeffrey S. Ravel, The Contested Parterre, Ithaca, London 1999. 8 Christian Biet, „Rechteck, Punkt, Linie, Kreis und Unendliches. Der Raum des Theaters in der Frühen Neuzeit”, in: Nikolaus Müller-Schöll, Saskia Reither (Hg.), Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum und Kunst, Schliengen 2005, S. 52-72, hier S. 60. 9 „Auf der Mitte des Bühne eine Art von ländlichem Palast, gebaut nach eigenem Belieben des Szenografen. Links davon eine auf einer Höhe errichtete Einsiedelei, darunter eine Höhle; es muss einen Zugang vor und hinter der Einsiedelei geben. Auf der anderen Seite der Bühne einen Wald mit einem Haus im besagten Wald.” Le Mémoire de Mahelot, a. a. O., S. 315. <?page no="148"?> Romain Jobez 148 wird zu einer Einsiedelei („hermitage”), während ihr Haus links auf der Bühne dargestellt wird (Abb. 2). Somit werden Bühnenelemente eingesetzt, die ansonsten im religiösen Kontext der Mysterienspiele verankert sind. Das Bühnenbild dient zugleich der Verräumlichung der episodenhaften Erzählung. Folglich besteht die Handlung aus der theatralischen Umsetzung der Episoden, die inhaltlich daraus bestehen, dass der Held verschiedene Hürden in seiner Suche nach der Liebe überwinden muss. Die verschiedenen Handlungsorte, die von der Szenografie bestimmt werden, korrespondieren schließlich mit der komplexen Dramaturgie der Tragikomödie: „Das Drama des Barock gestaltet die Wirklichkeit in diachronischen und synchronischen, in horizontalen und vertikalen Ausschnitten”. 10 Ein ganz anderes Weltbild stellt das Genre der Pastorale, auch Schäferspiel genannt, dar. Es handelt sich gleichfalls um die Umsetzung von Romanstoffen, die jedoch aus der homogenen Welt der Liebesgeschichte zwischen Schäfern und Schäferinnen stammen. Sie dienen dem Zivilisierungsprozess im höfischen Kontext. Ein Beispiel dafür ist das Stück von Jean Mairet, La Silvanire, das 1630 aufgeführt wurde und seine Vorlage in L’Astrée (1607-1627), einem Schäferroman von Honoré d’Urfé, hat. 11 Die Titelheldin wird von Aglante geliebt, ist aber einem anderen versprochen. Sie blickt auf ihr Abbild in einem magischen Spiegel, der sie in einen todesähnlichen Zustand versetzt. Währendessen versucht Aglante, seinen Nebenbuhler Alciron zu töten. Silvanire erwacht wieder zum Leben und darf letzten Endes doch ihren Geliebten heiraten. Das Bühnenbild besteht vergleichsweise aus vergleichsweise einfachen Elementen (Abb. 3): der Höhle („Antre”) als Sinnbild der undomestizierten Natur und dem Grab („tombeau”), wo Silvanire zeitweise ruht. Die Einfachheit der Handlung, die eigentlich nur auf der Peripetie der Spiegelepisode beruht, wird von Mairet programmatisch im Vorwort seines Stückes verteidigt. Hier formuliert er auch zum ersten Mal die Regeln der drei Einheiten. Gegenüber der Tragikomödie erscheint das Schäferspiel also als die fortschrittliche Theatergattung, an die die Tragödien von Corneille und Racine hinsichtlich des Handlungsaufbaus anknüpfen werden. 12 Mairet selbst wird anschließend in seiner Sophonisbe, einer römischen Tragödie (1634), Verse aus seiner Silvanire erneut verwenden. Die Einfachheit der Kulissenanordnung deutet gewissermaßen schon auf die Bühneneinheit der Klassik voraus, die aus einem einzigen Palastzimmer besteht. Szenografie und Aufbau des dramatischen Gedichts entsprechen daher derselben formalen Strenge und folgen den Prinzipien des Abbé d’Aubignac, des großen Poetikers der klassischen Dramaturgie. Dieser schrieb in seiner Pratique du théâtre (1657), dass die Komposition der 10 Wilfried Floeck, Die Literaturästhetik des französischen Barock, Berlin 1979, S. 182. 11 Urfés Schäferroman gelang zum neuen Ruhm dank seiner Verfilmung von Éric Rohmer, Les amours d'Astrée et de Céladon (2006). 12 Vgl. Georges Forestier, Passions tragiques et règles classiques, Paris 2003. <?page no="149"?> Szenen der Tragikomödie 149 Tragödie der Komposition eines Bildes ähnlich wäre, insofern die dramaturgischen Regeln als analog zu den Gesetzen der Perspektive gedacht werden sollen. Im Hinblick darauf ist festzuhalten, dass bereits Serlio das ideale Bühnenbild zum Schäferspiel entworfen hatte. Die Bühne des Hôtel de Bourgogne erlaubte die friedliche Koexistenz von zwei konkurrierenden Modellen, der Tragikomödie und dem Schäferspiel. Folgt man der Argumentation von Ulrike Haß in Das Drama des Sehens, so kann ersteres dem „Blickmodell” zugeordnet werden. Eine abwechslungsreiche Geschichte wird auf der Bühne erzählt: Sie zeigt mit Don Quichot eine Figur, die in der Welt der Ähnlichkeiten verstrickt bleibt und der Illusion zum Opfer fällt. Foucaults Lektüre von Cervantes’ Roman gilt auch für Pichous Folies de Cardenio: „Die Schrift hat aufgehört, die Prosa der Welt zu sein. Die Ähnlichkeiten und die Zeichen haben ihre alte Eintracht verloren”. 13 Die narrative Struktur des Stückes verfolgt alle Details der Handlung, die mit unerwarteten Wendungen versehen wird. Sie entsprechen der Suche der Protagonisten nach Ähnlichkeiten: „[D]ie geringsten Analogien werden als eingeschläferte Zeichen herangezogen, die man aufwecken muss, damit sie erneut zu sprechen beginnen”. 14 Parallel dazu streift der Blick der Zuschauer die Kulissen, die im verräumlichten Ablauf der Handlung von Don Quichot oder dem zeitweise wahnsinnig gewordenen Cardenio falsch verortet werden: „Er nimmt die Dinge für das, was sie nicht sind, und die Leute verwechselt er miteinander”. 15 Ulrike Haß bezeichnet die in der Welt der Ähnlichkeiten verfangene Figur als „Prototypus jenes Blicks, der auf den Dingen liegt und sie in einer vorversicherten Ordnung bezeichnet”. 16 Sie kommentiert Foucaults Beschreibung des neuzeitlichen Paradigmenwechsels auf folgende Weise: Die Annahme einer vorgängigen Schrift ist aufgehoben. Solange die Welt unter dem Primat der Schrift als vorausliegende Textur begriffen wurde, galten das Sichtbare und das Sagbare als zwillingshafte Formen des Wissens, die sich in Form einer unaufhörlichen Beobachtung und eines unendlichen Kommentars dem Studium der Ähnlichkeiten widmeten, ohne den vorausliegenden Text des Kosmos verändern zu wollen, und allein von der Verheißung getragen, ihn eines Tages vollständig entziffern zu können. 17 Die Bühne des Hôtel de Bourgogne ist insofern ein Schauplatz des neuen Weltverständnisses. Die Tragikomödie verabschiedet in den Kulissen des Mysterienspiels die mittelalterliche Lesbarkeit der Welt, indem sie die Diskrepanz zwischen den verschiedenen, von den Zuschauern jedoch klar ein- 13 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1971, S. 79. 14 Ebd., S. 79. 15 Ebd., S. 81. 16 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens, München 2005, S. 46. 17 Ebd., S. 45. <?page no="150"?> Romain Jobez 150 geordneten Prospekten und ihrer Verortung durch die Theatergestalten hervorhebt. Das Sichtbare und das Sagbare gehen auseinander, der Blick auf die Welt wie auf die Bühne bedarf einer notwendigen Revision, die in einer anderen Dramenform stattfindet. Dagegen thematisiert La Silvanire das „Modell des Auges” (Haß): In der Urszene, wo Silvanire ihr eigenes Bild zum ersten Mal narzisstisch im Spiegel erblickt, wird sie auch Opfer der Illusion und verfällt in einen lethargischen Zustand. Aus der Natur der Schäferspiele erwacht sie wieder in der Welt der Kultur, indem ihr Schicksal mit ihrer Hochzeit besiegelt wird. 18 Die Domestizierung der freien Liebe ebnet den Weg zur Thematisierung der Leidenschaft in der klassischen Tragödie. Das Erwachen der Protagonistin erfolgt in der überschaubaren und zivilisierten Welt der Klassik, die von Zeichnen „als Markierung der Identität und des Unterschiedes, als Prinzipien des Ordnens” organisiert wird. 19 In Anlehnung an Foucaults Abhandlung über das neuzeitliche Zeichensystem schreibt Ulrike Haß: Das siebzehnte Jahrhundert bricht mit der Auffassung einer fest in die Welt eingelassene Sprache zugunsten der Entdeckung der Darstellung als einer einzigen Figur, in der Bezeichnendes und Bezeichnetes einander reflektierend zu einer bestimmten Deckung gebracht werden. Das reflektorische Element im Zentrum dieses neuen Repräsentationstypus verdankt sich der neuartig herrschenden Logik des Spiegels und seinem Primat der Sichtbarkeit […]. 20 Es triumphiert das „Modell des Auges”, das die Titelfigur in die Zentralperspektive des Theaters einschreibt. Ihre Wiederentdeckung in der Renaissance geht aus Brunelleschis Spiegelexperiment mit der tavoletta hervor. 21 Der Spiegel fungiert hier als Emblem des Auges, das die saubere Trennung von Sichtbarem und Sagbarem ermöglicht. Das Schäferspiel ist also das Spiegelstadium des Mémoire de Mahelot. Es reflektiert den Übergang vom mittelalterlichen Bühnenbild zur Illusionsbühne in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Gleichwohl ist anzumerken, dass diese Verwandlung nur vom Standpunkt der Zuschauertribünen ins Auge gefasst wird. Dort saßen nämlich die so genannten „doctes”, zu denen auch d’Aubignac zählte, die mit großer Aufmerksamkeit und unter den besten Sichtmöglichkeiten das Bühnengeschehen und die Entwicklung des französischen Theaters verfolgen konnten. Der Augenblick der Klassik ereignet sich in dem fraktalen Raum des Hôtel de Bourgogne und wird nicht gleichzeitig von allen Zuschauern wahrgenommen. Die Modelle von „Auge” und „Blick” über- 18 Vgl. Jean-Pierre Ryngaert, „L'Antre et le palais dans le décor simultané selon Mahelot: Etude du fonctionnement de deux espaces antagoniques”, in: Elie Konigson (Hg.), Les Voies de la création théâtrale, Bd. VIII, Paris 1980, S. 183-226. 19 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 91. 20 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens, a. a. O., S. 45. 21 Ebd., S. 81-109. <?page no="151"?> Szenen der Tragikomödie 151 schneiden sich, gehen während der Aufführung in- und auseinander und machen aus ihr eine visuelle Performance. Abb. 1: Alexandre Hardy, La Folie de Clidamant (Erstaufführung um 1628). Abb. 2: Pichou, Les Folies de Cardenio (Erstaufführung um 1628). <?page no="152"?> Romain Jobez 152 Abb. 3: Jean Mairet, La Silvanire (Erstaufführung 1630). Alle Abbildungen enstammen: Lancaster, Henry (Hrsg.), Le mémoire de Mahelot, Laurent et d'autres décorateurs de l'hôtel de Bourgogne et de la Comédiefrançaise au XVIIe siècle, Paris 1920. <?page no="153"?> Swetlana Lukanitschewa Vom Sagbaren zum Sichtbaren. Das Monodrama-Konzept von Nikolai Evreinov im Kontext theatraler Wirkungsästhetik des frühen 20. Jahrhunderts Vom Sagbaren zum Sichtbaren Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Seiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. (Wassily Kandinsky) 1 Die zunehmende Industrialisierung und Dynamisierung des Lebens in den europäischen Großstädten in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts beeinflusste ersichtlich die Mechanik des Sehens. Das Auge − im Laufe des 19. Jahrhunderts geschult an den immer neuen bildkünstlerischen Medien und gefördert durch die immer komplizierter werdenden optischen Geräte − avancierte zu „ein[em] Mittel, das sich seine Zwecke selbst erfindet”, 2 zu demjenigen, „was durch einen bestimmten Eindruck der Welt bewegt wurde und es durch die Züge der Hand ins Sichtbare zurückversetzt”. 3 „Wer kann noch an die Undurchsichtigkeit der Körper glauben”, fragen italienische futuristische Maler in ihrem Manifest 1910, „wenn uns unsere verschärfte und vervielfältigte Sensibilität die dunklen Offenbarungen mediumistischer Phänomene erahnen läßt? Warum sollen wir weiterhin schaffen, ohne unserer visuellen Kraft Rechnung zu tragen, die Röntgenstrahlen vergleichbare Ergebnisse erzielt? ” 4 Auch das Theater als visuelles Medium reagiert um die Wende zum 20. Jahrhundert schnell und sensibel auf den Paradigmenwechsel in den Künsten. Sehr deutlich lässt sich die Dominantenverschiebung vom Wort zum Bild anhand des außerordentlich intensiven russischen Theaterdiskurses der ersten Dekade, der sich zwischen zwei Polen bewegt, verfolgen: Seine Teilnehmer beziehen Impulse für ihre eigenen Entwürfe der Retheatralisierung 1 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952, S. 64. 2 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 283. 3 Ebd. 4 „Die Futuristische Malerei. Technisches Manifest”, in: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hrsg. v. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders, Stuttgart, Weimar 1995, S. 13-16, hier S. 14. <?page no="154"?> Swetlana Lukanitschewa 154 des Theaters aus den neuesten Entwicklungen in der europäischen Theaterkunst wie etwa aus den optisch dominierten Projekten von Peter Behrens, Georg Fuchs, Max Reinhardt und Gordon Craig 5 und deren programmatischen Schriften. Und sie polemisieren explizit gegen die textorientierte Ästhetik des Moskauer Künstlertheaters 6 von Stanislavskij. 7 Einen gewichtigen Beitrag zu der russischen Diskussion um die Bedeutung des Optischen auf der Bühne, der auf eine originelle Art und Weise die Fragen - inwieweit das Bildpotential der Sprache in die Bilder, die mit den theatralen Mitteln erzeugt werden können, übersetzbar sei sowie auf welche Art und Weise man die Wahrnehmung der Rezipienten durch die szenischen Bilder aktivieren und steuern kann - anschneidet, stellt das Monodrama-Konzept von Nikolai Evreinov dar. Bevor auf dieses Konzept eingegangen wird, soll ein kurzer Blick auf die Geschichte der russischen institutionellen Bühne, ohne deren Berücksichtigung die Spezifik des Ringens „um die Vorherrschaft zwischen den bildlichen und sprachlichen Zeichen” 8 im russischen Theater des frühen 20. Jahrhunderts unverständlich ist, geworfen werden. Historischer Rückblick Setzt man sich mit der im Vergleich zu der westlichen ziemlich jungen Geschichte des russischen Theaters auseinander, so stellt man fest, dass die russische Bühne praktisch keine heimischen Anfänge vorzuweisen hat. Da 5 Die theoretischen Schriften, Memoiren und der Briefwechsel russischer Künstler und Intellektuellen der Zeit bezeugen, dass sie mit neuesten Tendenzen des europäischen Theaters am besten vertraut waren. In den russischen Theater- und Literaturzeitschriften der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Besprechungen der bedeutenden Ereignisse des europäischen Theaterlebens. Ebenfalls waren theoretische Ausführungen der führenden europäischen Theatermacher in den russischen Theaterkreisen noch Jahre, bevor sie ins Russische übersetzt wurden, bekannt. So z. B. gehörte das programmatische Buch von Georg Fuchs Die Schaubühne der Zukunft bereits in seinem Erscheinungsjahr 1905, sechs Jahre vor der Veröffentlichung der russischen Übersetzung 1911, zu einem der in der russischen Presse vielbesprochenen theatertheoretischen Entwürfe. (Vgl. dazu u. a. Aleksandr Kugel’, Utverždenie teatra [Die Rechtfertigung des Theaters], (Petrograd 1923, S. 4.) 1906 griff Vsevolod Mejerchol’d das Reliefbühnenkonzept von Fuchs in seiner Inszenierung von Maeterlincks Schwester Beatrix am Petersburger Theater von Vera Kommissarževskaja auf. 6 Vgl. dazu u. a. J. Ajchenval’d, „Otricanie teatra” [Die Negation des Theaters] (1914) in: V sporach o teatre [In der Polemik um das Theater], wiedererschienen Moskva 2008, S. 5- 23; V. Brjusov „Realizm i uslovnost’ na scene” [Realismus und Konvention auf der Bühne] (1908), in: Teatr. Kniga o novom teatre [Theater. Das Buch über das neue Theater], wiedererschienen Moskva 2008, S. 202-214. 7 In dem vorliegenden Aufsatz werden die in der Slavistik gebräuchlichen Schreibweisen für russische Eigennamen verwendet. Die bereits ins Deutsche übersetzten Schriften behalten aber die in den Quellen benutzte Schreibweise bei. 8 W.J.T.Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 72. <?page no="155"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 155 die Kunst der russischen wandernden Spielleute - Skomorochen - bis etwa Mitte des 17. Jahrhunderts durch die orthodoxe Kirche verfolgt wurde, konnte sie nicht als Impulsgeber für die russische Schauspielkunst dienen. Daraus erklärt sich das Fehlen des eigenen Systems der theatralischen Repräsentation in Russland bis Ende des 17. Jahrhunderts, das aus Europa exportiert werden musste. So wurde die Truppe der ersten russischen höfischen Bühne Komedijnaja Choromina, die Zar Aleksej Michajlovič 1672 errichten ließ, aus Bewohnern der deutschen Siedlung in Moskau rekrutiert. Auf dem unter Peter dem Großen am Roten Platz 1702 erbauten kurzlebigen öffentlichen Theater spielten wandernde Komödianten aus den deutschsprachigen Ländern. Obwohl Peter der Große sich der Wirkungskraft des Theaters bewusst wurde und sie für die Durchsetzung seiner auf die Europäisierung des Landes gerichteten Reformen nutzen wollte, war es ihm nicht gelungen, das Kunsttheater zu einer gut bekömmlichen Kost für das einfache Volk zu machen. Die Kommunikation zwischen der Bühne und dem Publikum war gestört, denn es verstand Inhalte der schlecht ins Russische übertragenen, 9 oder sogar in deutscher Sprache gespielten Stücke nicht, ganz zu schweigen davon, dass es sich mit den dramatischen Personen identifizieren konnte. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts bestand das Theaterleben der beiden Metropolen des russischen Zarenreiches - Moskau und Petersburg - ausschließlich aus den Gastspielen am Hof der deutschen, französischen und italienischen Truppen. Solange die Oberschicht der russischen Gesellschaft sich die äußeren Zeichen des europäischen Lebens noch nicht angeeignet hatte, bestand das Hauptanliegen des Theaters in der Präsentation und Popularisierung der europäischen Gepflogenheiten, Kleidung und Verhaltensmuster. Das legt den Schluss nahe, dass das Theater, um die Zuschauer zu erreichen und sie zu der europäischen Lebensweise zu bekehren, über ein sehr hohes visuelles Potential verfügen musste. Die Dominanz des Bildes über das Wort wurde denn auch zum Markenzeichen des 1756 von der Zarin Elizaveta Petrovna aufgerufenen ersten russischen professionellen Tragödien- und Komödientheaters, das zwar für das breite Publikum gedacht war, aber trotzdem zunächst an die kulturtragende Schicht - den Adel - appellierte und dementsprechend von dessen Geschmack und dessen Sehnsucht nach dem Zur-Schau-Stellen des „eigenen Europäertums” bestimmt war. Der Zeichencharakter der übertrieben affektierten klassizistischen Spielweise, die auf den russischen Bühnen bis in die 1840er Jahre hinaus 9 Vgl. dazu E. Kovalevskaja, „Intimnye dialogi v perevodnych svetskich dramach Petrovskogo vremeni”[Vertrauliche Dialogen in den übersetzten weltlichen Dramen der petrinischen Zeit], in: Novye čerty v russkoj literature i iskusstve (XVII - načalo XVIII v.), [Neue Tendenzen in der russischen Literatur und Kunst (XVII. - Anfang des XVIII. Jhs.)], Moskva 1976, S. 119-132. <?page no="156"?> Swetlana Lukanitschewa 156 gepflegt wurde, 10 machte die Aufführungen des russischen Theaters im 18. Jahrhundert ebenfalls zu einer Kost für die Augen. 11 Erst nach einer Reihe von wichtigen politischen Ereignissen wie etwa der Krieg gegen Napoleon 1812 und die Niederschlagung des Dekabristenaufstandes 1825, die zu dem Ausklingen der Blütezeit der an westlichen Vorbildern orientierten Adelskultur geführt hatte, setzt sich der Funktionswandel des Theaters in Gang, der den Schauwert des Bühnengeschehens ersichtlich mindert. Die Zuschauerräume der Kaiserlichen Theater von Petersburg und Moskau füllen die sogenannten Rasnotschinzen - 12 die gebildeten Abkömmlinge sozial niedrigerer Schichten wie etwa des Kleinbürgertums, Beamtentums, Kaufmannstandes und der Geistlichkeit -, die vom Theater erwarten, dass es der Frage nach der Identität der russischen Kultur nachgeht und dass es sich auch der Problematik des Alltags der russischen bürgerlichen Schicht zuwendet. Obwohl das russische Theater die Rolle der bürgerlichen Sittenschule, die der Bühne in Europa bzw. in Deutschland bereits in den 1780er Jahren beigemessen wurde, 13 in jenem Ausmaß, das mit dem europäischen vergleichbar wäre, nicht erfüllen wird, beginnt es mit dem Aufkommen der ersten Werke der russischen realistischen Dramatik, wie etwa Stücken von Nikolai Gogol (1809 -1852) und Aleksandr Ostrovskij (1823 - 1886), die sich in den 1840er und 1850er Jahren den Weg auf die Bühne bahnt, 14 sowie mit der Entstehung der russischen realistischen Schauspielkunst, deren Begründer, der Charakterdarsteller des Moskauer Malyj Theaters Michail Ščepkin (1788 -1863) mit seinem Verzicht auf jegliche The- 10 Anzumerken ist, dass das russische Theater das ganze 18. Jahrhundert hindurch die auf der zeitgenössischen europäischen Bühne gängigen Zeichen nachgeahmt hat, ohne sich dabei dem philosophisch-politischen Diskurs, aus dem sie entstanden sind, anzuschließen. 11 Bedeutend ist hierbei die Tatsache, dass die Bühne und Kostüme des höfischen Theaters im 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ausschließlich von Italienern gestaltet wurden. Vgl. Vsevolod Vsevolodskij-Gerngross, Istorija russkogo teatra [Geschichte des russischen Theaters], in 2 Bdn., Leningrad 1929, Bd. 2, S. 83-84. 12 Zwar gab es in den beiden russischen Hauptstädten und in der Provinz bereits Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche private Bühnen und Leibeigenentheater, doch blieben die Kaiserlichen Bühnen von Petersburg und Moskau für das russische Theaterleben tonangebend. Auch die Theaterkritik der Zeit geht ausschließlich auf die Inszenierungen dieser Theater ein. 13 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen u. Basel 1993, S. 83-98. 14 Noch in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts bilden den Löwenanteil des Repertoires der russischen Bühne die von den adeligen Dramatikern angefertigten Übersetzungen oder Bearbeitungen der europäischen bürgerlichen Trauerspiele, der rührenden Lustspiele, Melodramen und Vaudeville. Zu den meistgespielten Autoren im russischen Theater der letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts und der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts zählten u. a. Kotzebue sowie die französischen Komödienschreiber Destouches und La Chaussés. <?page no="157"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 157 atralik in der Gestik, Bewegungen und Sprechweise neue Maßstäbe auf der Bühne setzt, zum Medium des breiten Publikums zu avancieren. Als Indikator der Literarisierung der russischen Bühne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dient die Theaterpublizistik aus dem Zeitraum zwischen 1840 und 1880. Die führenden zeitgenössischen Kritiker wie etwa Literaturkritiker Vissarion Belinskij 15 und Apollon Grigor’ev, 16 der Dichter Nikolaj Nekrasov, 17 der Dramatiker Aleksandr Ostrovskij, 18 scheinen in ihren Artikeln einem Schema zu folgen: Sie erzählen ziemlich ausführlich die Fabel der aufgeführten Texte nach, charakterisieren die zentralen handelnden Personen und bewerten, falls es sich um ein übersetztes Theaterstück handelt, die Qualität der Übersetzung. Bei den relativ seltenen Auseinandersetzungen mit den schauspielerischen Leistungen wird fast ausschließlich auf die sprachliche und stimmliche Gestaltung der Rolle eingegangen. Ein wesentliches Defizit des russischen Sprechtheaters, das bis zu einem gewissen Grade das mangelnde Interesse der Kritik für die visuellen Aspekte der Inszenierungen erklärt, kommt aussagekräftig in einem Artikel von Ostrovskij zutage. „Bei der Aufnahme eines neuen Stückes in den Spielplan”, heißt es hier, „wurden gewöhnlich fünf bis sechs Dekorationen angeboten, welche das Publikum jeden Tag im Laufe von mehreren Spielzeiten zu sehen bekam, an die es sich so gewöhnt hat und die so abgenutzt sind, dass sie alle nur langweilen können.” 19 Diese Bemerkung lenkt das Augenmerk auf eines der akutesten Problemen des russischen dramatischen Theaters im 19. Jahrhundert: Für das Sprechtheater 20 wurden eigens keine Bühnenbilder und Ausstattungen angefertigt. Die Bühnenbildauswahl bestand aus den „nach ein und derselben Schablone” 21 gestalteten Pavillons, und das Publikum musste sich auch mit der „ein für alle Male festgelegte[n] Anordnung von Möbeln” 22 begnügen. 23 15 Vgl. Vissarion Belinskij, O drame i teatre, v 2-ch tomach [Über das Drama und Theater, in 2 Bdn.], Moskva 1983. 16 Vgl. Apollon Grigor’ev, Teatral’naja kritika [Theaterkritik], Moskva 1985. 17 Vgl. Nikolai Nekrasov, „Teatral’naja kritika” [Theaterkritik], in: Ders., Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. 4, Moskva 1966, S. 377 - 463. 18 Vgl. Aleksandr Ostrovskij, O literature i teatre [Über Literatur und Theater], Moskva 1986. Bemerkenswert ist die Bemerkung Ostrovskijs, dass „der Erfolg einer Aufführung im Großen und Ganzen von dem inszenierten Theaterstück abhängig ist”. Vgl. Ostrovskij, O literature i teatre, a. a. O., S. 54. 19 Ostrovskij, O literature i teatre, a. a. O., S. 114. Alle Übersetzungen von russischen Originalzitaten stammen von der Verfasserin. 20 Das Wirkungsfeld der Bühnenbildner, die bis Ende des 19. Jahrhunderts ausschließlich europäischer Herkunft waren, war das sich an der hohen Gesellschaft orientierende Musiktheater. 21 Vgl. Konstantin Stanislawski, Mein Leben in der Kunst, Berlin 1988, S. 235. 22 Ebd. 23 Auch die in den 1840er Jahren aufgekommene russische realistische Dramatik und die Schauspielkunst brachten ins Dekorationswesen keine ersichtlichen Veränderungen. <?page no="158"?> Swetlana Lukanitschewa 158 Den Anfang einer neuen Entwicklung im russischen Dekorationswesen markieren die Gastspiele der Meininger Truppe 1885 und 1890. Bezeichnend für die Reaktion des Moskauer Publikums, das an die schablonenhafte Ausstattung und Gestaltung der Bühne gewohnt war, ist die folgende Äußerung Ostrovskijs, mit der dieser einen der Auftritte der Meininger in Moskau im März 1885 quittiert hatte. „Das sind keine Dramen von Shakespeare oder Schiller”, fasst Ostrovskij seinen Eindruck von den Inszenierungen des Meininger Theaters zusammen, „sondern eine Reihe lebendiger Bilder. Aber trotzdem macht die Aufführung einen angenehmen und sogar starken Eindruck.” 24 „Bei der Erscheinung des Schattens von Cäsar in Brutus’ Zelt”, so Ostrovskij über Julius Cäsar, „bekam das Publikum Gänsehaut. Alle diese Effekte sind für uns freilich ungewöhnlich.” 25 Und auch Stanislavskij, der das Gastspiel der Meininger 1890 in Moskau verfolgt hatte, ohne eine einzige Vorstellung auszulassen, 26 war von der „historisch getreue[n] Ausstattung” und den „prachtvolle[n] Dekorationen” dieses „richtigen Festes der Kunst” so beeindruckt, 27 dass er in seiner Arbeit mit den Bühnen- und Kostümbildnern in den darauffolgenden anderthalb Jahrzehnten den Meiningern verhaftet blieb. Russische Bühne im Zeichen des Pictorial Turns Dass die realistisch-historistische Bühnenästhetik des Meininger Theaters, die sowohl der Phantasie der Schauspieler als auch der Zuschauer feste Grenzen setzte, überholt ist, wird sich Stanislavskij spätestens im Herbst 1904, nach seinem missglückten Versuch mit den Mitteln der illusionistischen Bühne Maeterlincks Drama Die Blinden auf der Bühne zu realisieren, 28 bewusst. Nachdem Stanislavskij feststellen musste, dass seine Schauspieler, die die Stücke von Čechov und Gor’kij im Griff zu haben schienen, nicht imstande waren, das Wesen des symbolistischen Dramas zum Tragen zu 24 Aleksandr Ostrovskij, O literature i teatre, a. a. O., S. 165. 25 Ebd., S. 167. Interessant ist auch Ostrovskijs Hinweis auf den starken Eindruck, den auf das Publikum und ihn persönlich die ‘echten’ Requisiten und diversen szenischen Effekte wie etwa „Der Sturm mit dem Blitz, mit den ziehenden Wolken und mit dem schrägen Regen” gemacht haben sowie seine ironische Bemerkung, dass die Direktion der Kaiserlichen Theater sofort bereit war, die Meininger nachzuahmen und besorgte für die Kaiserlichen Bühnen die Lampen, die bei den Meiningern alle diese Wunder erzeugten. Vgl. ebd., S. 169. Zu den ersichtlichen Fortschritten in die Richtung der Visualisierung der russischen Bühne nach dem ersten Gastspiel der Meininger vgl. A. Veselovskij, „Predstavlenie Mejningenskoj truppy” [Vorstellungen der Meininger Truppe], in: Artist, 1890, 7, S. 137 f. 26 Stanislawski, Mein Leben in der Kunst, a. a. O., S. 161. 27 Ebd. 28 Vgl. dazu Arkadij Gornfel’d, „Duse, Wagner, Stanislavskij”, in: Teatr. Kniga o novom teatre [Theater. Das Buch über das neue Theater], Petersburg 1908 , S. 56 - 78, hier S. 65. <?page no="159"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 159 bringen, erklärte er sich bereit, „nach neuen Ansätzen für die Schauspielkunst” in der Malerei und Bildhauerei zu suchen. 29 Der Höhepunkt seiner Bemühungen um die Überwindung der Krise, in die das Moskauer Künstlertheater Mitte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts geraten war, war die Beauftragung eines der radikalsten europäischen Theatererneuerer, Gordon Craig, 1908 für die Inszenierung von Hamlet. „Craig ist so talentiert und unberechenbar in seiner Phantasie”, schwärmte Stanislavskij in einem Brief an den Komponisten Il’ja Sac nach einer der ersten Vorbesprechungen mit dem englischen Regisseur im April 1909, „dass ich das Gefühl habe, er wird in mir bald etwas ändern, was mir ganz neue Horizonte öffnen wird. Craig interpretiert Hamlet als Monodrama. Er betrachtet alles mit Hamlets Augen.” 30 Bereits Craigs Deutung des Stückes als Monodrama, auf die Stanislavskij hinweist, macht ersichtlich, dass seine Auffassung des Theaters nur sehr gering durch den Repräsentationsanspruch des Textes geprägt war. Und auch der Schauspieler, den er 1907 in seinem programmatischen Aufsatz Der Schauspieler und die Übermarionette zum untauglichen Material für das Theater erklärte, 31 nimmt in seinen Gedanken und Projekten nur einen zweitrangigen Platz ein. Die große Zahl von Craigs Skizzen zu einzelnen Szenen der Inszenierung, 32 die in der Vorbereitungsphase entstanden sind, beweist, dass sein Interesse den nichtlebenden szenischen Elementen - drehbaren und verschiebbaren screens, Säulen, Stufen, bewegbaren Kuben, Kostümen und dem Licht -, die er in gewisser Weise an die Stelle des Wortes und auch des Schauspielers treten ließ, galt. Stanislavskij ging es indessen im Großen und Ganzen um die Verkörperung des „geistigen Lebens der Rolle” 33 auf der Bühne und um die geplante Grammatik der Schauspielkunst, für die er aus Craigs Raumexperimenten neue Impulse zu beziehen glaubte. Die unterschiedliche Herangehensweise beider Regisseure an den Text lieferte bei der Vorbereitung der Produktion viel Zündstoff für ihre Polemik. Stanislavskij befasste sich in der letzten Hälfte der 1910er Jahre intensiv mit den aktuellen Studien des Unterbewussten, u. a. mit den Schriften von 29 Ebd., S. 339. 30 Konstantin Stanislavskij, Sobranie sočinenij v vos’mi tomach [Gesammelte Werke in 8 Bdn.], Moskva 1954, Bd. 7, S. 431. 31 Edward Gordon Craig, „Der Schauspieler und die Übermarionette”, in: Ders., Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 51-74, hier S. 52. 32 Einen beeindruckenden Einblick in die Vorbereitungsarbeiten zu der Inszenierung gewähren die entsprechenden Materialien sowohl aus dem Nachlass von Stanislavskij im Museum des Moskauer Künstlertheaters Moskau als auch aus dem Nachlass von Craig der Bibliothèque Nationale de France Paris. 33 Vgl. Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst , Teil II, Berlin 1963, S 62. <?page no="160"?> Swetlana Lukanitschewa 160 Théodule Ribot, und interessierte sich für das HatchaYoga. 34 Um durch die neueren Erkenntnisse die Entwicklung der „inneren Technik” des Schauspielers voranzutreiben, setzte er bei der Analyse der Rollenpartituren dezidiert Akzente auf die Psychologie einzelner Charaktere. Sein besonderes Interesse galt dabei den von den Schauspielern ausgehenden ‘Strahlen’, 35 in denen diese ihren Willen und ihre Gefühle auf ihre Partner und ins Publikum richten. Da das Aussenden dieser Strahlen hohe Konzentration erfordert, ließ Stanislavskij Schauspieler während der Proben einzelner Szenen oft ihre Texte im Sitzen sprechen. Craig, der sich in den späten 1910er Jahren mit Studien der Rituale und Pantomimen beschäftigte, konnte die ins Auge stechende Statik der von Stanislavskij konzipierten Szenen nicht akzeptieren und suchte durch die von ihm choreographierten Bewegungsabläufe der Schauspieler in die Handlung Dynamik zu bringen. Auch Stanislavskijs Versuche, die Individualität der handelnden Personen zu akzentuieren, wurden von Craig, der die Tragödie von Hamlet in dessen Isolation und Inkompatibilität mit dem Hof, „a world of pretence”, 36 sah, kategorisch abgelehnt. „[I]n this golden court”, betonte Craig während einer der Vorbesprechungen, this world of show there must not be various different individualities as there would be in a realistic play. No, here everything melts into a single mass. Separate faces, as in the old masters of painting must be colored with one brush, with one paint. […] If you do this as you do Chehoff there may be too many details which cannot be used. 37 So bestand Craig darauf, alle Gestalten mit Ausnahme von Hamlet auf der Bühne optisch zu einer homogenen Masse verschmelzen zu lassen. Die mentalen Bilder, die sich Hamlets innerem Auge offenbaren, sollten dem Publikum ebenfalls mit den non-verbalen Mitteln gezeigt werden. So z. B. schwebte es Craig vor, durch die grotesken Verzerrungen der Körper der Darsteller wie etwa die langen Nasen bei den Hofdamen und die unter ihren Prunkroben angedeuteten Bäuche oder die grau-silbern und rot getönten langen Finger bei den Höflingen 38 den Zuschauern dinglich sichtbar zu ma- 34 In Stanislavskijs Notizen finden sich Hinweise auf seine Auseinandersetzungen mit Yoga. So bemerkt er z. B. an einer Stelle, dass Yogi „sich an das Unbewusste durch die bewussten Vorbereitungsmethoden annähern”. Vgl. Konstantin Stanislavskij Sobranie sočinenij v vos’mi tomach [Gesammelte Werke in 8 Bdn.], Moskva 1954, Bd. 1, S. 345. 35 Vgl. dazu Konstantin Stanislawski, „Materialien zum Buch: Die Arbeit an der Rolle”, in: Ders.: Ausgewählte Schriften, I, 1885 bis 1924, Berlin 1988, S. 316-416, S. 341. 36 Die Protokolle der Besprechungen zu der Inszenierung wurden zweisprachig - auf Russisch von Leopol’d Suleržickij und Michail Lykiardopoulos sowie auf Englisch von Ursula Cox - geführt. Die hier zitierte Passage entstammt der englischen Fassung aus der Sammlung E. G. Craigs der Bibliothèque Nationale de France, Paris. Vgl. Collection Gordon Craig, 017 InvThe 51(1), R 84711, S. 5. 37 Ebd., S. 5 f. 38 Nikolai Čuškin, Gamlet - Kačalov, Moskva 1966, S. 38. <?page no="161"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 161 chen, dass Hamlet sich der seelischen Abnormität seiner Umgebung bewusst ist. 39 Hatte Stanislavskij diesen Vorschlag Craigs in letzter Konsequenz abgelehnt, so ließ er Craigs Raumgestaltung- und Kostümentwürfe mit der maximalen Genauigkeit umsetzen. Dass es den beiden Regisseuren trotz mehrerer Kompromisse schließlich nicht gelungen ist, ihre Konzepte in Einklang zu bringen und ihre Diskrepanzen zu überwinden, bezeugte nicht nur die enttäuschte Reaktion der beiden nach der Uraufführung, 40 die nach fast drei Jahren Vorbereitungen und Proben am 23. Dezember 1911 stattfand, sondern auch die häufigen Hinweise der Rezensenten auf die widersprüchliche Synthese von dem psychologisierenden Spiel, dem Stanislavskijs Auffassung des Stückes als Tragödie des Denkens zugrunde lag, und der von Craig geschaffenen tragischen Geometrie des Raumes, in der dieser seinen Traum von der Kunst der Bewegung zu verwirklichen trachtete, und der, wie einer der Rezensenten vermerkte, keinen bloßen Hintergrund der Handlung darstellte, sondern zu einem, nicht weniger als die Schauspieler, realen lebendigen Element der Aufführung wurde. 41 Monodramatische ’Lehre’ vom Sehen Craigs Affinität in der Definition des Begriffes Monodrama zu dem bekannten Petersburger Dramatiker, Regisseur und Theatertheoretiker Nikolai Evreinov, lässt die Idee des Monodramas als eine symptomatische Erscheinung der Zeit begreifen. Da Craig seine Idee des Monodramas einige Monate nach Evreinov, der seine theoretischen Überlegungen Die Einführung ins Monodrama am 16. Dezember 1908 im Literarisch-Künstlerischen Zirkel in Moskau vor ausgewähltem Publikum vortrug, im Gespräch mit Stanislavskij artikulierte, kann Craigs Versuch Hamlet als Monodrama zu interpretieren als exemplarischer Beleg für Evreinovs Theorie angesehen werden. Interessant ist auch, dass Craigs Überlegungen zum Monodrama und die von Evreinov unterschiedlich motiviert waren. Wie man anhand von zahlreichen Zeichnungen und Notizen Craigs zu seiner Moskauer Inszenierung sowie aus den Protokollen seiner Diskussionen mit Stanislavskij schließen kann, 39 Detaillierte Beschreibungen der Inszenierung finden sich u. a. in: Denis Bablet, Edward Gordon Craig, Köln-Berlin 1965, Kap. „Hamlet in Moskau”, S. S. 157-187; Laurence Senelick, Gordon Craig’S Moscow Haymlet: A Reconstruction, Westport, CT 1982; Nikolai Čuškin, Gamlet - Kačalov, a. a. O. Vgl. dazu auch Stanislawski, Mein Leben in der Kunst, a. a. O., Kap. „Die Duncan und Craig”, S. 403-418. 40 Vgl. dazu u. a. Stanislawski, Mein Leben in der Kunst, a. a. O., S. 417 f; vgl. auch Irina Vinogradskaja, Žizn’ i tvorčestvo Stanislavskogo. Letopis’. [Leben und Werk von Stanislavskij. Eine Chronik], in 2. Bdn., Moskva 1971, Bd. 2, S. 317. 41 Vgl. Sergej Volkonskij, Chudožestvennyje otkliki [Künstlerische Reflexionen], St. Petersburg 1912, S. 122 f. <?page no="162"?> Swetlana Lukanitschewa 162 rankten seine Gedanken um die Ausdruckskraft der Bilder, die er zum Träger des dramatischen Geschehens machte. Evreinov ging es jedoch um die Überwindung der Rampe. „Ich kann nur dann irgendein Ereignis, das vor meinen Augen auf der Bühne, die die Welt bedeutet, stattfindet”, kündigt Evreinov in seiner Schrift an, als Drama im höchsten Sinne dieses Wortes begreifen, wenn ich selber an dem Geschehen auf der Bühne quasi teilnehmen kann, d. h. mich in eine illusorisch handelnde Person […] verwandele. 42 „Das Ideal einer dramatischen Vorstellung” bestehe laut Evreinov, in der Gleichheit der Erlebnisse sowohl diesseits als auch jenseits der Rampe. Dabei kann der Impuls für die Erlebnisse, der eigentlich keine große Bedeutung hat, sowohl von dem Schauspieler als auch von dem Zuschauer ausgehen. 43 In dieser Aussage findet sich bereits Evreinovs Streben nach der Entgrenzung des Theaterbegriffes, die er im Laufe von weiteren fünfundvierzig Jahren in seinen theaterästhetischen Schriften sowie in den Stücken und Inszenierungen konsequent propagieren wird, artikuliert. Zugleich ist in dem Hinweis auf die zwischen dem Publikum und der Bühne zirkulierenden Impulse sein polemischer Gestus gegen Stanislavskij, zu dessen Opponenten er gehörte, deutlich abzulesen. Die strenge Trennlinie, die Stanislavskij zwischen den Schauspielern und den Zuschauern zieht, erscheint bei Evreinov aufgehoben. In seiner Argumentation beruft sich Evreinov auf die 1892 erschienene Schrift des Philosophen Karl Groos, Einleitung in die Ästhetik. Dabei richtet sich sein Augenmerk auf die von Groos in Anknüpfung an die darwinistische Lehre formulierte These, in der dieser die innere Nachahmung zum „Kern alles ästhetischen Genießens” erklärt. 44 „Wenn mein Auge”, schreibt Groos, die Umrisse einer Gestalt, die Übergänge von Licht und Schatten oder die Erscheinungen bewegter Körper mit ästhetischer Freude in sich aufnimmt, wenn mein Ohr dem Zauber der Tonbewegungen folgt, oder den Gehalt der poetischen Sprache vermittelt, so findet dabei jedesmal ein innerliches Nachconstruieren des äußerlich Gegebenen statt, und durch dieses innere Nachahmen wird die Ablösung und Einbildung des ästhetischen Scheines vollzogen. 45 Ein weiterer wichtiger Impulsgeber Evreinovs ist Théodule Ribot. Mit Verweis auf Ribots Postulat - „nimmt man für eine gewisse Zeit eine traurige Pose ein, wird man von der Traurigkeit ergriffen; wenn man sich einer lusti- 42 Nikolai Evreinov, „Vvedenije v monodramu” [Einführung ins Monodrama], in: Ders., Demon teatral’nosti, Moskau, St. Petersburg 2002, S. 99 - 112, hier S. 99. 43 Ebd. 44 Karl Groos, Einleitung in die Aesthetik, Giessen 1892, S. 84. 45 Ebd. <?page no="163"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 163 gen Gesellschaft anschließt und ihr Gebaren nachahmt, kann man von der flüchtigen Heiterkeit erfasst werden” 46 -, das sich in Ribots Psychologie der Gefühle findet, formuliert Evreinov seine These, dass der Zuschauer, wenn man ihn dasselbe wie die handelnde Person sehen und hören lässt, auch dazu gezwungen wird, sich in die Lage der handelnden Person zu versetzen, ihr Leben zu leben, d. h. zu fühlen wie sie und illusorisch zu denken wie sie. Der Eckpfeiler des Monodramas - das Erlebnis des auf der Bühne Agierenden - hervorruft das identische Miterleben des Zuschauers, welcher durch diesen Akt des Miterlebens selber zum Agierenden wird. 47 Als ein Beispiel für seine Theorie des Monodramas führt Evreinov Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein” an. Der Regisseur, betont Evreinov, solle den Fokus der Aufmerksamkeit des Publikums von Hamlets Umgebung auf Hamlet lenken. 48 Man staunt über die Übereinstimmung zwischen Evreinovs Gedanken und den Vorhaben von Craig, die dieser im April 1909 am Moskauer Künstlertheater zu verwirklichen begonnen hat, insbesondere wenn man die Tatsache in Betracht zieht, dass Evreinov zum Zeitpunkt der Entwicklung seiner Theorie des Monodramas von den Plänen Craigs nicht wissen konnte. Bedeutend ist Evreinovs Bemerkung, dass man sich nur mit einer der handelnden Personen identifizieren und die Handlung nur aus deren Perspektive sehen kann, denn das menschliche Wahrnehmungsvermögen sei begrenzt, und sobald ein Objekt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines Menschen rücke, würden die anderen vernachlässigt. „Nur eine ganz bestimmte Seite der Realität”, betont Evreinov, „kann unser Bewusstsein in Bann ziehen.” 49 „Die Basis der ästhetischen Betrachtung”, heißt es weiter, besteht in einer Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt, wobei der Wechsel der Objekte, auf die unsere Konzentration gelenkt wird, eine Ermüdung der geistigen Tätigkeit und anschließend die Schwächung der Intensität der Wahrnehmung hervorruft. 50 Darauf bezieht Evreinov seine These, dass ein „dramatischer Schauspieler Erfolg entweder als Rezitator oder als Pantomime haben kann, denn […] die gleichzeitige akustische und visuelle szenische Verkörperung einer Gestalt trägt in sich die Abschwächung der Wirkung der einen oder der anderen.” 51 Hier stößt man auf ein interessantes Paradoxon: Evreinov, der zum Zeitpunkt der Entstehung seines monodramatischen Konzeptes bereits ein er- 46 Evreinov, Vvedenije v monodramu, a. a. O., S. 109. 47 Ebd., S. 105. 48 Ebd., S. 106. 49 Ebd., S. 101. 50 Ebd. 51 Ebd. <?page no="164"?> Swetlana Lukanitschewa 164 folgreicher Dramatiker war, bevorzugt die Visualität der Bühne dem Text gegenüber und erklärt das Theater unter Berufung auf Charles Aubert, den Autor des in den russischen Künstlerkreisen der Zeit populären Buches L’Art mimique suivi d’un traité de la pantomime et du balett (1901), zu einem visuellen Medium. „Derjenige, der sich im Theaterparkett fleißig kontrolliert”, so Evreinov, „wird zugeben, dass wir mehr mit den Augen hören als mit den Ohren. Und das liegt meiner Meinung nach in der Natur des Theaters.” 52 Ebenfalls bemerkenswert ist im Zusammenhang mit Evreinovs Theorie des Monodramas sein Verweis auf Craig, der wütend sei „über Mangel an Intelligenz bei den zeitgenössischen Autoren. Ich klatsche ihm von ganzem Herzen zu”, betont Evreinov, „wenn er ankündigt: ‘Wir können auf sie verzichten, wenn sie nicht imstande sind, uns das Wichtigste - die Schönheit auf der Bühne - zu geben’.” 53 Mit diesen Überlegungen sucht Evreinov seine eventuellen Opponenten zu überzeugen, dass die alte Architektonik des Dramas bereits obsolet geworden ist, und wirbt für die von ihm entwickelte neue Struktur, die er als monodramatisch bezeichnet, wobei er dem gängigen Begriff „Monodrama” eine neue Bedeutung verleiht. „Unter Monodrama verstehe ich eine solche Art des dramatischen Werkes”, lautet Evreinovs Definition, das darauf zielt, dem Zuschauer in vollem Umfang die mentale Verfassung einer handelnden Person zu vermitteln. Dabei reflektiert es auf der Bühne die Umgebung dieser handelnden Person so, wie diese von ihr selbst in jedem Augenblick der szenischen Handlung wahrgenommen wird. So geht es hier um eine Architektonik des Dramas, die auf dem Prinzip der szenischen Identität mit der Perspektive der handelnden Person beruht. 54 „Letztendlich entsprechend der Architektonik des Monodramas”, führt Evreinov weiter aus, muss auch das Subjekt der Handlung vor unseren Augen so erscheinen, wie es sich selbst in diesem oder jenem Moment der szenischen Handlung sieht. Denn wir betrachten unser Äußeres als etwas ‘eigenes’ und zugleich ‘fremdes’. So kann auch unser Verhältnis zu uns selbst unterschiedlich sein. Und diese Veränderungen im Verhältnis zur eigenen Persönlichkeit müssen im Monodrama selbstverständlich neben den weiteren subjektiven Vorstellungen der zentralen handelnden Person deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Die Maske, die Mimik, die Beleuchtung - das sind die passenden Ausdrucksmittel dafür. […] das Ziel des Monodramas ist den Zuschauer quasi auf die Bühne zu versetzen, es zu erreichen, dass er sich in der Tat als Handelnder fühlt. Und deshalb würde ich fest auf dem Bezeichnen des Handelnden mit dem Personalpronomen, dem einfachen, aber ausdrucksvollen ‘Ich’ bestehen […]. 55 52 Ebd., S. 103. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 102. 55 Ebd., S. 110. <?page no="165"?> Vom Sagbaren zum Sichtbaren 165 Bereits aus dem Programmheft soll dem Zuschauer bewusst werden, mit wem ihn der Autor mitfühlen lässt, in welcher Gestalt soll er - der Zuschauer - auftreten. Das Bezeichnen des Subjektes der Handlung als ‘Ich’ ist eine Art von Brücke von der Bühne in den Zuschauerraum. […] Z. B., die zentrale handelnde Person, die im Programmheft als ‘Ich’ bezeichnet wird, schließt die Augen. In Folge dessen wird es dunkel. Diese Folgerung wird auch der Zuschauer zu spüren bekommen, weil der Installateur in diesem Augenblick das Rampenlicht, die Soffitten etc. ausschaltet […]. Der Zuschauer, der einigermaßen Phantasie besitzt, wird erkennen, dass die Dunkelheit nicht durch das Ausschalten der Beleuchtung auf der Bühne verursacht wurde, sondern dadurch, dass seine eigenen Augen geschlossen sind. 56 Resümierend kann man schließen, dass Evreinovs Theorie des „vollkommenen Dramas” 57 - des Monodramas - und seine Versuche diese Idee sowohl in einer Reihe von Theaterstücken wie etwa Predstavlenije ljubvi [Die Vorstellung der Liebe] (1909) und Kulisy duši [Kulissen der Seele] (1912), um die bekanntesten und die meist inszenierten zu nennen, 58 als auch in seinen Inszenierungen auf der Petersburger Kleinkunstbühne Krivoe zerkalo [Der Zerrspiegel] umzusetzen, deutlich den Phasenübergang des russischen Theaters von dem literarischen zu dem visuellen Theater der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts markieren, das zu einem wichtigen Impulsgeber der europäischen Bühne wird. 56 Ebd., S. 111. 57 Ebd., S. 106. 58 Evreinovs Theorie des Monodramas und seine Theaterstücke lösten in den russischen intellektuellen Kreisen und in der Presse in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein lebhaftes Echo aus. 1915 feierte das Monodrama Kulissen der Seele in der Regie von Edith Craig, Schwester von Gordon Craig, ihre europäische Erstaufführung auf einer Londoner Bühne. Die deutsche Uraufführung von Die Vorstellung der Liebe fand am 18. November 1926 am Breslauer Lobe-Theater statt. Die Idee des Monodramas beschäftigte lange Jahre auch die Gedanken von Sergej Ejzenštejn. 1923 setzte Ejzenštejn diese Idee auf der Bühne partiell um, indem er für seine Inszenierung der Komödie von Ostrovskij Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste einen Kurzfilm, Glumovs Tagebuch, der Träume der zentralen handelnden Person dem Publikum vor Augen führte, gedreht hat, und dann während der entsprechenden Szene auf die Rückwand der Bühne projizieren ließ. Auch in seinem Film Ivan Groznyj [Ivan der Schreckliche] 1943 - 1945 griff Ejzenštejn die Idee der monodramatischen Handlung im Sinne Evreinovs auf. Der Zuschauer bekommt hier u. a. die seelische Verfassung des Zaren auf dessen Umgebung projiziert zu sehen. Vgl. dazu u. a. Sergej Ejzenštejn, Izbrannye proizvedenija v šesti tomach [Ausgewählte Werke in 6. Bdn.], Bd. 1, Moskva 1964, Vgl. S. 94 u. 308. <?page no="167"?> Christina Schmidt Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef Im Verlauf der Entwicklung theatraler Formen seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Begriff Bühnenbild problematisch geworden, insofern er auf die Nachahmung eines Abbilds beziehungsweise auf den Vorgang der Abbildung als solchen rekurriert und damit die Definition des Bühnenausschnitts als Bildfläche aufruft. Indem das Theater den Gedanken einer (flächigen) Abbildung in vielfacher Weise konterkariert hat, erscheint der Zusammenschluss der Begriffe Bühne und Bild zum Bühnenbild, in welchem die theatrale Szene selbst als Bild definiert wird, mehr und mehr als fragwürdig. Bereits 1924 beschreibt der Architekt und Szenograf Friedrich (Frederick J.) Kiesler diese Problematik unter der Überschrift „Debacle des Theaters. Die Gesetze der G.-K.-Bühne” wie folgt: Der Widersinn: Bild - Bühne ist im Allgemeinen unentdeckt geblieben. Denn Bühne ist Raum, Bild Fläche. Ein räumlicher Zusammenschluß von Bühne und Bild ergibt jenes verlogene Kompromiß: Bühnen-Bild, auf dessen Wirkung alles heutige Theaterspiel eingestellt ist. 1 Max Herrmann, der Begründer der Theaterwissenschaft an der Berliner Universität, greift die seinerzeit prominente Forderung nach einer Beschäftigung mit der räumlichen Verfasstheit der Theaterkunst auf, wenn er in seinem Artikel „Das theatralische Raumerlebnis” von 1931 schreibt: „Bühnenkunst ist Raumkunst” 2 . Herrmann distanziert sich zwar von einer „Darstellung des Raumes” im Theater als „Selbstzweck” 3 , jedoch begründet er das Theater als eigene Kunstform, im Unterschied zu Malerei und Literatur, gerade mit der Räumlichkeit der theatralen Darstellung und Wahrnehmung. In der Auseinandersetzung mit den überlieferten, geerbten Theaterräumen, die sich zumeist in Form des so genannten Guckkastens ausgebildet 1 Friedrich Kiesler , „Debacle des Theaters. Die Gesetze der G.-K.-Bühne”, in: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek 1986, S. 132-137, hier: S.135. (Zuerst erschienen in: Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik. Katalog, Programm, Almanach, hrsg. von Friedrich Kiesler, Wien 1924, S. v 1, 43-56). 2 Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis”, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 501-513, hier: S. 501 (Zuerst erschienen in: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 25 (1931), S. 152-163). 3 ebd. <?page no="168"?> Christina Schmidt 168 haben, müsse das Theater, verstanden als „Raumkunst”, den mit den Theaterräumen geerbten Widerspruch zwischen dem gemalten, flächigen Bühnenbild und der plastischen, räumlichen Schauspiel-Szene ausräumen - so Herrmanns Position. Aus diesem Grund wendet er sich explizit gegen die Verwendung der „Dekorationsmalerei” auf der Bühne, die er als „grundsätzlichen Fehler entscheidender Art” qualifiziert, denn: „Diese Einführung eines künstlerischen Fremdelementes kann mit dem Nacherleben des schauspielerischen Raumerlebnisses unmöglich zu einem Einheitserlebnis des Zuschauers zusammengehen” 4 . Die „zweidimensionale” Kunstform der Malerei und der „dreidimensionale” Theaterraum, so Herrmann, scheinen sich grundsätzlich fremd zu sein, wenngleich sie sich Jahrhunderte lang den Bühnenraum teilten. Das Theater, das aufgrund seines doppelten Erbes zwischen Text und Bild, zwischen Sprache und Visualisierung vermitteln soll, scheint diesem Befund zufolge in einen nachhaltigen Widerspruch verstrickt, der sich am Streit um Status und Definition des Bühnenbilds manifestiert. Die hier von Theaterreform, Avantgarde und Theorie als widersinnig beklagte Auffassung der Bühne als „Bildbühne”, der scheinbar unauflösliche und Jahrhunderte lang wirksame Zusammenschluss der Theaterszene mit dem Begriff des Bildes ist einer Entwicklung geschuldet, die - wie Ulrike Haß in ihrer Studie Das Drama des Sehens darlegt -, im späten 17. Jahrhundert mit Andrea Pozzos Definition der Szene als „quadro” ihren entscheidenden Niederschlag gefunden hat. 5 Der Analyse von Ulrike Haß folgend, sei hier kurz die Funktionsweise der „scena come quadro” (Pozzo) skizziert, insofern diese von nachhaltiger Bedeutung für die weiteren theaterarchitektonischen und dramaturgischen Ausformulierungen der Bühne und deren Entwicklung zum so genannten Guckkasten ist. Der italienische Maler und Architekt Pozzo (1642-1709) konstruiert seinen Theaterraum in völliger Absehung vom konkreten, geometralen Raum und vom realen, im Theater anwesenden Zuschauer unter rein systematischen, optischen Maßgaben. 6 Die Übertragung der mathematisch angewandten Perspektive auf die gesamte Theateranlage führt in Pozzos Konstruktion zum „unmöglichen Zuschauer” (Haß). Der Augenpunkt, das heißt der ideale Sichtpunkt wird hier an einem Ort auf der Rückseite des Zuschauerraums angenommen, den kein realer Zuschauer einnehmen kann. Von diesem Punkt aus wird in Pozzos „Plan” (Haß) die Sichtbarkeit im Theaterraum nach den Gesetzen der piktoralen Perspektive organisiert. Von einem Raum kann jedoch in dieser Konstruktion keine Rede mehr sein: Der Querschnitt 4 ebd., S. 510. 5 vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005. 6 vgl. Andrea Pozzo, Perspectivae Pictorum et architectorum. Rom 1642, (Bd.I), 1700 (Bd. II). Auf deutsch zuerst: Andrea Pozzo, Der Mahler und Baumeister Perspective Erster und Zweiter Theil, Augsburg 1708/ 1711. <?page no="169"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 169 durch die Mitte des „Plans” bezeichnet hier nicht die Bühnenrampe als szenischen oder konkreten Ort im Theater. Die Linie auf der Höhe der Breitseite zweier aneinander gelegter Dreiecke, deren Spitze jeweils in die Tiefe von Bühne beziehungsweise Zuschauerraum zeigt, wird als „tabula” (Pozzo) beschrieben, mithin als Einschreibefläche. Hier, auf dieser Linie zwischen virtueller Bühne und virtuellem Zuschauerraum installiert Pozzos Entwurf das „quadro” - als flächige Ansicht. Die Bühnentiefe fungiert unter der Maßgabe der virtuellen Einschreibefläche des „quadro” als Verstärker der perspektivischen Konstruktion, nicht als begehbarer, bespielbarer, szenischer Raum. Der Raum ist Bild geworden. Diese Bildwerdung der Bühne oder die Konstruktion der „Szene als Bild”, wie Pozzo sagt, prägt noch den so genannten Guckkasten. Dessen Bühnenportal wird im 19. Jahrhundert als „Vierte Wand” definiert: eine virtuelle und gleichermaßen fiktionalisierte, senkrecht aufgerichtete Fläche, auf der eine vom Zuschauer völlig absehende theatrale Szene spielen soll. Die Problematik des Guckkastens kennzeichnet sich vor allem durch seine doppelte Struktur: Zum einen stehen die seit dem Barock entwickelten und ausdifferenzierten Schauanlagen in der Tradition einer rein optischen Erschließung des Theaterraums, die in der Definition der Bühne als Bild gipfelt. Zum anderen agiert in diesen Theaterräumen der Schauspieler, der mit der Herstellung einer perspektivischen, an die Vorstellung eines gemalten Bildes gekoppelten Darstellung nichts zu tun hat. Der Schauspieler befindet sich, mit seiner körperlichen Bewegung und Plastizität, mit seiner stimmlichen Verlautbarung notwendig im Widerspruch zu einer per definitionem flächigen Ansicht der Szene als Bild, wie sie auch in Diderots Theorie der Theaterszene als „Tableau” zum Ausdruck kommt. 7 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tritt der (systematische) Widerspruch zwischen Schauspieler und „Bildbühne” verstärkt ins Bewusstsein. Die Forderungen des Naturalismus - die dramaturgische und schauspielerische Perfektionierung des „als ob” unter der Maßgabe der „Vierten Wand” - prallen auf technische Erneuerungen, die auf die Aporien der Verklammerung von Malerei und Theaterszene aufmerksam machen: Nicht zuletzt das helle Licht der neuen Beleuchtungstechnik durch Gaslampen markiert die Künstlichkeit der (immer noch) gemalten Kulissen, die somit in krassen Gegensatz zum geforderten „Realismus” der Theaterszene treten. Jedoch auch mit der Abwendung vom Naturalismus - vorangetrieben von den Autoren und Malern des Symbolismus - stellt sich immer deutlicher die Frage nach einer den Mitteln des Theaters (und nicht der Malerei) entsprechenden Umsetzung der szenischen Schauplätze. Beinahe notwendig schließt sich hieran die Frage nach einer Behandlung der Bühne an, die, um nicht im Widerspruch zwischen flächiger Dekoration/ Malerei auf der einen Seite und körperlicher Akti- 7 vgl. hierzu: Roland Barthes, „Diderot, Brecht, Eisenstein”, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 94-104. <?page no="170"?> Christina Schmidt 170 on/ Räumlichkeit des Schauspielers auf der anderen Seite steckenzubleiben, nicht mehr als Projektionsfläche eines szenischen Bildes aufgefasst werden kann - sondern als Raum. Die Problematik einer fehlenden räumlichen Definition der theatralen Szene, den Widerspruch zwischen Bildlichkeit der Bühne und notwendiger Verkörperung der Theaterszene durch den Schauspieler rückt der Schweizer Theaterreformer und Theoretiker Adolphe Appia (1862-1928) ins Zentrum seiner - zuerst in der Auseinandersetzung mit Richard Wagner - entworfenen Theorie einer Theaterreform. Bereits als 14-jähriger, vor seiner ersten Begegnung mit Wagner, setzt sich Appia mit dem Problem der Behandlung des Theaterraums in zeitgenössischen Inszenierungen auseinander. So schreibt er in seinem Essay „Expériences de théâtre et recherches personnelles” (1921) rückblickend: Einer meiner Freunde im Internat hatte den Tannhäuser in Deutschland gesehen. Er berichtete mir davon, wobei er sich sehr unklar ausdrückte. Ich forderte ihn auf, deutlicher zu werden, und fragte, ob sich die Figuren wirklich 'an einem Ort' befunden hätten und wie dieser 'Ort' ausgesehen habe. Er verstand mich nicht. Ich erinnere mich, daß ich ziemlich beharrlich blieb und ihn schließlich ziemlich ungeduldig fragte: 'Wo waren ihre Füße? ' 8 . Der erinnerte Dialog ist weit mehr als eine Anekdote. Appia fragt hier nach den szenischen Orten im Theater: Wo befinden sich die Figuren? Wie sehen diese Orte aus? Wie ist die Verbindung zwischen der Szene des Schauspielers/ Sängers und dem Bühnenboden, als szenischem Ort begriffen? Das heißt, Appias Interesse gilt nicht den Kulissen, der Kulissenmalerei. Vielmehr exponiert sein Beharren auf der Frage nach dem Ort der Figuren die zentrale Fragestellung seiner späteren Auseinandersetzung mit dem Theater: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Schauspiel-Szene und Bühnen- Raum, die Frage nach der Bühne als Raum, mit der eine grundlegende Reform der Theaterauffassung erst möglich wird. Dem Musiktheater Wagners begegnet Appia zuerst 1882, anlässlich der Uraufführung des Parsifal auf den zweiten Bayreuther Festspielen. Begeistert von Wagners kompositorischem Werk, zeigt sich Appia jedoch enttäuscht von dessen „Mise en scène” 9 , namentlich von deren Bildauffassung. Appias Kritik an der Bayreuther Aufführungspraxis gilt dem Widerspruch der Forderung einer szenischen „Illusion” (Wagner) einerseits und der konventionellen Bühnenästhetik, den gemalten Kulissen andererseits. In den folgenden Jahren besucht Appia mehrmals Bayreuth, um sich anschließend, in den 1890-er Jahren, intensiv mit Wagners Musiktheater auseinanderzusetzen. 8 Adolphe Appia, „Expériences de théâtre et recherches personnelles”. Hier zit. nach: Richard C. Beacham, Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters. Berlin 2006, S. 23. 9 ebd., hier zitiert nach Richard C. Beacham, a.a.O., S. 23. <?page no="171"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 171 Appia nimmt genaueste szenische Analysen vor, aus denen er die jeweils notwendige szenografische Umsetzung folgert. Konträr zu Wagners eigenen, detaillierten Regieanweisungen, die Appia für „unnötige Hinzufügungen” hält, 10 entwickelt er seine szenografische Auffassung des Musiktheaters, derzufolge der Raum einer Inszenierung aus der Partitur, mithin: aus der Musik hervorgehen soll. Der Darsteller/ Sänger ist für Appia Vermittler zwischen Musik und Raum, das heißt, der Sänger/ Schauspieler wird als Medium zur Verräumlichung der Musik aufgefasst. Appias Ziel ist es, den Gegensatz zwischen Schauspieler und Bühne aufzuheben, der aufgrund des doppelten Erbes des Guckkastens auf den zeitgenössischen Theatern vorherrscht. Aus diesem Grund fordert Appia auch die Abschaffung der gemalten Kulissen: Es gelte, das unverbundene Nebeneinander von „toten Bildern” einerseits und „bewegten Erscheinungen” - also der Schauspiel-Szene (! ) - andererseits zu vermeiden. 11 Gegenüber einer räumlich nicht definierten Bühnentiefe, die in zeitgenössischen Aufführungen zumeist nur als Aufstellungsort der gemalten Kulissen dient, betont Appia die Plastizität des Schauspielers/ Sängers, dessen Auftritt vor den flächigen Kulissen völlig unverbunden wirke. Nicht der Schauspieler/ Sänger sei jedoch „Störfaktor” in der Wahrnehmung der als Bild definierten Szene, sondern umgekehrt ist es gerade der Bildcharakter der Bühne, den Appia entschieden zugunsten einer räumlichen Auffassung der Bühne ablehnt. 12 Appia betont den Bühnenraum als skulpturalen Raum, der - genau wie der Schauspieler/ Sänger - über Höhe, Tiefe und Volumen verfügt. Diese Plastizität und Räumlichkeit der Inszenierung könne durch gemalte Prospekte schwerlich realisiert werden. Neben der baulichen Beschäftigung mit dem Bühnenboden - als (inhaltlichem) Berührungspunkt zwischen schauspielerischer Realität und Bühne - wird für Appia vor allem die Gestaltung des Lichts zentral. Insbesondere durch das von ihm so genannte „gestaltende Licht” (unterschiedlich helle, mobile Strahlen) lasse sich der Raum rhythmisieren. Appia entdeckt, dass durch gezielt eingesetzte Beleuchtung Objekte und Körper ausgewählt, hervorgehoben und geformt werden können. Durch Lichtwechsel lassen sich Szenenwechsel, ja ganze Auftritte gestalten. Das Licht, als rhythmisierendes Gestaltungselement einer Inszenierung, tritt somit in Appias Theorie neben die Musik. Wie diese 10 ebd., hier zitiert nach Richard C. Beacham, a.a.O., S. 37. 11 Adolphe Appia, „Comment réformer notre mise en scène”, hier zitiert nach Richard C. Beacham, a.a.O., S. 46. 12 Als solchen definiert Wagner den Dirigent vor dem (noch) nicht versenkten Orchester, das somit ebenfalls als Störung in der visuellen Wahrnehmung der theatralen Szene aufgefasst wird. (Vgl. Richard Wagner, „Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung desselben”. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Leipzig, o.J. [1911], Bd. 9, S. 322-344) Nicht zuletzt dies ist der Grund für die Einrichtung des Orchestergrabens und damit die Streichung der Orchestra, des ehemaligen Chorraums aus dem sichtbaren Bühnenraum. <?page no="172"?> Christina Schmidt 172 durch den Takt, dem der Sänger folge, den Bühnenraum sichtbar strukturiere, so müsse auch das Licht als immaterielles Gestaltungselement den dreidimensionalen Raum rythmisieren. Nur so könne der Gegensatz zwischen den „toten Bildern” der Bühnenprospekte und dem (musikalischen) Ausdruck des Bühnenwerks durch den Schauspieler/ Sänger aufgehoben werden. Im Sinne dieser Entsprechung zwischen Musik und Licht fordert Appia einen aus der Dramaturgie des jeweiligen Stücks hervorgehenden Beleuchtungsplan für das Theater. Wie die musikalische Partitur solle dieser jeder Inszenierung zugrunde gelegt werden. Als Beispiel für Appias Theorie der szenografischen Gestaltung durch Licht kann ein Entwurf von 1896 für die „Verwandlungsszene” im ersten Akt des Parsifal gelten. (Abb.1) Laut Wagners Stücktext verwandelt sich hier der Wald, in dem der ahnungslose Protagonist auf Gurnemanz trifft, unmerklich in den Gralstempel, wo Parsifal in einer Art Initiationsszene erstmalig dem Gralsritus beiwohnt. Appia zufolge soll dieser Übergang vom szenischen Ort des Walds zu dem des Tempels großenteils mittels Licht hergestellt werden. So Appia in einem späteren Text über diesen Entwurf: In der Musik steht der Wald für einen Tempel. Er muß diesen Charakter haben - um so mehr, als der Tempel des Heiligen Grals selbst am Ende des Akts an die Stelle des Waldes tritt. Entsprechend müssen die Linien und die allgemeine Anordnung der Bäume zur architektonischen Anordnung passen. 13 Die Verwandlung der Szenerie mit Hilfe der Beleuchtung setzt ein, so Appia, wenn während der musikalischen Pause die Baumstämme der ersten Szene langsam ihren Platz auf das Felsplateau wechseln. Das natürliche Tageslicht weicht dem übernatürlichen Licht des übernatürlichen Tempels, und die Steinsäulen treten allmählich und reibungslos an die Stelle der hohen Baumstämme des Waldes: Auf diese Weise treten wir von einem Tempel in den anderen. 14 Von 1892 datiert ein Bühnenentwurf Appias für den dritten Akt der Walküre - dem zweiten Teil von Wagners Ring-Tetralogie. (Abb. 2) Aufgrund der Häufigkeit, mit der der Walkürenfelsen als szenischer Ort in Erscheinung tritt, misst Appia ihm den Status einer eigenständigen theatralen Figur bei. Deren wechselhafte Bedeutung im Verlauf des Rings solle gleichsam durch die unterschiedliche Art der Beleuchtung und die räumliche Positionierung der Darsteller zu diesem szenischen Ort ausgedrückt werden. Dabei betont Appia die Massivität des Felsens, seine räumliche Tiefe, seine unterschiedlichen Spielebenen, die mittels Stufen miteinander verbunden werden sollen, vor allem jedoch hebt er den szenischen und räumlichen Zusammenhang der unterschiedlichen Ebenen und Bühnenelemente hervor. Die plastischen 13 Adolphe Appia, L’Œuvre d’art vivant, hier zitiert nach Richard C. Beacham, a.a.O., S. 54. 14 ebd., S. 54f. <?page no="173"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 173 Gegenstände auf der Bühne dürften keinesfalls, so Appia, den Charakter der Möblierung der Bühne vor einer ansonsten flachen Kulisse annehmen. Appias Entwurf steht somit ganz im Gegensatz zur Bayreuther Realisierung, die sich größtenteils aus gemalten Kulissen zusammensetzte. Dies verdeutlicht ein Blick auf das Bayreuther Bühnenbild von Joseph Hoffmann für den dritten Akt der Walküre in der Inszenierung Wagners anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele von 1876. (Abb. 3) Im Vergleich von Appias Entwurf mit der Bayreuther Umsetzung fällt nicht nur Appias dramaturgische Bestimmung des Walkürenfelsens und dessen minimalistische Konstruktion ins Auge. Vor allem wird deutlich, dass Appia wirklich einen Darstellungsraum entwirft, indem der szenische Ort der Inszenierung - hier: der Walkürenfelsen -, die Bedeutung der an diesem Ort gezeigten Handlung gerade durch das Zusammenwirken von Schauspiel-Szene und Bühnen-Raum entsteht. Zwar haben Appias Theorie - hauptsächlich dargelegt in Die Musik und die Inscenierung - und seine theatralen Raumlösungen - vor allem die in der Zusammenarbeit mit Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau (1911-1914) entstandenen Bühnen - weitreichende Auswirkungen auf die Theaterreformbewegung um 1900 und die historischen Avantgarden gehabt. 15 So ist nahezu allen Theaterreformbestrebungen des frühen 20. Jahrhunderts gemein die Abkehr von der Definition der Bühne als Bild sowie die Forderung, die Bühne als Raum zu behandeln. Auch ist mit der Aufmerksamkeit auf die Raumproblematik mehr und mehr die gesamte Theateranlage in den Blick gerückt. An der Neudefinition des theoretisch und praktisch ungelösten Zusammenhangs der beiden, im Guckkastentheater als getrennt aufgefassten Räume - Bühne und Zuschauerraum - arbeitet das Theater jedoch bis heute. Entscheidend für eine Auffassung des Theaterraums, die hinter den Begriff der Bühne als Bild zurückgeht und vielmehr die Räumlichkeit der Theaterszene hervorhebt und bearbeitet, sind die Arbeiten Einar Schleefs (1944- 2001) zu nennen. Insbesondere durch Schleefs Szenografie des Chors, der sich als räumliche Figur per se der Reduktion auf eine (perspektivisch organisiserte) Abbildlichkeit sperrt, dennoch aber große Theaterbilder erzeugt, wird die Spannung zwischen der Bildauffassung der Bühne und der in erster Linie räumlichen Definition der Theaterszene, ja der gesamten Theateranlage, in produktiver Weise bearbeitet. Zwischen dem szenografischen Denken Adolphe Appias und Einar Schleefs topografischer Analyse des Bühnenraums gibt es eine bemerkenswerte Koinzidenz: So betont Appia in seiner Kritik der zeitgenössischen Bühnenbilder vor allem die Bedeutung des Bühnenbodens als Schnittstelle zwischen gemalten (flächigen) Kulissen und dem Auftritt des (plastischen) Schauspielerkörpers auf der Theatersze- 15 Adolphe Appia, Die Musik und die Inscenierung, München 1899. <?page no="174"?> Christina Schmidt 174 ne. Damit fokussiert er genau den Widerspruch zwischen der Behandlung der visuellen Szene, also der Definition des Bühnenausschnitts als Bildfläche, und dem geometralen Raum, der auch in Einar Schleefs Bühnenentwürfen und Inszenierungen zentral ist. Maßgeblich für Schleefs Auffassung der theatralen Szene ist, ebenso wie für Appia, die inhaltliche Definition der szenischen Orte und die daraus folgende Raumlösung. Wie der modellierende Einsatz des Lichts in Schleefs Theater mit der inhaltlichen Definition der szenischen Orte verschränkt wird, soll im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden. Schleefs letzte fertiggestellte Inszenierung Verratenes Volk (2000 am Deutschen Theater, Berlin) ist ein chorischer Totentanz über die deutsche Revolution 1918/ 19. Neben John Miltons Verlorenem Paradies, Nietzsches Ecce Homo und dem vorgeblich dokumentarischen Kriegsroman Armee hinter Stacheldraht von Edwin Erich Dwinger beruht die Textfassung der Inszenierung hauptsächlich auf einer Bearbeitung von Alfred Döblins vierbändigem Erzählwerk November 1918, das die Ereignisse und die Wahrnehmung der gescheiterten Revolution 1918/ 19 aus wechselnden Perspektiven behandelt. Die Inszenierung thematisiert die Frage nach dem Verhältnis von Chor und Einzelnem, „Volk” und Revolutionsführern, und stellt mit dem Untertitel - Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk - zugleich die Frage nach einer möglichen historischen Parallele „deutscher” Revolutionen (Döblin) zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts. Indem der Chor in Verratenenes Volk mehr und mehr zur Hauptfigur auf dem Theater wird, wird der Frage nach der Notwendigkeit des Gehörtwerdens sowie nach der Figur der Zeugenschaft eine theatrale Form gegeben. Bevor sich die Szene auf die hauptsächlich chorisch inszenierten und vom Chor diskutierten eigentlichen Revolutionsereignisse öffnet, exponiert die Inszenierung zwei großformatige protagonistische Szenen: Nach einem Prolog, in dem eine Schauspielerin die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies nach John Miltons Verlorenem Paradies vorträgt, sowie einer Szene, die Nietzsches Ankündigung der „schrecklichsten Kriege” exponiert, die, so Ecce homo, der „Umwertung aller Werthe” folgen werden, 16 tritt schließlich die große Protagonistin des Stücks auf, die Figur der Rosa Luxemburg. Ort und Inszenierung des Auftritts der im Folgenden mehr und mehr von verschiedenen Chören und Chorformationen verdrängten Einzelfigur sind entscheidend: Alle Einzelfiguren treten an demselben Ort auf der Vorderbühne auf, der zunächst im Prolog durch einen mit einem weißen Laken verhängten Sessel auf der weißen, hell ausgeleuchteten Bühne markiert ist. Im Auftritt „Nietzsches” ist die Lichtstimmung im Gegenteil durch 16 vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: Ders., Sämtliche Werke (KSA), Bd. 6, Berlin, New York, München 1988, S. 255-374. <?page no="175"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 175 Dunkelheit gekennzeichnet. 17 Auf der vollständig leeren und dunklen Bühne ist der szenische Ort der Nietzsche-Figur durch ein Licht-Rechteck markiert, das den Auftrittsort wie ein geöffnetes Grab erscheinen lässt. Die Szene „Rosa Luxemburgs” spielt ebenfalls an diesem Ort bei gleicher Lichtsituation: Im Zentrum des Licht-Rechtecks in der Mitte der Vorderbühne steht jetzt eine Badewanne, deren Längsseite in den dunklen hinteren Teil der Bühne ragt. Es ist „Badetag” im Breslauer Frauengefängnis, wo Luxemburg während des Ersten Weltkriegs inhaftiert ist, so Döblins Szene in November 1918 18 , der Textvorlage Schleefs. „Rosa Luxemburg” denkt über den Krieg nach, reflektiert ihre politische Rolle sowie ihre Kritik an Lenins „Diktatur des Proletariats”. Schleefs Inszenierung verwebt die Szene „Luxemburgs” im Gefängnis mit den anderernorts spielenden Szenen von Krieg, Russischer Revolution, Massenstreik und beginnender Revolution in Deutschland. Im Folgenden öffnet sich die Szene auf der Bühne in zweierlei Hinsicht: Inhaltlich wechselt die Perspektive mehr und mehr von der Fokussierung auf die Protagonistin zur polyperspektivischen Erzählung der revolutionären Ereignisse. Mit der thematischen Konzentration der Inszenierung auf den Beginn der Revolution tritt der Chor in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Formal bedeutet dies auch eine räumliche Öffnung der Szene: Mit dem Auftreten der größeren und zahlreichen Chorformationen wird zunehmend auch der hintere Teil der Bühne bespielt sowie die Vorderbühne in ihrer ganzen horizontalen Ausdehnung. Dies spiegelt sich ebenso in der veränderten Lichtsituation. Das Licht fokussiert nicht mehr den szenischen Ort der Protagonistin auf der Mitte der Vorderbühne, sondern verändert sich zu einer gleichmäßigen Ausleuchtung des gesamten Bühnenkubus. Insgesamt tritt die Einzelfigur mehr und mehr in den Hintergrund: zum einen räumlich, indem ihre Szene sich auf die Mitte der (Dreh-) Bühne verlagert, während hinter und vor ihr sowie um sie herum chorische Figuren auftreten; zum anderen auch im metaphorischen Sinn, indem sie immer mehr Teil der sie umgebenden Szene, des sie umgebenden Raums wird. In dem Maße, wie die Einzelfigur im doppelten Wortsinn in den Hintergrund tritt, wird die szenische Erzählung der revolutionären Vorgänge von den chorischen Figuren übernommen, die somit in den Vordergrund der Inszenierung treten. Die hier kurz skizzierte räumliche und szenische Verdrängung der Einzelfigur(en) durch immer mehr und größere Chorfiguren in Verratenes Volk rekurriert auf Schleefs in seinem Essay Droge Faust Parsifal exponierte These von einer „Umkehrung der antiken Konstellation” bei und nach Gerhart Hauptmann. 19 Indem dessen Stücke nicht mehr den Protagonisten, sondern 17 Um die theatralen Figuren von Autoren und historischen Personen zu unterscheiden, sind Erstere im Folgenden durch Anführungszeichen gekennzeichnet. 18 vgl. Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution, vollständige Ausgabe in vier Bänden, München 1978, Bd. 4, S. 18. 19 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt am Main 1997, S. 12. <?page no="176"?> Christina Schmidt 176 den Chor als „Ausgestoßenen” zeigten, so Schleef, werde die „antike Konstellation” (der Tragödie) umgekehrt. Nicht mehr der Protagonist, sondern der Chor werde jetzt geopfert. 20 Diese Neudefinition des Opfers, die mit der - im Verhältnis zur antiken Tragödie - „Umkehrung” der Konfliktsituation einhergehe, ergebe sich bei Hauptmann jedoch „weniger aus Überlegung und Arbeit am Vorbild”, sondern, so Schleef: vielmehr aus der Definition der gesellschaftlichen Zustände, in denen er lebt. Die Menschenzusammenballung, die jetzt mit 'Proletariat' bezeichnet wird, ist der neue Chor, der aber nicht die Herrschaft trägt, sondern, von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muß. 21 Mit dieser Umkehrung der Gewaltbewegung, die dem Opfervorgang, den Schleef als zentrale Problematik noch im Theater der deutschen Klassik definiert, inhärent ist, werde auch die Figurenkonstellation radikal auf den Kopf gestellt: Wenn bei und nach Hauptmann nicht mehr der Einzelne als Opfer für eine zu gründende Gemeinschaft definiert sei, sondern nun die vom Zentrum der Macht ausgeschlossene, „verstoßene”, von den Machthabern „verheizte” Masse in den dramatischen Vordergrund rücke, so folge daraus für die theatrale Ästhetik, dass die lange Zeit verdrängte Figur des Chors wieder zentrale Figur des Theaters werde. Somit hängt nach Schleefs Analyse die Wiederkehr des Chors mit dem Einzug der sozialen Thematik ins Theater zusammen, ja ist gar dessen notwendige Folge. Folgt man dieser Argumentation zur Herausbildung einer modernen Chor-Figur, die im Zusammenhang mit der Exposition der sozialen Problematik im so genannten Massenzeitalter entsteht, so wird deutlich, dass das Auftreten dieser neuen Chor-Figur sowohl inhaltlich als auch formal ein konfliktuöses sein muss. Verratenes Volk kann daher, besonders im Hinblick auf die dramaturgische und szenografische Arbeit an der Revolutionsthematik, als Versuchsanordnung über die konfliktuöse Wiederkehr der Chor-Figur ins moderne Theater begriffen werden. Formal zeigt sich dies in der Inszenierung an der topografischen Analyse der Figurenkonstellation und deren bühnenräumlicher Umsetzung. Schleefs räumliche Modellierung der szenischen Abläufe mittels Licht, die dramaturgische Definition der szenischen Orte und die daraus folgende räumliche Lokalisierung der Figuren auf der Bühne erinnern an Appias räumliches Denken der Bühne, das in Folge die umfassende Diskussion und Neugestaltung des Bühnenraums in der Moderne eröffnete. Was bereits Appia in seinen Entwürfen und Schriften ablehnt, eine Möblierung der Bühne - im Sinn einer bildlichen Illustration der Szene -, findet auch in Schleefs Theater nicht statt. Bis auf die Gestaltung des Bühnenlichts und die Einrichtung weniger baulicher Grundelemente wird die Theaterszene vollständig 20 So durch die Figur „Dreißiger” in Hauptmanns Stück Die Weber. 21 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, a.a.O., S. 12. <?page no="177"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 177 von den theatralen Figuren selbst hervorgebracht. An die Stelle eines Bühnenbilds tritt somit die Szenografie der Figuren. Der in seinem Theater zentralen Figur des Chors ist zudem eigen, dass sie sozusagen ihre eigene Umgebung ist. Die Bewegung der Bildwerdung der Figur unterläuft Schleefs Szenografie auch dadurch, dass die Chor-Figur, oder die chorische Form, als nicht vom Auftritt der Einzelfigur abzutrennender Grund aufgefasst wird. In Verratenes Volk wird dies deutlich, indem die Szene der „Rosa Luxemburg” von zahlreichen chorischen Auftritten begleitet beziehungsweise grundiert wird. Die auf dem europäischen Theater von Appia 22 eingeleitete räumliche Definition der Theaterszene, die Abstraktion des Bühnenraums durch die Verwerfung seiner illustrativen Funktion und die konstitutive Verschränkung von theatraler Szene und geometralem Raum werden von Schleef radikal weiterentwickelt, indem nicht nur die fiktive, auf der Bühne stattfindende Szene räumlich definiert wird, sondern der gesamte Theaterraum: Bühne und Zuschauerraum, mit sämtlichen Ein- und Ausgängen - von der Bühne zum Zuschauerraum, vom Zuschauerraum ins Theaterfoyer, vom Theater in die Stadt undsofort -, in seinem räumlichen Zusammenhang, und das ist: in seiner gesellschaftlichen Funktion diskutiert wird. Somit gerät im Theater Einar Schleefs auch der politische Zusammenhang von Wahrnehmung von Darstellung in den Blick. Wer befindet sich wo im Theater, und was bedeutet die Positionierung dieser Person oder dieser Figur an diesem Ort - für die Beziehung der theatralen Figuren untereinander, aber auch zwischen Bühne und Zuschauerraum, Sprechen und Hören, Sehen und Zu- Sehen-Geben? Schleefs Theater unternimmt nicht nur die räumliche Definition der fiktiven Szene, sondern auch der realen Situation der Aufführung an einem bestimmten, durch seine Geschichte, sowie seine lokale Verankerung in der Stadt, gekennzeichneten Ort. Der Theaterraum wird nicht nur von den dargestellten fiktionalen Konflikten durchzogen, sondern selbst als ein durch die problematische Verschränkung von Wahrnehmungs- und Darstellungsraum marktierter Ort, mithin als Konfliktraum aufgefasst. Von den Bildern, die dabei entstehen, wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein. 22 In dieser Hinsicht kann Appia als ein Protagonist des „spatial turn” avant la lettre bezeichnet werden. <?page no="178"?> Christina Schmidt 178 Abb. 1: Adolphe Appia, Entwurf von 1896 zum heiligen Wald/ Gralstempel in Richard Wagners Parsifal, Akt I. Quelle: Stiftung Schweizerische Theatersammlung Bern, Publiziert in: Richard C. Beacham, Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin 2006, Tafel 13, S. 55. Abb. 2: Adolphe Appia, „Walkürenfels” (1892), Entwurf zu Richard Wagners Walküre, Akt III. In: Beacham a. a. O., Tafel 15, S. 57. <?page no="179"?> Theater zwischen Raum und Bild. Von Appia zu Schleef 179 Abb. 3: Joseph Hoffmann, Bühnenbild für Akt III in Richard Wagners Inszenierung der Walküre auf den Bayreuther Festspielen von 1876. In: Beacham, a. a. O., Tafel 14, S. 56. <?page no="181"?> Wolf-Dieter Ernst Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte Die Schauspieltheorie und die Geschichte der Schauspielstile können als ein etabliertes Themenfeld der theaterwissenschaftlichen Forschung gelten. Die Debatten um den ‘heißen’ und ‘kalten’ Schauspieler rufen unweigerlich bekannte Positionen wach: naturalistische und psychologische Spielweise, Affekttheater und epische Spielweise, so lauten etwa die einschlägigen Beschreibungsmuster, mit denen man sich der Analyse schauspielerischer Vorgänge nähert. Diese Beschreibungsmuster sind vor allem aus der Geschichte des Dramas hergeleitet worden. In der jüngeren medien- und wissensgeschichtlichen Forschung erlangt nun die Schauspieltheorie und -praxis um 1900 erneute Aufmerksamkeit, insofern hier die Stilistik vom technischen Bild hergeleitet wird. Kursierten Abbildungen der Gesten und mimischen Regungen von Schauspielern spätestens seit der Aufklärung, so rückt der Schauspieler im Zuge der Aufzeichnung affektiver Regungen in technischen Bildmedien in einen neuen epistemischen Zusammenhang. An die Stelle einer sprachlichen Ordnung treten technische Bilder. Fortan, so lautet das Argument, sei es möglich, jenseits der Sprache, Lebensspuren direkt am Körper aufzuzeichnen, in Diagramme und Gleichungen zu überführen, wie etwa eine ausnotierte Stimmaufzeichnung zeigt, die der Phonetiker Kurt Dehne 1926 von Alexander Moissis Hamlet-Monolog erstellt. Abb. 1: Kurt Dehne. Ausnotierte Tonkurve des Hamletmonologs von Alexander Moissi aus seiner Dissertation Halle 1926. <?page no="182"?> Wolf-Dieter Ernst 182 Das Schema von Einfühlung und Ausdruck, wie es in der Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts entwickelt wird, erfährt in solchen ‘Realaufzeichnungen’ (Kittler) körperlicher Prozesse eine Zuspitzung. Diesem Wechselverhältnis von technischen Bildern und Schauspielstilen möchte ich im Folgenden nachgehen. Dazu werde ich zunächst die foto-elektrischen Experimente von Duchenne de Boulogne als Wendepunkt hin zur nach-klassischen Episteme vorstellen und sodann eine wissenshistorische Lektüre eines Stimmdiagramms von Alexander Moissi vornehmen. Dabei geht es freilich nicht nur um das, was die technischen Bilder zeigen, sondern auch, welche möglichen Wirkungen solche Visualierungen wiederum auf die Spielweisen von Schauspielern haben. Diese Perspektive möchte ich als eine poetologische Lesart technischer Bildern vorschlagen. 1 Neue Verhältnisse der Sichtbarkeit: das technische Bild. Die szenische Affektdarstellung und bildliche Darstellung der Affekte sind von je her eng aufeinander bezogen. So ist es kein Novum, die affektiven Aspekte der Schauspielkunst an Hand von Bildern und Visualisierungsverfahren zu dokumentieren und zu deuten. In der Tat haben solche Visualisierungen in der Schauspieltheorie eine Tradition, die bis in die Zeit der Gestenatlanten des Barock zurückreicht. Zu denken wäre etwa an Charles Le Bruns Kompendium Méthode pour apprendre à dessiner les passion (1702), Franziskus Langs Studienbuch Dissertatione de Actio Scenica oder Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik. 1 Bekannt sind Abbildungen von Schauspielern in bestimmten Rollenfiguren ebenso wie präskriptive Abbildungen, mit denen in der Ausbildung auf bestimmte Probleme des Körpertrainings, der Gestik und Mimik hingewiesen werden. Mit der Erfindung der Fotografie macht sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings ein qualitativer Umschwung bemerkbar: Von der nachzeitigen Abbildung des mimischen Affekt in Zeichnung und Druckgrafik hin zur Registrierung der mimischen Bewegung in Echtzeit in der Momentfotografie weist der Weg. Dieser Umschwung in den Visualisierungsverfahren lässt sich an den Experimenten des französischen Neurologen Guillaume-Benjamin-Armand Duchenne de Boulougne verdeutlichen, weshalb ich das Experiment hier in den Grundzügen skizzieren möchte. 2 Duchenne war zunächst als Nerven- 1 Charles Le Brun, Méthode pour apprendre à dessiner les passions, proposée dans une conférence sur l’expression générale et particulière, Hildesheim, Zürich, New York 1982 (Nachdruck der Ausgabe Amsterdam 1702); Franciscus Lang, Dissertatione de Actione Scenica, München 1727; Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, Berlin 1844 (1785). Vgl. hierzu auch die Analysen von Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, Basel 2000. 2 Duchennes Experiment ist inzwischen ausführlich in der Wissenschaftsgeschichte und der Fotografiegeschichte besprochen, so dass hier ein Synopsis genügen kann. Für eine vertiefende Lektüre siehe auch Anthrew R. Cuthbertson (Ed.), G.-B. Duchenne de <?page no="183"?> Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte 183 arzt in Pariser Kliniken u.a. in der Salpêtrière tätig und behandelte dort Bewegungsstörungen mit elektrischer Stimulation, bevor er 1862 mit der viel beachteten Studie Mécanisme de la physionomie humaine an die Öffentlichkeit tritt. Der Band dokumentiert eine Reihe von Experimenten, mit denen Duchenne der Funktion der Gesichtsmuskeln in der Produktion mimischen Ausdrucks auf die Spur kommen möchte. Dazu reizt Duchenne einzelne Gesichtsmuskeln von Probanden mit elektrischem Strom unterschiedlicher Intensität und hält das Ergebnis mittels Fotografie und Beschreibungen fest. 3 Die Abbildung 2 etwa zeigt den Effekt, der sich bei Induktion von Strom in den so genannten Lachmuskel (musculus risorius) erzielen lässt, der, wie sich einschlägigen Muskelatlanten entnehmen lässt, etwas unterhalb des Ohres ansetzt. 4 Abb. 2: Induziertes Lächeln nach Duchenne, aus: Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine, Paris 1876 Boulogne: The Mechanism of Human Facial Expression, Cambridge u. a. 1990 (1862, enthält eine englische Übersetzung des Duchenne-Textes und weitere Aufsätze); für die Fotografiehistorie siehe Petra Löffler, Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004, S. 117-144, zur medientheoretischen Analyse siehe Hans Christian von Herrmann, Bernhard Siegert, „Beseelte Statuen - zuckende Leichen. Medien der Verlebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne”, in: Kaleidoskopien 3, (2000), S. 66-99. 3 Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électrophysiologique de l’expression des passions, Paris 1862. 4 Vgl. etwa Timothy J. Marten, „Facelift, Planning and Technique”, in: Facial Cosmetique Surgery, Bd. 24, April 1997, S. 279-308, 286, sowie eine Kartografie der Muskeln unter www.cosmetic-aesthetics.com/ images/ botox-de-neu_botox2.jpg (letzter Zugriff 11.9.2009). <?page no="184"?> Wolf-Dieter Ernst 184 Dabei strebt Duchenne eine Typenbildung des mimischen Affekts mit universeller Gültigkeit an, so dass im Idealfall einer bestimmten Gruppe von Muskeln eindeutig ein affektiver Ausdruck zugeordnet werden kann. Damit wiederholt er mit Mitteln der Elektrizität und der Momentfotografie die Versuche einer ideellen Affektdarstellung, wie sie von Bulwer, Le Brun oder Engel her überliefert sind. 5 Muss Le Brun aber die Affekte noch an Hand verschiedener Symptome und Situationen ihres Auftretens beschreiben und zeichnen, so lässt sich mittels Duchennes Verknüpfung von Induktionsgeber und Auslöser der Weg von Beobachtung und Beschreibung konzeptuell kurzschließen. Dieses Experiment wird in der Medienwissenschaft als Wende zu einer nach-klassischen Episteme gedeutet. 6 Die nach-klassische Episteme zeichnet es dabei aus, die Funktionen des Körpers, wie sie als fotografisch still gestellte Intervalle sichtbar vorliegen, mathematisch zu formalisieren und experimentell zu steuern. Diese Forschung wird in neu entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen, etwa der mathematisch begründeten Psychologie und der Psychophysik, vorangetrieben. Der Wissenshistoriker Stefan Rieger macht diesen Wandel von der Beschreibung zur mathematischen Formulierung am Beispiel des so genannten Weber-Fechnerschen Gesetzes deutlich, einer, wie er schreibt „der für die moderne Episteme folgenreichsten Formalisierungen”. Dieses Gesetz, welches auf die Forschungen des Göttinger Anatom und Physiologen Ernst Heinrich Weber (1795-1878) und des Psychophysikers Gustav Theodor Fechner (1801-1887) zurückgeht, besagt, dass der gerade wahrnehmbare Unterschied einer Reizzunahme in logarithmischem Verhältnis zur objektiven Reizerhöhung steht. Es wird also ein Parallelismus zwischen psychischem Erleben und physischem Reiz mathematisch formuliert. In der Nachfolge von Weber und Fechner, so Rieger, gehe es ganz grundsätzlich darum, die Wissenschaft und die Ästhetik des Menschen unter mathematischem Gesichtspunkt zu formulieren. Nicht mehr die Narration, sondern Zahlen und Graphen, Kurven und Statistiken, Tabellen und Tableaus bilden den semiotischen Fundus einer veränderten Episteme. Diese folgt nicht mehr den Vorgaben der Repräsentation, kennzeichnend für die klassische Episteme, sondern denen der Registrierung von physischen Daten, der Transposition in andere Dispositive zu Zwecken der Veranschaulichung und der (technischen) Reproduktion. Kurz: Es ist die Episteme der Intervention und der Interzeption. 7 5 Vgl. zur Diskursgeschichte der Körperatlanten Joseph Roach, The Players Passion. Studies in the Science of Acting, Ann Arbor 2007 (1985), S. 33-40 (Bulwer) u. S. 70-78 (Le Brun, Engel u. a.); vgl. für Abbildungen, Dene Barnett, The Art of Gesture. The Practices and Principles of 18th Century Acting, Heidelberg 1987. 6 Vgl. grundsätzlich Bernhard Dotzler, Papiermaschinen. Versuch über Command und Control in Literatur und Technik, Berlin 1996, S. 338ff; vgl. zum Aspekt von mimetischer und konstruktiver Übertragung Stefan Rieger, Die Ästhetik des Menschen, Frankfurt am Main 2002, S. 419ff. 7 Rieger (2002), S. 17f. <?page no="185"?> Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte 185 Technische Medienapparate, Experimentalanordnungen und mathematisches Denken eröffnen also in ihrem Zusammenspiel einen neuen Bereich der Sichtbarkeit und des Wissens, die den mimischen Ausdruck in der höheren Auflösung der Makro- und Momentfotografie und der mathematischen Formel behandeln. Die Momentfotografie trennt die Beobachtung von ihrer Beschreibung ab, und dieser Effekt muss den zeitgenössischen Betrachter als positives Wissen erschienen sein. Die Dimension des Psychischen, die ja in der Schauspieltheorie immer ein wichtige Rolle spielt - sie bleibt freilich außen vor: Mit Duchennes induziertem Lächeln lässt sich kaum eine Innerlichkeit assoziieren, die das Lächeln motiviert, noch wird dieses Lächeln an sich psychisch erlebt. „Duchenne jedenfalls umgeht in seinem [Experiment W.D.E.] jede Form der Innerlichkeit”, so bringt es Rieger auf den Punkt. 2 Distribution und Wirkung der Experimente Duchennes Duchennes Bilderfolgen zirkulierten im 19. Jahrhundert rasch in Wissenschaftlerkreisen, aber auch unter Künstlern. Bereits 1872 werden sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt, wenn Charles Darwin Teile davon in seinem Werk The Expression of the Emotions in Man and Animals veröffentlicht. 8 Die elektrischen und optischen Aufzeichnungsverfahren der Gestik und Mimik findet ihren Weg dabei auch in die Schauspielausbildung. So publiziert der Kölner Laienschauspieler und Hals-Nasen-Ohrenarzt Karl Michel 1886 das Lehrbuch Die Gebärdensprache in zwei Bänden. 9 Band 1 enthält die Handlungsanweisung für das Training von Mimik und Gestik, Band zwei ist ein Kompendium von fotografischen Modellstellungen der Mimik und Gestik. 10 Ähnlich verfährt die Rutz-Sieversche Typenlehre für die Stimmausbildung. Hier sind es Fotografien und Anweisungen, mit welchen die Stellung von Becken und Oberkörper für die Produktion bestimmter Tonfärbungen angeben werden, so dass Sänger und Sprecher eine Tonfärbung für eine bestimmte Partie quasi nach fotografischen Anweisungen produzieren können. 11 8 Vgl. Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus), Reprint Nördlingen 1986, S. 306. 9 Karl Michel, Die Gebärdensprache dargestellt als Übungen in Verbindung mit der Wortsprache, Köln 1886. 10 Vgl. hierzu fotografiehistorisch Petra Löffler, „Das Schauspiel der Fotografie. Posieren vor der Kamera - die Lehrbücher von Carl Michel und Albert Borée”, in: Theater und Fotografie (2006), S. 17-30. 11 Vgl. hierzu Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung. Handbuch der Typenlehre, München 1911, Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001; Wolf-Dieter Ernst, „Rhetorik und Wissensdynamik in der Schauspielausbildung. Ernst Possart, Julius Hey und die Rutz-Sieversche Typenlehre”, in: Stefan Hulfeld, Birgit Peter (Edd.), Theater/ Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Wien 2009, S. 285 - 302. <?page no="186"?> Wolf-Dieter Ernst 186 Abb. 3: Körperhaltung nach dem System Rutz-Sievers zur Verbesserung des Sprech- und Singtons, aus: Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung. Handbuch der Typenlehre Rutz, München 1911. Und eben auch das Geheimnis schöner Stimmen versucht man mit der Visualisierung und Ausnotierung von Stimmkurven zu entzaubern, wie etwa bei Kurt Dehne (siehe Abbildung 1) zu sehen ist. Die Fragestellung seiner 1926 verfassten Dissertation lautet: Welche hörbaren Ausdrucksmittel wenden Meistersprecher an zur Auswertung des Hamlet-Monolgs ‘Sein oder Nichtsein’? Zur Klärung dieser Fragestellung wertet Dehne acht verschiedene Grammophon-Aufnahmen bekannter Hamlet-Interpreten aus und überführt sie in ein Diagramm, welches jeweils die Tonhöhe und die Dauer des Sprechtons angibt. 12 Die Arbeit erschöpft sich weitestgehend darin, die apparative Verschaltung von Grammophon, Tonaufzeichnung und grafischer Notierung zu leisten und mögliche Messfehler zu diskutieren. Man muss die technischen Visualisierungen vom Typus Dehnes oder Rutz’ natürlich genauer darlegen, als dies in diesem Rahmen möglich ist. Sicherlich wurden sie weniger in direkter Reaktion auf Duchennes Experimente angefertigt als in pädagogischer Intention. Wichtig ist vorerst, dass sich an diesen Dokumenten aufzeigen lässt, dass der mimische Affekt auch in der künstlerischen Propädeutik und Produktion vom Stand der nachklassischen Episteme her verhandelt wird. Aber wie? Damit kommen wir zu einer poetologischen Lektüre technischer Bilder. 12 Kurt Dehne, Welche hörbaren Ausdrucksmittel wenden Meistersprecher an zur Auswertung des Hamlet-Monolgs ‘Sein oder Nicht sein’? , Halle (Saale) 1926 (zgl. Univ. Diss. Halle). Der Zusammenhang von Wissenshistorie, Mediengeschichte und Institutionalisierung der Schauspielschulen im Zeitraum von 1870-1930 ist Gegenstand des vom Autor geleiteten DFG-Projektes „Vorschrift und Affekt”, dessen Ergebnisse demnächst in einer größeren Studie veröffentlicht werden. <?page no="187"?> Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte 187 3 Schock und Überraschung Eine poetologische Lektüre fragt nach dem, wie technische Bilder wiederum szenische Darstellung prägen, sie fragt nach der Wirkung von Bildern und nach dem künstlerischen Umgang mit ihnen. Für Duchennes Fotografien ist zunächst einmal fest zu halten, dass Faszination und Schock angesichts der Realaufzeichnung mimischer Bewegungen dicht beieinander lagen. Im ersten Hinsehen stellen die elektrophysiologisches Experimente tatsächlich einen Kurzschluss zwischen Körper und Fotografie her. Dass Fotos dabei die Ausdrucksbewegung arretieren, ist eine Zeitmanipulation, die als mediale Strategie der Überrumpelung gelten kann, denn sie verdeckt, dass diese Fotografien konventionell inszeniert sind. Duchenne haben die Körper der Probanden sich nicht in einer Sprache der Natur mitgeteilt. Seine Bilder bedürfen vielmehr der sprachlichen und hermeneutischen Leseanweisung, um zeigen zu können, welche Emotionen im Gesicht zum Ausdruck kommen. Man muss also fragen, mit welchem Hintergrundwissen die zeitgenössische Lesart der Bilder jeweils vorgenommen wurde. Auffällig ist, dass Duchennes Fotografien gerade kein positives Wissen produzieren. So kommt es etwa zum Zirkelschluss zwischen Bild und Begriff. Denn Duchenne benennt kurzerhand die einzelnen Muskeln mit den Namen jener Affekte, für die er sie für ursächlich und primär setzt. Petra Löffler schreibt über die Durchführung des Experiments: So isoliert Duchenne etwa den Nasenmuskel (musculus procerus) als vollständig expressiven ‘Muskel der Aggression’ und den Augenbrauenheber (musculus corrugator supercilii) als ‘Muskel des Leidens’ - benannt nach dem jeweiligen Affekt, den diese Muskeln als einen Ausdruck hervorrufen. 13 Duchenne weiß also schon ‘mit Namen’, welchen Affekt seine Reizung der Gesichtsmuskeln hervorbringen sollen. Ein Experiment aber bestimmt sich wohl eher dadurch, dass es ergebnisoffen ist und nicht im Vorfeld von Urteilen und Interpretationen geleitet wird. Wenn Duchenne zudem den Prozess der Bildproduktion erläutert, werden weitere Zweifel am positiven Wissen seiner Zeit deutlich. Denn nun erweist sich schnell, dass er sich im Aufbau seines naturwissenschaftlichen Experiments von relativ konventionellen Inszenierungskonzepten und der Ästhetik der Portraitfotografie hat leiten lassen. Er bat einen befreundeten Bildhauer und Wachsmodelleur, Jules Talrich, ihm Modell zu sitzen. Weiterhin wird bekannt, dass ihm Adrian Tournachon, der Bruder des berühmten Fotografen Félix Nadar, unterstützte und dass letztlich die Fotografietechnologie um 1850 alles andere als zu Schnappschüssen gut war, mit denen man die Natur oder das Leben hätte überraschen können. Gefordert waren vielmehr in dieser prä-Kodak Periode komplexe Laborbedingungen 13 Löffler 2004, S. 123. <?page no="188"?> Wolf-Dieter Ernst 188 und im Falle von Duchenne eine minutiöse Überwachung und Synchronisierung von fotografischem und elektrophysiologischem Vorgang. Gottfried Boehm hat technische Bilder in den Experimentalwissenschaften als „schwache Bilder” bezeichnet, 14 insofern sie in ihrer Produktion visueller Evidenz einer Aussagenlogik untergeordnet sind, jedoch als Bilder aus sich heraus keine ikonische Differenz aufweisen. Anders gesagt: Was man an diesen Bildern sehen kann, ist bereits im Vorfeld gewusst. Das Wissen entwickelt sich nicht im Vollzug des Sehens. Stefan Rieger verwendet für dieses Vorgehen zu Recht den Begriff der Steuerung, der Kybernetik. Denn vornehmlich handelt es sich in den Experimenten um die Produktion medialer Effekte, die sich einem Steuerungskalkül und einer medialen Kompetenz der Forscher verdanken, die deren Semantik vorgeschaltet ist. Denn, [W]as immer Medien an Menschen sichtbar und hörbar, registrierbar und messbar oder anderweitig greifbar machen, dem muss eine Bedeutung allererst verliehen werden. Weil diese nicht historisch gewachsen und (prä)stabilisiert sein kann, ist der Vielfalt der Bedeutungszuweisungen ebenso wenig ein Ende gesetzt wie der Möglichkeit, identische Körperdaten unterschiedlich und mehrfach als Bedeutungsträger einzusetzen. 15 Vereinfacht gesagt sind es medientechnische Interpretationen körperlicher Vorgänge, für deren Wahrheitsgehalt der Körper und die Anthropologie gerade nicht herhalten können, die diese umgekehrt erst begründen. Diese Umkehrung der Kausalkette, nach der nicht Körper in Medien abgebildet werden, sondern Medien ein Körperbild begründen, arbeitet Rieger ein aufs andere Mal heraus. Experimentalanordnungen beobachten die Realitäten, die sie zuvor experimentell und medientechnisch herstellen. Sie beobachten sich selbst. Das kann immer nur den Schein einer Lebensspur erzeugen. In die Herstellung der Bilder fließt also ein ästhetisches Kalkül ein, welches darauf abzielt, ein positivistisches Wissen um die Affekte zu illustrieren. Es bleibt jedoch, zumal in ihrer singulären Erscheinungsform die Idee, oder das Phantasma zurück, man habe in diesen schwachen Bilder nun eine Lebensspur aufgezeichnet, die mit Bühnenmitteln durch den Schauspieler nicht mehr einzuholen ist. 4 Behauptung und Leugnung Stellt man nun die Frage nach der Wirkung dieser nach-klassischen Episteme in der Schauspielkunst, so kann man heuristisch zwei bekannte Stilistiken darauf beziehen: die Behauptung eines Jenseits dieser technischen Entzauberung im ‘Theater der Einfühlung’ und die Leugnung von Innerlichkeit 14 Gottfried Boehm, „Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrumente der Erkenntnis”, in: Jörg Huber, Martin Heller (Ed.), Konstruktionen - Sichtbarkeiten, Wien, New York 1999, S. 215 - 227, S. 226. 15 Rieger (2002), S. 53. <?page no="189"?> Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte 189 im Illusionsbruch der Historischen Avantgarden sowie des epischen Theaters. 16 Dabei ist zu bedenken, dass der oben skizzierte Bilddiskurs auf die Schauspieltheorie nur indirekt wirkt. Der Einfluss entfaltet sich vermittelt, etwa über Lehrbücher oder Metaphern der Beschreibung. Zudem ist zu bedenken, dass der Weg von Duchenne hin zur Schauspielkunst die ausdifferenzierten Bereiche von Naturwissenschaft, Unterhaltungsmedium und Kunstinstitution (Schauspielakademie, Theater) umspannt. Über die Grenzen dieser gesellschaftlichen Felder hinweg ist ein Wissenstransfer nur mittelbar möglich, was etwa in der Unterscheidung eines logischen und praktischen Wissens, eines knowing that und knowing how, bereits problematisiert wird. 17 Klar ist also, dass es in der Schauspielkunst nicht um die Produktion von Wissen über die Affekte geht, wie noch bei Duchenne. Die Fragestellung verschiebt sich: Nicht was Duchennes Inszenierung zeigen kann und wo sie fälschen muss, ist von Interesse, sondern ob und wie solche Inszenierungen des Wissens die Entwicklung von Schauspielstilen etwa der (psychologischen) Innerlichkeit fördern, bzw. dessen Leugnung provozieren konnte. Wenn Rieger konstatiert, dass Duchenne jegliche Innerlichkeit umgeht, so wird diese Geste der Negation bildrhetorisch als ein energetischer Pol aufzufassen sein, dessen anderer Pol dann eine neue Form von Innerlichkeit darstellt. 18 An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal der Stimmnotation der Monologaufnahme von Alexander Moissi durch Kurt Dehne zuwenden. Die Registratur und die Visualisierung suggerieren bei Dehne, die Tonkurve als hörbaren Ausdruck Moissis zu verstehen oder gar wieder zu intonieren. Derart verfährt eine Lektüre nach Maßgabe dessen, was repräsentiert wer- 16 Mit dem Theater der Einfühlung und der Anti-Illusion sind zunächst einmal die bekannten ästhetischen Strategien von Täuschen und Zeigen aufgerufen. Vgl. Gérard Schneilin, „Eintrag ‘Illusionstheater’”, in: Ders., Manfred Brauneck (Ed.), Theaterlexikon, Reinbek bei Hamburg 1990 (1986), S. 410, bildtheoretisch jedoch muss hier Einfühlung und Illusionsbruch als Wirkästhetik um den Begriff der Imagination als einem Konzept des Sehens und des Vermögens der Vorstellungs- oder Einbildungskraft erweitert werden. Diese Erweiterung formuliert in Hinsicht auf die Bühne Nikolaus Müller- Schöll, „Eintrag ‘Imagination’”, in: Erika Fischer-Lichte u. a., Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 142-144. Dabei wird das Imaginäre (n. Lacan) mit dem Theaterbild, das Symbolische mit dessen Produktion gleichgesetzt. Die Funktion (innerer) Bilder innerhalb des ästhetischen Produktionsprozesses wäre im Anschluss noch zu erforschen. Da es dabei bildrhetorisch um Affektbilder geht, wird vorerst am Begriff der Einfühlung festgehalten. 17 Jens Roselt, „Denn sie wissen nicht, was sie tun: Schauspielkunst und Wissenschaft”, in: Klaus W. Hempfer, Anita Traninger (Edd.), Dynamiken des Wissens (Reihe Scenae, Bd. 6), Freiburg 2007, S. 143-160. 18 Ähnliche argumentiert Giorgio Agamben bezogen auf die Geste. Agamben deutet u. a. die Fotografie als „Verlust der Unbefangenheit” körperlichen Ausdrucks (bei ihm: der Geste), welcher dann erst eine „unergründliche Innerlichkeit” evoziere. Giorgio Agamben: „Noten zur Geste”, in: Jutta Georg-Lauer (Ed.), Postmoderne und Politik (= Tübinger Beiträge zu Philosophie und Gesellschaftskritik, Bd. 4), Tübingen 1992, S. 97-107, S. 99. <?page no="190"?> Wolf-Dieter Ernst 190 den soll. Poetologisch ist die Lektüre jedoch, wenn man ihre Rückkoppelung auf die Darstellung Moissis denkt. Das meint nicht, dass Moissi Dehnes Arbeit kannte und von ihr beeinflusst war, sondern dass er sich in der gleichen nach-klassischen Episteme bewegt wie sein Zeitgenosse Dehne. Daher gilt es zu zeigen, wie beide, Dehne und Moissi, in Relation zu einander stehen. Ein Bezug des Wissenschaftlers Dehne zum Künstler Moissi scheint zunächst nicht gegeben. Denn der Schauspielstil Moissis steht auf den ersten Blick in der Tradition der heroischen Charakterdarsteller des 19. Jahrhunderts als dass man darin eine Reaktion auf technische Medien erblicken könnte. 19 Für den Schauspielstil sind zwei Aspekte maßgeblich: die möglichst wortgetreue und kraftvolle Wiedergabe des Dichterwortes und die Interpretation großer Heldenrollen, welche im Sinne der nationalstaatlichen Politik des 19. Jahrhunderts gedeutet werden. Entsprechend wird schauspielerische Überzeugungskraft als ‘Sieg in der Rolle’ bezeichnet. Ausnahmen, wie die historischen Ausstattungsszenen oder die Furorszene bestätigen eine Auffassung von Drama und Rolle im Sinne eines Organismus, eines harmonischen und kontinuierlich sich entwickelnden Ganzen. 20 Die Schauspielkunst wird innerhalb dieses Theatermodells vor allem als Deklamation aufgefasst. Eine Fülle von Katechismen, Anleitungen zur Stimmgymnastik und sprecherzieherische Übungsbücher untermauern das Primat der Deklamation. Sie verpflichten den Schauspieler darauf, das Dichterwort so vor Augen und Ohren zu führen, dass der literarischen Rollenfigur gleichsam Leben eingehaucht wird, als ob sie vor unseren Augen erscheine. Die Schauspieler, so formuliert es Josef Lewinsky einmal, muss in den „Dienst der Dichter [treten] und deren Worte […] verlebendigen”. 21 Der Schauspieler im Theater der Dichter wird also vor allem als idealer Stimmkörper imaginiert. Als einen solchen tönenden Körper etwa beschreibt der Münchner Schauspieler Ernst Possart sein erstes Theatererlebnis, einen 19 Moissi erlernt die Schauspielkunst ab 1899 in Wien, im Umfeld jener prägenden Sprechtradition am Burgtheater. Er nimmt privaten Schauspielunterricht bei seiner späteren Frau Maria Urfus, orientiert sich an den bestehenden Schauspielstars, etwa an Josef Kainz oder Josef Lewinsky und übernimmt Statistenrollen. Vgl. zur Schauspielausbildung und Wissenstransfer im 19. Jahrhundert Wolf-Dieter Ernst; „‘…dann wurde zu einzelnen Szenen geschritten’. Schauspielerausbildung an der Königlichen Musikschule in München ab 1874”, in: Petra Stuber (Ed.), Theater und 19. Jahrhundert, Hildesheim 2009, zur Stimme Moissis auch: Wolfgang Hagen, „Wenn alles gesagt ist, werden die Stimmen süß”, in: Heiner Goebbels, Nikolaus Müller-Schöll (Edd.), Heiner Müller sprechen, Berlin 2009, S. 30-48. 20 Vgl. zur Dramaturgie im Theater des 19. Jahrhunderts Juliane Vogel, Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie des ‘großen Szene’ in der Tragödie des 19. Jahrhundert, Freiburg 2002, S. 17-30; zum Bühnensprechen im Zeichen der Nationalerziehung Jörg Wiesel, Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters, Wien 2002, S. 76-100. 21 Rede anlässlich der Eröffnung der Theaterakademie Düsseldorf zitiert nach Kurt Loup, Das festliche Haus, Düsseldorf 1955, S. 68. <?page no="191"?> Schauspielpoetik im Zeichen der technischen Sichtbarmachung der Affekte 191 Auftritt seines Vorbildes Wilhelm Kläger in der Rolle des Franz Moor, 1862 in Bern. [B]ei dem miternächtigen Emporschrecken vom Lager […] entfaltete Wilhelm Kläger zum ersten Male eine gewaltige Lungenkraft und die tosende Stärke seines Organs. Die Beichte von der grauenvollen Vision des jüngsten Gerichts, anfangs sich ihm mit lallender Zunge entringend, dann von Satz zu Satz unter konvulsischen Zuckungen im Tone gesteigert, drang bei dem Verdammungswort des Weltenrichter: ‘Gnade jedem Sünder der Erde und des Abgrundes! Du allein bist verworfen’, donnernd an unser Ohr. Doch immer noch hatte Kläger seine physische Kraft nicht voll ins Treffen geführt; erst als die wimmernden Dorfglocken das Herannahen der Räuber verkündeten, als das Schießen und Pfeifen der wilden Bande sich mit dem Krachen eingeschlagener Türen, dem Klirren zusammenbrechender Fenster und dem Heulen der Windsbraut zu einem Chaos von Gedröhn verbanden, erst da ließ der Künstler die Wucht seiner Stimmmittel restlos erklingen, und die Verzweifelungsschreie des totgeweihten Franz Moor überdrangen siegend, markerschütternd den Höllenlärm. 22 Possart imaginiert in seiner Erinnerung einen idealen Stimmkörper, der im Crescendo eine dramatische Finalspannung - den Untergang des Intriganten Franz Moor - einzulösen vermag und dabei gegen die mechanische Musik der Theatermaschine, das Schießen, Pfeifen, Krachen, Klirren und Heulen obsiegt. Dieses Schauspielkonzept verschreibt sich ganz der Belebung der Rollenfigur durch maximale Einfühlung in das Dichterwort. Wiewohl das hier geschilderte Schauspielkonzept bereits auf Tendenzen der Abstraktion trifft als Moissi seine Karriere beginnt, so ist er ihr doch verpflichtet. Dieser Schauspielstil wird jedoch von Moissi selbst mehrfach medial gebrochen, was es Dehne schließlich in den 20er Jahren ermöglicht, seiner Faszination für die Meistersprecher nachzugehen. Zunächst geschieht dies ganz praktisch. Dehne nutzt für seine Analyse eine Grammophonaufnahme des Hamlet-Monologs. Woher stammt diese Aufnahme? Moissi spricht ab 1912 für die Deutsche Grammophon Teile seines Repertoires ein. Dazu gehören berühmte Rollenpartien, wie etwa der vorliegende Monolog des Hamlet oder die Rolle des Fedja in Der lebende Leichnam von Tolstoi. Aber es sind auch Prosatexte und Gedichte: etwa die Gedichte Schlaflied für Mirjam und Novemberwind des belgischen Symbolisten Émile Verhaeren. Moissi reagiert mit diesem Repertoire in doppelter Weise auf die Sichtbarmachung durch technische Medien. Er spaltet seine Rollenpartien zunächst medial auf: So gibt es zahlreiche Fotografien, die ihn in Kostüm und Maske in typischen Posen seiner Rollenfiguren darstellen. Komplementär zu diesen Portraits der Rolle rezitiert er in seinen Soireen die bewegenden Momente seiner Partien. Der Zuschauer bekommt also ein technisches Bild und einen komprimierten Höreindruck des Schauspielers, Moissi agiert im Medienverbund. Die Kontinuität der Zeit des Dramas sowie die Bedeutung der Elemente des Dramas, wie die Figurenkonstellation, die Handlung, der Spannungsbogen und die 22 Ernst Possart, Erstrebtes und Erlebtes, Berlin 1916, S. 117f. <?page no="192"?> Wolf-Dieter Ernst 192 Ausstattung, werden ausgeblendet - man setzt die Kenntnis kompletter Aufführungen als bekannt voraus. Ab 1920 verlegt sich Moissi völlig auf diese Praxis der Auskopplung. Er kehrt dem Repertoiretheater den Rücken und geht als Solist auf Tour. Mit bis zu 6000 Mark Gage für einen Rezitationsabend ist er einer der Erfolgreichsten dieser Branche. Solche Abende bieten dabei zwei Sensationen: die akustische Sensation der Stimme Moissis und das Image Moissis als einem frühen Weltstar. Moissi spielt wie alle Stars visuell und habituell sich selbst, seine Stimme leiht er der Rezitation von Literatur. Längst also hat Moissi auf die mediale Manipulation in der Sichtbarmachung der Affekte reagiert. Implizit aber reagiert er damit auch auf eine Krise des Literaturtheaters, welche in den großen Heldenrollen und entsprechender Fallhöhe die Garantie für affektive Darstellungen sah. Er produziert damit nicht nur für ein Theater, welches sich mit Agenturen und Tourneen als Massenmedium versteht. Er bedient zugleich die nachklassische Episteme, die in der künstlichen Arretierung und nicht in der langatmigen Entwicklung des Geschehens die Affekte in ihrer Funktion wahrnimmt. Künstliche Arretierung meint bei Moissi die Ausstellung typischer Posen und markanter Intonationen. Erst als die Aufspaltung seiner Rollenpartien und die Auskopplung besonders affektiver Momente sich als eine erfolgreiche Strategie erwiesen, entstanden dann die Grammophonaufnahmen Moissis, an welchen Dehne schließlich seine Untersuchung vornimmt. Moissi präpariert seine Erscheinung und seine Stimme also bereits vor der tatsächlichen Realaufzeichnung für die nach-klassischen Episteme der Registratur. Die Aufzeichnung selbst fixiert dann nur noch, was bereits im Vorfeld und in Hinblick auf den Diskurs neuer Sichtbarkeiten als affektive Ausdrucksbewegung Geltung erlangt hat. Die Pointe dieser Argumentation ist freilich, dass das Stimmideal des Charakterschauspielers, das Ernst Possart in Wilhelm Kläger verkörpert sieht, von ihm erinnert wird, genauer in seiner Autobiografie Erstrebtes und Erlebtes, die 1914 erscheint. Es ist eine nachträgliche Zuschreibung, die möglicherweise mehr über das Ende des ‘langen 19. Jahrhunderts’ und die Zeit des 1. Weltkrieges aussagt als über das Jahr 1862, auf welches die Anekdote datiert ist. 1862 ist vielleicht nicht zufällig das Jahr, in welchem Duchenne seinen Kurzschluss von Apparat und Körper veröffentlichte. Es könnte sein, dass auch Kläger bereits sehr gezielt einen Kurzschluss von Körper und Apparat inszeniert. Die Guckkastenbühne in Bern, auf welcher die Anekdote spielt, wäre der Apparat, für den er sich als Franz Moor einstimmt. Das aber heißt: Der Affekt entfaltete sich bereits hier im Zusammenspiel zwischen der Rollenfigur Franz Moor und der Theaterarchitektur als einem technischem Dispositiv der Hör- und Sichtbarmachung von Affekten. <?page no="193"?> Petra Bolte-Picker Theater der Physiologie Körper/ Teilung, Körper/ Dichte und der politisierte kopflose Rest Im Kontext des medizinischen Diskurses des 19. Jahrhunderts erscheint das physiologische Experiment als sichtbares Abbild einer inneren Lektüre von Körpern und Körperteilen durch den Physiologen, der seine Idee wie auch das modifizierte Präparat auf einer mentalen Bühne imaginär inszeniert und in der Versuchsanordnung figuriert. 1 Das Experiment wirkt „repräsentational aktiv”, 2 indem es das Wissen bildhaft verdichtet, verschärft und verbreitet in z.B. zeichnerischen Darstellungen und Körperbildern, die als Formen repräsentativer Abbilder des Denkens und Wissens Funktionen der Archivierung, des Verschiebens, Modifizierens sowie des Produzierens und Reproduzierens von Wissen übernehmen. Die Strategien der Physiologie, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts gerade erst als medizinische Teildisziplin von der Anatomie abzugrenzen sucht, offenbaren das dem Wissen heterogene Imaginäre, das Bilder des Denkens sowie Bilder eines anderen Körpers integriert mit dem Ziel, über die Erkenntnis bisher unbekannter stimmphysiologischer Prozesse die Grenzen eines dispersiven Subjekts und seines Körperbildes auszuloten. Nach einer ersten Darlegung maßgeblicher physiologischer Strategien dieser Zeit sowie eines „experimentum crucis” des bekannten Physiologen Johannes Müller wird im Folgenden das diskontinuierliche Erscheinen eines aus dem physiologischen Experiment hervorgegangenen akephalischen Körpers als gesellschaftlich wirksames Phantasma aufgezeigt. 3 1 Im Rahmen meiner Dissertation „Die Stimme des Körpers. Vokalität im Theater der Physiologie des 19. Jahrhunderts” an der Justus-Liebig-Universität in Giessen erörtere ich diese Aspekte in Bezug auf stimmphysiologische Experimente ausführlich. 2 Vgl. Michael Hagner, „Zwei Anmerkungen zur Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte”, in: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hgs.), Räume des Wissens: Repräsentation,Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 340. 3 Auf der Grundlage von Francis Bacons Definition bezeichnet das experimentum crucis den Scheideweg, der zumeist durch das Kreuz markiert, die Trennung unterschiedlicher Gedankengänge zwingend nach sich zieht. Kirchner's Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, bearbeitet von Carl Michaelis, Leipzig 1907, S. 198. Vgl. Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, Darmstadt 1981 (1830). <?page no="194"?> Petra Bolte-Picker 194 Strategien der Physiologie Nach Auguste Comte (1798-1857), der im Nachhall der Französischen Revolution bereits im Jahr 1822 für eine Umstrukturierung der Gesellschaft durch die Entwicklung und Positionierung eines wissenschaftlichen Geistes im gesellschaftlich-politischen Gefüge plädiert, 4 seien die Wissenschaften nach einem „enzyklopädischen Gesetz” hierarchisierbar. Ausgehend vom allgemein-abstrakten, logischen Verfahren in der Mathematik bis hin zu den subjektiv-konkreten Methoden der Astronomie, Physik, Biologie und Soziologie, existiere nach Comte eine weitere Wissenschaft, die auf Gewissheit beruhe und daher nach Comte als eine “positive Wissenschaft” bezeichnet werden dürfe: die Physiologie. 5 Als das „Studium des Menschen in seiner ganzen Ausdehnung”, deren Teilwissenschaft die „soziale Physik, d.h. das Studium der kollektiven Entwicklung des Menschengeschlechts” sei, 6 liege die Besonderheit der Physiologie in ihrer Methodik: der Analogie. Doch was sich bezüglich der enzyklopädischen Hierarchisierung als wertvoll erweist, ist mit Blick auf die wissenschaftsphilosophischen Hintergründe eher hinderlich. Die Wertschätzung der Physiologie gerät unter dem Einfluss des Vitalismus zunehmend in den Kreis der von Comte zu kritisierenden Disziplinen. Die von den Vitalisten behauptete qualitative Differenz zwischen normalen und pathologischen Phänomenen widerstrebt der von Comte anvisierten analogen Relationalität. 7 Es wird deutlich, dass sich an diese Differenzierung ein ethisches Problem anknüpft: ein Feld dichotomischer Wertevorstellungen öffnet sich, in dem Norm versus Anomalie, das Allgemeine versus das Einzigartige gedacht werden, konkretisiert im Körper und seinem Anderen. Georges Canguilhem verhandelt diese Problematik, indem er die Analogie der Physiologie um die Strategie der Integration erweitert: die Anomalie ist von nun an nicht mehr der Norm heterogen, sondern sie weicht lediglich von ihr ab und unterhält weiterhin ein Band zur Norm, das die Singularität des Individuums garantiert. Nach Canguilhem sei daher die Physiologie die „Wissenschaft von den stabilisierten Lebensäußerungen”, 8 die die nicht-normativen Werte einschließt, während die anatomische Dissectio das Aufzeigen von 4 Auguste Comte, Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973 (1822). 5 Comte definiert „positiv” als „le réel, par opposition au chimérique”; „ce terme fondamental indique le contraste de l'utile à l'oiseux”. Seine Funktion liege zudem„à qualifier l'opposition entre la certitude et l'indécision” und „à opposer le précis au vague”. Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus, 1979 (1844), S. 84-86. 6 Vgl. Comte 1973, S. 139-143. 7 Vgl. Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977, S. 29-30. 8 Canguilhem 1977, S. 138. <?page no="195"?> Theater der Physiologie 195 Analogie und Differenz nach Maßgabe von Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit ermöglicht. Damit offeriert der Organismus eine Dialektik von sichtbarer, organischer Oberfläche und innerer Differenz des Unsichtbaren, auf deren Grundlage der Physiologe von nun an die Architektur eines lebendigen Körpers deduzieren kann, ohne den Körper zerstückeln zu müssen. 9 Während jedoch der Anatom die körper-räumliche Anordnung auseinander nimmt, weiß der Physiologe auf Grund seiner (vitalistischen) Vergangenheit, dass sich das Leben und das Lebendige des Organismus eben nicht als zerstückelte Körpergeographie abspielt. Canguilhem sieht darin eine Strategie des Mimetischen: Nachahmen heißt hier nicht kopieren, sondern den Sinn einer Produktion wiederzufinden suchen. Die soziale Organisation ist vor allem Schaffung von Organen: von Organen der Ermittlung und Aufnahme von Informationen, der Berechnung und sogar der Entscheidung. 10 Der Schaffung eines sozialen Organismus über (körper-)mimetische Prozesse stellen sich Strategien an die Seite, die unmittelbar der physiologischen Praxis entstammen: v.a. Zerstückelung (bestimmte Körperteile bzw. Versuchsobjekte stehen symbolisch bzw. indexalisch für bestimmte Versuchsabläufe und Erkenntnisse); Abwesenheit (v.a. nicht-dargestellter, imaginärer Körperteile und Objekte); Verdichtung (Erkenntnisabläufe, Instrumente, Körper und Körperteile werden überzeitlich innerhalb eines Gesamtbildes räumlich konzentriert) und Vergrößerung. Bezeugt die Körper/ Teilung eines sezierten Leichnams nicht die imaginäre Inszenierung eines zweiten, anderen Körpers, der einen sozialen Organismus antizipiert? Welches Wissen ermöglicht die Körper/ Teilung gerade in Bezug auf Vokalität und ein durch die vokalen Experimente entworfenes Körperbild sowie dessen Verhältnis zum Natürlichen und Mechanischen? Die Schwierigkeit das Lebendige zu erfassen, bestehe nach Hermann Lotze 11 zunächst in der grundsätzlichen methodischen Unzulänglichkeit, die „Erscheinungen des Lebens [, die] sämmtlich entweder in Veränderungen und Bewegungen materieller Theile bestehen” zu abstrahieren und zu differenzieren in Kategorien der Kraft (physikalisch), des Mechanismus (technisch), des Organismus (medizinisch-physiologisch) und der Ideen der Natur (geistig-philosophisch). 9 Dem Organismus liegen mechanische Gesetze zugrunde, die die inneren Zusammenhänge in Abhängigkeit von dem äußerlich Sichtbaren imaginieren lassen. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 2000, S. 335-341. 10 Canguilhem 1977, S. 175. 11 Hermann Lotze, „Leben und Lebenskraft”, in: Rudolph Wagner (Hg.), Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, Braunschweig 1853 (1842), S. IX - LVIII. <?page no="196"?> Petra Bolte-Picker 196 Das Eigenthümliche der Natur wird [...] in den Benutzungsformen allgemeiner mechanischer Processe liegen; auf diese bezieht sich der hier näher zu erörternde Gegensatz zwischen Organismus und Mechanismus. Beide Worte drücken ursprünglich vollkommen das Nämliche aus; sei uns dies ein Vorzeichen für die gemeinsame Grundlage beider! 12 Ausgehend von der Identität von Organismus und Mechanismus auf der Grundlage allgemeiner mechanischer Prozesshaftigkeit bringt Lotze eine weitere Kategorie ins Gedankenspiel um die Existenz des Lebendigen: die grundlegende Fähigkeit zur Kombination, die je nach Ausrichtung das Natürliche vom Kulturellen selektiv unterscheidet: So hat schon früh der Begriff des Organischen die Zusammenfassungen physikalischer Processe bezeichnet, welche die Natur selbst zur Erreichung ihrer Zwecke benutzt, während das Mechanische die von der Cultur ersonnenen Combinationen bezeichnete. 13 Während demnach das Natürliche als Zusammenfassung des natürlich Gegebenen in den Grenzen von Leben und Tod betrachtet wird, erscheint das Mechanische aus dem differentiellen Denkraum der Kultur, dem das Natürliche sowohl heterogen als auch zugleich immanent erscheint. Das Mechanische im Grenzbereich des Natürlichen ist zugleich der Ort, in dem das „kunstmäßige Geschehen” stattfindet. Lotzes Auseinandersetzung mit dem Vitalismus im Feld der Medizin mündet hier unmittelbar in eine Theorie der Kunst, die das Mechanische behauptet und als Auswirkung einer von der Kultur bestimmten, prozesshaften Kombinatorik natürlicher, nicht zuletzt aus der physiologischen Beobachtung lebendiger Körper gewonnener Zeichen definiert. Wir werden organisch jede Combination physikalischer Processe nennen, die um eines Naturzwecks willen vorhanden ist, gleichviel ob sie belebt, oder unbelebt, ob sie einen beseelten oder seelenlosen Körper darstelle; mechanisch aber sowohl die Vorrichtungen der Kunst, als auch physikalische Processe, ehe sie noch in irgend eine künstliche oder organische Zusammensetzung eingegangen sind. 14 Das organische Zeichen ist nach Lotze ein aus natürlichen Prozessen kombiniertes Zeichen, wohingegen das mechanische Zeichen den differentiellen Charakter betont, den das singuläre Zeichen als Signifikant innerhalb des physiologischen Diskurses auszeichnen kann. Die Fähigkeit zur Kombination als nachträgliche „Organisierung” des mechanischen Zeichens, im Sinne einer nachträglichen Hinführung zum Organischen erscheint nunmehr nach Lotzes Definition im Bereich des Möglichen. Doch tritt das organische Zeichen nicht auch als Zeichen des Organs auf, das je nach Kombination bzw. Vereinzelung den Körper organisierbar, oberflächlich planbar und umstrukturierbar erscheinen lässt und damit ganz neue Maßstäbe für Körperbilder 12 Lotze 1853, S. XXI. 13 Lotze 1853, S. XXI. 14 Lotze 1853, S. XXI. <?page no="197"?> Theater der Physiologie 197 entwirft, deren organisches bzw. mechanisches Potential neu zu betrachten wäre? Die Definitionen des Organischen und Mechanischen aus dem physiologischen Geist bringen auf Grundlage von Selektion und Kombination diejenigen Antinomien ins Spiel, die den Körper als funktionierenden Organismus signifizieren sowie als einen anderen, heterogenen Körper imaginieren lassen. Dennoch sei der Organismus trotz aller Ähnlichkeit mit dem Mechanischen nicht nur Funktion und der Körper nach Lotze keine Maschine, denn das Maschinenhafte bestehe aus einer Nachahmung der im Mechanischen wirkenden Naturkräfte, die mittels Werkzeuge (Hebel, Schrauben, Stangen, Seile) eine ähnlich natürliche Wirkung zeigen sollen. Die Maschine kann die von einer höheren Macht gelenkten natürlichen Wirkungen nur in ihrer Künstlichkeit repräsentieren. Die maschinenhafte Wirkung ist daher ein sekundäres Phänomen, das für den physiologischen Geist nur vorläufig den Analogieschluss der Körper-Maschine zulässt: zwar präsentiere sich der Körper wie ein Uhrwerk, dennoch ist er nicht in der Lage, „sich selbst aufzuziehen”. 15 Der mit der Zeit verfallende Körper geht stets seiner Grenze entgegen: dem Tod. So wird der Körper von Lotze zwar als Hort der Lebenskraft gefeiert, ist aber zugleich Ursache seiner eigenen Vernichtung. Dieser Widersprüchlichkeit entgeht der Physiologe durch den Begriff der „Bewirkung”, die als Folge der Materialität des Körpers, seiner Substanz, eine Brücke herstellt zwischen Geist und Körper und damit die Temporalität des vergänglichen Körpers überwinden kann: Durch ein wirkliches Mittelglied, durch eine Maschinerie den Einfluß des Geistes auf den Körper und umgekehrt, erklären zu wollen, ist eben eine unrichtige Forderung; ihre Einheit und ihr Zusammenhang muß vielmehr aus dem begriffen werden, was ihnen bereits gemeinschaftlich zukommt, nämlich aus dem Begriffe der Substanz, und dem der Bewirkung, der sich auf diesen anwenden läßt. 16 Der kopflose Rest Die Physiologen des 19. Jahrhunderts führen eine Vielzahl an Experimenten am Vokalapparat durch. Namen wie Johannes Müller, Emil Harleß, Karl Friedrich Salomon Liskovius, Carl Ludwig Merkel u.a. formulieren einen Diskurs der Stimme, der sich mit den Funktionen und physischen Phänomenen des Vokaltrakts auseinandersetzt. Das Feld der Vokalität, das die Physiologie so experimentell abschreitet, scheint dabei prädestiniert, die aus der physiologischen Theorie gewonnene Brücke zwischen den Antinomien von Tod und Leben, Kunst und Natur, Organischem und Mechanischem zu schlagen. Es öffnet einen Bereich des Imaginären, innerhalb dessen sich 15 Vgl. Lotze 1853, S. XXXVI. 16 Lotze 1853, S. XL. <?page no="198"?> Petra Bolte-Picker 198 Körper und Organismus als hybride Körperbilder organisch-mechanischer Strategien denken lassen, wie am Beispiel eines bekannten Experiments des Physiologen Johannes Müller (1801-1858) gezeigt wird. 17 Johannes Müller interessiert sich insbesondere für die Spannungsverhältnisse der Stimmlippen in Bezug auf Tonhöhenveränderungen und den zugrunde liegenden physiologischen Abläufen, die er mittels zahlreicher Versuchsaufbauten nachzuvollziehen sucht. Auch wenn in Müllers Versuchen die Gegenschlagpfeifenfunktion des Kehlkopfs noch nicht berücksichtigt wird, 18 liefert er wichtige Erkenntnisse über die Stimmerzeugung und die Schwingungsbewegungen der Stimmlippen. Im Jahr 1839 bricht Johannes Müller seine lange Versuchsreihe jedoch ab - ein signifikanter Einschnitt im Denken des Physiologen, den Gottfried Koller als fundamentale Veränderung seines wissenschaftlichen Interesses von einer gesamtphysiologischen, an einer körperlichen Integrität orientierten philosophischen Fragestellung („Was tut ein Organ? Wozu ist ein Organ da? ”) hin zu einer an physikalischen und chemischen Ergebnissen orientierten Suche nach der mechanisch-technischen Funktionalität eines Organs („Wie arbeitet ein Organ? ”) diagnostiziert. 19 Mit dem Wandel des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses verändern sich auch Müllers experimentelle Praktiken, jedoch in umgekehrter Richtung von der technischen Apparatur zum konsequenten Einbeziehen physiologisch-organischer Komponenten, d.h. von Leichenteilen. So experimentiert Müller zunächst mit membranösen künstlichen Kehlköpfen und Zungenpfeifen, aber auch mit extirpierten Leichenkehlköpfen, die er in ein Kompressorium einbaut. Mit dieser halb technischen, halb physischen Konstruktion aus Metallrohren, Drähten und Gewichten und einem Leichenkehlkopf weist Müller nach, dass die Verstärkung des Zuges an den Stimmlippen eine Tonhöhenveränderung bedingt. Seine Versuche mit Leichenteilen gipfeln schließlich in der Versuchsanordnung, in die er einen gesamten Leichenkopf mit einem Teil der Luftröhre in eine metallische Schraub-Spann-Vorrichtung einzieht, die dem Zweck dient, die Bruststimme des Menschen allgemein, aber auch die individuelle Stimme des Toten nachzuahmen. 17 Johannes Müller ist seit 1833 Professor für Anatomie und Physiologie sowie Direktor des anatomischen Theaters und anatomischen-zoologischen Museums in Berlin. Aus seiner vielseitig ausgerichteten Forschung und Lehre entstammen so bedeutende Wissenschaftler wie z.B. Emil Du Bois-Reymond, Hermann von Helmholtz, Rudolf Virchow. 18 Die Beobachtung der schwingenden Stimmlippen am lebenden Subjekt durch eine stroboskopische Scheibe ermöglichte die Erkenntnis, dass die Abläufe im Kehlkopf nach Art der Gegenschlagpfeifen ablaufen, d.h. das tongebende Anblasen ist in zwei Richtungen möglich. Vgl. Hermann Gutzmann, Physiologie der Stimme und Sprache, Braunschweig 1909, S. 31. 19 Gottfried Koller, Das Leben des Johannes Müller (1801-1858). Stuttgart 1958, S. 136. <?page no="199"?> Theater der Physiologie 199 Der Kopf einer Leiche wird so abgeschnitten, daß der ganze Stimmapparat mit einem Theil der Luftröhre daran hängt. Die Halswirbel werden dann weggenommen, wie bei der Präparation des Schlundes, der Kehlkopf vorn bloss gelegt, der Schlund hinter den Cartilagines arytenoideae 20 geöffnet, diese Knorpel auf einer querdurchzogenen dicken Stecknadel fest und zusammengebunden, ganz so wie bei den ausgeschnittenen Kehlköpfen, die Schnur dieser Ligatur durch den Schlitz des Schlundes ausgeleitet, und der Schlund wieder fest zugenäht, und an seinem untern Ende unterbunden. Der Kopf mit dem Stimmapparat wird dann [...] aufgehängt, die hintere Wand des Stimmapparats wie gewöhnlich an den Pfeiler befestigt, und besonders die von den Cartilagines arytenoideae gebildete Wand durch die erwähnte Schnur befestigt. Nun wird der Schildknorpel bis zur Befestigungsstelle der Stimmbänder abgeschnitten [...]. Die Schleimhaut des Kehlkopfes darf hierbei nicht verletzt werden. Von dem Rest des Schildknorpels wird eine Schnur zur Spannung der Stimmbänder in horizontaler Richtung abgeführt und über die Rolle geleitet. [...] Das Compressorium wird [...] aufgestellt und die Gegend der Stimmbänder comprimiert. Weiteres lässt sich nicht angeben. 21 Die Nachahmung der menschlichen Stimme aus dem Totenkopf kommt nach Müllers eigenen Beschreibungen der Stimmqualität lebender Personen so nahe, dass die Grenze zwischen mechanischer Konstruktion und lebendigem Organ komplett verschwindet. Es lassen sich verschiedene Töne bilden und durch Manipulation der Mundöffnung werden sogar verschiedene Konsonanten geformt, so dass der Eindruck des Artikulierens entsteht. Der Klang der Stimme des Toten ist es also, der die mechanische Konstruktion zum Leben erweckt. Vokalität tritt hier post mortem als Symptom auf, der Klang der Stimme signifiziert ein Memoriam an das vormals Lebendige. Es ist eine fast körperlose Stimme, aus der das Subjektive verbannt wird, um dann als imaginärer Rest erneut zu erscheinen. Den Manipulateur der Leiche, Johannes Müller, stattet die so aus dem Leichenkopf erklingende Stimme mit göttlicher Allmacht aus, lähmt ihn, fasziniert ihn und hält ihn am lebenden Toten fest wie späteren Beschreibungen seiner Ehefrau sowie seiner Tochter zu entnehmen ist. 22 20 Cartilagines arytaenoideae sind die sogenannten Stellknorpel, pyramidenartige Knorpel, die an der Bewegung der Stimmbänder beteiligt sind. 21 Johannes Müller, Über die Compensation der physischen Kräfte am menschlichen Stimmorgan, Berlin 1839. S. 33-34. Die Faszination, die von Müllers Experimenten mit Leichenteilen ausgeht, hat bis heute nichts von ihrer Wirkung eingebüßt und wird im kulturwissenschaftlichen Diskurs überwiegend in medienhistorischen Kontexten verortet. Vgl. z.B. Brigitte Felderer (Hrsg.), Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004. 22 „Diese Versuche am herauspräparierten menschlichen Kehlkopf hat Johannes Müller in seiner Wohnung durchgeführt. Seine Frau, die ja sehr musikalisch war, musste ihm dabei helfen. Hierüber berichtet Müllers Tochter Marie: 'Als der Vater für seine Abhandlung über das menschliche Stimmorgan im Jahre 39 seine Untersuchungen machte und zu diesem Zwecke auf dem wirklichen Kehlkopf eines Menschen blies, wobei durch gewisse Verrichtungen hohe und tiefe Töne hervorgebracht wurden, war die Mutter sein Gehülfe gewesen, die neben ihm sitzend, auf dem Klavier ihm diese Töne <?page no="200"?> Petra Bolte-Picker 200 Dieses Experiment am Leichenschädel kann als experimentum crucis aufgefasst werden, das ein maßgebliches Charakteristikum der physiologischen Experimente dieser Zeit aufzeigt: die Abtrennung eines Körperteils, das im Experiment wiederbelebt eine Erkenntnis über die physiologischen Vorgänge liefert. Der Schnitt des Skalpells, seine Geste, hinterlässt einen körperlichen Rest bestehend aus Torso und Gliedmaßen, der hinter dem Erkenntnisgewinn des Experiments zurückbleibt und als körperlicher Rest verfällt. Verweist das Imaginäre der Stimme des toten Körperteils nicht zugleich auf jenen imaginären Körperrest, der im Stande ist, sich im heterogenen Raum des Experiments zu einem imaginären Körperbild nach Maßgabe des von Lotze definierten Organisch-Mechanischen zu verdichten? Françoise Dolto hat die Funktion des Körperbilds im Gegensatz zum Körperschema 23 analysiert als die Vermittlung der psychischen Instanzen in allegorischen Repräsentationen, die das Subjekt liefert. Das Körperbild wird strukturiert durch das Begehren des Subjekts und gewinnt an Konturen durch die Prozesse des analytischen Dialogs. 24 In diesem Sinne, nicht zuletzt durch die allegorische Repräsentation des zerstückelten Körpers im Experiment, seinen Beschreibungen und zeichnerischen Darstellungen, spricht das Experiment immer auch von einem Körperbild, das auf das (wissenschaftliche) Subjekt verweist. Der Körper, den das Skalpell zerschnitt, ist die physische Repräsentation dessen, was Jacques Lacan als zerstückelten Körper („corps morcelé”) bezeichnet hat. 25 So zerstückelt bezeichnet er ein körperliches Imaginäres, das sich in Anbetracht des idealen, im Spiegelbild als Einheit wahrgenommenen Körpers als Mangel, da motorisch unzulänglich, erweist und zugleich die Identifizierung mit dem idealen Ganzen des Spiegel-Ichs ermöglicht. Im Folgenden bleibt er als wiederkehrendes Phantasma, das unaufhörlich die sichere Einheit des Subjekts bedroht, erhalten. Dieses Phantasma kehrt diskontinuierlich zurück in Gestalt von Bildern, Träumen und Vorstellungen, die den Körper deformiert, amputiert, zergliedert erscheinen lassen und somit die phantasmatische Anatomie eines anderen Körpers konstituieren, der z.B. in der Hysterie das Symptom bedingt. 26 Das Skalpell trennt an der Halslinie entlang den Kopf vom Körper. Der Kopf, der im Experiment und seinen allegorischen Repräsentationen konaufsuchte mit ihrem feinen Gehör und mit unendlicher Geduld. Sehr oft erst weit nach Mitternacht dachte der Vater an das Aufhören”. Koller 1958, S. 135. 23 Das Körperschema bezeichnet den fleischlichen Körper, der in Kontakt zur sozialen Umwelt tritt. 24 Françoise Dolto, Das unbewußte Bild des Körpers, Weinheim und Berlin, 1987. 25 Jacques Lacan, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion”, in: Ders., Schriften 1, Weinheim und Berlin 1991, S. 61-70. Der Begriff des „corps morcelé” entstammt den Forschungen von Melanie Klein (1882-1960). 26 Jacques Lacan, „La dissolution imaginaire”, in: Ders., Le Séminaire III, Les Psychoses 1955-56, Paris 1981, S. 103-116. <?page no="201"?> Theater der Physiologie 201 serviert wird, hinterlässt einen imaginären Rest: den kopflosen Körper, Akephalos - Typus des Kopflosen. Diskurs des Akephalos Die Begriffe „Akephalos, akephal” öffnen einen komplexen mythologischen, literarischen, ethnologischen, theologischen, juristischen und politischen Diskurs, der das Phantasma des Kopflosen immer wieder neu aktualisiert. Akephalos bezeichnet zunächst einen Körper ohne Kopf, der trotz fehlenden Vokalapparats seine Sprache nicht zwangsläufig verloren haben muss. Bereits Herodot und Plinius 27 nennen eine Vielzahl verschiedener Fabelwesen, 28 denen anatomisch gesehen der Kopf fehlt, „Akephali”. Die Mythologie versieht die Akephali je nach ihrer Gestalt mit unterschiedlichen Namen und lokalisiert sie an unterschiedlichen Orten. Häufig finden sich Andeutungen eines Gesichts auf dem Bauch, aber auch auf dem Rücken. Die Gestalt ihres Torso variiert und kann z.B. Nasenlöcher oder hufeisenförmige Mundöffnungen und sogar Körperbehaarung aufweisen. Diese Fabelwesen werden nicht allein dem Bereich der Legende zugeschrieben, immer wieder gibt es Aussagen, die belegen sollen, dass diese Körperveränderungen natürliche, z.B. klimatische Ursachen haben. Zuweilen bezeichnen die Akephali unterschiedliche mythologische Figurentypen, z.B. der Akephal als der falsche Advokat, der zum Prozessieren rät und sich zu hoch bezahlen lässt, aber auch Allegorien, z.B. die Demut, das Laster. Darüber hinaus sind Akephali als kopflose dämonische Wiedergänger in fast allen Kulturkreisen bekannt: 29 Die Ethnologie kennt „akephalische Stämme”, die Gesellschaftsstrukturen ohne Oberhaupt ausbilden, während die Kirchengeschichte mit den „Akephali” die streng monophysitische Opposition verschiedener Häretiker meint, die dem kirchlichen Dogma des göttlichen Logos widersprachen. 30 Zusammenfassend typisiert gehören sie zur Gruppe 27 Vgl. Salome Zajadacz-Hastenrath: „Fabelwesen”, in: Otto Schmitt (Hsg), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd, VI, München 1978. 28 Fabelwesen seien „Arten von Menschen, Tieren oder Mischwesen aus beiden [...], die für existent gehalten wurden (aber in Wirklichkeit nicht existierten) und deren fremdartige Gestalt und Eigenschaften in literarischen Zeugnissen beschrieben und in bildlichen Darstellungen veranschaulicht sind”. Schmitt, 1978, Sp. 739-740. Die Abbildbarkeit des durch den Schnitt abgetrennten Körperrests hängt davon ab, ob ihm als Akephalos eine wirksame Bedeutung zugesprochen wird. Vgl. Karl Preisendanz, Akephalos, der kopflose Gott, Leipzig 1926. 29 Vgl. Leander Petzold, Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München 1990; Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006, S. 258. 30 Vgl. Wolfgang Beinert (Hg.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg im Breisgau 1991. <?page no="202"?> Petra Bolte-Picker 202 der sogenannten „Monstra”, denen im tieferen Sinne moralisierende Wirkung zugesprochen wird. 31 Im 19. Jahrhundert ist zudem der Akephalos als medizinischer Terminus geläufig: „Akephalia” 32 bezeichnen in der pathologischen Anatomie eine Gattung körperlicher Missbildungen, denen der Kopf bzw. Schädelteile fehlen und die daher nicht lebensfähig sind. Mit dieser Bezeichnung bezieht die pathologische Anatomie den Akephalos nicht auf das Körperbild, sondern vielmehr auf die unmittelbaren Körperfunktionen, die Teil des Körperschemas nach Dolto sind. Im Gegensatz dazu aktualisiert die Geste des Zerschneidens und Zerstückelns, die das Skalpell in der Hand desjenigen durchführt, der den Leichnam für das physiologische Vokalexperiment vorbereitet, das ewige Phantasma des Akephalos. Die Trennung des Hauptes vom Körper kommt hier einer Somatisierung nach den Prozessen der „Bewirkung” (Lotze) gleich und führt sie gleichsam hin in das Feld des Politischen. Erscheint die Geste im Kontext des Experiments als bloßer praktischer Vollzug eines fortschreitenden, wissenschaftlichen Denkens, gewinnt sie im Feld des Imaginären, das anwesende wie abwesende Körperphantasmen integriert, an öffentlicher Wirksamkeit. Sie reproduziert die „Logik der Guillotine” nach Daniel Arasse, 33 die eine würdevolle Hinrichtung „face en face” 34 verhindert und den „body politic” als „body natural” profanisiert, so wie es die Hinrichtung Louis XVI am 21. Januar 1793 paradigmatisch vorexerzierte. Das Schafott, so Arasse, werde zum „Ort eines einzigartigen Zusammentreffens”: Hier begegnen sich der individuelle Körper des Schuldigen und der fiktive Körper der Nation. Demaskiert und guillotiniert „gibt 31 Vgl. zur Allegoriefunktion der Akephali Hannes Kästner, „Kosmographisches Weltbild und sakrale Bildwelt”, in: Katrin Kröll, Hugo Steger (Hrsg.), Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, Freiburg im Breisgau 1994, S. 215-237. Hinzugefügt werden muss die Bedeutung des Akephalischen im literarischen Feld: ein Werk, dessen Anfang nicht oder nicht vollständig erhalten ist, aber auch bestimmte Verse der antiken Metrik, denen die erste Silbe fehlt, werden als „akephal” bezeichnet. 32 Acephalia im medizinischen Kontext bezeichnen eine „Gattung von Mißgeburten aus der Classe der mangelhaften Ausbildung. Das Wesen derselben ist unvollkommene Entwicklung der obern Körperhälfte und vorzüglich des Kopfes. Man unterscheidet wahre und falsche Kopflosigkeit. Bei der letztern fehlt wesentlich nur der obere Theil des Schädels, weshalb für sie auch der Name Hemicephalia zweckmäßiger [...].; bei der erstern fehlt, wenigstens äußerlich sehr allgemein jede Spur eines Kopfes, wenn er gleich durch seröse Bälge im Innern und durch Haare äusserlich, mehr oder weniger vollkommen angedeutet ist”. J.S. Ersch und J.G. Gruber (Hgs.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Leipzig, Nachdruck der 1818-1889 erschienene Ausgabe. 33 Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek bei Hamburg 1988. 34 Arasse 1988, S. 10. <?page no="203"?> Theater der Physiologie 203 sich der Schuldige als einer der zahlreichen Parasiten zu erkennen, deren Entfernung den politischen und sozialen Körper gesunden läßt.” 35 Andererseits aktualisiert der blutige Spalt, den die Guillotine in Gestalt des Skalpells hinterlässt, immer wieder das Phantasma des Akephalos als Wiedergänger wie die phantasievollen Berichte über Körper bezeugen, in denen Beine und Torsi als lebendiger Rest auch nach der öffentlichen Enthauptung flüchten (aber nicht sehr weit kommen). 36 Die Phantasmen des Akephalos sowie des guillotinierten Kopfes werden im Kontext der Französischen Revolution zum Bild politischer Machtverhältnisse und ihrer revolutionären Umstrukturierungen: der Kopf als allegorische Repräsentation des Absolutismus, personifiziert im zweiten Körper des Monarchen („Le Roy”) 37 und der von ihm getrennte Körper (Torso, Gliedmaßen), der als physiologischer Rest den sozialen Volkskörper signifiziert und dessen revolutionäres Begehren den Schnitt der Guillotine politisch legitimiert. Obwohl Auguste Comte in seiner positiven Gesellschaftsutopie mit dem Imaginären der Französischen Revolution abrechnet, 38 greift auch er auf das Phantasma des zerstückelten Körpers des Akephalos zurück, wenn er im Umkehrschluss schreibt: Da die kollektive Betätigung des sozialen Körpers nur die Resultierende der individuellen Betätigungen aller ihrer Glieder ist, die auf einen gemeinsamen Zweck gerichtet sind, so kann sie offenbar nicht von anderer Natur sein als ihre Elemente, welche ihrerseits natürlich durch den mehr oder weniger vorgeschrittenen Zustand der Wissenschaften, der Künste und der Industrie bestimmt werden. 39 Comte wird in seinen Schriften die Metapher des „sozialen Körpers” ausgehend vom Phantasma des Akephalos variieren. Dennoch setzt er als eine grundlegende Annahme die Strategien des Organisch-Mechanischen wie sie Lotze aufgreifen und präzisieren wird, voraus. Diese Strategien ermöglichen eine nachträgliche „Organisierung” des sozialen Körpers zu einem Volkskörper sowohl im Sinne des Verwaltens und Strukturierens wie auch im Sinne des Organisch-Werdens. Das Phantasma des Akephalos übernimmt demnach im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses des 19. Jahrhunderts soziale und politische Funktionen, die gleichsam diskontinuierlich persistierend weitere Diskurse vorantreiben. 35 Arasse 1988, S. 103. 36 Nach Arasse bringt die Guillotine die Frage hervor, wo der Tod und mit ihm das entschwindende Leben und das Bewußtsein, körperlich lokalisiert sei - im Kopf oder der körperlichen Restgestalt. So gibt es Berichte, die bezeugen, dass Maria Stuarts Kopf noch sprechen konnte nach der Enthauptung. Vgl., Arasse, 1988, S. 52-55. 37 Vgl. Jean-Marie Apostolidès, Le roi-machine, Paris: 1981. 38 „Es ist im vorigen Kapitel bemerkt worden, daß die kritische Lehre in den meisten Köpfen die Gewohnheit hervorgerufen und mehr und mehr befestigt hat, daß jeder einzelne sich als oberster Richter über die allgemeinen politischen Gedanken fühlt. Dieser anarchische Zustand der Geister ist, wenn er als Grundprinzip aufgefaßt wird, ein offenbares Hindernis für die Reorganisation der Gesellschaft”. Comte 1973, S. 68. 39 Comte 1973, S. 88. <?page no="204"?> Petra Bolte-Picker 204 Bataille verstummt Nach Auflösung der politischen, sich gegen die nationalsozialistischen Werte und Bilder stellenden „Vereinigung zum Kampf der revolutionären Intellektuellen” namens „Contre-Attaque” 40 wird im April 1936 von Georges Bataille u.a. 41 die Geheimgesellschaft politisch links orientierter Intellektueller „Acéphale” gegründet, mit einer gleichnamigen Zeitschrift, die sie repräsentieren und ihr theoretisches Programm reflektieren soll. Acéphale verfolgt religiöse Motive, die zugleich eine Hybridisierung mit politischen Ideen anstrebt, um daraus neue soziale Verknüpfungen zu ermöglichen. Unter Bezugnahme auf den Mythos von Akephalos (und mit ihm Dionysos als Sinnbild der unproduktiven Verausgabung) sollen neue „Lebensregeln und Rituale” etabliert werden, um so den faschistischen Strömungen einen sozialen Gegenentwurf zunächst in der geheimen Gruppe, dann im großen Körper der sozialen Gemeinschaft entgegen zu stellen. Schlagworte wie Selbstverlust, Selbstopfer, Todesfreude gelten den akephalisch Verbündeten als neue Kategorien, um eine Art von „religiös-magischem Zusammenhalt zu stiften und das Sakrale in actu in ihren ab November 1936 statt findenden Versammlungen zu erkunden”. 42 Die Zeitschrift „Acéphale” erscheint in fünf Ausgaben von Juni 1936 bis Juni 1939, also zeitlich parallel zur Formation des Collège de Sociologie durch Georges Bataille, Roger Caillois u.a. im März 1937. Exemplarisch wird im Folgenden die Zeichnung auf der Titelseite der ersten Ausgabe von „Acéphale” von André Masson in kurzen Ansätzen analysiert. 43 Im Gegensatz zum Fabelwesen des Akephalos (v.a. in Darstellungen des 15. und 17. Jahrhunderts) fehlt dem Acéphale Massons jegliche Facies. Stattdessen taucht ein Schädel ohne Unterkiefer an der Stelle des Geschlechts auf. Die Zeichnung des kopflosen Körpers deutet seine muskuläre Stärke an, die proportional großen Füße stehen auf dem soliden, ebenen Boden; die Arme seitwärts parallel ausgestreckt, in den Händen eine brennende Flamme und ein Eisendolch, dessen gen Himmel ragende Spitze die für den Halsschnitt 40 Contre-Attaque (April 1935-ca. April 1936) ist die Pariser Widerstandsgruppe gegen den Faschismus mit Georges Bataille, André Breton, Péret, Georges Gillet, Jean Dautry, Adolphe Acker, Jacques Lacan u.a. insgesamt siebzig Personen. Die Gruppe nutzte den vom Körper abgetrennten Kopf als Emblem (abgetrennter Kalbskopf), z.B. auf einer Einladungskarte zu einer Veranstaltung am 21. Januar 1936, dem Jahrestag der Enthauptung von Louis XVI. Es geht Bataille bei Contre-Attaque um die Schaffung einer Schöpfergemeinschaft, die neue Werte zur Verfügung stellt, die den kollektiven Zusammenhalt garantieren und an die Stelle faschistischer Blut-Boden-Gemeinschaften die vital-organische Vereinigung setzen. Vgl. Moebius 2006, S. 239-253. 41 Bataille gründet Acéphale zusammen mit Pierre Klossowski, Patrick Waldberg, Georges Ambrosino. 42 Vgl. Moebius 2006, S. 254. 43 Acéphale. Religion, Sociologie, Philosophie. Ed. Jean Michel Place, Paris 1995. dort: Titelblatt Heft 1 (24. Juni 1936). <?page no="205"?> Theater der Physiologie 205 nötige Schärfe des Skalpells wie auch der Guillotine assoziieren lässt. Die Brustwarzen sind mit Sternen bedeckt, das Körperzentrum in Nabelhöhe geöffnet, so dass die Darmschlingen im Inneren sichtbar werden. In dieser Zeichnung des Acéphale bleibt der Kopflose gesichtslos, damit namenlos, nicht identifizierbar. Allein seine körperliche Haltung spricht von der Möglichkeit einer allegorischen Identität der Stärke, des Willens und der Kraft. Ohne Facies sowie ohne Unterkiefer bietet sich ihm keine Möglichkeit der Rede, im Sinne des Saussureschen individuellen Sprechakts („parole”). Vielmehr deutet sich über die Anordnung der Zeichen auf dem Körper des Kopflosen (die Sterne, der Schädel, der Blick ins innere Labyrinth der Eingeweide, Feuer und Eisen) eine „langage” des Körpers an, die eine andere Dialogizität verspricht. Denn im Gegensatz zu vorgängigen Gruppierungen (z.B. dem „cercle communiste démocratique” 44 ) geht es im Geheimbund der Kopflosen nicht um die Analyse politischer Ereignisse und Theorien, sondern um eine kritische, politische Praxis, die die Mitglieder der Geheimgesellschaft in eine am Programm orientierte, inszenierte Dialogizität aus rituellen Handlungen, Orten und Texten integriert, wie das Initiationsritual für Mitglieder und das Reglement der Zusammenkünfte zeigen: 45 Unter anderem sieht das Reglement vor, niemanden wieder zu erkennen, mit niemandem zu sprechen und einen Platz im Abstand zu den Anderen einzunehmen. 46 Dieser Verneinung des Erkennens und Wiedererkennens von Identität im Dialog mit sich und den anderen sowie die Deplatzierung des Subjekts sollen das Schwert des revolutionären Geistes zur Verbindung einer neuen sozialen Ordnung, einem „akephalen Universum” werden lassen, das im Stande ist, sich gegen die monocephale Gesellschaftsform des Faschismus aufzurichten. 47 Zugleich stellt die im Reglement geforderte Sprachlosigkeit sowie die Verschiebung der Position des Einzelnen in das Außerhalb des Gegenübers die potentielle Identifizierung des Subjekts mit dem vom politischen Diskurs vorgegebenen Körper (dem monocephalen Kopf-Körper des Faschismus) in Frage. Denn mit Jacques Lacan sind die Identifizierungsprozesse des Ideal-Ichs geprägt vom Versprechen synthetischer Einheit und immer auch begleitet von vokaler Äußerung, d.h. einer jubilatorischen Stimm- und Körpergeste in der Spiegelphase. An die Stelle der vorsprachlichen, jubelnden Lautäußerung als Ausdruck einer Dynamik der Anerkennung und Verkennung des Anderen tritt bei Bataille das Negativum des 44 Der cercle communiste démocratique ist ein um 1930 gegründeter, marxistisch orientierter Kreis um Boris Souvarine (1895-1984), dem französischen Aktivisten und Stalin- Biographen. 45 Vgl. Georges Bataille, L’Apprenti Sorcier. Du Cercle Communiste Démocratique à Acéphale. Textes, lettres et documents (1932-1939), Paris 1999. 46 „Ne reconnaître personne, ne parler à personne et prendre une place à l'écart des autres”. Bataille 1999, S. 359. 47 In seiner Zeitschrift „Acéphale”, Heft 1 bezeichnet Bataille den Faschismus als monocephale Gesellschaftsform. Vgl. Acéphale H.1 (24. Juni 1936), S. 18. <?page no="206"?> Petra Bolte-Picker 206 Schweigens, das im Bewusstsein der Auslassung von Stimme und Sprache gerade erst Identifikationsprozesse mit einem anderen als dem von der monocephalen Gesellschaft vorgeschlagenen politischen Körper ermöglichen soll als ein Bündnis mit dem akephalen Körper des Widerstands. Doch kann dieser andere Prozess nicht jene Ängste verhindern, die den weiteren Wahrnehmungsprozessen des mangelnden, zerstückelten Körpers zukommen. Bataille integriert diese Ängste in seiner Beschreibung des phantasmatischen Acéphale, so wie er von Masson gezeichnet worden ist: L' homme a échappé à sa tête comme le condamné à la prison. Il a trouvé au delá de lui-même non Dieu qui est la prohibition du crime, mais un être qui ignore la prohibition. Au delà de ce que je suis, je rencontre un être qui me fait rire parce qu'il est sans tête, qui m'emplit d'angoisse parce qu'il est fait d'innocence et de crime: il tient une arme de fer dans sa main gauche, des flammes semblables à un sacré-cœur dans sa main droite. Il réunit dans une même éruption la Naissance et la Mort. Il n'est pas un homme. Il n'est pas non plus un dieu. Il n'est pas moi mais il est plus moi que moi: son ventre est le dédale dans lequel il s'est égaré luimême, m'égare avec lui et dans lequel je me retrouve étant lui, c'est-à-dire monstre. 48 Batailles Beschreibung des Selbst im Anderen als Monstrum spezifiziert das Verhältnis des in Massons Zeichnung konservierten Körperbildes zu seinen Ursprüngen: Die physiologischen Stimmexperimente des 19. Jahrhunderts aktualisieren die diskontinuierliche Persistenz phantasmatischer Körperbilder, die sich im Bild des Akephalos verdichten und beschreiben lassen. Es handelt sich um Zerstückelungsphantasien, die auf die Phasen der Subjektkonstitution (Lacans Spiegelstadium) verweisen. Körperbilder werden durch Verdichtung und Verschiebung von Körperteilen zu Körperphantasmen kombiniert. Einzelne Körperteile tauchen an anderen Positionen wieder auf (der Mund auf dem Bauch, der Schädel vor dem Genital, die Stimme im Organ). Der so konstituierte Körperdiskurs kann, wie am Beispiel von Batailles „Acéphale” gezeigt wurde, politisch besetzt werden, da mit ihm zugleich ein sozialer Körper verhandelt wird. Vokalität, Dialogizität und anatomische Körper (ihre Zerstückelungen, Teilungen, Verdichtungen und Vergrößerungen) im Kontext der Episteme des wissenschaftlichen Experiments lassen sich unmittelbar an politische Diskurse anbinden. In diesem Sinne zeigt sich im 19. Jahrhundert ein Theater der Physiologie als ein Theater der aus den Stimmen der Leichenteile geborenen Körperphantasmen, die das Experiment und seine Darstellungen einführen in eine Dynamik repräsentativer und anti-repräsentativer (Bild-) Strategien. 49 48 Georges Bataille, „La conjuration sacrée”, in: Acéphale, H. 1 (24. Juni 1936), o.S. 49 Mit Anti-Repräsentation „ist gemeint, dass Repräsentation, der diese Bildgattungen ihre Entstehung verdankten und in der ihr gesellschaftlicher Sinn kulminierte, im gleichen Medium kritisiert und durch Gegenentwürfe entkräftet wurde”. Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hrgs.), Quels corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 31. <?page no="207"?> Leif Murawski Prothetische Körper Konzepte der Körperlichkeit im symbolistischen und postsymbolistischen russischen Theater Symbolistisches Denken und seine Umsetzung im Drama In den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Russland der Symbolismus als erste modernistische Strömung in Abgrenzung vom Realismus und dem vorherrschenden positivistischen Denken. Im Rückgriff auf den französischen Symbolismus, besonders aber auf die deutsche Romantik entstand durch die Dichter und Dichterinnen dieser Strömung eine neue Blüte der russischen Lyrik, die unter der Bezeichnung des „Silbernen Zeitalters” auch an Traditionen des „Goldenen Zeitalters” (Puškin, Lermontov, Boratynskij u.a.) anknüpfte. Der russische Symbolismus beruht in seinem philosophischen Denken auf dem Konzept des inoj mir, einer wirklicheren Wirklichkeit, die sich als „andere Welt” hinter der sichtbaren Welt verbirgt, die aber auch durch diese sichtbare Welt hindurch wirkt. Die uns umgebende sinnlich erfahrbare Wirklichkeit ist in demselben Sinne eine paradoxe für den Symbolismus wie für die Denker des Neoplatonismus: Durch sie wird das Absolute erfahrbar, etwa in der Naturbetrachtung, zugleich verstellt sie den Blick auf das Eigentliche und Heilige. 1 Die symbolistischen Poeten betrachteten es als ihre Aufgabe, zwischen der profanen Welt und dem inoj mir zu vermitteln. Das auf der Ideenlehre Platons und dem Neoplatonismus gründende Weltbild und künstlerische Selbstverständnis erhebt den Künstler zum alter deus, dessen vornehmliche Aufgabe im žiznetvorčestvo, dem „Lebenschaffen”, besteht. 2 Das žiznetvorčestvo richtet sich als künstlerisches Programm gleichermaßen auf die Vermittlung einer Teilhabe am inoj mir auf der Rezipientenseite, auf die Schaffung künstlerischer Welten, die sich auf die profane Welt auswirken sollen, wie auch auf die dekadent verstandene Selbstinszenierung 1 Vgl. hierzu die Darstellung des zwiespältigen Verständnisses zur Materialität in Plotins Philosophie in: Susanne Möbuß, Plotin. Eine Einführung, Wiesbaden o.J [2005], S. 70-72. 2 [Der symbolistische Lebensschöpfer] ist ein Häretiker, der den Platz Gottes usurpiert (Dekadenz [So bezeichnet Schahadat in Anlehnung an Hansen-Löve die erste Generation der russischen Symbolisten, L.M.]) oder aber als dessen Stellvertreter aktiv wird (Symbolismus [d.i. die zweite Generation russischer Symbolisten, L.M.]). Schamma Schahadat, Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 2004, S. 33. <?page no="208"?> Leif Murawski 208 der Dichter und Dichterinnen im Sinne des dandyism. Es handelt sich um eine umfassende Theatralisierung des Lebens, bei der die Vorgestelltheit, die Ausstellung des profanen Lebens und ihrer künstlerischen Gegenentwürfe stets geprägt sind von einer kritischen Haltung gegenüber der so gestalteten Wirklichkeit. Die Welt bleibt das schwache Abbild, die prothetische Verbindung zum inoj mir, die erspürbarer Zugang und verstellendes Hindernis zugleich für die Schau der höheren Wirklichkeit ist. Das Theater ist die Kunstform, die den Forderungen des russischen Symbolismus nach synästhetischer Erfahrung und der Durchdringung und Anverwandlung der Künste von sich aus am nächsten kommt. Dennoch findet das dramatische Schaffen der Symbolisten in der Forschung bisher sehr viel weniger Beachtung als die Lyrik. Dabei bieten gerade die dramatischen Werke der Symbolisten und die avantgardistischen Theaterkonzeptionen, die im Umkreis des Symbolismus und im Anschluss an ihn entstanden, einen Forschungsbereich, der zum Verständnis der europäischen Moderne einen wichtigen Beitrag liefern kann. Die Beschäftigung mit dem Theater führte die Künstler des russischen Symbolismus zur Frage nach dem Körperlichen, denn die Skepsis gegenüber der materiellen Wirklichkeit wurde nun auch auf den Körper des Schauspielers auf der Bühne bezogen. In der Auseinandersetzung mit dem Theater und der Theatralisierung des Lebens entwickelte sich eine Auffassung von der Leiblichkeit, die für den Einsatz von menschlichen Körpern auf der Bühne erhebliche Konsequenzen hatte. Der Körper erschien nicht als Ebenbild Gottes oder selbstverständliche Erscheinungs- und Ausdrucksform des Menschen, sondern als fragwürdiges Instrument des Seelischen. 3 Der Körper ist im symbolistischen Denken ein zwiespältiges Instrument, das zwischen der Welt des Absoluten und dem Ich vermittelt, zugleich aber auf die metaphysische Bedürftigkeit und Behinderung des Menschen hinweist. Darin gleicht er einer Prothese, die eine Einschränkung ausgleicht und etwas Defizitäres notdürftig ergänzt, obwohl ihre Künstlichkeit gerade auf den ihr zugrunde liegenden Defekt hinweist. Der Körper ist in diesem Denken die Mittelbarkeit, die erst Unmittelbarkeit erfahrbar macht. Die Schriftsteller des Symbolismus in Russland haben eine Vielzahl theoretischer Schriften hinterlassen, in denen sie ihre künstlerische Programmatik begründen und darstellen. Den Begriff der Prothese haben sie selbst meines Wissens in diesem Zusammenhang jedoch nicht benutzt. So stellt der Gedanke des Prothetischen hier also ein Modell dar, das ich an die Poetik der Leiblichkeit im russischen Symbolismus herantrage. 3 Die Problematik des Körpers auf der Bühne, der sich an der Unterscheidung von Körper (den man hat) und Leib (der man ist) festmachen lässt, führt zu der Frage hin, die sich in der Opposition von Rolle sein (Ideal der Natürlichkeit) und Rollehaben (Ideal der Künstlichkeit) zeigt. Vgl. Schahadat 2004, S. 53-54, wo der Diskurs zu Authentizität und Künstlichkeit näher behandelt wird. <?page no="209"?> Prothetische Körper 209 Während im ganzheitlichen Denken des neunzehnten Jahrhunderts der Körper noch unmittelbar zum Menschen und seiner psychosomatischen Existenz gehört, ist nun im Symbolismus nur das Psychische als unmittelbare Sphäre der Identität erfahrbar, und es findet eine Entfremdung vom Leiblichen statt, die den Körper eher zur äußeren Umwelt, als zur Ich-Identität gehörig erscheinen lässt. Auf der anderen Seite steht der inoj mir, die andere Welt des Absoluten und Göttlichen als wahre Existenz. Zwischen diesen beiden Polen des Wirklichen kann nur der Körper als prothetisches Verbindungsstück vermitteln, wenn es nicht zu peak experiences, epiphanischen Augenblicken kommt, die den Menschen wie von Gottes Gnaden das Handicap des Materiellen überwinden lassen. Das symbolistische Theater in Russland entwickelte sich ab dem frühen 20. Jahrhundert vor allem in Abgrenzung von der Tradition des konventionellen Theaters der Epoche des Realismus. Auf der Suche nach Ausdrucksformen, die eine Illusion von Realität auf der Bühne verhindern und den philosophisch-ästhetischen Innovationen der symbolistischen Lyrik und Prosa entsprechen sollten, waren es vor allem drei Einflussgrößen, die diese neue Form von Theater bestimmen sollten: Zunächst das französischsprachige symbolistische Theater, wobei besonders Maurice Maeterlinck mit seinen reduziert-stilisierten Dramen und modernen Mysterienspielen großen Einfluss ausübte. Dann die Rhythmus- und Bewegungslehre des Fürsten Sergej M. Volkonskij, der in Anlehnung an die westeuropäische Tanzpädagogik neue Konzepte des Schauspiels entwickelte. 4 Und schließlich der Rückgriff auf Traditionen volkstümlicher Theaterformen wie der Jahrmarktsattraktion und des ursprünglich religiösen Puppentheaters, des vertep, in der Art des in ganz Europa verbreiteten Krippenspiels. Als Mittel der Abstraktion und Verfremdung wurde häufig die Reduktion der Figuren auf Typen gewählt. Die Abstraktion stellt dabei ein künstlerisches Gegenprogramm zum Realismus dar; sie ist aber zugleich Ausdruck des Willens zur Überwindung der Gebundenheit an die irdische Welt. In den allegorischen Figuren wird die höhere Wirklichkeit des inoj mir über die Kategorien des Materiellen hinweg repräsentiert. Dies geschieht beispielsweise in Konstantin D. Bal’monts (1867-1942) Drama „Tri rascveta” (Drei Blüten) von 1905, in dem allegorische Figuren Blüten und Farben darstellen. Vor dem Hintergrund dieses Personals findet eine Liebesgeschichte in drei variierenden Szenen statt. Ein Poet und Helena vollziehen in diesen Bildern verschiedene Annäherungsversuche, bis sie im letzten Bild durch die Macht der Kunst zueinander finden. Nicht unbegründet bezeichnet Bal’mont die Szenen als kartiny (Bilder) und entspricht so dem symbolistischen Bestreben nach einer Durchdringung der Künste. Die Szenen des Dramas versteht 4 Besondere Bedeutung hatte für die von Volkonskij entwickelte Schauspielausbildung das Schaffen des Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze. 1910 hatte Volkonskij die Methode der musikalisch-rhythmischen Erziehung nach Dalcroze sowie die Bewegungskunst François Delsartes kennengelernt. <?page no="210"?> Leif Murawski 210 Bal’mont somit als Bilder im wörtlichen Sinne, also als komplexe Darstellungen, deren Komponenten Text, proxemische und optische Gestaltung zu einem Ganzen zusammenwirken. 5 Richard Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks steht hier Pate, auch wenn er in der Rezeption durch die Symbolisten einen Wandel vollzogen hat. 6 Die Figuren in Bal’monts Drama sollen nicht Menschen naturalistisch darstellen, sondern sie sind Typen, bildhaft ausgeformte Abstrakta und generische Figuren. Das wohl berühmteste Drama des russischen Symbolismus ist Alexandr Bloks (1880-1921) „Balagančik” (Die Schaubude). Maeterlinck hatte sich bereits in seinen Märchen- und Mysterienspielen der Marionette als theatrales Mittel bedient. In Bloks Drama wird diese Darstellungsform aufgegriffen und erneut verhandelt. Dabei wird die vor allem aus der italienischen Commedia dell’ Arte stammende Dreieckskonstellation Kolombina, P’ero und Arlekin auf unterschiedliche Weise demontiert, indem die Körper der Figuren als unecht, als Attrappen ausgestellt werden. Als Beispiel mag folgendes Zitat dienen. In diesem Augenblick kommt einem der Bajazzos in den Sinn, etwas anzustellen. Er geht zu dem Verliebten und streckt ihm seine lange Zunge heraus. Der Verliebte schlägt mit voller Wucht dem Bajazzo mit einem schweren Holzschwert auf den Kopf. Der Bajazzo beugt sich über die Rampe und hängt nach unten. Aus seinem Kopf spritzt ein Strahl von Moosbeerensaft. Bajazzo (schreit durchdringend): Ich verblute an Moosbeerensaft! 7 Kolombina, deren Erscheinen als Verkörperung der heiligen Sophia und des Todes zugleich von einer Gruppe Mystiker erwartet wird, verlässt P’ero und wird von Arlekin auf einem Schlitten bei einem Schneesturm entführt. Als sie vom Schlitten fällt, erweist sich ihre körperliche Präsenz als Illusion. Kolombina ist eine bloße Pappfigur. Die Körper der Figuren werden als unecht entlarvt, sie werden vom Physiologischen ins rein Abbildhafte oder Hergestellte überführt. Waren sie bereits vor dieser Entlarvung Bilder, so verwandeln sie sich nun in eine an- 5 Die Bühnengestaltung der Uraufführung von 1907 in Moskau stammte von dem Künstler Nikolaj N. Sapunov (1880-1912). 6 Der symbolistische Komponist Aleksandr Skrjabin (1872-1915) vertrat ganz bewusst eine neue Interpretation des Begriffs vom Gesamtkunstwerk. However, Scriabin subsequently felt that Wagner had simply thought of a ‘mechanical’ combination of these arts, not of their ‘chemical’, organic synthesis which would result in a new kind of art. V. Padwa, Symbolism in Alexander Scriabin´s Music, in: A. Balakian (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages, Budapest 1984, S. 493. 7 V ėtu minutu odnomu iz pajacov prišlo v golovu vykinut’ štuku. On podbegaet k vljublennomu i pokazyvaet emu dlinnyj jazyk. Vljublennyj b’et s razmachu pajaca po golove tjažkim derevjannym mečom. Pajac peregnulsja čerez rampu i povis. Iz golovy ego bryžžet struja kljukvennogo soka. Pajac (pronzitel’no kričit) Pomogite! Istekaju kljukvennoym sokom! A. Blok, Sočinenija v dvuch tomach (Werke in zwei Bänden), tom 1, Moskva 1955, S. 518. Diese sowie alle übrigen hier angeführten Übersetzungen aus dem Russischen und Polnischen stammen von mir. L.M <?page no="211"?> Prothetische Körper 211 dere Bildform, das Medium des menschlichen Körpers wird durch unorganische Materialien ersetzt. 8 Eine metaphysische Bedeutung der Figuren wird negiert. Das Bild der Kolombina aus Pappe ist polysem und referiert gleichzeitig auf die von einer Schauspielerin dargestellte Figur, auf den Körper der Schauspielerin und auf die metaphysischen Zuschreibungen, die Kolombina in dem Stück erfahren hat. Innere Bilder und kognitive Konzepte werden nach außen gekehrt und wirken zugleich als Verfremdungseffekte. Verfremdungsverfahren wie diese sind ein wesentlicher Bestandteil der Theaterkonzeptionen des Symbolismus der zweiten Generation. 9 Bereits die Aufführung der „Schaubude” im Jahre 1906 zeigte […] das Ende der Epoche des Gottesdienstes im Theater-Tempel an und markierte den Beginn der Behauptung des Prinzips einer selbstgenügsamen Theatralität […]. 10 Körperlichkeit im Theater des russischen Symbolismus Eine zentrale Persönlichkeit in der Entwicklung des symbolistischen Theaters war Vsevolod Mejerchol’d (1874-1940), der sich von seinem Lehrer Stanislavskij und dessen Theorie eines realistischen Theaters abkehrte und einen eigenen Stil entwickelte. Mejerchol’d war der Regisseur der Uraufführung von Bloks „Balagančik” im Jahre 1906. Er versuchte in seinen Inszenierungen den „Individualismus des einzelnen Schauspielers zu bekämpfen” und „sein Spiel dem Gesamtbild der Vorstellung einzuordnen”. 11 Dazu entwickelte er seine „biomechanische Methode”, die darauf beruht, durch äußerste Körperbeherrschung den Ausdruck inneren Erlebens auf geradezu akrobatische Weise nach außen zu tragen. Die hohen physischen Anforderungen an die Schauspieler zielten darauf ab, weniger mit Mimik als mit 8 Neben der Demontage stellen ein wichtiges szenographisches Mittel des symbolistischen Theaters „Effekte der Unsichtbarkeit” dar. Der Verborgenheit des metaphysisch Absoluten entsprachen auf dem Theater die Verschleierung und die Verdunklung. Mitunter wurden ganze Szenen im Dunklen gespielt. Vgl.: I. Vakar, Meždu samoopredeleniem i samootricaniem. Teatr i ž ivopis’ v preddverii avangarda (Zwischen Selbstbestimmung und Selbstverleugnung. Theater und Malerei an der Schwelle zur Avantgarde), S. 2. http: / / www..silverage.ru/ stat/ vakar.htm (letzter Zugriff am 26.10.2009). 9 Im Zusammenhang mit der Bedeutung der Puppen im Werk des George Grosz- Schülers Hans Bellmer stellt Peter Gorsen fest: Die Puppe ist […] nicht spießiges Symbol der Rüge und Ablehnung eines Menschenbildes, das zur Anonymität der Maske erstarrt und nicht mehr individuell ist […], sondern es verhält sich genau umgekehrt; das Regressionsbild der Puppe errettet dem Zuschauer das wenige mögliche Glück, dessen die infantile Selbst-Liebe im Widerspruch zum asketischen Ganzen fähig ist. Peter Gorsen, Das Theorem der Puppe nach Hans Bellmer, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hrsg.), Der Körper und seine Sprachen. Dannecker, Wysocki, Finter, Gorsen, Gauthier über Fichte, Duras, Pasolini, Bellmer, Artaud, Frankfurt am Main 1989, S. 124. 10 Uže postanovka ‚Balagančika’ 1906 goda […] položila konec ėpoche svjaščennodejstvija v teatre-chrame i javilas’ načalom utverždenija principa samodovlejuščej teatral’nosti […] Vakar, S. 3. 11 Vgl. W. Solski, „Der große Meyerhold”, in: Der Monat, Jahrgang 1950, Nr. 21, S. 294. <?page no="212"?> Leif Murawski 212 dem ganzen Körper als Instrument im Raum zu arbeiten. Die Schauspieler sollten sich bewegen wie Marionetten, die von der Führung des Regisseurs abhängen. Der Regisseur wurde so zum „Schöpfer des Schauspiels”, der willkürlich mit seinen Mitarbeitern verfahren konnte. Die Marionette ist unorganisch und im doppelten Sinne abhängig von ihrem Spieler und von den Fäden, so wie der Körper nicht organisch verbundener Bestandteil der seelischen Ich-Identität des Menschen ist. Beide hängen von einer übergeordneten Führung ab. Die Marionette hat eine ganz eigene Bühnenpräsenz, die irritierend ist. Sie bewegt sich, wie die russische Theaterwissenschaftlerin Anna Ivanova sagt, „in einem unwirklichen, verzögerten zeitlichen Raum - im unablässig andauernden, unendlichen Augenblick”. 12 Der Mensch lebt in Abhängigkeit von der höheren Wirklichkeit des inoj mir und ist zugleich durch seine Zugehörigkeit zur materiellen Welt ans Irdische gebunden. Sinnbild für diese Abhängigkeit sind die, oft bewusst sichtbaren, Fäden der Marionette. Für das symbolistische Theater wird die Puppe, und besonders die Marionette, zu einem depersonalisierten Symbol geistiger Zustände und Bewegungen. 13 Wie für die Romantiker hatte die Puppe für die Symbolisten eine ambivalente Bedeutung: Sie ist verbunden mit der Welt des Archaischen und Ursprünglichen, und zugleich ist sie kindlich unmittelbar, infantil. Sie gehört der Welt der großen Geheimnisse und der Welt des Spiels an. 14 Der Puppenkörper ist der unnatürliche Projektionsschirm aller Wünsche, die sich nicht erfüllen; alles, was die Puppe ist, vermag sie nur durch ihren Beschauer zu sein, ihre Wirklichkeit ist nur halluziniert; aber alles, was der Beschauer will, vermag sie zu sein, und insofern ist ihre halluzinierte Wirklichkeit reicher, als ein halluzinationsloser nüchterner Beschauer ihr zutraut. 15 Die Marionette lässt den Zuschauer seine eigene Präsenz nicht vergessen und irritiert durch ihre changierende Seinsform zwischen Lebendigem und Totem. Sie steht gleichsam außerhalb dieser Opposition im unmarked space und bewegt sich von dort bald auf die Seite des Lebendigen, bald auf die des Toten. 16 Der Rückgriff auf folkloristische Formen des Puppentheaters erklärt sich bei den russischen Symbolisten nicht zuletzt durch die persönliche Erfahrung mit entsprechenden Formen der Volkskunst. Der russische Künstler Alexandre Benois (1870-1960) berichtet in seinen Memoiren von der Aufführung eines Puppentheaters: 12 Anna Ivanova, Marionetki v tradicionnom teatre kukol (Marionetten im traditionellen Puppentheater), in: Keith Tribble (Hrsg.), Marionette Theater of the Symbolist Era, Lewiston, NY (u.a.) 2002, S. 27. 13 Vgl. Keith Tribble, The Rod Puppet in the Symbolist Era, in: Tribble, S. 65. 14 Vgl. Irina Bagration-Mukhraneli, Sverchmarionetka. Meždu kumirom i kinoakterom (Die Übermarionette. Zwischen Götzenbild und Filmschauspieler), in: Tribble, S. 116. 15 Gorsen, S. 117-118. 16 Vgl. Irina Uvarova, „Mejerchol’d i koncepcija kukly” (Mejerchol’d und die Konzeption der Puppe), in: Tribble, S. 189. <?page no="213"?> Prothetische Körper 213 Nachdem sich jeder an die Arbeit gemacht hat, beginnen Pierrot und Harlekin bald zu streiten, sich zu ärgern, sie beginnen sich zu schlagen und, oh Schreck, der ungeschickte, täppische Pierrot erschlägt den Harlekin. Und nicht nur das. Er schlägt seinen verstorbenen Freund in Stücke und spielt wie mit Kegeln mit dessen Armen und Beinen. (Ich frage mich, warum kein Blut fließt) 17 Es ging Mejerchol’d nicht um die Abbildung einer vermeintlichen Wirklichkeit, sondern um die „absolute Wirklichkeit”, wie er es formulierte, also um die höhere Wirklichkeit des inoj mir. 18 Um den Zuschauer in das Geschehen auf der Bühne einzubeziehen, nivellierte er die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum und schaffte die Rampe ab. Die Ganzheitlichkeit des Wirklichkeitsanspruches von Mejerchol’ds Theater sollte sich auf den gesamten Raum des Theaters erstrecken. Die Begrenztheit der Bühne wurde im Sinne des Einbezugs der Rezipienten in den Wirkungskreis des žiznetvorčestvo aufgegeben. Zentrale Orte, an denen sich die St. Petersburger Bohème traf, um unterschiedliche innovative Formen theatraler Kunst und theatralisierten Lebens zu erproben, waren Kabarett-Theater und Salons. Ein Treffpunkt der Symbolisten war der Salon des Dichters Vjačeslav Ivanov (1866-1949), in dem 1910 die Uraufführung des Dramas „Die Andacht zum Kreuz” von Calderón de la Barca (La devoción de la cruz) in der Übersetzung Konstantin Bal’monts (Poklonenie krestu) unter der Regie Mejerchol’ds stattfand. Die Inszenierung war reich ausgestattet von dem Künstler Sergej Ju. Sudejkin (1882-1946).Mejerchol’d betrachtete die Aufführung ebenso als seine eigene wie als die des bildenden Künstlers. 19 Bei dieser Aufführung ließ er erstmalig einen Schauspieler vom Publikum her auftreten und durchbrach die Trennung von Bühne und Zuschauerraum damit in bis dahin unbekannter Weise. Zugleich verschob sich der Akzent von der Textvorlage hin zur visuellen Gestaltung und vom Schauspieler hin zum Regisseur. Bereits 1906 hatte Mejerchol’d gefordert, eine „Gemeinschaft der Toren” (obščina bezumcev) als neues Theaterforum zu gründen. 20 1910 entstand aus diesem Gedanken das Theater „Dom intermedij” (Das Haus der Intermedien), das zwei Jahre bis zu seiner Schließung unter der Führung Me- 17 Prinjavšis’ každyj za svoju rabotu, P’erro i Arlekin skoro načinajut ssorit’sja, mešat’ drug drugu, oni vstupajut v draku i, o užas, nelepyj, neuklužyj P’erro ubivaet Arlekina. Malo togo. On razrubaet svoego pokojnogo tovarišča na časti, igraet, kak v kegli, s nogami i rukami (ja nedoumevaju, počemu ne tečet krov’.) Zitiert nach Schahadat 2004, S. 100. 18 Vgl. Solski, S. 295. 19 Vgl.: D.G. Makogonenko, Kal’deron v perevode Bal’monta (Calderón in der Übersetzung Bal’monts). http: / / az.lib.ru/ k/ kalxderon_p/ text_0050.shtml (letzter Zugriff am 20.10.2009). 20 Vitalij Ryženkov, Vo dvorom dvore podval… Literaturno-artističeskoe kabare Brodjačaja sobaka (Im zweiten Hinterhof ein Keller… Das literarisch-künstlerische Kabarett Der streunende Hund), S. 2. http: / / silverage.ru/ stat/ sobaka.htm (letzter Zugriff am 25.10.2009). <?page no="214"?> Leif Murawski 214 jerchol’ds bestand. In Ivanovs Salon wurde Arthur Schnitzlers Pantomime „Der Schleier der Pierrette” uraufgeführt. Die Schauspieler agierten auf der Bühne unharmonisch und eckig in fragmentarischen Bewegungen und „emphatisch-exzentrisch, was nichts mit der langsamen sanft fließenden Künstlichkeit der traditionell stilisierten Pantomime zu tun hatte”, wie ein Besucher in seinen Erinnerungen bemerkte. 21 Die Darsteller agierten in allem asymmetrisch und waren „halb Puppe, halb Mensch”. Diese Inszenierung war nach Bloks „Balagančik” der zweite Höhepunkt des Schaffens Mejerchol’ds in der Zeit vor der Oktoberrevolution. Die tragische Geschichte um die Liebe der Pierrete wurde in Ivanovs Salon zu einer alptraumhaft grotesken Verzerrung, in der die Schauspieler zu Puppen wurden, die ein düsteres Schicksal führte. Das künstlerische und politische Klima der Jahre nach der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1905 fand hier einen neuen künstlerischen Ausdruck, der expressionistische Züge annahm. Als Direktor des Hauses der Intermedien hatte Mejerchol’d das Pseudonym Dr. Dapertutto gewählt, um unabhängig von seiner Beschäftigung an staatlichen Theatern Petersburgs experimentell agieren zu können. Die Theaterprojekte in Salons und kleinen Kabaretts waren häufig die Vorstufen und Vorläufer der späteren Produktionen an den großen Theatern. Ebenfalls 1910 wurde in St. Petersburg das Kabarett-Theater „Brodjačaja sobaka” (Der streunende Hund) gegründet, das bald zum Tummelplatz nahezu aller Vertreter des Modernismus wurde. Einen Ort zu schaffen, an dem alle Künste miteinander in einen Dialog treten konnten, eine Synthese der Künste möglich werden sollte, war die Absicht der Begründer des Kellertheaters, in dem wiederum die Bühne kaum vom Zuschauerraum getrennt erschien. Bald fanden dort die unterschiedlichsten künstlerischen Abend- und Nachtveranstaltungen statt: Improvisationen, Vorträge, Ballettabende, Diskussionsforen. Die symbolistische Utopie einer Synthese aller Künste wurde, als sich im Gefolge des Symbolismus neue Richtungen herausbildeten, von einer Aufsplitterung und Fragmentarisierung des Gesamtkunstwerks abgelöst. Der Bezug auf theatrale Formen der Jahrmarktsunterhaltung blieb dabei erhalten. Sudejkin hatte das Kellergewölbe ausgemalt und mit der Gestaltung zugleich einen programmatischen Hintergrund für die vielfältigen Aktionen in dem kleinen Kellertheater geschaffen. Die im frühen Symbolismus noch metaphysisch bedeutsame Lebenskunst des žiznetvorčestvo wurde zu einem avantgardistischen Experimentierfeld der Boheme. Der Regisseur Nikolaj N. Evreinov (1879-1953) beschrieb den so geschaffenen Rahmen: Die gesamte Bemalung der Wände war aufregend, geheimnisvoll scherzhaft, wenn man so sagen kann, sie war selbstverständlich keine „Dekoration” im engeren Sinne, sondern sie versetzte gleichsam die Besucher des Kellers in Zeit und 21 J.Douglas Clayton, Pierrot in Petrograd. Commedia dell’ Arte / Balagan in Twentieth- Century Russian Theatre and Drama, Québec 1994, S. 85. <?page no="215"?> Prothetische Körper 215 Raum in einen weit entfernten Bereich. Hier kam der Zauber der „Theatralisierung unserer Welt” zum vollen Ausdruck, die Sudejkin wie ein echter Hypnotiseur beherrschte. Und unter dem Einfluss dieses Zaubers, der das Leben und das Theater vertauschte, die Wirklichkeit mit der Erfindung und die „Prosa” mit der „Poesie”, verwandelten sich die Besucher des „Streunenden Hundes” gleichsam in andere Wesen, gewissermaßen tatsächlich in phantastische und ausgesprochen freie „streunende”, „obdachlose” Hunde aus dem „Reich der Bohème”. 22 Mit gutem Grund hat Evreinov die bestimmende Bedeutung der Wandmalereien so hervorgehoben, denn tatsächlich spielte in diesem Kabarett die bildende Kunst eine hervorragende Rolle. Die symbolistische Forderung nach der Durchdringung der Künste sollte hier unter der Vorherrschaft der Malerei stehen. Zu den Besuchern des Kellers gehörten anfangs nur ausgesuchte Kreise der Künstlerbohème St. Petersburgs, da er zunächst als Klub der „Gesellschaft des intimen Theaters” gegründet wurde. Erst später öffneten sich die Türen immer mehr auch für das allgemein interessierte Publikum. Zu den Besuchern und Teilnehmern an Veranstaltungen gehörten Vertreter des Balletts, der Oper, des Sprechtheaters, der Dichtung, Komponisten, Journalisten und auch ein Theaterwissenschaftler - Fürst Zubov. 23 Der Direktor des „ Streunenden Hundes“ war Boris K. Pronin (1875-1946), ein Schüler Mejerchol’ds und Stanislavskijs. In dem Kellertheater fanden bereits nur noch wenige Veranstaltungen der Symbolisten selbst statt; dafür aber viele Darbietungen, Vorträge und Performances der literarischen und künstlerischen Strömungen, die sich allmählich aus der Auseinandersetzung mit dem Symbolismus und neuen westlichen Richtungen entwickelten, wie des Akmeimus und des Futurismus. Der Beitrag des Symbolismus zu einem russischen Avantgardetheater wirkt jedoch weit über den literaturhistorischen Zeitraum dieser modernistischen Strömung selbst fort. Von besonderer Bedeutung sollten weiterhin folgende Neuerungen bleiben: Die Abkehr von der traditionellen Illusion und die Hinwendung zu bisher inoffiziellen und volkstümlichen Theaterformen, die Aufhebung der Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum und der Einbezug des Publikums in die Darstellung. Dass die Nivellierung des Unterschieds zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum mitunter auch zu einer Verkehrung der Seiten führen konnte, wird deutlich in Aleksandr Bloks Aufsatz „O drame“ (Über das Drama). Dort beschreibt er eine Aufführung von „Žizn’ čeloveka“ 22 Vsja rospis’ sten, zadornaja, tainstvenno-šutočnaja, esli možno tak vyrazit’sja, javljala, razumeetsja, ne „dekoracii” v uzkom smysle ėtogo slova, no kak by dekoracii, perenosjaščie posetitelej podvala daleko za predely ich podlinnych mesta i vremeni. Zdes’ skazyvalis’ polnost’ju te čary „teatralizacii dannogo mira”, kakimi Sudejkin vladel kak nastojaščij gipnotizer. I pod vlijaniem ėtich č ar, putavšich žizn’ s teatrom, pravdu s vymyslom, „prozu” s „poėziej”, posetiteli „Brodjačej sobaki” kak by preobražalis’ v kakie-to inye suščestva, v kakich-to v samom dele fantastičnych i sugubo vol’nych, „brodjačich”, „bezdomnych” sobak iz „carstva bogemy”. Zitiert nach Ryženkov, S. 4. 23 Vgl. Ryženkov, S. 7. <?page no="216"?> Leif Murawski 216 (Das Leben des Menschen) des russischen Schriftstellers Leonid Andreev (1871-1919) aus der Perspektive des Raums hinter der Bühne: „Holzklötze anstelle von Menschen im Zuschauerraum und Menschen, die Holzklötze darstellen auf der Bühne.“ 24 Der menschliche Körper stellt nicht mehr den Vordergrund zu einer realistisch gestalteten Kulisse dar, sondern er wird zur Komponente des Gesamtbildes einer multimedialen Synthese der Künste. Es vollzog sich der Übergang von einem vor allem textorientierten zu einem bewusst synästhetischen Theater; und schließlich die Hinterfragung der Leiblichkeit, ihre Fragmentierung und Auflösung als Ausdruck metaphysischer wie sozialer Abhängigkeit. Der materiellen Wirklichkeit wird im symbolistischen Theater ab etwa 1905 mit künstlerischen Verfahren begegnet, welche die Kohärenz und Geschlossenheit dieser Wirklichkeit aufzubrechen versuchen. Diese Tendenz zur Auflösung und Demontage bezieht sich wie in Bloks „Balagančik” auf den menschlichen Körper auf der Bühne. Fortführungen symbolistischer Traditionen im russischen Emigrantentheater zwischen den beiden Weltkriegen Das russische Emigrantentheater, das sich zwischen den beiden Weltkriegen in Berlin etablierte, knüpfte in verschiedener Hinsicht an die künstlerischen Verfahren des symbolistischen Theaters an. In dem vom Maler vorbestimmten Rahmen agiert der Schauspieler als Marionette, als ein zur Zweidimensionalität verflachtes Schema. Er wird zur beweglichen Verzierung in der rhythmischen Kadenz eines ausdrucksstarken Bühnenbildes. 25 Diese Beschreibung der Vorherrschaft des Bildnerischen im Theater Mejechol’ds lässt sich vielfach unmittelbar übertragen auf die russischen Kleinkunstbühnen im Berlin der frühen zwanziger Jahre. Als Beispiel soll hier das Kabarett-Theater „Sinjaja ptica” (Der Blaue Vogel) des russischen Theatermachers Jakov Južnyj (1883-1938) dienen. Es wurde 1921 mit üppig ausgestatten Räumlichkeiten in der Berliner Goltzstraße gegründet und bestand bis 1923 an diesem Ort. Danach folgten Jahre ausgedehnter Tourneen durch Europa und Amerika mit regelmäßigen Gastspielen in Berlin bis 1937. Die Nummern, die dort zur Aufführung kamen, wurden als „lebende Bilder” in der Tradition der Tableaux vivants oder auch als „Miniaturen” bezeichnet. In synkretistischem Stil, der Folkloristisches, Märchenhaftes und klischeehaft Russisches mit Einflüssen der Strömungen der Bildenden Kunst des Modernismus verbindet, wurden unterschiedliche experimentelle und traditionelle Formen des Kleinkunsttheaters mit einer Personage durchgespielt, die der symbolistischen Tradition entstammt: „Zinnsoldaten, Holzpuppen, 24 Zitiert nach Daniel Gerould, „Leonid Andreev’s Requiem: Audience as Puppets”, in: Tribble, S. 231. 25 Michaela Böhmig, Das russische Theater in Berlin: 1919-1931, München 1990, S. 97. <?page no="217"?> Prothetische Körper 217 Porzellannymphen und Wachsfiguren, Automaten, Schemen, Figurinen und Marionetten”. 26 Die einzelnen, meist kurzen Nummern wurden verbunden durch die Moderationen eines Conferenciers. Es ging in diesem Kabarett- Theater um die Schnelligkeit der Abfolge von Sensationen und Stimmungen, die durch die Überleitungen des Conferenciers möglichst zu einer rhythmischen Einheit zwischen Publikum und Bühnengeschehen gebracht werden sollten. Viele der aufgeführten Nummern behandelten das Thema Russland in teils traditionellen Formen unter Verwendung von Volksliedern, Elementen des Vaudevilles und in einer an den russischen Lubok-Bildern orientierten Gestaltung (massenhaft gedruckte und verbreitete Einblattdrucke, die nachträglich koloriert wurden). Mit Theaterabenden im „Blauen Vogel”, die zwischen Symbolismus, einem „magisch beseelten Konstruktivismus” 27 und Folklore changierten, trug das Kabarett zu der „Russenmode” im Berlin der zwanziger Jahre bei. Trotz der zur Schau gestellten Naivität und Primitivität ist die Theaterpraxis des „Blauen Vogels” keineswegs so unkompliziert, wie sie sich gibt. […] Es werden alte und neue Theatermittel rezipiert und gezielt eingesetzt. So werden zwar die primitiv realistischen Requisiten und augenfällig künstlichen Attrappen der fahrenden Schaubude wieder aufgenommen, jedoch einmal einer grotesk übersteigerten, dann wieder kunstvoll ästhetisierten Neuinterpretation unterzogen, wobei im Puppenspiel weiterhin der romantische Mythos der Belebung von Bildern, Puppen und Statuen vertreten ist. 28 Am Beispiel einzelner Nummern dieses Kabaretttheaters soll nun die Fortführung und Weiterentwicklung symbolistischer Theaterverfahren dargestellt werden. In der Nummer „Parad“ (Die Parade), die dem russischen Volkstheater nachempfunden ist, erklingt eine Polka aus dem 19. Jahrhundert, zu der „drei Figürchen automatenhafte Bewegungen vollführen“. 29 Diese Nummer kann als ein Reflex der biomechanischen Methode Mejechol’ds verstanden werden, wobei sich nun, ganz ähnlich wie in Mejerchol’ds eigenen Theaterarbeiten der zwanziger Jahre, die symbolistischen Vorstellungen mit der Ästhetik des Konstruktivismus verbinden. In „Divannye spletni“ (Sofaklatsch) zeigen Dekoration und Kostüme ein „überdimensionales Sofa, aus dem sich aus ausgestopften Kissen die Oberkörper einiger Gestalten herausschälen, während über der Lehne zwei kleine Figuren mit echten Köpfen und Marionettenkörpern hängen“. 30 Die hybriden Figuren überführen die Szene ins Groteske und betonen ihre Künstlichkeit. Durch die Unbeweglichkeit bestimmter Körperpartien wird ihre partielle Ohnmacht hervorgehoben. Im Sinne der Auflösung des Unterschieds 26 Böhmig, S. 108. 27 Böhmig, S. 107. 28 Böhmig, S. 108. 29 Böhmig, S. 114-115. 30 Böhmig, S 118. <?page no="218"?> Leif Murawski 218 zwischen Bühne und Zuschauerraum wird dem Publikum ein Zerrspiegel vorgehalten. Die Hybridisierung des menschlichen Körpers, die mit der Teilung in menschliche und artifizielle (Puppen-) Anteile geschieht, hat in der russischen Kultur ein bemerkenswertes Vorbild in der Tradition des doličie der Ikonen. Die kunstvoll gestalteten Verkleidungen von Ikonen aus getriebenem Silber (doličie) lassen zumeist nur die Hände und den Kopf der dargestellten Heiligenfigur unbedeckt (zuweilen auch die Füße). So wird die Wahrnehmung der Präsenz des Heiligen in der Ikone beim Betrachter auf bestimmte Teile des abgebildeten Körpers gelenkt. Es wird unterschieden zwischen eher profan-menschlichen Bereichen des Heiligenkörpers und den Teilen seiner physischen Präsenz, die insbesondere Träger der Heiligung sind: der Kopf als Ort der Aureole, das Gesicht als Spiegel der Seele und die Hände als Werkzeuge wundertätigen Handelns. Hybride Puppen kommen auch in „Van’ka Vstan’ka” (Das Stehaufmännchen) zum Einsatz. „Das Szenenbild und die Kostüme stellen den reichverzierten Bühnenausschnitt einer Schaubude dar, in der zwei witzige, krumme Püppchen mit wirklichen Köpfen und Händen agieren.” 31 Die hybride Puppe lässt auch hier danach fragen, welcher ihrer Bestandteile der eigentliche ist. Sind die unbeweglichen Puppenkörper prothetische Anhängsel der Köpfe und Hände, oder dienen diese den Puppen als Prothese zum Ausdruck? Das Kabarett-Theater „Der Blaue Vogel” war wohl das erfolgreichste und langlebigste Theaterunternehmen der russischen Emigration im Berlin der zwanziger Jahre, obwohl die Kritik immer wieder die apolitische Naivität und Verniedlichung der Aufführungen bemängelte. In einer Kritik des Berliner Lokalanzeigers von 1931 heißt es: In schöner Unbekümmertheit um die Geschehnisse der Welt bleiben der Blaue Vogel und seine Leute immer die gleichen: Sie zeigen in Ernst und Scherz, in Kunst und Parodie immer noch und immer wieder ihre russische Heimat ― also etwas, das im Original verloren ging. Sie haben das Russland von damals in Kisten verpackt, gehen damit auf die Walze durch Europa und Amerika und zeigen: Seht her, Leute ― so war das einmal! “ 32 Auch zu diesem Zeitpunkt, als die Zeit des russischen Symbolismus als führende modernistische Richtung vergangen war, bestand das Selbstverständnis des Theaters als lebenschaffendes, bildhaftes Gesamtkunstwerk fort. Als lebendiges Bild von Russland, als imagologisches Kollektiv, arbeitete und wirkte der „Blaue Vogel”. Dabei wurde eine grundlegende Eigenschaft des Bildes auf die Theatertruppe Južnyjs übertragen, und wie an dem zuvor angeführten Zitat erkennbar wird - mit Erfolg: Das Bild kann einen Referenzbereich, der aufgrund seiner Komplexität und Einmaligkeit unverrückbar ist und aus diesen Gründen auch an seinem Ort nur als Bild aufgefasst werden kann, portabel machen. Die Komponenten des Bildes, das 31 Böhmig, S. 123. 32 Böhmig, S. 126. <?page no="219"?> Prothetische Körper 219 durch den „Blauen Vogel” vorgestellt wurde, seine Musiker, Schauspieler und Regisseure, Kostüm- und Bühnenbildner als Menschen mit Schicksalen, als Produkte eines žiznetvorčestvo (Lebenschaffen) und ihre Produktionen, waren lebendige Instrumente der Bildschaffung. Zugleich wurden in ihren Aufführungen Instrumentalisierung und Behelfsmäßigkeit des menschlichen Körpers demonstriert. Die symbolistische Sehnsucht nach der anderen Welt und das Leiden an der Unerreichbarkeit absoluter Unmittelbarkeit hat die Ästhetik des russischen Theaters im zwanzigsten Jahrhundert maßgeblich mitbestimmt. Die Übertragung von Ausdrucksformen des Marionetten- und Puppentheaters führte zur Produktion höchst wirksamer Bilder, die auch von der Theateravantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegriffen wurden; so bei Samuel Beckett, Antonin Artaud oder im Theater des Todes des Polen Tadeusz Kantor (u.a. „Umarła klasa”, Die tote Klasse 1975). Kantor arbeitete in seinem umfangreichen Werk, das Malerei, Installation und eine Vielzahl von Theaterproduktionen umfasst, immer wieder mit Puppen als menschlichen Attrappen. In seinem Text „Ludzie-Atrapy”(Menschenattrappen) heißt es: Das „innere Inferno”, das ich betrat. Sein Bild, „die Absonderung”, die Materie meines Organismus. Das Leben in seiner reinen Gestalt, das hindurchfließt Durch diese Materie. Nur: hindurchfließt. WESEN zu finden, die dieser Strömung unterliegen, w i d e r s t a n d s l o s. (Ständig diese menschliche Gestalt.) Und ich fand: ATTRAPPEN. MENSCHLICHE ATTRAPPEN. Ich fand sie in meinem Theater. In meiner armen Jahrmarktsbude. Und hier ist der Ort für eine wichtige Erklärung: Weshalb plötzlich Theater? Ich begann darüber nachzudenken, und noch mehr dachten andere darüber nach. Ist es gut für die Malerei, ihre Probleme in einer anderen Disziplin zu lösen? […] Da machte ich, wie mir scheint, eine wichtige Entdeckung. Ich verstand, dass im herkömmlichen Denken über die Kunst eine dringende Korrektur vorgenommen werden muss. Dass die steifen, von der Tradition geheiligten Grenzen zwischen den Künsten aufgehoben werden müssen, und dass ihre ÜBERSCHREI- TUNG nicht nur erlaubt, sondern in bestimmten schwierigen Momenten HEILSAM ist! […] Die Fläche des Bildes scheint oft zu „orthodox“ zu sein, <?page no="220"?> Leif Murawski 220 um einen Gedanken erhitzen zu können, der über die Gesetze der Struktur eines Gemäldes hinausgeht. 33 Kantor, der ursprünglich von der Bildenden Kunst kam, beschreibt in diesem Text nicht nur die Entwicklung, die er hin zum Theater machte, von einer Bildform zur anderen, sondern er zeigt auch, dass Bilder über die Zweidimensionalität der Fläche hinausreichen. Im Theater und im Gebrauch von „menschlichen Attrappen” fand er ein Bildmedium, das den Schrecken des „inneren Inferno” im Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen erscheint. Die symbolistische Suche nach der anderen Welt war in der hier dargestellten Entwicklung bereits mit dem Aufkommen weniger metaphysisch orientierter Strömungen in den 10er und 20er Jahren in den Hintergrund getreten. In den Theaterformen der Avantgarde vor und nach dem zweiten Weltkrieg lebte das Erbe des Symbolismus jedoch fort. 33 „Infernum ― wnętrze”, w które wszedlem. Obraz, jego „wydzielina”, materia mego organizmu. Życie w swojej czystej postaci, które przepływa przez tę materię. Tylko: przeplywa. Znaleźć ISTOTY, które by przedlegały temu przepływowi, b e z w o l n e. (Ciągle ta postać ludzka.) I znalazłem: ATRAPY. ATRAPY LUDZKIE. Znalazłem w moim teatrze. W mojej biednej Budzie Jarmarcznej. I tutaj miejsce na ważne wyjaśnienie: skąd nagle TEATR? Zastanawiałem się, a jeszcze bardziej zastanawiali się nad tym inni. Czy to dobrze dla malarstwa rozwiązać jego problemy w innej dyscyplinie? […] Wtedy, wydaje mi się, dokonałem ważnego „odkrycia”. Zrozumiałem, że w konwencjonalnym myśleniu o sztuce należy przeprowadzić naglącą korektę. Że sztywne, uświęcone tradycją granice między sztukami należy znieść i że ich PRZEKRACZANIE jest nie tylko dozwolone, ale w pewnych momentach trudnych ZBAWIENNE! […] Płaszczyzna obrazu często staje się zbyt „ortodoksyjną”, aby zdołać zawrzeć myśl wybiegającą poza prawa struktury obrazu. Zitiert nach: Krzysztof Pleśniarowicz, Kantor. Artysta końca wieku (Kantor. Künstler am Ende eines Jahrhunderts), Wrocław 1997, S. 308 f. <?page no="221"?> Berit Mohr Das unsichtbare Kostüm Sucht man in der theaterwissenschaftlichen Literatur nach Beiträgen, die sich speziell mit dem Thema „Kostüm” auseinandersetzen, stellt man schnell fest, dass dieses Gebiet zu den weitgehend unerforschten gehört. Man findet Beiträge zu Kostümen in Aufführungsanalysen als Teil einer Inszenierung, vereinzelt auch zum Werk von Bühnen- und Kostümbildnern, ein konzentrierter Blick auf das Kostüm aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist jedoch selten. Kostüm- und modegeschichtliche Werke gibt es dagegen reichlich: Das theoretische Feld der Körpergestaltung bleibt den Modetheoretikern und den Soziologen überlassen, während sich die Theaterwissenschaft auf die vorherrschenden Körperdiskurse konzentriert. Interessanterweise findet die Betrachtung des menschlichen Körpers in vielen wissenschaftlichen Überlegungen ohne Berücksichtigung seiner ihn bekleidenden und gestaltenden Elemente statt. Körper werden beschrieben, entschrieben, analysiert, konstruiert, kultiviert, pluralisiert und am Ende wieder dekonstruiert. Als blickte man durch die Bekleidung des Körpers hindurch, wird „der Körper” an sich thematisiert und vergeistigt. Dabei finden sich Abbildungen von gestalteten Körpern schon in den frühesten Höhlenmalereien und rituellen Darstellungen, und der Aufwand, den die Menschheit zu diesem Thema betrieben hat und betreibt, ist beträchtlich. Selten richtet sich der Blick auf das, was insgesamt sichtbar wird: nicht der nackte Körper, sondern der gestaltete Körper bewegt sich über die Bühne. Peter Brook hat das Theater in seinem „leeren Raum” einmal auf folgende Weise definiert: „Ein Mann geht durch einen Raum und ein anderer schaut zu.” Als Kostümbildnerin stellt sich mir die Frage: Woran erkennt man, dass die Person ein Mann ist? Was hat dieser Mensch an? Welche Mittel werden eingesetzt, um die Bühnenfigur zu erzählen? Ob in Jeans, Badehose, Kimono oder Smoking - die Kleidung - die äußere Gestaltung des Körpers - gibt der Figur einen Rahmen und übermittelt Informationen an den Zuschauer: Sie bestätigt oder unterläuft dessen Erwartungshaltung, verortet den Körper in Raum und Zeit und ist maßgeblich am entstehenden Bild beteiligt. Im Folgenden möchte ich verschiedene Aspekte des Kostüms und seiner Bedeutung für das Zusammenspiel mit dem Körper beleuchten. <?page no="222"?> Berit Mohr 222 Kostüm als Konzept Kostüm, Mode, Kleidung, Maske stehen in einer Reihe von Begriffen, deren Bedeutungen Schnittmengen aufweisen, die sich teilweise überlagern und widersprüchliche Verwendung finden. Zumindest den Begriff „Kostüm” möchte ich in diesem Zusammenhang näher betrachten. Er findet seine Ursprünge in dem lateinischen Wort „consuetudo”, welches „Gewohnheit, Sitte, Herkommen, Brauch” bedeutet, hat aber unter italienischen und französischen Einflüssen im Laufe der Zeit eine Mehrfachbedeutung bekommen: Ein Kostüm kann ebenso eine Kombination von Jacke und Rock für eine Dame bedeuten wie eine Verkleidung für Schauspieler oder beim Karneval. Auch eine landesübliche Tracht wird zuweilen als Kostüm bezeichnet. Häufig wird im Theater das Kostüm mit besonders auffälliger Gestaltung gleichgesetzt, die der Phantasie entsprungen ist oder mit historischen Kostümen, also mit Kleidung, die auf eine spezifische Zeit und die damit verbundene Gesellschaftsordnung hinweist: „Das berühmte Kostümchen, das auch aussieht wie ein Kostüm”. 1 Ich möchte den Begriff weiter fassen und verwende den Begriff in diesem Beitrag mit folgender Bedeutung: ein Kostüm ist eine Form von szenischer und dramaturgischer Körpergestaltung innerhalb bewusst gelenkter, ästhetischer und theatraler Prozesse - es ist ein Konzept. Zur Körpergestaltung gehört mehr als die Kleidung: Frisur, Schminke, Schmuck, und natürlich der Körper selbst in seiner jeweiligen Verfassung. Kultureller Habitus schreibt sich in Körper ein, prägt ihre Konsistenz und das entstehende Gesamtbild des Körpers, denn dieser wird nicht nur verhüllt, sondern auch gezeigt. Den Körper als Trägermedium hat das Kostüm mit der Mode gemeinsam, und die Mode schwappt auf verschiedene Weise in das Kostüm hinein: die modische Selbstinszenierung dient als historisches Zeitdokument und Inspirationsquelle für Silhouetten, Materialien und Farben einer bestimmten Epoche wie auch der Gegenwart. Wesentliche Merkmale der Mode sind ihre Vergänglichkeit und ihre Zeitlichkeit. Jede modische Äußerung zeigt Teile der jeweiligen gesellschaftlichen Werteskala und des vorherrschenden Menschenbildes, jeweils in idealisierter Form. Allerdings sind die verschiedenen Bedeutungsebenen und Kodierungen der Mode vielschichtig und komplex. Roland Barthes stößt bei seinem Versuch, „die Sprache der Mode” systematisch zu dechiffrieren, auf den Chamäleoncharakter der Mode. Zum Saussure'schen linguistischen System von Signifikant und Signifikat zieht er daher eine dritte Ebene heran, in der er die unterschiedliche „Form” und „Substanz” der beiden Gebiete berücksichtigt, da schnell deutlich wird, dass das System der Sprache anderen Gesetzen unterliegt als das der Mode. Doch Barthes nahezu mathematisch angeordnete Kleiderformeln greifen zu kurz, 1 Roland Barthes, Die Sprache der Mode, Frankfurt am Main 1985, S. 219. <?page no="223"?> Das unsichtbare Kostüm 223 da sie nicht unabhängig von ihrem Träger gedacht werden können: „Im Grenzfall wandelt sich mit der Kleidung die Seele. Zwar respektiert diese analoge Verdoppelung der Kleidung in Signifikant und Signifikat das Bedeutungssystem, möchte es aber gleichzeitig überwinden”. 2 Die komplexen Geheimnisse der Mode sind eingewoben in jedes Kostüm. Im szenischen Vorgang gilt es, die entscheidenden ikonischen Zeichen zu finden, welche assoziative Spielräume des Zuschauers eröffnen. „Das kleine Schwarze” kann ebenso ein Zeichen für den gesellschaftlichen Code „Cocktailparty” sein wie ein Hinweis auf die Gemütsverfassung der Trägerin, wenn sie eben in diesem Kleid in der Ecke eines vermoderten Zimmers hockt. Von Stoff zu Stoff: Kostümbild In der Theaterpraxis findet das Kostümbild zunächst statt als Idee, als Konzept - das Bild entwickelt sich im Kopf des Kostümbildners, des Regisseurs, Choreographen und des Darstellers anhand von Gesprächen, Recherchen und Auseinandersetzung mit dem umzusetzenden Stoff. Manchmal ist es auch zu finden als Regieanweisung vom Dramatiker bzw. Librettisten. Im klassischen Theaterbetrieb wird ein Entwurf als Figurine abgebildet und dient als eine Art Arbeitsplan für Kostümbildner, Regisseur und die Darsteller sowie für eventuell beteiligte Werkstätten. In offeneren Theaterprozessen findet eher eine Charakterbeschreibung statt, eine grobe Skizze oder Collage, die während der Probezeiten weiterentwickelt und konkretisiert wird, häufig durch Improvisation mit Kostümteilen und unter Mitwirkung der Darsteller und Performer. Ursprünglich steht der Begriff „Kostümbild” ebenso wie der Begriff „Bühnenbild” in enger Verbindung mit dem klassischen Bildbegriff aus der Kunstgeschichte. Dieser wiederum ist untrennbar verknüpft mit den gestalterischen Mitteln der Malerei. So schrieb der Ballettreformer Noverre 1760 in seinen „Briefen über die Tanzkunst”: Ein Ballett ist ein Gemälde: Die Bühne ist das Tuch; die mechanischen Bewegungen der Figuranten sind die Farben; ihre Physiognomie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Pinsel; die Verknüpfungen sind die Lebhaftigkeit der Szenen; die Wahl der Musik, die Auszierung und das Kostüm, machen das Kolorit aus; und der Kompositeur ist der Mahler. 3 Noverre strebte ein Wechselspiel an zwischen den bildenden Künsten und dem Ballett. Da ihm die Übermittlung eines dramatischen Inhalts wichtig war, setzte er sich für realitätsbezogene, sinnhafte Kostüme ein und wandte sich gegen die vorherrschende Steifheit und erstarrten Formen des höfischen Balletts. Zwischen der Renaissance und dem 19. Jahrhundert verlagerte sich 2 Ebd., S. 226. 3 Jean-Georges Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, München 1977, S.3. <?page no="224"?> Berit Mohr 224 das europäische Denken vom Gemälde auf den Projektionsschirm, von der Repräsentation auf die Präsentation, von der Idee auf das Bild, oder, noch genauer, von der Phantasie bzw. vom Phantasma auf die Einbildungskraft. 4 Im Illusionstheater wird das Bild ernst genommen als Repräsentant und Erschaffer einer eigenständigen Welt. Bis ins 19. Jahrhundert blieben bemalte Hintergrundprospekte zunächst die maßgeblichen bühnengestaltenden Elemente. 5 Sie verrieten Informationen über Ort und Zeit und waren als klassische Gemälde aufgebaut mit Kompositionsprinzipien wie Symmetrie, harmonische Proportionen und (Zentral-)Perspektive. Diese trug in ihrer Linearität die Vorstellung von Zeit und Endlichkeit in sich. Hierarchien, zeitlich wie auch räumlich, wurden durch entsprechende Platzierungen im Vordergrund bzw. Hintergrund dargestellt. Der heutige Bildbegriff ist durch Medialität und Simultanität geprägt, und wir sind gewöhnt an perspektivische Brüche. Simultangeschehen findet statt: auf, neben und weit fort von der Bühne, nicht nur im zeitgenössischen Tanz, sondern in vielen postmodernen Theaterformen. Diese Multiperspektive hat zu einer veränderten Vorstellung vom Raum geführt. „Szenografie” heißt der neue Begriff, welcher die erweiterten Vorstellungen vom Bühnenbild bezeichnet. Er löst sich vom klassischen Bildbegriff und impliziert Inszenierungen von und in verschiedensten Räumen. Ebenso hat sich die Vorstellung vom Körper verändert. Virtuelle Avatare machen schnell wechselnde Identitäten möglich, und besonders im Tanz wird deutlich, dass Körper „nur in einer Gestalt von Zeit” existieren, wie William Forsythe es einmal ausgedrückt hat. 6 Welche Möglichkeiten gibt es für das Kostüm, das den Körper in Raum und Zeit verankert und dazu viel über die Befindlichkeit einer Person erzählen kann, diese Instabilität, die sich aus dem Befinden in multiplen Zuständen und an verschiedenen Orten gleichzeitig ergibt, zu vermitteln? Wie jede Abbildung eines theatralen Vorgangs in ihrer Statik dem eigentlichen flüchtigen Moment der Aufführung widerspricht, kann auch das Kostüm dieser Zeit- und Ortlosigkeit widersprechen, da es immer ein Bild vom Körper konstruiert und diesen festlegt auf bestimmte soziale und formal-ästhetische Momente, die auf ein jeweils vorherrschendes Körperbild verweisen. Mit der Absicht, eben diesen Informationsgehalt von Kostümen und damit die Festlegung auf bestimmte Bilder so gering wie möglich zu halten, nehme ich in den verschiedenen Theaterformen eine Tendenz wahr zu sehr reduzierter Alltagskleidung, gerne aber unmöglich auch „neutrales” Kostüm genannt. In dem Moment, in dem Improvisation Einzug hält ins 4 vergl. Jean Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Zürich, Berlin 2006. S.135. 5 Prospekt: stammt von dem lateinischen Wort „prospectare”: hinblicken 6 vergl. Gabriele Brandstätter, Hortensia Völckers, ReMembering the Body, Ostfildern-Ruit 1985, S. 219. <?page no="225"?> Das unsichtbare Kostüm 225 Theater, muss auch das Kostüm flexibler werden, schnelle Wechsel zu unterschiedlichen Aussagen, das Ungreifbare ermöglichen. Was für Bilder werden also vermittelt bei dem Versuch, das Kostüm so unauffällig wie möglich zu halten und mit welchen Mitteln wird der Blick auf das Wesentliche gelenkt? Ein passender Cast kann schon das halbe Kostüm sein, um einer reduzierten Ästhetik Raum zu geben, jede unnötige Kodierung und Ablenkung vom - sorgsamst ausgesuchten - Detail wird vermieden. Trotzdem oder gerade deshalb bleibt nichts dem Zufall überlassen, denn die Reduktion wirkt wie ein Vergrößerungsglas, in dem jede Unregelmäßigkeit, jedes Detail, jeder überschüssige Zentimeter Kleiderlänge auffällt. Wohin wird der Blick gelenkt, wird er überhaupt noch gelenkt? So minimal es auch sein mag, das Kostüm als ästhetisches Ordnungsprinzip schafft Struktur - am Körper, zwischen den Körpern und im Bezug zum Raum durch Material und Form. Unbewusst sucht der Mensch nach Ordnungsprinzipien, die sich als Rhythmus, Farbkombination, Kontraste, Wiederholungen und weiteren bildnerischen Mitteln äußern. Körper - Bild In der Kleidung wie auch im Kostüm treffen der Körper und sein Bild zusammen. Hans Belting bezeichnet in seiner „Bild-Anthropologie” den Körper als Ort der Bilder, und zwar zunächst unabhängig von westlicher Medienentwicklung. Im Totenkult - den Belting als Motivation für die menschliche Bildpraxis anführt - wird das Bild zum Medium des abwesenden Körpers. Der Körperbegriff ist hier untrennbar mit dem Bildbegriff verbunden, da das Totenbild nicht nur einen abwesenden Körper, sondern ein idealisiertes, von der Kultur vorgeschriebenes Modell des Körpers darstellt. Die historische Dynamik, die Veränderlichkeit des Menschenbildes beweist dessen Instabilität. Bilder von Menschen verkörpern eine jeweils aktuelle Idee des Menschen, und die Verkörperung solcher Ideale wird damit zum wichtigsten Sinn der Körperdarstellung. In der westlichen Mode findet man dieses dauerhafte Streben nach Körperidealen in extremer Weise. In der Aufführung jedoch erleidet es grundsätzlich Verluste, weshalb immer wieder das nächste Ideal erfunden werden muss. Masken und Kleidung verhüllen in diesem Sinne den Körper nur zu dem Zweck, um an ihm etwas zu zeigen, was der Körper nicht selbst zeigen kann. Sie machen ihn damit zum Bild. 7 Nach Belting ist die Maske selbst ein pars pro toto für die Verwandlung unseres eigenen Körpers in ein Bild. Wenn wir an unserem und mit unserem Körper ein Bild herstellen, dann ist es nicht ein Bild von diesem Körper. Der Körper ist dann eher der Bildträger, also ein Trägermedium. Die Maske wird 7 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. S.94. <?page no="226"?> Berit Mohr 226 dem Körper aufgesetzt und verbirgt ihn in dem Bild, das sich von ihm zeigt. Sie tauscht den Körper gegen ein Bild ein, in dem das Unsichtbare (der Trägerkörper) und das Sichtbare (der Erscheinungskörper) eine mediale Einheit bilden. 8 Novalis hatte noch den Wunsch, „der Göttin der Wahrheit den Schleier vom Gesicht zu reißen” und beschrieb damit einen Erkenntnisprozess. 9 Aber ist der Schleier vom Gesicht wirklich zu trennen? Heute muss man eher davon ausgehen, dass unter Umständen gerade die Enthüllung die wahre Gestalt des Menschen nicht zeigt, sondern dass Kleiden und Verbergen ein wesentlicher Teil seiner Erscheinung sind. In diesem Sinne, so sagt der Neurophysiologe Detlef Linke, läge Erkenntnis sogar darin, dass man dem Menschen seine Verhüllung wiedergibt. 10 Denn: Die Verhüllung wird nicht als Verhüllung wahrgenommen. Darin liegt auch die Größe des „unsichtbaren Kostüms”. Es soll nicht nach „Kostüm” aussehen, sondern so „natürlich”, wie möglich zur Körperlichkeit, zur Figur, zur Situation passen. Kaum wahrgenommen, erzählt es mit der in ihm steckenden Person seinen Teil der Geschichte, wird wieder zur Gewohnheit in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes und steht im Gegensatz zur objekthaften Maske. Eine Maske am lebenden Körper steht in Wechselwirkung mit ihrem Träger und ist nicht nur dessen Ausdruck, sondern kann diesen auch rückwirkend beeinflussen. Nicht nur der Mensch trägt seine Maske, sondern die Maske auch den Menschen. Würde man von der Maske als auf- und absetzbaren, vom Körper losgelösten Gegenstand ausgehen, müsste es darunter den nackten Urzustand geben. Der Sinologe und Philosoph François Jullien macht darauf aufmerksam, dass der westliche akademische Blick spätestens seit der Renaissance den nackten Körper fixiert, „das Nackte” wie Jullien künstlerische Aktdarstellungen bezeichnet. Die äußere Form dieser Schönheitsideale ist, zumindest bis zur Moderne, abrufbar und basiert auf einem wohlproportionierten anatomischen Modell ausgehend vom inneren Skelett über den muskulären Aufbau bis zur umhüllenden Hautoberfläche. Dieser Körper wird angeschaut, aber er schaut nicht zurück: die Suche nach dem Fixierten, nach der „nackten Wahrheit” wird zur Suche nach dem beherrschbaren Objekt. Als Gegensatz dazu beschreibt Jullien das Körperverständnis der chinesischen Kultur: Während „Das Nackte [...] ein Paradigma für die Kultur des ‘Okzidents’” ist, gibt es laut Jullien in der chinesischen Kunst keine Abbildungen von unbekleideten Körpern. 11 Die westliche, von Aristoteles formulierte Zweiteilung in Form und Materie findet in China nicht statt, stattdes- 8 Ebd. S.31. 9 Novalis, „Lehrlinge zu Sais”, siehe Detlef B. Linke: Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren, Reinbek bei Hamburg 2001. S.208. 10 Detlef B. Linke, Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren, Reinbek bei Hamburg 2001. S.15. 11 Francois Jullien, Vom Wesen des Nackten, München 2003. S. 7. <?page no="227"?> Das unsichtbare Kostüm 227 sen gelten Körper in der chinesischen Vorstellung als verdichtete Energie, gleichzeitig offen und geschlossen, und untrennbar verbunden mit der sie umgebenden Welt. 12 Kleidung wird damit zum immer sichtbaren Teil des Ganzen, die in ihren Fältelungen, Windungen und Wölbungen das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren ausdrückt. Mit der Darstellung des bekleideten, mit seiner Umgebung verbundenen Körpers wird versucht, „die Eigenschaft des Lebendigen zu erfassen, die allein der Gestaltung (yisi) einen ‘Sinn’ geben kann”. 13 Wenn „allein der menschliche Körper in der Lage ist, die Erfahrung des Nackt-Seins zu machen”, ist dann auch allein der menschliche Körper in der Lage, die Erfahrung des bekleideten Körpers zu machen? 14 Der Philosoph Jean-Luc Nancy versucht, den menschlichen Körper über Sprache erfahrbar zu machen und, indem er die sinnliche Körperlichkeit in die Sprache mitnimmt, die traditionelle abendländische Trennung von Innen und Außen aufzuheben. So haben für ihn Körper ihren Ort weder im Diskurs noch in der Materie: Körper sind nichts Volles, kein gefüllter Raum, sie sind offener Raum, die Körper sind Existenz-Stätten […] Doch es ist eine vielfältig gefaltete, nochmals gefaltete, entfaltete, vervielfältigte, eingestülpte, exogastrule, mit Mündungen versehene, flüchtige, eingedrungene, angespannte, losgelassene, erregte, verwunderte, verbundene, losgebundene Haut. 15 Körper werden damit zu sinnlichen Erfahrungsräumen, verbunden mit den sie umgebenen, sowohl inneren als auch äusseren Räumen, in denen die Haut als durchlässige Membran zur Metapher für Grenzauflösungen wird. Die biologische „erste” Haut hat mit der „zweiten” Haut, der Kleidung, etwas gemeinsam: Beide bilden einen Übergang von Innen nach Außen, sie werden zur Repräsentationsfläche des Eigenen und zur Projektionsfläche des Anderen. Sie bilden eine Grenze, die keine ist, werden Verbindung und Trennung zugleich. Paradoxerweise fühlen sich die meisten Menschen dann wohl, wenn sie ihre Kleidung möglichst wenig wahrnehmen, wenn sie wirklich zur zweiten Haut wird. Beinhaltet dies den Wunsch nach wahrhaftiger, unschuldiger Nacktheit? Ist es die Sehnsucht nach dem Paradies, dem Zustand vor dem Gebrauch des Feigenblattes? Oder sind es die Fellreste, die noch an uns kleben? 12 Ebd., S.54/ 55. 13 Ebd. , S.60. 14 Ebd. , S. 37. 15 Jean Luc Nancy, Corpus, Berlin 2003. S. 18. <?page no="228"?> Berit Mohr 228 Embodiment Vor jeder wissenschaftlichen Betrachtung des Körpers - welches die Beziehung zum Anderen impliziert - hat mich die Erfahrung meines Fleisches als Ganggestein meiner Wahrnehmung gelehrt, dass die Wahrnehmung nicht irgendwo entsteht, sondern aus dem Schlupfwinkel des Leibes auftaucht. 16 Was beim rein äußerlichen Betrachten nur ansatzweise vermittelt wird, ist das innere Körpergefühl, welches beim Tragen von Kleidungsstücken bzw. Kostümen entsteht. Für den Darsteller gilt: Ebenso wie es im privaten Leben Menschen gibt, die auf Kleidung sehr feinfühlig oder auch sehr unbekümmert reagieren, ist die Umgangsweise von Darstellern mit Kostümen sehr unterschiedlich. Die Praxis zeigt, dass Kostüme für einige Akteure ein mehr oder weniger lästiges Beiwerk und für andere eine hilfreiche Prothese für die Rollenfindung mit der entsprechenden Haltung sind, während Tänzer sich oft vor allem um ihre Beweglichkeit sorgen. Innerhalb dieser Klischees schlüpfen manche Darsteller sehr unkompliziert in ihre Kostüme, andere brauchen viel Geduld und Probezeit, um sich an bestimmte Kostüme zu gewöhnen. Wie sehr die Entwicklung von Kostümen zum gemeinsamen Prozess wird, hängt ebenso vom Inszenierungsstil und Theaterform wie von den beteiligten Persönlichkeiten ab. Kostüme bringen ihre eigenen Geschichten mit, die ja ganz unterschiedlicher Herkunft sein können: maßgeschneidert, aus dem Theaterfundus oder vom Flohmarkt. Bei gebrauchter Kleidung schwingt deren Geschichte mit, Lebensspuren ihrer vorherigen Besitzer haben sich in den Stoff gedrückt. Sie gehen ihr Wechselspiel ein mit dem Körper des neuen Trägers, mit dem in ihnen enthaltenen Archiv an persönlichen und kollektiven Spuren. Schnitt und Material wirken auf die - äußere und innere - Haltung des Trägers ein: Eine feste Korsage richtet den Rücken auf und hohe Schuhe bewirken einen konzentrierteren Gang als Flipflops. Historische Kostüme weisen eine für unsere Zeit ungewohnte Enge auf, die für nicht wenige Akteure eine Herausforderung darstellt. Wie weit bei einem umfangreichen Barockkostüm so originalgetreu wie möglich gearbeitet wird mit der entsprechenden Steifheit der Materialien oder versucht wird, einerseits die historische Silhouette zu formen, während dehnbare Materialen für die Beweglichkeit der Darsteller sorgen, sind folgenreiche Entscheidungen für eine Inszenierung. So selbstverständlich ein Kostüm wirken mag, wenn es sinngerecht eingesetzt wird, so viel Einfluss hat es auf die Darsteller, auf deren Haltung und gegebenenfalls auf ihre Rollenpräsenz. Kleidung beeinflusst Handeln: Sie kann unmerklich mit dem Organismus verschmelzen, sie kann stützen, dem Körper mehr Raum geben, indem sie ihn verlängert oder vergrössert, aber auch stören, ablenken - man denke nur an zwickende, unbequeme Kleidung, kratzige Oberflächen. Sie kann die Präsenz des Darstellers unterstützen, herausfordern oder untergraben - ihn zum Schwitzen bringen oder schmei- 16 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. S.25. <?page no="229"?> Das unsichtbare Kostüm 229 chelnd berühren. So stehen die Darsteller im Dialog mit dem Kostüm, ob sie - gewollt oder ungewollt - gegen ihr Kostüm anspielen oder vom Kostüm in ihrer Körperlichkeit unterstützt und gedoppelt werden. Diese körperlichen, haptischen Erfahrungen des Darstellers werden vom Zuschauer wahrgenommen und können das Gefühl der optischen Berührbarkeit des Bühnenvorgangs verstärken. „The body and dress operate dialectically: dress works on body, imbues it with social meaning while the body is a dynamic field which gives life and fullness to dress”. 17 Wir erfahren Kleidung also als „lebendig und fleischlich”. 18 Kleidung erwacht am Körper zum Leben, indem sie Privilegien des Lebens übernimmt: Geruch, Wärme und Bewegung. Körperformen bilden sich ab, Gebrauchsspuren verweisen auf Aktivität, manchmal auf ganz konkrete Umgebungen, aber auch generell auf Vergänglichkeit. Die Kleidung nimmt einen Teil des Körperlichen auf, fügt aber einen ganz entscheidenden Faktor hinzu: sie verankert den Körper im gesellschaftlichen Kontext und wird zum Archiv nicht nur für persönliche sondern auch für kollektive Erinnerungen: Denn auch wenn die Kostüme bzw. Kleidung Straßenkleidung ist, in global vertretenen Kleiderkaufhäusern gekauft, stecken in diesen Kleidungsstücken Zeitzeichen, die ihre Designer bei der Entwicklung der Teile hineingegeben haben; sei es der Schnitt, das Material, die Verarbeitung, die Farbigkeit. Auf der Bühne werden häufig Probenkostüme eingesetzt, damit sich die Darsteller an ihre Figur und an ihre Bewegungsspielräume gewöhnen können. Trotzdem kann es bei den Endproben noch zu Problemen kommen, wenn die originalen, teilweise angefertigten Kostüme aus den Werkstätten kommen: Fremdheitsgefühl, trotz Anproben, da die Kleidung nicht „eingelebt” ist, sich ihr Träger erst an die neue Hülle gewöhnen muss. Übrigens ist auch der Regisseur manchmal überrascht von den Originalen: nachdem er wochenlang auf Probekostüme geschaut hat, muss auch er sich - trotz genauer Figurinen und intensiver Besprechungen - erst an das neue Bild gewöhnen. Und nicht selten wird ein Probekostüm dann zum Original ernannt, weil es in seiner Ein- und Abgetragenheit „authentischer” zu sein scheint und eine Geschichte lebt. Sinnstickerei Bilder werden gebraucht, um den stofflosen, per definitionem unkörperlichen Sinn zu vergegenwärtigen, der ganz im Verknüpfen und nicht im Stoff steckt. 17 Joanne Entwistle, Elizabeth Wilson, Body Dressing, Oxford 2001. S. 36 18 Ebd., S.36 <?page no="230"?> Berit Mohr 230 Doch wie könnte es ein Verknüpfen ohne Stoff geben? Nun: Das Bild ist das Gewebe eines fadenlosen Webens. Der Sinn bedarf des Bildes, um aus seinem Stoffmangel, seiner Unhör- und Unsichtbarkeit herauszutreten. Der Sinn verlangt Klang, Zug, Figur, ohne die er so abstrakt und flüchtig ist, wie die Bewegung einer Nadel durch die Maschen einer Stickerei hindurch. Jederzeit ist die Sinnstickerei davon bedroht, im Zweifel der Umgarnung unterzugehen. 19 Diese textile Metapher lässt sich direkt auf das Kostümbild anwenden. Der Bühnen- und Kostümbildner Peter Pabst sagte in einem Interview, dass Kostüme, wenn sie sich nicht unauffällig in die Geschichte mengen, die Eigenschaft haben zu stören und unangenehm aufzufallen. Ob unauffällig oder auffällig - Kostüme sind dann mehr als sinnentleerte äußere Hüllen, wenn sie im Dienste einer Geschichte oder eines Konzeptes stehen, also „sinnvoll” sind. Eine stimmige Unauffälligkeit entsteht dann auch nicht zufällig, sondern ist das Ergebnis meist vieler Überlegungen oder Proben, bei der jegliches Überflüssige, die „Umgarnung”, bis zur Essenz entfernt wird. Indem die Kostüme visuell in den Hintergrund treten, können sie zu Projektionsflächen für eigene Vorstellungen werden. Denn, nach Nancy bedeutet „bilden”, der Präsenz Kontur, Umriss und Eigenart zu verleihen. In erster Linie gibt das Bild der Anwesenheit statt, es ist Mach- und Stoffart der Präsenz. 20 Am Grund der Bilder befindet sich die Einbildungskraft. Sie ist die Grundvoraussetzung jedes Bildes, und die Maske selbst - in diesem Falle das Kostüm - tritt ins Licht, um doch gleich wieder zu verschwinden. Dieses Wechselspiel von Anwesenheit und - fast gleichzeitiger - Abwesenheit, das es erlaubt, innere Bilder zu projizieren, macht die Kraft eines „unsichtbaren” Kostüms aus, da es den eigenen inneren Bildarchiven des Zuschauers die Möglichkeit gibt, sich zu entfalten. Der Schein des Unaufwendigen hat seinen Preis: Ohne Kostümwechsel und aufwendige Gestaltung bleibt ein Kostüm länger im Fokus des Betrachters, muss diesen Blick tragen und ertragen können. Je weniger Kostüm, desto wichtiger wird das Material, die Verarbeitung, jedes Detail, da der verdichtete Blick wie ein Vergrößerungsglas wirkt. Selbst Strukturen, die mit dem bloßen Auge kaum wahrzunehmen sind, prägen in der Summe der visuellen Reize das Bild, in dem auch das Unterbewusstsein seine Anknüpfungspunkte sucht. Sich aus ästhetischen Gründen für ein unauffälliges, unaufdringliches Kostüm zu entscheiden, ist eine Sache. Es bleibt abzuwarten, in wieweit die minimale Ausstattung, das „Unsichtbare” ein Trend, eine Mode an sich ist. Nicht immer jedoch sind die Überlegungen, die zu einer reduzierten Kostümarbeit führen, künstlerischer Natur. Häufig genug spielen finanzielle Gründe eine größere Rolle - kleine Kostümbudgets und unzureichende Bezahlung von Kostümbildnern führen in der Praxis zu vielen Kompromissen mit der Folge, dass die Möglichkeiten, die das Kostüm als gestalterisches 19 Jean Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Zürich, Berlin 2006. S.114/ 115. 20 Ebd., S.113. <?page no="231"?> Das unsichtbare Kostüm 231 Element im Gesamtprozess mitbringt, in vielen Fällen unausgeschöpft bleiben. Hier werden Potentiale verschenkt, Wahrnehmung zu hinterfragen und berührende Bilder zu schaffen. Das Gespür für Material, Formen und Ausdruck will aber sensibilisiert werden, das Bewusstsein für das theatrale Mittel „Kostüm” braucht Aufmerksamkeit und den Mut zum Experiment im künstlerischen Prozess, in dem sich die gestaltenden Mittel als gleichberechtigte Partner gegenüber stehen. Indem das szenische Kostüm Inhalte mit seiner ihm eigenen bildnerischen Sprache ausdrückt und dabei die Körper berührt, scheint es für Momente die Kluft von Subjekt und Objekt, die Trennung von Bild und Grund zu überwinden, indem Kleidung und Gestaltung mit der Idee vom Menschen und dessen wahrnehmender Körperlichkeit verschmelzen. Abb. 1: n.n.n.n.1, Premiere: 21 November 2002, Opernhaus, Frankfurt am Main, Foto: Jan-Joris Bos. Die vier Tänzer tragen unspektakuläre Kostüme, wirken auf den ersten Blick wie in einer zufälligen Probesituation: T-Shirts in verschiedenen Farben, teils mit langen, teils mit kurzem Arm, dazu Trainingshosen und graue Socken (unsichtbar auf dieser Abbildung). Hier findet eine Abgrenzung statt vom konstruierten, extra für das Stück und den Tänzer entworfenen, möglichst hautengen Tanzkostüm, welches im klassischen Ballett den trainierten, schwerelosen Körper als idealisierte Form zeigt. Mit ihrer informellen Leichtigkeit und der Abwesenheit von sichtbarem Make-Up schaffen die Kostüme Nähe zwischen den Tänzern und suggerieren beinahe Privatsphäre, aber auch einen Prozess, einen unfertigen Zustand - sei es in der Arbeitssituation oder in der Beziehung zwischen den vier Männern. <?page no="232"?> Berit Mohr 232 Die Figuren - ein Begriff, der für diese so an die Normalität gerückten Körper viel zu künstlich erscheint - sind geteilt in der Körpermitte. Unterschiedlich gefärbte Oberteile und Hosen betonen die Horizontale, die entstehenden Körperfarbflächen behaupten sowohl den individuellen als auch den Gruppenkörper als plurale Gebilde. In ihrer eingeschränkten Farbpalette von hellgrau, dunkelgrau, grün, dunkelblau zu unterschiedlichen Schwarztönen bilden die Farben eine subtile Struktur. Jeweils zwischen zwei Tänzern entsteht eine Verbindung: ein Tänzer trägt eine hellgraue Hose, ein anderer ein hellgraues Shirt, während die anderen beiden jeweils dunkelblaue T-Shirts und schwärzliche Hosen tragen- schwärzlich, und nicht schwarz, da es kleine Farbabstufungen zwischen den Tönen gibt, die minimale Differenzen erzeugen. Das Grün ist nicht gleich grün, das Schwarz schimmert braun oder blau. Geplant oder ungeplant: Kleine Disharmonien sorgen für winzige Mehr-Informationen und optische Spannungen zwischen den Tänzern. Körper bilden sich ab in den überwiegend nicht glänzenden, lässigen Baumwollstoffen; Augenzwinkern und Selbstironie schimmern durch die Falten der nicht perfekt sitzenden, zerknitterten Hose. Galonartige Streifen, deren Ursprung in eleganter Abendkleidung und im Militär liegt und die zudem das Markenzeichen einer bekannten Sportmarke sind, veredeln zwei Tänzerhosen und betonen die Vertikale, eröffnen ein Spannungsfeld der Linien; sie verkörpern Schnelligkeit, Beweglichkeit und körperliche Leistung: Werte, mit denen die Tänzerkörper selbstironisch spielen. In der Bewegung verlieren alle angerissenen Bilder ihre Kodierung und verweigern sich jeglicher festen Deutung. Abb. 2: Mamma Medea, Münchner Kammerspiele, 8. Dezember 2007, Foto: Arno Declair. Erwartungsgemäß begegnet man dem „unsichtbaren Kostüm” am häufigsten im zeitgenössischen Schauspiel, in dem die Bezüge zum gesellschaftlichen Alltag besonders nah sind. <?page no="233"?> Das unsichtbare Kostüm 233 Hier erzählt die weite Jogginghose der Titelfigur: Ich kümmere mich nicht mehr um mich. Die ausgebeulte Hose ist aus der Form geraten und betont den sozialen und emotionalen Abstieg der Titelfigur, ihre ungepflegte Lethargie in dieser Handlungsphase. Falten zeichnen sich ab im weichen, bläulichen Stoff, der von einem unaufwendigem, nachgiebigen Gummizug in der Taille gehalten wird. Ein unterwäscheähnliches weißes Oberteil ohne Ärmel zeigt Verletzlichkeit durch viel sichtbare Hautfläche. An Medeas Knien klebt die schwarze Asche und markiert ihren Fall. Schwarz ist der Anfang von allem, der Nullpunkt, der Umriss, der Behälter - dann der Inhalt. Ohne seinen Schatten, sein Relief und seine Unterstützung würde es mir so vorkommen, als existieren die anderen Farben nicht. Gleichzeitig ist schwarz die Summe aller Farben. Es ist schwankend, unterschiedlich, nie dasselbe. Es gibt eine Vielzahl von Schwarztönen: Das zarte Schwarz der Transparenz, das stumpfe und triste Schwarz des Trauerflors, das tiefe königliche Schwarz des Samtes, das überreiche Schwarz des Tafts oder das strenge der Seide (Faille), das fliessende Schwarz des Satins, das fröhliche und offizielle Schwarz des Lacks. Wolle erinnert an Kohle, Baumwolle wirkt rustikal und alle neuen Stoffe verspielt, wenn sie schwarz sind. […]Da ist Dichte, da ist Wollust, ja eine ganze Welt in einem kleinen Fleck Schwarz. …Schwarz ist ebenso sehr Materie wie Farbe, es ist Licht ebenso wie Schatten (dessen ultimatives Loblied Barthes gesungen hat). Es ist weder traurig noch fröhlich, sondern Allure und Eleganz, perfekt und unumgänglich. Man widersteht ihm ebensowenig wie der Nacht. Kinder sollten sich nicht vor dem Schwarz fürchten, denn wenn sein Mysterium ihnen auch Angst macht, so enthält es doch auch die Antwort auf seine Geheimnisse. 21 Dass Operninszenierungen nicht immer mit riesigem Kostüm-und Maskenaufwand betrieben werden, zeigt das Beispiel „Cosi van Tutte” in der Regie von Christof Loy, in der Herbert Murauer für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Das „Kleine Schwarze” kommt in dieser Inszenierung zusammen mit schwarzen Anzügen zum großen Einsatz, die reduzierte, strenge Schwarz- Weiß-Ästhetik von Kostüm und Bühne lässt Raum für inhaltliche Ausrichtung und subtilen Ausdruck. In der berühmten Verkleidungsszene wird sie zur graphischen Fläche, vor der knallige Farben in ihrer Einfachheit und Absurdität eine witzige und phantasievolle Veränderung erzählen. Der erwähnte Vergrößerungseffekt lässt jedes Detail gewichtig erscheinen und die zuvor behaupteten Idealbilder einer durchästhetisierten Gesellschaft wirken hilflos in ihrer aufgelösten Erscheinung. 21 Christian Lacroix, in: Charlotte Seeling, Mode. Das Jahrhundert der Designer 1900-1999, Köln 1999. S.120/ 121. <?page no="234"?> Berit Mohr 234 Abb. 3: Cosi van Tutte, Oper Frankfurt, 29. März 2008, Foto: Monika Rittershaus. <?page no="235"?> Annemarie Matzke Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt Jedes Erarbeiten einer schauspielerischen Darstellung steht vor dem Problem, dass der Schauspieler ein Bild von sich (als dramatische Figur) entwerfen muss, ohne selbst aus der Distanz auf dieses Bild blicken zu können. Welche Bedeutung haben also Selbstbilder für den Prozess der schauspielerischen Darstellung? Dies möchte ich im Folgenden anhand der schauspieltheoretischen Schriften Sarah Bernhardts diskutieren, die sie 1923 unter dem Titel L’Art du théâtre veröffentlicht. Im Rijksmuseum in Amsterdam ist eine um 1877 entstandene Büste des Bildhauers Frans Stracké zu bewundern. Es ist die Skulptur eines Frauenkopfs, der von einem Tuch umschlungen ist. Der Blick ist gesenkt, die Haare sind in Strähnen ausmodelliert, um den Hals trägt sie eine Kette mit der Inschrift: Sarah. Die Büste zeigt die biblische Figur Sarah in der schauspielerischen Darstellung der Rollenfigur Sarah durch die Schauspielerin Sarah Bernhardt. Die Repräsentation einer dramatischen Figur wird hier zur Vorlage und damit zum Vor-Bild einer anderen künstlerischen Darstellung. Die Schauspielerin dient als Modell, das für sich steht und ausgestellt wird, jenseits ihres Spiels auf der Bühne. Dieses Spiel mit Überlagerungen wird auch durch die Bezeichnung markiert. Die Inschrift des Namens auf der Kette verweist auf die verschiedenen Sarahs, die sich hier treffen: die biblische Figur, die Rollendarstellung und die Schauspielerin. Sarah ist Sarah ist Sarah. Der Bildhauer Stracké ist nicht der einzige, der Sarah Bernhardt als Modell wählt. Zahlreiche Maler, wie beispielsweise Henry Toulouse-Lautrec, haben sie portraitiert. Sie ist ein beliebtes Fotomodell für zahlreiche Fotographen der Jahrhundertwende wie Paul Nadar oder Aimé Dupont. Das Bild der Schauspielerin Sarah Bernhardt wird zu einem eigenen Sujet. Es löst sich vom Kontext der szenischen Darstellung, wird zur Reproduktion ihrer Reproduktionen. Sie wird zu einer „Ikone der visuellen Kultur”, wie Kati Röttger herausarbeitet. 1 So bleibt das Image `Sarah Bernhardt´ bis weit ins 20. Jahrhunderts aktuell. Es wird zum Material der Weiterverarbeitung: in den Siebdrucken Andy Wahrhols, den Übermalungen Gerhard Richters oder 1 Kati Röttger, „Performative Bildpraxis und melodramatische Technik. Zur Orientalisierung des Bild/ Körpers Sarah Bernhardts - einer Ikone der visuellen Kultur im ausgehenden 19. Jahrhundert”, in: Hans-Peter Bayerdörfer et. al. (Hg.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierungen von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 379-398. <?page no="236"?> Annemarie Matzke 236 auch in ihrer Auferstehung als Comic-Heldin im gleichnamigen Lucky Luke- Band. Wie keine andere Schauspielerin vor ihr versteht es Sarah Bernhardt, mit verschiedenen Bildern ihrer selbst zu spielen. Dabei nutzt sie konsequent die im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert neuen Medien wie Film, Schallplatte, Fotografie oder Werbebild für ihre Selbst-Inszenierungen, in denen sie private Person und Bühnenpersona gekonnt zu überlagern versteht. Sie lässt sich in ihren Privaträumen fotografieren und verkauft diese Bilder als cartes de visite, um für ihr Theater Werbung zu machen. Sie wirbt für Zigaretten wie für Sardinen. Auch mit dem Ziel, ihren Status als internationaler Star zu festigen. Die Werbung ist auch eine Werbung für sie. Ein „Genie der Reklame” nennt sie Henry James deshalb. Der Körper der Schauspielerin wird zum „Ausstellungsobjekt”, wie es Claudia Thorun in ihrer Studie zu Sarah Bernhardt schreibt. 2 Allerdings nicht die Analyse dieser Bilder oder die Untersuchung jener medialen Selbst-Inszenierungen sind Gegenstand meiner folgenden Überlegungen. Dies ist bereits in den oben zitierten Studien von Kati Röttger als Frage nach der Inszenierung von Fremdheit und von Claudia Thorun als Frage nach der Inszenierung von Weiblichkeit oder auch von Willmar Sauter in seinen Überlegungen zum theatrical event als Wechselverhältnis zwischen Publikum und Schauspieler herausgearbeitet worden. 3 Ich möchte mit der Frage nach der Arbeit am Selbstbild den Blick auf eine andere Ebene lenken: Wenn Sarah Bernhardt wie kaum eine andere Schauspielerin zum Bild- Modell ihrer Epoche wird, wenn ihr Bild tausendfach reproduziert jenseits der Bühne zirkuliert, welche Bedeutung schreibt sie dem Selbstbild in ihren eigenen schauspieltheoretischen Schriften zu? Wie wird vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Schauspielerin und Körperbild - aus der Perspektive der künstlerischen Praxis heraus - theoretisiert? Selbstbilder, als Imagines des Selbst, als Vorstellungen, die sich der einzelne von sich und seinem Körper macht, sind grundlegend für schauspielerische Darstellungen. Da die Arbeit des Schauspielers von dem, was sie hervorbringt, nicht zu trennen ist, ist sie damit immer auch eine Arbeit an und mit diesen Selbstbildern. Dabei möchte ich das Selbstbild als „bodyimage”, als schematische Wahrnehmung des Körpers vor dem inneren Auge verstehen, in dessen Entwurf sich innere und äußere Erscheinungsweise überlagern. 4 2 Claudia Thorun, Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit am Fin de Siècle, Hildesheim 2004. 3 Willmar Sauter, The Theatrical Event. Dynamics of Performance and Perception. Iowa City 2000 . 4 Vgl. Paul Schilder, The Image and Appearance of the Human Body. Studies in the constructive energies of the psyche, New York 1978. <?page no="237"?> Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt 237 Zu fragen ist dabei, wie das Bild vom Körper als etwas zu Erarbeitendes wie auch zu Bearbeitendes gedacht wird. Über den Begriff der Arbeit wird dabei ein spezifisches Selbstverhältnis des Schauspielers gefasst. Die Formulierung `arbeiten an´ rückt den Gegenstand der Arbeit in den Fokus: das, woran gearbeitet wird. Der Blick fällt auf den Akt des Produzierens selbst und weniger auf das mögliche Ergebnis dieses Prozesses. Schauspielerische Darstellung produziert, ohne stabile Produkte zu hinterlassen. Dieses fehlende Produkt markiert damit auch immer das Unverfügbare der Arbeit des Schauspielers, die sich nur im Tun konstituiert. Von der Arbeit am Selbstbild zu sprechen bedeutet, den ambivalenten Status des schauspielerischen Bildentwurfs in den Blick zu nehmen. Der Schauspieler arbeitet mit Selbstbildern, die durch die Anbindung an seinen Körper und seine Darstellung jedoch niemals fixierbar sind. Sie sind somit nicht jenseits ihres Entstehens und ihres Herstellungsvorgangs zu denken. Arbeitend macht sich der Schauspieler selbst zum Objekt seiner Darstellung, entwirft im Prozess der Arbeit Bilder von sich selbst, ein Vorgang, der kein Ende kennt, dessen mitlaufende Bedingungen nicht festgeschrieben sondern flüchtig sind, für dessen Gelingen es keine Garantie gibt, der sich permanent re-organisiert und verändert. Es ist ein Prozess der Arbeit an sich selbst, dem immer schon der Blick des anderen - als Projektion des Schauspielers - eingeschrieben ist. Diese Dimension des Arbeitsbegriffs als Form der Selbstbildung bekommt seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schauspieltheorie eine neue Bedeutung. Bereits 1841 betont Heinrich Theodor Rötscher in seiner Kunst der dramatischen Darstellung die anthropologische Dimension der Arbeit des Schauspielers, der sich als ästhetisches Subjekt in der Arbeit an sich selbst erst hervorbringen muss, um überhaupt in den künstlerischen Prozess eintreten zu können. 5 Spätestens mit Stanislawskis Formulierung der „Arbeit des Schauspielers an sich selbst” wird dies zu einem eigenen Topos in der Schauspieltheorie, auch verstanden als „systematische Durchbildung der Körperlichkeit” (Carl Hagemann). 6 Für die Frage nach dem Verhältnis von Körperbild und schauspielerischer Darstellung im Falle Sarah Bernhardts ist aber noch ein anderer Begriff der Arbeit von Interesse, der sich durch die Schauspieltheorien um 1900 zieht. 1881 verfasst Anton Čechov eine Kritik über das Gastspiel der Schauspielerin in Moskau. Polemisch hinterfragt er die Begeisterung, die ihre Auftritte auslösen, mokiert sich über die Hysterie um die Person der Darstellerin und 5 „Der Schauspieler ist also nur insofern Künstler, als er sich auch durch die Bewältigung seiner Individualität im Dienste seiner Kunst dazu gemacht hat, mit einem Worte durch die freie, geistige Arbeit und Bildung, welche seine Persönlichkeit so weit geformt und geschult hat, daß sie zu einem gefügigen Organ zur Darstellung der dichterischen Gestalten umgeschaffen worden ist.” Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, Berlin 1841, S. 13. 6 Carl Hagemann, Regie. Die Kunst der szenischen Darstellung, Berlin, Leipzig 1912, S. 156. <?page no="238"?> Annemarie Matzke 238 urteilt vernichtend: „Ihr gesamtes Spiel ist nicht durchdrungen von Talent, sondern von einer gigantischen und mächtigen Arbeit.” Es sei diese Arbeit, in der „das ganze Rätsel dieser rätselhaften Schauspielerin” liege. Nichts als eine „fehlerfrei und intelligent einstudierte Lektion” sei zu sehen gewesen: „Jeder ihrer Schritte ist zutiefst durchdacht, ein hundertmal betontes Kunstwerk”. Es gäbe kein Detail, das nicht „hundertmal das Fegefeuer dieser Arbeit durchlaufen hätte.” 7 Čechov begründet seine Kritik mit der Sichtbarkeit der schauspielerischen Arbeit auf der Bühne. Arbeit der Schauspielerin meint hier das bewusste Setzen und Kalkulieren der Wirkung des Spiels bis in die kleinsten Details; eine Arbeit, der ein Wissen um die Wirkungen der schauspielerischen Darstellung vorangehen muss; eine Arbeit, die, wie Čechov es beschreibt, sich vor allem am Körperbild ausrichtet - an Posen und Bewegungen. Der Vorwurf Čechovs - der reproduktive Charakter der Darstellung wie das Spiel mit Effekten (statt mit Affekten) - ist ein Topos der sich durch den Diskurs um die virtuose Darstellung zieht, wie Gabriele Brandstetter herausgearbeitet hat: als Vorwurf des Seelenlos-Mechanischen, der Effekthascherei, des leeren Scheins. 8 Nach Čechov macht sich Bernhardt selbst in der Arbeit sichtbar und sprengt damit den Rahmen der Rollendarstellung. Indem sie sich selbst als Produkt ihres Arbeitens aufführt, unterläuft sie den Anspruch auf eine Unmittelbarkeit der Darstellung: als ein Re-Produzieren ihrer selbst. Čechovs Kritik verweist damit auf ein Paradox der Frage nach der Arbeit des Schauspielers: Der Schauspieler soll und muss notwendigerweise an sich arbeiten als Form der Selbstbildung, ohne dass diese Arbeit selbst sichtbar werden soll. Dieser Widerspruch findet sich auch in den schauspieltheoretischen Schriften Bernhardts selbst. Die 1923 posthum veröffentlichte Abhandlung L’Art du théâtre 9 von Sarah Bernhardt ist keine Schauspieltheorie im engen Sinne, da sie nicht versucht eine Systematik der schauspielerischen Arbeit zu präsentieren, sondern die Abhandlung kann vielmehr als Darstellung ihres schauspieltheoretischen Selbstverständnisses gelesen werden. Der Text präsentiert sich unübersichtlich; er springt zwischen verschiedenen Fragestellungen hin und her: Schauspielerbeschreibungen stehen neben Anekdoten, die notwendigen Voraussetzungen für eine (erfolgreiche) Bühnenkarriere werden ebenso diskutiert wie Lösungsvorschläge für Darstellungsprobleme bis hin zu Schminktipps gegeben. 7 Anton Čechov, „Noch einmal über Sarah Bernhardt”, in: Ders., Über Theater, Zürich 2008, S. 21. 8 Gabriele Brandstetter, Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität. Hofmannsthal Jahrbuch 10 (2002), S. 213-243. 9 Sarah Bernhardt, L’Art du théâtre, Paris 1923. <?page no="239"?> Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt 239 Mit dem Titel der Schrift, der das berühmte Traktat L’Art du théâtre 10 von Francesco Riccoboni zitiert, verortet sich Bernhardt in der Diskussion um die Frage nach dem Gefühls- oder Verstandesschauspieler wie sie sich seit dem 18. Jahrhunderts durch die Schauspieltheorie zieht. Auch wenn sie Riccoboni zitiert, schlägt sich Bernhardt auf die andere Seite. Wenn dieser einen reflektierten Schauspieler fordert - zusammengefasst in der zentralen These „jouer par reflexion” -, dann erklärt Bernhardt, der Schauspieler solle in seiner Rolle aufgehen und mit seiner Figur fühlen. Betrachtet man jedoch ihre Ausführungen jenseits dieser schauspieltheoretischen Positionierung, die sich entlang der bekannten Topoi des `Glaubens des Schauspielers´ oder `Innerlichkeit´ bewegt, dann eröffnet sich ein komplexeres und widersprüchlicheres Konzept der schauspielerischen Darstellung. So beschreibt sie ihre Annäherung an die Rollendarstellung in der Vorbereitung auf die Aufführung als einen Prozess des Bildentwurfs: Que de fois je suis arrivée au théâtre fatiguée, souffrante, découragée; puis peu à peu, je me suis reprise à la vie de ce personnage que j’ allais représenter. Et tout en arrangeant mon visage, je le changeais par un tout petit rien, perceptible pour moi, mais presque invisible pour le public. Le personnage que je devais représenter étant une femme violente et fatale, je rapprochais légèrement mes sourcils, je le creusais vers le milieu et lançais leur pointe vers la tempe en les laissant tomber ; j’effaçais l’arc de la lèvre supérieure pour la laisser droite et implacable. Et ma figure prenait une froideur mystérieuse. […] Et peu à peu je m’identifiais à mon personnage. Je l’habillais avec soin ; je reléguais ma Sarah Bernhardt dans un coin. Je la faisais spectatrice de mon nouveau « moi » ; et j’entrais en scène prête à souffrir, à pleurer, à rire, à aimer, ignorant ce que le « moi » de moi faisait là-haut dans ma loge. 11 Der Akt der Identifizierung mit der Rollenfigur wird hier als eine Szene vor dem Spiegel beschrieben: Es ist keine Identifikation mit einem Gefühlszustand der Figur, sondern eine Annäherung über einen Bildentwurf. Mit der Schminke legt sich die Maske der Figur auf das Gesicht der Schauspielerin. Ihr Gesicht wird zu dem der Figur. Das Bild wird auf das eigene Gesicht gezeichnet als ein Akt der Übermalung und Verschiebung der eigenen Ge- 10 Francesco Riccoboni, Die Schauspielkunst. Übers. von Gotthold Ephraim Lessing, Berlin 1954. 11 „Oft kam ich müde, leidend und niedergeschlagen ins Theater, und bin erst nach und nach in das Leben des zu spielenden Charakters eingetreten. Dadurch dass ich mein Gesicht vor dem Spiegel herrichtete, in einem unbedeutenden Maße, wahrnehmbar für mich, aber fast unsichtbar für die Zuschauer. Wenn der darzustellende Charakter eine unglückliche und gewalttätige Frau war, dann habe ich meine Augenbrauen zusammen zeichnet, so dass sie sich in der Mitte trafen und den Bogen meiner Oberlippe ausgelöscht. Eine mysteriöse Kälte stahl sich über mein Gesicht. [...] Allmählich identifizierte ich mich mit dem darzustellenden Charakter. Ich zog ihn mit Sorgfalt an, ich schickte Sarah Bernhardt in eine Ecke und ließ sie zu einer Zuschauerin meines neuen „Selbst” werden. Ich betrat die Bühne, fertig zu leiden, zu schluchzen, zu lachen, zu lieben, ignorierend was mein reales Ich in der Garderobe tat.” Sarah Bernhardt, L’Art du théâtre, S. 203-205. <?page no="240"?> Annemarie Matzke 240 sichtszüge. Die Identifikation findet mit einem veränderten Selbstbild statt: einem Selbstbild, dem der Blick des Zuschauers immer schon eingeschrieben ist. An anderer Stelle spricht Bernhardt davon, dass der Schauspieler sich selbst sehen müsse, so wie er im Theater aussieht. Er muss sich damit an die Stelle des Zuschauers setzen. Innere und äußere Erscheinungsweise sollen abgeglichen werden. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind nicht mehr voneinander zu trennen. Zugleich wird ein Prozess der Dissoziation beschrieben. Bernhardt präsentiert sich als bewusste und sorgfältige Initiatorin wie Beobachterin eben jenes Transformationsprozesses. Dieser Beobachterin wird eine eigene Position zugewiesen. Während sie zuerst den Transformationsprozess im Spiegel - im Moment der Überschneidung von Selbst- und Fremdwahrnehmung - betrachtet, wird sie im Übertritt abgetrennt, in eine Ecke gestellt und muss sich während der Aufführung allein in der Garderobe begnügen. Nicht das Aufgehen in der Rollendarstellung, keine Immersion, sondern eine Form der räumlichen Spaltung wird hier zum Modell der schauspielerischen Darstellung. Wenn der Anthropologe Helmuth Plessner die Fähigkeit des Menschen, zu sich selbst Abstand zu nehmen, zur anthropologischen Grundbedingung des Schauspiels erklärt, 12 dann zeichnet Bernhardt hier ein Szenario, das diese „exzentrische Position” buchstäblich aufführt: ein Szenario der Spaltung. Dass der Schauspielerin Sarah Bernhardt, als sozialer Person und als intentionales ästhetisches Subjekt, ein eigener Ort zugewiesen wird - sie nicht einfach in der Darstellung aufgeht - verweist auf ein Modell der Schauspielerin, das der Doppelung von Schauspielersubjekt und Rollenfigur eine besondere Produktivität zuschreibt. Allerdings für die Arbeit an der Rolle, nicht für den Akt der Darstellung selbst. Um das Spiel `wahrhaftig´ erscheinen zu lassen und um die `Spuren´ seiner Arbeit zu tilgen, ist es nötig, diesen bewussten Part abzutrennen, d.h. ihn von der Schauspielerin und dem zu zeigenden Bild abzulösen. Die Schauspielerin als Arbeiterin muss auf der Bühne abwesend sein. Die Versenkung in die Situation der Aufführung ist nur um den Preis der Abspaltung des intentionalen Künstlersubjekts zu haben. Für die Schauspielerin bedeutet dies, dass ihr Selbstverhältnis zwar durch einen distanzierten Blick auf sich selbst gekennzeichnet ist, der sich aber am Blick des Zuschauers orientiert. Zugleich muss sie im Moment des Spiels den Blick des anderen ausblenden: Jede Ausrichtung auf einen anderen hin soll vermieden werden. In diesem Sinne muss der fremde Blick als eigener begriffen und internalisiert werden. Zu fragen ist allerdings, wer auf die Bühne geht, wenn Sarah Bernhardt in der Garderobe bleibt? Denn in der Problematisierung der Spaltung ist 12 „Er selbst (der Schauspieler) ist sein eigenes Mittel, das heißt er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes hinter der Figur, die er verkörpert, stehen.” Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers”, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 7, Frankfurt am Main 1982, S. 399-418, hier: S. 407. <?page no="241"?> Arbeit am Selbstbild. L’Art du théâtre von Sarah Bernhardt 241 jene Andere nicht einfach die dargestellte Figur. Bernhardt spricht von der Arbeit an einem Ideal, das es hervorzubringen gelte, ausgerichtet am „passenden Verhältnis” von schauspielerischer Physis und dramatischem Rollentwurf. Der Figurenentwurf wird als relationales Verhältnis von physischer Voraussetzung, Selbstbild und dramatischer Rollenkonzeption präsentiert - und kann dabei die jeweiligen gesellschaftlichen Normen überschreiten. Verdeutlichen lässt sich dies an den Gegenbesetzungen, für die Bernhardt berühmt geworden ist. So erklärt sie, dass die ideale Besetzung Hamlets eine Frau sein müsse, weil nur diese die jugendliche Physis Hamlets und zugleich die notwendigen Lebensweisheiten mitbringe. „Die äußerliche Seite der Kunst, ist manchmal die ganze Kunst”, 13 erklärt Bernhardt und sieht in einer spezifischen körperlichen Disposition des Schauspielers nicht nur die Grundlage des Schauspielens, sondern auch die Voraussetzung. Dieses Verhältnis von Körperbild und Schauspieler-Subjekt lässt sich über die Abgrenzung zu einer anderen Schauspieltheorie spezifizieren, die sie vehement angreift. Constant Coquelin bezieht sich in seiner Schrift L’Art et le Comedien konkret auf Diderot und Riccoboni, 14 wie die beiden entwirft er einen reflektierenden Schauspieler als Doppel: als Spieler und Instrument. Der Spieler übernimmt den Part der Vernunft, interpretiert die Vorgaben des Dramatikers, entwirft die Rollengestalt; während ihm der Körper des Schauspielers als Instrument entgegengesetzt wird, das beherrscht wird und die entworfenen Vorgaben präzise auszuführen hat. Nur wenn der Schauspieler seinen Körper wie einen Sklaven unterwirft, ist nach Coquelin die vollkommene Kontrolle des Schauspielers über seinen Körper zu gewährleisten. Bernhardt dreht dieses Verhältnis um. Der Körper entzieht sich der Beherrschung: er ist als Bild immer schon da und setzt der Darstellung einen Rahmen, dem die Schauspielerin nicht entkommen kann. Es ist damit ein Rahmen, der nur durch Tricks verschoben, aber nicht grundsätzlich beherrscht werden kann. Damit entzieht sich dieses Körperbild auch immer der Arbeit. Der Schauspieler zeigt zuerst sich selbst und seinen Körper, bevor er etwas anderes - eine Rolle - zeigen kann. Es präsentiert sich ein komplexes Verhältnis von Selbstbild, Körperkonzept und schauspielerischer Darstellung, zwischen Abtrennung und Spaltung auf der einen Seite und einer Annäherung im Bildentwurf auf der anderen Seite. Ausgerichtet auf ein Ideal, das weder hergestellt werden kann, noch gegeben ist, verfehlt die schauspielerische Arbeit immer ihr Ziel und bleibt dennoch notwendig, um an der permanenten Annäherung an dieses Ziel zu arbeiten. Dies lässt sich abschließend mit einer anderen Metapher verdeutlichen, die Bernhardt als Modell eines idealen Schauspielers vorschlägt und die den Bogen schlägt zur Frage der bildlichen Reproduktion. So erklärt Bernhardt: „L’artiste doit être un de ces plateaux sonores qui vibrent à touts les vents, 13 Bernhardt, L’Art du théâtre, S. 36-37. 14 Constant Coquelin, L’Art et le Comédien, Paris 1880. <?page no="242"?> Annemarie Matzke 242 qu’une brise légère agite [...]”. 15 Der Künstler wird hier als Schallplatte beschrieben, die bei jeder Erschütterung vibriert. Entworfen wird das Bild einer Schauspielerin, die sich selbst reproduziert und deren Darstellung in ihre Oberfläche gekratzt ist. Nicht der Akt der Darstellung, sondern die Mechanik macht die Besonderheit wie die Gefährdung des Vorgangs aus. Keine räumliche Spaltung sondern eine zeitliche Verschiebung wird hier problematisiert. Wenn Čechov die Arbeit der Schauspielerin aufgrund ihrer Mechanik, der Reproduktion, den bewusst gesetzten Effekten kritisiert, dann dreht Bernhardt dieses Bild um. Die Arbeit der Schallplatte zielt auf die Reproduktion des Einmal-Gesetzten. Die Materialität der Platte wie die mediale Disposition der Tonabnahme bedeuten nicht nur Gefährdung der schauspielerischen Darstellung, sondern sie unterstreichen - in dem sie mit aufgeführt werden - die besondere Leistung der Schauspielerin. Sich selbst zu reproduzieren, sich immer wieder neu zum Klingen zu bringen, und die Arbeit daran in ihrer Gefährdung mit auszustellen sind die Aufgaben der Schauspielerin. Dies lässt sich auch auf den Prozess der Bildentwurfs übertragen. Im Entwurf eines Ideals, das zugleich mit den physischen Voraussetzungen der Schauspielerin korrespondieren muss sowie in der Notwendigkeit, in der Bildwerdung einen Teil von sich abzutrennen, wird das entworfene Selbst-Bild zur fragilen Maske, die jederzeit verrutschen kann. Sie dennoch aufrecht zu erhalten, darin liegen das Risiko und die Kunst der Schauspielerin. Diese Herausforderung verschiebt auch die Parameter der schauspielerischen Darstellung: als Prozess eines permanenten Selbstentwurfs, in dem sich Wiederholung und Überschreitung überlagern. 15 Bernhardt , L’ Art du théâtre, S. 103. <?page no="243"?> Clemens Risi Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum- Erfahrung Raum der Musik und Musik des Raumes in Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka „Manches merkt man sich bloß, weil es mit nichts zusammenhängt.” Mit diesem Aphorismus aus Elias Canettis erstem Aufzeichnungsband Die Provinz des Menschen 1 übertitelt Heiner Goebbels einen Aufsatz über seine Musiktheaterproduktion Eraritjaritjaka. 2 Goebbels fährt fort: Dieser Satz, geschrieben in meinem Geburtsjahr 1952, ist auch eine Schlüsselformel für die Arbeit an ‚Eraritjaritjaka’. Vieles ergibt sich für die Aufführung gerade aus einem Nicht-Zusammenhang - zum Beispiel die unabhängige Existenz der Theatermittel, die einzeln vorgestellt werden: die Musik, das Quartett, das Licht, der Film, die Entwicklung des Raumes: Zunächst der schwarze Raum, dann das weiße Rechteck, das kleine Haus, das große Haus, das Draußen, das Drinnen. Erst später wird es zu Verschränkungen der verschiedenen, einzeln eingeführten Parameter kommen. 3 Ich möchte im Folgenden einige theoretische Überlegungen zu Räumlichkeit und Raumkonstitution mit der Beschreibung einer Musiktheaterproduktion verbinden und dabei zu zeigen versuchen, wie der spezifische Einsatz von Musik und Medien im Zusammenwirken ganz unterschiedliche Räume zu kreieren vermag. Für den theoretischen Teil stütze ich mich in erster Linie auf die Untersuchungen, die innerhalb der Arbeitsgruppe Wahrnehmung des Berliner Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen zur Formulierung eines performativen Raumbegriffs angestellt wurden. Für den zweiten Teil rekurriere ich auf meine Erfahrungen beim zweimaligen Besuch von Heiner Goebbels’ Musiktheaterproduktion Eraritjaritjaka von 2004 nach Texten von Elias Canetti mit André Wilms und dem Mondriaan Streichquartett, einmal im Schauspiel Frankfurt und einmal im Haus der Berliner Festspiele. 1 Elias Canetti, Die Provinz des Menschen, Frankfurt 1976, S.178. 2 Heiner Goebbels, „Manches merkt man sich bloß, weil es mit nichts zusammenhängt.” Fragen beim Bau von Eraritjaritjaka, in: Christina Lechtermann, Kirsten Wagner, Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 141-152. 3 Ebd., S. 141. <?page no="244"?> Clemens Risi 244 Raumbegriffe Als klassischer Raumbegriff galt und gilt in weiten Teilen noch heute die Vorstellung, ein Raum sei ein fester, stabiler Behälter. 4 Dieser auch geometrisch-physikalisch genannte Raumbegriff geht in Ansätzen bis auf die Antike zurück und findet über die Zentralperspektive und Descartes schließlich bei Newton seine eigentliche Definition. Raum wird in dieser Definition grundsätzlich unabhängig von Handlung und Bewegung gedacht. Dieser geometrisch-physikalische Raumbegriff bestimmt noch heute das alltägliche Verständnis von Raum, obwohl er verschiedentlich schon durch ein ‚relativistisches’ Konzept in Frage gestellt worden ist: angefangen von Leibniz, der den Raum als ‚eine Ordnung der Existenzen im Beisammen’ ausweist, bis hin zu Einsteins Relativitätstheorie, die für die Naturwissenschaften einen dynamischen Raum postuliert. In den Human- und Geisteswissenschaften ist es vor allem die Phänomenologie gewesen, die mit dem anthropologischen Raum einen alternativen Raumbegriff eingeführt hat. 5 Zu nennen sind hier etwa Maurice Merleau-Ponty 6 und Otto Friedrich Bollnow, 7 auf die die Einführung des anthropologischen oder erlebten Raumes („espace anthropologique”, „espace vécu”) zurückzuführen sind. Raum wird hier als ein dynamischer begriffen, der sich erst durch Akte, Handlungen, Bewegungen und die Wahrnehmung dieser Akte konstituiert. Die vielleicht eingängigste begriffliche Ausdifferenzierung zu diesem Thema stammt von Michel de Certeau. In seiner Studie Arts de faire aus L’Invention du quotidien von 1980, in deutscher Übersetzung 1988 als Kunst des Handelns erschienen, bezieht de Certeau sich explizit auf Merleau-Ponty und unterscheidet zwei Begrifflichkeiten voneinander, zum einen den Ort (lieu) und zum anderen den Raum (espace). Er schreibt: Ein Ort ist […] eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […]. 8 Besonders aufschlussreich ist de Certeaus Bezugnahme auf die Sprechakttheorie, also das Verhältnis von Kompetenz und Performanz. Für ihn ist das Gehen (marcher) dem Sprechen bzw. dem Sprechakt (acte de parler) ver- 4 Zu den folgenden theoretischen Überlegungen vgl. Arbeitsgruppe Wahrnehmung, „Wahrnehmung und Performativität”, in: Praktiken des Performativen (= Paragrana 13, Nr. 1, 2004) S. 15-80. Die Abschnitte zur Raumwahrnehmung (Raum und Räumlichkeit als Wahrnehmungsordnung, S. 25-47) wurden verfasst von Robin Curtis, Christof L. Diedrichs, Marc Glöde, Hendrikje Haufe, Kirsten Wagner und Haiko Wandhoff. 5 Arbeitsgruppe Wahrnehmung: „Wahrnehmung und Performativität”, S. 28. 6 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (orig. Phénoménologie de la perception, Paris 1945). 7 Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963. 8 Michel De Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218 (orig. L’invention du quotidien, 1: Arts de faire, Paris 1980). <?page no="245"?> Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum-Erfahrung 245 gleichbar, insofern der Akt des Gehens einer Äußerung gleichkommt, mit der Raum konstituiert wird, überhaupt erst entsteht. Nach dieser Auffassung ist die Existenz von Raum also gebunden an das Sich-Bewegen als Handlungsvollzug. Unter dieser Perspektive gewinnt der Unterschied von Ort und Raum noch einmal eine besondere Bedeutung. Der Ort (lieu) oder besser Orteraum ist wie die Sprache als System von Elementen (hier geographischer Elemente, dort sprachlicher Elemente) virtuell immer als Ganzes vorhanden, im Falle des Orteraums darstellbar etwa in der symbolischen Gestalt der Karte. Die Akte des Gehens wie des Sprechens sind nach dieser Auffassung als Vollzüge zu denken, die das entsprechende System der Elemente (geographischer bzw. sprachlicher Elemente) aktualisieren. Dabei wird aber nicht jedes Element aktualisiert. Das Gehen trifft vielmehr eine eigene Auswahl, die der Ordnung und Logik des Orteraums durchaus zuwiderlaufen kann. Dieser Eigensinn des Gehens, den auch das Sprechen besitzt, lässt das Gehen also die Ordnung des Orteraums nicht nur aktualisieren, sondern immer zugleich auch subvertieren und überschreiten. Der leibliche Handlungsvollzug des Gehens - gedacht als Aktualisierung und Subversion des Systems Orteraum - generiert schließlich den Raum (espace). Ebenso wie sich Sprache erst durch das Sprechen realisiert, wird auch erst durch den Akt des Gehens aus dem Ort ein Raum. Raum entsteht allerdings nicht nur durch das eigene Gehen, sondern auch durch das Wahrnehmen der eigenen Bewegungen und der Bewegungen anderer. Denn die Wahrnehmung besitzt selbst die Eigenschaft, Wirklichkeit zu konstituieren, also auch Raum zu bilden. Hinter dieser Auffassung steht die Einsicht in den fundamentalen kinästhetischen Zusammenhang von Bewegung, Bewegungsempfindung und sinnlicher Wahrnehmung. Unsere Fähigkeit des räumlichen Sehens etwa gründet auf den frühen Erfahrungen des Ertastens von Körpern und Gegenständen, ihren Formen, Ausdehnungen und Lagen. Dieses Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung, mithin das Zusammenwirken aller Sinne, ist grundlegend für die phänomenologische Theorie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty, der die Vorstellung zurückweist, der Leib sei bloßes Durchgangsmedium von Wahrnehmungsinformationen, die dann vom Geist beurteilend interpretiert würden. Es gibt keinen ‚leeren Sehenden’, dessen Bewusstsein durch das Wahrnehmen einer ihm gegenüberstehenden Dingwelt gefüllt würde. Vielmehr verbinden sich Sehender und Sichtbares als gemeinsames ‚Fleisch’ (chair) im Wahrnehmungsvorgang. […] Sehen ist demgemäß nicht distanziertes Erkennen objektiver Größen, sondern vielmehr taktiles Erspüren einer strukturellen Dichte […]. 9 Nach dieser Vorstellung sind die Sinne ursprünglich gar nicht voneinander geschieden, sondern wirken kontinuierlich ineinander und hängen voneinander ab, womit deutlich wird, dass auch und gerade das Akustische, und 9 Arbeitsgruppe Wahrnehmung, „Wahrnehmung und Performativität“, S. 21. <?page no="246"?> Clemens Risi 246 somit auch die Musik, eine entscheidende Rolle bei der Konstitution des Raumes durch das Wahrnehmen spielt. Musik kann beobachtete Wege verändern bzw. eigene Wege evozieren, wie dies nun am Beispiel der Herstellung eines Omeletts durch Schlagen von Eiern und Hacken einer Zwiebel zu Musik aus Ravels F-Dur-Streichquartett gezeigt werden soll. Raum-Erfahrungen in Heiner Goebbels' Eraritjaritjaka In seiner Musiktheaterproduktion Eraritjaritjaka. Museum der Sätze nach Texten von Elias Canetti bringt der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels den Schauspieler André Wilms und die Musiker des Mondriaan Streichquartetts zusammen. 10 Im Laufe des Abends entspannt sich ein zunächst die Wahrnehmungsgewohnheiten irritierender, dann zunehmend faszinierender Dialog zwischen dem Schauspieler Wilms, der Sätze von Canetti in französischer Sprache spricht, und dem Mondriaan Quartett, das Stücke u. a. von Bach, Goebbels, Scelsi und Schostakowitsch spielt. Wilms’ Stimme fügt sich dabei immer wieder in das Quartett der Streicher als fünfte Stimme ein - besonders eindrucksvoll im letzten Stück des Abends, Bachs Contrapunctus 9 aus der Kunst der Fuge. Nach etwa der Hälfte der Aufführungsdauer jedoch verlässt der Schauspieler plötzlich - gefolgt von einer Videokamera - die Bühne, bahnt sich einen Weg durch den Zuschauerraum und verlässt ihn schließlich ganz. Gleichzeitig erscheint er auf einer auf der Bühne postierten stilisierten Hauswand als Projektion. Wir sehen, wie er aus dem Theater hinausgeht, vor dem Theater in ein Auto steigt und durch die ganze Stadt, in der die Aufführung stattfindet - also in Frankfurt durch Frankfurt und in Berlin durch Berlin -, zu seiner Wohnung fährt. Was hier deutlich wird, ist, wie der Einsatz der Medien neue Räume zu kreieren vermag. Die bis dato statische Wand des stilisierten Hauses wird durch die Filmprojektion in Bewegung versetzt, vielmehr aufgelöst; sie verschwindet, wie eine Filmleinwand verschwindet angesichts des imaginären Filmraumes, der sich auf ihr etabliert. Die Wahrnehmung des Zuschauers kreiert kraft seiner Imagination einen neuen Raum, der über das Theater hinaus in den städtischen Raum und schließlich in die imaginäre Wohnung des Protagonisten reicht. Wir werden in den Film, also den imaginären Raum, hineingezogen und vergessen den leiblich erfahrbaren Raum - zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wenn der Kopf von André Wilms in Großaufnahme erscheint. Mit Gilles Deleuze gesprochen, handelt es sich in diesen Momenten der Großaufnahmen um den Wechsel von einem Aktionsbild - der Abfolge von Handlungen und Orten im Bild - zu einem Affektbild. 10 Mit Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka hat sich u. a. auch David Roesner in seiner Studie zu Prozessen der Musikalisierung des Theaters auseinandergesetzt; vgl. David Roesner: „The politics of the polyphony of performance: Musicalization in contemporary German theatre”, in: Contemporary Theatre Review 18: 1 (2008), S. 48-51. <?page no="247"?> Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum-Erfahrung 247 Deleuze schreibt: „Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht.” 11 Durch diesen Wechsel werden wir in unserer Raum-Wahrnehmung plötzlich wieder auf den eigentlichen, den leiblich erfahrbaren Raum zurückverwiesen. Das Gesicht wirkt als ‚Störung’ und lässt den ursprünglichen Theater-Raum samt Hauswand als Leinwand als solche wieder zum Vorschein kommen, die Störung durch das Affektbild bewirkt eine Re-Etablierung des ursprünglichen Theater-Raumes. Bereits Béla Balázs hatte für die Großaufnahme betont: „Denn der Ausdruck dieses Gesichtes und die Bedeutung dieses Ausdrucks hat keinerlei räumliche Beziehung oder Verbindung. Einem isolierten Antlitz gegenüber fühlen wir uns nicht im Raum. Unser Raumempfinden ist aufgehoben.” 12 Weil der imaginierte Raum aufgehoben ist, wird die eigentliche, ursprüngliche Raum- Disposition wieder spürbar. Die Performativität der Raumerfahrung zeigt sich im Wechsel von Immersion in den imaginierten Raum und Rückverweisung auf den leiblich erfahrbaren Raum in der Störung. Doch nicht nur auf der visuellen Ebene gibt es diese performative Wechselwirkung, sondern natürlich auch und besonders im Zusammenwirken von visuellen und akustischen Parametern. In seiner Wohnung angekommen, sehen wir, wie André Wilms sich an seinen Schreibtisch setzt und zu den Klängen aus Ravels F-Dur-Streichquartett - in exakter rhythmischer Korrespondenz zur Musik - einen Brief öffnet. 13 Die Übereinstimmung macht stutzig, denn derart exakt kann eine Abstimmung zwischen Handlung und Musik über die Video-Übertragung aus der Ferne eigentlich nicht funktionieren. (Wir gehen ja davon aus, dass Wilms fern des Theater in seiner Wohnung sitzt und nur über Video in den Zuschauerraum zugeschaltet ist.) Schließlich sehen wir, wie Wilms in die Küche geht, um sich ein Omelett zu braten. Dafür gilt es, Eier in einer Schüssel zu schlagen und eine Zwiebel zu hacken. Beide Aktionen sind derart genau mit dem zweiten Satz des Quartetts synchronisiert, dass sich die Zweifel an der Übertragung aus der Ferne weiter verstärken. Der Schauspieler und die vier Musiker hören aufeinander wie ein um eine Stimme zum Quintett erweitertes Kammermusikensemble und sind nach menschlich-musikalischem Ermessen auf die gemeinsame kommunizierfähige Anwesenheit im selben Raum - in Hör- und Reichweite - angewiesen. Spätestens wenn die Jalousien sich öffnen - parallel im Film und auf der als Leinwand fungierenden Hauswand - und wir Wilms durch die Fenster im Haus sitzen sehen, also im selben leiblich er- 11 Zitiert nach: Arbeitsgruppe Wahrnehmung, „Wahrnehmung und Performativität“, S. 41. 12 Zitiert nach: ebd. 13 Zur Verschränkung der Handlungen Wilms’ und der Musik vgl. auch Patrick Primavesi: „Markierungen. Zur Kritik des Rhythmus im postdramatischen Theater”, in: Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005, S. 264-266. <?page no="248"?> Clemens Risi 248 fahrbaren Raum wie wir, wird klar, dass wir die ganze Zeit einem virtuos inszenierten Täuschungsmanöver aufgesessen sind. Raum der Musik und Musik des Raumes Welche Funktion ist aber nun der Musik in diesem Manöver zugekommen? Mit Beginn des Films haben wir es mit einer der klassischen Funktionen einer Film-Musik zu tun, einer untermalend-atmosphärischen, also nichtdiegetischen Funktion. Mit der plötzlichen Synchronisation von visueller Aktion und musikalischem Rhythmus beim Erstellen des Omelettes ändert sich die Funktion jedoch gehörig: nicht nur, dass die Musik schlagartig zu einer handlungsbestimmenden, diegetischen Musik umfunktioniert wird; viel gravierender in unserem Zusammenhang: sie verändert die Raum- Wahrnehmung, indem ich die durch den Film-Einsatz neu konstituierte Raum-Disposition wieder korrigiere. Die akustische Wahrnehmung der exakten Synchronizität von Zwiebelhacken und Ravel bewirkt zum einen durchaus Vergnügen und Befriedigung, gleichzeitig jedoch auch eine Irritation, eine Störung der durch den Film etablierten Raum-Konstellation (die Musiker sind im Theater, der Schauspieler fern vom Theater und nur via Video-Übertragung dazugeschaltet) - dieses als sicher geglaubte Verhältnis gerät nachhaltig ins Wanken und initiiert einen neuen Raum-Bildungs- Prozess. Sehen, Hören und Fühlen wirken in der Wahrnehmung zusammen und konstituieren die spezifische Räumlichkeit, die sich als Korrektur einer ursprünglich angenommenen Räumlichkeit erweist. Noch deutlicher zeigt sich die Performativität der Raumerfahrung als Wechselspiel von Aktionen, Bewegungen, Medieneinsatz und Wahrnehmung schließlich, wenn man das jeweils unterschiedliche Vorwissen oder einen mehrfachen Besuch der Produktion in Betracht zieht. So wie es nach Heraklits überzeugender Formulierung nicht möglich ist, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen, so gehe ich dem Täuschungsmanöver der Aufführung nicht jedesmal in gleicher Weise auf den Leim, so ist die Grenze bzw. der Bruch zwischen dem imaginierten und dem real erlebten Raum jedesmal woanders: Bis wann sehe ich einen imaginierten Film-Raum, ab wann sehe ich, dass Wilms sich in dem von mir unmittelbar erlebbaren Raum befindet? Spätestens beim zweiten Besuch liege ich beim Betrachten des Filmes ständig auf der Lauer, um den Moment zu erhaschen, wann die Live-Videoübertragung des Hinausgehens aus dem Theater zum vorproduzierten Film durch die Stadt und wieder zurück zur Live-Übertragung von hinter der Wand schneidet. Für das „Bemerken” der Strategie des Täuschungsmanövers, hilft die Musik in ihrer räumlichen Anordnung (Zwiebeln hacken). Der Umgang mit der Musik ist somit eine weitere Strategie, um die erste Strategie aufzudecken. Zusammen präsentiert sich die Aufführung also als eine Doppelstrategie oder doppelte Inszenierung, die darauf aus ist, die Wahrnehmung der <?page no="249"?> Der Rhythmus des Zwiebelhackens als Raum-Erfahrung 249 Zuschauer und Zuhörer herauszufordern. Der Aufführungsort gibt einen Orteraum vor, den die Inszenierung mit ihren eigenen Akten und ihrem Angebot an die Wahrnehmung als je neue Räume aktualisiert. Die Wahrnehmung geht jedoch nicht darin auf, einzig den von der Inszenierung ausgelegten Wegen zu folgen. Entsprechend de Certeaus Übertragung der Sprechakttheorie auf den Raum, für die signifikant ist, dass das Sprechen bzw. Gehen das vorgegebene System aktualisiert, aber auch überschreitet und subvertiert, geht auch die Wahrnehmung ihre eigenen Wege und konstituiert im Wechselspiel mit der Inszenierung die je spezifische Räumlichkeit. Das performative Entstehen von Räumlichkeit bzw. Räumen in Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka erweist sich zum einen als aufregende Inszenierung, den Zuschauer sowohl in Spannung zu versetzen und zu halten als auch seine Wahrnehmung herauszufordern; zum anderen unterstreicht genau dieses Wechselspiel aber auch noch einmal den Kern unseres am Performativen ausgerichteten Aufführungsbegriffes, indem das für den Aufführungsbegriff konstitutive Zusammenwirken von Inszenierung und Wahrnehmung schon bei jedem einzelnen Prozess der Hervorbringung von Räumlichkeit am Werke ist. Und genau in diesem Abgleichen/ Wechselspiel von Inszenierung/ Strategie und Wahrnehmung ereignet sich der einzigartige/ ereignishafte performative Raum dieser Aufführung. <?page no="251"?> Stefan Tigges In den Raum der Bilder sehen Ästhetische Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz „Dass Bild und Bühne ein ständiges Amalgam bilden sollen, kommt einer Zwangsehe gleich. […] Ich finde, ein Bild ist eher eine Bühne als die Bühne ein Bild”, so der Szenograph und Ausstatter Johannes Schütz. 1 Schütz spricht sich programmatisch für eine dreidimensionale Formung des Bühnenbildes aus, versteht die Bühne als Raum und erinnert damit an avantgardistische sowie theoretische Standpunkte des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind hier die Positionen von Edward Gordon Craig, Adolphe Appia, Friedrich Kiesler, Max Herrmann oder Wilfried Minks, bei dem Schütz in den 70er Jahren studierte und assistierte. 2 1 Vgl. Johannes Schütz, Bühnen/ Stages 2000-2007. Bd./ Vol. 1, Nürnberg 2008, S. 7. 2 Friedrich Kiesler notierte in Schauspieler, Bildbühne, Raumbühne I und II, erstabgedruckt im Berliner Börsen-Courir am 16. und 21. März 1924: „Der Widersinn: Bild = Bühne ist im Allgemeinen unentdeckt geblieben: denn Bühne ist Raum und Bild Fläche. Ein räumlicher Zusammenschluss von Bühne und Bild ergibt jenes verlogenes [sic] Kompromiss: Bühnen = Bild, auf dessen Wirkung alles heutige Theaterspiel eingestellt ist.” Und: „Bildbühne zeigt, wie notwendig der scheinbare Pleonasmus: Raumbühne - der sich aus dem Gegensatz zur Bildbühne von selbst ergibt - ist, um auch durch die Bezeichnung darauf zu weisen, dass trotz tausendfachen Theaterspiels die Bühne noch immer das ist, was sie sein soll: nämlich Raum, aus dessen Spannungsverhältnissen das Bühnenspiel einer Dichtung wird und endet.” Vgl. Barbara Lesák, Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923-1925, Wien 1988, S. 63-69. Vgl. ebenso die von Kiesler überarbeitete Fassung Debacle des Theaters. Die Gesetze der G.-K.-Bühne, die als Katalogbeitrag anlässlich der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik (IAT) 1924 in Wien erschien und von Manfred Brauneck in Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbeck/ Hamburg 1982, S. 132- 137, erneut abgedruckt wurde. Ebenso programmatisch äußert sich 1931 Max Herrmann in Das theatralische Raumerlebnis: „Bühnenkunst ist Raumkunst”. Herrmann, der den Bühnenraum als einen dreidimensionalen, relationalen und offenen Kunstraum versteht, lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Arbeit der Darsteller im Raum und die damit verbundenen Raumwirkungen wobei er auch das Raumerlebnis des dramatischen Dichters einbezieht - hier reflektiert er den vom Drama geforderten Raum - sondern bezieht auch die Rolle des . <?page no="252"?> Stefan Tigges 252 Wie auch immer die ästhetischen Akzentuierungen jeweils genau ausfallen, deutlich ist, dass trotz unterschiedlicher Prägungen gemeinsame Grundzüge sichtbar werden, da Schütz die Illustrations-, die Aktualisierungs- und Interpretationsfunktion seiner Bühnenräume streicht, im Sinne Kieslers bzw. Herrmanns „Raumbühnen”, d.h. „Kunsträume” entwirft. Schütz stellt sich wie Craig und Appia gegen jede Form der Nachahmung von Wirklichkeit, befragt kritisch „die Raumverhältnisse des szenischen Lebens und deren zeitliche Aufeinanderfolge in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit” (Appia), operiert ästhetisch mit genau kalkulierter Künstlichkeit und schließt „installierte Realitäten” (Schütz) sowie „Effekte” (Craig) in seinen Räumen konsequent aus. Dies korrespondiert unmittelbar mit dem Ziel Jürgen Goschs, mit seiner „Theaterarbeit nichts zu vermitteln, was über ihre Gegenstände hinausweist”. 3 mitspielenden Publikums in seine Überlegungen ein. Der weitsichtige theoretische Entwurf erschien in: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 25, 1931, S. 152-163, und wurde von Jörg Dünne und Stephan Günzel in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, nachgedruckt. Im Kontext des bis heute unzureichend erforschten Lehrer- Schülerverhältnisses von Wilfried Minks und Johannes Schütz fällt trotz divergierender ästhetischer Strategien auf, dass der Bühnenraum bzw. die wiederholt „leeren” Kästen grundsätzlich als autonome Kunsträume zu verstehen sind, die den „dramatischen Kunstfiguren eine aus Kunstmitteln gestaltete Umgebung” - so Nora Eckert über die Arbeiten von Minks - zur Verfügung stellen, deren spielerischer Reflexionsgrad hervorzuheben ist. Es stellt sich jedoch aufgrund der von den Bühnenräumen ausgehenden zunehmenden Dramaturgie- und Regiefunktionen die Frage, ob sich das Bild der „Umgebung” noch als adäquat erweist. Vgl. Nora Eckert, Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 140. 3 Vgl. Christine Dössel, 50 Regisseure im deutschsprachigen Theater. Porträt Jürgen Gosch, Homepage des Goetheinstituts: www.goethe.de/ kue/ the/ reg/ ag/ gos/ deindex.htm (abgerufen am 27.08.2009). An anderer Stelle formuliert Gosch schlicht: „Es geht immer um Theater. Das ist der Ort, an dem es spielt”, was an die ästhetische Vorstellung von Johannes Schütz anschließt: „Theater muss das tun, was nur auf dem Theater geht. Auf der Bühne ein Haus zu bauen hat überhaupt keinen Sinn.” Und: „Man braucht die Kondition, Dinge nicht zu realisieren. Ich glaube nicht, dass das Theater der Ort ist, an dem man andere Orte nachbaut, weil er bereits Ort ist, und im Moment interessiert mich der Ort, der das Theater selbst ist.” Vgl. Jürgen Gosch im Gespräch mit Nina Peters, „Mit Beckett auf dem Abstellgleis. Der Regisseur Jürgen Gosch über Natürlichkeit, Scham und den Sauerstoff des Textes”, in: Theater der Zeit, 05/ 2006, S. 21-26. Und: Heinrich Klotz/ Ludger Hünnekens (Hg.), Bühnenbild heute. Bühnenbild der Zukunft. Achim Freyer, Dieter Hacker, Johannes Schütz, Erich Wonder. Eine Ausstellung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe 1993, S. 81. Vgl. „‘Gute Bühnen sind oft leer’. Siegfried Gohr im Gespräch mit Johannes Schütz”, in: Johannes Schütz (Hg.), Bühnen/ Stages 2000-2007, Nürnberg 2008, S. 6-25 (S. 23). Die von Jürgen Gosch und Johannes Schütz angestrebte Reduktion im Bühnenraum, die in den immer minimalistischeren Kunsträumen in Form einer Ästhetik des Weglassens <?page no="253"?> In den Raum der Bilder sehen 253 Schütz und Gosch geht es darum, das Theater bzw. den Raum des Theaters ästhetisch neu zu justieren, zu fokussieren und Alternativen gegenüber einer vom Theater ausgehenden, zunehmend erschöpften bzw. „beliebigen Ikonografie” (Schütz) zu entwickeln, um eine Grundlagenforschung zu betreiben, an der die Künstler sowie das Publikum beteiligt sind. 4 Wie lassen sich nun die ästhetischen Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen exakter bestimmen und wie lässt sich in den Raum (der unverstellten Bilder) sehen, wenn die Regie und Ausstattung (eigentlich) ein Bildertheater-Verbot intendiert - der Kunstwissenschaftler Siegried Gohr spricht von einer „Verknappung des Bildangebots” 5 - bzw. eine wahrnehmungszentrierte Blickregie motiviert, die gerade auch die Leere bzw. das Abwesende im Raum zum Schauplatz macht? 6 Was meint Jürgen Gosch, wenn er davon spricht, dass sich im Idealfall in seinen Arbeiten die Welt „ablagert” und sich in den „Aufführungen abdrückt”, wenngleich die Referenzen auf den Außenraum äußerst sparsam ausfallen, die Außenwelt nicht bildsprachlich zitiert wird und dafür eigene Zeichen gesucht werden? 7 Sind damit Welt-Bilder oder Welt-Räume gemeint und wie verhalten sich diese im Zustand ihrer ästhetischen Übersetztheit bzw. Zeichenhaftigkeit im Kunstraum zueinander? Im Folgenden sollen einige bildraumtheoretische Fragen präzisiert und in die Spiel- und Kunsträume von Schütz/ Gosch hineingeblickt, dabei spezifische Spielästhetiken, raumtransformatorische Prozesse sowie Aspekte der zum Ausdruck kommt, verweist unmittelbar auf die ästhetische Diagnose Edward Gordon Craigs, der bereits in der Geburtsstunde des Regietheaters feststellte: „Der fehlende mut, das fehlende vertrauen in den wert der sparsamkeit und der proportion verderben alle guten ideen heutiger bühnenbildner. Sie wollen zwanzig aussagen auf einmal machen. [...] Und in ihrem versuch, uns diese vielen dinge zu schildern, schildern sie uns gar nichts und richten nur ein heilloses durcheinander an.” Vgl. Edward Gordon Craig, On the art of the Theatre (1911), Über die kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 30. Vgl. auch Adolphe Appia, „Die Inscenierung als Schöpfung der Musik (1899)”, in: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, Reinbeck bei Hamburg 1995, S. 40-46, S. 41. 4 Schütz, der daran arbeitet, dass das Theater wieder sichtbar wird, präzisiert: „Würde man Fotos von hundert Theaterkritiken ausschneiden und nebeneinander legen, sähe man das hinlänglich bekannte Sammelsurium aus Bunkern, Wohnküchen, Hotelhallen, Ölraffinerien, die beliebigen Zifferblätter großer Uhren und Flugzeugabstürze. Die Darsteller bewegen sich auf tautologischem Terrain, welches das Stück interpretieren soll. […] Man sieht vielfach eine völlig beliebige Ikonografie: ausgeliehen, verbraucht und ermüdet. Das könnte man auch als eine finale Erschöpfung eines Mediums begreifen.” Vgl. Johannes Schütz, in: Ders. 2008, S. 10. 5 Vgl. ebd. , S. 12. 6 Gerade hier spielt dann auch die grundsätzliche Diagnose Günther Heegs mit: „Was auf der Bühne unsichtbar ist/ bleibt, wird von der Sprache beschworen.” Vgl. Günther Heeg, „Bild/ Bewegung. Das Theater der Visualität”, in: Kati Röttger/ Alexander Jacob (Hg.), Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens, Bielefeld 2009, S. 206-217, (S. 212). 7 Vgl. Jürgen Gosch, „Die Welt und andere Ablagerungen”, in: Theater heute Jahrbuch 2006, S. 130-131. <?page no="254"?> Stefan Tigges 254 Raumzeitlichkeit/ Zeiträumlichkeit und der „Wirklichkeitswerdung” (Thomas Oberender) behandelt werden, um zu zeigen, wie zentral der Raum in den Bildern bzw. die Kategorie der Bildräumlichkeit in der (Theater-) Kunst ist und dementsprechend im fortgesetzten Dialog zwischen Theater- und Kunst-/ Bildwissenschaft eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt. 8 Im Hinblick auf die Schnitträume von Theater und Bildender Kunst/ Installation/ Performance Art ist das Theater längst kein „Kampfplatz der Künste” mehr, wie Henning Rischbieter in seiner Studie zum Verhältnis von Theater und Bildender Kunst noch 1968 formulierte. 9 Vielmehr hat die Kunst selbst die Bühne erobert und wurde theatralisch. 10 Trotz der einmaligen oder wiederholten mehr oder weniger stilprägenden Gastauftritte bildender Künstler im (Musik-)Theater (Anselm Kiefer, Richard Serra, Rebecca Horn, Olafur Eliasson, Mark Lammert, Jan Fabre, Jan Lauwers oder Jonathan Meese) kann gerade am Beispiel der experimentellen Spiel- und Darstellungsästhetiken von Schütz/ Gosch gezeigt werden, wie avanciert die Theaterkunst auftreten, sich ästhetisch einzigartig äußern und 8 Dass bildtheoretische Diskurse heute in der Theaterwissenschaft diskutiert werden, ist vor allem Christopher Balme zu verdanken, der in „Stages of Vision: Bild, Körper und Medium im Theater” die entscheidenden Fragen formulierte und erste methodische Ansätze skizzierte. Vgl. Christopher Balme in: Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hg.), „Quel corps? Eine Frage der Repräsentation”, München 2002, S. 349-364. Vgl. auch seine weiterführenden Überlegungen zum postkonzeptuellen Bildertheater in: Kati Röttger, Alexander Jacob (Hg.), Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens, Bielefeld 2009, S. 267-285. 9 „Überhaupt: ist nicht das Theater, die Bühne, auch zu verstehen als der Platz, auf dem die Künste miteinander kämpfen? Wo sie um die Dominanz konkurrieren? An jedem einzelnen Theaterabend müssen sie, sollen sie kooperieren, zur ästhetischen Balance kommen.” Wenngleich seine Folgebemerkung im aufführungsanalytischen Kontext an ihre positivistischen Grenzen stößt, nennt Rischbieter mit dem Moment der von der bildenden Kunst ausgehenden „Bewegung” - die für ihn damals noch ausblieb - ein zentrales Moment, das sich längst ästhetisch eingelöst hat und ebenso in den Arbeiten von Gosch und Schütz mitspielt: „Was die bildenden Künste zum Theater beitragen: Form und Farbe, Dekoration, Kostüm, ist nicht immer, aber doch häufig überliefert. Allerdings ist es 'fixiert', in der Statik festgehalten: in Entwürfen, Abbildungen, Reproduktionen. Es fehlt das Moment der Bewegung, des Zeitverlaufs. Die Bewegung, die Veränderung des Raumes, in dem das darstellende Spiel vor sich geht, ist nur in der Interpretation rekonstruierbar.” Vgl. Henning Rischbieter (Hg.), Bühne und bildende Kunst im XX Jahrhundert. Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater, Velbert 1968, S. 7. 10 Nora Eckert, Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert, , Berlin 1998, S. 177. Dass die Kunstkritik wiederum auf die Strategien der Theatralisierung der bildenden Kunst äußerst kritisch reagierte, zeigt der Fall Michael Fried, der in Kunst und Objekthaftigkeit (1967) speziell die Minimal Art und besonders Donald Judd angriff und dies am Moment der „Betrachtereinbeziehung” aushandelte. Vgl. Michael Fried in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1998 (S. 334-374). Vgl. dazu auch: Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003, S. 40-78 und: Georges Didi-Hubermann, „Das Dilemma des Sichtbaren, oder das Spiel der Evidenzen”, in: Ders., Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München, 1999, S. 45- 62. <?page no="255"?> In den Raum der Bilder sehen 255 dabei ästhetische Positionen der Bildenden Kunst/ Performance Art mitreflektieren kann. Eine entscheidende Energie geht hier von den Bühnenräumen aus, die im Zusammenspiel mit den Darstellern, die sich, so Schütz, darin nicht wie „Touristen” aufhalten dürfen, Dramaturgie- und Regiefunktionen entwickeln und sich jeweils für „Ergänzungsenergien des Publikums” (Schütz) öffnen. In diesem Sinne ist weniger Wolf Vostell zuzustimmen - „Die Künstler sollen ins Theater ihr Kunstprinzip bringen. Nicht in der Gestalt des Bühnenbildes. Was ich dem Theater zufüge, das ist ein Verhaltensprinzip geprägt durch Bildende Kunst”. 11 Treffender ist die Position von dem bildenden Künstler/ Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer, dessen bühnenbildnerische Signatur zwar stark durch seine Identität als Maler geprägt ist, der somit im Gegensatz zu Schütz den Raum über die Fläche entdeckt, 12 mit der folgenden Aussage aber eine Nähe zu Johannes Schütz aufweist: „Es soll so etwas wie eine Grundlehre über die Vermengung von Theater und Bildender Kunst entstehen.” 13 Diese Grundlehre beinhaltet, wie bereits konstatiert, primär den Raum bzw. dessen Regie-Dimension, aber auch, so meine These, die mitspielenden und sich transformierenden Bühnenbildkomponenten sowie die Kostüme, für die Johannes Schütz mitverantwortlich ist und die nur in ihrem unmittelbaren Zusammenwirken mit dem Bühnenraum zu verstehen sind. 14 11 Vgl. Wolf Vostell, in: Peter Simhandl, Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theatermacher, Gadegast, Berlin 1993, S. 7-8. Auch in: Jürgen Schilling, „Ich nehme es mir nicht vor, es Ihnen leicht zu machen. Happening und Theater - Modell der Inszenierung”, in: Rolf Weweder (Hg.), Vostell, Bonn-Köln-Leverkusen-Mannheim-Mühlheim an der Ruhr, 1992, S. 303-305. 12 „Wir können nicht über Raum Raum beschreiben, aber über die Fläche. Der Maler hat die Fläche. Die Malerei ist aber nur Malerei, wenn sie die Dimension des Raums schafft. Der Architekt baut Räume. Sie sind, was sie sind. Und das Theater? Durch dieses Phänomen der uns selbst spiegelnden Fläche wird gedanklicher Raum ans Licht gesetzt. […] Bildfläche ist Fläche wie das Blatt Papier, auf dem Buchstaben, Zeichen die wundervollsten Räume in uns schaffen”. Vgl. Achim Freyer, Theater-Bild-Sprache- Bühnenkunst, 3/ 1988. Auch in: Sven Neumann, „Achim Freyer”, in: Heinrich Klotz, Ludger Hünnekens (Hg.), Bühnenbild heute. Bühnenbild der Zukunft. Achim Freyer, Dieter Hacker, Johannes Schütz, Erich Wonder, Ausstellungskatalog des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Cantz 1993, S. 13-21 (S.16-17). 13 Vgl. Achim Freyer im Gespräch mit Imre Fabian, Opernwelt 4/ 1985. Auch in: Sven Neumann, „Achim Freyer”, in: Heinrich Klotz, Ludger Hünnekens (Hg.), Bühnenbild heute. Bühnenbild der Zukunft. Achim Freyer, Dieter Hacker, Johannes Schütz, Erich Wonder, Cantz 1993, S. 18. 14 Dass die Schauspieler mit ihren Körpern entscheidend den Bühnenraum mitkonstituieren und deren ungeschützte, nackte bzw. durch Farbe geschützte Haut auch als Kostüm - Johannes Schütz bezeichnet selbst die Haut als „nichttextiles Kostüm” - bzw. als Bühne zu verstehen ist, habe ich an anderer Stelle am Beispiel der Macbeth-Aufführung (Schauspielhaus Düsseldorf, 2005) aufzuzeigen versucht und ließe sich an weiteren Shakespeare-Arbeiten oder der Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere (Deutsches Theater, 2007), die ästhetisch u.a. auf die Body Art, Performance Art, den Fluxus, den Wiener Aktionismus und das Happening verweisen und diese re- <?page no="256"?> Stefan Tigges 256 Abb.1: Anton Tschechow: Onkel Wanja, Deutsches Theater Berlin, 2008 (Ensemble). Textkörper und Raumkunst Obwohl die Bildräumlichkeit aufgrund der strengen ästhetischen Setzungen eine zentrale Rolle spielt und durch die von Schütz und Gosch gelenkte Blickregie für das Publikum in ihren Bewegungsprozessen erfahrbar wird, ist es nicht angebracht von einem verräumlichten Bildertheater oder von einer visuellen Dramaturgie zu sprechen - übrigens ebenso wenig von einem (interpretierenden) Regietheater, das auf einem im Vorfeld der Inszenierung erarbeiteten Konzept basiert, welches in der Aufführung realisiert wird. 15 flektieren, noch exakter bestimmen. Ebenso werden in Kritiken wiederholt bildsprachliche bzw. bildräumliche Referenzen zu Künstlern wie Francis Bacon, Lucian Freud, Alberto Giacometti, Kasimir Malewitsch oder Cy Twombly hergestellt, die kritisch zu befragen und genauer zu untersuchen sind. Vgl. Stefan Tigges, „Die Haut als Bühne. Der Körper als Aktions-Raum. Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth”, in: Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld 2009 (S. 251- 269). 15 Im Zusammenhang der gelenkten Blickregie und den daraus resultierenden Bewegungsmomenten, Gabriele Brandstetter spricht im Zusammenhang von (Tanz-)Theater und der Performancepraxis von „Bild-Sprüngen”, interessiert auch die hier nicht weiterverfolgte Frage, inwieweit sich die wiederholte Zusammenarbeit von Schütz mit der Choreographin Reinhild Hoffmann auf das Zusammenwirken von Schütz und Gosch ausgewirkt hat. Vgl. Gabriele Brandstetter, TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005. Zu den (terminologischen) Grenzen des Regietheaters in der aktuellen Aufführungspraxis - hier schwingt immer auch das Bild der Anti-Werktreue, der Lesart bzw. der Interpretation mit, die auf ein vorgefertigtes Konzept bauen - vgl. insbesondere die <?page no="257"?> In den Raum der Bilder sehen 257 Der Grund liegt darin, dass die „Bedeutungskonstitution des theatralen Ereignisses” nicht primär durch „visuelle Daten” erfolgt, sondern die Sprache neue Funktionen sowie Bedeutungen ausübt. 16 Roland Schimmelpfennig, dessen Theatertexte alleine zehn Mal von Schütz/ Gosch (ur-)aufgeführt wurden und der durch die kollektiven Arbeitserfahrungen als Autor selbst zunehmend radikaler in seinen eigenen Texten Regie führt, indem er speziell mit Zeit-, Raumdimensionen und Verwandlungsformen experimentiert, bestätigt dies: „Die Bühnensetzungen von Johannes Schütz ermöglichen und fordern sogar vehement die Rückkehr zur Skizze und die Rückkehr zum Text”. 17 Nach seinen Erfahrungen von Hier und Jetzt (Schauspiel Zürich 2008) sowie Idomeneus (Deutsches Theater Berlin 2009) präzisiert der Dramatiker: Gosch und Schütz suchen die gerade Linie in das Zentrum des Textes. […] Und im Zentrum des Textes steht bei Gosch und Schütz der Mensch - der Mensch im Stück, also die Figur, und der Mensch auf der Bühne, der Schauspieler. […] Aber: Die gerade Linie, der kürzeste Weg ist nicht immer der einfachste. […] Das Theater von Gosch und Schütz ist schnörkellos, direkt, aber es nimmt sich in jedem Fall die Zeit, die der Text braucht. […] Regisseur und Bühnenbildner begreifen den Text nicht als Material, sondern als eigenständigen, unangreifbaren Körper. 18 Die im, mit und durch den Raum arbeitende Sprache wird von Schütz und Gosch zu einem scharf beleuchteten Schauplatz, der als Sprachraum das Publikum raumsprachlich herausfordert, indem ein neues Spannungsverhältnis zwischen Bild(-raum) und Text(-körper) motiviert wird. In diesem Sinne ist die Rückkehr zur Skizze, aus der der (unangreifbare) Textkörper mit seinen geistigen und sinnlichen Bewegungen spielfreudig heraustritt - „alles ist spielbar, solange es im Text vorkommt”, so Gosch - unbedingt dreidimensional zu denken. 19 Theresia Birkenhauer richtete - wenn auch nicht unmittelbar auf die Arbeiten von Schütz und Gosch bezogen, jedoch dadurch beeinflusst - frühzeitig die Aufmerksamkeit auf die Frage, „wie das Sehen die Sprache und die Sprache das Sehen lenkt”. 20 Birkenhauers folgende Präzision fasst nicht nur prägnant die Arbeitsmotivation von Schütz/ Gosch zusammen, sondern Beiträge von Günther Heeg und Christopher Balme in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg 2008. 16 Christel Weiler, „Dramaturgie”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Mathias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 80-83. 17 Roland Schimmelpfennig, „Die Skizze. Roland Schimmelpfennig über die Räume von Johannes Schütz”, in: Johannes Schütz (Hg.), Bühnen/ Stages 2000-2007, Nürnberg 2008, S. 170-194. 18 Roland Schimmelpfennig in der Laudatio anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung an Jürgen Gosch und Johannes Schütz am 03.05.2009 im Deutschen Theater Berlin. Vgl. auch Theater heute, Nr. 6/ 2009, S. 36-39. 19 Ebd. 20 Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache. Das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Beckett, Müller, Berlin 2005, S. 22. <?page no="258"?> Stefan Tigges 258 bildet zugleich eine zukunftsweisende Leitfrage, die ich wegen ihrer Bedeutung nochmals aufrufe: Was bedeutet die Veränderung der Ausdruckspotentiale der Bühne für die Ausdruckspotentiale der Sprache? Wie ist das Verhältnis von Verbalem und Visuellem, von Sprachbildern und visuellen Bildern? Welche Form von Bildlichkeit erzeugt die Bühne, und wie unterscheidet sie sich von der bildenden Kunst? 21 Eine erste Antwort liefert die Raumkunst, deren Kunstcharakter Bernhard Waldenfels grundsätzlich wie folgt beschreibt und von Schütz/ Gosch immer wieder herausgefordert wird: Der Kunstcharakter der Raumkunst besteht darin, dass die Räumlichkeit von ihr eigens modelliert, befragt, bearbeitet wird, ähnlich wie Malerei, Musik und Sprachkunst sich mit der Sichtbarkeit, der Hörbarkeit und Sagbarkeit als solcher befassen. 22 Statt grober visueller Verwischungen, visueller Reize, Bilder, die vor die Sprache gestellt werden oder multimedial aufgeladener Aufführungsästhetiken, in die die Schauspieler eingetaucht werden und diese in ihrer Präsenz abwerten können, da sie (permanent) mit ihrem elektronisch fokussierten Double/ Abbild spielen bzw. die Schauspieler mit den in die Theaterräume projizierten Realitätssplittern konkurrieren müssen, werden die Darsteller bei Schütz/ Gosch zweifach vergrößert: durch den Raum und durch die Regie. 23 Durch den Ausschluss der äußeren Realität aus dem Bühnenraum entfällt jede Form von Verwechslung mit der Wirklichkeit, dagegen ermöglichen die von Schütz konzipierten Räume es den Darstellern, so von Rudolf Mast treffend beschrieben, ihr „eigenes (Er-)Leben in die Arbeit einzubringen, ohne Privates preiszugeben”. 24 Der Schauspieler Jens Harzer, der in Onkel Wanja (Deutsches Theater Berlin 2008) die Rolle des Arztes Astrow spielte, beschreibt seine persönlichen Raumerfahrungen: Der Raum, in dem wir das machen, hilft hier sehr. Man könnte das ja auch auf einer leeren Bühne machen, diese Untersuchung, rechts und links und oben und unten ist alles frei, aber wahrscheinlich wäre man da relativ verloren und hätte 21 Ebd. 22 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt am Main 1999, S. 215. 23 Das Ziel den Schauspieler neu im Raum zu verorten und in seiner Präsenz aufzuwerten lässt sich mit einer Grundvorstellung Alberto Giacomettis zusammendenken, der in einem Brief an Pierre Matisse darüber nachdenkt wie er seine Figuren im Raum potenzieren kann und zu dem Ergebnis kommt, dass er die Figur in einen leeren Raum stellen müsse, um sie besser zu sehen. Vgl. Veronique Wiesinger, „Alberto Giacomettis Atelier”, in: Akademie der Künste Berlin (Hg.), Raum. Orte der Kunst, Berlin 2007, S. 230-242 (S. 240). 24 Rudolf Mast, „Nach der Natur. Ein Porträt des Bühnenbildners Johannes Schütz”, Theater der Zeit, Nr. 4/ 2008, S. 8-11. <?page no="259"?> In den Raum der Bilder sehen 259 viel mehr zu reflektieren. Dieser sehr geschlossene Rahmen entlastet völlig von der Überlegung, ob ich jetzt stehe oder sitze, rechts bin oder links. Dass das weggenommen wird, die Suche nach der formalen Lösung im Raum, schafft es, dass man so unverstellt die anderen Figuren verfolgen kann. 25 Es stellt sich aber die Frage, ob die Suche nach der formalen Lösung im Raum für die Schauspieler trotz einer ästhetischen Grundabsicherung wirklich gänzlich entfällt, da der Raum im Sinne de Certeaus als relationales „bewegliches Geflecht” 26 und in seiner Funktion des „des aktiven Organisierens”, d.h. „Spacings” (Giddens) 27 mitarbeitet bzw. mitspielt und in seiner „doppelten Verfasstheit” (Roselt) 28 „offen” bleibt, d.h. weder zur Ruhe kommt noch als fixer Behälter zu verstehen ist, der den Darstellern im Zustand seiner formalen „Gelöstheit” einen Handlungsbzw. Spielraum anbietet. Dies zeigt sich z.B. in Onkel Wanja, wenn sich die „Szenen aus dem Landleben”, so der Untertitel, in Form von Lehmflecken subtil auf den Kostümen der Schauspieler abdrücken, wenn diese mit der im Verlauf der Aufführung austrocknenden Wand in Berührung kommen und die Natur (als Bild) bzw. der Innen- und Außenraum im leeren kastenartigen Bühnenraum zugleich an- und abwesend ist und vom Publikum sowie den Darstellern in seiner Bewegtheit synästhetisch wahrgenommen wird. Hinzu kommt noch eine spezifische Lichtregie, die das diskursive Spiel mit der Zeit des Textes und der Zeit der Aufführung kunstvoll motiviert, die Räume in den fleckigen Wänden strukturierend hervorhebt, die „Vorstellung” atmosphärisch ausleuchtet, aber auch die Vorstellungen der Zuschauer auslöscht, um unmittelbar auf die Realität (des Spiels) im Kunstraum zu verweisen bzw. die Räume der Sprache zu öffnen. 29 25 Ulrich Matthes, der mehrfach mit Gosch und Schütz zusammenarbeitete und dabei Erfahrungen in unterschiedlichen Raumordnungen sammelte - so z.B. in Im Schlitten Arthur Schopenhauers, Wer hat Angst vor Virgina Woolf? oder in Onkel Wanja - unterstreicht, dass die Räume von Schütz ihm als Schauspieler ein enormes Selbstbewusstsein geben. Vgl. „Warten auf die Wahrheit. Ein Gespräch zwischen Constanze Becker, Jens Harzer, Ulrich Matthes, Eva Behrendt, Barbara Burckhardt und Franz Wille”, in: Theater heute Jahrbuch 2008, S. 93-102 (S. 101). 26 Vgl. Michel de Certeau, „Praktiken im Raum”, in: Ders., Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179-238. 27 Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main 1992, S. 129. 28 Vgl. Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 65-91. 29 Eberhard Rathgeb erkennt im Bühnenbild folgerichtig zwei miteinander konkurrierende Räume, die miteinander und gegeneinander arbeiten bzw. ineinander fallen, jedoch letztlich der nüchterne Kunstraum das vorgestellte Bild des Naturraums verdrängt, damit radikal den Illusionsgrad senkt und sich systematisch verwirklicht bzw. eine eigene Realität produziert. Das dialektische Verhältnis von Bühne und Bild präzisiert er in der Aufführung wie folgt: „Nun handelt es sich bei dem bühnenfüllenden Kasten tatsächlich um einen Kasten und nicht nur um das Bild eines Kastens, wenn es andererseits auch so ist, dass der Bühnenkasten ebenfalls etwas vorstellt und nicht nur ein Bühnenkasten ist. Er umfasst einen Raum, und er stellt etwas dar, was über diesen Raum hinausgeht, indem er diesen Raum zu einem besonderen, diesen oder jenen Ein- <?page no="260"?> Stefan Tigges 260 Schütz trifft in seinen Räumen Maßnahmen, um die Konzentration auf die Darsteller zu erhöhen, indem er sie in ein „Gestell” bringt bzw. ein „Kraftfeld” erzeugt (Schütz), das gerade dadurch die Energie auf die Darsteller lenkt, indem die Räume kalt und real bleiben und deswegen keine „warmen” Bilder freisetzen. Ebenso werden die Theatermittel und das Bildangebot extrem limitiert, die Technik möglichst ausgespart (Verzicht bzw. Reduktion des Tons, der Maske sowie der Lichtstimmungswechsel) und die ausgeräumten, wiederholt an die Ästhetik von white cubes erinnernden Räume in der Regel hermetisch abgeschlossen. Entsprechend potenziert Gosch die Blicke/ die Aufmerksamkeit des Ensembles und des Publikums, indem die Darsteller während der gesamten Aufführung zumeist im Raum verbleiben, sich in einer Art konzentriertem Stand-Byebzw. Warteposition befinden oder sichtbar bleiben, indem sie in der ersten Parkettreihe Platz nehmen, um von dort das Spielgeschehen zu beobachten, Requisiten zu holen und den Spielraum einzurichten. 30 Diese in der gegenwärtigen Aufführungspraxis verbreitete und oftmals grob kopierte Strategie - hier erscheinen die Darsteller im Publikumsraum wiederholt als „Touristen” -, die den Bühnen- und Publikumsraum in gelungenen Aufführungen energetisch auflädt und über den brechtschen Verfremdungseffekt hinausgeht, da es sich hier nicht nur um eingebaute Störungen handelt, die den Illusionsgrad des Spiels zugunsten gesellschaftskritischer Denkprozesse des Publikums senken sollen, intendiert in den Arbeiten von Gosch und Schütz keineswegs „Effekte”. Vielmehr geht es beiden um eine Ausweitung des Spielraums, den Ausstieg aus der Rahmensetzung, andere Blickrelationen und ein Ausdehnen der szenischen Wirklichkeit, die aus dem Kasten strömt und die Zeit und den Raum im Theater neu konfiguriert bzw. die Wahrnehmung der Wahrnehmung schärft. Durch das Offenlegen der „Spiel”-Regeln, das Öffnen des druck bei den Zuschauern auslösenden Raum macht - wobei, und dies ist nun das Einzigartige dieses beigen 'Onkel Wanja'-Kastens, diesen Außenraum sofort unserem Innenraum in Beschlag nimmt, diese Wirklichkeit sofort unseren Wunsch nach der Natur zu erfüllen scheint. […] In den Räumen der Kunst ist offensichtlich mehr möglich als in der Logik. In der Kunst aber lernt man, indem man Enttäuschungen macht, das heißt, indem man sich nicht mehr täuschen lässt. Der Effekt [das Bild des Naturraums, S.T.] unterliegt der Einsicht [dem Kunstraum, S.T.]” Vgl. Eberhard Rathgeb, Lehm und leben lassen. FAZ vom 27.04.2008, S. 28. 30 Jens Harzer beschreibt die Folgen der Transparenz des Spiels bzw. der permanenten Sichtbarkeit der Darsteller: „Aber ist das nicht der Trick unserer Arbeit in all ihrer Unterschiedlichkeit, dass man eben nicht nur eine Szene spielt und dann in die Garderobe geht mit der Nummer, die man hinter sich gebracht hat, und auf den nächsten Auftritt wartet, sondern dass man dableibt, wenn die anderen spielen? Die einem selber auch zugeguckt haben? Man bleibt ja immer im ganzen drin. Und alle Geheimnistuerei fällt weg, wenn du dich nach deinem Auftritt einfach an die Wand stellst. Das ist, glaube ich, ein entscheidender Punkt für das Gelingen des Abends: dass der Schauspieler nicht verschwindet in einem Bereich, der für die anderen und den Zuschauer nicht sichtbar ist.” Vgl. Theater heute. Jahrbuch 2008, S. 102. <?page no="261"?> In den Raum der Bilder sehen 261 Kunstraums und durch die „Abwesenheit traditioneller Präsenzen” (Heiner Goebbels) kommt dem sich transformierenden Raum auch die Funktion zu, das Publikum neu einzuladen, um die sich herstellenden Wirklichkeiten ästhetisch zu erleben. 31 Als ereignisreich stellt sich neben der „Vorstellung der Dauer” (Henri Bergson) und der Gewichtsveränderung des Raumes besonders die „Tiefe des Raums” (Georges Didi-Hubermann) dar, die eben nicht auf ihre räumliche Eigenschaft zu begrenzen ist, sondern mit Merleau-Ponty in einer „raumzeitlichen Form des Empfindens” wahrgenommen wird, womit Raum und Zeit sowohl Dramaturgieals auch Regiefunktionen übernehmen, zu denen sich die Schauspieler in ihren „Zwischenräumen” sensibel zu verhalten haben bzw. diese in ihrer Prozessualität entscheidend mitsteuern. 32 Der Zwischenraum - ob dieser nun im hinteren Bereich der Kastenrückwand angesiedelt ist, wie es z.B. in Nachtasyl/ Unten, im Sommernachtstraum oder den Drei Schwestern wiederholt der Fall ist, wo die Räume eine auffällige Tiefe haben und sich die Schauspieler dort aufhalten, ausruhen, umziehen, sich einfärben, die Requisiten lagern, das Spiel verfolgen etc., im mittleren/ vorderen Bereich der Rampe (Das Reich der Tiere) oder in der ersten Parkettreihe liegt (Macbeth, Was Ihr wollt) - trägt einerseits dazu bei, dass das Spiel nicht durch sich zusammensetzende Bilder verstellt wird, d.h. der Imaginationsraum des Publikums nicht zu stark anwächst. Andererseits 31 Goebbels unterstreicht, dass das Publikum nicht dem Raum ausgeliefert werden darf, sondern der Raum vielmehr geöffnet sowie offengehalten werden muss, damit der „Erwartungsraum des Zuschauers nicht mit Bildern der Eindeutigkeit” verbaut, besetzt und zugekleistert wird. Vgl. Heiner Goebbels, „Der Raum als Einladung. Der Zuschauer als Ort der Kunst”, in: Angela Lammert, Michael Diers, Robert Kudielka, Gert Mattenklott (Hg. im Auftrag der Akademie der Künste), Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Nürnberg, 2005, S. 255-272 (S. 256, 263). Die von Schütz und Gosch verhandelten Blickrelationen und visuellen Maßverhältnisse führen zu einer Aufhebung der konventionellen Sichtweisen bzw. Sichträume der Zuschauer, deren Konsequenz Hans Belting benennt: „Im Tausch der Blicke kann man kein Betrachter sein, weil man Mitspieler ist.” Vgl. Hans Belting, „Zur Ikonologie des Blicks”, in: Christoph Wulf/ Jörg Zirfas (Hg.), Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 50-58. Besonders interessant sind Bühnenräume und -elemente, die als verräumlichte, zurückblickende sowie mitspielende Architekturskizzen auftreten (Vgl. Roland Schimmelpfennigs Push Up 1-3/ Vor langer Zeit im Mai, Schauspielhaus Hamburg 2001 und Jon Fosses Da kommt noch wer, o Schauspielhaus Düsseldorf 2001), an (bewohnte) kinetische Installationen erinnern der - wie in Wer hat Angst vor Virginia Woolf (Deutsches Theater Berlin 2004) sich im Publikumsraum fortsetzen und diesen radikal öffnen können, wenn die nur durch Drahtseile markierte wandlose rechteckige Box, d.h. das dreidimensional skizzierte Apartment sich mittels zweier Strings bzw. zweier scharfer graphischer Linien bis in den Rang ausweitet. Damit entsteht ein Spiel- und Abstraktionsraum, der als offener Kunstraum Fragen nach dem Bild im Bild bzw. Raum im Raum anstößt und eine Bildräumlichkeit hervorruft, deren Schwellen und Gehalt von den Künstlern und dem Publikum wiederholt ausgehandelt wird. 32 Vgl. Georges Didi-Hubermann, „L`espace danse - Der Raum tanzt”, in: Ebd., Nürnberg 2005, S. 16-30 (S. 16). <?page no="262"?> Stefan Tigges 262 fördert er die zwischen Illusion und Wirklichkeit oszillierende künstlerische Dichte im Spielraum, die ebenso den Raum des Textes diskursiv öffnen kann. Hier stellt sich die weiter zu verfolgende Frage, in welchem Grad der Zwischenraum, der sich auch ins Zentrum bewegen kann, dazu beiträgt, dass sich im Kunstraum „Welt” abdrückt sowie die Körper der Schauspieler nicht „ermüden” und die Körper-, Leiblich- und Räumlichkeit ästhetisch anders erfahrbar werden bzw. neu interessieren. Oder mit Merleau-Ponty weiter gedacht: „Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein.” 33 Abb. 2: William Shakespeare: Was Ihr wollt, Schauspielhaus Düsseldorf, 2007 (Michael Abendroth, Guntram Brattia, Kathleen Morgeneyer). Labor-Kästen Durch die „Abwesenheit dramatischer Äußerungen” (Gosch), durch das reflexive Zeigen und kollektive Erleben von Vorgängen im Raum, durch das Ausprobieren von Seh- und Darstellungsformen und durch die „Einbeziehung der Bildlichkeit der Bilder in die Bildverfertigung” (Waldenfels) 34 , - wobei hier, wie schon vorgeschlagen, der Raum in den Bildern geöffnet werden sollte - und durch die „Zeitdramaturgie des Raums”, d.h. die Verkoppelung der „Erzählzeit des Plots” mit der „Jetzt-Zeit der Vorstellung” 33 Merleau-Ponty präzisiert: „Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebenso wenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.” Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, S. 169. Vgl. dazu auch: Bernhard Waldenfels, „Leibliches Wohnen im Raum”, in: Gerhard Schröder, Helga Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt am Main, New York 2001, S. 179-201. 34 Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main 2004, S. 226. <?page no="263"?> In den Raum der Bilder sehen 263 (Thiele) 35 steigt der Wirklichkeitsgrad im Kasten stetig an, bis die Wirklichkeit schließlich aus ihr ausbricht, aber nur selten in sie hineinbricht. Heiner Müller, der wiederholt über bühnenarchitektonische Fragen nachdachte und in seine Überlegungen die (Theater-)Arbeiten Robert Rauschenbergs mit einbezog, um damit ein neues Raumverständnis jenseits der Guckkastenbühne zu skizzieren, das sich dadurch auszeichnet, dass es sich weigert „Wirklichkeit in eine Kiste zu packen”, bilanziert: „Die Weigerung, sich den Raum ALS KISTE VORZUSTELLEN, ist die Aufkündigung des Totengräberdienstes an der Wirklichkeit, den die Kunst zu lange versehen hat”. 36 Zieht aus diesem, auf der Bühne platzierten zumeist hinten und an den Seiten geschlossenen Kasten, der flacher oder tiefer ausfallen, mal aus Holz, mal aus Messing sein kann und durch seine Maße, seine materielle Verfasstheit und Farbe die (Körper-)Sprache der Schauspieler jeweils unterschiedlich stimmt bzw. choreographiert, Wirklichkeit, so ist diese nicht vorgetäuscht oder multimedial installiert, sondern speist sich aus dem sich selbst hervorbringenden und mit den Darstellern zusammenspielenden Raum. 37 Der Kasten als zunächst interpretationsfreier, offener Laborraum, in dem die Schauspieler mit dem Text leben, den Text erleben, wenn sich dessen „Sauerstoff” (Gosch) freisetzt, die Zeit mitspielt, sich für das Publikum Bilder und Räume öffnen, Räume in den Bildern entstehen und/ oder die Bilder in die Räume (ein-)ziehen. Bereits beim Blick in das Anfangsbild von Was ihr wollt (Schauspielhaus Düsseldorf 2007) zeigt sich, dass der Raum im Bild schnell anwächst, das Bild unruhig und schließlich ausgelöscht wird indem sich der Raum in der 35 Rita Thiele, „Zuschauen wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz”, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 263-272. 36 Heiner Müller, zitiert von Hans Joachim Ruckhäberle, „Das Bühnenbild zwischen den Künsten”, in: Volker Pfüller/ ebd. (Hg.), Das Bild der Bühne, Arbeitsbuch Theater der Zeit, Berlin 1998, S. 12-18 (S.15). Friedrich Kiesler, der die Guckkastenbühne auch als Bildbühne bezeichnet, da diese für ihn innerhalb eines statischen Raums eine flächige, also zweidimensionale Wirkung anstrebt, die er als „dekorative Frontalwirkung” bezeichnet, plädiert im Sinne Müllers für das Modell der Raumbühne: „Die Bühne ist keine Kiste mit einem Vorhang als Deckel, in die Panoramen eingeschachtelt werden. Die Bühne ist ein elastischer Raum. Die Mauern des Theaters sind Notbehelf. (Das Ideal ist die freistehende Bühne.) Wer die Mauern um das Theater empfindet, soll das Neuinszenieren sein lassen”. Vgl. Friedrich Kiesler, „Das Theater der Zeit”, erstveröffentlicht im Berliner Tageblatt im Juni 1923. Vgl. auch: Barbara Lesák, Die Kulisse explodiert, Wien 1988, S. 43. Vgl. auch die Überlegungen von Jens Roselt zur Raumbühne in: Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 80-91. 37 Die letzten Raummodelle von Johannes Schütz (Die Möwe, Idomeneus) zeigen, dass die Abgeschlossenheit durch den Verzicht auf Seitenwände sowie der Plafonds reduziert wird und die Räume wie Winkel erscheinen, die eine unterschiedliche Tiefe haben können, woraus sich die These ableiten lässt, dass der Grad der ästhetischen Autonomie bzw. Stabilität gestiegen ist und dementsprechend eine noch größere Bühnenraum-Transparenz bzw. ästhetische Reduktion zulässt. <?page no="264"?> Stefan Tigges 264 Vorstellung entfaltet und dabei zugleich die Vorstellungen des Publikums ausschaltet bzw. diese mit der szenischen Wirklichkeit kurzschließt. Sieht das Publikum vor/ zu Beginn der Vorstellung auf bzw. in einen glänzenden, messingfarbenen Kasten, in dem es sich selbst gebrochen spiegelt, tritt kurz darauf Orsino (Guntram Brattia) in weißem Hemd und schwarzer Hose auf, stellt zwei Farbeimer ab, schwingt zum Bedauern der Zuschauer minutenlang einen Farbroller und schwärzt nicht nur die Komödie sondern auch die meterlangen Innenwände ein, die in den nächsten Stunden langsam austrocknen, ihre Oberflächenstrukturen ändern bis sie zur Pause bzw. in der Pause vom Ensemble sowie von Technikern mühevoll gereinigt, in den Originalzustand rückversetzt und im weiteren Spielverlauf z.T. erneut mit schwarzer Farbe behandelt werden. 38 Ein ästhetisches Echo auf Jackson Pollock oder Cy Twombly? Entscheidend ist, dass die erste Szene als (illustrierendes) Bildangebot nur bedingt zugelassen wird und schnell im Raum aufgeht, indem ein Spielraum eingerichtet wird, der sich als Kunstraum mit Hilfe der Schauspieler vor dem Publikum erst selbst herstellt, mit der Zeit (zusammen-)arbeitet und mitspielt, wobei sich insbesondere die Frage stellt, wie sich im Raum Bilder öffnen, sich in Bildern Räume auftun bzw. sich Bilder verräumlichen wenn z.B. Orsino in der schwarz überstrichenen Wand ein Fenster (aus-)malt, sehnsüchtig in den „Außenraum” blickt, später auf das „Fenster” - das zwischenzeitlich, obwohl weiter anwesend, gar nicht mehr als Fenster mitspielte - der Brief für Malvolio geklebt wird, Olivia (Kathleen Morgeneyer) sich bei ihrem Kostümwechsel, d.h. für ihre Verwandlung in Cesare einen Spiegel auf die Wand malt, indem sie das Messing wieder aus dem Schwarz herausputzt und - wie zu Beginn das Publikum selbst - ihr Abbild auf der Wand erblickt oder das Ensemble einen Eimer schwarze Farbe gegen die gereinigte Hinterwand schüttet, um damit Malvolio (Fritz Schediwi) im Bildraum, d.h. in seinem aus der Wandfläche hervortretenden Kerker in „entsetzlicher Dunkelheit” - wie es in der Übersetzung von Angela Schanelec heißt - einzusperren. 39 38 Interessant ist nun - wie schon in Onkel Wanja am Beispiel der Lehmflecken skizziert - wie sich die schwarze Farbe der Wände in den Kostümen, der Haut sowie den Haarstränen der Schauspieler abdrücken kann, wenn diese damit in Berührung kommen und die Darsteller sich so den Raum (in seiner seelischen Verfasstheit) einverleiben, die Schwärze wieder aufrufen, auch wenn die Farbe längst mit Wasserschläuchen und Bürsten beseitigt wurde, womit der absente schwarze Raum im goldenen Raum (synästhetisch) präsent bleibt. 39 In Jürgen Goschs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs „Idomeneus“ (P.: 28. April 2009) skizziert dagegen der Schauspieler Christian Grashof mit einem (Granit-) Stift ein Fenster, aus dem ein Kopf heraus schaut, auf die weiße Bühnenrückwand. Entsprechend äußern Niklas Kohrt (Ein junger Mann) „Oben, auf dem Berg, in der Stadt, in einem Fenster, des Königspalastes, der Kopf des jungen Mannes“, und Barbara Schnitzler (Eine Frau) „das ist der Sohn des Idomeneus, Idamantes, etwa achtzehn oder zwamzig Jahre alt“ womit durch einfachste Mittel (mythische) Räume geöffnet <?page no="265"?> In den Raum der Bilder sehen 265 Damit werden im Spielraum immer wieder neue Sehbzw. Wahrnehmungsräume geöffnet, die vorherige Wahrnehmungsordnungen zusammenbrechen lassen, jedoch z.T. mit alten Spuren (Bildern) weiterarbeiten, um diese anders in den Raum einzubinden und damit neue (außerdramatische) Raumerfahrungen zu begründen, die unmittelbar mit der Sprache, die ihre Kulisse abgeschüttelt hat, zusammenspielen. Abb. 3: William Shakespeare: Wie es Euch gefällt, Schauspielhaus Hannover, 2007 (Ensemble). Seh- und Bildräume Bezeichnet Hans Belting das Wie als „die genuine Mitteilung”, d.h. als die „echte Sprachform des Bildes” 40 , so liegt es nahe, dass Belting dabei an das Modell von Max Imdahl denkt, der in seiner wegweisenden Giotto- Untersuchung zwischen dem wiedererkennenden Sehen und dem sehenden Sehen unterscheidet, wobei in unserem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf das sehende Sehen gerichtet wird, das als eine Art „Syntaktik des Bildes”/ Bildraums, als formaler Bildsinn zu verstehen ist, d.h. als „die Art und Weise, wie etwas dargestellt ist”. 41 Ich möchte am Ende die These aufstellen, dass Schütz/ Gosch in ihren streng organisierten sparsamen Bildräumen weniger Wert darauf legen, dass werden und ein weiterer möglicher Erzählfaden entwickelt wird. Vgl. Endfassung Deutsches Theater Berlin, Spielzeit 2009/ 2010 (S. 15). 40 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, s.o., München 2006, S. 12. 41 Vgl. Max Imdahl, Giotto - Arenafresken. Ikonographie - Ikonologie - Ikonik, München 1980. Vgl. auch Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt am Main, 1999, S. 102-123 (S.103-104). <?page no="266"?> Stefan Tigges 266 das Publikum etwas Neues sieht, als dass sie vielmehr mittels einer gemeinsam entwickelten Blickregie daran arbeiten, dass die Schauspieler und die Zuschauer auf neuartige Weise sehen (und Räume betreten). Dabei werden programmatisch die Blicke/ Blickwinkel des Publikums beunruhigt, indem, wie Waldenfels in Bezugnahme auf Imdahl feststellt, die Überforderung des Auges gerade darin liegt, dass „das wiedererkennende Sehen, das im Schon- Gesehenen seinen Halt findet, durch ein sehendes Sehen wiederholt aus der Bahn geworfen wird”. 42 Mitchell, der ganz im Sinne von Schütz/ Gosch darauf hinweist, dass jede Repräsentation Kosten verursacht - „in Form einer verlorenen Unmittelbarkeit, Präsenz oder Wahrheit, in Form eines zwischen Intention und Realisation, Original und Kopie klaffenden Bruchs” - erinnert mit seinem Entwurf des showing seeing ebenso an Imdahls Modell des sehenden Sehens. 43 Wodurch und worin die Überforderung des mit den „Augen denkenden” Zuschauers (Merleau-Ponty) genau ausfällt, der eine Arbeit von Schütz/ Gosch miterlebt, - die Strategien bzw. Herausforderungen des „sichtbarmachenden Darstellens” im Bildraum spielen jedenfalls in den Aufführungen eine zentrale Rolle, womit diese für weitere bildtheoretische Erkundungen einen ergiebigen Untersuchungsraum darstellen. Auch wenn heute wie schon Mitte der siebziger Jahre verstärkt nach Spielräumen gesucht wird, die außerhalb des Theaters liegen, da Theaterräume bzw. Guckkastenbühnen aufgrund neuer Spielformen ästhetisch weiter ermüden, 44 stimmt Georg Hensels Diagnose gegenwärtig nur bedingt, vorausgesetzt in den Theatern wird wirklich mit dem Raum gearbeitet, wobei der Raum in den Bildern und der Raum zum Publikum spielerisch geöffnet werden muss: „Das Theater erschöpft und befriedigt sich durch den Raum - er ist sich selbst genug.” 45 Die Fotografien von Arwed Messmer entstammen dem von Johannes Schütz herausgegebenen Band „Johannes Schütz. Bühnen/ Stages 2000-2008, Band/ Volume 1“, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg. Ich danke Johannes Schütz für die Erlaubnis des Wiederabdruckes. 42 Bernhard Waldenfels, 1999, S. 124. 43 W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, hrsg. von Gustav Frank, Frankfurt am Main, 2008, S. 97 und S. 312-343 (S.313). 44 Dass vom Modell des Guckkastens im Falle einer innovativen Praxis nach wie vor ein avanciertes ästehtisches Potential ausgehen kann, zeigt der Dramaturg und Regisseur Urs Troller. Vgl. Urs Troller, Welche Bedeutung hat der Guckkasten für das Theaterspielen, da er immer noch da ist ? in : Vorstellungsräume. Dramaturgien des Raums. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, 01/ 10 (S. 7-19). 45 Vgl. Georg Hensel in einer Umfrage von Theater heute 1975 zu aktuellen Bühnenbildtendenzen. Zit. n. Nora Eckert, Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 142. <?page no="267"?> Birgit Wiens Szenografie als Arabeske „The world and the view of the world change; therefore art must do likewise ...” (Per Theil) 1 1. Szenografie zwischen den Kulturen. Skizze eines Problemfelds Es gehört zu den Eigenschaften von Bildern, dass sie reisen können. Begünstigt wird dies durch die Heterogenität und besondere Verfasstheit bildlicher Phänomene: Zu ihrem breiten Spektrum zählen sprachliche Bilder (wie Gedichte oder Schauspiele sie enthalten), Klangbilder, auch Schatten, Spiegelbilder, optische Illusionen und selbst so flüchtige Bilder wie Träume und Erinnerungen. In der westlichen Kultur versteht man unter ‘Bilder’ bekanntlich vor allem aber figürliche oder abstrakte Darstellungen, die, etwa als Zeichnungen, Stiche, Gemälde, Fotografien oder Filmbilder, auf zweidimensionalen Bildträgern (wie Leinwand, Bildschirm) oder - wie im Fall von Skulpturen und raumgreifenden Installationen - als plastische Bildwerke in Szene gesetzt werden. Dass Bilder der Vermittlung materieller Träger bzw. Medien bedürfen, um zu erscheinen, aber mit diesen keineswegs identisch sind, ist eine der Hauptprämissen der neueren Bildwissenschaft. In diesem Sinne hat Hans Belting die Bilder als „Nomaden der Medien” bezeichnet: „Sie schlagen in jedem neuen Medium, das in der Geschichte der Bilder eingerichtet wurde, ihre Zelte auf, bevor sie in das nächste Medium weiter ziehen”; ein „Irrtum” wäre es insofern, sie mit diesen zu verwechseln. 2 Auch das Theater ist ein Medium, das Bilder zur Erscheinung kommen lässt - für die Dauer einer Vorstellung. Fragt man nach den Bildern im Theater, so berührt dies das Forschungsfeld der Szenografie. Ihr Begriff und ihre Konzepte werden, wie Christopher Balme vermerkt hat, in der Theaterwissenschaft, bisher vornehmlich mit Blick auf die abendländische Theatergeschichte, transhistorisch bzw. historisch diskutiert. 3 Der transhistorische Begriff reicht, auch etymologisch, zurück in die griechische Antike, wo man 1 Per Theil, „Sense Collecting - Collecting Sense”, in: Per Theil, Kirsten Dehlholm, Lars Qvortrup, Roberto Fortuna (Edd.), Hotel Pro Forma. The Double Staging: Space and Performance, Kopenhagen 2003, S. 9-26, S. 9. 2 Hans Belting, Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 214. 3 Vgl. Christopher Balme, „Szenographie”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.), Theatertheorie (Metzler Lexikon), Stuttgart, Weimar 2005, S. 322-325. <?page no="268"?> Birgit Wiens 268 die Ausschmückung der sog. „Skene” (der Bühnenhausfront) mit gemaltem Dekor als skênographia bezeichnete; in Vitruvs „Zehn Bücher über Architektur” (ca. 30 v. Chr.) lebte der Diskurs über die antiken Bühnendekorationen später fort. Eine signifikante Wiederbelebung, auch Neudeutung ist dann um 1600 anzusetzen, als die ersten räumlich geschlossenen Theateranlagen der europäischen Neuzeit entstanden und die Bilder gleichsam ins Gebäudeinnere ‘wanderten’. 4 Wie man weiß, war dies die Zeit, in der Leon Battista Alberti und Filippo Brunelleschi die Kulturtechnik der Perspektive erfanden. Die Simultanität mehrerer Spielorte und Stationen, die das Theater bis dahin kennzeichnete, wurde nun aufgehoben im ‘Hier und Jetzt’ einer Bühne, die es ermöglichte, verschiedene szenische Orte sukzessive zu präsentieren. Dem Blick des Publikums sollte sich diese Bühne, um mit der bekannten Formel Albertis zu sprechen, als ‘Fensterbild’ (fenestra aperta) darbieten (ibid.). Sowohl ihre gemalten als auch gebauten Anteile wurden nach den Gesetzen der Perspektive organisiert; Sebastiano Serlio hat daher in seinen Architekturtraktaten die Szenographie gar mit der Perspektive gleichgesetzt. 5 So gesehen - transhistorisch -, ist Szenografie ein Bilderdiskurs. In der Theaterwissenschaft, wie erwähnt, ist zudem aber noch eine zweite Definition gebräuchlich, die - in historischer Zuspitzung - den Begriff ‘Szenografie’ auf Phänomene der Moderne begrenzt. 6 Als wegweisend gilt hier die Arbeit des Schweizers Adolphe Appia, der in den 1910er Jahren, wie Zeitzeugen begeistert berichteten, „die gemalten Leinwände, die Requisiten, die ganze lächerliche Beschwernis des alten Theaters” durch bewegliche Raummodule (‘rhythmische Räume’) ersetzte. 7 Die Geschichte der modernen Szenografie beginnt demnach mit einem Ikonoklasmus: Die traditionelle Kulissenbühne, und die durch sie hervorgerufene „Augentäuschung”, 8 wurde zugunsten der offenen Raumbühne verworfen. Selbst die Trennung zwischen Innen- und Außenräumen begann man, als allzu „strengen Rahmen” zu hinterfragen. 9 Die Visualität der Bühne, als raumgreifendes Phänomen, geriet in Bewegung. Man wollte die Dinge nicht mehr nach Maßgabe nur einer Sichtweise sehen: „Die Welt”, um mit Nietzsche zu sprechen, war „noch einmal ‘unendlich’ geworden”, und in den Wissen- 4 Vgl. Ulrike Hass, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 172-187. 5 Myra Nan Rosenfeld, „From Bologna to Venice to Paris. The Evolution and Publication of Sebastiano Serlio’s Books I and II, ‘On Geometry’ and ‘On Perspective’, for Architects”, in: Lyle Massey (Ed.), The Treatise on Perspective, New Haven 2003, S. 281-321, S. 292. 6 Patrice Pavis, „Scénographie”, in: Ders., Dictionnaire du Théâtre, Paris 1996, S. 314-317. 7 Paul Claudel, in seinem Bericht anlässlich einer Aufführung im Festspielhaus Hellerau 1913, zit. nach: Richard C. Beacham, Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin 2006, S. 152f. 8 Adolphe Appia, „Die Musik und die Inscenierung” (1899), in: Beacham (2006), S. 70- 107, hier 92. 9 Vgl. Appia, „Monumentalität” (1922), in: Beacham 2006, S. 386-395. <?page no="269"?> Szenografie als Arabeske 269 schaften und den Künsten fragte man sich, „was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte”. 10 Zu diesen neuen Sehweisen haben damals sicherlich die Medieninnovationen Fotografie und Film beigetragen, mit denen Bilder leichter als je zuvor ‘reisen’ konnten. In diesem Sinne deutete etwa Walter Benjamin den Film als visuelles Medium, das nun ermöglichte, die „Kerkerwelt” des ‘Hier und Jetzt’ zu überschreiten und aufzufächern in ein „Prisma” der Räume, das einlädt, „weite, abenteuerliche Reisen” zu unternehmen. 11 Die Bilder, auch über die Grenzen der Kulturkreise hinweg, setzten sich in Bewegung. Am Beginn des 21. Jahrhunderts, nachdem sich die Digitalmedien beinahe global durchgesetzt haben und Bilder in digitalisierter Form Echtzeitschnell über transnationale Kommunikationsnetze bewegt werden, gilt dies mehr denn je. Mit ihrer nun schier grenzenlosen „Zirkulation und Dissemination” haben sich Bildproduktion und -gebrauch, mit anderen Worten: ihr „In-der-Welt-Sein”, nochmals verändert: sie wurden, wenn man so will, zu ‘Nomaden’ im weltweiten Datenverkehr. 12 Für die Szenografie, so lautet die Ausgangsthese des vorliegenden Beitrags, stellt das neue ‘In-der-Welt-Sein’ der Bilder eine Herausforderung dar - sowohl in der Praxis als auch in der Theorie, zumal die Theaterwissenschaft Bilderfragen erst seit kurzer Zeit aufgreift. Dies hat zu tun mit einer Fachtradition, die etwa zeitgleich mit den Anfängen der modernen Szenografie einsetzt: Die ikonoklastische Geste, mit der Appia und andere die Kulissenbühne verwarfen, wurde damals zum Anlass, die These von der prinzipiellen ‘Fremdheit’ zwischen Theater und Malerei (und auch dem Film) daraus abzuleiten. 13 Der Diskurs um die neuere Szenografie, wie Balme vermerkt hat, formierte sich insofern als „antipiktoraler Diskurs” und lässt bis heute Fragen offen. 14 Längst haben freilich die ‘Visual Arts’ (mit Robert Wilson und anderen) auf die Bühnen Einzug gehalten. Zudem, spätestens seit dem globalen Siegeszug der Digitalmedien, werden unterschiedlichste Möglichkeiten erprobt, Video, Film und Internet- Inhalte, vorproduziert oder live, über visuelle Interfaces einzuspielen und das Theaterereignis so zu erweitern: Szenografie ist zu einem Experimentierfeld ‘zwischen den Medien’ geworden. 10 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft (1882), 5. Buch, Abschnitt 374, Stuttgart 2000, S. 286f. 11 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt M. 1977, S. 35f. 12 Zu dieser These vgl. W.J.T. Mitchell, „Pictorial Turn”, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 37-46, sowie sein Beitrag „Realismus im digitalen Bild” im selben Band, S. 237-255, bes. S. 245f. 13 Vgl. Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis” (1931), in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 501-513, hier S. 509f. 14 Balme, „Szenographie”, a.a.O., S. 324. <?page no="270"?> Birgit Wiens 270 Im theoretischen Diskurs hat man sich inzwischen darauf verständigt, diese Bühne als ‘intermedial’ zu beschreiben. 15 Kennzeichnend für die intermediale Bühne, in ihrer offenen, erweiterten Struktur, ist eine raumgreifende Visualität, in der heterogene Bildphänomene - vermittelt über unterschiedliche Trägermedien, Materialien und Schnittstellen - in komplexe performative Konfigurationen zueinander treten. Die Eigenschaften der neu hinzu gekommenen digitalen Bilder wurden zunächst vor allem als Simulationsproblem diskutiert (Virilio). 16 Doch weit mehr als ihre ‘Körperlosigkeit’ (eine Eigenschaft, die sie übrigens mit einigen anderen Bildern teilen), gilt das exponentielle Ausmaß, in dem digitale Bilder über die globalen Datennetze in Echtzeit zirkulieren können, inzwischen als ihr nachhaltigstes Merkmal. Dass dieser ‘Raum’ kein neutraler Raum ist, sondern - als virtueller Kommunikationsraum und Imaginationshorizont - immer auch in Beziehung zu anderen, geographisch und kulturell lokalisierbaren Räumen steht und dort Präsenz und Wirkungen entfaltet, hat unter anderem der Streit um die Mohammed-Karikaturen gezeigt. Beobachtungen wie diese legen nahe, dass es kaum ausreicht, die Frage der Bilder - in ihrer Eigenschaft als ‘Nomaden der Medien’ - allein als medienhistorisches Problem zu behandeln. Vielmehr beinhalten Bildproduktion, -wahrnehmung und -gebrauch kulturspezifische Momente, die, um sie erkennen zu können, immer auch geographische Verortungen und Differenzierungen erfordern. 17 Die Szenografie in Praxis und Diskurs, so ist zu vermuten, steht demnach nicht nur vor einer intermedialen, sondern zudem auch vor einer interkulturellen Herausforderung. Wie aber genau wirken die sich abzeichnenden Veränderungen von Bildproduktion, -wahrnehmung und -gebrauch, kurz: das neue „In-der-Welt- Sein” der Bilder (Mitchell), sich auf das Theater aus? Um die soeben skizzierten Fragestellungen weiter zu präzisieren und erste Antworten vorzuschlagen, soll im Folgenden ein Projekt diskutiert werden, das, wie ich meine, als Versuchsanordnung einer szenografischen Forschung ‘zwischen den Kulturen’ interpretiert werden kann; die Rede ist von dem Projekt „Algebra of Place” der Künstlergruppe Hotel Pro Forma (2006). Schon der Titel ist Programm: in der ursprünglichen Bedeutung des arabischen Wortes al-jebr heißt „Algebra“ übersetzt ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’; entsprechend ist das Projekt angelegt als visueller Dialog zwischen Europa und dem Mittleren Osten, zwischen Okzident und Orient. Wie kann eine Szenografie aussehen, die einen solchen Dialog in Gang setzen könnte? 15 Freda Chapple, Chiel Kattenbelt (Edd.), Intermediality in Theatre and Performance, Amsterdam, New York 2006, bes. die Einleitung, S. 11-25. 16 Vgl. Hans-Thies Lehmann, „TheaterGeister/ MedienBilder”, in: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 137-145. 17 Vgl. Doris Bachmann-Medick, „Iconic Turn”, bes. den Abschnitt „Transkulturelle Bildwissenschaft/ Kulturbildwissenschaft„, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 345-348. <?page no="271"?> Szenografie als Arabeske 271 2. Das ‘nomadische Theater’ von Hotel Pro Forma. „Algebra of Place” - zur Konzeption des Projekts Abb. 1: Szene aus: „Algebra of Place”, Hotel Pro Forma/ Foto: Roberto Fortuna. „The performance starts with the space, the place”, so Kirsten Dehlholm, die künstlerische Leiterin von Hotel Pro Forma. 18 Es gehört zu ihren Arbeitsprinzipien, für jede Produktion von einer neuen, anderen Bühnenform oder Raumsituation auszugehen. Die dänische Künstlergruppe, die sich Mitte der 1980er Jahre gründete und seither ihre Projekte auf internationalen Festivals präsentiert, verzichtet nicht nur auf einen festen Spielort, sondern ist auch in der Wahl ihrer bildnerischen Mittel stets auf der Reise. Jede Arbeit beginnt ‘vor Ort’, als Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Spielort bzw. Gebäude, mit seiner architektonischen Struktur, Geschichte und Tradition sowie seinem Umraum, dem lokalen, meist städtischen Kontext. Auch für „Algebra of Place” trifft dies zu, doch war der erste Schritt ein anderer, der zunächst in die Ferne führte. Das Projekt ging von einer Bildrecherche aus. Im Vorfeld fuhr das Team in die Arabischen Emirate, nach Dubai, Abu Dhabi, Sharjah sowie in den Oman, um mit der Digitalkamera ikonische Orte sowie Alltagsszenen der anderen Kultur festzuhalten. Zurück in Kopenhagen, wurde ein entsprechend geeigneter lokaler Kontext, als kulturell signifikanter Gegenpol, gesucht. Die Wahl fiel auf die „Axelborg”, ein neoklassizistisches, in den 1920er Jahren erbautes Geschäftshaus unweit des Hauptbahnhofs: eine Ikone europäischer Baukunst, mitten im Herzen der Stadt. Zu den Besonderheiten dieses Gebäudes gehört seine offene Rundarchitektur im Innern; auf 18 Kirsten Dehlholm, „Investigations of the World”, in: Per Theil et al. (Edd.), Hotel Pro Forma. The Double Staging: Space and Performance, S. 99-119, S. 99. <?page no="272"?> Birgit Wiens 272 allen sieben Stockwerken des Treppenhauses gibt es oval-runde Umgänge, überdacht von einer Kuppel. Auf den Boden des Erdgeschosses hat Dehlholm eine kreisrunde, horizontale Projektionsfläche installiert; vertikal dazu gab es eine weitere Projektionsfläche (von vier Metern Höhe und drei Metern Breite), die rotieren und in drei Positionen halten konnte. Von schräg oben, aus verschiedenen Winkeln, wurden vier Projektoren eingesetzt. Die ständig wechselnden Bildprojektionen, die zugleich als einzige Lichtquelle fungierten, richteten sich nicht nur auf die genannten Flächen und wurden auch nicht von diesen begrenzt; vielmehr hatte man den Eindruck, dass die visuellen Impressionen der arabischen Reise gleichsam verräumlicht wurden und in ein fließendes, kaleidoskopisches Spannungsverhältnis mit dem Gebäude vor Ort gerieten (Abb. 1). 19 Dramaturgisch war die Begegnung zwischen zwei Kulturen für die Gäste als Weg durch ein virtuelles arabisches Hotel angelegt: nach Begrüßung und Check-In in der ‘Lobby’ konnte man sich auf den verschiedenen Stockwerksebenen verteilen (und nach Wunsch jederzeit den Platz wechseln). Wahlweise konnte man auf den unteren Ebenen in Aktion, Bildprojektionen und Klänge gleichsam eintauchen oder aber sie von weiter oben, wie im Blick in ein Kaleidoskop, verfolgen. Durch die so gestaltete Szenografie mäanderte eine Performerin. In einer Art Paraphrase zu der Hauptfigur im Buch „The Sand Child” des französisch-marokkanischen Autors Tahar Ben Jelloun war sie angelegt als geheimnisvolle Figur, die zwar immer wieder, wie ein roter Faden, erscheint, von der man aber nicht genau weiß, welcher Welt sie angehört. Auch formal, in ihrer Zuordnung zur Bildlichkeit von Film oder Theater, changierte ihre Zugehörigkeit: mal war sie physisch präsent und schien sich gleichsam durch die Filmprojektionen zu bewegen, und mal erschien sie - virtuell - in den Filmszenen. Dasselbe geschah auch mit einem roten Ball, der in einem Moment über den Boden der Axelborg rollte, um im nächsten Moment im Film sichtbar zu werden: Ein Spiel, das in der Wahrnehmung der Zuschauer nicht nur die Grenzen zwischen den Medien, sondern auch die Grenzen zwischen dem ‘Hier und Jetzt’ (wie es das Theater behauptet) und dem ‘Anderswo’ (wie es der Film vermittelt) überschritt und zum Oszillieren brachte. In diesem Spiel, und in ihrer soeben beschriebenen Zwischenposition, fungierte die Performerin als Erzählerin und Guide, die ihre Gäste in verschiedenen ‘Räumen’ empfing und ihnen eine Führung bot. Zu den Stationen des Rundgangs gehörten „Gift Shop”, „Club Room” und Terrasse sowie der Besuch eines „Learning Center” für Mystik und althergebrachtes Wissen, bevor er in der Telefonkabine des Hotels sein Ende fand - also an einem jener Schnittpunkte, an dem geografisch entfernte Orte miteinander verbunden und Fernes anwesend wird. 19 Die Projektbeschreibung im vorliegenden Beitrag bezieht sich auf einen Besuch der Aufführung in Kopenhagen im Februar 2006. <?page no="273"?> Szenografie als Arabeske 273 Abb. 2: Szene aus: „Algebra of Place”, Hotel Pro Forma/ Foto: Roberto Fortuna. In diesem Prisma der Bilder wurden die einzelnen Stationen nicht illustriert oder gar nach der Logik des perspektivischen Bildes dargestellt: eher vermittelten sie sich in Form einer sphäroiden Raumgestalt um die Performerin herum (Abb. 2). Atmosphärisch verdichtet wurde all dies zudem durch einen akustischen Live-Mix, dessen Repertoire von traditioneller arabischer Musik bis hin zu gecoverten Madonna-Songs reichte. Sowohl auf der Ebene des Visuellen, des Klanglichen wie auch in einer arabischen Tradition des Erzählens, die nicht einen, sondern vielerlei Blickpunkte vorsieht, wurde hier ein Prozess in Gang gesetzt, der ein westlich konditioniertes Wahrnehmen unterläuft und statt dessen sein Publikum mit einem anderen Modell des Denkens und Sehens konfrontiert: A cinematic arabesque. An imaginary Arabian hotel without vanishing point. A story in the tradition of Arabian narration with many voices and several truths. An ornamental surface from the jewel case or safe-deposit box of reality. A performance checks into an international hotel in an Arab country. The music serves as travel guide. This is where we meet the woman. Is she the storyteller or is she the one we are told about? 20 Die vielstimmige, multiperspektivische Erzähltradition, die hier aufgegriffen wird, korreliert auf visueller Ebene mit der Form der Arabeske. An die Stelle der abendländischen Technik der perspektivischen Bildkonstruktion (einem Bildercode, den, wie ausgeführt, bereits die Szenografen der europäischen 20 Hotel Pro Forma: „Algebra of Place”, Programmheft, Kopenhagen 2006. <?page no="274"?> Birgit Wiens 274 Theatermoderne kritisierten) setzt das Projekt die alte arabische Form der Arabeske und aktualisiert sie als Prinzip der ästhetischen Formgebung und der Organisation des Sehens. Ein szenografischer Kunstgriff: Mit „Algebra of Place”, so die These, kommt eine Bildlichkeit zur Aufführung, die sich als Blickwechsel und Austausch zwischen zwei Kulturen und ihren unterschiedlichen Bildtraditionen formuliert. 3. Die Arabeske als Form- und Kompositionsprinzip Die westliche Kunst- und Kulturgeschichte kennt die Arabeske schon von Alters her - und zwar als Ornament- und Schmuckform, als ein auf abstrakter Geometrie basierender sog. ‘Knotenstil’ verschlungener, rankenförmiger Verzierungen, dem man allerdings nicht in der Kunst, sondern im Kunstgewerbe einen Platz zuwies. 21 Erst später, im Zuge der Selbstreflexion in den Künsten seit dem 19. Jahrhundert, wurde die Arabeske, als ‘fremdes’, alternatives Gestaltungsprinzip, in den bildenden und literarischen Künsten neu entdeckt und fand zudem Eingang in die musikalische Komposition und den Tanz. 22 Hotel Pro Forma, wie soeben beschrieben, interpretiert die Arabeske darüber hinaus als Form gebendes Prinzip einer intermedialen Szenografie, welches den Auftritt der - von den Reisen mitgebrachten - Bilder vor Ort, in den Räumlichkeiten der „Axelborg”, organisiert. Die Besonderheit der Arabeske, als Bilderstruktur und -form, ist, dass sie den Betrachter als rezipierendes Subjekt in die verräumlichte Qualität seiner Bildlichkeit gleichsam hineinzuholen vermag. Darin unterscheidet sich die Arabeske von der Perspektive, die am Beginn der europäischen Neuzeit Bild und Betrachter trennte und dem Subjekt außerhalb bzw. vor dem Bild seinen Platz zuwies. Es war der Kunsttheoretiker Erwin Panofsky, der in den 1920er Jahren (im Rückgriff auf einen Begriff Ernst Cassirers) die Perspektive als „symbolische Form”, mit anderen Worten: als kulturspezifische Methode der bildlichen Darstellung und Wahrnehmung ausdrücklich kenntlich machte. Mit Hinweis auf davon abweichende Bildbegriffe anderer Epochen und Kulturen (genannt wird unter anderem der „Alte Orient”) hinterfragte er ihre habitualisierte Selbstverständlichkeit. 23 Dass die Perspektive, die den psycho-physiologischen Raum durch den mathematischen zu ersetzen sucht, keineswegs als universal gelten kann, wurde auch seitens der Phäno- 21 Vgl. das Kap. „Geometrie und Kunstgewerbe: Die Arabeske”, in: Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008, S. 47-54. 22 Vgl. Claudia Jeschke, Isa Wortelkamp und Gabi Vettermann, „Arabesken. Modelle ‘fremder’ Körperlichkeit in Tanztheorie und Inszenierung”, in: Claudia Jeschke, Helmut Zedelmaier (Hg.), Andere Körper - Fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert, Münster 2005, S. 169-210. 23 Erwin Panofsky, „Die Perspektive als ‘symbolische Form’” (1924/ 25), in: Ders., Aufsätze zu den Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1992, S. 99-167, hier S. 125. <?page no="275"?> Szenografie als Arabeske 275 menologie, namentlich von Maurice Merleau-Ponty, betont. 24 Seither wird diskutiert, inwieweit es sich dabei um eine Kulturtechnik bzw. einen Apparat der Wahrnehmung handelt: Hans Belting hat unlängst vorgeschlagen, das perspektivische Bild nicht als „Blick auf die Welt”, sondern als einen „zum Bild gewordenen Blick” zu deuten, das also nicht Welt, sondern lediglich eine Idee der Welt transportiert. 25 Die Perspektive, als Kulturtechnik des Abbildens und Wahrnehmens (oder, mit Heidegger gesprochen, als ‘Gestell’), ist dem abendländischen Bewusstsein, trotz aller Kritik, eingeschrieben. Keineswegs unbeteiligt sind daran die neueren Medien: Zunächst war es die Erfindung der Fotografie, die die Vorherrschaft der monofokalen Perspektive erst recht perpetuierte. Im Anschluss an die analogen sind es dann die digitalen Medien (mit ihren Bildschirmen, dynamisierten Bildflächen und ‘Windows’-Architekturen), in denen das perspektivische Bild, in remediatisierter Form, weiterlebt und nun globale Verbreitung erfährt. Zwar sind es, wie Hartmut Winkler vermerkt hat, „nur wenige Jahrhunderte [...], in denen die Perspektive die westliche Kunst dominierte, zudem in einem geographisch äußerst eingeschränkten Teil der Welt”, so dass es „letztlich erst die technischen Bilder” sind, die „die Perspektive rund um den Globus durchgesetzt haben”. 26 Daran scheint sich absehbar nichts zu ändern: „Wir kommen von diesem Erbe der frühen Neuzeit trotz aller Anstrengungen nicht los”, so Belting. „Es wäre ein Kampf gegen Windmühlen, Einwände gegen eine Sehnorm zu erheben, die in dem heutigen Bildkonsum global geworden ist”. 27 Sicherlich bleibt es aber umso mehr eine Aufgabe von Kunst, die Ordnungen des Sichtbaren und des Sehens, die hier zum Tragen kommen, kenntlich zu machen und ins Bewusstsein zu rücken. Begreift man mit Bernhard Waldenfels Bilder weniger als Abbild oder Repräsentationsform, sondern in erster Linie als ‘Ereignisse’, so gerät ihre Produktion als „Bildereignis” in den Blick und damit die Möglichkeit, die Bedingungen und Normen, nach denen etwas sichtbar (oder nicht sichtbar) wird, zu erkennen; gleiches gilt für das „Sehereignis” im Sinne eines „sehenden Sehens” bzw. „Anderssehens”. 28 Gerade hier liegt auch eine Aufgabe von Theater, das seinerseits per definitionem ‘Ereignis’ ist, im Wechselspiel zwischen Inszenierung und Rezeption. 29 Entsprechend zeichnet sich, mit Vertretern wie etwa der amerikani- 24 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, „Le Langage indirect et les voix du silence” (1951/ 52). Dt. Ders., Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 69f. und 78f. 25 Belting, Florenz und Bagdad, S. 24. 26 Hartmut Winkler, Der filmische Raum und der Zuschauer, Heidelberg 1992, S. 103. 27 Belting, Florenz und Bagdad, S. 24f. 28 Bernhard Waldenfels, „Ordnungen des Sichtbaren”, in: Gottfried Böhm (Hg.), Was ist ein Bild? , München 2006, S. 233-252, hier S. 243; s.a. Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zu einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 1999, S. 138. 29 Zur Definition der Theateraufführung als „Ereignis” (nicht als ‘Werk’) vgl. einschlägig Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, bes. S. 42-57; s.a. Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 47-51. <?page no="276"?> Birgit Wiens 276 schen Wooster Group, mit Diller+Scofidio oder der japanischen Künstlergruppe Dump Type, seit einigen Jahren eine ganze Palette experimenteller Ansätze ab, die den Bildraum der Bühne öffnen und die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern aufheben oder variabel gestalten. In raumgreifenden Szenographien stellen sie die Medialität der Bilder aus und spielen, in Abkehr von linearen Erzählweisen, mit Multiperspektive und multiplen ‘Rahmungen’ von Szenenbildern, Projektionsflächen und Screens: in der Theaterwissen-schaft wurde dies als postdramatisches „Theater der Szenografie” diskutiert. 30 Nach dem soeben Gesagten stellt sich die Frage, ob die Omnipräsenz der Bildschirme die perspektivischen Bilder in gewisser Weise nicht doch wieder bestätigt und damit die Bildlichkeit der Projekte in ihrer Struktur gefangen bleiben. Welche anderen Vorgehensweisen aber wären möglich? Abb. 3: Arabischer Fensterschirm (Luxor, um 1950), aus: Hans Belting 2008. Hotel Pro Formas Projekt „Algebra of Place” bezieht sich, wie erwähnt, auf die Strukturform der Arabeske. Anders als die Perspektive, organisiert die Arabeske keinen Bildraum, der sich einem ‘Fensterblick’ darbietet; vielmehr komponiert sie ihre Bildelemente in einem visuellen Flechtwerk, indem sie diese abstrahiert, vervielfacht bzw. variiert und zu dynamisieren scheint. Indem die Arabeske, als eine ‘fremde’ Formel, für die szenografische Gestaltung des Projekts verwendet wurde, spielt diese auf divergierende Bild- und Blicktraditionen der verschiedenen Kulturen an und macht sie erfahrbar. Doch es geht hier um mehr als um eine Konkurrenz der visuellen Formen. Eine der Stationen der imaginierten Hotel-Begehung bringt die Besucher, 30 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 159. <?page no="277"?> Szenografie als Arabeske 277 wie ihre ‘Touristenführerin’ ankündigt, in ein „Learning Center”: Sie begegnen altem Wissen (unter anderem aus den Feldern von Geometrie und Mathematik) und werden daran erinnert, wie viel der Westen der arabischen Welt verdankt. Ein Dialog zwischen den Kulturen im ‘Tiefenraum’ ihrer Geschichte beginnt - ein Dialog, der Bilder, auch in der Gegenwart, neu und anders sehen lässt. In der Tat lassen sich interkulturelle Differenzen (und auch Berührungen) am besten medienarchäologisch erschließen. Wie Belting in seiner Studie „Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks” einschlägig gezeigt hat, offenbart sich, namentlich zwischen der orientalen und okzidentalen Kultur, eine unerwartete Verwandtschaft, wenn man einräumt, dass wesentliche Grundlagen westlichen Bilddenkens auf dem Wissen arabischer Mathematiker und Astronomen beruhen. Prominent nennt Belting den Gelehrten Ibn al-Haitham, genannt Alhazen, der im 11. Jahrhundert Studien zu einer Theorie des Sehens unternahm. In einem später im Westen rezipierten Traktat, das, in umgedeuteter Form, die ‘Entdeckung’ der Perspektive mit vorbereitete, 31 hat Alhazen, basierend auf mathematischen Berechnungen und optischen Experimenten, ein geometrisches System von Licht und Sehstrahlen aufgestellt, das der abstrakten Spiritualität der arabischen Kulturen perfekt entsprach. In seine Lebenszeit fällt die Entwicklung der Bildform der „Maschrabiyya”, des „Lichtschirms”, den Belting als morgenländisches Äquivalent zum abendländischen Bildbegriff des ‘offenen Fensters’ interpretiert und aufwertet. Verwandt damit, als ‘Sehform’, ist auch die arabische Kalligraphie und das abstrakte, geometrische Dekor der Arabeske. 32 Die arabische Bildlichkeit ist demnach eine, die sich nicht an die Fläche bindet, sondern sich, in den wandelnden Erscheinungen des Lichts, als dynamisches, verräumlichtes Phänomen darbietet (Abb. 3). Kirsten Dehlholm, von diesem Erbe offenkundig angeregt, projiziert die von ihrer Reise durch die Arabischen Emirate mitgebrachten, digitalen Fotographien und Filmbilder als kaleidoskopische Montage in den Raum. 33 Die Bilder treffen dort nicht auf fixierte, rechteckige Rahmen und fungieren entsprechend nicht als ‘Schaufenster’, Tür oder Spiegel (um nur einige Deutungen des Filmbildes in der filmtheoretischen Diskussion zu nennen), 34 sondern erscheinen im Spiel der Arabeske. Dabei werden die Bilder, in dieser eigentlich abstrakten Ornamentform, nicht semantisch ent- 31 Belting, Florenz und Badgad, bes. S. 104-114. 32 Ibid., bes. S. 128 und 272f. 33 Bekanntlich experimentierten bereits Künstler der europäischen Avantgarden - prominent László Moholy-Nagy - mit bewegten, durch Licht verräumlichten ‚Bildern’ (vgl. dazu einschlägig Anne Hoormann, Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, München 2003); sie mögen ebenfalls ein Referenzpunkt des Hotel Pro Forma-Projekts gewesen sein, das aber, unter den veränderten Medienbedingungen von heute (Digitalmedien, globale Vernetzung), wie dargelegt v.a. interkulturelle Aspekte der Bilderfrage akzentuiert. 34 Vgl. dazu ausführlich Thomas Elsaesser und Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 23-102. <?page no="278"?> Birgit Wiens 278 leert, sondern kommen in einer - vom westlichen Standpunkt aus fremdartigen - Organisation des Sichtbarmachens und des Sehens zur Erscheinung. Atmosphärisch und geradezu physisch macht das Projekt sie in dieser Weise wahrnehmbar als ‘Nomaden’: als Bilder, die aus der Ferne kommen. 4. ‘Ortsverschiebungen’. Überlegungen zur Medialität des Theaters ein Ausblick Was bedeutet es, wenn, wie mit Dehlholms „filmischer Arabeske”, Prinzipien eines anderen Bilddenkens auf die Medialität des (abendländischen) Theaters treffen? Als dessen medienspezifisches Merkmal wird, bis heute weitgehend übereinstimmend, die „gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit” postuliert. 35 Demnach ist Theater ein Live-Ereignis, das sich in einem ‚Hier und Jetzt’ realisiert. Ein weiteres Merkmal ist, dass es fiktionale Inhalte, Orte, Personen (also eigentlich Abwesendes) zur Erscheinung bringt - ein Merkmal, das, wie Lehmann betont hat, dazu jedoch in gewissem Widerspruch steht: „nirgends [...] ist der Inhalt der theatralen Kommunikation präsent [...] Nie hat man es hier mit Gegenwart im Sinne von Anwesenheit zu tun, nirgends mit einfacher Vergegenwärtigung”. 36 Um beispielsweise einen Hain im fernen Tauris oder ein türkisches Serail auf einer Bühne zu evozieren, erfand man in der Vergangenheit verschiedene Verfahren - von der gebauten Kulisse bis hin zur Klang- und Wortkulisse, und der Blick in die (europäische) Geschichte des Theaters zeigt, dass mediale Formen und historisch gewachsene Konventionen immer wieder zueinander in Spannung gerieten. Was hingegen die zugrunde gelegte Ordnung des Räumlichen und des Sichtbaren betrifft, erweist sich diese, seitdem die Theaterwissenschaft ihren Gegenstand als kommunikatives ‘Ereignis’ diskutiert, als vergleichsweise konstant: Im Anschluss an Max Herrmann, einem der Begründer des Fachs, wird weiterhin von einer Staffelung ausgegangen, deren Zentrum der „theatralische Raum” (die Bühne) bildet, umgeben von einem „Umraum”, der als lokaler, soziokultureller Kontext von gewisser Bedeutung ist; Herrmann nennt zudem noch den „Fernraum”, der „gewöhnlich keine Rolle” spiele und in seinen Darlegungen daher „halbdeutlich” bleibt. 37 Im Zeitalter von elektronischen Medien und globalisierter Telekommunikation gewinnt die Frage des Fernräumlichen jedoch an Relevanz. Das, was ehedem „fern” war, ist näher gerückt; zudem machen vielfältige Austauschprozesse zwischen den Orten und Kulturen die Verhältnisse komplexer. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit die traditionelle Staffelung 35 Roselt, Phänomenologie des Theaters, S. 47. Zur, inzwischen kontroversen, Diskussion um die „mediale Spezifität” von Theater s.a. Balme (2008), S. 161f. 36 Lehmann, „TheaterGeister/ Medienbilder”, S. 139. 37 Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis” (1931), S. 504 und 508. <?page no="279"?> Szenografie als Arabeske 279 der Räume noch immer Gültigkeit behält. Wie ausgeführt wurde, schlägt das Hotel Pro Forma-Projekt „Algebra of Place” eine andere Ordnung der Räume und des Sichtbaren vor. Wie bereits der Projekttitel anzeigt, ging es, in Überschreitung der sonst üblichen Fokussierung auf ein ‘Hier und Jetzt’, darum, mit performativen Mitteln eine ‘Verbindung’ zwischen zwei geographisch voneinander entfernten Orten herzustellen. In der intermedialen Szenografie des Projekts wurde das Publikum dazu angeregt, die eigene, eurozentrische Position ein Stück weit zu verlassen, um - im Kulturdialog - eine Blickverschiebung, ein ‘Anderssehen’ (Waldenfels) zu erproben. Entsprechend kamen die Bilder aus den arabischen Emiraten in Kopenhagen nicht als Reisemitbringsel oder Dekor zur Aufführung, sondern wurden, gleichberechtigt mit den anderen Elementen der Aufführung, zu Akteuren, indem sie, arabeskenartig, in ein Wechselspiel traten mit der Architektur der „Axelborg”, der Musik und der zwischen den Welten wandernden Performerin. In diesem Wechselspiel, und vor allem in dessen Wahrnehmung durch das Publikum, entfalteten die Bilder Wirkungen einer Präsenz, die man in der Kommunikationstheorie als „Fernanwesenheit” bezeichnet hat. 38 Die letzte Station des Projekts führte, wie schon erwähnt, in eine Telefonkabine: „The phone booth. The smallest room in the hotel, and the largest. Linked with the whole world. Connections to other languages and other time zones, other climates and other cultures. [...] But the sky above us remains the same”, heißt es dazu im Programmheft. Ähnlich wie das Universum, lässt sich der ‘Raum’ der elektronischen Telekommunikation nicht repräsentieren. Und doch sind seine Phänomene präsent und haben, seitdem es jene Medien gibt, in den Wahrnehmungen dazu geführt, dass „das jeweilige Hier und Jetzt [...] sich zerteilt, sich zerklüftet [...] Sprünge bekommt”. Wie Bernhard Waldenfels in seinem Aufsatz „Ortverschiebungen” angeregt hat, ergibt sich daraus als Herausforderung, die räumliche Nähe und Ferne anders zu denken. Anders, das heißt nicht in Form einer bloßen Staffelung, die mit ihren Fluchtlinien und Fluchtpunkten der Zentralperspektive verhaftet bleibt und auch die Ferne noch einer ‘Gegenwartserinnerung’ einverleibt. 39 Die Auffassungen von Nähe und Ferne sind kulturell an Konventionen der Darstellung gebunden und, wie Waldenfels mit Merleau-Ponty argumentiert, vor allem an jene der Wahrnehmung. Demnach sind dem Wahrnehmenden nicht nur Phänomene im Gesichtsfeld oder in unmittelbarer Nähe zugänglich; vielmehr macht der Wunsch, die Ferne (oder jemanden in der Ferne) zu vergegenwärtigen, diese ‘leiblich erfahrbar’ und vermag die Rela- 38 Manfred Faßler, Was ist Kommunikation? , Paderborn 1997, S. 106. 39 Bernhard Waldenfels, „Ortsverschiebungen”, in: Tom Fecht, Dietmar Kamper (Hg.), Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum, Wien, New York 2000, S. 148-156, hier S. 150 und 153. <?page no="280"?> Birgit Wiens 280 tion zwischen Nähe und Ferne temporär sogar umzudrehen. 40 Gegenwart, als Ereignis des Handelns und Wahrnehmens, kann demnach „nicht auf die binäre Alternative von An- und Abwesenheit reduziert werden”, sondern wäre als dynamisches Gewebe vielfältiger Gegenwarten, im Spannungsfeld pluraler Ortsbezüge, zu begreifen. 41 Waldenfels’ Vorschlag, „die räumliche Nähe und Ferne anders zu denken”, bietet, wie ich meine, auch für die Diskussion um die Medialität des Theaters bedenkenswerte Anregungen, zumal ihre Bestimmungen, im Fokus auf das ‘Hier und Jetzt’, Phänomene des Fernräumlichen bisher außer Acht lassen. Für das Projekt „Algebra of Place” von Hotel Pro Forma ist der Blickwechsel, die wahrnehmende Bewegung zwischen Nah- und Fernraum, wie gezeigt wurde, dagegen konstitutiver Teil seiner Konzeption. Die dänische Künstlergruppe macht damit die Differenzen, aber auch die historische Verwandtschaft zwischen dem ‘Hier’ der eigenen Kultur und dem ‘Dort’ der anderen, arabischen Kultur zum Thema. In Zeiten von Karikaturenstreit, Fundamentalismus und neuerlicher Xenophobie ist dies sicherlich ein wichtiger Ansatz - geht es doch um die künstlerisch realisierte Vision einer friedlichen Ko-Existenz zwischen den Kulturen, und zwar so, dass nicht eine Sichtweise die Sichtweisen der anderen dominiert. 40 „Das Sinnliche, das Sichtbare darf nicht als das definiert werden, zu dem ich durch das wirkliche Sehen eine tatsächliche Beziehung habe, - sondern als das, von dem ich in der Folge eine Teleperzeption haben kann”; Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Guiliani und Bernhard Waldenfels, München 1986, S. 325. 41 Waldenfels, „Ortsverschiebungen”, a.a.O., S. 153. <?page no="281"?> Julien Dolenc Museumsarchitektur und Theatralität oder: Was wollen die Räume? Museumsarchitektur und Theatralität EINLEITUNG Kunstausstellungen als Erlebnis, die Möglichkeiten ihrer Inszenierung und Vermittlung und der etwaige Bedeutungswandel von Kunstmuseen: Diese Topoi waren - und sind noch immer - häufig Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen. Meist steht die Ausstellung im Vordergrund oder die Architektur von Museen wird andererseits im kunsthistorischen Sinne beschrieben. Die Prozesse, die sich aus der Relation von Architektur, Kunstausstellung und Wahrnehmung ergeben, werden in Analysen hingegen marginalisiert. Hinzu kommt, dass Ausstellungen zunehmend als geschmackvolle - weil ästhetische - Zurschaustellungen angesehen werden. Welche Konsequenzen hat dies jedoch für den Rezipienten? Wenn über die Inszenierung von Kunst nichts hinausgeht, außer dass sie geschmackvoll arrangiert ist, wird dann der Museumsraum nicht auf seine funktionalen Bestimmungen reduziert? So gesehen entstünde beim Erleben einer Ausstellung in Bezug auf die Architektur eine Leerstelle. Betrachtet man diese Problematik jedoch unter der Prämisse, dass die Architektur von Museen die darin stattfindenden Ausstellungen in grundsätzlicher Weise prädisponiert, wird die entstandene Leerstelle gerade von jüngerer Museumsarchitektur wieder geschlossen, weil sie aktiv Wahrnehmungsgrenzen verschiebt. Diese Grenzverschiebungen äußern sich in einer zunehmenden Theatralisierung durch die Architektur selbst, durch eine Überspielung der Ausstellung, wobei der Museumsraum gleichzeitig als Medium wirkt. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels definiert das Museum als „Passage, als Durchgangsort”, das uns „[...] bei der Darbietung von Sichtbarem [verweilen lässt], das selbst sichtbar macht und uns die Welt anders sehen läßt, in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeter Form, ohne unsere Welt gegen eine andere zu vertauschen”. 1 Mit der Frage Was wollen die Räume? möchte ich im Folgenden darlegen, wie die Rezeption von Kunstmuseen und deren Ausstellungen in ein dynamisches Modell von Theatralität integriert werden kann, indem ich von der Architektur von Kunstmuseen ausgehe und nicht von der Ausstellung als vermeintlich theatrales Ereignis. 1 Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1998, S. 233. <?page no="282"?> Julien Dolenc 282 I. THEATRALITÄT UND MEDIALITÄT Theatralität ist im Folgenden nicht als psychologisierendes Modell einer Einfühlung zu denken, sondern wird als ein Strukturmerkmal ausgewiesen, dessen einzelne Konstituenten der Aisthesis, Kinesis und Medialität innerhalb der Rauminszenierung eine Interrelation eingehen. Dieses Modell ist auf Helmar Schramm zurückzuführen; die drei konstituierenden Faktoren - den bei ihm enthaltenen Faktor Semiosis habe ich durch Medialität ersetzt - und deren wechselseitiger Energiefluss bilden ein von ihm als „magisch” bezeichnetes Dreieck. 2 Sie sind in ihrer triangulären Konstellation nicht voneinander zu trennen. Vielmehr können sie sich in ihrer jeweiligen Einflussnahme gegenseitig verstärken oder abschwächen. 3 Die Modifizierung dieses Theatralitätskonzepts - das Ersetzen der Semiosis durch Medialität - basiert auf einer Verschränkung mit einem von Sybille Krämer am Performativen orientierten Medienbegriff. Eine Verknüpfung, die Kati Röttger für einen von ihr entwickelten Intermedialitätsansatz bereits vorgenommen hat. 4 Gehen wir - wie im Übrigen auch Schramm - davon aus, dass der Beobachter immer auch Konstrukteur seines Gegenstandes ist, existiert folglich keine absolute Objektivität des Wahrnehmens und Verstehens. Theatralität wird bei Schramm auch durch eine besondere Form der Wahrnehmung konstituiert. 5 Für Krämer ist sogar, „[a]lles, was Menschen beim Wahrnehmen, Kommunizieren und Erkennen ‘gegeben ist’, [...] in Medien gegeben”. 6 Sie weist darauf hin, dass Medien gewöhnlich in Latenz unserer Wahrnehmung wirken. Im Gebrauch entziehen sie sich durch eine Art „aisthetischer Neutralität”. 7 Erst in ihrer Störung bringen sie sich in Erinnerung. 8 In Modifikation der Auffassung Marshal McLuhans kommt Krämer jedoch zu dem Schluss, dass das Medium nicht einfach die Botschaft sei. 9 Vielmehr bewahre sich an der Botschaft die Spur des Mediums. 10 Somit sind Medien auch nicht neutral. 2 Vgl. Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 249-264, hier S. 251. 3 Vgl. Schramm, 1996, S. 251. 4 Vgl. Kati Röttger, „Intermedialität als Bedingung von Theater: Methodische Überlegungen”, in: Henri Schoenmakers u.a. (Hg.), Theater und Medien/ Theatre and the Media. Grundlagen - Analysen - Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 117-124. 5 Vgl. Schramm, 1996, S. 29. 6 Sybille Krämer, „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren”, in: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 2003, S. 78-90, hier S. 83. 7 Vgl. ebd., S. 81. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel, 1994, S. 22. 10 Vgl. Krämer, 2003, S. 81. <?page no="283"?> Museumsarchitektur und Theatralität 283 In Bezug auf den Museumsraum bedeutet dies, dass der Raum dann als Medium definiert werden kann, wenn er ins Zentrum der Wahrnehmung rückt und sich als Spur innerhalb der aisthetischen Kunstkommunikation bewahrt. Der Museumsbesucher muss sich folglich verstärkt mit dem Raum auseinandersetzen, weil die Etablierung eines Wahrnehmungsdispositivs direkt von der Raumarchitektur abhängt. Die Erzeugung von Sinn wird nach Krämer durch die Übertragung und Verkörperung von Medien innerhalb einer Inszenierung charakterisiert. 11 Verkörperung ist jedoch in diesem Sinne nicht als „bloße Fleischwerdung des Geistes” zu begreifen, sondern als Realisierung, Veränderung und Unterminierung im Akt der Übertragung, wobei „Medien dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen“. 12 Aus der am Performativen orientierten Medialität folgt, dass Medien phänomenalisieren und demnach Bezugnahme ermöglichen. 13 Betrachtet man den Museumsraum unter diesen medialen Aspekten, folgt hieraus, dass sich im Wahrnehmungsmodus eine als performativer Akt gekennzeichnete Übertragung vollzieht, die vom Museumsraum mitbedingt und geprägt wird. Die an der Erzeugung von Sinn beteiligten Phänomene, beispielsweise Bilder, werden im Rahmen der Rezeption als zeitlich situierte Erscheinungen verkörpert bzw. inkorporiert. Medien stellen nach Krämer als Unterscheidungspotenziale ein Strukturierungsrepertoire bereit. 14 Diese Potenzialität bezeichnet sie als Medialität, wobei aufgrund dessen Medien nicht als Einzelmedien zu denken sind. Vielmehr verhalten sie sich grundsätzlich intermedial zueinander. Medialität wird somit zu einer epistemischen Bedingung von Medienerkenntnis: 15 Medien werden zu ‘epistemischen Gegenständen’ erst in dem Augenblick, in dem ein Medium die ‘Bühne’ der Inszenierung eines anderen Mediums abgibt, welches seinerseits dabei zur ‘Form-in-einem-Medium’ wird. Die Annahme, es gebe Einzelmedien, ist das Resultat einer Abstraktion. 16 Begreift man die Ausstellung von Kunst ebenso wie die Architektur des Museums als Inszenierung, wird das Museum zur Bühne. Es kann als intermedialer Transformationsraum bezeichnet werden, das im Zusammenspiel von Theatralität und Medialität Sichtbares phänomenalisiert. Aus dieser Phänomenalisierung ergibt sich für das eingangs erwähnte Theatralitätsmodell die Notwendigkeit der Modifizierung. Denn unter Semiosis sind nach Schramm im weitesten Sinne des Wortes „Zeichenprozesse unterschiedlichster Qualität” zu verstehen, wobei im engeren Sinne sprach- 11 Vgl. ebd., S. 85. 12 Ebd., S. 84-85. 13 Vgl. ebd., S. 83. 14 Vgl. ebd., S. 81. 15 Vgl. ebd., S. 81-82. 16 Ebd., S. 85. <?page no="284"?> Julien Dolenc 284 lich-kommunikative Vorgänge gemeint sind. 17 Eine Reduzierung auf sprachliche Zeichenprozesse hätte jedoch zur Folge, sowohl die körperbezogene, sinnliche Wahrnehmung von Kunst und Raum als auch die medialen Aspekte, die hierbei zum Tragen kommen, funktionalistisch einzuschränken. Ich schließe mich daher der Argumentation Hans Beltings an, die besagt, dass sich - da letztlich für die Semiotik die Symmetrie sprachlicher und visueller Zeichen elementar ist - selbst Bilder zu ikonischen Zeichen reduzieren. 18 Folglich ersetze ich den Faktor der Semiosis durch jenen der Medialität. Voraussetzung für eine Orientierung der Medialität des Museumsraums an der Reflexionsfigur der Performativität ist jedoch die leibliche Anwesenheit eines wahrnehmenden Subjekts. Zudem lässt sich mit Waldenfels konstatieren, dass die Museumsarchitektur Ordnungen des Sehens etabliert. 19 Unter Berufung auf Maurice Merleau-Ponty hebt er - bezogen auf die Entstehung von Bildern - hervor, dass Bilder [...] nicht einfach im Raum [sind] wie etwas, das man an einer bestimmten Stelle sieht, vielmehr bilden sie das Medium, in dem und dem gemäß wir Dinge im Raum und diesen Raum selbst zu Gesicht bekommen. 20 Im Hinblick auf die Relation von Architektur und Bild im Museum sind Bilder demnach nicht nur als Ausstellungsgegenstände zu denken. Entscheidend ist, dass einerseits Bilder den Raum erscheinen lassen und andererseits die Raumarchitektur selbst Bilder hervorbringen kann, beispielsweise durch die Erzeugung von Atmosphären. 21 Es handelt sich um einen Prozess, der durch den Vollzug der Inkorporation von Bildern als Erscheinungen und Artefakte gekennzeichnet ist. Er ereignet sich als performativer Wahrnehmungsakt im Museumsraum und ist abhängig von der Dynamik zeit- und bewegungsgeleiteter Blickverhältnisse. Das Sehen als Teil der Wahrnehmung wird durch die produktive Kraft des Performativen zur Teilhabe an der Vorbzw. Ausstellung von Kunst und Architektur. II. ARCHITEKTUR, RAUM UND LEIB In Anlehnung an Waldenfels sollen einige phänomenologische Überlegungen darlegen, wie der Leib als diskursives Kontinuum in Bezug auf Archi- 17 Vgl. Schramm, 1996, S. 260. 18 Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, insbesondere S. 11-30, hier S. 14. 19 Vgl. Waldenfels, 1998, S. 234. 20 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, Frankfurt am Main 1999 (Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd.3), S. 215. Waldenfels bezieht sich auf Maurice Merleau- Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 37. 21 Vgl. zum Begriff der Atmosphäre: Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 18. <?page no="285"?> Museumsarchitektur und Theatralität 285 tektur, Raum und Ausstellung und die Generierung von Theatralität positioniert werden kann. Zudem wird sich zeigen, wie die Kinesis als Bewegung des Körpers sowohl konstitutiv für Theatralität als auch für Räumlichkeit an sich ist. Für die Beantwortung der Frage Was wollen die Räume? ist zunächst folgendes von grundsätzlicher Bedeutung: Nach Waldenfels hat das Errichten eines Bauwerks zwar etwas mit der Herstellung von Raum zu tun hat, die Hervorbringung der Architektur ist jedoch nicht „etwas im Raum”, noch werde der „Raum selbst gebaut”. 22 Er präzisiert, dass Architektur „raumbildende Dinge, das heißt Dinge, die Raum mit entstehen lassen, [produziert]. Solche [...] Dinge sind Wand, Fußboden, Dach, Fenster, Türöffnung oder Treppe”. 23 Diese Präzisierung basiert auf einer Fortführung der Definition von Architektur als Raumgestalterin, die der Kunsthistoriker August Schmarsow 1893 einführte. 24 Mit seinem Raumbegriff stellte Schmarsow erstmals das Leib-Subjekt als konstitutiven Faktor der Kunst- und Architekturbetrachtung in den Vordergrund. 25 Die Produktion raumbildender Dinge durch die Architektur lässt sich anhand der Pinakothek der Moderne in München anschaulich verdeutlichen: Ihr Architekt, Stephan Braunfels, setzt vor allem im Obergeschoss des Museums, wo sich die Gemäldesammlung befindet, alle Bauteile optisch voneinander ab. 22 Vgl. Waldenfels, 1999, S. 202. 23 Ebd. 24 Vgl. August Schmarsow, „Das Wesen der architektonischen Schöpfung”, [Antrittsvorlesung Universität Leipzig, 8.11.1893, orig. ersch. in Leipzig, Hiersemann 1894], in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 470-483, hier S. 470. 25 Vgl. hierzu auch: Kirsten Wagner, „Vom Leib zum Raum. Aspekte der Raumdiskussion in der Architektur aus kulturwissenschaftlicher Perspektive”, in: Dies., Cornelia Jöchner (Hg.), Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt. Themenheft von Wolkenkuckucksheim 9/ 1 (2004) [http: / / www.tucottbus.de/ BTU/ Fak2/ TheoArch/ wolke/ deu/ Themen/ 041/ Wagner/ wagner.htm]. <?page no="286"?> Julien Dolenc 286 Abb. 1: Ausstellungsraum im Obergeschoss der Pinakothek der Moderne, München. Foto: Julien Dolenc. Wände, Boden und Decke scheinen nicht miteinander verbunden zu sein. Die einzelnen architektonischen Elemente der Raumbildung werden demnach besonders betont. Hiermit wird jedoch nicht nur die raumbildende Kraft der von der Architektur produzierten Dinge visualisiert und erfahrbar; gleichzeitig wird das Sehen im Ausstellungsraum gleichermaßen thematisiert: Weil sich der Boden optisch von der Wand absetzt, erhält der Raum etwas Schwebendes, als könne sich die Raumhöhe verändern. Die Wände wiederum sind in ihrer tragenden Funktion schmaler, als man auf den ersten Blick annehmen möchte, da nur der Wandkern die Decke trägt, während am oberen Wandende jeweils zu beiden Seiten ein Stück ausgespart ist. Aus der optischen Absetzung von Wand und Decke entsteht ein Schatten. Die Schatten ergeben eine Art zweite Rahmung der im Raum ausgestellten Werke und bringen die Architektur immer wieder in Erinnerung, weil sie die Aufmerksamkeit des Besuchers von den Exponaten weglenken. Während der skulpturalen Architektur des von Frank O. Gehry entworfenen Guggenheim-Museums in Bilbao oft vorgeworfen wird, das eigentliche Ausstellungswerk zu sein und die Exponate hierfür lediglich das Dekor bilden, 26 wollte Braunfels mit einer Art Gegenentwurf erreichen, dass die Architektur in den Ausstellungsräumen, also dort, wo die Kunstwerke wirken sollen, zum Schweigen gebracht wird. 27 Er wird jedoch seinem selbstgesetzten Anspruch nicht vollständig gerecht. Gerade die aus Schatten entste- 26 Vgl. bspw. Gottfried Knapp, Stephan Braunfels, Pinakothek der Moderne München, München u.a., 3 2004, S. 15. 27 Vgl. ebd. <?page no="287"?> Museumsarchitektur und Theatralität 287 henden Rahmen in den Ausstellungsräumen markieren die Störung oder Brechung, mit denen sich der Raum als Medium in Erinnerung bringt. Nach Waldenfels verteilt sich nun die „leibhafte Räumlichkeit, die beim Bauen entsteht” ferner auf verschiedene „Raumregister”, die er als „Raumrichtungen”, „Raumgrenzen” und „Raumgliederung” bezeichnet. 28 Ihnen haften qualitative Differenzen an, die es ohne die “raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit” nicht gäbe. 29 Die „Dimensionen, die wir auf verschiedene Weise durchmessen” ergeben die Differenzen der Raumrichtungen. 30 Zu diesen gehören oben und unten, vorn und hinten und rechts und links. Diese Feststellung findet sich bereits bei Schmarsow, wobei auch Waldenfels die Richtungsunterschiede als Ergebnis einer Bezugnahme auf ein „leibliches Hier, auf einen Standort (...), den jemand einnimmt und wechselt”, kennzeichnet. 31 Waldenfels definiert demnach die Dimension der Raumrichtungen ebenfalls aus der Bewegung. Die Zerteilung des „bauliche[n] Raums” in ein Drinnen und Draußen definiert die Raumgrenzen. 32 Sie sind jedoch weder als pure Abgrenzung oder Demarkation zu verstehen noch als Ergebnis eines abgrenzenden Blicks, sondern konstituieren sich im Prozess einer „gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung”. 33 Charakteristisch hierfür ist, wie Waldenfels in Anlehnung an Schmarsow feststellt, dass jede architektonische Raumgestaltung mit der Umschließung des Subjekts beginnt. Diese macht sich „den Meridian unseres Leibes zunutze”. 34 Mit anderen Worten: der Raum, den der Leib um sich aufspannt, wird von der Architektur gegliedert, begrenzt und umschlossen. Waldenfels fügt jedoch einschränkend hinzu, dass Raumgrenzen beweglich bleiben. Die Differenz von Drinnen und Draußen entpuppt sich nämlich dann, wenn sich ein leibliches Wesen selbst im Raum bewegt, als ein „Phänomen des Spielraums”. 35 Auch das dritte Register, die Raumgliederung, verweist laut Waldenfels „auf eine [...] Betätigung im Raum”. 36 Die Binnengliederung, die der Gesamtraum eines Gebäudes aufweist, ist nicht nur auf die Abgrenzung von Zimmern, sondern ebenso auf das Anordnen von Dingen im Raum zurückzuführen. 37 Festzuhalten ist, dass als Ergebnis dieser Anordnung sich der Raum weiten oder verengen kann. „Jeder Gegenstand, der in einem Raum 28 Vgl. Waldenfels, 1999, S. 202-204. 29 Ebd., S. 206. 30 Ebd., S. 203. 31 Ebd., S. 206-207. 32 Ebd., S. 204. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd., Anmerk. 5: Waldenfels bezieht sich auf Schmarsow, 1894, S. 15. 35 Vgl. Waldenfels, 1999, S. 207. 36 Ebd. 37 Vgl. ebd., S. 204. <?page no="288"?> Julien Dolenc 288 untergebracht wird, verändert diesen [...]; er tritt in Wettbewerb zu anderen Gegenständen”. 38 In Bezug auf Museen und deren Räumlichkeit werden hiermit Aspekte benannt, die maßgeblich für die Relation von Kunstwerk, Raum- und Ausstellungsrezeption sind. Denn die Frage nach der Anordnung der Kunstwerke im Museumsraum bildet die Basis jedes Ausstellungskonzepts. Die Ausbalancierung von Fülle und Leere hat sowohl Auswirkungen auf die Gliederung des Saals als auch auf die Betätigung im Raum. Demnach ebenfalls auf die Erfahrung von Raum und Ausstellung. III. SKULPTUR ALS RAUMKUNST Ein anderes Ergebnis einer sehr spannenden Relation, die zwischen Kunstwerk und Ausstellungssaal entstehen kann, lässt sich anhand eines Beispiels im Guggenheim-Museum Bilbao skizzieren: Von einem Atrium, das Gehry - wenn auch nicht als Zitat, so doch als Reminiszenz an das New Yorker Guggenheim Museum Frank Lloyd Wrights - entworfen hat, gelangt man in nahezu alle Bereiche des Museums. So auch in den größten, im Erdgeschoss gelegenen Raum, der aufgrund seiner Form als Fishgallery bezeichnet wird. Dort befinden sich insgesamt acht Stahlskulpturen Richard Serras, die alle als Auftragsarbeiten entstanden sind. Sie tragen jeweils einzelne Titel, aber auch eine eigene Überschrift: The Matter of Time. Bereits bei der Eröffnung des Museums im Jahre 1997 wurde Snake aufgestellt, die weiteren sieben Skulpturen komplettierten 2005 die Installation. Jede einzelne der freistehenden Stahlskulpturen ist über vier Meter hoch, Snake beispielsweise über 30 Meter lang. 38 Ebd., S. 205. <?page no="289"?> Museumsarchitektur und Theatralität 289 Abb. 2: Guggenheim-Museum Bilbao, Fishgallery: Richard Serra, The Matter of Time. Foto: Erika Barahoma Ede, © FGBMGuggenheim Bilbao Museoa. Das übergeordnete Thema dieser Installation ist die Raumerfahrung, die sich zur Erfahrung von Zeit erweitert. Die sich krümmenden Wände, nach außen oder innen kippend, gegeneinander oder voneinander weg, geben keine konkreten Wege vor. Sie führen, bewegt man sich in ihnen, zur Erfahrung eines sich weitenden oder verengenden Raums anhand der eigenen Leiblichkeit. Hieraus entsteht ein Dialog mit der Architektur, der gleichsam eine Neudefinition des Museumsraums bedingt. Letztere resultiert aus der Frage nach der Entstehung von Räumlichkeit, die an die zeit- und bewegungsgeleiteten Blickverhältnisse gebunden ist. Eine der wohl wichtigsten und gleichwohl ‚inszenatorischen’ Funktionen dieser Raumkonzeption besteht darin, dass sie in einer gezielten Verschränkung von Leib, Wahrnehmung und Raumerfahrung den Zuschauer als Akteur in das Geschehen mit einbindet. Die Installation der Skulpturen Serras macht hierbei den Vollzug eines performativen Wahrnehmungsakts im Museumsraum ebenso erfahrbar wie die am Leib orientierte Konstitution von Räumlichkeit. Die Dynamik der zeit- und bewegungsgeleiteten Blickverhältnisse führt hierbei ebenfalls zur Generierung eben jener Form von Theatralität, wie sie bereits auf der Grundlage des eingangs erwähnten und modifizierten Modells erläutert wurde. Der Eindruck, der von den Skulpturen ausgeht, lässt sich bei genauerem Hinsehen auf den Museumsraum und dessen Architektur erweitern. Insofern verweisen die Werke nicht in einem streng modernistischen Sinn auf sich selbst, sondern führen die Voraussetzungen und Bedingungen einer an der Leiblichkeit orientierten Architektur vor Augen. Die einzelnen Raumregister determinieren hierbei sowohl die leibliche Bewegung, die Kinesis, als auch die Wahrnehmung des Raums, die Aisthesis. Im Modell von Theatralität treten diese beiden Faktoren in ein Wechselverhältnis und beeinflus- <?page no="290"?> Julien Dolenc 290 sen sich gegenseitig. Die Architektur konfiguriert die Raumerfahrung und beeinflusst die spezifische Ausprägung von Kinesis und Aisthesis, während umgekehrt die Interrelation beider Faktoren konstitutiv für Räumlichkeit ist. Von diesem Exkurs zur Skulptur als Raumkunst möchte ich nun zu einer am Leib orientierten Entstehung von Räumlichkeit zurückkehren. IV. MUSEUMSRAUM ALS CONTAINER Nach Waldenfels kann sich „das reale Bauwerk [...] in Form einer ‘gelebten Abstraktion’ dem puren Container annähern [...]”. 39 Wolle man Architektur als Raumkunst betrachten, so stelle sich die Frage, woraus das Künstlerische in der Architektur zusammengefügt wird bzw. „in welchem Rahmen Kunst gedacht und getätigt wird”. 40 Hierbei ist der Begriff der ästhetischen Grenze entscheidend. Diese „[...] scheidet den ‘Kunstraum’ von einem ‘Realraum’”. 41 Ein Aufrechterhalten hätte in Bezug auf die Raumkunst das Zerfallen in die Sparten des Zweckbaus und des Kunstbaus zur Folge, wobei Form und Funktion auseinander träten. 42 Doch welche Konsequenzen hat diese Unterscheidung im Hinblick auf Museumsarchitektur? Einerseits wird eine ästhetische Grenze aufrecht erhalten, welche die Ausstellungswerke selbst betrifft. Diese wird beispielsweise bei Gemälden sowohl durch den Rahmen als auch durch die Tatsache, dass sich ein Werk in einem Museum befindet, markiert. Andererseits zeigt sich, dass Form und Funktion der Architektur nicht zwangsläufig auseinandertreten müssen. Der Bau muss nicht in Zweck- und Kunstbau zerfallen, sondern kann beides zugleich sein. Je stärker Form und Funktion zusammenfallen, desto schwächer erscheint das Künstlerische der Raumerfindung. Doch dies kann auch der Intention des Architekten entsprechen, beispielsweise als Konsequenz auf die oft geforderte Zurückhaltung des Museums in Bezug auf die Ausstellung. Je nach Standpunkt lässt sich eine (vor-)gegebene Zurückhaltung hingegen auch als eine besondere Stufe künstlerischer Qualität interpretieren. Ein Beispiel für ein hohes Maß an Funktionalität bildet das Kunsthaus in Bregenz. Seine kubische Architektur ist exemplarisch für einen Bau als Container, wobei gerade dieses Architekturkonzept grundsätzlich viel Spielraum für die Präsentation von Kunst lässt. Was ergibt sich jedoch aus der Frage nach dem künstlerischen Aspekt einer derartigen Architektur? Wird dieser marginalisiert oder gar negiert? Und welche Rolle spielt hier noch die Gene- 39 Vgl. ebd., S. 206. 40 Ebd., S. 210. 41 Ebd., S. 211. Den Begriff der „ästhetischen Grenze” entlehnt Waldenfels von Ernst Michalski, in: Ernst Michalski, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, Berlin 1932. 42 Vgl. Waldenfels, 1999, S. 212. <?page no="291"?> Museumsarchitektur und Theatralität 291 rierung von Theatralität? Ist das Kunsthaus Bregenz die steingewordene Gegenthese? Zunächst muss festgehalten werden, dass auch hier die Leiblichkeit in Bezug auf die Architektur eine Rolle spielt. Wenn den erwähnten Raumregistern qualitative Differenzen anhaften, weil es sie ohne die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit nicht gäbe, bezieht sich das Bauen als Konstruktion immer schon auf den Leib, gleich, wie diese Differenzen ausfallen. Abb. 3: Kunsthaus Bregenz. Ausstellungsansicht 2.OG, Ausstellung Peter Zumthor, Bauten und Projekte 1986-2007, Filminstallation von Nicole Six und Paul Petritsch Ausstellungsansicht 2.OG Kunsthaus Bregenz. Foto: Markus Tretter ©Nicole Six und Paul Petritsch, Kunsthaus Bregenz. Gerade die hohe Funktionalität der Architektur unterstreicht die Beweglichkeit von Raumgrenzen, weil beispielsweise Stellwände die Räume flexibel unterteilen können. Folglich ändern sich die Gliederungen, Richtungen und Raumgrenzen innerhalb der einzelnen Ausstellungssäle. Die etablierten Grenzen sind durchlässiger als in Museen, deren Architektur stärkere Vorgaben leistet. Waldenfels hebt hervor, dass Raumkunst nach Maßgabe des Leibes und in den Grenzen der Leiblichkeit zwar bedeutet, dass Grenzen gezogen werden können. 43 Die leibliche Situiertheit und die Spielräume der leiblichen Verfassung bedingten jedoch, dass eine totale Entgrenzung nicht möglich sei; Grenzen könnten lediglich anders gezogen werden. 44 Weil die Leiblichkeit in den „Registern der leiblich verankerten Räumlichkeit natürlich und künstlich zugleich ist”, sind diese von Natur aus skizziert. 45 Es ist 43 Vgl. ebd., S. 213. 44 Vgl. ebd. 45 Ebd. <?page no="292"?> Julien Dolenc 292 diese Skizzierung, welche die Beweglichkeit von Grenzen bedingt. 46 Das Künstlerische entpuppe sich als Überschuss, wenn es über normale Ordnungen hinausgehe, ohne das Feld der Normalität völlig zu verlassen; der Kunstcharakter der Raumkunst bestehe darin, dass „die Räumlichkeit von ihr eigens modelliert, bearbeitet, befragt [werde]”. 47 In einem Museumsbau wie dem Kunsthaus Bregenz scheint das Künstlerische der Architektur von ihrer Funktionalität überlagert zu werden. Dennoch lässt sich wohl kaum behaupten, dass diesem Bau der künstlerische Aspekt einer Raumerfindung fehlt. V. SCHLUSS: THEATRALITÄT ALS SCHWELLENPHÄNOMEN Dient der Leib als Schnittstelle zwischen Architektur, Räumlichkeit und Ausstellung, kann sich Theatralität offenbar nur dann generieren, wenn ein Überschuss an Künstlerischem vorhanden ist, der im Wahrnehmungsakt von Ausstellung und Architektur zugleich auftritt. Theatralität wäre somit an der Schwelle anzusiedeln, an der sich dieser Überschuss manifestiert. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den Waldenfels wie folgt ausführt: Ähnlich wie Merleau-Ponty von einer ‘indirekten Malerei’ spricht, die auf paradoxe Weise sichtbar macht, was unsichtbar ist und nie selbst sichtbar wird, könnte man auch von einer ‘indirekten Architektur’ sprechen. Diese ließe Ungebautes und Unbaubares mit entstehen [...]. [...] Der architektonische Bau [findet] nicht einfach seinen Platz in einem anderen umfassenden Raum, wie eine Teilmenge sich einer Gesamtmenge einfügt; denn das Gebäude, das künstlerisch erarbeitet wird, verändert den Raum und bildet neue Räume. 48 Theatralität kann folglich als Kennzeichen einer ‚indirekten Architektur’ bezeichnet werden, da sie als Ungebautes mit entsteht. Die Raumerfahrung, die zur Konstitution von Theatralität beiträgt, ist zudem nicht von Bildern und deren Inkorporation loszulösen. Zusammengefasst bedeutet dies: Die Entstehung von Raum ist nicht ausschließlich auf das Bauen zurückzuführen. Dann wäre sie lediglich eine Angelegenheit der Mathematik bzw. der Physik. Entscheidend ist die Zentrierung der Raumkunst auf den leiblich anwesenden und wahrnehmenden Menschen. Raumbildung bedeutet die Durchdringung von architektonischer und leiblicher Konzeption, wenn sich 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd., S. 215. 48 Ebd., S. 215. Der entsprechende Abschnitt Merleau-Pontys, auf den Waldenfels sich beruft, findet sich in dem Aufsatz „Das Auge und der Geist”. Vgl.: Maurice Merleau- Ponty, „Das Auge und der Geist”, [orig. frz., „L’Œil et l’esprit”, Paris, Éditions Gallimard 1961], in: Christian Bermes (Hg.): Maurice Merleau-Ponty. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 275-317Das Auge und der Geist, [orig. frz., L’Œil et l’esprit, Paris 1961], Hamburg 2003, S. 275-317, hier S. 284. <?page no="293"?> Museumsarchitektur und Theatralität 293 „die Architektur mit der raumbildenden Bewegung des Leibes [verquickt]”. 49 Die Frage Was wollen die Räume? lässt sich nur anhand der Rolle des Leibes beantworten, die Bedingung für die Entstehung von Räumlichkeit ist. Museen, deren Architektur und Ausstellung können uns dies in Erinnerung rufen, indem sie Wahrnehmungsgrenzen verschieben. Als intermediale Transformationsräume, in denen sich eine performative Medialität manifestiert, binden sie den Museumsbesucher gleichsam als Zuschauer und Akteur ein. Andererseits wird aus der Dynamik der zeit- und bewegungsgeleiteten Blickverhältnisse deutlich, woraus Theatralität generiert wird und als Analysemodell der Relation zwischen Architektur, Kunst, Raum und Wahrnehmung dienen kann. 49 Waldenfels, 1999, S. 220. <?page no="295"?> . Matthias Spaniel Theatrale Bild-Räume Eine Begriffsdefinition für eine mediale Physiognomie des Theaters am Beispiel von Stefan Puchers „Othello”-Inszenierung 1. Ein-Bildung - Theater als visueller Arbeitstisch Ich möchte meine Ausführungen über theatrale Bild-Räume gern mit einem Zitat von Roland Barthes beginnen, das meine noch sehr frischen Eindrücke einer Japanreise mit der wissenschaftlichen Fragestellung des Kongresses nach dem Verhältnis von Theater und (Welt-)Bild verknüpft. Über den Verlauf eines japanischen Abendessens schreibt Roland Barthes: „Was zu Anfang ein erstarrtes Bild war, wird nun Arbeitstisch oder Schachbrett, wird zum Raum nicht eines Blickes, sondern eines Tuns oder eines Spiels”. 1 Analog möchte ich für das Theater sagen, dass sich seine Visualität nicht in den Zuschauerblicken und auch nicht in seinen inszenierten Bildern erschöpft, sondern sich stets in seiner räumlichen Aufführung vollzieht. Deshalb werde ich für meine folgenden Überlegungen den theatralen Raum, in dem das szenische Bildereignis stattfindet, gleichberechtigt mit dem Bild denken; denn Bild und Raum bedingen im Theater einander, so meine Ausgangsthese. Ich möchte diese im Folgenden an ausgesuchten Szenen aus Stefan Puchers „Othello” Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus belegen, zuvor jedoch eine theoretische Grundierung zur Bild- und Raumwahrnehmung im Theater skizzieren. Dass der Raum neben dem Körper eine grundlegende Komponente der Theaterkunst darstellt, ist spätestens seit Max Hermanns Diktum vom „theatralischen Raumerlebnis” Konsens, 2 sowohl in der Theatertheorie als auch der Theaterpraxis. Letztere befreite sich in der ästhetischen wie auch gesellschaftlichen Auf- und Umbruchstimmung der historischen Avantgarde von der Vorherrschaft der bloßen Abbildung dramatischer Textvorlagen im Bildertheater der Stilbühne und entdeckte für sich die Präsenz des Darstellerkörpers innerhalb der Raumbühne - oder um es mit aktueller Begrifflichkeit 1 Roland Barthes, Im Reich der Zeichen, Frankfurt am Main 1981, S. 64. 2 Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis”, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 501-513. <?page no="296"?> Matthias Spaniel 296 zu formulieren: Sie entdeckte die Performativität des Bildes als sinnliches wie auch semiotisches Ereignis im atmosphärischen Raum. 3 Damit wird zugleich ein paradoxes Wahrnehmungsmoment generiert, das die Fläche des Bildes mit dem Raum der Bühne in ein ästhetisches Spannungsverhältnis setzt, welches der Architekt und Bühnenbildner Frederick Kiesler zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch als ‘logischen’ Widerspruch polemisch ausschloss: „Der Widersinn: Bild - Bühne ist im Allgemeinen unentdeckt geblieben. Denn Bühne ist Raum, Bild Fläche.” 4 Inzwischen ist es in der Theaterpraxis gängig - ja ganz selbstverständlich - jede Szene auf ein Bild hin zu denken und die ganze Inszenierung in einem Raum zu verorten bzw. ihr ein Raumkonzept zu Grunde zu legen, das den Rahmen der immer noch gängigen Guckkastenbühne zunehmend verlässt oder zumindest spielerisch thematisiert, damit die Welt im Sinne Piscators wieder ins Theater hineinpasst. 5 2. Theorie - Die Ausweitung der theatralen Kampfzone Mit dieser räumlichen Ausweitung der theatralen ‘Kampfzone’ in die szenischen und medialen Bilder des zeitgenössischen Theaters beschreibt der Begriff Theatralität zunehmend die Inszenierung von Wahrnehmung: Der Zuschauer wird im 20. Jahrhundert für das Theater entdeckt, wie es Erika Fischer-Lichte bereits in einer ihrer frühen Monographien formulierte, 6 während Martin Seel das Inszenieren als Erscheinenlassen begrifflich akzentuiert. 7 Inszenierungen erzeugen demnach spezielle räumliche und zeitliche Konfigurationen theatraler Elemente zu einem Bild. Dabei ist die Wahrneh- 3 Christoph Wulf, Jörg Zirfas, „Die performative Bildung von Gemeinschaften, Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen”, in: Erika Fischer- Lichte, Christoph Wulf (Hg.), Theorien des Performativen, Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Berlin 2001, S. 93-116. 4 Friedrich Kiesler, „Debacle des Theaters. Die Gesetze der G.-K.-Bühne”, S. 135, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 133- 137. 5 „…das Theater aus dem Guckkasten mit seinem ewig gleichen Rahmen herausgeholt werden muss, damit die Welt wieder ins Theater hineinpasst.” Erwin Piscator, „Technik eine künstlerische Notwendigkeit des modernen Theaters”, S. 331, in: Erwin Piscator, Manfred Brauneck (Hg.), Zeittheater, ‘Das Politische Theater’ u. weitere Schriften von 1915 bis 1966, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 322-340. 6 Erika Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers, Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Basel 1997. 7 „Inszenierungen [...] sind 1. absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die 2. vor einem Publikum dargeboten werden und zwar 3. so, daß sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können.” (Martin Seel, Inszenieren und Erscheinenlassen, „Thesen zur Reichweite eines Begriffes“, S. 49, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main 2001, S. 48-62. <?page no="297"?> Theatrale Bild-Räume 297 mung selbst nach derzeitigem Stand der Hirnpsychologie bildlich geprägt und kann als konstruktivistisch-relationaler Prozess beschrieben werden. Das heißt, sie ist das Ergebnis hochkomplexer Konstruktionen und Interpretationsprozesse, die sich sehr stark auf gespeichertes Vorwissen stützen. 8 Wir gleichen demnach unsere gegenwärtige (visuelle) Wahrnehmung mit unseren Erinnerungsbildern permanent ab und prüfen sie auf ihre Kompatibilität hin. Diesen Aspekt greift Benjamin Wihstutz in seiner Untersuchung zur Ein- Bildung des Zuschauers auf, indem er die Bildwahrnehmung im Theater als ein „synästhetisches Bildereignis” definiert und das Wechselverhältnis zwischen Bild, Imagination und Atmosphäre zu Recht betont. 9 Allerdings vernachlässigt er dabei die räumliche Dimension der Bildproduktion als auch wahrnehmung, die sich nicht im ästhetischen Parameter der Atmosphäre erschöpft, sondern diesem vielmehr vorausgeht: Denn die Bildlichkeit des Theaters ist immer auch an die Räumlichkeit der Bühne und Leiblichkeit der Darsteller gebunden - das Bebildern des Raums geht im Theater immer mit der Verräumlichung von Bildern einher, das Verhältnis ist also wie unsere Wahrnehmung ein relationales. Diesem Standpunkt laufen bisherige Definitionen von Theaterbildern entgegen, die dieses auf einen „reinen Ausschnitt mit sauberen Rändern” reduzieren, 10 wie Roland Barthes es für die Ästhetik Diderots und das tableau vivant formulierte. Dieses Verständnis spiegelt sich nicht zuletzt im Begriff der Inszenierung wider, der im 18. Jahrhundert vom französischen misé en scene hergeleitet, die Welt ins rechte, besser gesagt stillgestellte Bild setzte. Seine dynamischen Anfänge findet dieser Gestus der theatralen Bilderproduktion jedoch bereits im rituellen Tanz des viel zitierten Erzählerdarstellers ums Lagerfeuer: Seine ausgestellte Sprache und Körperlichkeit eröffnet für die zu einem Publikum angeordneten Zuhörer narrative Vorstellungsräume und innere Bilder. 11 Somit scheint die lang praktizierte Verengung des Bildbegriffs auf ein zweidimensionales, statisches und äußeres Artefakt nicht nur für das Theater obsolet. Damit wäre nun auch von einer doppelten Bildlichkeit zu sprechen, in der sich der „anthropologische Doppelsinn innerer und äußerer Bilder […], die Geschichte der mentalen und der materialen Bildproduktion” im Sinne Hans 8 Wolf Singer, „Das Bild in uns vom Bild zur Wahrnehmung”, in: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.), Iconic turn, Die neue Macht der Bilder, Köln 2005, S. 65. 9 Benjamin Wihstutz, Theater der Einbildung, Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2007, S. 16. 10 Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main, 1990, S. 95. 11 Joachim Fiebach, „Ausstellen des tätigen Darstellerkörpers als Keimzelle von Theater oder Warum Theater kein Medium ist”, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances, Berlin 2001, S. 493-499. <?page no="298"?> Matthias Spaniel 298 Beltings widerspiegelt. 12 Im relationalen Verhältnis von inneren Vorstellungsbildern des Zuschauers und äußeren inszenierten Bildern bleibt nach Belting der Körper das Bindeglied zwischen Technik und Bewusstsein, Medium und Bild. Nicht weil ein szenisches Ereignis, oder um an das Eingangszitat anknüpfend etwas weniger emphatisch formuliert, ein szenisches Tun als Bild inszeniert ist, nehmen wir es automatisch als ein solches war, sondern weil es sich im Theater stets um einen konstruktiven Rezeptionsprozess des Zuschauers handelt, bei dem innere und äußere, piktorale und textliche, sinnliche Reize und semantischer Sinn verarbeitet werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Raum: Das theatrale Ereignis findet immer an einem spezifischen Ort als Versammlung von Akteuren und Zuschauenden statt, sei es der klassische Theatersaal, ein umfunktionalisiertes Gebäude oder der öffentliche Raum. Ihnen gemein ist, dass sie Darsteller und Rezipienten in ein bestimmtes Verhältnis setzen, das wesentlich die Perspektive auf das szenische Handeln bestimmt. Die Platzierung des Zuschauers hat somit Auswirkung auf die Wahrnehmung der räumlichen (An)Ordnungen von Sub- und Objekten. Da von diesen zudem eine bestimmte Materialität (bzw. Leiblichkeit) ausgeht, wird die Raumwahrnehmung ebenfalls von diesen spezifischen Atmosphären des bespielten Ortes beeinflusst. Raum entsteht demnach als relationale Syntheseleistung durch den Rezipienten, wie es die Soziologin Martina Löw mit strukturalistischem Vokabular ausdrückt. 13 Meine These lautet demnach: Eine Inszenierung erzeugt spezielle räumliche und zeitliche Konfigurationen theatraler Elemente, die der Zuschauer in seiner Wahrnehmung zu einem Bild formt. Die räumliche (An)Ordnung und Handlung der Darstellerkörper bringt transitorische bzw. performative Bilder hervor. Dies ist ein ästhetisches Spezifikum, das bereits Lessing in seinem „Laookon” für die Theaterkunst herausarbeitete, um sie von den anderen Künsten abgrenzen zu können. 14 Der theatrale Raum ist somit Bild- Träger und Erfahrungsraum zugleich, weshalb sich theatrale Bilder nicht nur auf ihre Visualität reduzieren lassen, sondern immer als Bild-Räume verstanden werden müssen. Demnach beginnt die Bildwerdung im Theater bereits mit der Architektur des Seh- und Aktionsraums, weshalb man in diesem Sinne auch von einer theatralen Bildarchitektur sprechen kann. Das „Drama des Sehens”, wie Ulrike Hass ihre Ausführungen zur Konstruktion von Bildlichkeit im Barocktheater betitelte, entspinnt sich demnach genau am Übergang vom Bühnenraum zum Bild. Historisch betrachtet, handelt es sich um eine Verräumlichung des der Malerei entlehnten zentralperspektivischen Gerüsts, das 12 Hans Belting, Bild-Anthropologie, Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 29 und 43. 13 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 210. 14 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2003, S. 28. <?page no="299"?> Theatrale Bild-Räume 299 nach Panofsky auch immer Rückschlüsse auf das geltende Weltbild zulässt: 15 Der Betrachter als autonomes Subjekt baut sich gegenüber dem Wahrnehmungsobjekt auf, das wiederum auf ihn ausgerichtet ist - ästhetische wie empirische Wahrnehmung von Welt ist demnach im Sinne des relationalen Verhältnisses immer einer doppelten Bildlichkeit unterworfen. Ulrike Hass zufolge geht dieser Wahrnehmungsmodus mit einer paradox anmutenden Enträumlichung der Bühne einher: Mit der perspektivischen Behauptung eines Fluchtpunktes des Bühnenraumes wird die vierte Wand als Trennung zwischen realer und fiktiver Welt zu einem „piktoralen Schnitt durch eine optische Architektur.” 16 Das daraus resultierende Wahrnehmungsdispositiv der so genannten ‘Guckkastenbühne’ greift das Kino des 20. Jahrhunderts auf und sucht seine eigenen Ausdrucksmittel in der Vergrößerung und Zergliederung des Körpers in Großaufnahme und Montage: „Aus Raum wird Fläche wird Linie wird Punkt” schreibt der Philosoph Stephan Günzel über die geometrische Übersetzung von Räumen ins Bildliche. 17 Für den zunehmenden künstlerischen wie alltäglichen Gebrauch audiovisueller Medien könnte und müsste man den Gedankengang konsequenterweise wie folgt fortführen: Aus Punkt wird analoge Körnung, wird digitales Pixel. Die perspektivische Unendlichkeit des Raumes wird im 21. Jahrhundert zu seiner unbegrenzten Bildlichkeit - alle Orte sind virtuell darstellbar, kein Raum scheint mehr originär. 3. Forschungsfragen - mediale Rückprojektionen des Bild-Raums Umso dringender stellen sich dann die Fragen, was passiert, wenn durch den Einsatz von audiovisuellen Medien im Theater dieses mediale Dispositiv wieder auf die Bühne rückprojiziert wird; die Bildfläche wieder verräumlicht, digital bearbeitete Körperfragmente mit der ‘schnöden‘ Ganzheit des Darstellerkörpers konfrontiert werden? Welche ästhetischen Räume nehmen wir wahr bzw. imaginieren wir, wenn der Ort der Bühne mit medialen Raumprojektionen überlagert wird? Wie lässt sich das szenische Bild beschreiben oder gar semiotisch auslesen, wenn sich in ihm mehrere Bildschichten in- und aufeinander schieben? 15 „Das Bild ist in den Maßen und in dem Sinne zum „Wirklichkeitsausschnitt” geworden, daß der vorgestellte Raum nunmehr nach allen Richtungen hin über den dargestellten hinausgreift daß gerade die Endlichkeit des Bildes die Unendlichkeit und Kontinuität des Raumes spürbar werden läßt.” Erwin Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1980, S. 119. 16 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 370- 371. 17 Stephan Günzel, „Physik und Metaphysik des Raumes, Phänomenologie der Räumlichkeit”, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 109. <?page no="300"?> Matthias Spaniel 300 Eine solche neue und mediale „Physiognomie des Theaters”, 18 die nach Helmar Schramm durch die Dynamisierung des relationalen Verhältnisses von Aisthesis, Kinesis und Semiosis entsteht, soll im Folgenden beispielhaft anhand ausgesuchter Szenen bzw. Sequenzen aus Stefan Puchers viel beachteter „Othello” Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus aus dem Jahr 2004 ausführlicher erörtert werden. Pucher verortet in seiner Umsetzung Shakespeares bekannte Eifersuchtstragödie ganz bewusst zwischen projizierter Video-Bild-Fläche und performativem Bühnen-Körper-Raum. So verdichtet der Regisseur die Exposition der Hauptfiguren dieses „Dreipersonendramas” nicht nur textlich, 19 sondern differenziert zugleich die sprachlichen Bilder von und über die Figuren in unterschiedliche mediale Rollenbilder aus: Während Jago (gespielt von Wolfram Koch) in der ersten Szene über die Nichtbeachtung durch seinen General und den daraus resultierenden Hass auf ihn zwischen den Sitzreihen und an der Rampe sprachlich monologisiert, windet sich Othellos Gesicht bzw. das des pechschwarz geschminkten Alexander Scheers hinter ihm als großflächige Videoprojektion auf dem Eisernen Vorhang hin und her. Der Zuschauer findet sich nun also in der Situation wieder, eine Kohärenz zwischen dem sprachlichen Bild Jagos über Othello und dem tatsächlich wahrnehmbaren Bild von ihm herstellen zu wollen bzw. zu müssen. Der Ursprung der Visualität liegt demnach bereits in der Sprache von Shakespeares Dramen und Pucher übersetzt sie in die Audiovisualität der Gegenwart: Vom sprachlichen Bild zum intermedialen Raum - so ließe sich im Sinne eines globalen Inszenierungsdiskurses die ästhetische Entwicklungsals auch dramatische Konfliktlinie beschreiben und zusammenfassen. Das statische Vorderbühnenspiel mit seinen tableaus weicht im Verlauf der Aufführung immer mehr der Dynamik und Heterogenität der Drehbühne mit ihren verschiedenen gebauten und auf sie projizierten Räumen. Ebenso wird die Spielweise der Darsteller performativer und die sprachliche Logik der Figuren zunehmend durch einen visuellen Strudel erschüttert, der dem 'bildlichen' Gefühl der Eifersucht - das sich bekanntlich aus Bildern und nicht aus dem Denken speist - Rechnung zu tragen scheint. 20 Szenischer Höhepunkt dafür ist der Tobsuchtsanfall des Othello (IV,1,35- 42), den Pucher direkt an die Begegnung mit Desdemona koppelt, was eine weitere signifikante dramaturgische Verdichtung in diesem Falle von Szenen des III. und IV. Aktes darstellt. Doch im Gegensatz zu Shakespeare zeigt Pucher nicht das Ringen der Ratio mit dem Gefühl. Er baut ein Bild der rasenden Eifersucht, die aus Othello auszubrechen scheint und die ihn sein Gesicht, das großflächig und kopfüber auf die Felskulissen projiziert wird, 18 Helmar Schramm, Karneval des Denkens, Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996. 19 Dieter Mehl. „Othello”, in: William Shakespeare, Othello, Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Frank Günther, München 2006, S. 299. 20 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main 1988, S. 72. <?page no="301"?> Theatrale Bild-Räume 301 buchstäblich verlieren lässt (Abb. 1). Der Zwischenvorhang wird hochgefahren, und zu den harten und treibenden Gitarren-Riffs aus dem Eminem-Song „Lose yourself” 21 stürzt sich Scheer kopfüber, wie seine projizierte Maske, in einer Mischung aus Hass, Gewalt und Autoaggression die Kulissen herunter und stammelt, wimmert, lallt dabei Satzfetzen aus dem Dramentext, 22 vermischt mit den Anfangszeilen aus dem Hip-Hop Song und dessen Refrain. Immer wieder krabbelt und hangelt er auf allen Vieren die Felsen hinauf, um sich erneut in die 'Tiefe' seines Schmerzes fallen zu lassen. Als Othello/ Scheer nach ca. 3 min erschöpft am Boden liegen bleibt, gibt Jago, der seinem General beobachtend ‘zur Seite steht’ (auch bei Shakespeare ist er während des Anfalls von Othello anwesend), ein Zeichen zur Beendigung der Szene an die Technik. In jeder Aufführung spendet das Publikum an dieser Stelle Szenenapplaus, doch kaum senkt sich der Zwischenvorhang, schreit Scheer „Nein! Ich bin hier noch nicht fertig” und für eine weitere Minute arbeitet er sich mit seinem Körper am Material der Kulissen ab und mit ihm die Ton- und Bildtechnik. Die Unmittelbarkeit des Gefühls im Dramentext wird hier zur großen körperlichen Verausgabungsgeste des Alexander Scheer. Er beherrscht nicht nur auf artistische Weise, die auch ein hohes potentielles Verletzungsrisiko in sich birgt, den Bühnenraum, sondern seine daraus resultierende Präsenz erstreckt sich bis in die letzten Reihen des Zuschauerraums: 23 Der ‘natürliche’ Leib Scheers und seine ‘reale’ Erschöpfung stehen im Mittelpunkt dieser Szene, die über die performative Produktion eines Körperzustandes dem Publikum ein ‘authentisches’ Gefühl der quälenden Erschöpfung ‘unvermit- 21 Dieser Song ist Titelsoundtrack des Films „8 Miles” (USA 2002; Regie: Curtis Hanson) und erhielt im selben Jahr den Oscar für den besten Filmsong. Dabei ist Eminem selbst Hauptdarsteller in der seinem Leben entlehnten Geschichte eines weißen Rappers, der, aus den white-trash-trailer-park-Siedlungen von Detroit stammend, sich nicht nur musikalisch in einer schwarzen Hip-Hop Community behaupten muss. Wie ein Foto- Negativ wird hier die Situation Othellos gespiegelt: Ein Fremder, der sich in der Gesellschaft mit ihren (rassistischen) Vorurteilen durchsetzen muss. (Vgl. Andreas Rauscher, „Von der Bronx in die 8 Mile, Hip Hop at the Movies”, in: Bernd Kiefer, Marcus Stiglegger (Hg.), Pop & Kino, Von Elvis zu Eminem, Mainz 2004, S. 369-281.) 22 „Liegen? Bei ihr? Bei mit aufüber [bis hier improvisierter Text] Mit ihr auf ihr über ihr gelegen? ... gelogen... belügen... beliegen... beiliegen... beischlafen... beschlafen... Taschentuch - Geständnisse - Taschentuch! - Gestehen und dann gehenkt werden erst gehenkt werden und dann gestehen! ” (IV,1,35-38) „Nasen, Ohrn und Lippen? Ist das möglich? - Gestehen? - Taschentuch? ” (IV,1,43) 23 Der Begriff der Präsenz versucht sprachlich einzufangen, was außerhalb der semiotischen Sinnproduktion den Wahrnehmungsraum des Theaters atmosphärisch ‘ausfüllt’ und für den Zuschauer primär zu erspüren und weniger zu reflektieren ist: ”Die ästhetische Arbeit besteht darin, Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas ausgehen lassen. D.h. es geht darum, durch Arbeit am Gegenstand Atmosphären zu machen.” (Gernot Böhme, Atmosphäre, Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main 1995, S. 36.) <?page no="302"?> Matthias Spaniel 302 telt’ vermittelt. 24 Die Energie, die sich gegen die eigene Materialität des Körpers sowie die des Bühnenbildes richtet, ist keine im ‘als ob’ Modus gespielte, sondern eine ‘reale’ biomechanische Aktion innerhalb des fiktiven Bild- und Bedeutungsrahmens einer Theateraufführung, die auratische „Authentizität einer Bezeugung”. 25 So fungiert der Körper im Sinne Hans Beltings einmal mehr als Bindeglied zwischen bildlicher Fiktion und szenischer Realität, ist das Gefühl auf der Bühne inszeniert und zugleich vom Zuschauer projiziert. 4. Praxis - „Othello” oder die Eifersucht als Strudel der Bilder Pucher spielt in seiner Othello-Inszenierung also ganz bewusst mit der audiovisuellen Wahrnehmungskonvention, die Bild und Sprache bzw. Geräusch in einen signifikanten Zusammenhang setzt: Seh- und Hörraum werden im Theater wie auch beim Film als eine Einheit gedacht und jede Diskontinuität auf der Tonspur zerstört oder irritiert zumindest unsere (Raum)Wahrnehmung. Sowohl in der beschrieben Anfangsszene als auch beim ‘Eifersuchtsfelsen’ wird die gesellschaftliche Maske des Mohren mehr in das Gesicht Othellos hineingesprochen und gesungen, als dass es visuell zu uns als Zuschauer ‘spricht’. Hieran wird nicht nur die relationale Wahrnehmung von Bildern deutlich, sondern auch, dass die Imagination und Konstitution von Shakespeares Bühnenwelt im Wesentlichen von der Stellung der Figur in der symbolischen Welt des Sprechens abhängig ist - ein Gedanke, den Jaques Lacan als grundlegende sprachliche Konstituierung des Subjekts auch außerhalb des Theaterraums ausformulierte. 26 Entwarf bereits Shakespeare in seinen Dramen einen Multiperspektivismus auf seine Figuren (in dem er z.B. verschiedene Nebenfiguren Verschiedenes über die Hauptfigur sagen lässt, noch bevor diese auftritt), so wird in Puchers Inszenierung die sprachliche Ambiguität des Textes in die ikonische Differenz der Bilder übersetzt: 27 Die Wirkung des Bildes erschöpft sich nicht in seiner reinen Sichtbarkeit; vielmehr blickt es uns an und wir erblicken es - mit Jaques Lacan kann man in diesem Zusammenhang auch von der „Kreu- 24 Vergleiche zur „paradoxalen Struktur des Authentischen, seiner »vermittelten Unmittelbarkeit«”: Jan Berg, Hans Otto Hügel, Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim 1997, S. 5ff. 25 Dieter Mersch, „Aisthetik und Responsivität, Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung”, S. 93, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen 2001, S. 273-299. 26 Jaques Lacan, „Was ist ein Bild/ Tableau”, in: Gottfried Boehm, Was ist ein Bild? , Paderborn 2006, S. 75-89. 27 „Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet.” Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder”, S. 30, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild? , Paderborn 2006, S. 11-38. <?page no="303"?> Theatrale Bild-Räume 303 zung der Blicke” sprechen. 28 Diese affektive Sinnlichkeit ist jedoch nicht beliebig, sondern unterliegt den symbolischen Strukturen einer Kultur, durch die innere wie äußere Bilder an Wahrnehmungs- und Abbildungskonventionen gebunden und auch (de)formiert bleiben. Wäre dies nicht der Fall, könnte ich schwerlich über die ästhetische Übersetzungsarbeit Puchers referieren, der sich in seiner Inszenierung ganz bewusst des kollektiven Bildrepertoires der (Pop-) Kultur bedient. Ein weiteres Beispiel für diese komplexe Visualisierung des Dramentextes ist eine im Regiebuch als „Taschentuchoper” betitelte Handlungssequenz, die bei Shakespeare im III. Akt, 4. Szene zu finden ist und in der Aufführung nach gut einer Stunde auf nur ca. 5 Minuten verdichtet vor dem beschriebenen Eifersuchtsanfall Othellos stattfindet. In dieser wird Jagos Intrige durch das von Desdemona (Jana Schulz) verlorene Taschentuch im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich und kommt ins Rollen bzw. auf der Bühne von Barbara Ehnes ins Drehen: „Die Insel […] dreht sich, zeigt das Innen und das Außen der Gesellschaft der Krieger: das goldene Badezimmer des Generals”; 29 ein Aufenthaltsraum, irgendwo zwischen Lounge und backstage area zu verorten; eine schmale Sitzbank unter einem ‘Bilderrahmen’, dessen Motive ständig und situationsbedingt mittels Rückprojektion wechseln; und eine Felskulisse, die von den Klippen der Insel Zyperns zur inneren Seelenlandschaft Othellos ‘mutiert’ (Abb. 1). Drehen sich diese einzelnen Räume im II. Akt nacheinander in das Sehfeld des Zuschauers, ‘verschmelzen’ sie, analog zur Simultanität der Handlung im Dramentext, im zentralen III. Akt zu einem Gemenge an dynamischen Orten, zu einem theatralen Raum. Die technisch aufwendig konstruierte „offene geschlossene Bühne” 30 verbildlicht dabei die dramatische Extremsituation des abgeschlossenen Ortes einer Insel, der das verwirrende Geflecht von Handlungssträngen in das Ineinandergreifen von Räumen übersetzt, die zugleich einen Rückzug der Figuren aus der Öffentlichkeit (des Geschehens) ins Private verweigert: Von überall her gibt es Auf- und Abtritte, kann das dramatische Personal sich gegenseitig beobachten und vom Publikum beobachtet werden. Dazu mischen sich durch Draufprojektion immer wieder auch ihre ‘medialen Doppelgänger’, so dass der Eindruck einer permanenten und anonymen Überwachung entsteht (Videosequenzen von Chris Kondek). Sauber gerahmt wird dieser heterogene und dynamische Bühnenraum fast die ganze Dauer der Aufführung vom Portal des ‘Guckkastens’, bleibt der Strudel der Bilder ein inszenierter, da gerahmter Bild-Raum. 28 Jaques Lacan, „Was ist ein Bild/ Tableau“, S. 79 in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? , Paderborn 2006, S. 75-89. 29 Eberhard Rathgeb, „Eifersucht ist gut, Kontrolle ist besser, Straßenkämpfer leben länger: Stefan Pucher inszeniert Shakespeares „Othello” im Hamburger Schauspielhaus”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 15.9.2004. 30 Karin Winkelsesser, „Othello im Teufelskreis von Machtgier und Intrige”, Barbara Ehnes Drehbühne für Shakespeares Drama am Schauspielhaus Hamburg”, in: Bühnentechnische Rundschau, Heft 6, 2004. <?page no="304"?> Matthias Spaniel 304 Man kann es sich einfach machen und von dieser Szene wie auch über die ganze Inszenierung von einer „aufgebrezelten Inhaltsleere” 31 sprechen, in der die Videoprojektionen für manchen Kritiker nichts weiter als „unscharf flimmerndes Dekor” sind. Man kann sich jedoch auch die Mühe machen, genauer hinzuschauen, um feststellen zu können, dass sich Pucher der technisch wie ästhetischen Mittel einer visuellen Kultur bedient, um sie auf der Bühne an einen vielschichtigen historischen Dramentext rückzubinden, miteinander in Beziehung zu setzen und teilweise gegeneinander auszuspielen. So zeigt das für die Projektionen verwendete Videomaterial Probenmitschnitte von Szenen, die bis zu diesem Zeitpunkt auf der Bühne bereits gespielt (das Gruppen-Tableau zu Beginn des II. Aktes auf den Felsklippen von Zypern) oder projiziert wurden (das Gesicht von Othello). Es greift aber auch Handlungen vor, die wenig später erst noch gespielt werden (unrhythmischer Männerchor). Ergänzt werden sie durch Sequenzen, die die Kurtisane Bianca gemeinsam mit Cassio in unscharfen Nacktaufnahmen als Großprojektion zeigen, überblendet von dem hintersinnigen Wortspiel „word sword”, das als Anspielung sowohl auf den verbalen Treueschwur als auch das rituelle Kreuzen der Schwerter gelesen werden kann (Abb. 2). Dazwischen agieren die Darsteller auf der Szene eher hilflos, in dem sie wortwörtlich versuchen mit der Handlung und gegen Geschwindigkeit und Richtung der Drehbühne Schritt zu halten. Dieses Raumspiel in der Bühne potenziert Pucher mit den projizierten ‘Bildspielen’ auf der Bühne, die damit zur plastischen Projektionsfläche mit den daraus resultierenden Bildverzerrungen und -kanten wird. Der entstehende theatrale Bild-Raum ist, im Gegensatz zu Kieslers Diktum, Fläche und Raum zugleich. Dramaturgisch erhalten die realen oder nur imaginierten sexuellen Verstrickungen der Figuren in diesem Bilderstrudel eine Beiläufigkeit, die auch der Shakespeareschen Vorlage entspricht, in der die körperlichen Beziehungen sprachlich angedeutet, aber nicht szenisch ausagiert werden. Allerdings sind Teile der Projektionen gegenläufig und werden im Zeitraffer sowohl auf als auch innerhalb der Bühne eingespielt (Abb. 3). Die mehrdeutigen Bilder im Bild der Bühne, um hier eine Formulierung des Philosophen und Bildtheoretikers Lambert Wiesing zu verwenden, 32 die sich konträr zu den ‘moralischen’ Repliken der Figuren als auch unseren Sehgewohnheiten bewegen, geraten spätestens dann sprichwörtlich ‘aus den Fugen’, wenn die Projektionsrichtung vertikal von oben nach unten verläuft und das Bühnenbild abzuheben scheint - die Ordnung des Bild-Raums wie die von Othellos 31 ”Weiterhin führt es dazu, dass auf Monitor, Vorhang und Bühnenbild pausenlos Videofilme projiziert werden, die selten eine Funktion haben (Angriff der Venezianer gegen die Türken), meistens aber nichts anderes sind als unscharf flimmerndes Dekor. Aufgebrezelte Inhaltsleere.” Hermann Hofer, „Othello ohne Konzept, Heiße Luft zum Start in die Spielzeit: Stefan Pucher enttäuscht am Hamburger Schauspielhaus mit William Shakespeares Othello”, in: Lübecker Nachrichten vom 15.9.2004. 32 Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz, Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S. 141. <?page no="305"?> Theatrale Bild-Räume 305 Leben ist außer Kontrolle geraten, ebenso die Zeit durch die rückwärts abgespielten Videoprojektionen. Pucher verdichtet hier Bilder im Bühnenraum, verschachtelt Erzählstränge ineinander, montiert und dynamisiert dadurch Bild-Raum und Handlung zugleich. Die säuselnd rhythmische Loungemusik ist dabei mehr als nur dezenter Klangteppich, sie verleiht den heterogenen visuellen Eindrücken ähnlich einem Musik-Videoclip neben der akustischen auch eine gewisse inhaltliche Kohärenz. Dennoch verlieren mit zunehmenden Umdrehungen der Bühne auch die Zuschauer - analog zu den dramatischen Figuren - den ‘Durchblick’: Selbst Jago, der sich als Initiator außerhalb der rotierenden Bild-Räume bewegt, bleibt nur noch die zwischen Hoffnung und Beschwörung schwankende Feststellung: „Irgendwas bewirkt das schon…” (III,3,321) Aus den Projektionen wird eine dichte visuelle Textur, die sich nur in der nachträglichen Analyse von Aufführungsmitschnitten feingliedrig aufschlüsseln lässt, während sich in der Vorstellung ein Gefühl von sinnlicher Überreizung und narrativer Überforderung einstellt: „Verdichtung heißt hier visuelle Undeutlichkeit, die der Undurchschaubarkeit des Handlungsverlaufs und des Intrigengeschehens entspricht”, formuliert Hajo Kurzenberger in einem Vortrag über diese Inszenierung treffend. 33 Zugleich wird aus der dramaturgischen Verdichtung eine visuelle Desemantisierung: In ihr überlagern, kontrastieren und dynamisieren sich visuelle Schichten, so dass es fast zu einer „Entsemantisierung durch Übersemantisierung” kommt, 34 die Guido Hiß als spezifische Darstellungstechnik des „postmodernen Bildertheaters” ausmacht. Dort wo sich der Sinn entzieht, der Signifikant sich im visuellen ‘Oberflächenstrudel’ vom Signifikat loszureißen scheint, verschiebt sich auch die Wahrnehmung hin zum Wahrnehmenden, wird der Zuschauer auf sein eigenes Sinnsuchen und seine Erfahrung von Sinnlichkeit zurückverwiesen, die in räumlichen Attributen wie Präsenz und Atmosphäre spürbar wird. 5. Aus-Bildung - Die Schichtung bild-räumlicher Differenz Anhand der beschriebenen Szenen wird deutlich, dass sich szenische Vorgänge nicht immer als relationale Anordnung beschreiben lassen, sondern dass sie sich als komplexe bild-räumliche Schichtung ereignen können - eine begriffliche Akzentuierung, die ich dem phänomenologischen Raummodell 33 Hajo Kurzenberger, „Literaturtheater mit der Videokamera”, in: Henri Schoenmakers et all (Hg.), Theater und Medien. Grundlagen - Analysen - Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 436. 34 Guido Hiß, Der theatralische Blick, Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin 1993, S. 69. <?page no="306"?> Matthias Spaniel 306 der Philosophin Karen Gloy entnommen habe. 35 Mit den Ausführungen Christoph Tholens zur Intermedialität müssen diese Schichten wiederum als hybride Verschränkung ästhetischer wie sozialer Ausdrucksformen verstanden werden. 36 Die dadurch entstehenden Zeitsprünge und Raumüberlagerungen sind, wie sich in der Analyse theatraler Bild-Räume gezeigt hat, mit den traditionellen Begriffen von Raum und Zeit nicht mehr hinreichend zu beschreiben. Ich möchte daher Gottfried Boehms Topos der ikonischen Differenz weiterdenken und von einer bild-räumlichen Differenz sprechen, die szenische Handlungsorte formt bzw. abbildet, ohne sie selbst zu sein. Theatrale Bild-Räume sind also immer als Zwischenräume zu beschreiben, die aus der Relation von Realität und Fiktion, Darstellung und Imagination entstehen. Ihre ästhetische Funktion ist es, vermittelnd zwischen Beobachter und Beobachteten das subjektive Wahrnehmungsfeld der Zuschauer immer wieder neu zu strukturieren. Sie sind somit als mediales Dispositiv des Theaters begrifflich zu fassen. 37 Diese Funktion hatten Bühnenräume im Theater wohl schon immer - selbst der erwähnte Erzähler am Lagerfeuer generierte in der Imagination der Zuhörerschaft durch Sprache und Körper abwesende szenische Orte. Durch den Einsatz von audiovisuellen Medien wird diese medienspezifische Bildlichkeit des Theaters jedoch erweitert und zugleich selbstreflexiv konterkariert: Immer dann, wenn die Wahrnehmungsmuster bzw. die gängige Bilder-Rahmung des Zuschauers zur ästhetischen Disposition stehen; wenn Bildsprünge oder -unschärfen provoziert und semiotische Schichtungen und sinnliche Überreizung produziert werden. Denn all diese visuell-räumlichen Erscheinungen sind Ergebnis einer medialen Inszenierungsarbeit auf dem ‘Arbeitstisch’ Theater, der unter dem nüchternen Arbeitslicht der Bühnenarbeiter für den Zuschauer entzaubert und profan wirkt. Man kann diesen Gedanken noch weiter zuspitzen und die Rezeption von Theater einer „sensoriellen Transmutation” gleichsetzen, wie Helga 35 „Als basalste Schicht figuriert der gelebte, gestimmte Raum, auf ihm basiert der Aktionsbeziehungsweise Handlungsraum, auf diesem wiederum der Wahrnehmungsraum, eingeteilt in taktilen, visuellen, auditiven, olfaktorischen und Geschmacksraum, schliesslich folgen die mathematischen Räume, die sich als Konstruktionen des Verstandes erweisen. Damit ist das Einteilungsschema des Leibsubjekts erschöpft; was sich dann noch an Räumen anschliesst, ist metaphorischer Art, wie der gesellschaftliche, politische, kulturelle oder ästhetische Raum.” (Karen Gloy, „Typologie der Räume - eine Phänomenologie“, S. 13 Hervorhebung M.S., in: Annette Landau, Claudia Emmenegger (Hg.), Musik und Raum, Dimensionen im Gespräch, Zürich 2005, S. 11-32.) 36 Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002. 37 „Medialität wäre also die Art und Weise, wie durch die räumliche Disposition Wahrnehmungsordnungen geschaffen werden. Insofern ist die Theatergeschichte auch eine Mediengeschichte, noch bevor die Kamera erfunden wurde.” Jens Roselt, Die „Fünfte Wand: Medialität im Theater am Beispiel von Frank Castorfs Dostojewski- Inszenierung”, S. 114, in: David Roesner, Geesche Wartemann, Volker Wortmann (Hg.), Szenische Orte - mediale Räume, Hildesheim 2005, S. 109-127. <?page no="307"?> Theatrale Bild-Räume 307 Finter in der Einleitung des Bandes „Das Reale und die (neuen) Bilder” schreibt. 38 Dies lässt für die Charakteristik gegenwärtiger Theaterformen die artifizielle Auftrennung linguistischer, spatialer und piktorialer Diskurse obsolet erscheinen, denn einer intermedialen Theaterkunst kann man sich in ihrer Analyse als auch Konzeption nur interdisziplinär nähern. In ihrer Weiterführung evoziert diese Feststellung zugleich ein Nachdenken über das Selbstverständnis der medialen Verfasstheit des Kunsttheaters westlicher Prägung: Theater als ein atmosphärisches Ereignis medialer Bild-Räume zu verstehen, könnte nicht nur der adäquaten Beschreibung aktueller Darstellungsästhetiken auf dem ‘Arbeitstisch’ Bühne dienen, sondern - im Sinne Heiner Müllers - auch zu einem neuen Selbstverständnis dieses ‘Steinzeit- Mediums’ im 21. Jahrhundert verhelfen. Abb. 1: Die ikonische Differenz: von der Küstenzur Seelenlandschaft. 38 Helga Finter (Hg.), Das Reale und die (neuen) Bilder, Denken oder Terror der Bilder, Frankfurt am Main 2008, S. 15. <?page no="308"?> Matthias Spaniel 308 Abb. 2: Die Verwischung von große Worten und nackten Tatsachen. Abb. 3: ‘Der Raum ist aus den Fugen’. Bei den Abbildungen handelt es sich um vom Autor angefertigte Screenshots eines internen Aufführungsmitschnitts des Hamburger Schauspielhauses. <?page no="309"?> Werner Fritsch Natalität versus Fatalität - Einige Gedanken zum Theater des Jetzt im Kontext meiner Inszenierung von Das Rad des Glücks Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. So beginnt von nun an nicht nur das Evangelium des Johannes, sondern auch diese Vision vom Theater des Jetzt als letzten Ort für Utopie. Im Theater Raum schaffen für die Aura einer Figur, die sechs Jahre Auschwitz überlebt hat. Im Angesicht der Geburt ihrer Urenkelin. Natalität versus Fatalität. Der Raum wird zum Kopf der Alten, der die Sprache und die Erinnerung und zum Bauch der Gebärenden und zum Kopf des Kindes, dem die Zukunft zugeordnet ist: So ist Mnemosyne die Mutter der Musen. Thalia nur ihre Tochter, die in den Wehen liegt... Im Anfang stand ein Bild aus meinem Traum: Alle am Stück Beteiligten liegen Kopf an Kopf im Raum, gleichsam als Nabe, mit ihren Körpern als Speichen, so sternförmig im Kreis, dass sich das Bild eines Rades ergibt. Jennifer Minetti in der Rolle der alten Roma Courasch legte sich als erste in den Kreis, der sich, Tag für Tag, Kopf an Kopf, schloss zum Energiefeld: zur Haupt-Bühne im Sinne des Wortes für Mnemosyne, zum mal größeren, mal kleineren Rad des Glücks. Angesichts von Auschwitz, angesichts des tödlichen Fallouts, der auch die Gegenwart verstrahlt, muss es uns allen gelingen, eine Klima größtmöglicher Auschwitzferne zu kreieren...Magma der Möglichkeit, gegen die Geschichte gestellt, die zum die Zukunft erdrückenden Grab-Stein zu werden im Begriff ist. Falls wir nicht den Mumm haben, die Mördergrube mit dem Dynamit unseres Herzen in die Luft zu jagen. Im Theater des Jetzt. In unseren wenigen Tagen. Angesichts der Apokalypse in Zeitlupe rings um uns. Angesichts der kaum mehr wahrgenommenen Wirkung auch nur dieser Worte. Die Alchemie der Utopie zu wagen. Dem jüdischen Anteil unserer Kultur verdanken wir, Heidegger hin, Heidegger her, die Idee, dass unsere Welt durch die Sprache erschaffen worden ist. Durch Sprache haben wir jeden Augenblick, auch diesen, teil am Prozess der Schöpfung, der nur dann ein schöpferischer ist, wenn wir schöpferischen Gebrauch von der Sprache machen oder zumindest liebevollen, der Wahrnehmung hervorruft, gegenseitige. Schreiben wir die Welt nur, so wie wir gemeinhin schreiben und so, wie sie ist, ab, so erstarren wir in der Mimesis ihrer mumifizierenden Gegenwart, und schreiben die Welt buchstäblich ab. Die Zukunft des Futurs. Die Alchemie der Utopie. <?page no="310"?> Werner Fritsch 310 Immer, wenn Sprache dem analytischen Denken dient, findet, letzten Endes, Selektion statt. Konfliktherde werden definiert. Diese Kultur der Selektion findet in Auschwitz ihren Kulminationspunkt: Du bist anders als ich. Falls ich stärker bin als du, schlage ich dir, wenn du nicht genauso wirst, wie ich will, den Schädel ein: das heißt, ich lösche dein kulturelles Gedächtnis aus. Unser Denken seit Aristoteles ist ein selektives: Deutschsein oder Nichtdeutschsein, Jüdischsein oder Nichtjüdischsein, Sintisein oder nicht Sintisein etc. Nur aus dem Konfliktherde zeitigenden Geist der Eineindeutigkeit heraus, kann Sprache als Medium für Gesetze, die Grundlage sind für Befehle, Dekrete, Verordnungen, instrumentalisiert werden: die Sprache der Jurisprudenz, die Sprache der politischen Rhetorik, die Sprache der Propaganda, die Sprache religiöser Dogmen, die Sprache der Bürokratie, die Sprache der Wissenschaft, die heute noch profitiert von den damaligen Forschungen am Menschen als Versuchskaninchen, die Sprache von Befehl und Gehorsam... All diese Verwendungsweisen von Sprache suchen, letzten Endes, die Eineindeutigkeit die poetische Sprache, auf der allein das Theater des Jetzt beruht, hingegen sucht die Vieldeutigkeit, die Offenheit: auf dass, mit Hölderlin zu sprechen, der Mensch die Freiheit verstehe, aufzubrechen, wohin er will. Die Erkenntnis, dass kaum jemand in unserer Kultur aus Auschwitz diese Erkenntnis gezogen hat, ist furchtbar. Stattdessen schreiben alle so weiter, als wäre nichts gewesen, stattdessen reden alle so weiter, als wäre nichts gewesen, stattdessen denken alle so weiter, als wäre nichts gewesen, und alle sind, exkulpiert von der Erbschuld Auschwitz durch Jesus Walser, der Meinung, dass es hohe Zeit wäre, die Erinnerung an Auschwitz überhaupt ad acta zu legen...Aus diesem Umstand ziehe ich die Konsequenz, dass man über Auschwitz nur in einer Sprache reden kann, in der der Opfer. Über Auschwitz in der Sprache der Täter (und dazu gehört auch der Jargon der Wissenschaftlichkeit und die Formate der medialen Aufbereitung) zu sprechen ist die Regel, die Sprache der Täter zu reinigen durch Wörtlichnehmen der Sprache der Opfer ist die Ausnahme. Aber nur so ist Gedächtnis ein menschenwürdiges. Während immer mehr das Maß das Maß aller Dinge ist, ist im Theater des Jetzt, das immer dann stattfindet, wenn Sprache, darin sich Erleben und Erleiden, aber auch die Träume und Sehnsüchte sedimentiert haben, Vorstellungen im Kopf des Zuhörers hervorruft, der Mensch das Maß aller Dinge. Erinnern und Vergessen. Der Sieger schreibt in seiner Sprache - Geschichte. Er selektiert das zu Erinnernde vom zu Vergessenden. Im Theater des Jetzt wird den Sprachlosen Gehör geschenkt, den Stummen Stimme. Das Theater des Jetzt ist eine Arche, umbrandet von den Wogen der Lethe: ein Ort, der dem Jetzt eines jeden großen Textes den Raum, der sich immer weniger, und seis auch nur in Gestalt von Stille, in unserer Lebens- <?page no="311"?> Natalität versus Fatalität 311 welt findet, gibt, ein Ort, der die Bedingung der Möglichkeit von Wahrhaftigkeit überhaupt ermöglicht, indem er die Sprache reinigt. Mutter Sprache, zur Informationshure verludert, in die Foltereisen der Eineindeutigkeit gezwungen, darf im Theater des Jetzt zu sich kommen. Sie erschafft die Welt, die Natalität des Jetzt. Das Theater des Jetzt ist ein Tempel des Textes, dessen Gestaltung die Aura einer Figur herstellt. Walter Benjamin skizziert die Aura mit wenigen Strichen: „Erstens erscheint Aura an allen Dingen. Zweitens ändert sich Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kann die echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strahlenzauber gedacht werden, als den die vulgären mystischen Bücher sie abbilden und beschreiben. Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt. Nichts gibt vielleicht von der echten Aura einen so richtigen Begriff wie die späten Bilder van Goghs, wo an allen Dingen so könnte man diese Bilder beschreiben die Aura mitgemalt ist.” So entsteht die Aura im Theater des Jetzt für mich zum einen aus der Sprache der Figur, die eine eigene Welt, die der Figur, und, stellvertretend auch die unsere, weil wir im Spiel, durch die Sprache der Figur auch die Welt der Figur erschaffen, erschafft, zum anderen entsteht Aura für mich durch den Raum, in dem die Figur sich aufhält und in dem das Wort fällt... Das Theater des Jetzt schließt den Raum, gerade indem die Konzentration auf der Bühne eine größere ist, kurz mit dem Ringsherum. Die Mauern werden durchlässig - und so meine Hoffnung die Schädeldecken der Zuschauer. Das Theater des Jetzt ist ein Raum, in dem nicht das Theater ein weiteres Mal stattfindet, das wir uns und anderen ohnehin vorspielen. Die Tatsache, daß im Theater der Gegenwart, nur das Theater, das wir uns und andren ohnehin vorspielen, gespielt wird oder jenes Theater, das uns, Aristoteles ist in Hollywood nur allzugut aufgehoben, der Film als Leben vorspielt und die Medien als Wirklichkeit und der Staat als Demokratie, degradiert das Theater der Gegenwart zur Tautologie. Das Theater des Jetzt besteht gerade darin, dass Wahrhaftigkeit als Phantasma im Raum ist: als Denken, das sich im Raum der als solcher durchlässig sein muss, damit alles in der Vorstellung Gesagte, sich auch in der Vorstellung der Anwesenden kristallisieren kann. Aus wenigen Phonemen erstehen Welten in der Vorstellung des Zuschauers. Wenn das Wort „Wald” fällt, sieht jeder den Wald, der sich in sein Bewusstsein gebrannt hat...Und ein Wald bei, sagen wir, Wondreb steht, von Zuschauerkopf zu Zuschauerkopf gleichsam, neben einem Wald bei, sagen wir, Bad Tölz, bei, sagen wir, Berlin... Hamburg... Linz... Und selbst wenn sich jeder eine Stadt, die jeder kennt, vorstellt, stellt sich jeder einen anderen Teil dieser Stadt an einem jeweils anderen Tag in einer <?page no="312"?> Werner Fritsch 312 jeweils anderen Lichtstimmung etc. vor, ja selbst wenn sich jeder Auschwitz, das er sich, über den Gedenkstättenbesuch und die Dokumente hinaus, nicht vorstellen kann, vorstellt, ist der Raum ein offenerer - und freierer. Das heißt, jeder muss im Kino seines Kopfes seine Vorstellung realisieren - und all dies ist Millionen Mal humaner, als die Phantasie von Millionen Menschen mit einer einzigen (Hollywood-)Vorstellung auszulöschen. Je weniger Materie auf der Bühne vonnöten ist, o Steinzeitkino der Kulissen, umso mehr Geist kann im Raum sein. Je mehr Leere vorhanden ist, umso mehr Platz bleibt für Phantasie. Ein Text muss so gut sein, dass, wenn ein guter Schauspieler den Mund aufmacht, die Bühne voll ist. Dann wird die Bühne transzendiert zu einem Ort, der sich im Bewusstsein des Zuschauers lokalisiert. Die Vorstellung wird zur Vorstellung. Das Theater des Jetzt, dessen Alpha und Omega das Wort ist, beginnt, um beim Johannesevangelium zu bleiben, mit: „Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt”. Im Körper des Schauspielers ist das Wort, das dichterische, weltstiftende, Fleisch gewordener Geist, dem man mit hoher Konzentration zuhört, die jeden zu sich kommen lässt, gerade durch die friedliche Anwesenheit der Anderen. Theaterkunst ist Gesellschaftskunst. Und die höchste Gesellschaftskunst ist die Lebenskunst. Wer das Tiefste gedacht, liebt, wiederum mit Hölderlin gesprochen, das Lebendigste. Jedoch nur wer den Mumm hat, unhysterisch das eigene Herz mit der historischen Mördergrube in Beziehung zu setzen, kann überhaupt über Auschwitz reden. Nur so, ohne Zeigefinger, ohne Übersetzung der Opfergeschichte in Tätersprache wird Geschichte transparent, nicht, wie bei Brecht, zum Transparent. Das Theater des Jetzt findet überall dort statt, wo zwei oder drei im Namen eines Denkens, das weder den Logos noch den Körper, geschweige das Jetzt ausklammert, also im Sinne des poetischen Denkens synthetisch ist, eines Denkens, das vernetzt statt verletzt, zusammen sind. Im Theater des Jetzt wird der Versuch unternommen, Leere, Stille und Raum für Denken in statu nascendi zu schaffen, auf dass, weit über das auf der Bühne aufgeführte Werk hinaus, ein Feld sich herstellt, ein Sog entsteht, der die Träume, Erinnerungen und Hoffnungen, also Mnemosyne, die Muse des Gedächtnisses, in den Köpfen der Menschen heraufkommen lässt. Da die politischen, nur in der linken Hirnhälfte angesiedelten Utopien und da die religiösen Rituale, die letztlich doch zu sehr, ohne daraus Lebenskraft und Freiheit zu zeitigen, mit dem Tod paktieren, ihre Strahlkraft vollkommen zu verlieren im Begriff sind, haben wir die blutige Ernte eines Denkens, das uns die Bühne der Welt jeden Augenblick um die Ohren fliegen lassen kann, zu gewärtigen, eines Denkens, das keine Distanz, kein wirkliches Gegenbild hat, geschweige eine humane Vision. <?page no="313"?> Natalität versus Fatalität 313 Das Theater des Jetzt hingegen ist ein einziger Versuch, Gegen- Gedanken, Gegen-Augenblicke, aus dem Innersten unserer Träume heraus geschöpft, frontal in den öffentlichen Raum zu stellen. Seit mit Aristoteles die Stasis des A=A, die Diktatur des Eineindeutigen, den Fluss der Dinge in die Prokrustesbetten der Begriffe zwingt, ist die logische Konsequenz eine tödliche. Die Dialektik, nur in einer Hirnhälfte lokalisiert, der rationalen, greift zu kurz. Im Gegensatz zur Poesie, die weder den Körper noch das Jetzt ausschweigt, und deswegen die Fortführung der Schöpfung realisiert. Nicht weitere Meinungen sollen im Theater vorgeführt werden, sondern es soll ein Raum geschaffen werden, in dem sich, nicht im Sinn der Esoterik, sondern im Sinn Benjamins, Aura einstellen darf, und der Zuschauer selbst, sofern überhaupt noch Hoffnung ist, in feinere Bereiche der Wahrnehmung vorstossen kann. Nicht das Gezeigte ist das Entscheidende, sondern das, was sich im Zuschauer über das Gezeigte hinaus, einzustellen vermag. Das Theater des Jetzt ist der letzte Tempel der Demokratie. In einer Zeit, in der die Demokratie, auf der Bühne der Medien, zum Theater geworden ist, ist das Theater des Jetzt tatsächlich der einzige demokratische Ort. Im Theater des Jetzt sind die Gedanken frei, im Gegensatz zu Hollywood wird einem nicht eine Geschichte so heftig auf den Kopf geschlagen, dass man eineinhalb Stunden nichts anderes denken kann, als das, was auf der Leinwand stattfindet. Das mag, Aristoteles hats analysiert, durchaus Katharsis und Empathie hervorrufen, auch Ablenkung, aber angesichts einer explodierenden Welt ist mir dies doch zu wenig. Im Theater des Jetzt wird im Gegenteil versucht, das eigene Denken in Gang zu setzen, eigene Areale der Erinnerung und Emotion im Bewusstsein der Zuschauer zu stimulieren. Dies Wissen, dass Welt aus Sprache heraus erschaffen ist, unser Bewusstsein in statu nascendi die Welt mit dem fließenden Licht Gottes aus der Kabbala, also mit schöpferischer Potenz durchdringt, zugegen im Denken noch Benjamins, Blochs, Adornos, ist, Konsequenz aus Auschwitz, in unserer Gegenwart so gut wie ausgelöscht. Falls die Zeit Zyklus ist, und nicht Pfeil, der uns auch von der Zukunft her, deren Möglichkeit, auf eine lebenswerte Weise auch nur für die Generation unserer Kinder, stattzufinden wir Tag um Tag durch unsere Blindheit nolens volens unterbinden eines Tages ins Herz trifft, heißt das im Klartext, dass der Geist von Auschwitz, wenn wir ihn nur vergessen wollen, auf die eine oder andere versteckte oder offensichtliche Weise wiederkehrt: als schlimmstmögliche Nutzung der unsichtbaren Installation Überwachung und Gedankenkontrolle, die rings um uns angelegt ist und bereits praktiziert wird. Denkt man Auschwitz zuende, und bedenkt man darüber hinaus, wie wenig diese zugegeben traumatischste - Lektion unserer Geschichte <?page no="314"?> Werner Fritsch 314 beherzigt worden ist und beherzigt wird, müsste man sich Millionen Mal umbringen. Dieser Fataliät setzt das Theater des Jetzt, im Zustand der höchsten Bedrohung aller spirituellen Quellen, Natalität, im Sinne Hannah Arendts, die den Begriff von der Banalität des Bösen geprägt hat, entgegen. Dem Zerstreuungslager Gegenwart (einer Überdosis Krieg und Katastrophen, die zu sehen allein, jegliches politische Handeln absurd erscheinen lässt und die, das ist der große Rest des Programms, nur mit einem Höchstmaß an Fun erträglich ist) setzt das Theater des Jetzt, paradox genug, eine Kommunikation möglichster Auschwitzferne entgegen, eine, paradox genug, Konzentration aller Energien, die sich entschieden haben, dass nicht die Welt am Ende ist, nur eine Form des Denkens. <?page no="315"?> Zu den Autorinnen und Autoren Petra Bolte-Pickert, Theaterwissenschaftlerin, Studiengangkoordinatorin sowie 2005 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Giessen. Lehre: z.B. Figurationen des Abjekten, Schauspieltheorie, Belgisches Avantgarde-Theater. Forschungsbereiche: Theater und Wissenschaft; Theatralität der Stimme; Theatralität auf der politischen Bühne. Veronika Darian, (*1972 in Slovenj Gradec, Slowenien) Studium der Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Bonn und Leipzig. Promotion 2004: Das Theater der Bild/ Beschreibung. Zum Verhältnis von Sprache, Macht und Bild in Zeiten der Souveränität (Fink 2010). Letzte Konferenzen (Leitung): Oktober 2005: Mind the Map! - History Is Not Given (zus. m. Prof. Marina Grzinic und Prof. Günther Heeg, revolver 2006), Schaubühne Lindenfels, Leipzig; Dezember 2006: Verhaltene Beredsamkeit? - Politik, Pathos und Philosophie der Geste (zus. m. Katharina Polster und Michael Wehren, Peter Lang 2009), Oper Leipzig. Seit 2004 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Sommersemester 2010: Vertretung der Juniorprofessur Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Julien Dolenc, geboren 1980 in Thionville/ Frankreich. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Dt. Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Rahmen einer Direktpromotion seit 2006 Doktorand am dortigen Institut für Theaterwissenschaft, Arbeitstitel der Dissertation: „Inszenierte Realität: Neuere Museumsarchitektur im Spiegel von Theatralität”, die von Prof. Dr. Kati Röttger (Leerstoelgroep Theaterwetenschap, Universität Amsterdam) und Prof. Dr. Elisabeth Oy-Marra (Institut für Kunstgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) betreut wird. Stipendiat der FAZIT-Stiftung von 10/ 2008 bis 10/ 2009. Andreas Englhart, nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Politikwissenschaft, Psychologie und Physik und der Promotion mit einer Arbeit zum dramatischen Werk von Botho Strauß war er wissenschaftlicher Angestellter des Instituts für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied der interdisziplinären DFG-Forschergruppe „Kulturelle Inszenierung von Fremdheit im 19. Jahrhundert”. Habilitationsschrift zum Thema „Das Bild des Anderen. Erkundungen zum deutschsprachigen Theater 1780-1850”. Derzeit Privatdozent und wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Theaterwissenschaft München. Forschungsschwerpunkte: <?page no="316"?> Zu den Autorinnen und Autoren 316 Theorie und Praxis des Theaters und der Medien vom 19. Jht. bis zur Gegenwart; Mediendramaturgien; Bild und Ästhetik des Anderen in den Medien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theorie und Praxis des Theaters und der Medien vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, u. a. zum Thema der Konferenz: Was ist ein Theaterbild? , in: Forum Modernes Theater 19 (1/ 2004), S. 3-25. U. a. ist von ihm eine „Einführung in die moderne Theaterwissenschaft” (zus. m. J.v. Brincken) bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen. Wolf-Dieter Ernst, Studium der Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, Promotion an der Universität Basel 2001 (Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen. Wien: Passagen [Reihe xMedien], 2003). Habilitation an der LMU München 2009 zur Diskurs- und Insitutionengeschichte der Schauspielausbildung 1870-1930. Seit 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Helga Finter, ist seit 1991 Professorin für Theorie, Ästhetik und Geschichte des Theaters am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Giessen. Sie hat Bücher zum italienischen Futurismus, zu den Theaterutopien Mallarmés, Jarrys, Roussels und Artauds veröffentlicht und Sammelbände zum Werk Georges Batailles und zum Verhältnis des Theaters zu den anderen Künsten herausgegeben. Die Theaterpraxis kennt sie durch ihre Erfahrungen als Dramaturgin für Inszenierungen von postdramatischen Texten u.a. von Marguerite Duras. Sie ist Mitglied der Redaktion von New Theatre Quarterly und gibt im Verlag Peter Lang die Reihe theaomai Studien zu den performativen Künsten heraus. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Ästhetik der Stimme, die Theatralität postdramatischer Texte sowie das Verhältnis von Theater und Medien. Stefanie Husel, studierte 1999-2005 Theaterwissenschaft und Soziologie an der LMU München. Neben ihrem Studium arbeitete sie in verschiedenen Theaterberufen, z.B. als Beleuchterin und Dramaturgin. Sie assistierte 2003 der britischen Theatergruppe Forced Entertainment bei deren Proben zu „Bloody Mess”, sie hospitierte in den Proben zu „The World in Pictures” wie auch bei Forced Entertainments jüngster Produktion, „The Thrill of it All” (2010). 2006 organisierte sie das 100° Festival für das Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin, sie war Produzentin der Installation „Midnight Canteen” (von Heman Chong und Max Schuhmacher, 2006 im Rahmen der Berlin Biennale) und des Rohkunstbau Festivals für darstellende Kunst 2007. Seit November 2006 promoviert Stefanie Husel unter der Betreuung von Hans-Thies Lehmann (Theaterwissenschaft, Universität Frankfurt) und Stefan Hirschauer (Soziologie, Universität Mainz) zum Thema „Grenzwerte - Modellierung der Theatersituation als Spiel”. Seit 2009 ist Stefanie Husel wissenschaftliche <?page no="317"?> Zu den Autorinnen und Autoren 317 Mitarbeiterin bei „SOCUM - Research Center of Social and Cultural Studies Mainz”. Romain Jobez, Studium der Germanistik an der École Normale Supérieure (Fontenay-St Cloud) und der Theaterwissenschaft an der Universität Paris Ouest-Nanterre. 2001 bis 2004 Stipendiat am Graduiertenkolleg „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung” der Johann Wolfgang Goethe- Universität. Seit 2006 Dozent für Theaterwissenschaft an der Universität Poitiers. 2009-2011 Fellow der Humboldt-Stiftung und Gastforscher am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Sebastian Kirsch, M.A., geb. 1980 in Wittlich, lebt in Berlin und Bochum. Kirsch studierte von 2000-2005 Theaterwissenschaft, Germanistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, u.a. bei Ulrike Haß und Nikolaus Müller-Schöll. Seit 2006 promoviert er bei Ulrike Haß über die „Gegenwart des Barock” im Kontext der Lacan’schen Psychoanalyse und mit Bezug auf Brecht und Müller. Als Gastdramaturg arbeitete er u.a. am Schlosstheater Moers und in Berlin mit dem Regisseur Johannes Schmit. Seit 2007 ist Kirsch Redaktionsmitglied bei „Theater der Zeit” und arbeitet seit dem Wintersemester 2008/ 2009 als „Lehrkraft für besondere Aufgaben” am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Denis Leifeld, Studium der Theater- und Medienwissenschaft, Psychologie und Neueren deutschen Literaturgeschichte in Erlangen-Nürnberg. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft (ITM) an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und Stipendiat der Promotionsförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes. Mitglied der Arbeitsgruppe Schauspieltheorie der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Arbeit an einem Dissertationsprojekt über die Analyse und Theorie von Performern in Aufführungen. Studien- und Forschungsreisen u.a. nach Los Angeles, New York und Tokyo. Seit 2005 Tätigkeiten als Dramaturg und Regisseur am Experimentiertheater Erlangen, beim Arena Festival der jungen Künste, Staatstheater Nürnberg, den Bayerischen Theatertagen und der amerikanischen Off-Bühne Push Push Theater. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Aufführungsanalyse, Geschichte des Theaters im 20. Jahrhundert, Schauspieltheorie und -methodik, Performativität. Swetlana Lukanitschewa, ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin mit einem Habilitationsprojekt zu Nikolai Evreinov. Studium der Theaterwissenschaft an der Theaterakademie (GITIS) Moskau, anschließend Journalistin und Theaterkritikerin bei Moskauer Zeitungen. 1997-2001 Promotionsstudium am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. 2001 Promotion zum Dr. phil. mit der Arbeit „Verfemte Autoren. Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, <?page no="318"?> Zu den Autorinnen und Autoren 318 Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre” (erschienen 2003 bei Niemeyer, Tübingen). Seit 2003 Lehraufträge am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. 2006 Lehrauftrag am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Wissenschaftliche Schwerpunkte: russisches und deutschsprachiges Theater des 19. und 20. Jahrhunderts, europäisches Gegenwartstheater, Inszenierungsanalyse. Annemarie Matzke, ist Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. Sie promovierte mit einer Arbeit über Formen der Selbst-Inszenierung und schloss 2008 ihr Habilitationsprojekt zum Thema 'Arbeit am Theater. Zu einer Diskursgeschichte der Probe' ab. Publikationen zur Performance-Art, Schauspieltheorie und theatralen Raumkonzepten, darunter: „Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater” (2005) und „Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren” (Hg. mit Gabriele Brandstetter und Hans-Friedrich Bormann). Berit Mohr, geboren 1967 in Elmshorn, arbeitet als Kostümbildnerin, Lehrbeauftragte und Dramaturgin. Nach ihrer Ausbildung an der Modefachschule „HJS” in Arnheim, Niederlande, studierte sie Theaterwissenschaft, Ethnologie und Anthropologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seit 1992 entwirft Berit Mohr Kostüme für verschiedene Theaterformen. Bisherige künstlerische Arbeiten entstanden u.a. an der Oper Frankfurt, Das TAT, am Theater Freiberg, an der Staatsoper Hannover sowie für die Expo `98 in Lissabon. Über das künstlerische Kostümbild hinaus beschäftigt sich Berit Mohr mit dem Phänomen des Körpers als organisches und kulturelles Netzwerk, an dessen Oberfläche komplexe gesellschaftliche und individuelle Prozesse um Identität, Wahrnehmung und Persönlichkeit sichtbar werden. Leif Murawski, (Jahrgang 1970) studierte an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz Slavistik, Germanistik sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Derzeit steht er vor dem Abschluss einer Dissertation zu dem russischen Symbolisten Konstantin D. Bal’mont und den Bezügen in dessen Werk zu Traditionen der Mystik. Er hält Vorträge, gestaltet literarische Abende und übersetzt aus der russischen und polnischen Literatur. Patrick Primavesi, ist Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig. Bis 2008 war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Frankfurter Goethe-Universität, wo er 2002 gemeinsam mit Hans-Thies Lehmann einen Masterstudiengang Dramaturgie eingerichtet <?page no="319"?> Zu den Autorinnen und Autoren 319 hat. Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft und der Germanistik in Berlin, Gießen und Frankfurt promovierte er zu Walter Benjamins Theorien des Kommentars, der Übersetzung und des Theaters. Seine Habilitationsschrift erschien 2008 unter dem Titel „Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800”. Weitere Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Theater der Antike; Bertolt Brecht und Heiner Müller; Theorie und Praxis gegenwärtiger Formen von Theater, Tanz und Performance; Theater und Film; Interventionen im urbanen Raum. Clemens Risi, Musik- und Theaterwissenschaftler. Seit 2007 Juniorprofessor für Musiktheater am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Leiter von Forschungsprojekten im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen” und im Exzellenz-Cluster „Languages of Emotion” der FU Berlin. Gastprofessuren an der Brown University (2008) und der University of Chicago (2010). Publikationen zu Oper und Musiktheater vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, zur Aufführungsdimension, der Darstellungspraxis, den Affekten und den Stimmen in der Oper, zu Wahrnehmung, Rhythmus und Zeiterfahrungen. Autor von „Auf dem Weg zu einem italienischen Musikdrama” (Tutzing 2004). Christina Schmidt, Studium der Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft in Marburg und Berlin. Während des Studiums Dramaturgie für freie Theaterproduktionen. Nach dem Studium Stipendiatin am Graduiertenkolleg Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Mitglied in deutsch-französischem Forschungscolloquium der Universitäten Bochum und Paris X Nanterre sowie wissenschaftliche Mitarbeit an Forschungsprojekt zu Heiner Müllers Handschriften. Promotion an der Ruhr-Unversität Bochum über Einar Schleefs Theater. Lehrtätigkeiten in Berlin, Bochum, Paris und Poitiers. Vorträge und Veröffentlichungen u.a. zur Szenografie des Gegenwartstheaters, zu Elfriede Jelineks Theatertexten und zum Chor. Monografie: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater (Transcript Verlag, Bielefeld 2010). Lebt und arbeitet in Berlin. Henri Schoenmakers, war von 1984 bis zum 2005 Lehrstuhlinhaber Theaterwissenschaft an der Universität Utrecht und bis 2000 Leiter des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft dieser Universität. Von 2000 bis zum 2007 arbeitete er als Lehrstuhlinhaber Theater- und Medienwissenschaft und Leiter des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft an der der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2008 lehrt er Theater- und Medienwissenschaft an der Roosevelt Academy, dem Internatonal Honors College der Universität Utrecht. Seine Forschung richtet sich vor allem auf Aufführungs- und Rezeptionstheorie, Innovationen im Theater im 20. <?page no="320"?> Zu den Autorinnen und Autoren 320 Jahrhundert, die Aufführungsgeschichte des AntikenTheaters, und Theaterpädagogik. Mathias Spaniel, wurde 1980 in Dresden geboren. Er studierte „Deutsche Sprache und Literatur” in Hamburg, „Szenische Künste” in Hildesheim und „European Theatre Arts” in London. Er war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; künstlerisch-wissenschaftlicher Lehrbeauftragter am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim und am Department für Kunstwissenschaften der LMU München. Seit Sommer 2010 ist er künstlerisch-wissenschaftlicher Assistent für Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste. 2002 gründete er das „freie theater nordlichten“, mit dem er zahlreiche Inszenierungen klassischer und zeitgenössischer Texte erarbeitete, sowie kontinuierlich eigene Projekte an der Schnittstelle von Theater und Performance entwickelt: www.nordlichten.de Zudem war er in der Spielzeit 2009/ 10 als Dramaturg am Theater Rudolstadt engagiert und ist bundesweit als freier Regisseur und Workshopleiter für verschiedene Theater- und Bildungsinstitutionen tätig. Mathias Spohr, Schauspielakademie Zürich, Promotion im Fach Literaturkritik an der Universität Zürich. Praktische Arbeit als Schauspieler, Bühnenmusiker und im Medien- und Verlagsbereich. Assistent am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Habilitation in Theaterwissenschaft. Musikalische Kompositionen und Theaterstücke. Studiengangsleiter Theater an der Hochschule der Künste Bern. Freiberufliche Tätigkeit als Dozent, Autor und Dramaturg. Stefan Tigges, (Dr. phil.), lehrte von 2003-2008 als DAAD-Lektor an den Universitäten Avignon und in der Germanistik in Rouen. Danach folgten Lehraufträge in den Instituten für Theaterwissenschaft an der Ruhr- Universität Bochum, der Johannes Gutenberg Universität Mainz sowie der Universität Wien. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RUB im Rahmen eines DFG-Projektes über Theater als Raumkunst. Er vertritt ebenso die Schaubühne Berlin als Wissenschaftler im Rahmen des europäischen Theaternetzwerkes „Prospero”. Birgitt Wiens, Theaterwissenschaftlerin. Promotion 1998 an der Ludwig- Maximilians-Universität München. Danach Tätigkeit als Dramaturgin, Kuratorin und Projektleiterin für ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Akademie zum 3. Jahrtausend, Burda-Medien, und andere Institutionen. 2005-09 Professur für Theaterwissenschaft, mit Schwerpunkt Theatergeschichte und Produktionsdramaturgie an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Zurzeit Forschungsprojekt „Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts” am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München (gefördert von der <?page no="321"?> Zu den Autorinnen und Autoren 321 DFG). Arbeitsschwerpunkte: Szenographie im 20./ 21. Jahrhundert, Theater und Medien, Visual Studies, Theorien des Raums. Mitglied der Forschungsgruppen „Theaterhistoriographie” (Gesellschaft für Theaterwissenschaft) sowie „Intermediality” (FIRT/ IFTR). www.birgit-wiens.de Benjamin Wihstutz, studierte Theater- und Erziehungswissenschaft in Berlin und Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und am DFG- Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gegenwartstheater und dem Wandel des Theaters um 1800. Im Vordergrund stehen dabei Fragen zur Einbildungskraft des Zuschauers, zur Verschränkung von Kunstraum und sozialem Raum sowie zu politischen und ethischen Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Neben Aufsätzen und Rezensionen ist er Autor der Monografie Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers (Berlin 2007: Theater der Zeit: Recherchen) und zusammen mit Erika Fischer-Lichte Herausgeber des Bandes Politik des Raumes: Theater und Topologie (München 2010: Wilhelm Fink). 2011 wurde er an der Freien Universität Berlin mit der Dissertation „Der andere Raum. 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