Pilger, Päpste, Heilige
Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters
0119
2011
978-3-8233-7616-3
978-3-8233-6616-4
Gunter Narr Verlag
Klaus Herbers
Gordon Blennemann
Wiebke Deimann
Matthias Maser
Christofer Zwanzig
Die Beiträge dieses Bands befassen sich mit den Spuren des mittelalterlichen Wallfahrtswesens zwischen Elbe und Saale, den Pilgerreisen sächsischer Fürsten im späten Mittelalter und den Formen fürstlicher Heiligenverehrung in Mitteldeutschland vor der Reformation. Ferner widmen sie sich spezifischen Erscheinungsformen und Zeugnissen der Jakobusverehrung in Sachsen und Mitteldeutschland wie zum Beispiel dem wiederentdeckten Pilgerbericht des Hans von Sternberg oder den Spuren der Verehrung des Heiligen Jakobus am Halberstädter Dom. Ein Beitrag über Pilgerfahrten in Mitteldeutschland zwischen Konfessionalisierung und Ökumene schlägt die Brücke von der Reformation zur Gegenwart.
<?page no="0"?> Klaus Herbers Pilger Päpste Heilige Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters Herausgegeben von Gordon Blennemann, Wiebke Deimann, Matthias Maser und Christofer Zwanzig <?page no="1"?> Klaus Herbers Pilger, Päpste, Heilige <?page no="3"?> Klaus Herbers Pilger, Päpste, Heilige Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters Herausgegeben von Gordon Blennemann, Wiebke Deimann, Matthias Maser und Christofer Zwanzig <?page no="4"?> Klaus Herbers ist Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: Dr. Alfred Vinzl-Stiftung, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Dekanat der Philosophischen Fakultät mit Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Freunde und Förderer der Geschichtswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg e. V. Xunta de Galicia, S. A. de Xestión do Plan Xacobeo, Santiago de Compostela Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung : Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6616-4 - - <?page no="5"?> Klaus Herbers zum 60. Geburtstag <?page no="6"?> Tabula gratulatoria M ARIA P IA A LBERZONI Milano C LAUDIA A LRAUM Nürnberg H ELMUT A LTRICHTER Erlangen H ANS A MMERICH Speyer C RISTINA A NDENNA Dresden G IANCARLO A NDENNA Milano K URT A NDERMANN Blankenloch A RNOLD A NGENENDT Münster H ANS -H UBERT A NTON Konz-Könen G ÁBOR B ARABÁS Erlangen-Nürnberg J ÜRGEN B ÄRSCH Eichstätt-Ingolstadt D IETER R. B AUER Stuttgart M ELANIE B AUER Burgebrach I NGRID B AUMGÄRTNER Kassel M ATTHIAS B ECHER Bonn G UIDO M. B ERNDT Erlangen T HOMAS B ISSON Cambridge S IBLE L. DE B LAAUW Nijmegen G ORDON B LENNEMANN Erlangen H ARTMUT B OBZIN Erlangen M ICHAEL B ORGOLTE Berlin M ARIA J OÃO B RANCO Lissabon H EIDRUN B RÜCKNER Würzburg E NNO B ÜNZ Leipzig L UKAS C LEMENS Trier D AVID J. C OLLINS , S.J. Washington D.C. M ARIA C RISTINA C UNHA Porto W IEBKE D EIMANN Erlangen P HILIPPE D EPREUX Limoges T HOMAS D ESWARTE Poitiers <?page no="7"?> Tabula gratulatoria 7 M ICHAEL D IEFENBACHER Nürnberg W OLFRAM D REWS Köln L ARISSA D ÜCHTING Erlangen O TTO D UDLE Winterthur I MMO E BERL Ellwangen F RANZ -R EINER E RKENS Passau C ARLOS E STEPA D ÍEZ Madrid I RMGARD F EES München M ICHELE C. F ERRARI Buckenhof A LEXANDER F IDORA Barcelona H ELMUT F LACHENECKER Würzburg G ERHILDE F LEISCHER Isny M ÁRTA F ONT Pécs A MALIE F ÖSSEL Essen K IRSTEN O. F RIELING Hannover T HOMAS F RÖHLICH Erlangen R ÜDIGER F UCHS Mainz M ICHÈLE G AILLARD Coupvray H ANS -W ERNER G OETZ Hamburg J AVIER G ÓMEZ -M ONTERO Kiel Á NGEL G ÓMEZ M ORENO Madrid K NUT G ÖRICH München G ÜNTHER G ÖRZ Erlangen-Nürnberg K ATHARINA G ÖTZ und T HORSTEN S CHLAUWITZ Erlangen-Nürnberg M ONIQUE G OULLET Paris A NDREW G OW Edmonton, AB R OLF G ROSSE Paris K ONRAD G ÜNDISCH Oldenburg K LAUS G UTH Bamberg A CHIM H ACK Jena E RNST -D IETER H EHL Mainz M ANFRED H EIM München H EINZ -D IETER H EIMANN Potsdam P AUL -J OACHIM H EINIG Mainz-Gießen <?page no="8"?> 8 Tabula gratulatoria R UDOLF H IESTAND Düsseldorf P ETER H ILSCH Tübingen A NDREAS H OLNDONNER Nürnberg S TEPHAN H ÖPFINGER München R ENÉ H URTIENNE Nürnberg A NDREAS J AKOB Erlangen C AROLA J ÄGGI Erlangen N IKOLAS J ASPERT Bochum J OCHEN J OHRENDT München G EORG J OSTKLEIGREWE Münster E IKE J UHRE Erlangen M ONIKA J UNGHANS Herzogenaurach B RIGITTE K ASTEN Saarbrücken M AX K ERNER Aachen G OTTFRIED K ERSCHER Trier U TA K LEINE Hagen R YSZARD K NAPI SKI Lublin K ATHARINA und W ALTER K OLLER -W EISS Zürich T HEO K ÖLZER Bonn L UDGER K ÖRNTGEN Bayreuth M ICHAEL L ACKNER Erlangen-Nürnberg J ÓZSEF L ASZLOVSZKY Budapest L UISE L AUBE Erlangen J EAN -L OUP L EMAITRE Paris K ARL -H EINZ L EVEN Erlangen-Nürnberg T HOMAS L INDKVIST Västra Frölunda H ANS -G. L ÖFFLER Madrid D IETRICH L OHRMANN Aachen F ERNANDO L ÓPEZ A LSINA Santiago de Compostela G ERHARD L UBICH Bochum/ Köln F RANZ M ACHILEK Erlangen W ERNER M ALECZEK Wien J OSÉ L UIS M ARTÍN Salamanca M ATTHIAS M ASER Erlangen <?page no="9"?> Tabula gratulatoria 9 M ICHAEL M ATHEUS Rom J OHANNES M EIER Mainz G ERT M ELVILLE Dresden M ICHAEL M ENZEL Berlin C HARLES M ÉRIAUX Lille A NDREAS M EYER Marburg C HRISTOPH und S OFIA M EYER Frankfurt am Main H EIKE J OHANNA M IERAU Erlangen J EAN -M ARIE M OEGLIN Paris H ANNES M ÖHRING Braunschweig M IRIAM M ONTAG -E RLWEIN Nürnberg H ELMUT N EUHAUS Erlangen D AGMAR Ó R IAIN -R AEDEL Cork C HANTAL P ALLUET Auxerre R OBERT P LÖTZ Kevelaer G IAN L UCA P OTESTÀ Milano S TEFANO R APISARDA Erlangen-Nürnberg F OLKER R EICHERT Stuttgart E LENA E. R ODRÍGUEZ D ÍAZ Huelva A DALBERT R OTH Rom P ETER R ÜCKERT Stuttgart C HRISTIAN S ASSENSCHEIDT Erlangen C ORNELIA S CHERER Erlangen R UDOLF S CHIEFFER München B EATE S CHILLING München H ANS -J OACHIM S CHMIDT Fribourg U LRICH S CHMIDT Leinfelden F ELICITAS S CHMIEDER Hagen J ENS S CHNEIDER Paris B ERND S CHNEIDMÜLLER Heidelberg S EBASTIAN S CHOLZ Zürich F LORIAN S CHULLER München M ARKUS S CHÜTZ Erlangen R AINER C HRISTOPH S CHWINGES Bern <?page no="10"?> 10 Tabula gratulatoria S TEPHAN S ELZER Hamburg K ARL -H EINZ S PIESS Greifswald G EORGES T AMER Columbus, Ohio E RNST T REMP St. Gallen J OSEF U RBAN Eggolsheim D AVID V ARELA G ÓMEZ Santiago de Compostela L UDWIG V ONES Köln W OLFGANG E RIC W AGNER Rostock B ERNHARD W ALDMANN Marktredwitz H ELMUT G. W ALTHER Jena D OMINIK W ASSENHOVEN Fürth S TEFAN W EINFURTER Heidelberg D IETER J. 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Januar 2011 bietet den freudigen Anlass, die wissenschaftlichen Verdienste des Jubilars in einer Ausgabe „Ausgewählter Schriften“ zu würdigen. Der vorliegende Band versammelt insgesamt 14 Beiträge aus nahezu drei Jahrzehnten Forschung zur mittelalterlichen Geschichte. Klaus Herbers ist als herausragender Kenner des Jakobuskults und des Pilgerwesens im Mittelalter bekannt. Mit zahlreichen Publikationen zu diesen Themen hat er nicht nur die Fachwelt, sondern auch ein breiteres Publikum erreichen können. Davon zeugen nicht zuletzt seine langjährige Tätigkeit als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft und seine ehrenvolle Berufung in das „Comité Internacional de Expertos del Camino de Santiago“ der galicischen Regionalregierung. Auch auf dem Gebiet der frühmittelalterlichen Papstgeschichte hat sich Klaus Herbers durch grundlegende Publikationen einen Namen gemacht. Er leitet mehrere nationale wie internationale Forschungsprojekte und wissenschaftliche Institutionen in diesem Bereich und bekleidet das Amts des Sekretärs der renommierten Pius-Stiftung für Papsturkundenforschung. Einen weiteren Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildet die Beschäftigung mit mittelalterlichen Heiligenkulten und Hagiographie, aus der neben einschlägigen Publikationen auch die Gründung des Arbeitskreises für hagiographische Fragen sowie eine korrespondierende Schriftenreihe hervorgegangen sind. Schließlich gilt Klaus Herbers als ausgewiesener Experte für die Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter. Neben vielfältigen Themen der spanischen Geschichte selbst hat ihn stets auch die Einbindung dieser Region in gesamteuropäische Bezüge interessiert, wie sie sich zum einen institutionell etwa in den Beziehungen zwischen dem Papsttum und iberischen Herrschern aber auch auf individueller Ebene in zahllosen Berichten mittelalterlicher Pilger und Reisender zeigt. Im Sinne einer fruchtbaren Verbindung von Forschung und Lehre hat es Klaus Herbers stets verstanden, diese Forschungsinteressen immer wieder in inspirierender Weise auch in seine Arbeit als akademischer Lehrer einfließen zu lassen. Die für diesen Band getroffene Textauswahl kann in ihrer notwendigen Beschränktheit nur einen Ausschnitt aus dem Werk eines ebenso vielseitigen wie unermüdlichen und produktiven Wissenschaftlers wie Klaus Herbers würdigen. Die Herausgeberin und die Herausgeber haben sich bemüht, mit ihrer Zusammenstellung einen repräsentativen Überblick über die Forschungsfelder und -leistungen des Mediävisten Klaus Herbers aus allen Phasen seiner bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeit zu bieten. Die für die Gliederung gewählten fünf thematischen Rubriken spiegeln die breiten Forschungsinteressen <?page no="12"?> 12 Vorwort wider, die im Werk von Klaus Herbers ertragreiche Symbiosen eingehen: So verknüpft er etwa die in der Papstgeschichte etablierte Frage nach dem Spannungsverhältnis von Zentrum und Peripherie mit Religions- und Kulturgrenzen übergreifenden Untersuchungen zur iberischen Geschichte im Mittelalter. Mit seiner Expertise zur Hagiographie eröffnet er neue methodische Zugänge z. B. zur Geschichte des Papsttums im Frühmittelalter. Und seine Arbeiten zu Reiseberichten und Pilgerfahrten stehen nicht zuletzt in enger Verbindung zu Fragen der Kulturtransferforschung. Im vorliegenden Band erschließt ein ausführliches Personen- und Ortsnamensregister solche wertvollen Querbezüge. Die Vernetzung des Jubilars in der internationalen Forschung findet ihren Niederschlag in zahlreichen fremdsprachigen Veröffentlichungen. Vier dieser Publikationen wurden hier erstmals ins Deutsche übertragen. Der Wiederabdruck der anderen Beiträge erfolgt in neuem Satz unter Beibehaltung der ursprünglichen formalen Gestaltung. Die Originalpaginierungen wurden jeweils im Text ausgewiesen, interne Querverweise in den Aufsätzen beziehen sich stets auf diese ursprüngliche Seitenzählung. Offensichtliche Druckfehler und Versehen wurden stillschweigend korrigiert. Alle anderen notwendigen Ergänzungen wurden in eckige Klammern gesetzt. Abbildungen wurden nur dann reproduziert, wenn im Text explizit darauf Bezug genommen wird. Die Institutionen und Stiftungen, die sich freundlicherweise bereit erklärt haben, die Drucklegung finanziell zu unterstützen, haben ihre Zusage stets gerade mit dem internationalen wissenschaftlichen Renommé des Jubilars begründet. Es ist der Herausgeberin und den Herausgebern eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle ihren Dank gegenüber diesen Förderern des Vorhabens auszudrücken. Es sind dies (in alphabetischer Reihenfolge): die Dr. Alfred Vinzl-Stiftung Erlangen, das Dekanat der Philosophischen Fakultät mit Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die S. A. de Xestión do Plan Xacobeo der Xunta de Galicia sowie der Verein der Freunde und Förderer der Geschichtswissenschaft an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg e. V. Danken möchten wir zudem den Verlagen, die bereitwillig dem Wiederabdruck der ausgewählten Aufsätze zugestimmt haben. Unser besonderer Dank gilt schließlich Frau Gertrud Herbers und Frau Monika Junghans, die das Entstehen dieses Bandes unterstützt und mit Verschwiegenheit begleitet haben. Herrn Dr. Dominik Waßenhoven danken wir für seine bereitwillige Hilfe bei allen Fragen der technischen Manuskriptgestaltung. Am Ende steht der Gruß an den Jubilar: Wir gratulieren Klaus Herbers herzlich zum Geburtstag und wünschen ihm weiterhin Freude an seinem Wirken als Forscher und akademischer Lehrer. Erlangen, zum 5. Januar 2011 Gordon Blennemann Wiebke Deimann Matthias Maser Christofer Zwanzig <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I Pilgerfahrten und Reiseberichte Stadt und Pilger (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ - Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel: Eindrücke und Wechselbeziehungen (2000) . . . . . . . . . . . . 53 „Das kommt mir spanisch vor.“ Zum Spanienbild von Reisenden aus Nürnberg und dem Reich an der Schwelle zur Neuzeit (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II Heiligenkulte und Hagiographie Rom im Frankenreich - Rombeziehungen durch Heilige in der Mitte des 9. Jahrhunderts (1998) . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber Pontificalis und in römischen hagiographischen Texten (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Liber Pontificalis als Quelle hagiographischer Réécritures im 9.-10. Jahrhundert (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III Geschichte der Iberischen Halbinsel Die Eroberung der Kanarischen Inseln - ein Modell für die spätere Expansion Portugals und Spaniens nach Afrika und Amerika? (1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Das Papsttum und die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 IV Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. mit Erzbischof Johannes VII. von Ravenna, 860-861 (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Papst Leo III. (795-816), der Koronator Karls des Großen - Möglichkeiten päpstlicher Politik an der Schwelle des 9. Jahrhunderts (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 <?page no="14"?> 14 Inhaltsverzeichnis „Päpstliche Autorität“ und päpstliche Entscheidungen an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert (2007) . . . . . . . . . 313 V Jakobuskult Der erste mitteleuropäische Jakobspilger zu Beginn des 10. Jahrhunderts und die Beziehungen der asturischen Monarchie zu Süddeutschland (1991) . . . . . . 341 Die Mirakel des heiligen Jakobus (1992) . . . . . . . . . . . . . . 351 Königtum, Papsttum und Santiago de Compostela im Mittelalter (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Nachweis der Erstpublikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Verzeichnis der bibliographischen Abkürzungen . . . . . . . . . 407 Verzeichnis der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . 411 <?page no="15"?> I Pilgerfahrten und Reiseberichte <?page no="17"?> Stadt und Pilger Wenn Rompilger im Mittelalter erstmals ihren Zielort erblickten, so nahmen sie vom Monte Mario aus vor allem die Peterskirche wahr. Nicht Stadt und Kirche, sondern die Kirche, der locus sanctus in der Stadt, bestimmte ihre Perspektive und ihren ersten Eindruck. Der aus Lyon gebürtige Apollinaris Sidonius ging schon 456, als er nach Rom reiste, nicht zuerst zum Kaiserpalast auf dem Palatin, sondern zum „ruhmreichen Grab der Apostelfürsten“ und „fühlte neue Kraft in seinen Gliedern erwachen“ 1 . Die Peterskirche gehörte damals noch nicht zur Stadt Rom, erst seit der Mitte des 9. Jahrhunderts wurde der Bereich um St. Peter, wenn auch nur äußerlich, in die Stadt Rom einbezogen 2 . Die Pilger konzentrierten sich ihrer Intention entsprechend auf den jeweiligen Kultort der Stadt, erst später lernten sie auch die Gemeinschaft der städtischen Bewohner kennen, die durch wirtschaftliche, soziale und religiöse Beziehungen geprägt war. Das Thema „Stadt und Pilger“ läßt sich keinem der thematischen Blöcke des vorliegenden Tagungsbandes „Stadt und Kirche“ eindeutig zuordnen; weder „Stadt und Bischof“, noch „Stadt und Pfarre“, noch „Stadt, Orden und christliche Kunst“ sind völlig treffende übergeordnete Gesichtspunkte. Schon eher gehört es zu allen Bereichen, weist aber auch darüber hinaus, vor allem, weil die Pilger in der Regel nur kurzfristige Gäste in den Städten waren. Konnten bunt zusammengewürfelte Scharen frommer Besucher überhaupt das Leben in der Stadt gestalten? Oder mußten sie Gegebenheiten akzeptieren, die sie vorfanden? Eine verfassungsmäßig umreißbare Gruppe waren sie jedenfalls nicht. Wirkten sie dennoch schon durch ihre Masse gleichsam indirekt auf städtische Strukturen? Soll man zu ergründen suchen, wie die Pilger die Stadt empfanden oder eher umgekehrt, wie die Stadtbewohner mit den Pilgern zurechtkamen, und welche Konsequenzen sich hieraus für die Stadt als Lebensraum und soziales Gebilde ergaben? Wirkte die Verehrung heiliger Stätten stadtbildend? Existiert der Typus einer Pilgerstadt, oder gibt es nur Städte, in denen auch Heiligtümer Erschienen in: Stadt und Kirche (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Schriftenreihe des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 12), hg. von Franz-Heinz H Y E , © Österreichischer Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung, Linz/ Donau 1995, 199-238. 1 Apollinaris Sidonius, Epistularum Liber 1, 5, ed. Ch. L U E T J O H A N N , MGH AA VIII (1887), S. 8: „. . . triumphalibus apostolorum liminibus affusus omnem protinus sensi membris male fortibus explosum esse languorem . . . “ Der Brief gehört wohl in das Jahr 456, evtl. auch 467. Vgl. Joseph Z E T T I N G E R , Die Berichte über Rompilger aus dem Frankenreiche bis zum Jahre 800 (Diss. Fribourg, Römische Quartalschrift Supplementheft 11, Rom 1900), S. 5. Vgl. zu den frühen Rompilgerfahrten die zu Abschnitt I (Anm. 15ff.) angegebene Literatur. 2 Vgl. unten S. 202ff. <?page no="18"?> 18 Pilgerfahrten und Reiseberichte waren, die von Pilgern verehrt wurden? Welchen Einfluß nahmen die Pilger auf die von ihnen durchquerten Städte, die selbst keine Devotionsorte waren? Auch dies dürfte zum Themenbereich Stadt und Pilger gehören. [199/ 200] Soweit nur einige Fragen, die noch vermehrt und erweitert werden könnten, die ich aber keinesfalls alle behandeln oder umfassend beantworten kann. Die hier angesprochene Thematik hat in einigen grundlegenden Aspekten Edith Ennen in ihrem Beitrag zu Stadt und Wallfahrt 1972 erörtert 3 ; sie wollte vornehmlich die Beziehungen von Wallfahrt als einem „festen Bestandteil des mittelalterlichen Lebens“ zu Markt, Messe, zu Siedlung und Fernhandel darstellen und fragte vor allem danach, welche stadtbildende Kraft der Wallfahrt zukam. Positiv beantwortete sie dies zwar nur für einige wenige Städte, sie konnte aber auf eine Reihe stadtbildender Faktoren, besonders im Zusammenhang mit Märkten verweisen 4 . An ihre Untersuchungen schlossen Michael Mitterauer und Franz Irsigler an. Mitterauer berührte mehrfach die Frage von Jahrmärkten und Kultorten, besonders im frühen Mittelalter 5 ; Irsigler interessierte vornehmlich die Bedeutung der sogenannten „Pilgerwege“ für die Siedlungsentwicklung. Zwar stellte er Einflüsse in bestimmten Gebieten fest, glaubte aber abschließend, daß die entscheidenden Wirkungen eher in den Devotionsorten als an den Wegen der Pilger zu suchen seien 6 . Auch Ludwig Schmugge hat sich vom Gesichtspunkt der Infrastruktur, derer die Pilger auf ihrem Weg und an den Zielorten bedurften, in diese Diskussion eingeschaltet 7 , ein Thema, das die Forschung zum Pilgerwesen schon lange beschäftigt 8 , 3 Edith E N N E N , Stadt und Wallfahrt in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland, in: Festschrift Matthias Zender 2 (1972), S. 1057-1075, Nachdruck in: D I E S ., Gesammelte Abhandlungen zum europäischen Städtewesen und zur rheinischen Geschichte 1, hg. von Georg D R O E G E u. a. (Bonn 1977), S. 239-258. 4 Ibid. Nachdruck, zusammenfassend 2 S. 57f. 5 Vgl. die einschlägigen Studien von Michael M I T T E R A U E R , die in dem Band: Markt und Stadt im Mittelalter. Beiträge zur Zentralitätsforschung (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 21, Stuttgart 1980) neu abgedruckt wurden. Vgl. auch beispielsweise zur Stadtwerdung von Le Puy aufgrund der Pilgerverehrung Reinhold K A I S E R , Bischofsherrschaft zwischen Königtum und Fürstenmacht. Studien zur bischöflichen Stadtherrschaft im westfränkisch-französischen Reich im frühen und hohen Mittelalter (Pariser Historische Studien 7, Bonn 1981), S. 182f. 6 Franz I R S I G L E R , Die Bedeutung von Pilgerwegen für die mittelalterliche Siedlungsentwicklung, in: Siedlungsforschung, Archäologie - Geschichte - Geographie 4 (1986), S. 81-102. Vgl. schon E N N E N , Stadt und Wallfahrt, wie Anm. 3, S. 240. Zum Problem, inwieweit man überhaupt von „Pilgerwegen“ sprechen kann, vgl. Klaus H E R B E R S , Via peregrinalis, in: Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt, hg. von Robert P L Ö T Z (Tübingen 21993), S. 1-25, S. 6-20 sowie Hedwig R Ö C K E L E I N / Gottfried W E N D L I N G , Wege und Spuren der Santiago-Pilger im Oberrheintal, in: ibid., S. 83-118. 7 Vgl. vor allem Ludwig S C H M U G G E , Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 64 (1983), S. 1-83. 8 Marilyn S T O K S T A D , Santiago de Compostela in the Age of the Great Pilgrimages (Norman University of Oklahoma Press, 1978); Robert P L Ö T Z , Strukturwandel der peregrinatio im Hochmittelalter. Begriff und Komponenten, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift <?page no="19"?> Stadt und Pilger 19 denn die Entwicklung des Pilgerns zu einem Massenphänomen [200/ 201] und die Ausbildung einer entsprechenden Infrastruktur bedingten einander. Aus diesen Fragestellungen und der Quellenlage ergab sich eine weitgehende Konzentration der bisherigen Forschung auf die Zeit des hohen und vor allem des späten Mittelalters. Gewiß sind die Wechselwirkungen von Stadt und Pilgerfahrt im hohen und späten Mittelalter besonders vielfältig dokumentiert, hier soll aber auch das frühe Mittelalter einbezogen und außer der Frage nach dem Einfluß von Pilgerfahrten auf die Stadtentstehung ebenso diejenige nach der Gestaltung des Lebens in der Stadt behandelt werden. Neben wirtschaftlichen, sozialen und verfassungsgeschichtlichen Aspekten sollen auch topographische Einflüsse bedacht werden. Mit den Beispielen Rom, Santiago de Compostela und Aachen möchte ich drei verschiedene Räume sowie drei verschiedene Epochen, das 8./ 9., das 11./ 12. sowie das 14./ 15. Jahrhundert, exemplarisch vorstellen und die Ergebnisse dann in einem zusammenfassenden Überblick soweit möglich systematisieren und ergänzen. Im Rahmen des Gesamtthemas verzichte ich darauf, zu definieren, was eine Stadt ist und welche Charakteristika sie bestimmen, zumal jeder Definitionsversuch schnell an seine Grenzen stößt 9 . Jedoch nehme ich zum Problem des Pilgers und der Pilgerfahrt kurz Stellung. Wir verstehen heute in der Regel unter einem Pilger eine Person, die aus religiösen Gründen zu einem Heiligtum unterwegs ist. Wenn wir in den mittelalterlichen Quellen die Bezeichnung peregrinus lesen, so ist zumal im frühen Mittelalter nicht sicher, ob hiermit der Fremde, wie noch im klassischen Latein, oder bereits ein Pilger in dem skizzierten Sinn gemeint ist, also eine besondere Art des Fremden. Es ist hier nicht erforderlich, die einschlägigen Quellenstellen von der Patristik bis ins hohe Mittelalter zu sichten 10 , das Beispiel der Benediktsregel, die vom Empfang der peregrini redet 11 , macht deutlich, daß in vielen Fällen auch im frühen Mittelalfür Volkskunde 26-27 (1981-82), S. 129-151. Zur Entwicklung der Infrastruktur und weiteren Folgen an den Wegrouten vgl. Hermann K E L L E N B E N Z , Pilgerspitäler, Albergues und Ventas in Spanien (Spätmittelalter - Frühe Neuzeit), in: Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter, hg. von Hans Conrad P E Y E R und Elisabeth M Ü L L E R - L U C K N E R (1983), S. 137-152; Hans Conrad P E Y E R , Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter (MGH Schriften 31, Hannover 1987). 9 Vgl. beispielsweise Eberhard I S E N M A N N , Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. 1250- 1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft (Stuttgart 1988), S. 19-25, knapper und vor allem auf Mitteleuropa seit dem hohen Mittelalter bezogen: Eva- Maria E N G E L , Die deutsche Stadt des Mittelalters (München 1993), S. 17f. Beide Werke erschließen die frühere Literatur. - Zur Tradition der spätantiken „civitates“ vgl. den Beitrag von Carlrichard B R Ü H L im vorliegenden Band [Carlrichard B R Ü H L , Episcopus und Civitas, in: Stadt und Kirche, hg. v. Franz-Heinz H Y E (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 13, Linz 1995), S. 1-14]. 10 Vgl. Robert P L Ö T Z , Peregrini - Palmieri - Romei, Untersuchungen zum Pilgerbegriff der Zeit Dantes, in: Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 2 (1979), S. 103-134. 11 Regula Benedicti c. 53, 56 und 61, ed. Basilius S T E I D L E (Beuron 1963), S. 164 („De hospitibus suscipiendis . . . Et omnibus congruus honor exhibeatur, maxime domesticis fidei et peregrinis“), S. 172 und 182 („De monachis peregrinis qualiter suscipiantur“). <?page no="20"?> 20 Pilgerfahrten und Reiseberichte ter der Begriff noch schlicht den „Fremden“ meinte. Wollten die Autoren des frühen Mittelalters einen Fremden bezeichnen, der aus Glaubensgründen zu einem heiligen Ort unterwegs war, so fügten sie in der Regel weitere Erläuterungen wie orationis causa, Ortsangaben oder den Namen des Heiligen hinzu 12 . Erst im hohen Mittelalter setzte eine Begriffsverengung ein, wenn auch der alte, weitere Bedeutungsgehalt des Wortes peregrinus in vielen [201/ 202] Fällen noch mitschwang. Gefördert wurde diese doppelte Bedeutung durch die biblisch geprägte Vorstellung, daß die Menschen in dieser Welt Fremde (peregrini) seien und sich auf dem Weg in die wahre Heimat befänden 13 . Der sprachgeschichtliche Befund entspricht weitgehend dem rechtsgeschichtlichen, denn die besonderen rechtlichen Vergünstigungen für Pilger wie Abgabenfreiheit oder Schutz galten in vielen normativen Satzungen für alle Personengruppen, die unterwegs waren 14 . I. Bei dem ersten hier vorgestellten Beispiel, Rom, ist das weite Bedeutungsfeld des Begriffs peregrinus oftmals noch nicht auf „Pilger“ eingeschränkt. Rom darf wohl auch schon im frühen Mittelalter als Stadt bezeichnet werden, sie war aufgrund ihrer antiken Tradition die urbs par excellence 15 . Sie galt aber auch wegen des Besitzes der Apostelgräber und der Ruhestätten zahlreicher Märtyrer der frühen christlichen Zeit als das wichtigste Ziel christlicher Pilgerfahrten im Okzident 16 . 12 Vgl. beispielsweise das Zitat in Anm. 31 zu Erzbischof Liupramm von Salzburg im 9. Jh., allgemein P L Ö T Z , wie Anm. 10, S. 106. 13 Vgl. hierzu Gerhart B. L A D N E R , Homo Viator: Mediaeval Ideas on Alienation and Order, in: Speculum 42 (1967), S. 233-259, S. 234-242 mit den entsprechenden Nachweisen. Vgl. auch die in Anm. 17 zitierte Literatur. 14 Vgl. zu Schutz und besonderen Privilegien Louis C A R L E N , Wallfahrt und Recht im Abendland (Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiet von Kirche und Staat 23, Freiburg 1987), S. 140ff. Vgl. auch Francis G A R R I S O N , A propos des pelèrins et de leur condition juridique, in: Etudes d’histoire du droit canonique dédiées a Gabriel Le Bras, II (Paris 1965), S. 1156-1181 sowie Elias V A L I Ñ A S A M P E D R O , El camino de Santiago. Estudio Histórico-Jurídico (Monografías de Historia Eclesiastica 5, Madrid 1971), S. 34ff. mit den jeweils einschlägigen Quellenbelegen. 15 Carlo C E C C H E L L I , Continuità storica di Roma antica nell’Alto Medioevo, in: La Città nell’Alto Medioevo (Settimane di studio del Centro italiano sull’alto Medioevo 6, Spoleto 1959), S. 89-149; guter Überblick bei Richard K R A U T H E I M E R , Rom, Schicksal einer Stadt, 312-1308 (München 1987). 16 Vgl. die zusammenfassende Übersicht bei Z E T T I N G E R , wie Anm. 1, im chronologischen Verzeichnis S. 109f.; vgl. auch die Auswertung und Ergänzungen bei Baudouin D E G A I F F I E R , La plus ancienne vie de Sainte Pusinne de Binson, honorée en Westphalie, in: Analecta Bollandiana 76 (1958), S. 188-223, S. 208f.; Michele M A C C A R R O N E , Devozione a san Pietro, missione ed evangelizzazione nell’alto Medioevo, in: Evangelizzazione e culture II (Rom 1976), S. 180-205, Nachdruck: D E R S ., Romana Ecclesia Cathedra Petri I (Rom 1991), S. 329-356, der den Beginn der Pilgerfahrten nach Rom in das 6. Jh. <?page no="21"?> Stadt und Pilger 21 Gewiß war zuvor die asketische Heimatlosigkeit im Osten als peregrinatio bezeichnet worden; auch die Iren brachen ins Exil auf und wurden pere-[202/ 203]grini genannt 17 . Nach den frühen Pilgerfahrten zu den Stätten des Heiligen Landes konkretisierte sich aber seit dem 6./ 7. Jahrhundert besonders mit dem Ort Rom zunehmend die Form des Pilgerns, die im weiteren Mittelalter bestimmend werden sollte; die peregrinatio zu einem festen Ziel, zu den loca sancta 18 . Schon seit der Spätantike, verstärkt aber seit dem 7. Jahrhundert, gibt es Zeugnisse über Pilgerfahrten nach Rom, bei denen der Besuch der Apostelgräber im Vordergrund stand 19 . Wie noch heute bewirkten oft verschiedene Motivationen solche Fahrten 20 , jedoch dürfte die individuelle Heilssuche, die legt (S. 333ff.); Louis C A R L E N , Straf- und Sühnewallfahrten nach Rom, in: Recht und Geschichte, Festschrift Hermann Baltl zum 70. Geburtstag, hg. von Helfried V A L E N T I - N I S C H (Graz 1988), S. 131-153. - Zum Petersgrab vgl. Adriano P R A N D I , La tomba di S. Pietro nei pellegrinaggi dell’eta medievale, in: Pellegrinaggi e culto dei santi in Europa fino alla la crociata (Todi 1963) S. 283-448 mit zahlreichen Abbildungen. 17 Vgl. hierzu Bernhard K Ö T T I N G , Peregrinatio religiosa. Wallfahrten in der Antike und das Pilgerwesen in der alten Kirche (Forschungen zur Volkskunde 32-35, Münster 1950, 2. durchgesehene Aufl. Münster 1980), S. 302-307 und Jean L E C L E R C Q , Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, in: Römische Quartalschrift 55 (1960), S. 21-225; Arnold A N G E N E N D T , Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters (Münstersche Mittelalter-Schriften 6, München 1972), besonders S. 124-175; P L Ö T Z , wie Anm. 10, S. 109ff. - Zu den Fahrten irischer Mönche auf der Suche nach dem verheißenen Land vgl. Heinz L Ö W E , Westliche Peregrinatio und Mission. lhr Zusammenhang mit den länder- und völkerkundlichen Kenntnissen des frühen Mittelalters, in: Popoli e paesi nella cultura altomedievale (Settimane di studio del Centro italiano sull’alto Medioevo 29/ 1, Spoleto 1983), S. 327-376, S. 328ff., dort auch S. 337f. zu den Missionaren als „peregrini“. 18 Eine Übergangsform sind die noch im 9. Jh. als Buße auferlegten Pilgerfahrten, bei denen das Ziel noch offen war und den Büßern geboten wurde, „ut sanctorum circuirent loca“, vgl. Johannes S C H M I T Z , Sühnewallfahrten im Mittelalter (Diss. Bonn 1910), S. 14f.; vgl. hierzu auch Jan VA N H E R W A A R D E N , Auferlegte Pilgerfahrten und die mittelalterliche Verehrung von Santiago in den Niederlanden, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland (Jakobus-Studien 7, Tübingen 1995, S. 311-343) mit weiterer Literatur. - Wie lange es dauerte, bis die hier betrachtete Form des Pilgerns Gestalt annahm, zeigen auch die liturgischen Quellen: Die im sogenannten gregorianischen Sakramentar enthaltene „Missa pro iter agentibus", ed. Jean D E S H U S S E S , Le sacramentaire grégorien. Ses principales formes d’après les plus anciens manuscrits, 3 Bände (Spicilegium Fribourgense 16, 24, 28, 1971-1979), II, S. 186-190 (wohl frühestens aus dem ausgehenden 6. Jahrhundert) ist noch nicht spezifisch auf Pilger zugeschnitten; erst spätere Segensformeln (ab dem 10. Jahrhundert) galten speziell für Pilger, vgl. den wohl frühesten Beleg im römischgermanischen Pontifikale, ed. Cyrille V O G E L / Reinhard E L Z E , Le Pontifical Romano- Germanique du dixième siècle, 2 Bde. (Studi e Testi 226, Vatikan 1963), S. 362. 19 Z E T T I N G E R , wie Anm. 1. 20 Vgl. Ludwig S C H M U G G E , Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen, in: Migration in der Feudalgesellschaft, hg. von Gerhard J A R I T Z und Albert M Ü L L E R (Frankfurt/ New York 1988), S. 263-289; Klaus H E R B E R S / Robert P L Ö T Z , Einführung: Spiritualität des Pilgerns im christlichen Westen, in: D I E S . , Spiritualität des Pilgerns (Jakobus-Studien 5, Tübingen 1993), S. 7-24, S. 14-18. - Im Falle Roms <?page no="22"?> 22 Pilgerfahrten und Reiseberichte Sorge um das eigene Seelenheil, oftmals zentral gewesen sein. Beda Venerabilis bestätigt, daß Angehörige der unterschiedlichsten [203/ 204] Schichten von den Britischen Inseln nach Rom zogen 21 ; ähnliches deutet ein Brief des Bonifatius für Pilger des Frankenreichs aus dem 8. Jahrhundert an 22 . Um 650 nahm Marculf in sein Formelbuch einen Text auf, der als eine Art Begleitbrief für Rompilger gelten kann. Es wird dort bezeugt, daß die empfohlene Person nicht aus Lust am Umherschweifen unterwegs sei, sondern um an den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus zu beten 23 . Dieses Formular sowie weitere Empfehlungsschreiben aus dem frühen Mittelalter 24 verweisen zumindest - ebenso wie die auch schon in dieser Zeit mehrfach belegte Kritik an Pilgerfahrten 25 - auf eine gewisse breitere Resonanz der Rompilgerfahrten. Die Nachrichten über römische Xenodochien, Einrichtungen der Sozialfürsorge, unterstreichen diese Tendenz. Xenodochien waren seit dem 4. Jahrhundert in der Regel bei Klöstern entstanden 26 . ist besonders zu berücksichtigen, daß hier auch die hierarchische Spitze der westlichen Christenheit lag; deshalb verbanden sich oft kirchenpolitische mit persönlichen Motiven. 21 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum V, 7, ed. Bertram C O L G R AV E / R. A. B. M Y N O R S (Oxford 1969). Dort heißt es (S. 472) nach dem Bericht über königliche Pilgerfahrten nach Rom: „Quod his temporibus plures de gente Anglorum, nobiles, ignobiles, laici, clerici, viri ac feminae certatim facere consuerunt“. Vgl. im einzelnen W. J. M O O R E , The Saxon Pilgrims to Rome and the Schola Saxonum (Freiburg/ Schw. 1937), S. 8-90 sowie die Tabelle S. 126f. zu den angelsächsischen Pilgern des 7. und 8. Jh.; nützlich zu den englischen Pilgern auch George B. P A R K S , The English Traveler to Italy. I. The Middle Ages (Rom 1954), S. 3-97, und Wilhelm S M I D T , Deutsches Königtum und deutscher Staat des Hochmittelalters während und unter dem Einfluß der italienischen Heerfahrten (Wiesbaden 1964), S. 112-115. 22 Ed. Ernst D Ü M M L E R (zu 742 Januar-März), MGH Epp. III (1898-1899), S. 298-302, S. 301. 23 Ed. Karl Z E U M E R , MGH Formulae (1886), S. 104f.; vgl. Z E T T I N G E R , wie Anm. 1, S. 44. Das Schreiben ist an den Papst und weitere geistliche Würdenträger als Empfehlung gerichtet, und es heißt dort weiter: „Quatenus presens portitur ille, radio inflammantem divino, non, ut plerisque mos est, vacandi causa, sed propter nomen Domini itinera ardua et laboriosa parvi pendens, ob lucranda orationi limina sanctorum apostolorum domni Petri et Pauli adire cupiens . . . “ Der Hinweis auf andere Intentionen des Reisens ist deutlich. 24 Diese Schreiben, die oftmals das Matthäuswort 10, 40 aufgreifen, sind zusammengestellt bei A N G E N E N D T , wie Anm. 17, S. 167f., die neben der Romfahrt auch noch andere Formen des Pilgerns (vgl. oben) betreffen. 25 Bedeutendste Vertreter der Karolingerzeit sind Claudius von Turin (vgl. ed. Ernst D Ü M M - L E R , MGH Epp. IV, Berlin 1915, vgl. S. 612) sowie Erzbischof Agobard von Lyon, vgl. Egon B O S H O F , Erzbischof Agobard von Lyon. Leben und Werk (Kölner Historische Abhandlungen 17, Köln-Wien 1969), S. 139-159, besonders S. 147. Allgemein zu diesem Problem: Giles C O N S T A B L E , Opposition to Pilgrimage in the Middle Ages, in: Studia Gratiana 19 (Rom 1976), S. 125-146, Nachdruck: D E R S . , Religious Life and Thought (11th-12th Centuries) (London 1979) Nr. IV. 26 Die Gesetzgebung im Frankenreich förderte die Einrichtung dieser Hospitäler, vgl. Egon B O S H O F , Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 265-339, zu Rom S. 277-279. <?page no="23"?> Stadt und Pilger 23 Mehrere Dotierungen der Päpste für römische Xenodochia sind im halboffiziellen Buch der römischen Kirche, dem Liber pontificalis, erwähnt 27 ; [204/ 205] auch der Liber diurnus, der vielleicht bei der Urkundenausfertigung in Rom benutzt wurde 28 , nennt zwei einschlägige Formeln 29 . Allerdings ist bei den Xenodochia, die später auch Hospitäler hießen, der Anteil an der Unterbringung auswärtiger Besucher nicht zu ermitteln. Für die Sakraltopographie Roms aufschlußreich sind weiterhin die „Romführer“ mit Notizen über Lage, Namen und Heiligtümer, die den Fremden Orientierungshilfen gewähren konnten 30 . Der Besuch verschiedener Stätten in der Stadt Rom war wohl durchgehend üblich, wie neben den bisher genannten Quellen auch Translationsberichte belegen. So weilte beispielsweise 851 Erzbischof Liupramm von Salzburg in Rom. Er war nach Erlaubnis des Königs Ludwig des Deutschen causa orationis aufgebrochen, um den Schutz der Apostelfürsten Petrus und Paulus sowie anderer Heiliger zu erflehen. Liupramm blieb einige Tage, besuchte in Rom mehrere Heiligengräber, um für die ihm anvertraute Herde Vergebung zu erlangen 31 , anschließend erhielt er Reliquien des hl. Hermes für Salzburg. Rom verfügte eben nicht nur über die Apostelgräber von Petrus und Paulus, sondern über zahlreiche weitere Gräber frühchristlicher Märtyrer. Die Weitergabe oder 27 Liber pontificalis, ed. Louis D U C H E S N E , Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, I-II, III hg. von Cyrille V O G E L , (Paris 1886-1892, 1957); Auflistung der verstreuten Belege in Italia Pontificia I: Roma, hg. von Paul Fridolin K E H R (Berlin l906) (künftig IP) I, S. 155f.; vgl. B O S H O F , wie Anm. 26, S. 277f. Vgl. zur Interpretation der Dotierungen römischer Gebäude unter dem Aspekt der Rompilger: Louis R E E K M A N S , Le développement topographique de la région du Vatican à la fin de l’antiquité et au début du Moyen Âge (300-850) in: Mélanges offerts à J. Lavalleye: Recueil de travaux d’histoire et de philologie de l’Université de Louvain 4 e série fasc. 45 (Leuven 1970), S. 197-234, bes. S. 217-228. 28 Liber Diurnus, ed. Hans F Ö R S T E R (Bern 1958); Liber Diurnus, ed. Theodor V O N S I C K E L (Wien 1889). Vgl. zur Forschung Hans-Henning K O R T Ü M , Liber Diurnus, in: Lexikon des Mittelalters V (1991), Sp. 1942f. 29 IP I 156; Liber diurnus Formel 66 und 67, ed. S I C K E L , wie Anm. 28, S. 62-64. 30 Am bequemsten zu benutzen sind diese Texte in der Edition von Roberto V A L E N T I N I / Giuseppe Z U C C H E T T I , Codice topografico della città di Roma II (Fonti per la Storia d’Italia 88, Rom 1942) sowie in: Itineraria et alia Geographica (Corpus Christianorum 175, Turnhout 1965), S. 284-295; der Gebrauchscharakter geht aus den Verben hervor, die mehrfach in der zweiten Person Singularis gebraucht werden (z. B. „intrabis, . . . deinde vadis, pervenies“ etc.). Vgl. weiterhin: Die Einsiedler Inschriftensammlung und der Pilgerführer durch Rom (Codex Einsidlensis 326) (Historia Einzelschriften 53, Stuttgart 1987). 31 „Liuphrammus . . . una cum consensu ecclesiasticorum virorum et licentia domni senioris nostri Hludowici serenissimi regis orationis causa Romam petiit, patrocinia gloriosissimi beati Petri principis apostolorum et coapostoli eius Pauli humiliter quaerens sive ceterorum sanctorum“, Translatio s. Hermetis, ed. Georg W A I T Z , MGH SS XV/ 1 (1887), S. 410. Vgl. hierzu Klaus H E R B E R S , Papst Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts (Habil.-Schrift Tübingen 1993, erscheint in „Päpste und Papsttum“) Kapitel E II. a. 4. [Klaus H E R B E R S , Papst Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27, Stuttgart 1996).] <?page no="24"?> 24 Pilgerfahrten und Reiseberichte die Niederlegung dieser Reliquien am Heimatort schuf oftmals neue Pilgerzentren, und die hierdurch entstehenden Devotionsorte konnten auf ihre Weise stadtbildend wirken 32 . Wenn - wie die bisher zitierten und weiteren Quellen suggerieren - der Besuch verschiedener Kirchen in Rom schon im frühen Mittelalter üblich war, so dürfen wir auch annehmen, daß Bauweise und Erweiterungen die-[205/ 206]ser Kirchen, über die uns der Liber pontificalis kontinuierlich berichtet 33 , durch Pilgerbedürfnisse und Pilgerverehrung mit beeinflußt wurden. Man denke beispielsweise nur an die Gestaltung der Confessio in St. Peter 34 . In diesem Zusammenhang scheint noch etwas anderes bedenkenswert. Die Pilger des 8. Jahrhunderts hatten bei ihren Umgängen teilweise weitere Wege auf sich zu nehmen als Erzbischof Liupramm im 9. Jahrhundert, sie mußten viele Märtyrergräber vor den Mauern der Stadt in Zoemiterialkirchen und Katakomben verehren. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts wurden zunehmend Reliquien in die ummauerte Stadt Rom übertragen, ein Prozeß, der im wesentlichen in der Mitte des 9. Jahrhunderts abgeschlossen war 35 . Gemeinhin wird dies damit begründet, daß die Reliquien vor allem wegen feindlicher Bedrohungen an sichere Orte gebracht werden sollten. Die baulichen Neugestaltungen zur 32 Zur Bedeutung der zentralen Orte, deren Bedeutung durch Heiligenverehrung verstärkt werden konnte, vgl. Michael M I T T E R A U E R , Das Problem der zentralen Orte als sozial- und wirtschaftshistorische Forschungsaufgabe, Nachdruck in: D E R S ., wie Anm. 5, S. 22- 51. 33 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27. Zu den römischen Kirchen vgl. M. A R - M E L L I N I , Le chiese di Roma dal secolo IV al XIX, 2 Bände (Rom 3. Aufl. 1942); Walther B U C H O W I E C K I , Handbuch der Kirchen Roms, 3 Bände (1967-1974) und ausführlich: Corpus Basilicarum Christianorum Romae, Le Basiliche Paleocristiane di Roma (sec. IV- IX), 5 Bände, hg. von Richard K R A U T H E I M E R / Alfred K. F R A Z E R / Wolfgang F R A N - K L / Spencer C O R B E T T , Vatikan 1937-1977). Diese Arbeiten werten neben den Erwähnungen in den schriftlichen Quellen (von denen vor allem der Liber pontificalis in Frage kommt) auch die archäologischen Forschungsergebnisse aus. 34 Vgl. Friedrich Wilhelm D E I C H M A N N , Märtyrerbasilika, Martyrion, Memoria und Altargrab, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 77 (1970), S. 144-169. Demnach ging man in Rom wohl seit dem 6. Jh. zu Altargräbern über, vgl. auch das Zitat in der folgenden Anm.: „sub sacro altare recondens locavit“. 35 Vgl. zu dieser Politik, die verstärkt seit Paul I. (757-767) faßbar ist, Martin H E I N Z E L - M A N N , Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (Typologie des sources du moyen âge occidental 33, Turnhout 1979), S. 28f. Vgl. als eine der letzten Übertragungen ins „Stadtinnere“ diejenige der Vier Gekrönten und anderer Heiliger unter Papst Leo IV., Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 115f.: „Ipse vero a Deo protectus et beatissimus papa multa corpora sanctorum quae diu inculta iacuerant, summo studio summoque cordis affectu, ad honorem omnipotentis Dei, infra huius alme urbis menia congregavit mirifice“, dann zur Renovierung und Übertragung der Reliquien: „Nam et corpora sanctorum martyrum IIII Coronatorum sollerti cura inquirens repperit; pro quorum desiderabili amore basilicam quae sanctorum fuerat nomini consecrata, quam ipse usque dum ad pontificii deductus est apicem prudentissimo moderamine rexit, quae per olitana curricula temporum quassata vetustatis defectu et pene ruinis confracta diu antiquitus videbatur convulsa, supernae virtutis annuente clementia, in splendidiorem pulcrioremque statum perduxit a fundamentis, ad laudem omnipotentis Dei, eorumque sacratissima corpora . . . sub sacro altare recondens locavit“. <?page no="25"?> Stadt und Pilger 25 Niederlegung der Reliquien lassen vermuten 36 , daß auch die Rompilger nun die Reliquien teilweise in anderer Weise als vorher verehrten. Es sei zumindest erlaubt zu fragen, ob nicht sogar auch der Wunsch nach einer besseren Organisation der Pilgerverehrung in den Kirchen innerhalb der römischen Mauern die Übertragungen in die Stadtkirchen gefördert haben mag. Für das Zusammenwirken von äußerer Bedrohung, Pilgerverehrung und Baupolitik gibt es ein weiteres eindrucksvolles Beispiel. Nach den [206/ 207] Verwüstungen und der Plünderung Roms und besonders des Viertels um St. Peter durch die Sarazenen 846 wurde der Bau einer Mauer um dieses Viertel beschlossen und während des Pontifikates Leos IV. (847-855) nach dem Vorbild der aurelianischen Mauern ausgeführt 37 . Was hatte dies mit der Pilgerverehrung in Rom zu tun? In der Regel spielt dieser Aspekt in der bisherigen Literatur keine Rolle, jedoch nicht ganz zu Recht. Schon bei der neuen Ausstattung des Altares von St. Peter heißt es in der Vita Leos IV., der Altar sei von den Sarazenen entehrt worden, so daß die Christen, die von überall orationis causa zu den limina des Apostelfürsten kämen, diesen nicht mehr in angemessener Weise verehren könnten 38 . Entsprechend war auch der Bau der befestigten Leostadt während des Pontifikates Leos IV. nicht nur ein Schutz vor feindlicher Bedrohung, sondern gleichzeitig auch notwendig, um die angemessene Pilgerverehrung in St. Peter, auch in unruhigen Zeiten, sicherzustellen. Für die Päpste war dies nicht unwichtig, denn universale Ansprüche erhoben sie in dieser Zeit am ehesten mit dem Hinweis auf den Apostelfürsten Petrus, dessen Bedeutung sich auch in der Verehrung des Petersgrabes durch die Völker des Erdkreises ausdrückte. Die Geschenklisten im Liber pontificalis, welche die historische Forschung bis- 36 Vgl. die bauliche Gestaltung der Kirchen nach den Skizzen in den in Anm. 33 zitierten Werken; vgl. auch die vorige Anm. - Für die stadtrömische Bevölkerung und den römischen Klerus waren die Reliquien durch die Stationsliturgie in einen gesamtrömischen Rahmen eingebunden. 37 Vgl. hierzu Liber pontiticalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 123; hiernach Gregor von Catino, Chr. Farfense, ed. Ugo B A L Z A N I (Fonti per la Storia d’ltalia 34, 1903), S. 242f.; Capitulare Lothars I., ed. Wilfried H A R T M A N N , MGH Concilia III (Hannover 1984), S. 136f.; Regest: J. F. B Ö H M E R / Herbert Z I E L I N S K I , Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926), Band 3: Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna. Teil 1: Die Karolinger im Regnum ltaliae 840-887 (888) (Regesta Imperii I, 3, 1, Köln-Wien 1991) n. 46; weitere späte, auch zumeist vom Liber pontificalis abhängige Quellen sowie Literaturangaben bei H E R B E R S , wie Anm. 31, Kapitel D II. a. 2. 38 „Patratis itaque omnibus atque perfectis operibus quorum iam singillatim superius nomina scripta vel memorata sunt, confestim isdem pastor et pater aegregius, quamvis universarum proficuam ecclesiarum Dei curam dignamque sollicitudinem gereret, et ad omne opus bonum prae omnibus intentus existeret, ex intimo cordis sui longa trahens suspiria, cum cotidie beatissimi apostolorum principis Petri sacratissimum altare cerneret violatum et ad tantam inhonestatem a Sarracenis perfidis Deoque contrariis sive vilitatem perductum, etiam et, quod dolentes merentesque dicimus, ipse qui undique christianus populus ad iamfati principis sacratissima, orationis causa vel gratia, limina destinavit, ob hoc vota sua ut olim perficere non pleniter satagebat . . . “, Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 113. <?page no="26"?> 26 Pilgerfahrten und Reiseberichte her zu Unrecht meistens vernachlässigte 39 , verdeutlichen ebenso, wie sehr die Ausstattung der römischen Sakralräume und Devotionsstätten auch die nach Rom kommenden Pilger beeindrucken mußte. Der Gesichtspunkt einer ungehinderten Pilgerverehrung in Rom war schließlich auch dem Verfasser der Annales Fuldenses aus dem Ostfrankenreich wichtig: Als Papst Johannes VIII. im April 878 vor seiner Reise ins Westfrankenreich alle Schätze von St. Peter in den Lateran bringen und die Peterskirche schließen ließ, kritisierte der Anna-[207/ 208]list, daß damit den Gläubigen der Zugang zu den dortigen Heiligtümern verwehrt sei 40 . Die Leostadt bedeutete ein völlig neues Stadtbild Roms: Erstmals war das rechte Tiberufer in die befestigten Teile der alten Stadt einbezogen; man könnte vielleicht sogar von einer Stadterweiterung Roms im 9. Jahrhundert reden, wenn auch rechtlich gesehen noch lange zwei selbständige Städte nebeneinander standen (vgl. Abb. 1 [des Originalbeitrages]). Daß auch die Nachfolger Leos IV. bei ihren Bauten in der Leostadt die Pilger mit im Blick hatten, zeigt die Renovierung der zur Peterskirche führenden Aqua Traiana durch Nikolaus I., etwa 865-866. Das nun wieder fließende Wasser sollte - wie der Text des Liber pontificalis vermerkt - auch die Rompilger erquicken 41 . 39 Vgl. zur Auswertung der Geschenklisten H E R B E R S , wie Anm. 31, besonders Kapitel B. II. c. Stärker genutzt wurden sie hingegen von der Archäologie und Kunstgeschichte, vgl. beispielsweise die in Anm. 33 genannten Arbeiten. 40 Vgl. Ann. Fuldenses a. 878, ed. Friedrich K U R Z E , MGH SS rer. G. VII (1891), S. 91: „. . . et, quod dictu nefas est, omnibus undique illuc causa orationis venientibus negabatur introitus.“ Die Übertragung der Schätze erfolgte im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Schließung von St. Peter, möglicherweise auch als Vorsorge gegen ein erneutes Vordringen der Spoletiner, die zuvor Rom belagert hatten. Vgl. allgemein hierzu Ernst D Ü M M L E R , Geschichte des Ostfränkischen Reiches III (Leipzig 2 1888), S. 74; Johannes F R I E D , Boso von Vienne oder Ludwig der Stammler. Der Kaiserkandidat Johannes VIII., in: Deutsches Archiv 32 (1976), S. 193-208, S. 202f. Anm. 46. Zu den Annales Fuldenses und den Anteilen der verschiedenen Verfasser vgl. zuletzt Wilhelm W A T T E N B A C H / Wilhelm L E V I S O N / Heinz L Ö W E , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger VI (Weimar 1990), S. 671-687. 41 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 163f. Dort heißt es genauer, daß die renovierte Wasserleitung nicht nur für die Bedürftigen, sondern auch für Rompilger bestimmt war und als Schmuckstück der Leostadt angesehen wurde: „Claudorum quapropter atque cecorum, necnon et diversis penis affectorum in porticu beati Petri apostoli iacentium ad horam Tiberini fluminis ad situm auferendum non posse gressus conspiciens tendere, ac diversarum gentium quae undique pro sceleribus apostolica limina propriis expetebant utilitatem divinitus attendens, iussit, minime corpori suo parcens, formam aquaeductum, qui multis a temporibus ruerat et ad beatum Petrum apostolum ob hoc aqua non ducebatur, in meliorem quam fuerat, certamine quamplurimo, revocari statum; ita ut non solum hominibus profuerit debilibus, sed etiam omnibus aecclesiam beati Petri principis apostolorum adeuntibus precipuum opus extiterit, sicuti in hactenus ad decorem Leonianae urbis luculenter conspicitur ac habetur.“ Der Text vergleicht sogar zuvor die Fürsorge des Papstes mit der Aufopferung Christi für die Armen. Die zeitliche Einordnung ergibt sich aus der Berichtsfolge im Liber pontificalis. Zur Wasserleitung vgl. Bryan W A R D - P E R K I N S , From Classical Antiquity to the Middle Age. Urban Public Building in Northern and Central Italy (AD 300-850) (Oxford 1984), S. 139, 141, 251 und <?page no="27"?> Stadt und Pilger 27 Der neu geschaffene „Sicherheitsbezirk“ verweist außerdem auf verfassungsgeschichtliche Aspekte. Innerhalb der neuen Mauern waren die sogenannten scholae peregrinorum 42 angesiedelt. Sie sind seit der Zeit Papst [208/ 209] Leos III. (795-816) belegt. Es ist eine schola der Franken, der Friesen, der Sachsen und der Langobarden zu unterscheiden 43 . Zu diesen Scholen gehörte jeweils eine eigene Kirche. Wenn der Eindruck nicht täuscht, so stellten diese Scholen auch die Aufnahme der in die Heilige Stadt kommenden Pilger oder Fremden sicher. Den beim Vatikan gelegenen Klöstern, vor allem St. Martin, oblag die Oberaufsicht über diese Institutionen. Die verfassungsmäßige Bedeutung der Scholen in der Stadt ist aus weiteren Quellen erkennbar: Sie spielten in militärischen Abwehraktionen gegen die Sarazenen 846 ebenso eine Rolle wie bei baulichen Aufgaben in der Stadt oder im Zeremoniell 44 . Wenn man die Urkunden des Papstes Leo IV. für St. Martin sowie spätere Privilegien heranzieht 45 , so scheinen sie sogar in einem besonders engen Verhältnis zum Papst, dem Stadtherrn, gestanden zu haben. Die Organisation der sozialen Verhältnisse hat Papst Leo IV. wohl vor allem nach der Einweihung der Leo- 253 sowie Dietrich L O H R M A N N , Schiffsmühlen auf dem Tiber in Rom nach Papsturkunden des 10.-11. Jahrhunderts, in: Ex ipsis rerum documentis, Festschrift H. Zimmermann, hg. von Klaus H E R B E R S / Hans Henning K O R T Ü M / Carlo S E R VA T I U S (Sigmaringen 1991), S. 277-286, S. 285. - Ich verzichte hier darauf, weitere, meist kanonistische Brieffragmente der Päpste dieser Zeit (insbesondere von Nikolaus I. und Johannes VIII.) über Büßer anzuführen, die nach Rom gereist waren. 42 Unter dem Begriff „schola“ verstand man in Byzanz hauptsächlich militärische Verbände, in Rom bestimmte Personengruppen; neben den hier behandelten Scholen der Fremden ist besonders auf die Schola cantorum hinzuweisen, vgl. allgemein IP I S. 17 und Guy F E R R A R I , Early Roman Monasteries, Notes for the History of the Monasteries and Convents at Rome from the V through the X Century (Studi di Antichità cristiana 23, Vatikan 1957), S. 317. 43 Vgl. allgemein Louis R E E K M A N S , L’implantation monumentale chrétienne dans la zone suburbaine de Rome du IV e au IX e siècle, in: Rivista di archeologia cristiana 44 (1968), S. 173-207, S. 204; G. H O O G E W E R F , Friezen, Franken en Saksen te Rome (Mededelingen van het Nederlands Historisch Instituut te Rome, Ser. 3,5/ 1947), S. 1-70; knapper Überblick bei Luciana C A S S A N E L L I , Gli Insediamenti Nordici in Borgo: Le „Scolae Peregrinorum“ e la Presenza dei Carolingi a Roma, in: Roma e l’Età Carolingia. Atti delle Giornate di Studio 3-8 Maggio 1976 (Rom 1976), S. 217-222; zur Schola Saxonum M O O R E , wie Anm. 21, S. 90-125. Vgl. auch die interessante Notiz aus dem 10. Jh., die in: Neues Archiv 13 (1888), S. 235 mitgeteilt ist. 44 Vgl. beispielsweise Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 6, 88, 100 und 125. Der Forschungsstand hierzu ist unbefriedigend, vgl. die in der vorigen Anm. angegebene Literatur. 45 JE 2653; IP I S. 145 n. 1, ed. Luigi S C H I A P A R E L L I , Le carte antiche dell’archivio capitolare di S. Pietro in Vaticano, in: Arch. stor. Rom. 24 (1901), S. 393-496, S. 433 und 437 Anm. 1. Die Auslassungen der Kopie wurden zuletzt von Schiaparelli mit Hilfe der späteren Nachurkunde Leos IX. (IP I S. 146 n. 4) sowie durch anderweitig bekannte Formularteile ergänzt. Vgl. F E R R A R I , wie Anm. 42, S. 236. - Vgl. außerdem JL 4292; IP I S. 146 n. 4 ( S C H I A P A R E L L I , Carte antiche, S. 470); hierzu M O O R E , wie Anm. 21, S. 110. Weitere Urkunden: IP I S. 147 n. *3 aus JL 4293 (IP I S. 147 n. 6) für S. Stefan maior; IP I S. 152 n. *1 und IP I S. 138 n. *15. Zum Zusammenhang dieser Urkunden vgl. H E R B E R S , wie Anm. 31, Kap. D III. c. 4. <?page no="28"?> 28 Pilgerfahrten und Reiseberichte stadt 852 angestrebt: Eine Urkunde für St. Martin datiert vom August 854, besondere Ausstattungen der Kirchen etwa in dieselbe Zeit. Zusammen mit der Ansiedlung weiterer Fremder wie der Sarden und Korsen wurden auch die scholae als dem Papst besonders verpflichtete Gruppe zu einem Gegengewicht gegenüber dem alten stadtrömischen Adel 46 . Mit der Leostadt hatten also auch Pilger oder ehemalige Pilger, denn Teile dieser Bevölkerung müssen sich wohl auch aus in Rom gebliebenen Pilgern rekrutiert haben, nicht nur äußerlich einen der alten urbs hinzugefügten befestigten Rechtsbereich erhalten, sondern sie waren auch als soziale Gruppe fest in die päpstliche Herrschaft einbezogen. Daß die Scholen außerdem Verbindungspunkte Roms zum Orbis christianus blieben, verdeutlichen die Bemühungen englischer Herrscher um die Schola Saxonum, wie zum Beispiel des angelsächsischen Königs Alfred unter Papst Marinus [209/ 210] I. (882) 47 . Spätere Pilger und Reisende erwähnen jedenfalls häufig den beeindruckenden Blick vom Monte Mario auf die befestigte Leostadt, die ihnen seit dieser Zeit als ein Bollwerk erschien 48 . Reisen nach Rom waren sicher nicht immer Pilgerreisen; die ad limina- Besuche der Bischöfe oder andere diplomatische Reisen waren jedoch häufig gleichzeitig mit Pilgerintentionen verknüpft. Obwohl die Quellen nicht eindeutig unter peregrini immer Pilger verstehen, so dürfte dennoch die Verehrung heiliger Stätten in Rom durch auswärtige Besucher seit dem 5./ 6. Jahrhundert unstrittig bleiben. Als wichtigste Punkte, die das Thema Stadt und Pilger betreffen, kann man für Rom im frühen Mittelalter auf die Beherbergung in Xenodochien, auf die „neue“ Sakraltopographie durch Reliquientranslationen ins Innere der Stadt, auf den Kirchenbau sowie vor allem auf die „Stadterweiterung“ um St. Peter verweisen. Gerade der Bau der Leostadt ließ weiterhin soziale Konsequenzen deutlich werden. Der Anlaß für die Ummauerung war die Zerstörung durch die Sarazenen, und die Sicherung für den Pilgerverkehr nur einer von vielen Gründen, aber sicherlich nicht der unwichtigste. Wenig später, unter Johannes VIII. (872-882), sollte auch das Grab des heiligen Paulus 46 H E R B E R S , wie Anm. 31, Kap. D III. c. 3. 47 JL *3396; IP I 151 n. *1. Weitere Quellennotizen demnächst in: J. F. B Ö H M E R / K. H E R - B E R S , Papstregesten 844-911 (Regesta Imperii). - Geschenkte Objekte, in den Viten des Liber pontificalis teilweise als „saxisca“ bezeichnet (z. B. D U C H E S N E , wie Anm. 27, II S. 120 und 132), könnten vielleicht auf die Herstellung durch Handwerker aus diesem Viertel verweisen, vgl. hierzu beispielsweise bereits Victor H. E L B E R N , Die Goldschmiedekunst im frühen Mittelalter (Darmstadt 1988), S. 12. 48 Vgl. die bei Gerd T E L L E N B A C H , Die Stadt Rom in der Sicht ausländischer Zeitgenossen (800-1200), in: Saeculum 24 (1973), S. 1-40, Nachdruck: D E R S ., Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze 1 (Stuttgart 1988), S. 265-304, besonders S. 273ff., 283ff. und bei Rudolf S C H I E F F E R , Mauern, Kirchen und Türme. Zum Erscheinungsbild Roms bei deutschen Geschichtsschreibern des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: Rom im hohen Mittelalter, Festschrift Reinhard Elze zur Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres, hg. von Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G / Ludwig S C H M U G G E (Sigmaringen 1992), S. 129-138 zusammengestellten Zeugnisse (besonders S. 130f.). <?page no="29"?> Stadt und Pilger 29 durch eine Mauer als Johannopolis gesichert werden 49 . Der Besuch Roms als heiligem Ort, den man auch wegen seiner zahlreichen Heiligengräber aufsuchte, hatte in dieser frühen Zeit bei der Umstrukturierung vom Zentrum des römischen Reiches zur Roma christiana schon beachtliche bauliche und soziale Konsequenzen. [210/ 211] II. Die Interaktion von Pilgerfahrten und Stadtentwicklung Roms ließe sich deutlicher zeichnen, wenn wir die Folgezeit behandelten 50 , für das hohe Mittelalter möchte ich jedoch einen weiteren Ort in die Diskussion einbringen: Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens, die vermeintliche Grabesstätte des Apostels Jakobus 51 . Die Entdeckung des Grabes zu Beginn des 9. Jahrhunderts kann in kirchenpolitische Zusammenhänge eingeordnet werden 52 . Nach der 49 Vgl. IP I S. 184. Zur Sache vgl. A. M I C H E L , Die griechischen Klostersiedlungen zu Rom bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, in: Ostkirchliche Studien 1 (1952), S. 32-45, S. 42; R E E K M A N S , wie Anm. 43, S. 200; B U C H O W I E C K I , wie Anm. 33, I S. 215; Isa Belli B A R S A L I , Sulla topografia di Roma in periodo carolingio: la „civitas leoniana“ e la Giovannipoli, in: Roma e l’età carolingia (Rom 1976), S. 201-214, S. 208f. Da die Inschrift auch von einem „Johannes ovans” spricht, glaubte man, den Bau in die Zeit nach dem Seesieg in Cap Circe legen zu können: Diesen Sieg hat D Ü M M L E R , wie Anm. 40, III 2 S. 25 Anm. 3 gegen G R E G O R O V I U S auf das Jahresende 874 datiert, so daß sich hieraus auch die ungefähre Zeit der Erbauung ergeben dürfte. 50 Hier spielt vor allem die Einführung der römischen Jubeljahre seit 1300 als Einschnitt eine wichtige Rolle; vgl. die von B. S C H I M M E L P F E N N I G , in: Lexikon des Mittelalters IV (1989), Sp. 2024f. angegebene Literatur; zu Vorformen jetzt Jürgen P E T E R S O H N , Jubiläumsfrömmigkeit vor dem Jubelablaß. Jubeljahr, Reliquientranslation und „remissio“ in Bamberg (1189) und Canterbury (1220), in: Deutsches Archiv 45 (1989), S. 31-53; allgemein zum periodischen Pilgern im späten Mittelalter unten Abschnitt III mit Anm. 108 und 115. 51 Die Forschungsliteratur zu Jakobus und den Santiago-Pilgerfahrten wächst ins Unermeßliche; bibliographische Orientierungen bieten die Artikel „Jakobus“, „Liber Sancti Jacobi“, „Pilger“, „Pilgerführer“, „Santiago-Pilgerfahrt“ im Lexikon des Mittelalters; vgl. weiterhin die Reihe „Jakobus-Studien“ (bisher sechs Bände) sowie die beiden jüngst erschienenen Werke: Santiago de Compostela. Pilgerwege, hg. von Paolo Caucci V O N S A U C K E N (Augsburg 1993; dt. Übersetzung der gleichzeitig erschienenen italienischen Ausgabe) sowie den Ausstellungskatalog: Santiago, Camino de Europa. Culto y Cultura en la Peregrinación a Compostela (Santiago 1993) mit umfangreichen Bibliographien. Diese Werke sind fortlaufend zu vergleichen. 52 Vgl. hierzu besonders Odilo E N G E L S , Die Anfänge des spanischen Jakobusgrabes in kirchenpolitischer Sicht, in: Römische Quartalsschrift 75 (1980), S. 146-170, wiederabgedruckt in: D E R S ., Reconquista und Landesherrschaft. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge Heft 53, Paderborn u. a. 1989), S. 301-325 (mit Originalpaginierung); vgl. die Diskussion der Quellen und der weiteren Literatur bei Klaus H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung auf der Iberischen Halbinsel. Die Entwicklung des „politischen Jakobus“, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen P E T E R S O H N (Vorträge und Forschungen 43, Sigmaringen 1994), S. 177-275, S. 196f. - Eine Rolle spielten bei der Ausbildung apostolischer Traditionen <?page no="30"?> 30 Pilgerfahrten und Reiseberichte angeblichen Auffindung der Gebeine 53 wurde der Ort wurde schon bald zu einem wichtigen Gnadenort der näheren [211/ 212] Umgebung, die fama verbreitete sich schnell in ganz Europa 54 ; überregionale Pilgerfahrten setzten in größerem Umfang jedoch erst im 11. Jahrhundert ein. Im 12., spätestens im 13. Jahrhundert galt Compostela neben Jerusalem und Rom als eines der großen Pilgerziele der Christenheit 55 . Wie bei keinem anderen Pilgerort verbinden sich mit dieser Pilgerfahrt auch die Probleme der Städte am Pilgerweg 56 , aber hier sei vor allem auf den Zielort eingegangen. auch die Auseinandersetzungen um den Adoptianismus. 53 Zwar wird der Inventio schon in Urkunden des 9. Jh. indirekt gedacht, vgl. Fernando L Ó P E Z A L S I N A , La ciudad de Santiago de Compostela en la alta Edad Media (Ayuntamiento de Santiago de Compostela, Centro de Estudios Jacobeos, Museo Nacional de las Peregrinaciones, Santiago de Compostela 1988), S. 112f. mit Belegen, jedoch findet sich der erste ausführliche Bericht erst in der „Concordia de Antealtares“ von 1077, ed. Antonio L Ó P E Z F E R R E I R O , Historia de la Santa A. M. Iglesia de Santiago de Compostela, 11 Bände (1898-1911), III Apénd. Nr. 1 S. 3-7. Vgl. zur Interpretation L Ó P E Z A L S I N A S. 109- 111 mit weiteren Editionen und Literatur. - Drei weitere wichtige Texte des 11. und 12. Jh. über die Auffindung des Grabes verbinden die Grabentdeckung mit der Herrschaftszeit Karls des Großen und spiegeln offensichtlich die Tendenz des 11./ 12. Jh. wider, auch die Inventio in eine zumindest lockere Beziehung zu karolingischen Traditionen zu stellen. Vgl. die Texte samt Zitat bei L Ó P E Z A L S I N A S. 109f. - Dieser Version widerspricht aber bereits die Sedenzzeit des genannten Bischofs von Iria-Compostela und das bekannte Todesdatum Karls des Großen, dennoch ist gerade diese Version für die Verbreitung und die Resonanz des Kultes in Mitteleuropa besonders wichtig geworden, vgl. Klaus H E R - B E R S , Expansión del culto jacobeo por Centroeuropa, in: El camino de Santiago, camino de Europa. Curso de conferencias El Escorial 22.-26. 7. 1991 (Pontevedra 1993), S. 19-43. 54 Zur frühen Resonanz über Burgund bis in den süddeutschen Raum vgl. Klaus H E R B E R S , El primer peregrino ultrapirenaico a Compostela a comienzos del siglo X y las relaciones de la monarquía asturiana con Alemania del Sur, in: Compostellanum 36 (1991), S. 255- 264 [in deutscher Übersetzung in diesem Band, 341-349]. 55 Die Ausstrahlung des Kultes betraf im 11. und 12. Jh. vor allem Mitteleuropa, insbesondere die Gebiete des heutigen Frankreichs, Deutschlands und Italiens. Verdeutlichen läßt sich dies nicht nur anhand der Nachrichten über einzelne Pilger, vgl. die Nachweise bei Luis V Á Z Q U E Z D E P A R G A / José Maria L A C A R R A / Juan U R Í A R Í U , Las peregrinaciones a Santiago de Compostela, 3 Bände (Madrid 1948-1949), I S. 47-69, die inzwischen leicht vermehrt werden können, aber kaum die grundsätzliche Tendenz ändern, sondern beispielsweise auch anhand der geographischen Aufschlüsselung der im Liber Sancti Jacobi aus der Mitte des 12. Jh. verzeichneten Mirakelgeschichten: Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus, ed. Walter M U I R W H I T E H I L L (Santiago de Compostela 1944), I S. 259- 287 (eine Neuedition ist in Vorbereitung [Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus, ed. Klaus H E R B E R S / Manuel S A N T O S N O A , Santiago de Compostela 1998]). Diese Mirakel sind u. a. von dem Gedanken bestimmt, die Universalität des Kultes in ganz Europa zu unterstreichen, vgl. Klaus H E R B E R S , The Miracles of St. James, in: The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James, hg. von John W I L L I A M S / Alison S T O N E S (Jakobus-Studien 3, Tübingen 1992), S. 11-35 [in deutscher Übersetzung in diesem Band, 351-377.] Zum Liber Sancti Jacobi vgl. die in Anm. 66 zitierte Literatur. - Zur Gleichstellung Compostelas mit Rom und Jerusalem vgl. V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., I, S. 51f. und Pierre André S I G A L , Les marcheurs de Dieu. Pèlerinages et pèlerins au Moyen Âge (Paris 1974), S. 113-115. 56 Vgl. allgemein zur Problematik oben Anm. 6. Zur Siedlung am „Pilgerweg“ nach Santiago vgl. ferner V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., wie Anm. 55, I, S. 465-497; Marcelin D E - <?page no="31"?> Stadt und Pilger 31 Schon die Entdeckung des Grabes und die Frühzeit des Kultes bestimmten maßgeblich die Stadtwerdung Compostelas 57 . Trotz der dürftigen Quellenlage belegen dies einige Zeugnisse zur Frühgeschichte der Stadt 58 . Das Bewußtsein, ein Apostelgrab gefunden zu haben, sowie die frühzei-[212/ 213]tige Verbindung des Kultes mit der asturischen Monarchie führten zu baulichen Konsequenzen um den neuen locus sanctus 59 . Seit dem 9. Jahrhundert verließen die Bischöfe wohl den alten Bischofssitz Iria zugunsten von Compostela, die Spuren der Dokumentation seit König Alfons II. (791-842) lassen vermuten, daß sich um die Grabstätte sowohl bischöfliche wie monastische Bauten gruppierten. Der erste umfaßte die früheste Kirche, einen Friedhof, eine Taufkirche sowie die bischöfliche Residenz, vom zweiten kennen wir nur die Namen einiger Kirchen (vgl. Abb. 2 [des Originalbeitrages]) 60 . Seit Ende des 9., Anfang des 10. Jahrhunderts, unter Bischof Sisnandus I. (880-921), ist eine villa zur Produktion der nötigen Subsistenzmittel belegt; die Bewohner des locus sanctus lebten in der Nähe der Kirche innerhalb einer Ummauerung. Diesen Bezirk bezeichnete man jetzt schon vereinzelt als urbs 61 . König Ordoño II. (914-924) förderte vielleicht 915 die weitere Ansiedlung: Er versprach allen die Freiheit, die sich in Compostela niederließen und nicht innerhalb von vierzig Tagen von ihrem Herren zurückgefordert würden; eine Zusicherung, die - falls die F O U R N E A U X , Les Français en Espagne aux XI e et XII e siècles (Paris 1949), S. 230-258; Luis G A R C Í A D E V A L D E AV E L L A N O , Orígenes de la burguesía en la España medieval (Madrid 1969), S. 103-177 sowie knapper: Hektor A M M A N N , Vom Städtewesen Spaniens und Westfrankreichs im Mittelalter, in: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens (Konstanz-Lindau 1958, Nachdr. 1965), S. 105-150, besonders S. 111 und 118. José Maria L A C A R R A , Apropos de la colonisation „franca“ en Navarre et en Aragon, in: Annales du Midi 65 (1953), S. 331-342, insbesondere S. 333-335. Jean P A S S I N I , Villes médiévales du chemin de Saint-Jacques-de-Compostelle (de Pampelune à Burgos). Villes de fondation et villes d’origine romaine (Paris 1984) mit zahlreichen Abbildungen sowie D E R S ., El camino de Santiago (Madrid 1987). - Vom sprachgeschichtlichen Aspekt hat Max P F I S T E R , Galloromanische Sprachkolonien in Italien und Nordspanien (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Nr. 5, Wiesbaden 1988), insbesondere S. 27-30 die „Kolonien“ untersucht. Auf die Gründe der hochmittelalterlichen Wanderungsbewegungen kann hier nicht eingegangen werden, vgl. zusammenfassend ebenda S. 31-39 sowie Gonzalo M A R T Í N E Z D Í E Z , Las pueblas francas del camino de Santiago, in: El camino de Santiago, wie Anm. 53, S. 239-251; eine Untersuchung hierzu ist in Vorbereitung. 57 Grundlegend hierzu L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53. 58 Vgl. hierzu fortlaufend vor allem die in der vorigen Anm. zitierte Arbeit; weitere, knappere Einzelstudien des Verfassers zu dieser Thematik sind aus der in Anm. 51 zitierten Literatur erschließbar. 59 Zu den von Alfons II. (? ) und Alfons III. gebauten Kirchen vgl. den Beitrag von Theodor H A U S C H I L D , Archeology and the Tomb of St. James, in: The Codex Calixtinus, wie Anm. 55, S. 89-103 (mit Hinweisen darauf, daß eine Grabesstätte archäologisch erst im 9. Jh. faßbar ist). - Vgl. zur topographischen Entwicklung auch Abb. 2 [des Originalbeitrages]. 60 Vgl. die Interpretation der Dokumentation seit Alfons II. (teilweise auch mit Rückschlüssen aus späteren Quellen), bei L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53, S. 128-145 und die dort angegebenen Nachweise. 61 L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53, S. 145-274. <?page no="32"?> 32 Pilgerfahrten und Reiseberichte Urkunde echt ist - wohl für den Anfang des 10. Jahrhunderts singulär bleibt 62 . Der weitere Bau von Kirchen im 11. Jahrhundert nach den Raubzügen der Araber und Normannen deutet die demographische Entwicklung an: Ab dieser Zeit sind Kleriker, Adelige, Domanialverwalter, ehemalige Hörige und Handwerker in der Siedlung Compostela belegt 63 . Insgesamt dominierte wohl seit dieser Zeit die städtische Komponente, denn die Ländereien außerhalb der Stadt wurden nicht weiter ausgedehnt. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts kontrollierten vornehmlich Händler, Wechsler und Handwerker die Geschicke der Stadt, wenn auch der Bischof (ab 1120 [1124] Erzbischof) Stadtherr blieb. Auch hieraus ergaben sich im 12. Jahrhundert Konflikte [213/ 214] zwischen Bürgern und Bischof 64 , und dies führt erneut zur Frage, welchen Einfluss Pilger und Pilgerfahrten für die Stadt Compostela hatten. Schon die kurz skizzierte Stadtwerdung Compostelas dürfte nicht nur durch die Bedeutung des Grabes selbst, sondern auch von den seit dem 11. Jahrhundert immer häufiger kommenden Pilgern nachhaltig beeinflußt worden sein, obwohl deren Gewicht für die Frühzeit nicht exakt bestimmt werden kann. Die Verhältnisse im 12. Jahrhundert setzten jedoch einen längeren Entwicklungsprozess voraus. Für die Mite des 12. Jahrhunderts ist erkennbar, wie stark die innere Organisation der Stadt maßgeblich auch durch Pilger mitgestaltet wurde 65 . Überliefert 62 Urk. vom 29. I. 915, ed. L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 53, II Apénd. 37 S. 84: „Do itaque ac sco. Apostolo confirmo, quod homines infra urbem commorantes, seu iuxta tumulum sancti Apostoli Iacobi habitantes, si infra XL dies de aliqua servitute calumnitate extiterint, illico ex ea eiciantur, non calumniati absque ulla calumnia permaneant . . . “; vgl. M. R. G A R C Í A A L VA R E Z , Catálogo de documentos reales de la alta edad media referentes a Galicia (714-1109), in: Compostellanum 8 (1963), S. 301-375 und 589-650; 9 (1964), S. 639- 677; 10 (1965), S. 257-328; 11 (1966), S. 257-340; 12 (1967), S. 255-268 (índice onomástico) und 581-636 (índice toponímico), Bd. 8 S. 620f. Die dort noch als falsch bezeichnete Urkunde hat L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53 wieder als echt bewertet (vgl. S. 38-43, spez. zur Urk. S. 261); nach meinem Eindruck lassen die in vergleichbaren Fällen erst später belegten rechtlichen Bestimmungen allerdings weiterhin Fragen offen und Zweifel bestehen. Allgemein zur Zuverlässigkeit und zum Überlieferungsproblem der frühen asturisch-leonesischen Königsurkunden vgl. H E R B E R S , wie Anm. 52, S. 198f. mit Anm. 103ff. 63 Zur Sozialstruktur vgl. L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53, S. 259-273. 64 Zu diesen unterschiedlich motivierten Streitigkeiten (die auch mit den verschiedenen Adelsgruppierungen und den Kämpfen zwischen Königin Urraca und Diego Gelmírez zusammenhingen) vgl. die Studien von J. G A U T I E R - D A L C H É , Les mouvements urbains dans le nord-ouest de l’Espagne au XII e siècle. Influences étrangères ou phénomènes originaux, in: Cuadernos de Historia, Anejos de la revista Historia 2 (1968), S. 51-64; Reyna P A S T O R D E T O G N E R I , Las primeras rebeliones burguesas en Castilla y León (siglo XII). Análisis histórico-social de una coyuntura, in: D I E S ., Conflictos sociales y estancamiento económico en la España medieval (Barcelona 1973), S. 13-101 und D I E S ., Diego Gelmírez: una mentalidad al día. Acerca de ciertas élites de poder, ebenda S. 103-131 (beide Abh. erstmals 1964 bzw. 1966 erschienen); Maria Carmen P A L L A R E S / E. P O R T E L A , Las revueltas compostelanas del siglo XII: un episodio en el nacimiento de la sociedad feudal, in: La ciudad y el mundo urbano en la historia de Galicia, hg. von Ramon V I L L A R E S P A Z (Torculo 1988), S. 89-105. 65 Vgl. hierzu die Zeugnisse der Historia Compostellana, ed. Emma F A L Q U E R E Y (Corpus <?page no="33"?> Stadt und Pilger 33 ist vor allem der sogenannte Liber Sancti Jacobi, der ganz dem Apostel Jakobus und seiner Verehrung gewidmet ist 66 und der einen der frühesten „Pilgerführer“ enthält, sowie die Historia Compostelana, die den Pontifikat des wichtigen Bischofs und späteren Erzbischofs von Compo-[214/ 215]stela, Diego Gelmírez (1098/ 1101-1140) ausführlich darstellt 67 . Heranzuziehen sind für diese Zeit auch verstärkt urkundliche Quellen 68 . Der Pilgerführer des Liber Sancti Jacobi 69 nennt Tore und Kirchen der Stadt 70 - ist damit in diesem Kapitel den Mirabilia Romae 71 nachempfunden -, widmet Christianorum 70, Turnhout 1988) und des Liber Sancti Jacobi, ed. W H I T E H I L L (wie Anm. 55); Antonio L Ó P E Z F E R R E I R O (Hg.), Fueros municipales de Santiago y de su tierra, 2 Bände (Santiago de Compostela 1895-1896, Nachdruck 1975); Ansatzpunkte zur Auswertung bei B. G O N Z Á L E Z S O L O G A I S T Ú A , Influencia económica de las peregrinaciones a Compostela, in: Economía Española 13 (1934), S. 77-93 und 14 (1934), S. 39-57; José Maria L A C A R R A , Le pèlerinage de Saint-Jacques: Son influence sur le développement économique et urbain du Moyen Age, in: Bulletin de l’Institut français en Espagne 46 (1950), S. 218-221; S T O K S T A D , Santiago de Compostela (wie Anm. 8) und Klaus H E R B E R S , Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber Sancti Jacobi“. Studien zum Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter (Historische Forschungen 7, Wiesbaden 1984), S. 182-186. 66 Liber, wie Anm. 55. Die Diskussionen über Ursprung, Zweck und Ziel dieses Werkes sind bis heute nicht verstummt. Vgl. den Diskussionsstand unter dem Stichwort „Liber Sancti Jacobi“, in: Lexikon des Mittelalters V (1991), Sp. 1948. Seither ist außer der dort zitierten Literatur der von W I L L I A M S / S T O N E S , wie Anm. 55, hg. Sammelband hinzuzufügen sowie André M O I S A N , Le livre de Saint Jacques ou Codex Calixtinus de Compostelle. Etude critique et littéraire (Paris 1992) und Jan VA N H E R W A A R D E N , Op weg naar Jacobus (Hilversum 1992). Beide denken, nachdem Manuel C. D Í A Z Y D Í A Z die Entstehungszeit des Sammelwerkes auf etwa 1160-1170 herabgerückt und eine Abfassung im Umkreis von Santiago angenommen hatte, wiederum an eine frühere, in Frankreich anzunehmende Zusammenstellung. - In der Tat sind Vorstufen nicht auszuschließen, aber ein abschließendes Urteil über eher französischen oder spanischen Einfluß bei der Entstehung, das alle Teile gleichermaßen im Blick behält, dürfte kaum möglich sein. 67 Hist. Comp., ed. F A L Q U E R E Y , wie Anm. 65, zur Quelle Ludwig V O N E S , Die „Historia Compostellana” und die Kirchenpolitik des nordwestspanischen Raumes 1070-1130 (Kölner Historische Abhandlungen 29, Köln 1980); L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53, S. 46- 92 sowie zusammenfassend L. V O N E S , in: Lexikon des Mittelalters V (1991), Sp. 42f. Die Entstehung in den 40er Jahren des 12. Jh. ist unstrittig, die Beteiligung von zwei oder mehreren Hauptautoren wird kontrovers diskutiert. 68 Am bequemsten - wenn auch nicht immer korrekt - in den Anhängen des Werkes von L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 53, zu benutzen; zu wirtschaftlichen und stadtgeschichtlichen Fragen vgl. D E R S . , wie Anm. 65. 69 Statt der Edition von W H I T E H I L L , wie Anm. 55, ist für diesen Teil zu benutzen: Jeanne V I E L L I A R D , Le Guide du pèlerin de St.-Jacques de Compostelle, texte latin du XII e siècle, édité et traduit en français d’après les manuscrits de Compostelle et de Ripoll (Mâcon 5 1981), S. 120-122, vgl. auch die bei Klaus H E R B E R S , Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela (Tübingen 4 1991) (zusätzlich mit einer Predigt aus dem ersten Buch) gebotene, kommentierte Übersetzung. 70 Kapitel 9, ed. V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 82ff.; H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 133ff. 71 Vgl. zu dieser Beschreibung der hl. Stätten in Rom, die etwa seit 1140 existierten, Roberto V A L E N T I N I / Giuseppe Z U C C H E T T I , Codice topografico della città di Roma III (Fonti per la Storia d’Italia 90, Rom 1946), S. 17-65. Vgl. oben Anm. 30 zu Vorläufern. <?page no="34"?> 34 Pilgerfahrten und Reiseberichte sich dann jedoch hauptsächlich der Basilika von Compostela. Interessanterweise wird unter den zehn Kirchen der Stadt auch die Dreifaltigkeitskirche genannt, die als Grabesstätte für Pilger diente 72 . Der Verfasser schildert die Kathedrale in allen Einzelheiten; sie gilt ihm als perfektes Bauwerk, das der Heiligkeit des Grabes entspreche. Über den Vorhof der Kathedrale schreibt er an einer Stelle: „Hinter dem Brunnen breitet sich, wie wir schon erwähnt haben, das Paradies aus, das mit Steinen gepflastert ist; dort werden den Pilgern kleine Schalen von Meerestieren als Abzeichen des hl. Jakobus verkauft, ebenso Weinschläuche, Schuhe, hirschlederne Pilgertaschen, Beutel, Riemen, Gürtel, jede Art von Heilkräutern und andere Arzneien, sowie noch vieles andere mehr wird dort zum Verkauf angeboten. Wechsler, Wirte und weitere Händler sind an der Via Francigena zu finden. Jenes Paradies aber ist in jede Richtung einen Steinwurf groß“ 73 . Damit nennt der Verfasser die wichtigen Berufsgruppen der Stadt, die wohl weitgehend auch vom Pilger lebten; als Handelsobjekte werden neben den Pilgerzeichen 74 vor allem Gebrauchsgüter der Pilger aufgeführt. [215/ 216] Um die finanziellen Mittel, welche die Pilger mit in die Stadt brachten, konkurrierten die verschiedensten Gruppen. Eine Predigt aus dem Liber Sancti Jacobi 75 geißelt die Mißstände am Jakobsweg und nimmt auch eine in Santiago wichtige Berufsgruppe nicht aus: Die Wirte. Neben der üblichen, fast schon toposhaften Kritik 76 , daß die Wirte die Pilger auf die verschiedenste Weise betrügen, erfahren wir durch mehrere Nebenbemerkungen, daß auf den Märkten auch Fleisch zur Verköstigung der Pilger gehandelt wurde, und daß die Pilger ihre ex-voto Wachsgaben für den Heiligen oftmals erst am Zielort selbst kauften. Unter einer Decke steckten die „bösen“ Wirte angeblich oft mit den 72 Kapitel 9, ed. V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 84-86; H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 135. Aus den Beschreibungen der anderen Kirchen geht keine besondere Bedeutung für die Pilger hervor. 73 Ed. V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 96; H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 143. 74 Zu Pilgerzeichen grundlegend Kurt K Ö S T E R , Mittelalterliche Pilgerzeichen, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen (München-Zürich 1984), S. 203-223; D E R S . , Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen (Neumünster 1983); Esther C O H E N , In the Name of God and of Profit. The Pilgrimage Industry in Southern France in the Late Middle Ages (Brown Univ. Ph. D. 1977); D I E S . , „In haec signa“: Pilgrim-Badge Trade in Southern France, in: Journal of Medieval History 2 (1976), S. 193-214. 75 Dt. Auszüge bei H E R B E R S , wie Anm. 69, besonders S. 71-82. 76 Die Beliebtheit dieser Kritik ist allgemein. Der von Serafín M O R A L E J O , Arte del Camino de Santiago y arte de peregrinación (s. XI-XIII), in: El camino de Santiago, hg. von D E M S . (Santiago de Compostela 1990), S. 7-28, S. 17 mit Berufung auf B. M A R I Ñ O , Iudas mercator peissimus. Mercaderes y peregrinos en la imaginería medieval, in: Los caminos y el Arte (Santiago de Compostela 1989), S. 31-43 (mir bisher nicht zugänglich) gegebene Hinweis auf die Darstellungen über Bankiers- und Wirtsbetrug am Fries der Kirche in Andlau, die den Darstellungen der hier interessierenden Predigt im Liber Sancti Jacobi entsprächen, können meines Erachtens durchaus und wahrscheinlich eher eine ganz allgemeine Kritik an Wirten und Bankiers als Hintergrund haben; biblische Stellen zur Aufnahme von Fremden lagen genügend vor. Vgl. hierzu Robert W I L L , Alsace Romane (1965) Abb. 108 und die Beschreibung dort S. 262. <?page no="35"?> Stadt und Pilger 35 Wechslern, ihren Komplizen, manchmal auch mit den Altarwächtern, mit denen sie die Gaben der Pilger teilten. Die Kritik des Autors verrät zugleich, daß Wirtshäuser, Wechselstuben und Märkte in Santiago offensichtlich florierten und dem lokalen Handwerk und Gewerbe einen goldenen Boden schufen 77 . Auch Erzbischof und Kanoniker profitierten von den Gaben, ihnen sowie dem Bau der Kirche kamen die Pilgeroblationen nach einem bestimmten Schlüssel zugute 78 . Welch stattliche Einnahmen man voraussetzen kann, zeigt die Neuorganisation des Domkapitels zu Beginn des 12. Jahrhunderts: Mit 72 Kanonikern dürfte es kaum von einem anderen Bischofs-[216/ 217]sitz des lateinischen Westens überflügelt worden sein 79 . Auch dies prägte das Bild einer Stadt. Der Bau der großen romanischen Kathedrale, die im 12. Jahrhundert vollendet wurde, entsprach weniger den Notwendigkeiten und Voraussetzungen der Stadt, sondern war mit den Emporen und Umgängen vor allem auf die großen Pilgermassen abgestellt 80 . Die Kunsthistoriker versuchen ja seit den Forschungen von Kingsley Porter und Emile Mâle diesen besonderen Typus von sogenannten „Pilgerkirchen“ zu bestimmen 81 . In Compostela wurde auch 77 Hinzuweisen ist hier auf die kostbar ausgestattete neu gebaute Kathedrale, vgl. beispielsweise die Angabe des Preises von einem kostbaren, aus Silber gefertigten Altarvorderteil im 9. Kapitel des Pilgerführers, V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 110; H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 153. 78 Kapitel 10 des Pilgerführers, V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 120-122; H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 159f. (vgl. die dort zitierte Literatur). Zur Verteilung der Pilgeroblationen vgl. außerdem die Neuordnung (wohl 1118), die in Hist. Comp. II 3, ed. F A L Q U E R E Y , wie Anm. 65, S. 223 dargelegt ist. - Zur Bedeutung von Pilgeroblationen nach französischen Beispielen vgl. bereits Georg S C H R E I B E R , Strukturwandel der Wallfahrt, in: D E R S ., Wallfahrt und Volkstum in Geschichte und Leben (1934), S. 1-183, S. 6f. und allgemein die in Anm. 74 genannten Arbeiten von Esther C O H E N sowie D I E S . , Roads and Pilgrimage. A Study in Economic Interaction, in: Studi Medievali 21 (1980), S. 321-341, die hauptsächlich Südwestfrankreich behandelt. 79 Zur Neuorganisation nach französischem Vorbild vgl. die Passage der Hist. Comp. I 20, ed. F A L Q U E R E Y wie Anm. 65, S. 47; vgl. allgemein R. A. F L E T C H E R , Saint James’s Catapult. The Life and Times of Diego Gelmírez (Oxford 1984), S. 163-191. Laut V O N E S , wie Anm. 67, S. 146, Anm. 57 war diese Reform nicht erst 1105, sondern vielleicht schon 1102 erfolgt. Berichtet wird dies im Zusammenhang mit der Erhebung von Compostelaner Kanonikern zu Bischöfen, und zugleich wird die Bedeutung der Apostelkirche herausgestrichen: Hist. Comp, I 81, ed. F A L Q U E R E Y wie Anm. 65, S. 127: „Illam nimirum ecclesiam super omnes Hispaniarum ecclesias in excellentia cleri, in personarum uenustate dignum erat coruscare, que totius Occidentis partes beati Iacobi Apostoli irradiabat“, vgl. Hist. Comp. I 82, S. 129 und 131: „O quanta et quam magnifica beati Apostoli clementia, qui filios suos tam gloriose tamque feliciter beatificando sublimat“. 80 Vgl. zu diesem Bau Serafín M O R A L E J O A L VA R E Z , „Ars sacra“ et sculpture romane monumentale: Le trésor et le chantier de Compostelle, in: Les Cahiers de St.-Michel de Cuxa 11 (1980), S. 189-238; D E R S ., Saint-Jacques de Compostelle. Les portails retrouvés de la cathédrale romane (Les dossiers de l’archéologie 20, 1977), S. 87-103. 81 Emile M Â L E , L’Art réligieux du XII e siècle en France (Paris 1922) und A. Kingsley P O R T E R , Romanesque Sculpture of the Pilgrimage Roads, 10 Bände (Boston 1923). Zur neueren Diskussion vgl. John W I L L I A M S , La arquitectura del camino de Santiago, in: <?page no="36"?> 36 Pilgerfahrten und Reiseberichte der laufende Unterhalt von Pilgern mitbestritten; so weiß die Historia Compostelana von den Klagen zu berichten, daß in der Winterszeit das Wachs der Pilger zur Beleuchtung der Kirche ausbliebe 82 . Da also die Gaben der Pilger auch dem Erzbischof und Domkapitel zugute kamen, konnte ihnen an größeren Mißständen, die weitere Pilger abschreckten, nicht gelegen sein: Diego Gelmírez organisierte als Bischof und Stadtherr auch Handel und Gewerbe: So ließ er beispielweise Preise für wichtige Gebrauchsgüter festsetzen und schrieb richtige Gewichte für Bankiers und Geldwechsler vor 83 . [217/ 218] In vielen Pilgerzentren war, wie wir vor allem aus den Untersuchungen von Esther Cohen wissen 84 , der Handel mit Pilgerzeichen heiß umstritten. In Compostela verkaufte man die Pilgermuschel als Pilgerzeichen; um 1200 brach ein Streit zwischen dem Erzbischof und den concheiros aus; die Muschelhändler zahlten schließlich dem Erzbischof eine Steuer auf ihre Läden 85 . Wenn man zu der zitierten Kritik der zeitgenössischen Quellen an Händlern, Wirten oder sonstigen Betrügern zurücklenkt, so fragt man sich: Gab es in Santiago de Compostela denn keine Hospize und Spitäler der kirchlichen Institutionen, die den Pilgern kostenlos oder gegen eine geringe Gabe Unterkunft und Verpflegung gewährten? Die bisher zitierten Quellen verzerren tatsächlich ein wenig die Perspektive, denn sie geißeln vor allem die Mißstände oder rühmen deren Überwindung. Gleichwohl sind auch für Compostela seit dem 10. Jahrhundert Stiftungen von Hospitälern belegt 86 ; Bischof Diego Gelmírez Compostellanum 29 (1984), S. 267-290. Vgl. auch Serafín M O R A L E J O , The Tomb of Alfonso Ansurez († 1093): Its Place and the Role of Sahagún in the Beginnings of Spanish Romanesque Sculpture, in: Santiago, Saint-Denis and Saint Peter. The Reception of the Roman Liturgy in Leon-Castile in 1080, hg. von Bernard F. R E I L L Y (New York 1985), S. 64- 100 (Auseinandersetzung mit Porters These zur romanischen Skulptur) und zuletzt Marcel D U R L I A T , La sculpture romane de la route de Saint-Jacques de Conques à Compostelle (Mont-de-Marsan 1990). Zu einzelnen Aspekten vgl. den in Anm. 51 zitierten Katalog. 82 Hist. Comp. III 14, ed. F A L Q U E R E Y , wie Anm. 65, S. 442: „In tempore etenim hyemis pauci peregrini beati Iacobi apostoli limina visitant, itineris difficultatem pertimescentes, et cera, quam afferunt, ecclesie illuminatione sufficere non potest“. 83 L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 65, I cap. 6, S. 97-105; vgl. L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 53, IV S. 189; P A S T O R D E T O G N E R I , Diego Gelmírez, wie Anm. 64, S. 115ff. und S. 121-123 mit Angabe der Parteiungen in Kathedralkapitel und Stadt. Vgl. weiterhin das von Kanonikern, „iudices“ und „cives“ mit königlicher Autorität erlassene Dekret zu Lebensmitteln und Gebrauchsgütern: Hist. Comp. III 33, ed. F A L Q U E R E Y , wie Anm. 65, S. 472-475; vgl. ferner V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., wie Anm. 55, I S. 389-392 (zu Unterkünften); V A L I Ñ A S A M P E D R O , wie Anm. 14, S. 49. 84 Vgl. Anm. 74. 85 V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., wie Anm. 55, I S. 129-137; C O H E N , In haec signa, wie Anm. 74, S. 197; S C H M U G G E , wie Anm. 7, S. 63. 86 V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., wie Anm. 55, II S. 379ff. Vgl. beispielsweise zum Hospital „inter turres“, das Bischof Sisnandus I. ( † ca. 921) gegründet haben soll: Hist. Comp., ed. F A L Q U E R E Y , wie Anm. 65, S. 11; vgl. Chr. Iriense, ed. Manuel Rubén G A R C Í A A L VA R E Z , in: Memorial Histórico-Español 50 (Madrid 1963), S. 112f. sowie L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 53, III Apénd. 33 S. 38. Vgl. L Ó P E Z A L S I N A , wie Anm. 53, S. 189. <?page no="37"?> Stadt und Pilger 37 dotierte schon vor seiner Erhebung 1098 ein Pilgerhospital in Santiago 87 . Aber im Vergleich mit den Spitälern am Weg nach Santiago war die Zahl in der Stadt Santiago vergleichsweise gering; und dies läßt - bei aller tendenziösen Berichterstattung der bisher zitierten Quellen - den Strukturwandel der Pilgerfahrten im hohen Mittelalter zumindest ansatzweise erkennen. Die Entwicklung des Pilgerns zu einem Massenphänomen war offensichtlich - unterstützt und begleitet durch allgemeine Tendenzen im Zusammenhang mit demographischen, politischen und sozialen Prozessen des 11. und 12. Jahrhunderts - so schnell und tiefgreifend verlaufen, daß neben die kirchlich geführten Spitäler eine kommerzielle Gastlichkeit trat oder sogar treten mußte. Anfangs bot man den Pilgern dort noch keine Mahlzeiten an. Die Quellen des 12. Jahrhunderts verraten jedoch, daß es in Compostela schon in dieser Zeit vereinzelt Wirte gab, die gegen Bezahlung für die Verköstigung ihrer Gäste sorgten 88 . Aber auch die kommerzielle Gastlichkeit löste nicht alle Versorgungs- und Unterbringungsprobleme, welche die immensen Pilgermassen schufen. Obwohl keine statistischen Rückschlüsse über die Zahl der Pilger in dieser Zeit möglich sind, so lassen die Quellen immerhin erkennen, daß diese in der Regel nicht lange blieben und schon nach [218/ 219] wenigen Tagen ihren Rückweg antraten 89 ; dies mag auch mit Engpässen in der Versorgung zusammenhängen. Die Stadt Santiago de Compostela hatte sich somit nicht nur um das „Apostelgrab“ formiert, wie die Topographie der frühen Zeit belegt, sondern wurde im hohen Mittelalter durch Pilgerverkehr und Pilgergewerbe zu einer blühenden Stadt; die Bedeutung auf Grund der dort von Pilgern verehrten Apostelreliquien sicherte Compostela auch eine wichtige Stellung im politischen Ranggefüge: Besonders unter Alfons VII. und Ferdinand II. avancierte die Stadt zum caput des leonesischen Reiches 90 . Insgesamt gesehen sind die Ein- 87 V Á Z Q U E Z D E P A R G A u. a., wie Anm. 55, II S. 381. Darüber hinaus dürfte auch die Nächtigung der Pilger in den Kirchen angenommen werden; belegt sind die wohl häufigen Nachtwachen in der Nähe des Apostelgrabes, vgl. die Predigt „Veneranda dies“ im I. Buch des Liber Sancti Iacobi, deutsch bei H E R B E R S , wie Anm. 69, besonders S. 61. 88 Vgl. die Beispiele im Pilgerführer: H E R B E R S , wie Anm, 69. S. 71-75. Vgl. allgemein auch S C H M U G G E , wie Anm. 7, S. 56 sowie die allgemeinen Abhandlungen von K E L L E N - B E N Z , wie Anm. 8, und P E Y E R , wie Anm. 8, S. 51-60. 89 Dies lassen teilweise die Mirakelgeschichten des Liber Sancti Iacobi (II. Buch) erkennen, ed. W H I T E H I L L , wie Anm. 55, S. 259-288: Der Aufbruch zur Rückreise erfolgt - falls erwähnt - nach Eintreffen des Wunders. Auch das 10. Kapitel des Pilgerführers suggeriert, daß die Verweildauer der Pilger in der Regel kurz war, V I E L L I A R D , wie Anm. 69, S. 120, H E R B E R S , wie Anm. 69, S. 160: einen Tag lang wird den armen Pilgern im Hospital nach ihrer Ankunft kostenlose Gastfreundschaft zugesagt („omnes enim peregrini pauperes, prima nocte post diem qua beati Jacobi altare adveniunt, in hospitali plenarium hospicium, amore Dei et apostoli suscipere debent“)! Vgl. allgemein auch Manuel C. D Í A Z Y D Í A Z , Santiago y el camino en la literatura del siglo XII, in: El Camino de Santiago, hg. von Serafín M O R A L E J O A L VA R E Z (Santiago de Compostela [1990]), S. 133-147, S. 144. Vgl. Anm. 124. 90 Vgl. die Belege hierzu bei L Ó P E Z F E R R E I R O , wie Anm. 53, IV Apénd. Nr. 62 S. 171f.: „Ego . . . Fernandus per multa experimenta et beneficia probavi, quod vere patronum Hispaniis divina clementia dederit beatissimum Iacobum, pro cuius corporis humatione <?page no="38"?> 38 Pilgerfahrten und Reiseberichte flüsse der Pilger auf die Topographie, später auf die Entwicklung spezifischer „Pilgergewerbe“ in Compostela im 12. Jahrhundert deutlich. Die Entstehung kommerzieller Gastlichkeit sowie die hier nur kurz berührten Konflikte zwischen Stadtherrn und lokalem Handwerk und Gewerbe sind weitere Aspekte, die das Verhältnis von Pilgern und Stadt in Compostela während des 12. Jahrhunderts charakterisieren. Diese Streitigkeiten spiegeln ein zentrales Thema der Stadtgeschichte: Die Auseinandersetzungen zwischen Stadtherr und Bürgertum, die auch deshalb besonders kompliziert waren, weil der Stadtherr zugleich als Bischof die Oberaufsicht über die verehrten Reliquien ausübte. III. Im Falle von Rom und Santiago war jeweils noch der oberste Herr über das Heiligtum auch mit der Herrschaft der Stadt betraut - dies gilt zumindest für die hier behandelte Zeit. Dies war in den spätmittelalterlichen Städten [219/ 220] vielfach anders. Das dritte Beispiel führt nach Aachen, eines der wichtigsten Pilgerzentren des Reiches 91 . Auch hier ging die Bedeutung als regni nostri caput habetur plurimum venerabilis apud omnes ecclesia Compostellana, . . . eam . . . exaltare in ea precipue regni mei parte, que specialius secundum ecclesiasticam iurisdictionem prestante ipsius Apostoli Ecclesie subjecta esse dinoscitur“; Urkunde von 1168 April 9: „amore apostoli Iacobi capitis et patroni nostri . . . “, ed. L Ó P E Z F E R R E I - R O , wie Anm. 53, IV Apénd. Nr. 38 S. 94-96. Die Bezeichnung „caput“ verweist - wenn man andere Quellenstellen vergleicht - in der Regel auf die Spitzenstellung von Kirchen in der Hierarchie oder auch auf Krönungsorte von Herrschern und erscheint auch im Zusammenhang mit dem weiteren Beispiel Aachen. Vgl. allgemein zu „caput“ die Quellenbelege bei Manfred G R O T E N , Die Urkunde Karls des Großen für St.-Denis von 813 (D. 286), eine Fälschung Abt Sugers? , in: Historisches Jahrbuch 108 (1988), S. 1-36, S. 28f.; vgl. unten Anm. 95. Eine vergleichende Untersuchung mit anderen als „caput“ bezeichneten Städten unter Berücksichtigung der dort gepflegten Kulte wäre wünschenswert. 91 Vgl. zur Geschichte Aachens Dietmar F L A C H , Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes von der Karolingerzeit bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 46, Göttingen 1976), besonders S. 340-385, der die Kontinuität seit der Karolingerzeit und die Entwicklung der Stadt aus dem karolingischen „vicus“ hervorhebt. Zusammenfassender Überblick bei Edith E N N E N , Aachen im Mittelalter, Sitz des Reiches - Ziel der Wallfahrt - Werk der Bürger, Nachdruck in: D I E S ., Gesammelte Abhandlungen zum europäischen Städtewesen und zur rheinischen Geschichte, II, hg. von Dietrich H Ö R O L D T und Franz I R - S I G L E R , Bonn 1987, S. 3-27 und Dieter P. J. W Y N A N D S , Kleine Geschichte Aachens (Aachen 2 1986). Vgl. weiterhin die von E. M E U T H E N , Aachen, in: Lexikon des Mittelalters I (1980), S. 3 genannte Literatur. - Auszüge aus den wichtigsten Quellen bei Walter K A E M - M E R E R , Aachener Quellentexte (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Aachen 1, 1980), die Aachener Urkunden bei Erich M E U T H E N , Aachener Urkunden 1101-1250 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 58, Bonn 1972) sowie bei Wilhelm M U M M E N H O F F , Regesten der Reichsstadt Aachen. I: 1251-1300 und II: 1301-1350 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 47, Bonn-Köln 1937-1961). Die epigraphischen Quellen jetzt bei Helga G I E R S I E P E N , Die Inschriften des Aachener Doms (Die Deutschen Inschriften 31, Wiesbaden 1992), S. XXIIIf. einleitend zu Reliquien und Pilgerfahrten. <?page no="39"?> Stadt und Pilger 39 Pilgerstätte angeblich bis in das frühe Mittelalter zurück 92 . Die quellenmäßig faßbare Stadtwerdung Aachens nach der Zeit als karolingische Pfalz beginnt mit einem Privileg Barbarossas vom 8. Januar 1166, dem man einen angeblich auf Karl den Großen zurückgehenden Freiheitsbrief vorgelegt hatte 93 . Nach dieser Urkunde für Stift und Stadt wurden alle Bewohner Aachens frei; ein gesondertes Privileg vom folgenden Tag gewährte den Aachener Kaufleuten das Münz- und Marktrecht, Zollfreiheit und das Recht, zwei Jahrmärkte abzuhalten 94 . Gefördert wurde die Stadtwerdung [220/ 221] und Bedeutung Aachens, wie auch das Barbarossaprivileg verdeutlicht, durch die starke Stellung des Stiftes. Die besondere Situation Aachens als Sitz des Reiches, unterstrichen durch den Besitz von wertvollen Reliquien, machte die Stadt der Stellung von Santiago de Compostela im leonesischen Reich des 12. Jahrhunderts durchaus vergleichbar 95 . Eine Differenzierung von Stift und Stadt ist verstärkt seit dem 13. Jahrhundert erkennbar 96 . Aus der königlichen Stadt wurde eine Reichsstadt. Die herrschaftlichen Elemente der Stadtverfassung und ihre Durchsetzung mit 92 Vgl. hierzu außer dem in der vorigen Anmerkung genannten Schrifttum I. K R E B S , Zur Geschichte der Heiligtumsfahrten (Köln 1881); Stephan B E I S S E L , Die Aachenfahrt. Verehrung der Aachener Heiligtümer seit den Tagen Karls des Großen bis in unsere Zeit (Freiburg i. Br. 1902); Heinrich S C H I F F E R S , Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt (Köln 1930); D E R S ., Der Reliquienschatz Karls des Großen und die Anfänge der Aachenfahrt (Aachen 1951); Birgit L E R M E N / Dieter P. J. W Y N A N D S , Die Aachenfahrt in Geschichte und Literatur (Aachen 1986); Dieter P. J. W Y N A N D S , Zur Geschichte der Aachener Heiligtumsfahrt (Aachen 1986); D E R S ., Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, 41, Aachen 1986), S. 41-106. 93 DFI. 502, ed. Heinrich A P P E L T , Rainer Maria H E R K E N R A T H und Walter K O C H , MGH DD X, 2 (1979), S. 430-434, zum Hintergrund vgl. M E U T H E N , Aachener Urkunden (wie Anm. 91), Nr. 1-2. Dort auch zur Begründung der Aachenfahrt angeblich durch Karl den Großen. D E R S ., Karl der Große - Barbarossa - Aachen. Zur Interpretation des Karlsprivilegs für Aachen, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, IV: Das Nachleben, hg. von Wolfgang B R A U N F E L S und Percy Ernst S C H R A M M (Düsseldorf 1967), S. 54-76 mit Unterstreichung des Privilegs als Ausdruck der beanspruchten Rechte einer Hauptstadt (besonders S. 61ff.). Vgl. zur Interpretation auch Bernhard D I E S T E L K A M P , Staufische Privilegien für Städte am Niederrhein, in: Königtum und Reichsgewalt am Niederrhein, hg. von K. F L I N K und W. J A N S S E N (Klever Archiv 4, Kleve 1983), S. 103-144, S. 112- 123, der die Verknüpfung von Stadt und Stift hervorhebt. Vgl. zur Kritik unten Anm. 144. - Die Stoßrichtung gegen Mainz hebt Manfred G R O T E N , Studien zum Aachener Karlssiegel und zum gefälschten Dekret Karls des Großen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 93 (1986), S. 5-30 hervor. 94 DFI. 503, wie Anm. 93, S. 434f.; M E U T H E N , Aachener Urkunden, wie Anm. 91, Nr. 3. 95 Zu Aachen, St.-Denis und Westminster vgl. Jürgen P E T E R S O H N , Saint-Denis - Westminster - Aachen. Die Karls-Translation von 1165 und ihre Vorbilder, in: Deutsches Archiv 31 (1975), S. 420-454; dort auch zur Stellung dieser Orte in den jeweiligen Herrschaftsverbänden als „caput“. Vgl. allgemein zu „caput“ oben Anm. 90 mit der zitierten Abhandlung von G R O T E N sowie allgemein zur besonderen Stellung Aachens auch E N N E N , Aachen, wie Anm. 91, S. 4f. und 9f. 96 E N N E N , Aachen, wie Anm. 91, S. 22. Noch im 12. Jh. ist deutlich, wie sehr das Stift auch hoheitliche Aufgaben wahrnahm, vgl. F L A C H , wie Anm. 91, S. 356. <?page no="40"?> 40 Pilgerfahrten und Reiseberichte genossenschaftlichen Elementen hat Flach genauer untersucht 97 . Bei der Ausbildung der Ratsverfassung im 13. Jahrhundert 98 sind unterschiedliche Interessen von Stift und Bürgerschaft erkennbar. Das Stadtregiment der Reichsstadt blieb bis 1450 in der Hand des sogenannten Erbrates, bis sich die Gaffeln, die Zünfte - im sogenannten Gaffelbrief (24. November 1450) verbrieft -, politisches Mitspracherecht erkämpften 99 . Die geistlichen Einrichtungen der Stadt bewahrten ihre Sonderstellung in Immunitäten, besonders das aus dem Klerus der Pfalzkapelle hervorgegangene Marienstift 100 . Die Mitglieder dieses Stiftes versahen den Gottesdienst in der Kapelle Karls des Großen. Zum Schatz gehörten die wertvollen Reliquien, deren Besitz auf die Zeit des großen Karolingers zurückgeführt wurde. Das Ansehen Aachens nährte sich also auch noch im späten Mittelalter - verstärkt seit der von Barbarossa betriebenen Kanonisation 1165 101 - vom Ansehen [221/ 222] Karls 102 . Dessen Verehrung und der in Aachen vorhandene Reliquienschatz wirkten zusammen; hinzu trat das gotische Gnadenbild, das den in Aachen gepflegten Marienkult intensivierte. Um 1215 wurde der kostbare Karlsschrein 103 vollendet; zwischen 1220 und 1238 fertigte man den sogenannten Marienschrein 104 an, der eine karolingische Reliquienlade ersetzen und die wichtigen Reliquien beherbergen sollte. 97 F L A C H , wie Anm. 91, S. 280ff. 98 Zusammenfassend E N N E N , Aachen, wie Anm. 91, S. 23-27. 99 K A E M M E R E R , wie Anm. 91, S. 256-262; vgl. die Interpretation von Erich M E U T H E N , Der gesellschaftliche Hintergrund der Aachener Verfassungskämpfe an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 74/ 75 (1962-1963), S. 299-692. 100 Zur Frühzeit vgl. Ludwig F A L K E N S T E I N , Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N. F. Heft 3, Paderborn 1981). Zu den Kanonikern des Aachener Marienstiftes, insbesondere zur personellen Zusammensetzung vgl. die nur im Teildruck veröffentlichte Arbeit von Peter O F F E R G E L D , Die persönliche Zusammensetzung des alten Aachener Stiftskapitels bis 1614 (Diss. Aachen 1974); vgl. D E R S ., Lebensnormen und Lebensformen der Kanoniker des Aachener Marienstifts. Zur Verfassungs- und Personalgeschichte des Aachener Stiftskapitels in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 92 (1985), S. 75-101. 101 Odilo E N G E L S , Des Reiches heiliger Gründer. Die Kanonisation Karls des Großen und ihre Beweggründe, in: Karl der Große und sein Schrein in Aachen. Eine Festschrift, hg. von H. M Ü L L E J A N S (Aachen-Mönchengladbach 1988), S. 37-46 sowie Jürgen P E T E R S O H N , Kaisertum und Kultakt in der Stauferzeit, in: Politik und Heiligenverehrung, wie Anm. 52, S. 101-148. 102 Vgl. die Hinweise auf die Beschaffung der Reliquien durch Karl den Großen in dem in Anm. 93 zitierten gefälschten Karlsprivileg, das in die Friedrichurkunde inseriert ist. 103 Vgl. hierzu die Beiträge des Sammelbandes: Karl der Große und sein Schrein, wie Anm. 101, sowie die Inschriften und Abbildungen bei G I E R S I E P E N , wie Anm. 91, S. 29-36. 104 Vgl. neben den in Anm. 91f. zitierten Werken zur Aachenfahrt die Inschriften und Abbildungen bei G I E R S I E P E N , wie Anm. 91, S. 37-39. - Zu beiden Schreinen vgl. beispielsweise Ernst Günther G R I M M E , Der Aachener Domschatz (Aachener Kunstblätter 42, Düsseldorf 1972, 2 1973), S. 71ff.; W Y N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 60f. <?page no="41"?> Stadt und Pilger 41 Zu den vier großen Heiligtümern Aachens zählte das Marienkleid, Windeln und Lendentuch Christi sowie das Enthauptungstuch des hl. Johannes 105 . Schon im 13. Jahrhundert könnten regelmäßige Heiltumsweisungen, ein feierliches Zeigen der Reliquien, eingesetzt haben, jedoch sind die Nachrichten hierzu unsicher 106 . Im 14. Jahrhundert, der erste relativ sichere Beleg stammt von 1349 107 , verfiel man auf einen Siebenjahresrhythmus der „Heiltumsweisungen“ und förderte damit, ähnlich wie bei den römischen Heiligen Jahren, eine Form periodischen Pilgerns, die Schmugge als „geniale Erfindung“ bezeichnet hat 108 . Der Andrang an Pilgern und Geißlern soll 1349 so groß gewesen sein, daß Karl IV. das Ende der Heiltumsfahrt abwarten mußte, bevor er sich zur Krönung nach Aachen begab 109 . Wenn nicht schon vorher, so wurde Aachen mit den siebenjährigen Heiltumsfahrten zum wichtigsten deutschen Pilgerzentrum, des-[222/ 223]sen Einzugsbereich bis nach Ungarn reichte 110 . Einen Plenarablaß wie in Rom konnte man in Aachen zwar nicht erwerben, aber schon Innozenz IV. hatte 1248 dem Aachener Münster einen vierzigtägigen Ablaß für den Besuch der Kirche am Kirchweihfest (17. Juli) zugesagt 111 . Der Siebenjahresrhytmus und seine Bezüge zum alttestamentarischen Jobel- und 105 Vgl. W Y N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 62f. mit den entsprechenden Nachweisen. 106 W Y N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 64. 107 Gegen die frühen Belege aus dem 13. Jh., die noch S C H I F F E R S , Reliquienschatz, wie Anm. 92, S. 63-70 heranzog, vgl. M E U T H E N , Aachener Urkunden, wie Anm. 91, Vorbemerkung zu Nr. 124 (S. 349f.) und zu Nr. 154 (S. 391f.). Zur Heiltumszeigung 1349 vgl. unten Anm. 109. 108 Ludwig S C H M U G G E , Die Pilger, in: Unterwegssein im Spätmittelalter (Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 1, Berlin 1985), S. 17-47, S. 21; zu den verschiedenen Formen periodischen Pilgerns vgl. jetzt auch Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G , Die Regelmäßigkeit mittelalterlicher Wallfahrt, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit (Wien 1992), S. 81-94, zu Rom S. 89-91, zu Aachen S. 93. 109 B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 136 und 141. - Zum Aufenthalt Karls IV. vgl. bereits J. F. B Ö H M E R / Alfons H U B E R , Die Regesten des Kaiserreichs unter Karl IV. 1346-1378 (Regesta Imperii, Innsbruck 1877) Nr. 1063; MGH Const. IX Nr. 436, S. 337. Das Abwarten Karls IV. in Bonn wegen der Menge „peregrinorum flagellancium“ in Aachen ist vor allem in der Notiz des Mathias von Neuenburg, ed. Adolf H O F M E I S T E R , MGH SS r. G. N. S. 4 (1924-1940), S. 280 und 434 belegt. Vgl. zum Hintergrund der Reise Karls IV. nach Aachen: H.-P. H I L G E R , Der Weg nach Aachen, in: Kaiser Karl IV., hg. von Ferdinand S E I B T (München 1978), S. 344-356 sowie Thomas R. K R A U S , Studien zur Vorgeschichte der Krönung Karls IV. in Aachen. Unbekannte Quellen aus dem Stadtarchiv Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 88 (1981), S. 48-93, S. 62-65 (mit weiteren Belegen). 110 Elisabeth T H O E M M E S , Die Wallfahrt der Ungarn an den Rhein (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen 4, Aachen 1937); vgl. allgemein zum Einzugsbereich S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 27-58 und W Y N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 72-82, besonders S. 76-78. Vgl. auch Anm 135. Es würde zu weit führen, allein die bei M U M M E N H O F F , wie Anm. 91, gebotenen Belege hier alle im einzelnen zu würdigen. 111 M E U T H E N , Aachener Urkunden, wie Anm. 91, Nr. 154, S. 391f. <?page no="42"?> 42 Pilgerfahrten und Reiseberichte Sabbatjahr spielten bei der Einführung eine wichtige Rolle. Die Zahlensymbolik der Zahl Sieben wurde sogar noch weiter fortgeführt: „Im siebten Monat, am Tag der Siebenbrüder, dem 10. Juli, begann die Reliquienzeigung, sie dauerte sieben Tage vor und sieben Tage nach dem Kirchweihfest des Münsters, an sieben Stellen des Turmes und der Verbindungsbrücke zum Oktogon wurde ursprünglich das Heiligtum gezeigt, die vier ‚Großen Heiligtümer‘ bildeten mit den sogenannten drei ‚Kleinen Heiligtümern‘, nämlich dem Geißelstrick und Gürtel des Herrn sowie dem Mariengürtel, die Hauptheiligtümer in der Siebenzahl, die Aachenfahrer pflegten vielfach sieben verschiedene Wallfahrtsorte aufzusuchen“ 112 . Tausende von Pilgern kamen in den Jahren der Heiligtumsfahrt in die Stadt. 1496 will man 142.000 gezählt haben 113 . An den Toren konnten die Pilger die sogenannten Aachenhörner kaufen, die während der Weisung der Heiltümer geblasen wurden. Andere Pilger brachten die sogenannten Aachenspiegel mit oder kauften sie in der Stadt, um die Gnade der Heiligtümer einzufangen 114 , ein Zeichen für die im Spätmittelalter anhaltende Bedeutung von materialisierter Religion. Das periodische Pilgern, das auch für die Romfahrten seit dem ersten Jubeljahr 1300 immer üblicher wurde 115 , schuf für die jeweiligen Städte eine besondere Situation. Einerseits wurde der Pilgerandrang kalkulierbarer, andererseits war die nur relativ seltene und kurze Anwesenheit von Pilgermassen einer dauerhaften Infrastruktur abträglich 116 . War das Pilgern schon an sich eine Saisonangelegenheit, denn die Wintermonate waren in der Regel zum Reisen ungeeignet, so spitzte sich die Situation durch einzelne hervorgehobene Jahre oder Wochen zu. Von der bedrückenden Enge [223/ 224] berichtet im Jahr 1510 Philipp von Vigneulles aus Metz: „Um die Heiligtümer zu sehen, war eine so ungeheure Menschenmenge nach Aachen gekommen, daß solche, die nie da gewesen sind, es kaum glauben werden. Jeder suchte einen möglichst guten Platz zu erlangen. Alle Häuser um die Kirche waren mit Menschen überfüllt und hölzerne Gerüste an denselben angebaut . . . Für unser Geld ließ man uns in eines dieser Häuser ein, von wo wir die Reliquien gut sehen konnten . . . “ 117 . 112 S C H I F F E R S , Reliquienschatz, wie Anm. 92, S. 74; W Y N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 78-82. 113 Vgl. B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 121 und 131. 114 Zu den Aachenspiegeln vgl. Kurt K Ö S T E R , Gutenberg in Straßburg (Mainz 1973); D E R S ., Mittelalterliche Pilgerzeichen und Wallfahrtsdevotionalien, in: Anton L E G N E R (Hg.), Rhein und Maas, Kunst und Kultur 800-1400 (Köln 1972), I S. 146-149; D E R S ., Mittelalterliche Pilgerzeichen, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen (München 1984), S. 203-223, S. 204, 218, zu den Aachenhörnern S. 220 (vgl. auch S. 222f. weitere Literatur). 115 Zur Reduzierung der Intervalle vgl. S C H I M M E L P F E N N I G , wie Anm. 108, S. 90f. 116 So beispielsweise auch I R S I G L E R , wie Anm. 6, S. 94f. zu Aachen in bezug auf die Wege im Rheinland. 117 Philipp von Vineulles, Gedenkbuch des Metzer Bürgers Philippe von Vigneulles aus den Jahren 1471-1522, hg. von H. M I C H E L A N T (Bibliothek des Litterarischen Vereins <?page no="43"?> Stadt und Pilger 43 Welche Konsequenzen hatte ein solcher temporärer Massenandrang? Die Organe der Stadt mußten versuchen, lenkend einzugreifen, und so ließ man beispielsweise 1453 wegen der Menge der Leute die Tore schließen. Neue Pilger dürften erst wieder in die Stadt, wenn andere abgezogen seien 118 . Auch die Reliquienweisung vom Turm und von der Verbindungsbrücke zur Kuppel außerhalb des Kirchengebäudes war eine Reaktion auf den starken Andrang; sie führte zugleich dazu, daß die im Münsterbereich gelegenen Plätze in der Topographie der Stadt ein ganz neues Gewicht erhielten 119 . Der Bau von Häusern in der Nähe mit guter Sicht auf das Geschehen sowie die Möglichkeiten zum Aufstellen von Gerüsten bestimmten von nun an auch das Stadtbild; teilweise wurden zum Schauen Dächer abgedeckt, überfüllte Häuser brachen gelegentlich zusammen 120 . Weitere Konsequenzen waren für Beherbergung und Verköstigung gegeben. Schon der zitierte Metzer Bürger Philipp fand bei Privatleuten Quartier 121 und die Chronik von Noppius von 1632 (1634) berichtet von einer Art Ehrenpflicht der Bürger, zur Zeit der Aachenfahrten Pilger zu beherbergen 122 . Spitäler gab es zwar auch, das Blasiushospital und ein weiteres auf dem Radermarkt sind belegt 123 . An diesen Orten ist sicher von Notlagern während der wenigen kritischen Tage auszugehen. Ein dem hl. Jakobus gewidmetes Spital könnte darauf verweisen, daß Aachen nicht nur Ziel-, [224/ 225] sondern auch Durchgangsort für andere Pilger war. Die gleichwohl bestehenden Engpässe in der Versorgung belegen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts. Demnach nächtigten die aus Ungarn angereisten Pilger zumindest unterwegs in Zelten 124 . Die Notiz eines Nürnberger Spitals aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts besagt, daß den Ungarn, wenn sie alle sieben Jahre nach Aachen zögen, kein 24, Stuttgart 1852), S. 175: „ . . . pour lesquelles à veoir se trowait sy grant e sy horible multitude de puple, que c’est chose incrédible à gens qui n’y furent jamais. Et print ung chacun sa plaice du mieulx qu’il powoit, car touttes les maixons entour de la dite église estoient sy très chairgées de puple et sy très fort tançonées de grosse pièces de mairiens qu c’estoit merveille; et nous fumes mis pour nostre airgent sus l’une de ces maixons et asses en bonne veue pour veoir les cictes relicques . . . “ 118 Vgl. B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 121. 119 Vgl. zur frühen Topographie den Plan bei F L A C H , wie Anm. 91, Beilage. Zur Zeigung der Reliquien vom Turm aus vgl. den vielfach dargestellten Stich von A. Hogenberg, 1632 (abgebildet beispielsweise bei W Y N A N D S , wie Anm. 91, S. 47). 120 Vgl. einige Bemerkungen zu den städtebaulichen Konsequenzen der Heiltumsfahrten bei S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 124-128. 121 Philipp von Vigneulles, wie Anm. 117, S. 174 zur langen und aufwendigen Quartiersuche. 122 Johannes Noppius, Aacher Chronik (Köln 1634), Buch I cap. 37 S. 138. Die Ausgabe von 1632 war mir nicht zugänglich. 123 Zum Spitalwesen in der frühen Neuzeit vgl. Arnold L A S S O T T A , Pilger- und Fremdenherbergen und ihre Gäste. Zu einer besonderen Form des Hospitals vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen, wie Anm. 114, S. 128-142, besonders S. 131. 124 L A S S O T T A , wie Anm. 123, S. 130 mit Anm. 25-27; S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 205f.; vgl. allgemein zur Nächtigung im Freien P E Y E R , wie Anm. 8, S. 53f. Ebenso wie in Compostela (vgl. Anm. 89) ist auch in Aachen nur von einer kurzen Verweildauer auszugehen. <?page no="44"?> 44 Pilgerfahrten und Reiseberichte Bett, sondern nur die pfrundt im Hof gegeben werden solle 125 . Wahrscheinlich übernachteten viele Aachenpilger auch am Zielort vor den zahlreichen Toren im Freien und kamen nur tagsüber in die Stadt; die Jahreszeit um den 17. Juli begünstigte diese Form der Nächtigung. Hierfür standen die großen unbebauten Flächen zwischen den beiden Mauerringen zur Verfügung, die zum Lagern genutzt werden konnten 126 . Die Weisung der Heiltümer war streng ritualisiert. Wie wichtig den Gläubigen der visuelle Kontakt war, zeigen die Aachenspiegel, mit denen man diese Gnade gleichsam „einfangen“ wollte 127 . Die Anmietung eines Platzes in einem Hause, von dem man die Reliquien gut sehen konnte, verzeichnet der schon zitierte Metzer Bürger Philipp von Vigneulles. Der Mietwert der Häuser in „Sichtnähe“ stieg sicher in den Jahren der Heiltumsfahrt, so soll ein Haus auf dem Katschhof im Jahr 1461, ein Jahr der Heiltumsfahrt, für den außergewöhnlichen Preis von 26 Gulden vermietet worden sein. Diese und andere Folgen für das städtische Leben in Zeiten eines besonders großen Menschenandrangs sind kein spezifisch mittelalterliches Problem und leicht vorstellbar, wenn man die geschätzte Zahl von etwa 10.000 Einwohnern zu 142.000 Pilgern in Bezug setzt 128 . Erst aus dem 17. Jahrhundert wissen wir, daß bestimmte Plätze der Stadt traditionell für bestimmte Nationen vorgesehen waren 129 . Zwar war der Pilgerbesuch zur Verehrung der Gottesmutter oder auch gelegentlich Karls des Großen in Aachen kontinuierlich, er steigerte sich aber in den Jahren der Heiligtumsfahrt fast dramatisch und förderte durch weitere Verbreitung auch den kontinuierlich bestehenden Pilgerverkehr. In der Mitte des 14. Jahrhunderts beklagten die Kanoniker die starken Belastungen und sprachen 1350 sogar von einem das ganze Jahr über währenden [225/ 226] Pilgerbesuch. Dies war der Grund, um eine Erhöhung ihrer Einkünfte zu erbitten 130 . Die Extremsituationen des Massenandranges konnten sogar direkte Folgen für das Stadtregiment haben. So schlichen 1429 als Pilger verkleidete Soldaten ein, die anschließend die Tore öffneten, viele Ritter einließen und dem eben 125 L A S S O T T A , wie Anm. 123, S. 130 mit dem Nachweis in Anm. 26. 126 Dies lassen beispielsweise Stadtansichten wie diejenigen von Merian erkennen. 127 Vgl. hierzu K Ö S T E R , Mittelalterliche Pilgerzeichen, wie Anm. 114, sowie die weitere in Anm. 114 zitierte Literatur. 128 So angeblich die Zahl der Pilger an einem Tag im Jahre 1496, vgl. B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 121. Die Schätzung der Aachener Bevölkerung am Ende des Mittelalters etwa bei Edith E N N E N , Die europäische Stadt des Mittelalters (Göttingen 1972, 3 1979) S. 227. 129 Vgl. S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 237f. 130 M U M M E N H O F F , wie Anm. 91, II Nr. 879 vom 6. August 1350: „quod in ipsa Aquensi ecclesia Dei omnipotentis necnon beatissime Marie eius matris et virginis gloriose gracia speciali Christifideles illuc venientes et puro corde postulantes votorum suorum affectus inter cunctas orbis ecclesias Christiani cum peccatorum indulgenciis et remissionibus specialius consequuntur et ob hoc ad hanc ecclesiam sic famosam innumerabilium Christi fidelium continuus per totum anni circulum est concursus . . . “ Offensichtlich war nach 1349 eine größere Bewegung ausgelöst worden, neben der der kontinuierliche Pilgerbetrieb bestehen blieb; zu den geforderten Einkünften in Sinzig vgl. auch ibid. Nr. 881 und 884. Zu Kosten und Entlohnung allgemein auch B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 130 mit einem Beleg von 1376. <?page no="45"?> Stadt und Pilger 45 abgesetzten Rat wieder zur Gewalt verhalfen 131 . Im Zusammenhang mit dem Kirchweihfest am 17. Juli wurde ein großer Jahrmarkt abgehalten, eine Urkunde von 1426 weiß von einem Vertrag über die Errichtung von 32 Verkaufsbuden für die Zeit der Heiligtumsfahrt auf dem Münsterkirchof zu berichten 132 . Neben besonderen Speisen wie den Aachener Printen wurden dort Devotionalien und Pilgerzeichen feilgeboten 133 . Der große kurzfristige Andrang in den Jahren der Heiligtumsfahrt führte sogar teilweise zu gewissen Lockerungen der sonst strengen Zunftvorschriften 134 . Aber nicht nur das örtliche Gewerbe, sondern auch der Fernhandel war mit den Pilgerfahrten nach Aachen verbunden: Der große Einzugsbereich, aus dem die Aachenpilger stammten, entsprach auch den Hauptrichtungen des rheinischen Handels 135 ; die Kombination von Handels- und Pilgerreise dürfte häufig gewesen sein 136 . Und schließlich sollte [226/ 227] wenigstens kurz erwähnt werden, daß die Verbindung von Pilger- und Badereise - die im späten Mittelalter langsam zunahm 137 - in Aachen auf ideale Weise möglich war; schon 1442 notierte ein Ungenannter anläßlich der 131 B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 137 mit Belegen. Die Pilgerkleidung als Tarnung ist durch das ganze Mittelalter hindurch belegt und insofern hier ein „alter Trick“, vgl. einige Beispiele bei Ludwig S C H M U G G E , Der falsche Pilger, in: Fälschungen im Mittelalter. V. Frömmigkeit und Fälschung. Realienfälschungen (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 33, V, Hannover 1988), S. 475-484. 132 B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 128. 133 Vgl. zu den Pilgerzeichen Anm. 114 und 126. 134 Vgl. zu den Aachenspiegeln und zur Spiegelmacherzunft die Belege bei S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 238f. Allgemein zu den wirtschaftlichen Impulsen für Aachen durch den Pilgerverkehr vgl. E N N E N , Aachen im Mittelalter, wie Anm. 91, S. 15. 135 Vgl. hierzu die Karte zur Herkunft der Aachenpilger auf der Basis der Forschungen von M U M M E N H O F F in: Rhein und Maas, wie Anm. 114, S. 145 Nr. VIII m; Harry K Ü H N E L , Integrative Aspekte der Pilgerfahrten, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. von Ferdinand S E I B T und Winfried E B E R H A R D (Stuttgart 1987), S. 496-509, S. 499. Ähnliches läßt sich übrigens bei den Lübecker Testamenten feststellen, dort aufgetragene Pilgerfahrten zu bestimmten Pilgerorten entsprachen den Hauptrichtungen des Lübecker Handels, vgl. Norbert O H L E R , Zur Seligkeit und zum Troste meiner Seele. Lübecker unterwegs zu mittelalterlichen Wallfahrtsstätten, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 83 (1983), S. 83-103. 136 Die häufige Praxis läßt z. B. das Verbot vermuten, bei Strafpilgerfahrten beides miteinander zu kombinieren, vgl. L. Th. M A E S , Mittelalterliche Strafwallfahrten nach Santiago de Compostela und unsere Liebe Frau von Finisterra, in: Festschrift G. Kisch (Stuttgart 1955), S. 99-118, S. 113. Weitere Beispiele bei H E R B E R S , wie Anm. 6, S. 9. Vgl. zu Aachen auch S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 215f. 137 Vgl. beispielsweise den Bericht des Hans von Waldheym, ed. F. E. W E L T I (Bern 1925), der sich nach einer Pilgerreise in Baden im Aargau kurieren ließ, vgl. zu seinem Bericht R Ö C K E L E I N / W E N D L I N G , wie Anm. 6, S. 92-96 und Werner P A R AV I C I N I , Hans von Waltheym, pèlerin et voyageur, in: Provence historique 41 (1991), S. 433-463. Zu Badereisen im späten Mittelalter vgl. künftig Birgit S T U D T , Badereisen. Soziale Funktion von Bädern und Badereisen im Mittelalter, in: Spiel, Sport und Kurzweil in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Peter J O H A N E K (erscheint in: Vorträge und Forschungen, Sigmaringen). <?page no="46"?> 46 Pilgerfahrten und Reiseberichte Krönung Friedrichs III. über Aachen: . . . ist ain grosse stat und sind vill warmer pad da, da die pilgram inen paden, wan si dahin kommen. 138 Neben diesen bisher nur kurz skizzierten Folgen des Pilgerverkehrs im topographischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich, deren Besonderheiten vor allem auf das „periodische Pilgern“ im späten Mittelalter zurückzuführen sind, ist noch kurz ein verfassungsmäßiger Aspekt zu erwähnen. Das Zeremoniell der Öffnung und Schließung des Schreins spiegelt auf eindrucksvolle Weise das Zusammenwirken - oder besser gesagt: die gegenseitige Kontrolle - von Stadt und Kapitel. Das noch heute praktizierte Konkustodienrecht legt hiervon Zeugnis ab. Bei der Öffnung und Schließung des Marienschreins sind Vertreter der Stadt zugegen. Wenn der vom Kapitel beauftragte Goldschmied die vom Schrein ausgehobene Platte wieder einsetzt, ein neues Vorhängeschloß anhängt und dessen Öffnung mit Blei ausgießt, erhält der Erste Bürgermeister den unteren Teil mit Schlüsselbart, das Kapitel das obere Ende des Schlüssels. Schon im Mittelalter galt dieses Ritual in Grundzügen 139 . Schon bei der Öffnung des Schreines am 10. Juli waren städtische Vertreter zugegen, der Schmied war vor Kapitel und Rat vereidigt worden. Städtische Wächter bliesen nach der Entnahme der Reliquien die sogenannte „Freiheit“ bis zum nächsten Abend aus, wegen kleiner Vergehen Verurteilte durften sich während dieser Zeit ungehindert in der Stadt aufhalten 140 . Auch bei der Schließung des Schreins waren städtische Vertreter anwesend. Die Mitwirkung des Rates war umkämpft, wie ein Streit zeigt, der 1419 entbrannte. Der hölzerne Kasten, der den Schrein umgab, war in diesem Jahr so durchlöchert, daß der Rat die Anfertigung eines neuen Behältnisses aus Kupfer vorschlug; bei Öffnung und Schließung sollte das Kapitel [227/ 228] außerdem Bürgermeister und Ratsherren beiziehen. Das Kapitel weigerte sich, wahrscheinlich, weil es einen zunehmenden Einfluß der Stadt auf den Reliquienbesitz fürchtete. Ein Vergleich, den der Rat am 3. Januar 1424 vorschlug, fruchtete nichts; das Kapitel zog mit den Reliquien aus der Stadt und provozierte dadurch so sehr den Unmut der Bevölkerung, daß sich die Bürgerschaft bei benachbarten Städten und Herren beklagte. Am 13. Juni 1425 entschied schließlich Herzog Adolf von Jülich und Berg, das Kapitel müsse den Wünschen der Stadt entsprechen, Arbeiter in Anwesenheit von Bürgermeister und Räten ver- 138 Krönungsbericht zu Aachen am 17. Juni 1442, ed. Hermann H E R R E und Ludwig Q U I D - D E (Deutsche Reichtagsakten unter Friedrich III., XIV, Stuttgart 1928) S. 195; vgl. S C H I F - F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 213-215 mit weiteren Quellenbelegen sowie allgemein E N N E N , Aachen im Mittelalter, wie Anm. 91, S. 20f. mit Anm. 90. - Die große Zeit der Badereisenden, die nach Aachen kamen, brach aber zweifellos erst in der Neuzeit an. Nicht ganz sicher bin ich, ob in der zitierten Stelle mit Pilgern nicht einfach Fremde oder Gäste bezeichnet werden. 139 Zum Ritual vgl. B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 115-140; S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 239-244 (mit Zitat der entsprechenden Archivalien und Quellen) und W Y - N A N D S , Geschichte der Wallfahrten, wie Anm. 92, S. 67-72 (mit weiterer Literatur). 140 Christian Q U I X , Historische Beschreibung der Münsterkirche und der Heiligthumsfahrt in Aachen nebst Geschichte der Johannisherren (Aachen 1825, Nachdruck Aachen 1976), S. 96f. mit Anm. 88. <?page no="47"?> Stadt und Pilger 47 eidigen lassen und die Gegenwart der städtischen Organe bei der Entnahme und Verschließung der Reliquien akzeptieren 141 . In der Neuzeit wiederholten sich ähnliche Auseinandersetzungen; noch 1759 bestätigte das Reichsgericht dem Magistrat das Recht auf die Concustodia, das Recht der Mitbewachung 142 . Dieser Streit beleuchtet eindrucksvoll das Verhältnis von Stadt, Kapitel und Pilgern aus der Perspektive der Stadtverfassung. Er zeigt, daß die freie Reichsstadt den Einfluß des Stiftes und seines Kapitels zu beschränken suchte; die Beteiligung an der Aufbewahrung der wichtigen Reliquien sicherte den städtischen Organen auch Einfluß auf das Stift und dessen herausgenommene Stellung. Insofern ist das Ringen um die Verwaltung des Reliquienschatzes auch in verfassungsgeschichtlicher Hinsicht aufschlußreich. Die Forderung des Rates nach Mitverwaltung war aber auch weitgehend berechtigt, denn die Folgen der Reliquienweisung - im positiven wie im negativen Sinne - trug die gesamte Stadt, nicht nur das Kapitel. Vielleicht leitete sich das städtische Recht auch von der allerdings nicht sicher belegten Initiative der Bürger im 13. Jahrhundert ab, die Reliquien öffentlich vorzuzeigen 143 , eine Änderung, die auch neue Frömmigkeitsformen der Gotik wie das Schaubedürfnis widerspiegelt. Im Falle Aachens ist im Ringen um das Recht der Concustodia - und damit auch um die Pilger - eine interessante Facette des Verhältnisses von Stadt und Stift erkennbar, vielleicht ein Ansatzpunkt, um die Diskussion zu „Stadt und Stift“ weiterzuführen. Bernhard Diestelkamp hat ja gerade für Kaiserswerth und Aachen zeigen wollen, wie wichtig die dortigen Stifte für die Stadtentwicklung waren, und hat sogar von Reichsstiftstädten gesprochen 144 . Unabhängig von dieser Rolle der Stifte in der Frühzeit spiegeln [228/ 229] die geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Stadtorganen und Stift um die Reliquienverwaltung im 15. Jahrhundert die immer noch bedeutende, aber umstrittene Stellung des Stiftes. Vielleicht könnten prosopographische Studien zu den personellen Verflechtungen in Stift und Stadtorganen dazu beitragen, warum gerade zu einer bestimmten Zeit der oben geschilderte Konflikt ausbrach 145 . 141 Vgl. die Darstellung bei Q U I X , wie Anm. 140, S. 87-92 und Dok. Nr. 14 und 1, S. 147-154; B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 138f. 142 B E I S S E L , wie Anm. 92, S. 140. - Ähnliche Auseinandersetzungen gab es auch um die Reichskleinodien, die bis 1794 in Aachen waren. Vgl. auch zu Nürnberg Anm. 146. 143 Vgl. diese Vermutung bei S C H I F F E R S , Kulturgeschichte, wie Anm. 92, S. 240, der allerdings den Beginn der turnusmäßigen Heiltumsfahrten wohl zu früh als sicher annimmt, vgl. Anm. 106. 144 Vgl. Bernhard D I E S T E L K A M P , wie Anm. 93, S. 112-123; D E R S ., Schriftlicher Diskussionsbeitrag „Reichsstiftstadt“, in: Stift und Stadt am Niederrhein, hg. von Erich M E U T H E N (Klever Archiv 5, Kleve 1984), S. 133. Widersprochen wurde ihm von Erich M E U T H E N , Stift und Stadt als Forschungsproblem der deutschen Geschichte, in: ibid. S. 9-26, S. 18, jedoch dürfte unabhängig von der Frage nach der exakten Rolle des Stiftes bei der Ausbildung städtischer Institutionen die starke Stellung des Stiftes bis ins späte Mittelalter unbestritten sein. 145 Die Ergebnisse der zitierten Dissertation von O F F E R G E L D , Anm. 100, deren prosopographischer Teil gerade ungedruckt blieb, versprechen bei entsprechender Befragung vielleicht weitere Aufschlüsse. <?page no="48"?> 48 Pilgerfahrten und Reiseberichte Interessanterweise ist Aachen in dieser Beziehung kein Einzelfall, sondern verdeutlicht eine allgemeinere Tendenz: So beharrten städtische Institutionen in Nürnberg auf dem Verwahrungsrecht der Reichskleinodien im Hl.-Geist- Spital, um das ebenso in verschiedenen Streitigkeiten gerungen wurde 146 . Das oftmals wirtschaftlich begründete Interesse der Stadtgemeinden an den Heiltumsweisungen, das sich häufig in besonderen Marktprivilegien niederschlug, ist ebenso in anderen Städten belegt, und es wäre sicher lohnend, diese Verknüpfung und Konkurrenz kirchlicher und städtischer Interessen einmal vergleichend zu untersuchen. Fassen wir einige Ergebnisse zu den Verhältnissen in Aachen zusammen, so waren die Folgen des Pilgerverkehrs in der Stadt neben den schon am Beispiel Compostelas genannten zu Topographie, Handel, Gewerbe, Unterbringung und Verpflegung vor allem um die spezifischen Folgen zu erweitern, die sich durch zyklisch festliegende Pilgerzeiten ergaben und die in ganz besonderer Weise ein typisches Problem vieler Devotionsorte im späten Mittelalter waren. Wie stark die städtischen Organe jedoch an den Heiltumsweisungen interessiert waren - und dies nicht nur in Aachen -, zeigten die geschilderten Streitigkeiten um die Verwahrung der Heiltümer. IV. Abschließend bleibt festzuhalten: Seitdem sich die peregrinatio ad loca sancta entwickelt hatte, bedingten Pilgerfahrt und Stadtentwicklung einander, und zwar bereits im frühen Mittelalter. Schon die Anlage der Bauten um den heiligen Ort entsprach oft der Pilgerverehrung, besonders deutlich war dies bei den Beispielen Rom und Santiago. Seit dem hohen Mittelalter gab es zudem Kirchen, die hauptsächlich für fremde Besucher gedacht waren; die Proportionen des Sakralbaues im Vergleich zur Bevölkerung des jeweiligen Ortes konnten sich erheblich verschieben. Neben Santiago de Compostela ist Ste-Foy de Conques mit seiner Kirche aus dem [229/ 230] 11./ 12. Jahrhundert hierfür ein deutliches Beispiel. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion über eine eigene Pilgerkirchen-Architektur 147 . Die zunehmende Masse an Pilgern konnte mehrfache Neubauten 148 oder auch die Verlagerung der Reliquienzeigung nach außen, wie im Falle Aachens, bewirken. Die baulichen Veränderungen in den Pilgerzentren hingen zugleich maßgeblich von den Gaben der Pilger ab. Neben topographischen und sakraltopographischen Folgen 146 Vgl. allgemein zu diesen Tendenzen Hildegard E R L E M A N N / Thomas S T A N G I E R , Festum reliquiarum, in: Reliquien, Verehrung und Verklärung, hg. von Anton L E G N E R (Katalog Köln 1989), S. 25-31, S. 29f., und Julia S C H N E L B Ö G L , Die Reichskleinodien in Nürnberg, 1424-1523, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 51 (1962), S. 78-159. 147 Vgl. oben Anm. 81. 148 So beispielsweise dreimaliger Neubau bis ins 12. Jh. in Compostela; in Rom war nach Einführung der Heiligen Jahre ein Neubau weniger dringend, weil sich die Pilgerverehrung <?page no="49"?> Stadt und Pilger 49 lagen die wichtigsten Auswirkungen von Pilgern auf die Stadt im ökonomischen Bereich: Einerseits profitierten die Verwalter der Kultstätte, meist das Kapitel oder der Bischof, andererseits auch die verschiedensten Berufsgruppen, vor allem Wirte, Händler, Wechsler sowie die an Produktion und Verkauf der Pilgerabzeichen beteiligten Personen vom Pilgerverkehr. Entsprechend waren auch die überlieferten Eindrücke der Pilger von der Stadt oft maßgeblich von den Erfahrungen mit diesen Personengruppen geprägt. Die Verzahnung von Markt und Pilgerfahrt ist - wie schon Edith Ennen herausstellte 149 - einer der wichtigsten Faktoren im Zusammenhang mit unserem Thema. Die Pilger, die trotz ihrer meist nur kurzen Verweildauer den entsprechenden Städten auch ökonomischen Reichtum bescherten, waren eine umstrittene Zielgruppe. Auseinandersetzungen, vor allem zwischen denjenigen, die das Heiligtum hüteten und weiteren Personen, sind mehrfach belegt. lm Falle von Compostela hatte ich auf den Streit zwischen Erzbischof und concheiros hingewiesen. Ganz anderer Art waren die in Aachen festgestellten Auseinandersetzungen zwischen Rat und Stift. Hier ging es hauptsächlich um die Abgrenzung von Kompetenzen und Einflußmöglichkeiten in einer Stadtverfassung, die durch die Ausnahmestellung des Stiftes immer wieder bedroht war. Vergleiche mit anderen Städten dürften sicher weitere, präzisere Ergebnisse zeitigen. Weitgehend beiseite gelassen habe ich das Problem der Stadt- und Siedlungsentwicklung an den sogenannten „Pilgerwegen“ durch die Pilgermobilität, die ja gerade für den Südwesten Frankreichs und den Norden Spaniens schon intensiv in der Forschung - allerdings ohne abschließendes Ergebnis - diskutiert worden ist. Wenn auch Irsigler 150 zuzustimmen ist, daß durch Pilger und Pilgerfahrten bewirkte Siedlungen nicht zu überschätzen seien, so bleibt richtig, daß die Stadtentwicklung in diesen Städten an den sogenannten „Pilgerwegen“, zumal wenn sie selbst Devotionszentren waren oder wurden, sicher ohne Pilger eine andere Entwicklung genommen hätte. Dabei darf man nicht vergessen, daß Pilgerwege fast im-[230/ 231]mer auch Handelswege und Heerstraßen waren, so daß der Pilgereinfluß sozusagen von selbst mit anderen Wirkungen verbunden war und oft nicht eindeutig abgegrenzt werden kann. Die Kombination von Handels- und Pilgerreise, vielfach belegt 151 , bereichert die Einflußmöglichkeiten von Pilgerfahrten auf das Leben in der Stadt um eine weitere Facette. Ein Problem war der jahreszeitlich oder sogar jahresmäßig sehr unterschiedlich anfallende Pilgerbesuch. Die Rhythmen des Pilgerns - im späten Mittelalter durch Heilige Jahre oder besondere Ablässe gefördert - stellten viele Städte, nicht nur Aachen, vor besondere Probleme, die kaum mit der üblichen Infrastruktur zu lösen waren, sondern zu kurzfristigen Maßnahmen führten. Eine auf mehrere Kirchen in Rom und zudem während eines ganzen Jahres verteilte. 149 Vgl. E N N E N , Stadt und Wallfahrt, wie Anm. 3, S. 1057ff. (Nachdruck S. 240ff.). 150 Vgl. oben Anm. 6. - Dabei ist immer der Status der jeweiligen Städte im Blick zu behalten. Die vor allem in Südwestfrankreich belegten „sauvetés“ waren ja oft „Minderstädte“. 151 Vgl. oben Anm. 136. <?page no="50"?> 50 Pilgerfahrten und Reiseberichte Konjunkturgeschichte der Preise und Löhne kombiniert mit den Rhythmen der Pilger bleibt noch zu schreiben, ist aber aufgrund der vorhandenen Quellen für das Mittelalter kaum möglich. Kleine Indizien, wie ein Ansteigen der Mietpreise, dürften jedoch auf solche Zyklen verweisen. Weil Pilgerfahrten aber in der Regel immer ein temporäres Phänomen waren, konnte der Einfluß wohl zumeist nur in bestimmten Bereichen der Stadt Wirkungen zeitigen: beim Bau der Kirchen, der Einrichtung und Organisation der Beherbergungsstätten oder von Handel und Verkauf. Hinzufügen läßt sich der zuweilen belegte ständige Verbleib der Pilger am Zielort 152 . Sogenannte „Pilgerstädte“ gab es eigentlich kaum, erst die Gegenreformation schuf die Voraussetzungen für planvoll angelegte Pilgerorte 153 . In Rechnung zu stellen ist, daß die hier vorgeführten Beispiele, wie wahrscheinlich alle Beispiele, in gewisser Weise Spezialfälle sind. Eine umfassende Sichtung des Themas „Stadt und Pilger“ müßte neben Bischofs- und Reichsstädten andere städtische Siedlungsformen berücksichtigen, müßte auch verschiedene Formen von Pilgerfahrt und Wallfahrt unterscheiden. Die Bedeutung von Zyklen hatte ich erwähnt, bei weiteren Zentren mit eher lokalem Einzugsbereich ließe sich das Bild gewiß um weitere strukturelle Aspekte bereichern. Stadt- und Pilgerentwicklung sind komplizierter und tieferliegend miteinander verknüpft, und dies macht auch die methodischen Schwierigkeiten der Erforschung aus. Die Pilgerfahrten als ein Massenphänomen, vor allem seit dem 11./ 12. Jahrhundert, sind ein Teil jenes allgemeinen Umgestaltungsprozesses, der seit dem 11. Jahrhundert zu beobachten ist; auf die grundlegenden ökonomischen, demographischen und sozialen Entwicklungen dieser Epoche kann hier nur allgemein verwiesen werden. Sowohl die Entstehung von Städten wie die Zunahme von Pilgerfahrten als Aus-[231/ 232]druck gestiegener Mobilität 154 sind gleichermaßen Teil und Ausdruck dieser Umgestaltungen. Die Verschränkung macht es schwer, Ursachen und Wirkungen immer sauber zu trennen. Auf einen Aspekt des Themas ist die Stadtgeschichtsforschung bisher kaum eingegangen. Es sind die Folgen der Pilger für die Städte, aus denen die Pilger aufbrachen, und in die sie wieder zurückkehrten, Pilgertestamente, Verkaufsverträge von Mobilien und Immobilien oder die Beauftragung von Vertretern seien als spezifische Quellengattungen für diese Fragestellung genannt. Vor allem im niederländischen Raum wurden Pilgerfahrten auch von städtischen Institutionen als Strafe verhängt, die man sogar als eine Art „Sozialhygiene“ 152 Vgl. hierzu Edmond René L A B A N D E , „Ad limina“: Le pèlerin médiéval au terme de sa démarche, in: Mélanges R. Crozet (Poitiers 1966), S. 283-291, Nachdruck: D E R S ., Spiritualité et vie littéraire de l’Occident, X e -XIV e siècles (London 1974) Nr. XIV, S. 291. 153 Dies hat E N N E N , Stadt und Wallfahrt, wie Anm. 3, S. 1070ff. (ND 253ff.) hervorgehoben. 154 Vgl. zum Problem der horizontalen Mobilität beispielsweise Ludwig S C H M U G G E , „Pilgerfahrt macht frei“ - Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens, in: Römische Quartalschrift 74 (1979), S. 16-31 und D E R S ., Mobilität und Freiheit im Mittelalter, in: Die abendländische Freiheit vom 10. bis 14. Jahrhundert, hg. von Johannes F R I E D (Vorträge und Forschungen 39, Sigmaringen 1991), S. 307-324. <?page no="51"?> Stadt und Pilger 51 bezeichnet hat. Man schaffte diejenigen Personen zeitweise aus der Stadt, die den sozialen Frieden gefährdeten, und sicherte so auch die eigene Stadt als Friedensbereich 155 . Aus den Städten machten sich weiterhin viele Pilger freiwillig auf den Weg; ich hatte den Metzer Bürger Philipp erwähnt; aus Nürnberg und anderen Städten sind zahlreiche Patrizier als Pilger belegt. Für sie konnte eine solche Fahrt auch zu einer Art Selbstdarstellung werden, die das Prestige förderte 156 . Und wenn der Nürnberger Arzt Hieronymus Müntzer in einem Pestjahr aus Nürnberg aufbrach, so könnte man dies auch als Flucht vor den bevorstehenden Aufgaben in der eigenen Stadt interpretieren 157 . Wie die zurückkehrenden Pilger anschließend in der Gesellschaft ihrer Städte wieder integriert wurden, erfahren wir nur selten. In einzelnen Fällen scheinen die Gründungen von Bruderschaften oder Stiftungen von Altären und anderen Einrichtungen auch auf die Erfahrungen eigener Pilgerfahrten zurückzugehen 158 . Die Belege sind zwar in jedem einzelnen [232/ 233] Fall zu prüfen, aber im positiven Fall - das scheint mir unbestreitbar - gestalteten diese Gründer und Stifter damit auch maßgeblich das religiöse und gesellschaftliche Leben in der eigenen Stadt. Die Bemühungen, das Heilige Grab in Jerusalem oder die römischen Stationskirchen am eigenen Ort, in der eigenen Stadt nachzubilden, ist durch Pilgerfahrten unzweifelhaft mitbeeinflußt worden, zumal wenn man danach strebte, für den Besuch dieser „Sekundärheiligtümer“ einen gleichen oder ähnlichen Ablaß wie für den eigentlichen Gnadenort zu erwirken. Auch im künstlerischen und kulturellen Leben wirkten die Pilgerfahrten nach, so wurde noch im 17. Jahrhundert im Gymnasium zu Innsbruck die Tragikomödie von 155 Grundlegend hierzu Jan VA N H E R W A A R D E N , Opgelegde Bedevaarten. Een studie over de praktijk van oplegen van bedevaarten (met name in de stedelijke rechtspraak) in de Nederlande gerunde de late meddeleeuwen (ca. 1300-ca. 1500) (Amsterdam 1978); D E R S ., wie Anm. 18. In alle der hier behandelten Pilgerzentren wurden Strafpilger entsandt. 156 Zum Sozialprestige vgl. Jan VA N H E R W A A R D E N , Pilgrimages and Social Prestige. Some Reflections on a Theme (Faculteit voor Historische en Kunstwetenschappen, Erasmus Universiteit, Rotterdam 1990) und D E R S ., Pilgrimages and Social Prestige. Some Reflections on a Theme, in: Wallfahrt und Alltag, wie Anm. 108, S. 27-80 sowie Werner P A R AV I C I N I , Von der Heidenfahrt zur Kavalierstour. Über Motive und Formen adeligen Reisens im späten Mittelalter, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter 13, Wiesbaden 1993), S. 91-130. 157 Die Edition des Pilgerberichtes des Hieronymus Müntzer von L. P F A N D L , Itinerarium Hispanicum Hieronymi Monetarii, 1494-1495, in: Revue Hispanique 48 (1920), S. 1-179 bietet leider nur die Passagen zu Spanien; eine Neuedition des gesamten Textes ist in Vorbereitung. 158 Vgl. das Beispiel einer Trierer Bruderschaft, die wohl im 15. Jh. nach einer Pilgerfahrt gegründet wurde: Klaus H E R B E R S , Peregrinos, escritores y otros propagadores del culto jacobeo en Alemania, in: Santiago, Camino de Europa, wie Anm. 51, S. 121-139, S. 130f.; dort auch zu weiteren „Folgen“. <?page no="52"?> 52 Pilgerfahrten und Reiseberichte einem auf Pilgerfahrt zu Unrecht erhenkten Pilger, der dann gerettet wurde, aufgeführt 159 . Das Thema „Stadt und Pilger“ ist also noch lange nicht erschöpft, aber gerade bei diesen sekundären Spuren in den Aufbruchsstädten der Pilger sind einzelne Belege zunächst in größerer Zahl zu prüfen und jeweils - soweit möglich - bestimmten Pilgern oder Kulten zuzuordnen, bevor generalisierende Schlüsse möglich sind. Es wird eine gewiß lohnende, wenn auch schwierige Aufgabe künftiger Forschung sein, diese sekundären Einflüsse systematisch zu sichten und damit einen weiteren Beitrag zum Thema „Stadt und Kirche“ zu leisten. 159 Vgl. hierzu Fritz H E R M A N N , Note sulla Peregrinatio Jacobea in Svizera, in: I pellegrinaggi a Santiago de Compostela e la letteratura jacopea (Perugia 1983, erschienen 1985), S. 151-163, S. 155-163; zu entsprechenden weiteren Spuren vor und nach dieser Zeit in Innsbruck vgl. Franz-Heinz H Y E , Tirol und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela, in: Europäische Wege, wie Anm. 6, S. 131-142, S. 141. <?page no="53"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ - Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel: Eindrücke und Wechselbeziehungen I. Einleitung Am 14. Oktober, nachdem wir 4 Meilen durch eine Ebene und fruchtbare Landschaft geritten waren, kamen wir zur alten Stadt Murcia, die so groß ist wie Nürnberg, wie ich von einem sehr hohen Turm aus feststellte. Mit diesen Worten charakterisierte 1494 der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer die spanische Stadt in der Nähe des Mittelmeeres 1 . Es war nicht das einzige Mal, daß er die vielen neuen Eindrücke, mit denen er auf der Iberischen Halbinsel bei seiner Reise konfrontiert wurde, auf Bekanntes, auf Nürnberg bezog. „Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel“, der Untertitel meines Beitrags ist eher ein Programm, das ich hier nur umreißen kann. Als Mittelalterhistoriker nehme ich vor allem die Spanien-Beziehungen Nürnbergs im ausgehenden Spätmittelalter in den Blick. Das 15. Jahrhundert steht im Mittelpunkt des Vortrages, mit Ausblicken in das 16. Jahrhundert. Aber hierzu bleibe ich kurz und bin nur „Wilderer in Nachbars Garten“. Vor dem Hintergrund des Gesamtprogrammes der Ringvorlesung ist klar, daß mit der Iberischen Halbinsel nur ein kleiner Teil der Nürnberger Außenwir- Erschienen in: Nürnberg - europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit (Nürnberger Forschungen 29), hg. von Helmut N E U H A U S , © Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg, Neustadt a. d. Aisch 2000, 151-183. 1 Der Text folgt im wesentlichen der gehaltenen Vortragsfassung, die nur mit den nötigsten Anmerkungen ergänzt wurde und nur erste Ansätze zu weiteren Forschungen bietet. Für Gespräch und Hilfe danke ich Dr. Nikolas Jaspert, Erlangen. - Die im Text gebotenen Zitate sind eigene Übersetzungen des lateinischen Textes von Hieronymus Münzer, zu dem in einem Erlanger Projekt am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte eine Neuausgabe sowie eine Übersetzung samt Kommentierung vorbereitet wird. Die folgenden Zitate sind daher teilweise noch „diskussionsbedürftig“ und werden erst in der angekündigten Ausgabe in endgültiger Form erscheinen. Der Text ist bisher nur passagenweise und in unterschiedlicher Qualität verfügbar: Ludwig Pfandl (Hrsg.), Itinerarium Hispanicum Hieronymi Monetarii 1494-1495, in: Revue Hispanique 48, 1920, 1-179 (nur Spanien betreffender Teil des Textes ), 157-162. Vgl. zu anderen Teilen Ernst Philipp Goldschmidt, Le voyage de Hieronimus Monetarius à travers la France, in: Humanisme et Renaissance 6 (1939), 55-75, 198-220, 324-348, 529-539; vgl. das Sonderheft der Zeitschrift „Provence historique“ 41, fasc. 166, 1991, mit verschiedenen Textpassagen. Zur editorischen Situation vgl. Werner Paravicini/ Christian Halm, Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters, Teil 1: Deutsche Reiseberichte. (Kieler Werkstücke D 5.) Frankfurt/ M. [u. a]., 1994, 261-265, und künftig die angekündigte Neuausgabe, Einleitung; dort auch weitere bibliographische Orientierung. <?page no="54"?> 54 Pilgerfahrten und Reiseberichte kungen erfaßt wird. Nürnberg strahlte ebenso nach Süden, Norden und Osten aus. Eine aus der Werkstatt des Nürnberger Kompaßmachers und Kosmographen Erhard Etzlaub stammende Karte von 1501 verdeutlicht diese [151/ 153] Beziehungen Nürnbergs in verschiedene Richtungen, interessanterweise führt das Kartenbild aber auch die Straßen bis nach Spanien hinein auf 2 . Etzlaubs Karte entstand nicht zufällig in Nürnberg, denn hier pflegte man an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert humanistisch beeinflußte kosmographische Studien, die auch die Iberische Halbinsel betrafen. Durchstreift man die Nürnberger Altstadt auf der Suche nach Spuren solcher Bezüge zur Iberischen Halbinsel, so fällt der Blick am ehesten auf das 1890 vom Bildhauer Johann Rößner geschaffene Denkmal 3 auf dem Theresienplatz. Hier sehen wir Martin Behaim, dessen Name sich vor allem mit dem bekannten „Erdapfel“ und mit intensiven Kontakten nach Portugal verbindet. Zogen aber nur kosmographische Interessen Nürnberger auf die Iberische Halbinsel? War Behaim ein Einzelkämpfer, oder läßt sich das Umfeld dieser Beziehungen Nürnbergs zum südwestlichen Europa näher bestimmen? Seit wann rückt überhaupt die Iberische Halbinsel in das Blickfeld Nürnbergs? Waren alle Regionen jenseits der Pyrenäen mit ihren verschiedenen Traditionen gleich attraktiv? Und umgekehrt: Besuchten Spanier auch Nürnberg? Was blieb von diesen Besuchen? Gab es Austausch, Transfer von Wissen, Folgen des jeweiligen Kennenlernens? Ich übertrage die Aufgabe, zunächst einen Überblick über die verschiedenen Kontaktmöglichkeiten zu vermitteln, an den eingangs genannten Hieronymus Münzer. II. Hieronymus Münzer und seine Aufzeichnungen Ich glaube mit Aristoteles, daß dem Menschen die Intelligenz und die natürliche Eigenschaft eigen ist, die Wahrheit zu suchen, beginnt Münzer seine Reiseaufzeichnungen. Und er fährt fort: Ich glaube auch, daß er, wenn er frei von häuslichen Sorgen und Bedürfnissen ist, gut alle Dinge hören und lernen kann, er wird über die Kenntnis der verborgenen und der wunderbaren Dinge dazu geführt, gut und glücklich zu leben 4 . Deshalb, heißt es weiter, hätten so viele Menschen Geschichte schreiben, zu Lande und zu Wasser reisen, die Lage der Orte untersuchen wollen. Entsprechend hätten Denker wie Platon, Pythagoras, aber auch Augustinus, Hieronymus und andere die Geschichte aufgezeichnet, verschiedene Leute besucht und beschrieben. Die Worte eines edlen Humanisten und Kosmographen! Spricht hier Münzer selbst, oder folgt er nur konventioneller Rhetorik? 2 Zu den Karten Etzlaubs vgl. mit Abbildungen Ivan Kupˇ cik, Karten der Pilgerstraßen im Bereich der heutigen Schweiz und des angrenzenden Auslandes vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: Cartographica helvetica 6, 1992, 17-31, bes. 18 und 19. 3 So schon Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg von dem ersten urkundlichen Nachweis bis zu ihrem Übergang an das Königreich Bayern. Nürnberg 1896, 702. 4 Zu allen folgenden Quellenzitaten aus Münzer vgl. Anm. 1. <?page no="55"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 55 Reiseweg des Hieronymus Münzer auf der Iberischen Halbinsel 1494/ 1495 Hieronymus Münzer, 1437 in Feldkirch geboren, stammte aus armer Familie. Er studierte zunächst in Leipzig, wurde dort 1470 Magister, später, ab 1476, [153/ 154] lernte er Medizin in Pavia 5 , promovierte 1479 und erwarb ein Jahr danach das Bürgerrecht in Nürnberg 6 . 1483 brach dort die Pest aus. Münzer reiste über Feldkirch nach Italien, sogar bis nach Neapel, und kehrte am 24. Januar 1484 zurück. Im gleichen Jahr folgte eine weitere Fahrt nach 5 Vgl. Agostino Sottili, Nürnberger Studenten an italienischen Renaissance-Universiäten mit besonderer Berücksichtigung der Universität Pavia, in: Volker Kapp/ Franz-R. Hausmann (Hrsg.), Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen. (Erlanger Romanistische Dokumente und Arbeiten, Bd. 6.) Stuttgart 1991, 49-103, bes. 54, 83f., 87 und 89; allgemein zur Biographie das grundlegende Werk von Ernst Philipp Goldschmidt, Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (Studies of the Warburg Institute, Bd. 4.). London 1938, zum Studium 14-23. Vgl. außerdem das Sonderheft der Zeitschrift Provence historique 41 (wie Anm. 1), besonders die Beiträge von Louis Stouff, Deux voyageurs allemands à Arles à la fin du XV e siècle, ebd. 567-573 und Noël Coulet, L’itineraire provençal du docteur Jerome Münzer, voyageur et pèlerin, ebd. 581-585. 6 Vgl. über die Nürnberger Ratsverlasse Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 24. <?page no="56"?> 56 Pilgerfahrten und Reiseberichte Lüttich. Danach blieb Münzer in Nürnberg, pflegte Kranke und beteiligte sich an Handelsunternehmungen seiner Familie. Freundschaftliche Beziehungen unterhielt er zu den Nürnberger Humanisten. Gemeinsame Interessen an Mathematik und Astronomie, besonders aber an Kosmographie, wie damals die Geographie genannt wurde, führte diesen Kreis zusammen. Die breiten Interessen Münzers sind besonders deutlich, seitdem Ernst-Philipp Goldschmidt dessen Bibliothek rekonstruiert hat 7 . Eigene geographische und historische Kenntnisse stellte Münzer in Nürnberg mehrfach unter Beweis 8 . Er dürfte wirklich davon ausgegangen sein, daß Reisen bildet. War der Prolog also doch nicht reine Rhetorik? Trotzdem folgt weniger pathetisch im Text ein weiterer Grund, warum Münzer 1494 aufbrach: [. . . ] 1494, eine neue Pestwelle. Ich greife wieder zu dem schon erprobten Mittel, zu fliehen 9 . Ganz sympathisch erscheint er nicht: Frau und Kind bleiben alleine zurück. War Münzer ein Egoist, der nur daran dachte, seine eigene Haut zu retten, wie Paule Ciselet glaubt 10 und in den letzten Sätzen zur Rückkehr nur Zynismus erblickt. Sie lauten: Ich befand mich in vorzüglicher Gesundheit, und ich traf meine Frau und meine einzige Tochter unbeschadet. Gott sei gepriesen. Warum also reist er? Der Anlaß ist die Pest. Als Arzt kannte er wie kein anderer die Gefahren. Jedoch traten dazu kosmographische Interessen und Neugier, was die letzten Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier wohl gebracht hatten. Ein Bündel weiterer Motive entfaltet sich, wenn man liest, was Münzer alles interessierte. Gut zweihundert Blätter füllt der Bericht über Münzers zweite große Reise 1494/ 95 in einer Niederschrift seines Freundes Hartmann Schedel. Münzers Original ist verloren. Der Text spiegelt die eingeschlagene Route wider. [154/ 155] Von Nürnberg gelangte Münzer über die Schweiz und Frankreich nach Katalonien, von dort über Barcelona, Valencia nach Granada und Sevilla, über Lissabon nach Compostela, weiter nach Toledo, Madrid, Zaragoza und Roncesvalles, über Frankreich, die Niederlande und Köln zurück nach Nürnberg. Die Reise führte ihn also in die verschiedensten Welten der Iberischen Halbinsel, wo in dieser Zeit noch grundsätzlich die Krone Aragón, Portugal, Navarra und Kastilien-León zu unterscheiden sind. Erst 1492 kam die letzte muslimische Bastion in Europa, das Reich von Granada, an das zuletzt genannte Königreich. Geschrieben ist in Latein: Kein die Klassik imitierendes Humanistenlatein, sondern öfters dunkel, nicht immer ganz verständlich 11 , es bleiben Aufgaben 7 Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5). 8 Bei seinen Korrekturen zu „Europa“ an der Schedelschen Chronik sowie bei der Schedelschen Karte von Deutschland, vgl. Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 50-53; vgl. auch unten Anm. 90. 9 Vgl. Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 58. 10 Paule Ciselet/ Marie Delcourt, Monetarius. Voyage au Pays-Bas (1495), Brüssel 1942, 12-15 (mit Passagen, die ins Französische übersetzt sind). 11 Eine übersichtliche Aufschlüsselung der Münchener Handschrift CLM 431, die aus Sche- <?page no="57"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 57 für weitere Forschung. Der Text ist kulturhistorisch einzigartig, aber bisher meist nur als Steinbruch benutzt worden. Die ins Deutsche übersetzten Zitate des Reiseberichtes, mit dem ich mich seit kurzem intensiver beschäftige 12 , verfolgen mehrere Ziele: Münzer als Kronzeugen für Nürnberger Kontakte zur [155/ 156] Iberischen Halbinsel in die Diskussion einzubringen, gleichzeitig das Themenspektrum des heutigen Vortrags zu umreißen 13 , um die Beobachtungen in einem weiteren Schritt zu systematisieren und zu vertiefen. III. Münzers Reise auf der Iberischen Halbinsel Wirtschaft und Handel von Barcelona bis Murcia Freunde begleiteten Münzer: Personen aus reichen Kaufmannsfamilien, die italienisch und französisch sprachen: Anton Herwardt aus Augsburg, Kaspar Fischer und Nikolaus Wolkenstein aus Nürnberg 14 . Münzer reiste - wie zu jener Zeit üblich - in kleiner Gruppe, meist zu Pferde, war sich der Sprachprobleme bewußt, benutzte Empfehlungsschreiben 15 und kehrte häufig bei deutschen Landsleuten ein. Erste Erfahrungen in der Krone Aragón Am 2. August 1494 brach er von Nürnberg auf. Ausführlicher wird der Bericht erst, als das deutsche Sprachgebiet westlich von Bern verlassen wird 16 . Über Perpignan erreicht Münzer die Iberische Halbinsel: Barcelona besticht durch die Größe, aber auch das Fremde, das Münzer an bekannten Dingen mißt. Der Kosmograph sucht, wie fast überall, die Vogelperspektive: Ich stieg auf den höchsten Turm und betrachtete wie in einem Spiegel die Stadt und ihre Lage. Welch wunderbares Schauspiel! Die Stadt hat innerhalb ihrer Mauern und außerhalb von dels Bibliothek stammt, findet sich bei Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 112f. Vgl. außerdem die Bemerkungen zur Teiledition von Hieronymus Monetarius von Pfandl, Itinerarium (wie Anm. 1) 157-162. 12 Zur künftig übersetzten Fassung vgl. Anm. 1. 13 Vgl. zu anderen Akzenten des Münzerschen Berichtes meinen Beitrag: Spanienreisen im Mittelalter - unbekannte und neue Welten, in: Folker Reichert (Hrsg.): Fernreisen im Mittelalter. Berlin 1998 (ersch. 1999) (= Das Mittelalter 3/ 1998, Heft 2.), 81-106. Vgl. auch dort zu neueren Auswertungen; außerdem: Karl Friedrich Rudolf, La imagen de la Península Ibérica en Centroeuropa en la época del Tratado de Tordesillas, in: Eufemio Lorenzo Sanz/ Francisco Gallego (Hrsg.), El tratado de Tordesillas y su época. Congreso internacional de historia Valladolid 1994. Madrid 1995, 1907-1923 und Silke Tammen, Kunsterfahrungen spätmittelalterlicher Spanienreisender, in: Gisela Noehles-Doerk (Hrsg.), Kunst in Spanien im Blick des Fremden. Reiseerfahrungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. (Ars Iberica, Bd. 2.) Frankfurt/ M. 1996, 49-71. 14 Vgl. Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 59. 15 Vgl. hierzu Werner Paravicini, Fürschriften und Testimonia, in: Johannes Helmrath (Hrsg.), Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen. München 1994, 903-926. 16 Lyon, Avignon, Arles und Narbonne waren wichtige Etappen. <?page no="58"?> 58 Pilgerfahrten und Reiseberichte diesen in einem Umkreis von etwa zwei Meilen mehr als 30 Klöster [. . . ]; und ich glaube, daß die Stadt zweimal größer ist als Nürnberg. Den Städter interessiert, wie Herrschaft und Verwaltung funktionieren, die in Barcelona in der sogenannten „Diputación“ organisiert sind, und wie politische Rahmenbedingungen und Wirtschaft sich beeinflussen. Es ist schon 44 Jahre her, daß sich das Volk aus Übermut und anderen Leidenschaften gegen die Herren der Stadt erhob. Vor diesen Revolten flohen die reichsten Bewohner. Seitdem verlagerte sich der Handel in Richtung Valencia, dem wichtigsten Stapelplatz Spaniens. [156/ 157] Beim Bericht über Valencia unterstreicht er erneut: Der Handel und Austausch ganz Spaniens wurde vor 50 Jahren vor allem in Barcelona betrieben, ähnlich wie heute der Handel ganz Oberdeutschlands in Nürnberg stattfindet. Aber nach den Auseinandersetzungen [. . . ] flüchteten sich die Kaufleute nach Valencia, heute die Hauptstadt des Handels. Tiere, die er im Haus des Infanten Heinrich sieht, beschreibt er mit Mühe. Wie soll man auch eine Gazelle detailliert charakterisieren? Nicht erst in Valencia, schon in Barcelona trifft Münzer Deutsche, die Beziehungen zwischen Katalonien und Deutschland belegen, Nürnberg wird dabei auch erwähnt: [. . . ] Gregor Rasp aus Augsburg, Erardus Wigant, genannt Frank, aus Mergentheim, einer Stadt in Franken, und Wolfgang Ferber aus Ulm. Dort weilte auch Bruder Johannes vom Franziskanerorden, der sehr gut den Doktor Stahel kennt; dort waren seine Freunde Nikolaus und Leonhard, der einen Bruder im Haus des Deutschen Ordens in Nürnberg hat. Sie erwiesen uns unbeschreibliche Ehren 17 . Über das bekannte Kloster Montserrat 18 und weitere Orte gelangt Münzer zum Kloster Vallis Jesu, vor den Toren Valencias, das Franziskaner bewohnten. Hier konnte Münzer alte arabische Bewässerungssysteme sehen, wie sie im 13. Jahrhundert als technisches Erbe von Christen des valencianischen Reiches übernommen wurden 19 . Gegründet wurde das Kloster wohl, weil sich die Ravensburger Handelsgesellschaft aus wirtschaftlichen Gründen nun auch in Valencia einen Stützpunkt geschaffen hatte 20 . Sie haben ein hohes Chorgestühl mit 17 Zur Identifizierung dieser und der im weiteren genannten Personen vgl. vorläufig das Register und die Anm. bei Pfandl, Münzer (wie Anm. 1); künftig die in Anm. 1 angekündigte Ausgabe. 18 Vgl. zur Entstehungslegende Klaus Herbers, Papstregesten 844-911, Fasz. 1. (Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii I, 1,4) Köln/ [u. a.] 1999, Nr. †274. 19 Vgl. hierzu Robert I. Burns, The Crusader Kingdom of Valencia. Reconstruction of a Thirteenth Century Frontier. 2 Bde., Cambridge. Mass. 1967, Thomas F. Glick, Irrigation and society in medieval Valencia. Cambridge, Mass. 1970; Ders., Irrigation and hydraulic Technology: Medieval Spain and its Legacy. (Collected studies series, Bd. 523.) Aldershot [u. a.] 1996. 20 Laut Münzer wurde das Kloster auf Initiative des Jodocus Koler von Deutschen gegründet; er war damals der Vorsteher der Gesellschaft aus Ravensburg, vgl. Aloys Schulte, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft. 1380-1530. (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 1-3), Stuttgart-Berlin 1923, bes. Bd. 1, 225 (demnach Stiftung etwa um 1455); vgl. ferner [Andreas Meyer, Fernhandel mit Spanien im Mittelalter. Die Ravensburger Humpis-Gesellschaft, in: Dieter R. Bauer/ Klaus Herbers/ Elmar L. Kuhn <?page no="59"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 59 16 schönen Sitzen, die der erwähnte Jodocus aus Flandern herbeibringen ließ. [. . . ] Wir gewannen dort einen vorzüglichen Eindruck. Der Pater an der Pforte aß - wie mir die deutschen Kaufleute Heinrich Sporer und Konrad Humpiss 21 , die vertrauenswürdig sind, versicherten - in der vergangenen Fastenzeit während der ganzen Woche nur freitags, er führt ein sehr asketisches Leben. [157/ 158] Valencia gilt Münzer als wichtigste Stadt Spaniens dieser Zeit. Wirtschaftlicher Reichtum spiegelt sich im Kirchenbau: Kunst und Kommerz hängen zusammen 22 . Kirchliches Kunsthandwerk war international, und Münzer erfährt von einem aus Lauingen an der Donau stammenden Goldschmied die Zukunftsprojekte: In der Kathedrale bauen sie einen Hauptaltar, der äußerst teuer ist, er ist ausschließlich aus Silber. Dargestellt werden die sieben Freuden der Jungfrau Maria 23 . In Valencia führen deutsche Kaufleute wie Heinrich Spohrer und Konrad Humpiß, die sich der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft zuordnen lassen 24 , den Nürnberger Arzt durch die Stadt. Die Bedeutung Valencias als Wirtschaftsmetropole belegen unter anderem die vielen exotischen Produkte, die dort hergestellt oder verladen wurden: Mit fast moderner naturwissenschaftlicher Präzision charakterisiert Münzer Gärten, Früchte und Pflanzen. Er schreibt über Zuckerrohr und Zuckerhüte, über Seidenraupen, Cochenille zum Färben schönster Tücher, Öl, Wolle oder Wein aus Alicante. Darüber hinaus weiß er von Feigen, Reis, Rosmarin-Honig, Espartogras, Safran und von vielem mehr zu berichten. Ähnlich später in Alicante: Dort fesselt die Rosinenproduktion unseren Humanisten, ebenso der Alicantwein, der nach England, Flandern und nach ganz Europa gesandt wurde. Auch in Alicante führt ein Vertreter der Ravensburger Handelsgesellschaft aus Kempten, Jodocus Schedler, den Arzt durch die Stadt. Der valencianische Hafen und die Schiffe lenken Münzers Interesse auf zwei soziale Gruppen, die ihm bisher weniger vertraut waren: Sklaven und (Hrsg.), Oberschwaben und Spanien an der Schwelle zur Neuzeit. Einfüsse - Wirkungen - Beziehungen. (Oberschwaben - Ansichten und Aussichten 6.) Ostfildern 2006, 33-52]. Zu den Kaufleuten vgl. zusammenfassend Hermann Kellenbenz, Die fremden Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Ders. (Hrsg.), Fremde Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel. Köln/ Wien 1970, 265-376. 21 Vgl. hierzu Schulte, Große Ravensburger Handelsgesellschaft (wie Anm. 20), vor allem Bd. 1, 200 (zu Spohrer) und Bd. 1, 172-182 (mit Stammtafeln zur federführenden Familie Humpis); zusammenfassend Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 272f. 22 Programmatisch, am Beispiel der Frankfurter Messen, hierzu Johannes Fried, Kunst und Kommerz. Über das Zusammenwirken von Wissenschaft und Wirtschaft im Mittelalter vornehmlich am Beispiel der Kaufleute und Handelsmessen, in: Historische Zeitschrift 255, 1992, 281-316. Mit anderem Akzent nun grundlegend Michael Rothmann, Die Frankfurter Messen im Mittelalter. (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 40.) Stuttgart 1998. 23 Der Goldschmied Augustin Nicos aus Lauingen ist in spanischen Urkunden von 1481- 1506 belegt, vgl. Hugo Kehrer, Deutschland in Spanien. Beziehung, Einfluß und Abhängigkeit. München 1953, 119f. und Tammen, Kunsterfahrungen (wie Anm. 13), 57. 24 Schulte, Große Ravensburger Handelsgesellschaft (wie Anm. 20), Bd. 1, 172ff. und 200, vgl. Anm. 21. <?page no="60"?> 60 Pilgerfahrten und Reiseberichte Marranen. Die Sklaven, oft von den Kanarischen Inseln, waren dunkelhäutig, trugen aber inzwischen schon Kleider und seien deshalb - so Münzer im gleichen Atemzug - für den christlichen Glauben zu gewinnen. Zu den Juden, die seit 1492 aus Spanien vertrieben wurden 25 , und zu den Marranen, getauften, aber zuweilen weiterhin verdächtigten Juden, vertritt Münzer die damals - offensichtlich nicht nur in Spanien - herrschende Ansicht: Weil die Juden und die Marranen fast im gesamten spanischen Reich nahezu alle die besten Ämter [158/ 159] innehatten und die Christen bedrängten, hatte Gott Erbarmen und legte in die Herzen des Königs und der Königin den Geist der Wahrheit. Diese vertrieben aus allen ihren Reichsteilen in nur kurzer Zeit mehr als 100 000 Judenfamilien und ließen auch viele Marranen verbrennen. Kulturgeschichtlich ist aufschlußreich, wie Münzer das Leben in den Straßen, Mode und Ladenschlußzeiten, kurzum: andere Gebräuche und Rhythmen, beschreibt: Das valencianische Volk ist sehr höflich und menschlich [. . . ] Die Männer kleiden sich mit schönen und langen Gewändern. Ebenso sind die Frauen über das Maß herausgeputzt. Vorn sind ihre Kleider ausgeschnitten bis zum Busen, so daß du die Brustwarzen ähnlich wie die Knospen der Bäume sehen kannst. Alle schminken sich im Gesicht und beflecken sich mit Ölen und Duftwassern, was schlecht ist. Sie haben auch die Gewohnheit, daß das ganze Volk beiderlei Geschlechtes in den Straßen vom frühen Abend bis in die Nacht hinein spazierengeht; in so großer Menge, daß du dich auf einem Fest wähnst. Jedoch belästigt niemand die anderen. Hätte ich es nicht mit meinen edlen Begleitern, den Kaufleuten aus Ravensburg, gesehen, so würde ich es kaum geglaubt haben. [. . . ] Die Lebensmittelgeschäfte sind offen bis Mitternacht, so kannst du zu jeder gewünschten Stunde in ihnen kaufen, was du willst. Und dann [. . . ] kamen wir zur alten Stadt Murcia, die so groß ist wie Nürnberg, wie ich von einem sehr hohen Turm aus feststellte. Der Ort hat eine sehr schöne und große gewölbte Kirche, die 82 Schritte breit ist und 130 lang, mit wunderschönen Kapellen, einem großen Chorraum mit einem phantastischen Chorgestühl geschmückt sowie einem schönen Kreuzgang. Das Reich war früher eigenständig und gehört nun zu Kastilien; [. . . ] Das Gebiet ist sehr fruchtbar, es bringt Öl, Reis, Mandeln, Getreide hervor; alle Lebensmittel werden auf einem vorzüglichen Markt verkauft. Das ehemalige Nasridenreich und muslimische Traditionen Nach der Begegnung mit dem Wirtschaftsraum Valencia-Alicante und Murcia betrat die Reisegruppe eine andere Welt, die Welt des erst 1492 von den Nasriden eroberten Königreiches Granada 26 . Spuren der alten Strukturen, Spuren 25 Vgl. hierzu den Überblick von Ludwig Vones, Die Vertreibung der spanischen Juden 1492: Politische, religiöse und soziale Hintergründe, in: 1492-1992: 500 Jahre Vertreibung der Juden Spaniens. Aachen 1992, 13-64. Dort auch 121-124, eine deutsche Übersetzung des Vertreibungsdekretes; weiterhin Walther L. Bernecker, Die Vertreibung der Juden aus Spanien. Zur Diskussion des „Dekadenz-Syndrom“, in: Norbert Rehrmann/ Andreas Koechert (Hrsg.), Spanien und die Sepharden. Geschichte, Kultur, Literatur, Tübingen 1999, 27-42 sowie weitere Beiträge in diesem Sammelband. 26 Vgl. hierzu Miguel-Angel Ladero Quesada, Castilla y la conquista del Reino de Granada. <?page no="61"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 61 der militärischen Auseinandersetzung auf Schritt und Tritt! Almería, Granada, Málaga sind die Hauptstationen. Auch nach der christlichen Eroberung lebten dort weiterhin Sarazenen, denn ein Heide gibt seinem Herrn im Jahr mehr Abgaben als drei Christen. Trotzdem werden neue Siedler angelockt, Haus, Garten und Felder stehen - so Münzer - frei zur Verfügung. Es boten sich mithin neue Karrieremöglichkeiten. Aus dem Haus der Mendoza, also aus Kastilien stammte der erst seit kurzem dort fungierende Kastellan von Granada. Münzer berichtet: Als er das Empfehlungsschreiben des Kastellans von Almería [159/ 160] gelesen hatte, empfing er uns mit großen Ehren. Nachdem ich zunächst eine kleine Rede auf lateinisch vorgetragen hatte, die er bestens verstand, denn er war sehr gelehrt, und nachdem er mir unmittelbar geantwortet hatte, zeigte er uns die Seidentapeten und ließ Konfekt und andere Dinge herbeibringen. Die anschließende Führung reicht bis zum sogenannten Bad der Konkubinen: In einem Baderaum gab es ein schönes Marmorbassin, wo die Frauen und Konkubinen nackt badeten. Der König jedoch konnte sie von einem Ort mit Jalousien aus, in einem höheren Stock gelegen, [. . . ], sehen, und derjenigen, die ihm am meisten gefiel, warf er von oben herab einen Apfel zu. Dies als Zeichen, daß er in dieser Nacht mit ihr schlafen wolle. Dachte der Humanist Münzer - er schreibt es nicht - bei dieser Wahl mit dem Apfel an klassische Vorbilder? Der Christ Hieronymus Münzer kommt im ehemals muslimischen Reich Granada aber auch mit dem Islam in Berührung. Barfuß betritt er mehrere Moscheen und beschreibt die Gottesdienste. Vor allem muslimische Friedhöfe beeindruckten ihn: Einen Friedhof vergleicht Münzer mit der Größe von Nördlingen, von einem weiteren weiß er, dieser sei sechsmal so groß wie der Marktplatz von Nürnberg. Über den größten aber schreibt er: Auf dem Weg sahen wir den Friedhof der Sarazenen, der in Wahrheit, glaube ich, zweimal größer ist als Nürnberg, dies bewunderte ich sehr. Mir sagte Johannes aus Speyer, ein vertrauenswürdiger Mann, daß jeder Sarazene in einem neuen und eigenen Grab beigesetzt wird. Sie bauen die Grabmäler mit vier steinernen Tafeln, so klein, daß kaum ein Leichnam hineingeht. Sie bedecken dies mit Ziegelwerk, damit das Erdreich den Leichnam nicht berührt. Erst dann geben sie Erde auf das Grab. Auch weiteres über theologische Vorstellungen, über die Vielweiberei, über die Kleidung und anderes fügt Münzer in seinen Bericht ein, und er folgert: Sie verehren wirklich auf ihre Weise Gott sehr ehrfürchtig. Fortwährend sieht Münzer auch die Orte, die von den Kämpfen um Granada 1492 künden: Nachdem wir ein weiteres Stück hinaufgegangen waren, betraten wir zuerst den Ort, der das Gefängnis der eingekerkerten Christen war. Es ist ein großer Raum, von einer Mauer umgeben, wie die Lorenzkirche [in Nürnberg], es gibt dort 14 tiefe Höhlen, die oben sehr eng sind und nur eine einzige Öffnung besitzen. Grausamkeiten beider Seiten schrecken den Nürnberger Arzt nicht. Sie finden sogar Zustimmung, wenn sie berechtigt erscheinen. Im ehemaligen Granada 1993. Allgemein: Klaus Herbers, Granada, in: [Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski u. a. (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1248]. <?page no="62"?> 62 Pilgerfahrten und Reiseberichte Handelskontor der Genuesen sieht Münzer die verblaßten Wappenabbildungen Deutscher 27 . Insgesamt wird die Gruppe häufig von Landsleuten oder anderen Fremden geführt. So erläutern Andreas aus Fulda und Johannes aus Straßburg den Islam und islamische Bräuche. Erwähnt wird weiterhin der Herold des Grafen in Granada, der wohl schon den böhmischen Adeligen Leo von Rožmi-[160/ 161]tal in Spanien begleitet hatte und die böhmische und lateinische Sprache bestens sprach 28 . Rožmital war knapp dreißig Jahre früher, unter anderem in Begleitung des Nürnbergers Gabriel Tetzel durch Westeuropa gereist. Münzer nennt weiterhin die dort tätigen deutschen Drucker 29 . Die portugiesische Perspektive: Wissenschaft und Handel Im gesamten Süden - auch außerhalb des alten Reiches von Granada - vergißt Münzer nicht, Natur und Anbaumethoden zu beschreiben, so die exotischen Früchte oder die mehrfachen Ernten im Jahr. In Sevilla faszinieren ihn das Bewässerungssystem, Kathedrale und Kirchen 30 . Von dort ging es über Sanlucar nach Portugal. Den portugiesischen König Johannes II., zu dem Münzer durch Intervention des königlichen Redners Cataldus vorgelassen wurde, beurteilt er positiv 31 : Der König Johannes II. ist ein sehr menschlicher Herrscher und in allem sehr weise. Er regiert sein Reich in Frieden und in Ruhe. Er ist äußerst leutselig und ein tiefer Erforscher vieler Dinge. Wer immer zu ihm kommt und sich in Dingen des Krieges, der Schiffahrt oder anderen Wissenschaften zu erkennen gibt, den hört er mit Ruhe an, läßt Beweise und Darbietungen machen, und wenn er diesen für wahrhaftig und tauglich hält, gibt er ihm alles. Er hat auch eine große Gabe, durch Handel und andere Dinge Reichtümer zu erlangen. Er schickt Wolltuche verschiedener Farbe nach Genua, die ähnlich wie die Teppiche in Tunis gemacht werden. Ebenso handelt er mit Wurfspie- 27 Detlev Kraack, Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14.-16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge, Bd. 224.) Göttingen 1997 und Ders., Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise auf den Wegen nach Santiago de Compostela in: Klaus Herbers/ Robert Plötz (Hrsg.), Der Jakobuskult in „Kunst“ und „Literatur“. Zeugnisse in Bild, Monument, Schrift und Ton. (Jakobus-Studien, Bd. 9.) Tübingen 1998, 109-125. 28 Zur Spanienreise des Rožmital vgl. Klaus Herbers/ Robert Plötz, Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans „Ende der Welt“. (dtv, 4718.) München 1996, 99-134. 29 Jakob Magnus von Straßburg, Johannes von Speyer, Jodocus von Gerlishofen und andere; zu den deutschen Druckern auf der Iberischen Halbinsel vgl. allgemein Konrad Häbler, Die deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts im Auslande. München 1924. Erste deutsche Drucker sind ab 1490 in Sevilla belegt, vgl. Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 308; Jordí Rubió, Das Privatleben der deutschen Frühdrucker in Spanien. Mainz 1966 und unten Anm. 74-83. 30 Juan de Silva, Graf von Cifuentes, gibt Münzer und seinen Begleitern Geleitbriefe mit, vgl. zu diesen Usancen: Paravicini, Fürschriften (wie Anm. 15). 31 Zu Johann II. allgemein: Congresso Internacional Bartolomeu Dias e a sua época, Bd. 1: D. Jo-o II e a política quatrocentista, Porto 1989; aus politikgeschichtlicher Sicht: Manuela Mendonça, D. Jo-o II: um percurso humano e politico nas origens da modernidade em Portugal, Lisboa 1991. <?page no="63"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 63 ßen, Pferden und verschiedenen Handelswaren aus Nürnberg [. . . ] und unzähligen anderen Dingen. Ihm werden Gold, Sklaven, Pfeffer, Paradieskörner, Elefantenzähne [. . . ] herbeigebracht. Der Besuch im Hafen von Lissabon - atlantischer und 1494 schon überseeischer orientiert als der Hafen von Valencia - läßt Münzer auch auf norddeutsche und hansische Traditionen treffen; dort lag das Schiff eines Bernhard Fechter aus Danzig 32 . Münzer konnte dort deutsches und englisches Bier trinken, das [161/ 162] ihm gut bekam. Auf einem weiteren Schiff, das zum Abtransport der Marranen bestimmt war, sah Münzer weitere Deutsche: Es waren 30 Schützen aus Vorarlberg 33 . Über die Hafenanlagen schreibt er: Wir sahen auch eine große Werkstatt mit vielen Öfen, wo Anker, Haken (? ) und ähnliches, was mit dem Meer zusammenhängt, hergestellt wird. Alle, die dort arbeiteten, waren so schwarz in ihren Öfen, daß man daran denkt, Zyklopen in der Höhle des Vulkans anzutreffen. Wir sahen schließlich in vier großen Gebäuden [. . . ] Wurfgeschosse, Schilde, Brustharnische, Mörser, [. . . ], Bögen, Lanzen, alles hervorragend fabriziert und in großer Menge vorhanden. Ich rede nicht von den anderen Dingen, die auf den verschiedenen Schiffen verteilt sind. Die Instrumente aus Nürnberg sind nichts im Vergleich mit diesen. Oh wieviel Blei, Kupfer, Natron und Schwefel! Alles gibt es in größter Menge! Dies ist kein Wunder, weil Äthiopien Gold im Übermaß schickt und der König sehr auf sein Vaterland achtet [. . . ]. Ich glaube, daß er jährlich aus dem Seehandel einen unglaublichen Gewinn zieht. Wir waren in einem großen und bedeutenden Haus des Königs beherbergt, in der Wohnung des Schwiegervaters von Martin Behaim 34 , der Jodocus von Hurder hieß, aus Brügge, ein edler Mann und Regent der Inseln von Fayal und Pico. Er hat eine adlige Frau, die sehr gelehrt und klug in allen Dingen ist. Sie [. . . ] erwies uns höchste Ehre. Und dieses Haus ist auf dem Hauptplatz auf einem engen Feld neben dem Kloster des hl. Dominikus. Über Coimbra gelangte Münzer nach Porto, traf dort den hochgelehrten Eduard von Calvo, den Redner und Prediger des Königs von Portugal, der 32 Zu den Routen der Hanse vgl. z. B. die Karten 5 und 6 bei Philippe Dollinger, Die Hanse. Stuttgart 1966. Allgemeine neuere Orientierung bei Klaus Friedland, Die Hanse. (Urban Taschenbücher, Bd. 409.) Stuttgart/ Berlin/ Köln 1991 und bes. bei Rolf Hammel-Kiesow, Die Hanse. (Beck Wissen, Bd. 2131.) München 2000. 33 Militärhilfe aus Deutschland hatte Tradition: Schon bei der Eroberung von Ceuta 1458 waren Georg von Ehingen sowie erfahrene Kanoniere aus Deutschland wie der Schwabe Jakob aus Waiblingen beteiligt. Auch dies fügt Münzer hier ein. Er muß es gehört oder gelesen haben. Zu Ehingens Reise vgl. die Edition: Gabriele Ehrmann (Hrsg.), Georg von Ehingen, Reisen nach der Ritterschaft. Edition, Untersuchung, Kommentar (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 262.) 2 Bde. Göppingen 1979. 34 Über die Beziehungen Martin Behaims zum portugiesischen König Johanns II. vgl. J. Willers, Der Erdglobus des Martin Behaim im Germanischen Nationalmuseum, in: Johannes Rudolf Schmitz [u. a.] (Hrsg.), Humanismus und Naturwissenschaft. (Beiträge zur Humanismusforschung, Bd. 6.) Boppard 1980, 193-206, der von einer Beteiligung Behaims an der Fahrt Diogo Caõs ausgeht. Vgl. allgemein - unter Berücksichtigung auch der portugiesischen Forschung zu Behaim: Hermann Kellenbenz, Martin Behaim, in: Fränkische Lebensbilder III. Würzburg 1969, 69-84, bes. 72-74 (mit der Annahme zweier möglicherweise verschiedener Reisen) und 75f. zum „Erdapfel“. Vgl. unten Anm. 86. <?page no="64"?> 64 Pilgerfahrten und Reiseberichte auch den Meister Münzers, Johannes von Landsberg kannte. Als die Gruppe im Norden den Miño und die Grenze nach Galicien überquerte, nahmen sie im Hause eines Deutschen aus Frankfurt Quartier. [162/ 163] Galicien und das Pilgerzentrum Santiago de Compostela Die Bevölkerung der im 15. Jahrhundert noch als Pilgerzentrum oft besuchten Apostelstadt Santiago de Compostela erhält keine guten Noten: Die Leute seien schmutzig und faul, obwohl das Land selbst fruchtbar sei 35 , meint Münzer. Sie lebten davon, den Pilgern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Schriftliche Vorlagen haben vielleicht Münzers Beschreibung der Kathedrale mitbestimmt. Er nennt Karl den Großen als angeblichen Erbauer der Kathedrale 36 , vergleicht die Seitenschiffe mit der Sebalduskirche und beschreibt das noch heute bestaunte große Weihrauchfaß, den „Botafumeiro“. Privilegien, Prozessionen, ein Begräbnis und anderes erregen Münzers Aufmerksamkeit, und - dies scheint kaum auf den ersten Blick zu seinen humanistisch-kosmographischen Interessen zu passen - er fügt sogar einen Auszug aus dem berühmten Jakobsbuch in seinen Bericht ein. Aber der Rummel, Zeichen einer weitgehend ungebrochenen Pilgerbewegung, sowie die Art der Frömmigkeit gefallen dem Nürnberger Arzt weniger: Dauernd ist ein solches Volksgeschrei in der Kirche, daß man es nicht für möglich halten möchte. Mäßig ist da die Ehrfurcht. Der heilige Apostel wäre es wert, daß man ihn mit größerem Respekt verehrt. Man glaubt, daß er mit seinen zwei Schülern unter dem Hochaltar beerdigt ist, einer zu seiner Rechten und der andere zu seiner Linken 37 . Niemand hat seinen Leichnam gesehen, nicht einmal der kastilische König, als er im Jahr des Herrn 1487 dort zu Besuch war. Und kritisch, fast ironisch fügt er hinzu: Sola fide credimus, quae salvat nos homines. Aber die Pilgerwege zu benutzen bedeutete auch noch in dieser Zeit, von einer besondere Art der Kommunikation zu profitieren. Kurz nachdem Münzer 35 Dieser Abschnitt deutsch bei Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28), 143 und bei Volker Honemann, Santiago de Compostela in deutschen Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts, in: Der Jakobuskult in „Kunst“ und „Literatur“ (wie Anm. 27), 129-139, hier 133f. 36 Dies basiert auf den Angaben des 4. Buches des Liber Sancti Jacobi (Klaus Herbers/ Manuel Santos Noia [Hrsg.], Santiago de Compostela 1999, 203 und 214), von dem Münzer eine adaptierte Fassung herstellen ließ: Ludwig Pfandl, Eine unbekannte handschriftliche Version zum Pseudo-Turpin, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 38, 1914-1917, 596-608; Adalbert Hämel, Hieronymus Münzer und der Pseudo-Turpin, Zeitschrift für Romanische Philologie 54, 1934, 89-98 und jüngst Jeanne E. Kroschalis, 1494: Hieronymus Münzer, Compostela and the Codex Calixtinus, in: Maryjane Dunn und Linda Kay Davidson (Hrsg.),The Pilgrimage to Compostela in the Middle Ages. A Book of Essays. London- New York 1996, 69-96, die Münzers Textteile nicht als Kopien, sondern Adaptationen interpretiert. 37 Zu diesen Apostelschülern, deren Gräber dort sein sollen, vgl. die freilich nicht unumstrittene These von Isidoro Millan González-Pardo, Autenticación arqueológico-epigráfica de la tradición apostólica jacobea, in: El camino de Santiago, Camino de Europa. Pontevedra 1993, 45-105. <?page no="65"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 65 Compostela auf dem sogenannten „Jakobsweg“ in Richtung Osten verlassen hatte und bevor er den Cebreiro überschritt, erfuhr er Neues: Am 25. [Dezember], dem Fest der Geburt des Herrn, ruhten wir uns aus, an diesem Tag erhielt ich durch einen gewissen Pilger den Brief von Jodocus Mayer, einem Schwager meines Bruders, der über die große Epidemie in Nürnberg berichtete. [163/ 164] León-Kastilien und der Empfang bei den Katholischen Königen Die Reise führte dann über Benavente nach Zamora. Salamanca, der nächste Ort, wird fast ausschließlich durch die Universität, die Bibliothek und das dortige Studium gekennzeichnet 38 . Münzer, in Santiago kritisch, erscheint im Marienheiligtum Guadelupe frömmer. Entsprach Guadelupe stärker dem neuen Frömmigkeitsideal? Weinkeller, Wasserversorgung, Küchen und Handwerksbetriebe, alles findet höchstes Lob: Wir sahen in der Schuhmacherwerkstatt viele Leute, die kontinuierlich arbeiteten, und wir sahen so viele Schuhe, wie wir nie in unserem Leben gesehen hatten. Wir sahen weiterhin Handwerker, die das Leder vorbereiteten, unter denen sich ein gewisser Deutscher Almanus aus Preußen, aus Danzig, befand. [. . . ] An der Spitze stand ein gewisser deutscher Priester aus Stettin, in der Mark [Brandenburg] gelegen 39 . Es gibt hier viele Handwerker und Priester aus Deutschland. Gärten, Schlafsäle, ja sogar die beiden Kammern, die für die Könige reserviert waren, wurden den deutschen Gästen gezeigt. Die Sakristei samt Kirchenschatz bezeugt den Reichtum des Klosters. Auch in Toledo, der nächsten Station, listet Münzer den Wert der Objekte akribisch auf. Um den Vergleich mit anderen Städten herzustellen, zitiert er ein spanisches Sprichwort: In Spanien ist Toledo reich, Sevilla groß, Santiago stark und León schön. Madrid, die nächste Station, fehlt in diesem Sprichwort, es gewann erst seit dem ausgehenden 15. und besonders im 16. Jahrhundert an Bedeutung. Der Aufenthalt dort wird durch den Empfang bei den Katholischen Königen geprägt. Als Münzer schließlich am achten Tag zur Audienz vorgelassen wurde, hielt er - extemporiert - angeblich folgende Rede: Heiligste und mächtigste Könige! Die Größe der Taten, die Eure Majestäten vollbracht haben, ist auf dem ganzen Erdkreis bekannt, und die Fürsten und Adligen Deutschlands sind voller Bewunderung, daß die Reiche Spaniens, die in der vergangenen Zeit wegen der zahlreichen inneren Kriege, des versteckten inneren Hasses und der privaten Interessen fast vollkommen erschüttert schienen, am Boden zerstört, daß diese Reiche nun ein Stern in so kurzer Zeit von der höchsten Zerstrittenheit zu einem so großen Frieden [. . . ] hat führen können. Viele glaubten dies nicht. Deshalb und mit der Gunst unseres ehrwürdigsten Königs Maximilian und mit den weiteren Adligen Deutschlands, die 38 Ein kurzer Exkurs zur Nigromantik, der geheimen Wissenschaft und Schwarzen Kunst, fehlt nicht, vgl. hierzu Klaus Herbers, Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Ursula Schaefer (Hrsg.), Artes im Mittelalter, Berlin 1999, 232-248, 246f. 39 Hieronymus Münzer legt Stettin offensichtlich noch in die Mark Brandenburg (in Marchia), nicht nach Pommern. <?page no="66"?> 66 Pilgerfahrten und Reiseberichte auf meine Schultern diese Mission gelegt haben, kam ich mit meiner Begleitung aus den äußersten Ecken Deutschlands, kam nach Spanien, um mit meinen eigenen Augen das sehen zu können, was wir vom Hörensagen schon wußten. [164/ 165] Dann faßt er die eigene Reise zusammen und ermuntert zum Kreuzzug 40 : Ich glaube, daß Euren Majestäten nichts fehlt, außer Euren Triumphen noch die Rückeroberung des Herrengrabes in Jerusalem hinzuzufügen. Nur sie seien dazu geeignet, wie Münzer weitschweifig erläutert: Es wird Euch ein Leichtes sein, dieses Grab des Herrn, unseres Erlösers, dem Schlund der Feinde Gottes zu entreißen und Euch mit Ruhm zu bedecken. Was kann es mehr geben? [. . . ] Oh Herr, laß Deine deutschen Diener in Frieden gehen, denn wir haben die Retter ganz Spaniens gesehen! Wir haben das Licht gesehen, das die unbekannten indischen Rassen entdeckt hat, die Ihr zur Einheit unseres Glaubens führen werdet 41 . Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden den Menschen guten Willens. Ich habe gesprochen. Muslime in Zaragoza, Empfang in Pamplona Über Sigüenza gelangte die Gruppe nach Zaragoza, in das fruchtbare Ebrotal. Zaragoza beeindruckt mit wertvollen Kirchenausstattungen, einer guten Bibliothek. Warum aber erneut Erläuterungen zum Islam? Es gab in Zaragoza noch ein Maurenviertel, vor allem aber erhielt Münzer in einer Moschee durch einen Dolmetscher genauere Informationen: Die Sarazenen, die unterhalb des Klosters der Minderbrüder leben, im neuen Teil der Stadt, haben einen für sie reservierten Raum und eine Art Stadt, wo sie wohnen, in schönen und sauberen Häusern, mit Läden zum Verkauf und einer sehr schönen Moschee, wo ich mich mit einem ihrer Priester durch einen Dolmetsch unterhalten konnte. Er gab mir auf alle meine Fragen Antwort. Er sagte mir, daß als Gründe für eine Scheidung folgende gelten: die Trunkenheit, die Dummheit, der Ehebruch und die Abtreibung bei der Frau; dafür könne sie verstoßen werden und müsse die Mitgift zurückgeben. Wenn sie für einen Ehebruch verstoßen wird, dann werde sie nackt verstoßen und der Mann behalte die Mitgift [. . . ] Sie verheiraten sich mit bis zu sieben Frauen, wie es David machte, dem sie angeblich folgen. Aber weil sie unter Christen leben, ist ihnen nicht erlaubt, mehr als eine zu haben, und sie können sie nicht fortschicken wegen unserer Gesetze. Der Koran verbietet den Ehemännern, die Frauen zu schlagen oder sie zu töten, wenn sie sie nicht wegschicken. Die Sarazenen, so heißt es weiter, sind sehr starke Männer und gut gebaut, und sie halten sehr harte Arbeiten aus. Sie widmen sich speziell handwerklichen Arbeiten. Sie sind Schmiede, Töpfer, Maurer, Zimmermänner, Müller, Auspresser von Wein und Öl und so weiter. [165/ 166] 40 Zur Idee der Türkenkreuzzüge im späten Mittelalter vgl. zusammenfassend Klaus-Peter Matschke, Türkenkriege, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8. München-Zürich 1997, 1006- 1108 mit weiterer Literatur. Vgl. zur früheren Zeit Martin Kintzinger, Sigismond, roi d’Hongrie, et la croisade, in: Annales de Bourgogne, 68 (H. 3.), 1996, 23-33 und die verschiedenen Beiträge in dem Sonderheft: Franz-Reiner Erkens (Hrsg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 20.) Berlin 1997. 41 Vgl. hierzu den Anklang und die Übernahme aus dem Nunc dimittis, Lk 2, 29-32. <?page no="67"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 67 Wie wird das Öl gewonnen? Hierzu Münzer: In der „Morería“ gibt es eine große und sehr schöne Ölmühle. Es ist ein wunderbares Werk, und es funktioniert folgendermaßen: Sie haben einen großen Mühlstein, den ein Pferd oder ein Maultier durch verschiedene Runden zieht und so die Oliven zerkleinert, [. . . ] Dann nehmen sie 10 oder 12 Binsenkörbe, voll mit zerdrückten Oliven und stellen einen über den anderen [. . . ], pressen sie dann aus und fügen ständig kochendes Wasser hinzu; damit waschen sie das Öl, das in ein Gefäß unterhalb der Presse fließt. Und dann folgt wieder ironisch, ja vielleicht sogar arrogant: Es ist eine Eselsarbeit und eine sehr schmutzige Aufgabe, aber angenehm zu sehen. Über Tudela gelangt Münzer nach Navarra, in Pamplona wird er wiederum durch Vermittler zum König vorgelassen. Schließlich überquert die Gruppe bei Roncesvalles die Pyrenäen 42 , um über Frankreich, die Niederlande, Köln, Frankfurt und Worms nach Nürnberg zurückzukehren. IV. Interpretation und Folgerungen - Kontaktfelder Nürnbergs auf der Iberischen Halbinsel Was bietet der Bericht für das Thema „Nürnberg und die Iberische Halbinsel“? Zunächst ist der Bericht nicht nur Beschreibung, sondern selbst ein Zeugnis von Austausch- und Transferprozessen. Münzer erfaßt Neues, setzt es in Bezug zu Bekanntem, sucht die Vogelperspektive. Mehr als 20mal ist Nürnberg Vergleichsmaßstab. Diese Art des Sehens gründet vor allem in seinen kosmographischen Interessen. Weiteres erfährt er bevorzugt durch die verschiedenen Mittler, Händler, Mönche, Dolmetscher, Gelehrte und andere, die ihm ihre Eindrücke weitergeben. So ist Münzer zugleich Informant und Rezipient. Er vermittelt in hohem Maße, was Spanier an Nürnberg, was Nürnberger Humanisten dieser Zeit an der Iberischen Halbinsel interessieren konnte. Die Passagen, die ich aus seinem Bericht besonders hervorgehoben habe, unterstreichen insgesamt vielfältige deutsch-spanische Beziehungen in dieser Zeit; es dominierte der oberdeutsche Raum, in den Nürnberg eingeschlossen war. Die verschiedenen Händler in Barcelona, Valencia und Lissabon, die deutschen Drucker in Sevilla und Málaga, die Kriegsteilnehmer in Granada, die Kriegsspezialisten und Wissenschaftler in Lissabon, Handwerker in Guadelupe, Mühlenbauer in Zaragoza, Pilger, Dolmetscher und Herolde sowie die vielen Personen in den verschiedenen Klöstern oder die deutschen Gastfamilien hebe ich erneut hervor. Der Bericht bietet jedoch lediglich eine Moment-[166/ 167]aufnahme von 1494/ 95. Deshalb sind die verschiedenen Felder, von denen ich fünf unterscheide, und ihre historisch-systematischen Verschränkungen nun noch näher zu charakterisieren. 42 In Roncesvalles, dort, wo die Nachhut Karls des Großen angegriffen wurde, wie Münzer mit dem Hinweis auf Rolandstraditionen hervorhebt. Zur Formierung der karolingischen Traditionen um Roncesvalles vgl. aus der Vielzahl der Publikationen zum Beispiel Barton Sholod, Charlemagne in Spain: The cultural legacy of Roncesvalles. (Histoire des idées et critique littéraire, Bd. 71.) Genf 1966. <?page no="68"?> 68 Pilgerfahrten und Reiseberichte a) Pilger und Reisende nach Santiago Im historischen Kontext bieten sicher die Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela das früheste Referenzsystem. Dieser Ort im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel, der seit dem 9. Jahrhundert auf den Besitz der Reliquien Jakobus’ des Älteren verwies, war seit dem 11./ 12. Jahrhundert neben Rom und Jerusalem zu einem der bedeutendsten Pilgerzentren des Christentums aufgestiegen. Unter den Pilgern finden sich seit dieser Zeit auch Franken - häufig Unterfranken -, jedoch fehlen Einzelnachweise namentlich überlieferter Nürnberger Pilger bis in das beginnende 15. Jahrhundert 43 . Die Liste der danach namentlich belegten Personen reicht von Nikolaus Rummel 1408 oder 1409, über Angehörige der Familie Rieter, Gabriel Tetzel als Begleiter Leos von Rožmital, Andreas Imhof, Sebald Oertel bis hin zu Stephan III. Praun 1572 und Erkenbrecht Koler in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts 44 . Insgesamt waren es vor allem wichtige Familien des Nürnberger Patriziates, auch noch nach der Reformation, die den Weg nach Santiago de Compostela suchten. Weitere, weniger prominente Pilger aus Nürnberg dürften ebenso nach Compostela aufgebrochen sein, von ihnen sind jedoch meist keine schriftlichen Quellen erhalten. Einer der populärsten Pilgerführer aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert mit einer Wegbeschreibung nach Santiago de Compostela, wurde jedoch zweimal zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Nürnberg (1520 und 1521, einmal bei Jobst Gutknecht) aufgelegt. Dies läßt vermuten, daß gerade in Nürnberg die Pilgerfahrt nach Compostela nicht nur bei Adeligen besonders beliebt war 45 . [167/ 170] Zwei Tendenzen scheinen mir aber für die namentlich belegten Pilger charakteristisch: 1. Die meisten besuchten zwar Santiago, standen aber oft in der Tradition der spätmittelalterlichen Adelsreise. Sie gingen an verschiedene Höfe, sammelten Ehre und machten diese auch durch das Anbringen von Wappen 43 Robert Plötz, Santiago-peregrinatio und Jacobuskult mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Frankenlandes, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. 1. Reihe. Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens. Bd. 31, Münster 1984, 25-135, zu fränkischen Pilgern bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts vgl. 97-112. Vgl. außerdem: Klaus Dieter Kniffki (Hrsg.), Jakobus in Franken. Unterwegs im Zeichen der Muschel. Würzburg 1992. 44 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Peter Rieter 1428, Jobst Pfinzing 1436 (nicht ganz sicher), Sebald Rieter 1462; Gabriel Tetzel und weitere Nürnberger als Begleiter des böhmischen Adeligen Leo von Rožmital 1465-1468; Hieronymus Münzer 1494/ 95; Andreas Imhoff 1505 (Indulgenz auf Andreas Imhoff); Sebald Oertel 1521-1522, Hieronymus Koeler 1536 (nur am Cap Finisterre bei Compostela vorbeigefahren), Stephan III. Praun 1572, Erkenbrecht Koler 1587-1593, vgl. Plötz, Santiago-peregrinatio und Jacobuskult (wie Anm. 43), 97-112, soweit Berichte erhalten sind, vgl. auch Textauszüge bei Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28). 45 Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28), 170-172 mit kurzer sprachlicher Untersuchung, denn bei aller gebotenen Vorsicht läßt dies der mundartliche angepaßte Text zumindest vermuten. <?page no="69"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 69 sichtbar 46 . Auch Stephan III. Praun, von dem wir sogar Paß und Pilgerbestätigung besitzen und dessen Pilgerkleidung aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch heute im Germanischen Nationalmuseum zu bestaunen ist, gehört eher zum Typus adeliger Reisender. 2. Mehrere der genannten Pilger sind zugleich Handelsreisende. Sie pilgern nicht nur, sondern tätigen auch Geschäfte oder verfolgen weitere Aufgaben, wie die Fahrten der Familie Rieter belegen. Auch der überlieferte Ablaßbrief zu Andreas Imhoff aus dem Jahre 1509 läßt ähnliches vermuten 47 . Bei Sebald Oertel, der 1521-1522 pilgerte, ist nichts derartiges zu erkennen. Er machte sich auf den Weg nach Santiago, bevor er endgültig nach seiner Rückkehr am 11. Februar 1522 Anna von Ploben heiratete. Aus seinem Reisetagebuch spricht der Kaufmann: Vor allem Ausgaben werden notiert 48 . Pilger zu sein und weitere Ziele zu verfolgen ist schon seit den frühesten belegten Formen des Pilgerns immer wieder üblich, tritt aber in den Nürnberger Quellen des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts besonders deutlich hervor. Der sogenannte „Jakobsweg“ durch Nordspanien funktionierte jedoch zugleich als Kommunikationsachse: So erfuhr Hieronymus Münzer auf seinem Weg von Santiago nach Astorga Neues über die Pest in Nürnberg. Daß aber dieser „Jakobsweg“ durch den Norden Spaniens nicht mehr die allein bevorzugte Eingangsstraße auf die Iberische Halbinsel war, zeigen die überlieferten Wegstrecken weiterer Pilger, als Beispiel diene wiederum Hieronymus Münzer 49 . Diese Wegstrecken verraten, daß Santiago de Compostela oft nur noch eines unter mehreren Zielen der Iberischen Halbinsel war. b) Der Mittelmeerhandel Der Weg Münzers führte nicht nach Santiago, sondern zunächst in das traditionelle oberdeutsche Handelsgebiet im Mittelmeerraum, das seit den Studien von Hektor Ammann, Hermann Kellenbenz, Wolfang von Stromer und [170/ 171] anderen 50 zu einem bevorzugten Thema Nürnberger Wirtschaftsgeschich- 46 Werner Paravicini, Von der Heidenfahrt zur Kavalierstour. Über Motive und Formen adligen Reisens im späten Mittelalter, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. (Wissensliteratur im Mittelalter, Bd. 13.) Wiesbaden 1993, 91-130. Zu Wappen und anderen Zeichen vgl. Kraack, Monumentale Zeugnisse (wie Anm. 27). 47 Vgl. zu den weiteren Personen oben Anm. 44. 48 Vgl. Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28), 235-247. Eine erneute Untersuchung der im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrten Handschrift ergab für den hier verfolgten Zusammenhang keine zusätzlichen Aufschlüsse. 49 Vgl. Herbers, Spanienreisen (wie Anm. 13) und die dort diskutierten Routen. 50 Hektor Ammann, Deutsch-spanische Wirtschaftsbeziehungen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in: Kellenbenz (Hrsg.), Fremde Kaufleute (wie Anm. 20), 132-155 und Ders., Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter. (Nürnberger Forschungen, Bd. 13.) Nürnberg 1970 (vgl. auch die beigefügten Karten); Kellenbenz, Die <?page no="70"?> 70 Pilgerfahrten und Reiseberichte te über das 15. und 16. Jahrhundert gehört. Seit wann sind hier Nürnberger Spuren erkennbar? Das Zollbuch der Deutschen in Barcelona von 1425-1440 51 gilt als zentrale Quelle für die Aktivitäten deutscher Händler in der Krone Aragón. Dieses Buch wurde angelegt, nachdem der König den Handel der Deutschen und Savoyer 1420 erstmals mit großen Zollprivilegien förderte 52 . Das Zollbuch und weitere inzwischen erschlossene Quellen bieten jedoch nur Ausschnitte. Einzelne Nachweise zu Nürnberger Händlern stammen bereits aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts 53 . Aus den Aufzeichnungen Ulman Stromers 54 wissen wir, daß dieser Barcelona und die dortigen Straßen und Handelsbräuche kannte 55 , und schon 1357 übte ein Schwiegersohn des Ott Stromeir mit dem Namen Kupfermann in Nürnberg im Nebenamt die Funktion des vereidigten Safranschauers aus 56 . Dies ist deshalb aufschlußreich, weil Safran zu den wichtigsten Handelsobjekten der Nürnberger Kaufleute gehörte. In Nürnberg hergestellte Metallwaren wurden im Gegenzug in Aragón abgesetzt: Leuchter, Kupferplatten, Nägel, Nadeln, Sporen, Schlüssel und weiteres. Zurück brachten die Kaufleute oft außer dem begehrten Safran Zucker, Datteln, Mandeln, [171/ fremden Kaufleute (wie Anm. 20); Wolfgang von Stromer, Oberdeutsche Unternehmen im Handel mit der Iberischen Halbinsel im 14. und 15. Jahrhundert, in: Kellenbenz (Hrsg.), Fremde Kaufleute (wie Anm. 20), 156-175. Vgl. in größerem Zusammenhang auch den Sammelband: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Bd. 1. (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg Bd. 11/ 1.) Nürnberg 1967, und darin besonders den Beitrag von Hermann Kellenbenz, Die Beziehungen Nürnbergs zur Iberischen Halbinsel besonders im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ebd. 456-493. 51 Konrad Haebler, Das Zollbuch der Deutschen in Barcelona (1424-1440) und der deutsche Handel mit Katalonien bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte NF 10, 1901, 111-160; 331-363 sowie NF 11, 1902, 356-417. 52 Ammann, Deutsch-spanische Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 50), 135. 53 Allgemein Ammann, Deutsch-spanische Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 50), 138f., und Kellenbenz, Beziehungen Nürnbergs (wie Anm. 50), 457. Das Hauptproblem der Belege vor dem Zollbuch liegt oft in der Identifizierung und Zuordnung der häufig verballhornten Namen. 1419 ist der Safranhändler Hans Horn aus Nürnberg belegt. - Empfänger eines Privilegs König Ferdinands von Aragón 1415 sind unter anderem vier Nürnberger Kaufleute; vgl. Ammann (wie Anm. 50), 120, sowie von Stromer, Oberdeutsche Unternehmen (wie Anm. 50), 160, und Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 68. 54 Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der deutschen Städte. Die Chroniken der Fränkischen Städte. Nürnberg. Bd. 1. Leipzig 1862, 102 (zu Saffran und Katalonien); vgl. hierzu Ammann, Deutsch-spanische Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 50), 136, mit weiteren Hinweisen zur Frühzeit. - Eine Spanienreise von Niklas Muffel, wie sie im Roman von Olga Pöhlmann, Niklas Muffel, Der Losunger, 1948, 41ff. dargestellt wird, muß wohl auf einem Versehen beruhen (ich danke Herrn Kollegen Prof. Dr. H. Neuhaus für den Hinweis auf diesen Roman). 55 Vgl. außer der vorigen Anm. auch von Stromer, Oberdeutsche Unternehmen (wie Anm. 50), 163f. mit Anm. 26 56 Von Stromer, Oberdeutsche Unternehmen (wie Anm. 50), 164 mit den Belegen in Anm. 31. <?page no="71"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 71 172] Feigen, Anis und Kümmel 57 , Produkte, die ja im übrigen auch Münzers Interesse fanden. Die oberdeutschen Handelsgesellschaften arbeiten meist Hand in Hand. Barcelona, wo sich der Handel lange Zeit konzentrierte, sei von Valencia abgelöst worden, teilt Münzer für das Ende des 15. Jahrhunderts mit. Die Verlagerung führt er auf Unruhen in Barcelona zurück, hinzufügen sollte man jedoch, daß in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neue Zölle wohl den Barcelonahandel weiter belasteten 58 . Seine Beschreibung Valencias zeigt weiterhin, daß die Ravensburger Handelsgesellschaft sich auf den neuen Mittelpunkt in Valencia auch schon mit einer neuen Niederlassung und Klostergründung eingestellt hatte. Wollte er vielleicht mit seinen Bemerkungen zu Valencia auch das weitere Engagement Nürnberger Händler fördern? c) Atlantikhandel und Entdeckungen Sucht man in Münzers Text nach Impulsen, vielleicht sogar Empfehlungen, dann war ihm vielleicht ein weiterer Ort wichtiger als Valencia und Barcelona: Lissabon. Dieser dritte Bereich Nürnberger Kontakte betrifft den neuen Atlantikhandel und die Perspektive der sogenannten „Entdeckungsfahrten“. Münzer traf schon in Málaga Bernhard Boil, der mit Kolumbus nach Westen gesegelt war; er hielt sich lange und gerne in Lissabon in der Umgebung des portugiesischen Königs Johann II., aber auch bei König Ferdinand II. in Madrid auf. Weltpolitik in Lissabon, dies dokumentiert Münzers Momentaufnahme: Die traditionellen Beziehungen mit der Hanse und dem Ostseeraum werden ihm am Hafen buchstäblich vor Augen geführt, die wissenschaftlichen Interessen des Königs erfährt er im Gespräch, den Handel mit Nürnberger Waren sieht er direkt, bei Martin Behaims Schwiegervater aus Brügge wohnt er, das Engagement deutscher Söldner für die weiteren Eroberungszüge beschreibt er. Aber er notiert auch resigniert: Die Instrumente aus Nürnberg sind nichts im Vergleich mit diesen. Hatten noch vielfach - bis ins ausgehende 15. Jahrhundert - die Hanse und Danziger Kaufleute mit Lissabon gehandelt 59 , so scheinen sich oberdeutsche [172/ 173] Beziehungen langsam in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in 57 Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 69. Zum Safranhandel aufgrund der Tucherbriefe im Stadtarchiv Nürnberg, vgl. Hermann Kellenbenz, Nürnberger Safranhändler in Spanien, in: Ders., Fremde Kaufleute (wie Anm. 20), 197-225. 58 Vgl. Kellenbenz, Beziehungen Nürnbergs (wie Anm. 50), 462. Vgl. Claude Carrère, Barcelone, centre économique à l’époque des difficultés 1380-1462 (Civilisations et sociétés, Bd. 5.) Paris 1967; zusammenfassend für diese Zeit ebd., 928f.; siehe auch Carme Batlle i Gallart, La crisis social y económica de Barcelona a mediados del siglo XV. 2 Bde. Barcelona 1973 (hauptsächlich zu den sozialen Auseinandersetzungen). 59 Immerhin hatten sogar niederdeutsche Kreuzritter an der Eroberung Lissabons 1147 von den Muslimen mitgewirkt: vgl. Klaus Herbers, Cruzada y peregrinación. Viajes marítimos, guerra santa y devoción, in: Vicente Almazán (Hrsg.), Actas del II Congreso internacional <?page no="72"?> 72 Pilgerfahrten und Reiseberichte dieses Geflecht einzufädeln 60 . Nach einigen Rittern, die an Afrika-Fahrten beteiligt waren, ist vor allem Martin II. Behaim zu nennen. Zwar ist seine Rolle und mithin auch das Gewicht Nürnbergs bei den portugiesischen Afrika-Fahrten immer noch umstritten 61 , vielleicht wollte er jedoch mit dem unter seinem Einfluß entstandenen Erdapfel auch die Interessen Nürnberger Kaufleute auf die neuen überseeischen Ziele der Portugiesen lenken 62 . Hatte Münzer dies mit seinem Besuch und seinen Zeilen auch vor? In der Folge sind jedenfalls Patriziersöhne aus den Familien Stromer, Holzschuher, Hirschvogel und Imhoff in Lissabon belegt. Die geistig-geistliche Orientierung der Deutschen in der Lissaboner Bartholomäusbruderschaft könnte deren Lebensform aus weiterer Perspektive erhellen 63 . Nürnberger Kaufleute blieben am Tejo präsent, auch noch in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Sie beteiligten sich auch an Indienfahrten, so beispielsweise die Häuser Hirschvogel und Imhoff im Jahre 1505. Aber direkte Teilnahmen wurden seit 1505 vor allem wegen der monopolistischen Politik Manuels I. (1495-1521) zunehmend schwieriger. Wie in Barcelona und Valencia wirkten Nürnberger Händler in Lissabon im Verbund mit dem gesamten oberdeutschen Handel: Der Augsburger Händler und Santiagopilger Lucas Rem war Schwager des Leonhard Hirschvogel. Die Familie der Welser 64 war mit den Familien Rem, Gossembrot und Imhoff verschwägert. „Unser“ Humanist Münzer war der Schwiegervater von Hieronymus Holzschuher, den Dürer ja 1526 gemalt hat 65 und der an dessen de estudios jacobeos. Santiago de Compostela 1998, 27-39. 60 Vgl. allgemein hierzu Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 316f. Vgl. auch Anm. 32. 61 Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), 72-74. Vgl. auch Anm. 86. 62 Vgl. Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), 76f. mit Hinweis auf die These von Götz von Pölnitz, wonach Behaim den Nürnbergaufenthalt und die Anfertigung des Globus (mit dem Verweis auf exotische Produkte) dazu benutzen wollte, die kapitalkräftigen Nürnberger Kaufleute für eine Expedition nach Übersee zu gewinnen. Andere vermuten, der Nürnberger Aufenthalt Behaims habe auch durch abschreckende Legenden dazu dienen sollen, mögliche Konkurrenten Portugals auszuschalten. 63 Eine eigene Untersuchung scheint zu fehlen, vgl. Hinweise bei Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), 76 und 80 (zu Hans Stromer, der dort 1490 beigesetzt wurde sowie zu Martin Behaim, der im wohl zugehörigen Bartholomäus-Hospital starb, aber in der Dominikanerkirche beigesetzt wurde). 64 Der Nürnberger Zweig der Familie Welser stellte hier wohl die wichtigsten Vertreter Nürnbergs in Lissabon, vgl. Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 323. 65 Vgl. Valentin Scherer, Dürer. Des Meisters Gemälde. 2. Aufl. Stuttgart/ Leipzig 1906, 390 zu Abb. 69; aus vergleichender Perspektive H. Tanaka, Dürers Porträtkunst im Jahre 1526 und die „Vier Apostel“. Eine neue Interpretation basierend auf dem Ausdruck der „Vier Temperamente“, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstgeschichte 34, 1981, 217-226, bes. 222, Abb. 19 und 21, und Donald B. Kuspit, Dürer and the Lutheran image, in: Art in America 63/ 1, 1975, 56-61, bes. 59. - Zum Wappen der Holzschuher Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), Tafel V. <?page no="73"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 73 [173/ 174] späteren Unternehmungen, auch in Lissabon 66 , beteiligt war 67 . Wie es heißt, vertrugen viele oberdeutsche Händler das Klima am Tejo nicht und erkrankten. Nicht nur deswegen ebbte die Nürnberger Präsenz in Lissabon ab. Die Stadt blieb nur für eine Zeit das Sprungbrett nach Afrika und Indien, der Handel mit der Neuen Welt brachte aber - auch für Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel - bald andere Herausforderungen 68 . d) Politische Aufträge Das Beispiel Lissabon lenkt auf politische Implikationen der Nürnberger Beziehungen zur Iberischen Halbinsel. Hofbesuche standen nicht nur in der Tradition der genannten Adelsreisen, sondern der Aufenthalt Münzers an den verschiedenen Königshöfen deutet weitere politische Aufträge an. Besonders in Lissabon und in Madrid erscheint Münzer als politischer Gesandter. Dabei ergab sich wohl sein Auftrag direkt aus wissenschaftlichen und Handelsinteressen. Münzer hatte schon am 14. Juli 1493 an König Johann II. von Portugal geschrieben und diesen im Namen Maximilians I. zur Umsegelung der Welt aufgefordert, um China zu erreichen. Dabei empfahl er Martin Behaim als kundigen Seemann und Begleiter 69 . Sollte Münzer den spanischen oder portu- 66 Vgl. zu Hieronymus Holzschuher und zu anderen Händlern in Lissabon, zu denen auch die Nürnberger Familie Hirschvogel gehörte, Christa Schaper, Die Hirschvogel von Nürnberg und ihre Faktoren in Lissabon und Sevilla, in: Kellenbenz (Hrsg.), Fremde Kaufleute (wie Anm. 20), 176-196, bes. 179 mit Anm. 21. Ausführlicher Dies., Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus. (Nürnberger Forschungen, Bd. 18.) Nürnberg 1973 (mit chronologischem Abriß auch zu den Hirschvogel-Niederlassungen in Sevilla und Lissabon unter Berücksichtigung auch anderer Händler). 67 Vgl. zu dieser und zu anderen Verflechtungen Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 319. 68 Diese Tendenzen kennzeichnen vor allem das 16. Jahrhundert, vgl. hierzu den Beitrag von Walther L. Bernecker in diesem Band [Walther L. Bernecker, Nürnberg und die überseeische Expansion im 16. Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit. Nürnberg 2000, 185-218]. Bezüglich Nürnberg ist vor allem Jakob Fischer interessant, der etwa in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts in Lissabon auftauchte und den Hof mit Waren des deutschen Exportkatalogs bediente, u. a. mit Waffen, vgl. Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 324. Allgemein zur weiteren Entwicklung im 16. Jahrhundert und zur Bedeutung Lissabons, zu den Verlagerungen nach Sevilla, zu Martin Behaim sowie zum beginnenden Amerika-Handel, vgl. zusammenfassend Kellenbenz, Beziehungen Nürnbergs (wie Anm. 50), 468-479. 69 Dieser Brief ist in deutscher Fassung bequem einsehbar bei Richard Hennig, Terrae incognitae. Bd. 4. Leiden 1939, 254-257; 256f.: „Du sollst, [. . . ] auch einen von unsrem König Maximilian abgesandten Landsmann erhalten, Herrn Martin Behaim, der beauftragt worden ist, ganz besonders jenes auszuführen, und viele andere erfahrene Seeleute [. . . ]“. Behaim soll an den portugiesischen Entdeckungsfahrten der 80er Jahre maßgeblich beteiligt gewesen sein soll. Vgl. zur Diskussion von pro und contra Matthias Meyn, in: Die Großen Entdeckungen. (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2.) München 1984, 70-72 (72 Anm. 2 skeptisch zur tatsächlichen Beteiligung Behaims). Allgemein Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), der auch zu möglichen Tendenzen gegen die kastilische Konkurrenz Stellung bezieht. <?page no="74"?> 74 Pilgerfahrten und Reiseberichte giesischen Herrscher bei seiner Reise 1494 auch von einer Entdeckungsfahrt in ozeanische Gefilde überzeugen? Ein solcher diplomatischer [174/ 175] Auftrag ist nicht auszuschließen. Außer den bisherigen Überlegungen spricht dafür zumindest auch, daß im Manuskript des hier vorgestellten Reiseberichtes ein Traktakt Münzers zu den portugiesischen Entdeckungsreisen enthalten ist 70 . Vergleicht man die besprochenen Themen in Lissabon und Madrid, dann dürfte sich hier auch eine Stellungnahme in der portugiesisch-kastilischen Konkurrenz beim Ringen um den günstigsten Weg nach Indien 71 ausdrücken. Wie auch im Falle Münzers scheinen diplomatische Missionen oft mit anderen Aufträgen verbunden gewesen zu sein. Auch Behaim war in diesem Sinne zugleich politisch tätig. Zum adeligen Selbstverständnis trug der Ritterschlag bei: Martin Behaim wird zum Ritter des Christusordens, Wolfgang Holzschuher wird wegen seiner Verdienste in der Schlacht von König Manuel I. zum Ritter geschlagen 72 . e) Wissenschaftlich-kulturelle Interessen Lissabon deutet zugleich den letzten von mir unterschiedenen, besonders breiten Bereich an, der die wissenschaftlich-kulturellen Interessen unseres Berichterstatters betrifft. Kosmographische Bemerkungen zu Entfernungen, Lage und Topographie, aber auch ethnographische zu Juden, Muslimen oder allgemein zu ihm fremden Gebräuchen finden sich zahlreich. Seine Informationen - so über die muslimische Religion - erhielt er nicht immer aus erster Hand, sondern durch die Erzählungen und die Hinweise anderer Deutscher, zuweilen durch Nürnberger. Auch die verschiedenen Kirchen, Klöster und Paläste erschließen sich ihm vornehmlich durch weitere Personen. Im Kloster „Vallis Jesu“ bei Valencia oder in Guadelupe fällt dies besonders auf. Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel gehören aber noch zu einer weiteren Gruppe, die Hieronymus Münzer allgemein im Zusammenhang mit seinem 70 Friedrich Kunstmann (Hrsg.), Hieronymus Münzer, Bericht über die Entdeckung der Guinea, mit einleitender Erklärung, in: Abhandlungen der Historischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7,3. München 1854, 291-362 (und separat), vgl. Pfandl (Hrsg.), Itinerarium (wie Anm. 1), 147-149. Der Text findet sich auf den letzten Folien derselben Hs. CLM 431. Auch Tetzel hatte in seinem Bericht über Rožmitals Fahrt von portugiesischen Entdeckungsreisen berichtet, vgl. Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28), 116. 71 Behaim war 1493 nach Lissabon zurückgereist. Danach, 1494, führte er eine Mission in Flandern aus. Am 7. Juni kam der Vertrag von Tordesillas zustande, in dem es um die Abgrenzung einer spanischen und portugiesischen Einflußzone ging. Wenig später, am 23. Juni wurden in Köln die Artikel zwischen Fernandes Correa, dem Faktor Johanns II. in Flandern, und Maximilian bzw. dessen Sohn Philipp abgeschlossen. Nur wenig später reiste aber Münzer - vielleicht auch im Auftrag Maximilians - auf die Iberische Halbinsel, vgl. Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), 78f. 72 Vgl. Kellenbenz, Beziehungen Nürnbergs (wie Anm. 50), 468 mit Anm. 51. - Dies vermerkt sein „Geschlechtsverwandter“ Lazarus: „wurd vom könig von Portugal Emanuel von <?page no="75"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 75 Besuch in Sevilla erwähnt: die deutschen Buchdrucker, die Lope de Vega die [175/ 176] „Waffenschmiede der Bildung“ nannte 73 . Schon 1472, vier Jahre nach Gutenbergs Tod (1468), finden sich die ersten deutschen Buchdrucker auf der Iberischen Halbinsel 74 . Segovia, Valencia, Zaragoza sind wichtige Orte mit deutschen Druckern, die aus zumeist süddeutschen Städten, darunter auch aus Nürnberg kamen 75 . In Sevilla sollen 1491 „cuatro compañeros alemanes“ tätig gewesen sein 76 . Ein namentlich belegter Nürnberger ist Johannes Pegnitzer, der 1490 in Sevilla druckte 77 . „Es genügt zu wissen, daß Deutsche es gewesen sind, die das Drucken die Spanier lehrten“, so formulierte Hugo Kehrer noch 1953 78 . Aber warum kamen sie? Die genannten Buchdrucker folgten wohl dem oberdeutschen und auch Nürnberger Handel nach Spanien, kamen zunächst aus Isny und Konstanz 79 , und siedelten sich 1490 vielleicht nach Gründung der Fuggerschen Faktorei in Sevilla an 80 . Händler, Adelige und Bischöfe verpflichteten sie zur Arbeit, zumal im eroberten Reich von Granada liturgische Bücher neu benötigt wurden. Die deutschen Drucker lassen sich zumeist aus den Titelblättern und den verwendeten Lettern erschließen. Wie sie gleichsam in der Fremde lebten, hat zum Beispiel Jordi Rubió anhand einzelner Archivalien verfolgen können 81 . Zu Hans Koberger, wohl ein Neffe des bekannten Nürnberger Buchdruckers und Verlegers Anton Koberger 82 , fand er heraus, daß dieser 1495 am Platz des wegen seiner ritterlichen dat in der der schlacht als ein oberster gegen den weisen morn zu einem ritter geschlagen“, zitiert nach Reicke, Geschichte Nürnberg (wie Anm. 3), 99. 73 Zitiert nach Hermann J. Hüffer, Aus 1200 Jahren deutsch-spanischer Beziehungen. Ein Überblick, in: Romanistisches Jahrbuch 3, 1950, 85-123, hier 96, vgl. Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 66. 74 Klassisch hierzu Konrad Haebler, Die deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts im Auslande. München 1924, bes. 266f. zu Nürnberger Druckern in Spanien; Ders., Geschichte des spanischen Frühdrucks in Stammbäumen. Leipzig 1923, 262-300. 75 Ältere Zusammenfassung bei Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 65f. 76 Haebler, Geschichte des spanischen Frühdrucks in Stammbäumen (wie Anm. 74), 262-300; vgl. Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 65. 77 Zu den Werken, an deren Herstellung Pegnitzer beteiligt war, gehört das auf Veranlassung von Königin Isabella gedruckte „Vocabulario universal en latín y en romance“ des Alfonso Fernández de Palencia von 1491; vgl. Ferdinand Geldner, Buchdruck. B. Verbreitung des frühen Buchdrucks und bedeutende Druckorte, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2., München/ Zürich 1983, 821, vgl. D. Briesemeister, Fernández de Palencia, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4. München/ Zürich 1989, 374f. 78 Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 66. 79 Geldner, Buchdruck. B. Verbreitung (wie Anm. 77), 821. 80 Kellenbenz, Die fremden Kaufleute (wie Anm. 20), 308. 81 Rubió, Privatleben (wie Anm. 29). Ders., Integración de los impresores alemanes en la vida social y económica de Cataluña y Valencia en los siglos XV y XVI, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. 1. Reihe, 20, 1962, 103-122. 82 Er war Dürers Pate; vielleicht war er sogar ein Vetter des bekannten Nürnbergers Anton Koberger; vgl. Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 66, nach Rubió, Privatleben (wie Anm. 29), 16, aber ein Neffe. - Erst in den 80er Jahren erreichte der Buchdruck Portugal, auch hier waren deutsche Drucker maßgeblich beteiligt, ob sich unter diesen <?page no="76"?> 76 Pilgerfahrten und Reiseberichte Jakobsbrunnens in Barcelona für fünf Jahre von einem Silberschmied einen Laden mietete, mit zwei Türen zur Straße. Nach zwei Jahren verkaufte er die Buchhandlung an einen burgundischen Buchhändler, in dessen Auftrag ein [176/ 177] Mann namens Mazan die Geschäfte übernahm. Koberger ging 1498 in Geschäften seines Onkels nach Lyon - die Beziehungen von Frühdruck und Handel werden hier deutlich. Aber bevor er abreiste, bemühte er sich noch um seine Tochter, die er an ihre Mutter in Valencia übergeben hatte. Diesen Auftrag führte ein deutscher Händler aus Ulm namens Frank Ferber aus 83 . Ob er Erfolg hatte, wissen wir nicht. Zusammenschau - Rückwirkungen Die fünf skizzierten Bezugsfelder Nürnbergs auf der Iberischen Halbinsel hatten zu Ende des 15. Jahrhunderts insgesamt grundsätzlich an Bedeutung gewonnen, aber die Gewichte hatten sich mehrfach verschoben. Der Handel verlagerte sich von Barcelona nach Valencia, dann vom Mittelmeer zum Atlantik. Neue Möglichkeiten boten sich zum Beispiel für Buchdrucker im neu eroberten Reich Granada, zu erkennen war auch die nicht nur durch die Reformation zunehmend eingeschränkte Bedeutung des Pilgerzentrums Compostela. Mit der Zusammenführung der verschiedenen Nürnberger Kontaktfelder auf der Iberischen Halbinsel in Münzers Person und Bericht verbindet sich zugleich ein Desiderat für künftige Forschungen. Was hatten die deutschen Drucker mit den Händlern zu tun, was die süddeutschen Mönche vor den Toren Valencias mit den Handelsgesellschaften, wer war dafür verantwortlich, einen Goldschmied aus Lauingen zu engagieren? Handel - Kunst - Kultur - Religion, diese Verbindung wird an einigen Stellen deutlich. Es lohnt sich, die Beziehungen und den Austausch nicht nur aus wirtschaftlicher, kultureller, kirchengeschichtlicher oder anderer Perspektive zu erforschen, sondern nach dem Zusammenwirken zu fragen. Dabei ist auch das Nürnberger und iberische Material trotz aller Schwierigkeiten noch weiter zusammenzuführen 84 . [177/ 178] oder auch den 1494 nach Guinea entsandten deutschen Druckern - vgl. Geldner, Buchdruck (wie Anm. 77), 821f. - Nürnberger befanden, ist unsicher. 83 Rubió, Privatleben (wie Anm. 29), 16. 84 Es bleibt immer noch Desiderat, die Quellen zu den Handelsbeziehungen weiter zu erschließen. Vgl. Ammann, Deutsch-spanische Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 50), 135. Es fehlen insbesondere Belege zu anderen Städten Aragoniens, auch zu Valencia und Zaragoza. - Besonders wichtig erscheint die Vernetzung dieser Informationen aus Oberdeutschland und Spanien, die auch frühere Forschungen von Johannes Vincke, der kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen zusammen interpretierte, weiter fortführen, auch über Aragón hinaus. Vgl. Johannes Vincke, Zu den Anfängen der deutsch-spanischen Kultur- und Wirtschaftsbezeihungen, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. 1. Reihe, 14, 1959, 111-182. Eine systematische Durchsicht der Archive dürfte weitere Ergebnisse zeitigen, ein Beispiel zu Nürnberger Druckern habe ich genannt, an Rieters Pilger- und Handelsinteressen sei erinnert; vgl. zu Details auch von Stromer, Oberdeutsche Unternehmen (wie Anm. 50), 164, und - stärker auf Nürnberg bezogen - Kellenbenz, Beziehungen Nürnbergs (wie Anm. 50), 467f. Vgl. auch die Bermerkung von Hermann <?page no="77"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 77 Die verschiedenen Aktivitäten von Nürnbergern auf der Iberischen Halbinsel wirkten jedoch nicht nur zusammen, sondern strahlten bis nach Nürnberg aus. Am deutlichsten wird dies in den weiteren Wirtschaftsverflechtungen, die ich für das beginnende 16. Jahrhundert im Falle Lissabons nur andeuten konnte 85 . Rückwirkungen im humanistisch-kosmographischen Bereich sind ebenso erkennbar. Wie sehr Behaims „Erdapfel“ von seinen spanisch-portugiesischen Erfahrungen zehrte, ist nicht genau zu bestimmen 86 . Diskutiert wird aber, ob Behaim 1490, als er mit geographischen Materialien aus Portugal nach Nürnberg kam, nicht falsche Informationen verbreitete, die helfen sollten, Konkurrenten Portugals in Sicherheit zu wiegen und auszuschalten 87 . Ein Detail zum Globus erscheint auch vor dem Hintergrund der besprochenen Felder interessant: Santiago wird bei Behaim deutlich mit einem Bild versehen, das wohl der Statue des Compostelaner Hochaltares entsprach 88 . An der Erarbeitung des Behaim-Globus waren im übrigen wohl auch Schedel und Münzer beteiligt 89 . Münzer dürfte ebenso an Hartmann Schedels Weltchronik mitgewirkt haben. Die handschriftliche Druckvorlage dieser Chro- Kellenbenz, Alberto Cuon. Auf den Spuren eines Nürnberger Kaufmanns in Valladolid, in: Norica. Beiträge zur Nürnberger Geschichte. Nürnberg 1961, 21-27, der mit diesen Bemerkungen zu den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts weitere Forschungen einforderte, ebd., 21. - Weitere Aufschlüsse sind aus der geplanten Habilitationsschrift von Nikolas Jaspert (Erlangen) zu erwarten. 85 Möglicherweise betrafen einzelne Errungenschaften schon den Transfer, so die Geschichte der Waldsaat, die Ibn Wafid im 11. Jahrhundert erstmals beschrieben hatte. Diese Technik gelangte vielleicht auf bisher noch nicht sicher geklärten Umwegen nach Nürnberg, wo Peter Stromer sich erstmals mit diesem Problem auseinandersetzt; vgl. zu dieser Vermutung Hans-Rudolf Singer, Der Mahgreb und die Pyrenäenhalbinsel bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Ulrich Haarmann (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt. 3. erweiterte Auflage. München 1994, 264-322, hier 292 (mit Anm. 30), der auf die Abhandlung von Lore Sporhan/ Wolfgang von Stromer, Die Nadelholz-Saat in den Nürnberger Reichswälderns zwischen 1469 und 1600, in: Altnürnberger Landschaft, Sonderheft 18,1969, 3-30, verweist. Klare Einflußwege sind aus den dort gebotenen Zeugnissen jedoch leider nicht ablesbar. 86 Das Verhältnis Münzers zu Behaim ist noch genauerer Erforschung wert. Behaim vollendete 1492 in Nürnberg seinen „Weltapfel“; vgl. hierzu außer der bisher angegebenen Literatur vor allem Johannes Willers (Hrsg.), Focus Behaim-Globus: Referate des internationalen Kolloquiums im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 5.4.-6.4.1990. Nürnberg 1991, und den Katalog: Focus Behaim-Globus: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. 2. Dezember 1992 bis 28. Februar 1993. 2 Bde. Nürnberg 1992. Vgl. zusammenfassend Robert Plötz, in: Santiago, Camino de Europa (Ausstellungskatalog), Santiago de Compostela 1993, 454f. (zu den geographischen Kenntnissen über Spanien und mit Angabe von weiterer Literatur). Zu Aspekten des Globus als kognitive Karten bereiten Hartmut Kugler und Günther Görz (Erlangen) ein Forschungsprojekt vor. Vgl. auch immer noch: Der Behaim-Globus zu Nürnberg. Eine Faksimile-Wiedergabe in 92 Einzelbildern, in: Ibero- Amerikanisches Archiv 17, Heft 1/ 2, 1943, 34-35; Karten 4-67; vgl. auch die Abbildungen im zitierten Katalog des Germanischen Nationalmuseums: Focus Behaim-Globus. 87 Vgl. Kellenbenz, Martin Behaim (wie Anm. 34), 77 mit Referat dieser These von Bensaude. 88 Plötz, in: Santiago, Camino (wie Anm. 86), 454. 89 Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 45ff. <?page no="78"?> 78 Pilgerfahrten und Reiseberichte nik, die noch heute in der Nürnberger Stadtbibliothek verwahrt wird (Cent II 98) hat Münzer 1493 bearbeitet und ergänzt. Insbesondere zu Spanien, so zur Eroberung Granadas 1492 und zu Behaim hat er ausführliche Zusätze gemacht 90 . [178/ 181] Im übrigen soll auch die Schedel-Karte, die auf Folio 299-300 das Werk beschließt, von Münzer 91 stammen. Die Mitarbeit Münzers bei historiographischen und kosmographischen Arbeiten der Nürnberger Schule 1492-1493 zeigt nicht nur, daß er sich vor seiner Reise mit vielen Dingen, die ihn erwarteten, schon auseinandergesetzt hatte, sondern verdeutlicht auch, daß er vor diesem Hintergrund alle neuen Informationen ganz zielgerichtet aufzunehmen bereit war, obwohl ich direkte Spuren nach der Reise bisher noch nicht lokalisieren konnte. Seine Informationen über Judenvertreibungen und Schiffsexpeditionen dürften gleichwohl mündlich weitergegeben worden sein. V. Die Gegenprobe: Spanier in Nürnberg Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel gab es im 15. Jahrhundert zwar nicht en masse, aber doch häufiger, als man zunächst vermutet. Prägte dies auch Vorstellungen von Nürnberg auf der Iberischen Halbinsel? Welche Eindrücke hatten Spanier von Nürnberg? Quellenmäßig besteht hier ein Ungleichgewicht, denn bis zur Herrschaft der Habsburger in Spanien gibt es wenig Zeugnisse. Nur eines, aus den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts, kann ich hier etwas ausführlicher würdigen. Pero Tafur, ein kastilischer Edelmann, der in Sevilla geboren wurde und dann in Córdoba wohnte, machte 1436-1439 eine Reise durch fast alle damals bekannten Länder 92 . Auf dem Weg vom Bodensee nach Böhmen, wo er den Kaiser treffen wollte, gelangte er über Ulm und Nördlingen nach Nürnberg, wo gerade ein Reichstag (Oktober-November 1438) abgehalten wurde 93 . Dort sah 90 Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 51f.; vgl. Elisabeth Rücker, Nürnberger Frühhumanisten und ihre Beschäftigung mit Geographie. Zur Frage einer Mitarbeit von Hieronymus Münzer und Conrad Celtis am Text der Schedelschen Weltchronik, in: Rudolf Schmitz/ Fritz Kraft (Hrsg.), Humanismus und Naturwissenschaft (wie Anm. 34), S. 181- 192, bes. 188-192. 91 Goldschmidt, Hieronymus Münzer (wie Anm. 5), 53; vgl. dort zu möglichen, aber noch genauer zu erforschenden Abhängigkeiten. 92 Konrad Häbler, Peter Tafurs Reisen im Deutschen Reich in den Jahren 1438-1439. Nach dessen eigenen Aufzeichnungen bearbeitet, in: Zeitschrift für allgemeine Geschichte 4, 1887, 502-529, und Karl Stehlin/ Rudolf Tommen, Aus der Reisebeschreibung des Pero Tafur 1438-1439, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 24, 1925, 45-107. Eine Neuausgabe ist von Ludwig Vones (Köln) zu erwarten. 93 Gustav Beckmann (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten unter König Albrecht II., erste Abt. 1439. (Deutsche Reichstagsakten, Bd. 13) Stuttgart 1925; zu den Reichstagen zu Nürnberg 1438: ebd., 377-899. Im Zusammenhang mit dem Basler Konzil und diesem Reichstag könnten noch mannigfach andere Besucher der Iberischen Halbinsel in Nürnberg weiter prosopographisch erschlossen werden, wie allein schon das Register des Reichstagsakten- Bandes leicht vermittelt. <?page no="79"?> „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ 79 er Kardinäle und Gesandte aus Spanien. Er hob den Handel Nürnbergs und besonders die Kettenhemden hervor 94 und dokumentiert so, womit ein Spanier in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Namen Nürnberg verband. Im Text heißt es: [181/ 182] Die Stadt Nürnberg ist eine der größten und reichsten in Deutschland; sie ist eine sehr alte Stadt und hat eine Einwohnerzahl etwa wie Toledo, liegt wie dieses im Thal und ist von demselben Umfang. Es leben daselbst viele Gewerbetreibende, besonders im Fache von Messingarbeiten aller Art, und man macht hier Panzerhemden, welche man Nürnberger nennt. Es ist hier eine Kirche, in welche Kaiser Karl der Große die Reliquien niederlegte, die er übers Meer gebracht hatte, als er Jerusalem einnahm. Ich ging mit den Cardinälen, die Reliquien zu besehen; man zeigte uns deren viele, darunter eine eiserne Lanzenspitze, so lang wie eine Elle, und sie behaupteten, es sei die, welche unserm Heiland in die Seite gestoßen wurde, ich sagte, diese hätte ich in Constantinopel gesehen, und ich vermuthe, wenn die Herren nicht dabei gewesen wären, würden mir diese Worte bei den Deutschen übel bekommen sein. Die Stadt ist sehr wohlhabend und hat, für eine Binnenstadt, einen ausgedehnten Handel. Als die Geschäfte der Gesandten beendet waren, gingen sie auseinander [. . . ] 95 . Erst aus späterer Zeit stammt der Beleg über die Reise eines unehelichen Sohnes des Christoph Columbus, Fernando Colón, nach Nürnberg, der dort Anfang 1521 mehr als 300 Bücher einkaufte 96 . VI. Schluß Vor dem Hintergrund dieses Berichtes ist vielleicht auch der Befund weniger erstaunlich, daß künstlerische Impulse auf der Iberischen Halbinsel insgesamt weniger auf Nürnberg bezogen waren. Namen wie Hans von Köln oder andere wurden hier entscheidender 97 . Die Nürnberger Schule dieser Zeit strahlte eher nach Osten als nach Westen aus. Eine gewisse Änderung brachte die Habsburgerherrschaft. Dürer soll am 29. März 1519 in einem Brief den Plan zu einer Spanienreise geäußert haben 98 , führte ihn jedoch nicht aus. Die Habsburger 94 Er traf auch Caspar Schlick, der ihn mit (Albrecht) von Pottendorf zusammen auf seiner weiteren Reise begleitete. Vgl. dazu auch Karl Rudolf, Reisen und Beziehungen zwischen Österreich und Spanien in Spätmittelalter und Renaissance, in: Wolfram Krömer (Hrsg.), Spanien und Österreich in der Renaissance. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 66.) Innsbruck 1989, 31-39. hier 35. 95 Stehlin/ Tommen (Hrsg.), Reisebeschreibung (wie Anm. 92), 86. Vgl. allgemein zu dieser Nürnberger Versammlung: Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 93), 663-837. 96 Vgl. Georg Schiffauer, Ein Sohn des Kolumbus in Nürnberg. Ein Beitrag zu den Beziehungen zwischen Nürnberg und dem spanischen Humanismus, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 53, 1965, 60-68. Hierauf wurde ich nach dem Vortrag aufmerksam gemacht. Ich danke Herrn Kollegen Prof. Dr. Walther L. Bernecker für die Übermittlung einer Kopie. Schiffauer hat die in Nürnberg gekauften Bände der Biblioteca Colombina für seine Untersuchungen herangezogen. 97 Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 120-126 98 Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 140. <?page no="80"?> 80 Pilgerfahrten und Reiseberichte schätzten Dürer, Philipp II. soll Blätter des Nürnbergers in sein Gebetbuch eingelegt, Karl V. 1526 der Sevillaner Kartause Santa María de las cuevas 99 einen Dürerschen Tragaltar geschenkt haben. Was bedeutet es aber, sich Nürnbergs und der Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel zu erinnern? Zusammenfassend ergibt sich eine deutliche Intensivie-[182/ 183]rung der Kontakte im ausgehenden 15. Jahrhundert. Der Bericht Münzers scheint vor diesem Hintergrund einen gewissen Höhepunkt der Beziehungen zu dokumentieren. Das Netz, das bisher durch Pilger, Händler, Handwerker, Gesandte, Gelehrte und Ordensmitglieder geknüpft worden war, wurde dichter, vor allem wohl, weil die sogenannte „Europäische Expansion“ in ihre Hochphase eingetreten war. Münzer, Diplomat in Madrid, Ökonom und Stadtvater in Barcelona- Valencia, Überseehändler und Kosmograph in Lissabon, Pilger in Santiago, Katholik in Granada, Hieronymus Münzer und sein Bericht, an den ich die Aufgabe übertragen habe, durch das Vortragsthema zu führen und gleichzeitig Kronzeuge für Austausch und Beziehungen zu sein, dieser Arzt und Humanist lenkte auf die wichtigsten Bereiche des mir gestellten Themas. Die Momentaufnahme der Jahre 1494-1495 verdeutlichte zugleich die Zusammenhänge und Verlagerungen Nürnberger Aktivitäten in dieser Zeit: Vom Mittelmeer zum Atlantik. Noch etwa dreißig Jahre früher war der Nürnberger Gabriel Tetzel mit dem böhmischen Adeligen Leo von Rožmital von Compostela aus zum „Finis Terrae“, dem Ende der damals bekannten Welt, gereist und hatte dort bemerkt: „das nieman mug hinüber faren, man wiss auch nit, wass dogesset sey“ 100 . Von dieser Scheu spürt man bei Münzer nichts mehr: Der Atlantik gewann inzwischen eine neue Dimension, und Nürnberger, besonders Händler und Kosmographen, griffen dies auf. Welche Konsequenzen diese Verlagerung auch für Nürnberg im modernen Weltsystem zeitigte, ist eine ebenso spannende Geschichte, die im nächsten Beitrag thematisiert wird 101 . Es ist nicht nur eine Konsequenz dieser Verlagerungen, daß heute Murcia nicht mehr so groß ist wie Nürnberg, aber was wäre europäisch an Nürnberg, wenn wir die Stadt nicht noch heute ständig mit anderen europäischen Städten vergleichen würden? 99 Kehrer, Deutschland in Spanien (wie Anm. 23), 140; dargestellt waren die Geburt Christi, die Taufe Christi, und die Enhauptung von Johannes dem Täufer. 100 Herbers/ Plötz, Nach Santiago (wie Anm. 28), 114. Zur Interpretation dieser Textstelle vgl. Michael Stolz, Die Reise des Leo von Rožmital. Wandlungen der Pilgeridee in einem deutschen Bericht des Spätmittelalters, in: Klaus Herbers (Hrsg.), Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte. (Jakobus-Studien, Bd. 1.) 97-121, hier 119, der die „neuzeitlichen“ curiositas der Passagen herausarbeitet. 101 Vgl. Walter L. Bernecker (in diesem Band) [Bernecker, Nürnberg (wie Anm. 68)]. <?page no="81"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ Zum Spanienbild von Reisenden aus Nürnberg und dem Reich an der Schwelle zur Neuzeit I. Redensarten, Reisen und kulturelle Grenzen „Das kommt mir spanisch vor“ ist eine umgangssprachliche Redensart, die bis heute ausdrückt, daß etwas merkwürdig, unverstanden und fremd erscheint. Woher die Wendung stammt, ist nicht ganz sicher. Lutz Röhrich vermutet in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, daß sie in der Regierungszeit Karls V., in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, entstanden sei, als spanische Sitten stärker im deutschen Raum verbreitet wurden 1 . Weitere Vorurteile und Klischees über Spanien hat unter anderem später die deutsche Klassik beigesteuert, so läßt Friederich Schiller in Don Carlos König Philipp II. sagen: „Stolz will ich den Spanier“ 2 . [1/ 2] Als D. Manuel Fraga Iribarne vor etwa 30 Jahren verkündete „Spanien ist anders“ - „España es diferente“ zielte dies in eine andere Richtung. Der heutige Ministerpräsident von Galicien wollte das Abweichende seines Landes weniger als befremdlich brandmarken, sondern vielmehr als damaliger Tourismusminister Gäste ansprechen, die kulturell interessiert waren und zugleich Erschienen in: „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutschspanischen Beziehungen des späten Mittelalters (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T , © LIT-Verlag, Münster 2004, 1-30. 1 Lutz R Ö H R I C H , Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 3, Freiburg u. a. 1992, 1493f.; Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch, hg. von Gerhard W A H R I G †/ Hildegard K R Ä M E R / Harald Z I M M E R M A N N , Bd. 5, Wiesbaden/ Stuttgart 1983, 820. Vgl. bei Röhrich auch weitere Redensarten sowie weitere Literatur. - Der folgende Text bietet die schriftliche Fassung eines für ein breiteres Publikum während der Tagung gehaltenen Abendvortrags und ist entsprechend angelegt. Mit den vorgetragenen Überlegungen möchte ich zugleich meine in Anm. 5, 10 und 13 genannten Studien vertiefen und in größere Zusammenhänge einordnen. 2 Friedrich S C H I L L E R , Don Carlos, Leipzig 1787, 3. Akt, 10. Aufzug. Diese Klischeevorstellungen hängen auch mit der sogenannten Leyenda Negra zusammen, vgl. hierzu Peer S C H M I D T , Das Bild Philipps II. im Reich und in der deutschsprachigen Historiographie, in: Hispania - Austria II. Die Epoche Philipps II. (1556-1598) - La época de Felipe II (1556-1598) (Studien zur Geschichte und Kultur der Iberischen und Iberoamerikanischen Länder 5), Wien/ München 1999, 9-56, zum je unterschiedlich akzentuierten negativen Bild bes. 35-45; weiterhin Peter S E G L , Die Inquisition - Eine schwarze Legende? , in: Mythen in der Geschichte, hg. von Helmut A L T R I C H T E R / Klaus H E R B E R S / Helmut N E U H A U S (Rombach Wissenschaften, Reihe Historia 16), Freiburg 2004, 261-290 und Walter L. B E R N E C K E R , „Spanien ist anders“. Der Mythos vom hispanischen Sonderweg, in: ebd., 453-470. <?page no="82"?> 82 Pilgerfahrten und Reiseberichte mediterrane Temperaturen schätzten. Er nutzte damit das längst geflügelte Wort des nordamerikanischen Autors James Michener „Spain is different“, dessen Buch „Iberia“ aus den sechziger Jahren damals viel gelesen wurde 3 . Redensarten oder politische Slogans entstehen nicht im luftleeren Raum. Sollte Lutz Röhrich Recht haben, dann dürfte erst während der Herrschaftszeit der Habsburger eine spezifische Vorstellung von Spanien ins Reich getragen und verfestigt worden sein. Waren aber nicht schon zuvor die Beziehungen zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Reich so weit fortgeschritten, daß differenziertere Beobachtungen, Urteile oder auch Vorurteile entstehen und verbreitet werden konnten? Was erschien im Reich vor Karl V. als „typisch spanisch“? Gab es hier überhaupt eine einheitliche Sicht, oder waren es eher unterschiedliche, auch gegensätzliche Bilder? Verschiedene Felder, die wechselseitigen Austausch ermöglichen, werden in diesem Sammelband ausgeleuchtet: Adelskontakte und dynastische Beziehungen sind nur eine Facette. Hohe Schulen und Wissenszentren, Musik, Buchdruck und Literatur, kirchliche Orden und Verbandsbildungen sowie Wirtschaft und Technik führten Personen zusammen, nicht nur in den jeweiligen Ländern, sondern auch auf großen Versammlungen, auf Konzilien, bei Handelsmessen oder an den Höfen, an „dritten Orten“ 4 . Trafen diese Personen aus dem Reich voraussetzungslos auf andere Leute? Erinnerten sie sich vielleicht an Karl den Großen, der 778 auf dem Rückweg von Spanien durch Verrat in Roncesvalles eine Niederlage erlitt, wie das Rolandslied thematisiert? Was war mit der Reise des Johannes von Gorze, was mit den Gelehrten in Toledo, über die sogar Autoren wie Caesarius von Heisterbach ihre Geschichte und Anekdoten verbreiteten? Was bedeuteten die Erinnerungen der zahlreichen Pilger, die nach Compostela gezogen [2/ 3] waren 5 ? Konnten 3 Vgl. James A. M I C H E N E R , Iberia: Spanish Travels and Reflections, New York 2 1968; dt. Iberia: Reisen und Gedanken, Darmstadt 1969 (mehrere Neuauflagen), vgl. zu diesem und anderen Klischees auch Raimund A L L E B R A N D , Alles unter der Sonne. Irrtümer und Wahrheiten über Spanien. Mit einem Beitrag von Walther L. Bernecker, Bad Honnef 2000, bes. 22-26. 4 Vgl. unten die Abschnitte C, D und E [des Sammelbandes „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004]. 5 Zu diesen „Reisenden“ und Traditionen des frühen und hohen Mittelalters vgl. Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. von Klaus H E R - B E R S (Jakobus Studien 14), Tübingen 2003; El Pseudo-Turpín. Lazo entre el culto jacobeo y el culto de Carlomagno. Actas del VI Congreso Internacional de Estudios Jacobeos, hg. von D E M S ., Santiago de Compostela 2003; weiterhin Ludwig V O N E S , Zwischen Roncesvalles, Santiago und Saint-Denis. Karlsideologie in Spanien und Frankreich bis zum Ausgang des Mittelalters, Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104-105 (2002-2003), 577-635 (und die weiteren Beiträge in diesem thematischen Band: „Karl der Große und sein Nachleben in Geschichte, Kunst und Literatur“). Allgemein zu den Spanienreisenden im hohen Mittelalter: Klaus H E R B E R S , Mitteleuropäische Spanienreisende im Hohen Mittelalter: Krieger und Kaufleute - Pilger und Gelehrte, in: Reisen und Wallfahren im Hohen Mittelalter (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 18), Göppingen 1999, <?page no="83"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 83 sich diese oder andere Bilder erweitern oder verändern? Überlagerten sich alte Bestände mit neuen Traditionen? Voraussetzungen hierzu waren Vorstellungen, Wahrnehmung, Kommunikation und Mobilität, Untersuchungsfelder, die in der neueren Forschung verstärkt reflektiert werden 6 und auch in diesem Band zentral erscheinen. Dazu gehört es jedoch zugleich zu fragen, wie sich Wahrnehmungen und Vorstellungen veränderten. Vielleicht lohnt es, die Personen ins Licht zu rücken, die als Reisende Kontakte nutzten, erweiterten und darüber schrieben 7 . Wenn dies nun für Reisende aus dem Reich geschieht, so ergänzt dies die umgekehrte Perspektive über Reisende von der Iberischen Halbinsel 8 . [3/ 4] 66-93, bes. 71-85; zu Caesarius von Heisterbach über die nigromantische Schule von Toledo: D E R S . , Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Artes im Mittelalter, hg. von Ursula S C H A E F E R , Berlin 1999, 232-248, 243-247. Zu Pilgern und Pilgerberichten vgl. Klaus H E R B E R S / Robert P L Ö T Z , Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans „Ende der Welt“ (dtv 4718), München 1996; Klaus H E R B E R S , Wol auf sant Jacobs straßen! Pilgerfahrten und Zeugnisse des Jakobuskultes in Süddeutschland, Ostfildern 2002. 6 Vgl. Hans-Werner G O E T Z , „Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), 253-271; zur Wahrnehmung und Kommunikation vgl. das Themenheft: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 6 (2001) (= Kommunikation, hg. von Hedwig R Ö C K E L E I N ) sowie jüngst: Medien der Kommunikation im Mittelalter (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), hg. von Karl-Heinz S P I E SS , Stuttgart 2003; zusammenfassende Würdigung: Hans-Werner G O E T Z , Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, 2 2002, bes. 2. Teil, Kapitel IV und V. 7 Mit Blick auf Tagungs- und Vortragsort wurde den Nürnberger Reisenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zu Nürnberger Pilgern vgl. Klaus H E R B E R S , Pilgerfahrten und Nürnberger Pilger auf der Iberischen Halbinsel in der Zeit um 1500, in: Wallfahrten in Nürnberg um 1500 (Pirckheimer-Jahrbuch 17), hg. von Klaus A R N O L D , Wiesbaden 2002, 53-78. 8 Vgl. hierzu den Beitrag zu Pero Tafur von Ludwig V O N E S (in diesem Band 339-357) [Ludwig V O N E S , Spanische Reisende im Reich, in: „Das komt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 339-357]. Die wissenschaftliche Literatur zu Reisen und Reiseberichten ist inzwischen kaum noch überschaubar, vgl. als Orientierung mit Bibliographie H E R - B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5); Folker R E I C H E R T , Erfahrung der Welt: Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart [u. a.] 2001, mit weiteren bibliographischen Angaben. Zur Adelsreise vgl. die Tagungsakten [Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, hg. v. Rainer B A B E L u. Werner P A R AV I C I N I (Beihefte der Francia 60) , Ostfildern 2005]. Zu einzelnen Reisen und Berichten vgl. die weiteren Anmerkungen. Die Dokumentation zu einzelnen Berichten findet sich in dem mehrbändigen Leitfaden aufgearbeitet: Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters: eine analytische Bibliographie, hg. von Werner P A R AV I C I N I ; I: Deutsche Reiseberichte, bearb. von Christian H A L M , Frankfurt a. M. 1994, 2. durchges. und um einen Nachtr. erg. Aufl. 2001; vgl. die weiteren Bände zu den Niederlanden und Frankreich: II: Französische Reiseberichte, bearb. von Jörg W E T T - <?page no="84"?> 84 Pilgerfahrten und Reiseberichte Ob Mobilität, Kontakte, Kommunikation und Wahrnehmungen weiter wirkten, ist eine zweite Frage: „We cannot change ourselves by travelling, caelum, non animum mutant qui trans mare currunt“, so das fast apodiktische Urteil von Norman Daniel in seinem Buch ‚The Cultural Barrier‘ 9 . Andere glauben, daß Reisen Kulturtransfer und Kulturaustausch durchaus ermöglichen, zumindest in Gang setzen. Ob Reisen bildet, etwas bewirkt, ist zunächst offen. Waren die Bilder einer fremden Welt vielleicht nur Verzerrungen und fast unveränderliche Konstruktionen? Fragen von Beobachtung, Wahrnehmung, aber auch von Vorwissen und Voreinstellungen sind zu berücksichtigen, will man diese Bilder nicht nur beschreiben, sondern auch deren Entstehung beachten. Erst dann könnte die zweite Frage sinnvoll werden, ob und wie Reisen und Berichte überhaupt wirken konnten. II. Momentaufnahmen Lassen wir eingangs von den vergleichsweise zahlreichen Reiseberichten zunächst einige zu Wort kommen. Und sein [sc. des Bischofs] grafen, ritter und knecht, auch die mächtigisten der stat, machten meinem herrn ein spil. Sie hetten wild ochsen, die jagten sie auf den platz, und sassen auf iren gamretten (gar baldlaufende pferd), und schiessen länzlein, die sie füerten, in die ochsen, und welcher sich genau hinzuthet und vil länzlein hineinschoss, der was der best. Und erzurneten die ochsen, das sie jn nachliefen und die leut ser stiessen, also [4/ 5] man auf den selben tag zwen für tot hinwegtrug. Darnach und das gejeid ein end hett, do schlugen sie sich an einander und schussen mit den spiesslein und versatzten mit den tartschen oder fiengen die schüss auf, als die heiden pflegen zu thun, wann sie streiten, das ich al mein tag nie behender pferd und volk hab gesehen 10 . So beschreibt der Nürnberger Altbürgermeister Gabriel Tetzel L A U F E R , Frankfurt a. M. 1999; III: Niederländische Reiseberichte, nach Vorarbeiten von Detlev K R A A C K bearb. von Jan H I R S C H B I E G E L , Frankfurt a. M. 2000. 9 Norman D A N I E L , The Cultural Barrier. Problems in the Exchange of Ideas, Edinburgh 1975, 217. 10 Leo von Rožmital: Des böhmischen Herrn Leo’s von Rožmital Ritter, Hof- und Pilgerreise durch die Abendlande 1465-1467, beschrieben von zweien seiner Begleiter, hg. von Johann Andreas S C H M E L L E R , Stuttgart 1844, hier nach dem Bericht von Tetzel, ibid. 174, vgl. H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 110. - Zu den beiden Berichten und ihren Autoren entsteht eine Zulassungsarbeit in Erlangen von Eike J U H R E . - Außer der bei H E R B E R S / P L Ö T Z besprochenen Literatur ist zu diesem Reisebericht in letzter Zeit vor allem zu verzeichnen: Denise P É R I C A R D - M É A , Compostelle et cultes de saint Jacques au Moyen Âge, Paris 2000, 282-284; H E R B E R S , Pilgerfahrten und Nürnberger Pilger auf der Iberischen Halbinsel (wie Anm. 7), 53-78; D E R S ., Kulturtransfer durch Reisende? Schlesische und andere Westeuropa-Reisende im 15. Jahrhundert, in: Die Jagiellonen. Kunst und Kultur einer europäischen Dynastie an der Wende zur Neuzeit, hg. von Dietmar P O P P / Robert S U C K A L E , Nürnberg 2002, 337-346; Eduardo Pardo D E G U E VA R A Y V A L D É S , El viaje por España y Portugal de León de Rosmithal, Barón de Blatna (1465- 1467), in: Portugal na memória dos peregrinos, hg. von Humberto B A Q U E R O , Santiago de Compostela 2002, 247-256; Klaus H E R B E R S , Aspectos del „tiempo libre“ y de „fiestas“ <?page no="85"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 85 einen Stierkampf, der für die Reisegruppe des böhmischen Adeligen Leo von Rožmital in Salamanca veranstaltet wurde 11 . In Arragonien wächst viel Reyß, denselben bauen und säen die Saracenen. Desgleichen alles ander Getraydigt, Wein und Fleisch sind viel wollfeileren Kauffes und Macktes im Land de Lozia dann in Arragon zubekommen. Ich hab auch in aller Welt da ich gewesen, beßer oder geschmackter Brodt und daß den Menschen sehrer kräftiget niemals geßen, dann in Civilien (Sevilla), und in dem umbliegenden Lande. In Portugall aber hat es dagegen beßer, schmackhafter und wohlfeiler Weine, dann im Land de Lozia (Andalusien) 12 , so sinniert Nikolaus von Popplau aus Breslau über Ernährung in verschiedenen Teilen der Iberischen Halbinsel. [5/ 6] Das Rechtswesen in Barcelona interessiert Hieronymus Münzer, den in Nürnberg tätigen Arzt und Kosmographen, 1494: „Diese Beamten legen, sobald sie die Zeugen der Parteien gehört haben, den Tag fest, um das Urteil zu verkünden; man kann nicht mehr appellieren. Es ist ihnen unter Körper- und Geldstrafe verboten, ein Geschenk von irgend jemandem anzunehmen. [. . . ] In diesem Jahr sind mehr Angelegenheiten erledigt worden als vorher in zwanzig. Bei diesem System verlor der König selbst als erster einen Prozeß: Ein gewisser Apotheker verlangte mit Recht 1000 Dukaten für die Drogen und Arzneien, die ihm für den verstorbenen Vater des Königs geschuldet wurden. Das Urteil erging gegen den König, und als Erbe des Vaters mußte er sofort den en algunos relatos de viajeros y peregrinos del siglo XV, in: Fiesta, juego y ocio en la historia, hg. von Vicente V E R D Ú M A R C Í A / José-Luis M A R T Í N R O D R Í G U E Z / Mario M A R - T Í N E Z G O M I S / Juan A N D R E O G A R C Í A / Jorge U R Í A u. a., Salamanca 2003, 79-102. Zu den allgemein-politischen Hintergründen vgl. nun Peter J O H A N E K , Und thet meinem herrn gar gross eer. Die rittersreis des Lev von Rožmithal, in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine M I E D E M A / Rudolf S U N T R U P , Frankfurt a. M. u. a. 2003, 455-480. Vgl. künftig auch die angegebene Arbeit von Eike J U H R E . 11 H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 110. 12 Reisebeschreibung Niclas von Popplau, bürtig von Breslau, in: Schlesien ehedem und jetzt, hg. v. Johann Wilhelm O E L S N E R / Ulrich R E I C H E , Breslau 1806, 27-45, 91-109, 184- 200, 264-280, 357-372, 446-460, 530-535, neue kommentierte Edition: Reisebeschreibung Niclas von Popplau Ritters, bürtig von Breslau, hg. von Piotr R A D Z I K O W S K I , Krakau 1998, hier 117; vgl. zu Person und Werk zusammenfassend Klaus H E R B E R S , „Popplau“, Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 629 und D E R S ., Kulturtransfer durch Reisende? (wie Anm. 10). Eine kritische Edition bereiten Anke und Werner Paravicini vor (trotz einiger Mängel wird im folgenden nach der Ed. von Radzikowski zitiert). Vgl. zu den höfisch-adeligen Aspekten dieser Reise: Werner P A R AV I C I N I , Der Fremde am Hof, N. von Popplau auf Europareise 1483-1486, in: Fürstenhöfe und ihre Außenwelt, Aspekte gesellschaftlicher und kultureller Identität im deutschen Spätmittelalter, hg. von Thomas Z O T Z [(Identitäten und Alteritäten 16), Würzburg 2004, 291-337]; frz. Fassung: D E R S ., L’étranger à la cour. Nicolas de Popplau en voyage à travers l’Europe (1483-1486), in: L’étranger au Moyen Âge. Actes du XXX e congrès de la SHMESP, Göttingen juin 1999, Paris 2000, 11-25. <?page no="86"?> 86 Pilgerfahrten und Reiseberichte Apotheker entlohnen. [. . . ]. Der glorreiche Gott möge diese Rechtsprechung weiter erhalten! “ 13 . [6/ 7] Stierkampf in Salamanca, unterschiedliche Speisen in Aragón, Portugal und Andalusien, eine unbestechliche Rechtssprechung in Barcelona, drei fast wahllos herausgegriffene Beispiele für eine Fülle von Dingen, die unsere Reisenden angeblich erlebten, beobachten und vor allem: für aufzeichnenswert hielten. Fast scheint es so, als habe sich bis heute nicht viel geändert, aber warum registrieren sie dies und nicht anderes, was steht hinter den Personen und den Berichten? Die persönlichen Voraussetzungen, die Möglichkeiten der Beobachtung und die anschließende Verbreitung sind zu scheiden. III. Personen und Motive Insgesamt gibt es aus dem Reich im 15. Jahrhundert etwa ein Dutzend Berichte oder Notizen von Spanienreisen; außer dem literarisch wirkenden Oswald von Wolkenstein zu Beginn des Jahrhunderts hinterließen vor allem Adelige und Angehörige des höheren städtischen Bürgertums Reiseberichte: die Kaufleute Peter und Sebald Rieter aus Nürnberg (1428 und 1462), der Patrizier Sebastian 13 Hieronymus Münzer, Itinerarium, Übertragung nach dem lateinischen Original nach der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 115 r-v . Die noch bis zu einem geplanten endgültigen Druck revisionsbedürftigen Übersetzungen stammen vom Vf. und sind aus der Werkstatt eines laufenden Erlanger Forschungsprojektes (Mitarbeiter: Dr. Randall Herz, Sofia Seeger, Christofer Zwanzig). Der lateinische Text von Hieronymus Münzer ist nur teilweise und in unterschiedlicher Qualität im Druck verfügbar: Ludwig P F A N D L , Itinerarium Hispanicum Hieronymi Monetarii 1494-1495, Revue Hispanique 48 (1920), 1-179 (spanisch/ portugiesischer Teil) (zur hier zitierten Stelle 11f.); Ergänzungen: Ernst Philipp G O L D S C H M I D T , Le voyage de Hieronimus Monetarius à travers la France, Humanisme et Renaissance 6 (1939), 55-75, 198-220, 324-348, 529-539, vgl. das Sonderheft der Zeitschrift „Provence historique“ 41, fasc. 166, (1991), mit verschiedenen Textpassagen; zur editorischen Situation auch P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 261-265 und künftig die in Erlangen vorbereitete Ausgabe des gesamten Textes. Mit einer Analyse der verschiedenen Nürnberger Kontaktfelder auf der Iberischen Halbinsel habe ich den Text des Hieronymus Münzer mit weiteren Literaturhinweisen vorgestellt: Klaus H E R B E R S , „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ - Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel: Eindrücke und Wechselbeziehungen, in: Nürnberg - europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut N E U H A U S (Nürnberger Forschungen 29), Neustadt an der Aisch 2000, 151-183 [Wiederabdruck in diesem Band, 53-80], künftig: D E R S ., Die „ganze“ Hispania: Der Nürnberger Hieronymus Münzer unterwegs - seine Ziele und Wahrnehmung auf der Iberischen Halbinsel (1494-1495), in: [Grand Tour, hg. v. B A B E L u. P A R AV I C I N I (wie Anm. 8), 293-308] mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. zum Spanienbild und zum Austausch: Karl Friedrich R U D O L F , La imagen de la Península Ibérica en Centroeuropa en la época del tratado de Tordesillas, in: El tratado de Tordesillas y su época, hg. von Eufemio L O R E N Z O S A N Z / Francisco G A L L E G O , Congreso internacional de historia Valladolid 1994, 1907-1923; aus kunsthistorischer Perspektive vgl. Silke T A M - M E N , Kunsterfahrungen spätmittelalterlicher Spanienreisender, in: Kunst in Spanien im Blick des Fremden. Reiseerfahrungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart (Ars Iberica 2), hg. von Gisela N O E H L E S - D O E R K , Frankfurt a. M. 1996, 49-71; zusammenfassend Ulrich K N E F E L K A M P , Münzer, Neue Deutsche Biographie 18 (1997), 557-558. <?page no="87"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 87 Ilsung aus Augsburg (1446), Ludwig von Diesbach mit Hans von der Gruben (1447), Nikolaus Lanckmann auf der Reise zur Einholung der Braut Friedrichs III. in Portugal (1451), der schwäbische Ritter Georg von Ehingen (1457), der böhmische Adelige Leo von Rožmital (1465-1467) aus der Feder zweier Begleiter, der Lübecker Krämer Hinrich Dunkelgud (1479), der schlesische Adelige und Kaufmann Nikolaus von Popplau (1483-1486), der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer (1494-1495) und der rheinische Adelige Arnold von Harff (1496-1498) 14 . [7/ 8] Woher stammten die Reisenden vornehmlich? Süddeutschland sticht ins Auge. Neben Nürnberg, Augsburg, Ehingen am Neckar und der Schweiz sind jedoch auch das Rheinland, Österreich, Böhmen, der Ostseeraum und sogar Schlesien vertreten 15 . Sozial dominiert der Adel; Patrizier, Kaufleute und Ärzte sind ebenso unterwegs, sie folgten in mancher Hinsicht adeligen Verhaltensweisen 16 , auch sie ließen sich an verschiedenen Höfen gerne empfangen oder hängten an verschiedenen Stellen die eigenen Wappenschilde auf 17 . Dennoch kann das in der Forschung immer wieder hervorgehobene Leitmotiv adeligen Reisens Unterschiede nicht ganz egalisieren. Bei Studierten wie Nikolaus von Popplau, Hieronymus Münzer und Arnold von Harff lassen sich der Wissens- und Interessenshorizont genauer bestimmen 18 . Herkunft und Vorwissen beeinflußten ebenso wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen und intellektuellen Milieu die Wahrnehmung und Aufzeichnung 19 . Die mehrfach feststellbaren Verbindungen zu Handel und Handelshäusern fallen auf, sie betrafen neben Nikolaus von Popplau aus Breslau vor allem Bürger aus Nürn- 14 Vgl. zu den Berichten grundlegend die in Anm. 8 genannten Werke, die Editionen, Überlieferung und Forschungsliteratur präsentieren und auch auf die einschlägigen Artikel des Verfasserlexikons verweisen. - Die Notizen von Dunkelgud, die nicht sehr ausführlich geraten sind, fehlen in mehreren der genannten Referenzwerke. 15 Die Zuordnung ist nicht immer ganz eindeutig festzulegen, denn Reisende und Berichterstatter, Herkunfts- und Aufbruchsort waren nicht notwendigerweise identisch. 16 Zum Problem von Adel und nobilitas und den Fragen von sozialer Kategorie und adeliger Lebensweise vgl. den Sammelband: „Nobilitas“. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, hg. v. Otto Gerhard O E X L E / Werner P A R AV I C I N I , Göttingen 1997. Zu Abgrenzungsfragen vgl. auch die Tagungsakten [Grand Tour, hg. v. B A B E L u. P A R AV I - C I N I ] (wie Anm. 8). 17 Vgl. hierzu Detlef K R A A C K , Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14.-16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge Nr. 224), Göttingen 1997. 18 Es ist zu erwarten, daß prosopographische Studien zu den Verfassern der weiteren Berichte auch manche Eigenart der Berichterstattung erklären helfen; zu Peter und Sebald Rieter, zu Sebastian Ilsung und den Berichterstattern über Rožmitals Reise sind bereits einschlägige Ergebnisse vorgelegt worden, zu Münzer vgl. Anm. 13, zu den Berichterstattern von Rožmitals Reise vgl. zuletzt J O H A N E K , Und thet (wie Anm. 10) und die in Anm. 10 angegebene Literatur. 19 Zu Münzer vgl. künftig die Ergebnisse der Studien von Dr. Randall H E R Z im Rahmen des in Anm. 13 genannten Projektes; zur Bibliothek vgl. einstweilen Ernst Philipp G O L D - S C H M I D T , Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (Studies of the Warburg Institute 4), London 1938, 30-43 über die Beziehungen Münzers zum Nürnberger Humanistenkreis. <?page no="88"?> 88 Pilgerfahrten und Reiseberichte berg und aus Augsburg. Personen aus diesen Städten blieben noch im 16. Jahrhundert besonders wichtige Spanienreisende 20 . [8/ 9] Dazu traten mehrfach Verbindungen der Protagonisten zum Kreis Kaiser Friedrichs III. bzw. zu Maximilian I.: Diplomatische Aufträge des Kaisers waren bei der Reise zur Einholung der Braut des Kaisers, Eleonore von Portugal, 1451 offenkundig 21 . Der schwäbische Ritter Georg von Ehingen unterhielt seit seiner Ausbildung enge Beziehungen zu den Habsburgern 22 , Nikolaus von Popplau stand bis 1483 im Hofdienst Friedrichs III. und unternahm nach seiner Spanienreise zwei Fahrten (1486-87 und 1489-90) im kaiserlichen Auftrag nach Rußland 23 . Leo von Rožmital war Schwager des verstorbenen Königs von Böhmen; die Berichte verfaßten zwei Personen aus seinem Gefolge: Der Böhme Šašek sowie Gabriel Tetzel aus einer angesehenen Nürnberger Ratsfamilie, deren Beziehung über den Landsitz Gräfenberg zu Böhmen in jüngster Zeit herausgestellt worden ist 24 . Auch Hieronymus Münzer hatte wohl durch seine Nürnberger Beziehungen Kontakte zum kaiserlichen Hof 25 . Obwohl Studierte und Stadtbürger oft ähnlich wie Adelige reisten, scheint ihr Interesse insgesamt breiter gewesen zu sein. Unübersehbar nahm beispielsweise Hieronymus Münzer Kontakt zu Händlern und Handelsfakto-[9/ 10]ren auf, er besuchte Gelehrte, bestaunte Tiergehege an verschiedenen Höfen, skizzierte Landschaften. Fernhandel und humanistisch-kosmographische Inter- 20 So z. B. Lucas Rem, Sebald Örtel und andere, vgl. H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 229-247; vgl. hierzu Hermann K E L L E N B E N Z , Die fremden Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel, Köln/ Wien 1970; D E R S ., Die Beziehungen Nürnbergs zur Iberischen Halbinsel, besonders im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs 1), Nürnberg 1967, 456-493. Zu Augsburg und den Fuggern vgl. nach den grundlegenden Arbeiten von Kellenbenz zur Spätphase auch Stephanie H A B E R E R , Handelsdiener und Handelsherren - Andreas Hyrus und die Fugger, Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 88 (1996), 138-155. 21 P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 119f. Vgl. inzwischen die vorzüglich kommentierte lateinisch-portugiesische Textausgabe von Aires A. N A S C I M I E N T O (unter Mitarbeit von Maria J. B R A N C O / Maria de Lurdes R O S A ), Leonor de Portugal, imperatriz da Alemanha. Diário de Viagem do Embaixador Nicolau Lanckman de Valckenstein, Lissabon 1992. Vgl. zur Reise Klaus H E R B E R S , El viaje a Portugal de los embajadores de Federico III. en el relato de Lanckmann y de otros cronistas, Anuario de Estudios Medievales 32 (2002), 185-196. 22 P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 127f.; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 91-93. 23 P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 220. 24 Der Bericht des Nürnbergers Tetzel erscheint insgesamt detailfreudiger und zuverlässiger, jedoch bleibt der Vergleich schwer, weil der Bericht von Šašek nur in einer später gefertigten lateinischen Übersetzung vorliegt, vgl. P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 153-157; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 99f. Vgl. zu Tetzel und seinen böhmischen Verbindungen jetzt J O H A N E K , Und thet (wie Anm. 10). Zum biographischen Hintergrund Tetzels sind weitere Ergebnisse aus der Erlanger Zulassungsarbeit von Eike J U H R E zu erwarten. 25 G O L D S C H M I D T , Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (wie Anm. 19), 47f.; vgl. P A - R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 261; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 136f.; R U D O L F , La imagen de la Península Ibérica (wie Anm. 13), 1907-1923. <?page no="89"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 89 essen - besonders im Zusammenhang mit den neuen Entdeckungen an der Schwelle zum 16. Jahrhundert - ergänzten gerade für Spanien die herkömmlichen Motivationen, die adeliges Unterwegssein prägten. Nikolaus von Popplau, Hieronymus Münzer - später, im 16. Jahrhundert Lucas Rem und Sebald Örtel 26 - repräsentieren diese neue Art von Reisenden. Verdeutlichen sie mit ihren Berichten, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts das alte Ideal zur Erlangung ritterlicher Ehre zu reisen - dem städtischen Bürgertum - nur noch partiell Orientierung gewähren konnte? Herkunft, Vorbildung und Prägungen beeinflußten die Wahrnehmung. Nicht immer erkennen wir aber Gründe und Anlässe zur Reise, wie diese bei Hieronymus Münzer deutlich ausgesprochen werden, wenn der vom Nürnberger Gelehrtenkreis geprägte Arzt zu Beginn seines Berichtes in lateinischer Sprache bekennt: „Ich glaube mit Aristoteles, daß dem Menschen die Intelligenz und die natürliche Eigenschaft eigen ist, die Wahrheit zu suchen . . . Ich glaube auch, daß er, wenn er frei von häuslichen Sorgen und Bedürfnissen ist, gut alle Dinge hören und lernen kann, er wird über die Kenntnis der verborgenen und der wunderbaren Dinge dazu geführt, gut und glücklich zu leben“ 27 . Deshalb, heißt es weiter, hätten so viele Menschen Geschichte schreiben, zu Lande und zu Wasser reisen, die Lage der Orte untersuchen wollen. Es sei das Verlangen einer edlen Seele, Menschen anderer Nationen, die Sitten anderer Völker zu sehen und aufmerksam zu beobachten. Aus diesem Grund hätten Denker wie Platon, Pythagoras, aber auch Augustinus, Hieronymus und andere die Geschichte aufgezeichnet, verschiedene Leute besucht und beschrieben. Nur schöne Worte eines edlen Humanisten? Nicht ganz, denn die Vielfalt der Interessen und des geistigen Hintergrunds Münzers belegt seine inzwischen rekonstruierte Bibliothek 28 . Er sagt aber auch [10/ 11] nicht die ganze Wahrheit, denn es gab für den Humanisten und Mediziner 1494 einen konkreten Anlaß. Er floh gleichzeitig vor der Pest, die damals in Nürnberg wütete, und ließ Frau und Kind dort zurück 29 . 26 Vgl. zu den Berichten des 16. Jahrhunderts: H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 229-247. 27 Cum aristotelica sentencia considerarem ipsum hominem maxime esse suum intellectum et investigacionem ipsius veritatis sibi accomodissimam; zitiert nach München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431 fol. 97 r , vgl. G O L D S C H M I D T , Le voyage (wie Anm. 13), 57. 28 P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 150 spricht Münzer ab, selbst Humanist gewesen zu sein, weil er sonst viel häufiger Bibliotheken sowie Handschriften und Drucke alter Autoren in seinem Reisebericht erwähnt hätte. Dagegen hat G O L D S C H M I D T , Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (wie Anm. 19), 115-145 immerhin knapp 200 Titel aus den Gebieten Theologie, Philosophie, den exakten Wissenschaften, Astronomie, Geographie, Medizin sowie klassische und neulateinische Werke der Bibliothek Münzers zuweisen können. Einige der Standorte der 1933/ 34 zerstreuten Bibliothek konnte inzwischen Herr Dr. Randall H E R Z im Rahmen des in Anm. 13 genannten Erlanger Projektes lokalisieren. 29 Schon 1483 hatte er die Pest zum Anlaß einer allerdings nur knapp belegten Reise nach Italien genommen, vgl. hierzu die Notiz bei G O L D S C H M I D T , Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (wie Anm. 19), 106, zur Berichtigung des Reisejahres von 1484 auf 1483 vgl. ebd., 28. Als Mediziner wußte er um die Gefahren dieser Krankheit. <?page no="90"?> 90 Pilgerfahrten und Reiseberichte Viele Motive und Ziele scheinen die Berichte oft ganz zu verschweigen. Der Augsburger Sebastian Ilsung bemühte sich 1446 wohl darum, dem Gegenpapst Felix V. (Amadeus von Savoyen) in Spanien Anerkennung zu verschaffen, wie aus dem Bericht aber nur indirekt erschlossen werden kann 30 ; auch deutet er nur an, daß er in Luzern seiner krausen Haare wegen als Österreicher angesehen wurde und deshalb gefangengesetzt wurde. Der politische Hintergrund lag in den Auseinandersetzungen des Zürichkrieges, wie inzwischen genauer herausgearbeitet werden konnte 31 . Ein Luzerner Ratsprotokoll verrät nicht nur den Namen seines Begleiters Jörg Repphuon, sondern auch, daß Ilsung am 22. April 1446 vor dem Rat der Stadt Luzern erschien 32 . Auch Münzers Aufzeichnungen über die Begegnungen mit dem portugiesischen wie mit dem spanischen König verweisen darauf, daß er diese Herrscher wohl von einer Entdeckungsreise in ozeanische Gefilde überzeugen sollte 33 . Einen Fingerzeig bietet hier die Überlieferung: In der gleichen Handschrift, die auch den Reisebericht überliefert, findet sich ein Traktat Münzers, der die portugiesischen Entdeckungsreisen thematisiert 34 . [11/ 12] Wer in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf die Iberische Halbinsel reiste und Portugal besuchte, interessierte sich in der Regel für die sogenannten „Entdeckungsfahrten“. Nicht nur im Bericht Lanckmanns, der die portugiesische Prinzessin Eleonore als Braut Friedrichs III. heimführen soll, werden Elefanten sowie Menschen aus fernen Ländern mit ungewohnter Hautfarbe 30 Volker H O N E M A N N , Sebastian Ilsung als Spanienreisender und Santiagopilger (mit Textedition), in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus H E R B E R S (Jakobus- Studien 1), Tübingen 1988, 61-95, 75f. 31 Vgl. ebd., 82; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 80f. Die Luzerner Dokumentation zu dieser Gefangennahme hat jetzt Werner G Ö T T L E R , Jakobus und die Stadt. Luzern am Weg nach Santiago de Compostela (Luzerner Historische Veröffentlichungen 35), Basel 2001, 34-38 aufgearbeitet. 32 Ebd., 36f. Von einem Eid, sich später wieder in Luzern vorzustellen wurde er übereinstimmend nach Reisebericht und Ratsprotokoll entbunden, ibid. 37. Zur Familie vgl. nur den knappen Beleg im Augsburger Stadtlexikon, hg. von Günther G R Ü N S T E U D E L / Günter H Ä G E L E / Rudolf F R A N K E N B E R G E R , Augsburg 2 1998, 567. Laut Göttler war dies vielleicht sogar ein Antoniter. Vgl. auch unten zu einem weiteren Textfund in der Krone Aragón Anm. 99. Auf die Problematik und die Chancen, die Informationen aus Reiseberichten und Geleitbriefen zu kombinieren, kann ich hier nicht ausführlich eingehen. Vgl. dazu die Beiträge von Roser S A L I C R U I L L U C H und Andreas R A N F T in diesem Band (217-289, 291-311) [Roser S A L I C R U I L L U C H , Caballeros cristianos en el Occidente europeo e islámico, in: „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 217- 289; Andreas R A N F T , Adlige Identitätsbildung: Adelsorden und Adelsgesellschaften, in: ebd., 291-311], vgl. auch Anm. 43. 33 Vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 80-92 und 123-132. 34 Ed. Friedrich K U N S T M A N N , Hieronymus Münzers Bericht über die Entdeckung der Guinea, Bayerische Akad. der Wiss., Phil.-hist. Kl. 7, 2, München 1854. Vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 147-149. Der Text findet sich auf den letzten Folien der oben zitierten Hs. Clm 431, fol. 280 r -290 v . <?page no="91"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 91 und anderes erwähnt 35 . Der Nürnberger Gabriel Tetzel hatte im Bericht zur Reise des Leo von Rožmital von 1465-1467 über portugiesische Erkundungsfahrten berichtet 36 , ähnliches gilt für Nikolaus von Popplau 37 . IV. Ziele und Kontexte Motive, Aufträge und Interessen bestimmten entsprechend die Routen. Deshalb fragt sich, gerade im Zusammenhang mit dem Thema unserer Tagung und des Vortrags: Was bedeutete Spanien für Reisende aus dem Reich? Zu den Wegstrecken ergibt der Vergleich einige interessante Befunde. Beide Mitglieder der Familie Rieter aus Nürnberg, Sebastian Ilsung aus Augsburg oder der Rheinländer Arnold von Harff folgten im wesentlichen dem „Camino francés“, der alten Römerstraße durch Nordspanien, die zum Grab des Apostels Jakobus nach Compostela führt. Jedoch betraten oder verließen sie die Iberische Halbinsel über Katalonien 38 . Nikolas Lanckmann, Georg von Ehingen, Leo von Rožmital, Nikolaus von Popplau und Hieronymus Münzer und wohl auch schon Oswald von Wolkenstein bezogen Portugal in ihre Reiseroute ein. Für Lanckmann erklärt [12/ 13] sich dies durch den Auftrag, Eleonore von Portugal als Braut heimzuführen 39 . Georg von Ehingen beabsichtigte, in Nordafrika für Portugal zu kämpfen 40 . 35 Vgl. N A S C I M I E N T O , Leonor de Portugal (wie Anm. 21), 32. - En passant werden hier Bewohner der Kanaren vorgeführt; am Rande wird eingeflochten, daß der portugiesische König die Inseln entdeckt habe, vgl. zu den Streitigkeiten zwischen Spanien und Portugal Klaus H E R B E R S , Die Eroberung der Kanarischen Inseln - ein Modell für die spätere Expansion Portugals und Spaniens nach Afrika und Amerika? , in: Afrika. Entdeckung und Erforschung eines Kontinents (Bayreuther Historische Kolloquien 3), hg. von Heinz D U C H H A R D T / Jörg A. S C H L U M B E R G E R / Peter S E G L , Köln/ Wien 1989, 51-95, hier 79- 84 [wiederabgedruckt in diesem Band, 199-235]. Bis zum Vertrag von Alcacovas wurde dieser Streit nicht entschieden (ibid. 83). 36 Vgl. S C H M E L L E R , Rožmital (wie Anm. 10). 37 R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 75-81 u. ö. 38 Vgl. zur Sicht von Jakobspilgern aus Mitteleuropa in Katalonien Klaus H E R B E R S , [Prescripción y Descripción. Peregrinos jacobeos alemanes de paso por Catalunya, in : El camí de Sant Jaume i Catalunya. Actes del Congrés Internacional celebrat a Barcelona, Cervera i Lleida, els dies 16, 17 i 18 d’ Octubre de 2003, Montserrat 2007, 27-39]. 39 Allerdings wäre der Weg über das nördliche Galicien nicht unbedingt nötig gewesen. Offensichtlich bedeutete das Pilgerzentrum Santiago aber sogar für eine solche Fahrt wichtige Orientierung. Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen von Antonio H. de O L I V E I R A M A R Q U E S , Deutsche Reisende im Portugal des 15. Jahrhunderts, in: Portugal und Deutschland auf dem Weg nach Europa (Weltbild und Kulturbegegnung 5), hg. von Marilia dos S A N T O S L O P E S / Ulrich K N E F E L K A M P / Peter H A N E N B E R G , Pfaffenweiler 1995, 11-26. 40 Gabriele E H R M A N N , Georg von Ehingen, Reisen nach der Ritterschaft. Edition, Untersuchung, Kommentar (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 262), 2 Bde., Göppingen 1979, 45f. Vgl. zum Dossier jetzt Werner P A R AV I C I N I , Georg von Ehingens Reise vollendet, in: Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Âge. Mélanges en l’honneur de Philippe Contamine (Cultures et civilisations médiévales 22), hg. von Jacques P AV I O T / Jacques <?page no="92"?> 92 Pilgerfahrten und Reiseberichte Die anderen genannten Reisenden gingen aber in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch deshalb nach Portugal - und hier spiegelt die neue Route zugleich die angesprochenen neuen Motivationen -, weil seit Heinrich dem Seefahrer besonders Lissabon und Sagres Zugang zu neuen Welten versprachen. Galicien und Compostela rückten bei ihnen in den Hintergrund. Mit Rožmital, Popplau und Münzer, von den 60er bis zu den 90er Jahren, erweiterten sich zudem die Wegstrecken immer weiter nach Süden. Dennoch waren vor allem Katalonien, Navarra, das nördliche Kastilien und León sowie Galicien und Portugal die bevorzugten Reisegebiete, der südspanische Raum, bis 1492 als Reich von Granada noch unter muslimischer Herrschaft, blieb weitgehend unbereist 41 . Weiterhin ergibt der Vergleich der Routen, daß der Weg durch Nordspanien, der sogenannte „Camino francés“, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts 42 stärker durch andere Routen ersetzt wurde, Katalonien und Portugal gewannen an Gewicht 43 . [13/ 15] Fast alle Fahrten auf die Iberische Halbinsel standen zudem in größeren Zusammenhängen. Ludwig von Diesbach kam aus Italien, Leo von Rožmital und Nikolaus von Popplau waren in ganz Westeuropa unterwegs, und der rheinische Adelige Arnold von Harff besuchte Spanien auf dem Rückweg von V E R G E R , Paris 2000, 547-588; vgl. auch die Beiträge von Andreas R A N F T [wie Anm. 32] und Stefan S E L Z E R in diesem Band [Stefan S E L Z E R , Die Iberische Halbinsel und Italien als Ziel bewaffneter Mobilität deutschsprachiger Edelleute im 14. Jahrhundert. Eine Skizze, in: „Das komt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 185-216]. 41 Ein Kriegszug wie bei Georg von Ehingen, oder die Notwendigkeit einer Schiffsreise von Portugal nach Italien wie beim Geleitzug der Prinzessin Eleonore dürften als Ausnahmen gelten. 42 Dies gilt auch noch später, vgl. besonders die Reise des Arnold von Harff oder anderer in H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), aber die Ausschließlichkeit dieser Route für Spanienreisende erscheint stärker relativiert. 43 Diese Tendenz ist für Katalonien allerdings schon früher ablesbar, vgl. hierzu beispielsweise die verschiedenen Geleitbriefe der aragonesischen Kanzlei, hierzu Jeanne V I E L L I A R D , Pèlerins d’Espagne à la fin du Moyen-Âge, Analecta Sacra Tarraconensia 12 (1936), 265- 330; ergänzt wiederabgedruckt in: Luis Vázquez D E P A R G A / José María L A C A R R A / Juan U R I A R I U , Las peregrinaciones a Santiago de Compostela, 3 Bde., Madrid 1948- 1949, u. a. III, 29-32. Auswertung für Polen bei Helena P O L A C Z K Ó W N A , O podróznikach sredniowiecznych z Polski i do Polski (Über mittelalterliche Reisende aus Polen und nach Polen), Miesi ˛ ecznik Heraldyczny 16, (1937), Nr. 5, 65-72 und 126. - Vgl. allgemein zur Auswertung dieser interessanten Quellen auch schon Johannes V I N C K E , Zu den Anfängen der deutsch-spanischen Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. Erste Reihe Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens 14), Münster 1959, 111-182 und mit breiterem geographischen Horizont D E R S ., Europäische Reisen um 1400 im Spiegel aragonesischer Empfehlungs- und Geleitbriefe, in: Medieum Aevum Romanicum. Festschrift für Hans Rheinfelder, hg. von Heinrich B I H L E R / Alfred N O Y E R - W E I D N E R , München 1963, 345-377. Zur Auswertung für Polen vgl. Jacek W I E S E Ł O W S K I , Die polnischen Reisen nach Compostela im 14. und 15. Jahrhundert. Diplomatische Beziehungen und adeliges Bildungsideal, in: Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa. Austausch - Einflüsse - Wirkungen, hg. von Klaus H E R B E R S / Dieter R. B A U E R (Jakobus-Studien 12), Tübingen 2003, 83-92 (mit weiterer Literatur). <?page no="93"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 93 Routen von Spanienreisenden aus dem Reich [14] einer Orientreise. Eine Zwischenposition nahm Hieronymus Münzer ein, der relativ zügig durch Frankreich nach Spanien reiste, aber auf seinem Rückweg Flandern und das Rheinland einbezog 44 . Diese breiteren Reiseerfahrungen förderten die immer wieder getroffenen Vergleiche: Nikolaus von Popplau, aber auch Rožmitals Berichterstatter Gabriel Tetzel und Hieronymus Münzer stellten mehrfach verschiedene Völker und Landschaften gegenüber. Popplau denkt, daß die Portugiesen ihrem König treuer als die Engländer seien. Sind aber nicht so grausam und unsinnig. . . . Sind aber von Angesicht nicht so schön denn die Engelländer, denn sie schwartz-bleich von Haut und schwartzhärig sein. . . . Sind brünstig in der Liebe, wie die engelländischen Weiber, wem sie vertrauen dörffen. . . . Ferne aber laßen sie sich frey sehen, denn ihre Kleider und Hembdedermaßen ausgeschweifft sein, das Ihnen die Brüste die Helfte nacket heraus stehen. . . 45 . 44 Zu diesem Teil des Reiseberichtes vgl. bis zur in Anm. 13 angekündigten Edition G O L D - S C H M I D T , Le voyage, hier 55-75, 198-220, 324-348, 529-539. 45 R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 74f. <?page no="94"?> 94 Pilgerfahrten und Reiseberichte Der Rheinländer Arnold von Harff vergleicht die Türkey mit Spanien. Er kommentiert: Item von Orthez aus findest du für dich und deine Pferde keine gute Herberge mehr bis Santiago. Was du essen oder trinken willst, mußt du dir unterwegs (auf der Straße) kaufen, und für dein Pferd findest du weder Hafer, Heu noch Stroh, und schlafen mußt du dazu auf der Erde, und essen mußt du Gerste. Sein abschließendes Urteil, das der erfahrene Reisende fällt, der die Lebensumstände und den Alltag des Orients genauso gut kennt wie die Bedingungen in Europa, ist vernichtend: summa summarum ist Hyspanien ein schlimmeres Land, als ich es in der Turkijen (Türkei) mit meinem christlichen Glauben erlebt habe, wo man den Menschen geringschätziger behandelt als in Hyspanien 46 . [15/ 16] V. Spanien oder Kastilien? Meinte der rheinische Ritter mit „Hyspanien“ aber das, was wir heute unter Spanien verstehen? Konnte den Reisenden im 15. Jahrhundert überhaupt schon etwas „spanisch“ vorkommen? Sahen sie die Iberische Halbinsel oder wenigstens den größten Teil als eine Einheit, wie dies im 16. Jahrhundert näher lag 47 ? Sichtet man die Berichte, so fallen die Bezeichnungen Hispania, Spanien oder ähnliche Begriffe nur selten, Rieter der Ältere und der Jüngere aus Nürnberg bemerken, sie seien „gehn St. Jacob in Gallicia“ aufgebrochen 48 , ähnlich spricht Sebastian Ilsung 49 , während Gabriel Tetzel seinen Herrn Rožmital sagen läßt, dieser wolle alle christlichen Königreiche und Fürstentümer in deutschen und welschen Landen sowie das Heilige Grab und St. Jakob besuchen 50 ; Hieronymus Münzer bemerkt nach einigen Folien: „Ich habe aber [. . . ] 46 Arnold von Harff: Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff von Cöln durch Italien, Syrien, Ägypten, Arabien, Äthiopien, Nubien, Palästina, die Türkei, Frankreich und Spanien, wie er sie in den Jahren 1496 bis 1499 vollendet, beschrieben und durch Zeichnungen erläutert hat. Nach den ältesten Handschriften und mit deren 47 Bildern in Holzschnitt hg. von Eberhard von G R O O T E , Köln 1860, die Zitate 224 und 230; vgl. zur Übersetzung H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 211. 47 Vgl. zur Bezeichnung Hispania und dem unterschiedlichen Gebrauch während des Mittelalters: José A. M A R AVA L L , El concepto de España en la Edad Media (Collección estudios políticos 2), Madrid 3 1981, besonders 299ff. (jetzt auch 4. Aufl. Madrid 1997); Hans M E S S - M E R , Hispania. Idee und Gotenmythos (Geist und Werk der Zeiten 5), Zürich 1960. Vgl. auch den Sammelband Las Españas medievales, hg. von Julio V A L D E Ó N B A R U Q U E (Historia y Sociedad 77), Valladolid 1999, mit einem einleitenden Beitrag zur Problematik. Interessanterweise definieren die muslimische und jüdische Tradition die Hispania von anderen Voraussetzungen aus, vgl. María Jesús V I G U E R A M O L I N S , Al-Andalus y España, und Asunción B L A S C O M A R T Í N E Z , Sefarad, otra visión de España, beide im gleichen von V A L D E Ó N B A R U Q U E herausgegebenen Sammelband: 95-112 und 113-139. 48 Das Reisebuch der Familie Rieter, hg. von Reinhold R Ö H R I C H T / Heinrich M E I S N E R (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 168), Tübingen 1884, 9 und 10; H E R - B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 69, vgl. 73. 49 H O N E M A N N , Ilsung (wie Anm. 30), 81; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 80. 50 S C H M E L L E R , Rožmital (wie Anm. 10), 145; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie <?page no="95"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 95 über ausgezeichnetere Orte geschrieben . . . .: in der Gallia Lugdunensis und Narbonensis sowie in ganz Spanien wie in der Grafschaft Barcelona, im Reich Valencia, Granada, Kastilien, Aragón, Navarra, Gallien, Aquitanien, Belgien, in der Normandie, der Picardie, [. . . ], wie du im folgenden sehen wirst“ 51 . Er spricht von ganz Spanien, nennt aber dann verschiedene Reiche. Ähnliches scheint sich bei den anderen Reisenden weit-[16/ 17]gehend zu bestätigen: Im Einzelfall bringt eine Sicht von außen den Begriff Spanien ins Spiel, um die Gesamtheit der Reiche oder die geographische Einheit der Iberischen Halbinsel zu kennzeichnen. Sobald die Autoren jedoch die Pyrenäen überschritten haben und im Detail beschreiben, werden Reiche differenziert aufgelistet. Da gibt es die Krone Aragón ebenso wie Navarra oder Galicien, das aber dem kastilischen König unterstehe, wie es bei Arnold von Harff heißt 52 . Grenzen zwischen den Reichen werden dann genannt, wenn diese naturräumlich markiert sind: Berge und Flüsse wie der Ebro oder Miño, oder Berge wie der Rabanal gehören hierzu 53 . Wenn an diesen Stellen „Hispanien“ oder ein ähnlicher Begriff fällt, so steht diese Bezeichnung jedoch meistens für das Königreich Kastilien. Diese Sicht von innen, die Kastilien und Spanien fast synonym behandelt, ansonsten aber von der Vielfalt der Reiche ausgeht, kontrastiert mit der Außensicht einer in sich einheitlichen Iberischen Halbinsel, und dies zuweilen bei denselben Autoren. Was ist dann aber noch spanisch? Was ist abweichend? Sind es die Sprachen? Den Sprachen gilt keine besonders große Aufmerksamkeit, zumindest soweit dies die romanischen Sprachen betrifft. Anders kann es mit dem Baskischen sein, für das sich Arnold von Harff sogar mit einzelnen Ausdrücken gerüstet zu haben scheint 54 . Am Hofe können Gebildete zuweilen lateinisch Anm. 5), 100. 51 Der lateinische Text lautet: Notavi autem, [. . . ], insigniora loca [. . . ] in Gallia Lugdunensi, Narbonensi et omni Hispania, ut comitatu Barcilonensi, regno Valencie, Granate, Castelle, Arrogonie, Naverre, Gallie Aquitanie, Belgice, Normandie, Picardie, et tocius Alemanie basse usque in Rheni superioris Germanie civitatem, ut videbis in sequentibus, zitiert nach der Hs. München, Bayerische Staatsbibiliothek, Clm 431, fol. 99 v . 52 hie eyndet sich Hyspanien ind heyfft an dat lant van Galicien, ouch deme Koeninck van Castilien vnderworfen. in deseme dorff tzuyt man vff den berch Rauaneel, G R O O T E , Harff (wie Anm. 46), 231; vgl. H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 222 (dort irrig zweimal Galicien). 53 Vgl. zu diesen Aspekten eine erste Sichtung bei Klaus H E R B E R S , „So ziehen wir durch die welschen lant“ - Reise und Grenzüberschreitungen im europäischen Mittelalter, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen - Brücken von Region zu Region, hg. von Roland S T U R M , Erlangen 2002, 27-43. - Vgl. das Zitat der vorigen Anm. zu Galicien, das durch den Rabanal-Paß von Kastilien getrennt wird. 54 Vgl. G R O O T E , Harff (wie Anm. 46), 227; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 217. Die Fremdsprachenalphabete in Harffs Bericht sind mehrfach auch Objekt sprachwissenschaftlicher Untersuchungen geworden, vgl. Hartmut B E C K E R S , Zu den Fremdalphabeten und Fremdsprachenproben im Reisebericht Arnolds von Harff (1496-98), in: Collectaniea Philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geb., hg. von Günter H E I N T Z / Peter S C H M I T T E R , Baden-Baden 1984, 73-86; Ursula G A N Z - B L Ä T T L E R , Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320- <?page no="96"?> 96 Pilgerfahrten und Reiseberichte reden, wie Münzer in Granada mit dem Kastellan aus dem Geschlecht der Mendoza 55 . Sebastian Ilsung scheint bei seinem Besuch am Hofe von Navarra eher Schwierigkeiten gehabt zu haben mit der Königin, die aus dem Hause Kleve [17/ 18] stammte, ins Gespräch zu kommen. Angeblich schämte sie sich, aber vielleicht waren auch der Augsburger und niederrheinische Dialekt so weit auseinander, daß deshalb die von Ilsung beschriebene Kommunikation über einen Dolmetscher besser funktionierte 56 . VI. Abweichung und Beobachtung Andere Personen scheinen keine Sprachprobleme gehabt zu haben, notiert wird dies jedenfalls selten. Jedoch gab es fremde Gebräuche und Sitten, diese werden begrifflich meist nicht unter „Spanien“ subsumiert. Hierüber berichtet bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf amüsante Weise der Dichter Oswald von Wolkenstein. Am 15. Juli war vom Konstanzer Konzil eine Delegation unter König Sigismund von Konstanz aufgebrochen, um den noch weiter auf seiner Anerkennung bestehenden Papst, Pedro de Luna oder Benedikt (XIII.), zur Abdankung zu bewegen 57 . Mehrere Chronisten berichten über den Empfang in Perpignan am 18. September 58 , besonders eindrucksvoll ist die Schilderung des Dichters Oswald von Wolkenstein, der zuvor die Iberische Halbinsel bereist, an der Eroberung des nordafrikanischen Ceuta im Gefolge des portugiesischen Königs teilgenommen hatte und nun auch in Perpignan eingetroffen war. Er spricht von Pfeifen, Trommeln, Saiteninstrumenten. 1520) (Jakobus-Studien 4), Tübingen 1990, 3 2000, 111. 55 Iñigo López Mendoza, vgl. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 139 v ; vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 46. 56 H O N E M A N N , Ilsung (wie Anm. 30), 86f.; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 84f. - Vgl. zu den dynastischen Aspekten dieser Eheverbindung Kleve-Navarra die Bemerkungen von E S T E P A D Í E Z in diesem Band (65-85) [Carlos E S T E P A D Í E Z , Política matrimonial en el siglo XV: El Ducado de Borgoña, los Reinoy Ibéricos y el Imperio, in: „Das komt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 65-68]. 57 Walter B R A N D M Ü L L E R , Das Konzil von Konstanz: 1414-1418 (Konziliengeschichte/ Reihe A: Darstellungen 11) 2 Bde., München, u. a. 1991-1997, I, 2 1999, I, 402 (die beschließende Session fand am 15. Juli statt), vgl. zum Weg II, 23. - Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch den Beitrag von Johannes G R O H E in diesem Band (493-510) [Johannes G R O H E , Spanien und die großen Konzilien von Konstanz und Basel, in: „Das komt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 493-510]. 58 Zu den Ereignissen in Perpignan vgl. Achim Thomas H A C K , Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-Kaiser-Treffen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 18), Köln/ Weimar/ Wien 1999, 569-574. <?page no="97"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 97 Der bekannte Dichter 59 erhielt - ganz im Sinne der von der neueren Forschung beschriebenen höfischen Bindungen 60 - in Perpignan einen Orden, [18/ 19] den Ferdinand erst vor kurzer Zeit gestiftet hatte: den Kannen- oder Greifenorden 61 . Darüberhinaus hat er die Erlebnisse in Perpignan sehr anschaulich dargelegt. Eine Strophe lautet in der Übertragung von Dieter Kühn folgendermaßen: „Die Königin von Aragón war zart und schön; ergeben kniete ich und reichte ihr den Bart, mit weißen Händen band sie einen Ring hinein, huldvoll und sprach „non mais plus disligaides“. Die Ohrläppchen hat sie mir eigenhändig dann durchbohrt mit einer kleinen Messingnadel, nach Landessitte hängte sie zwei Ringe dran. Ich trug sie lang; man nennt sie dort „racaides“ Sobald ich König Sigmund sah, ging ich zu ihm - er riß den Mund auf, schlug ein Kreuz, als er mich sah und rief mir zu: „Was zeigst du mir denn für ein Zeug? “ Und freundlich dann: „Tun dir die Ringe auch nicht weh? Die Damen, Herren schauten mich da an und lachten 62 . . . “ Fast kommt es uns modern vor. Damals scheinen die Ohrringe jedoch König Sigismund köstlich amüsiert zu haben. War es nur eine Posse am Hofe, über 59 Seine Lieder besaßen fast immer einen zeithistorischen Hintergrund, wie wir besonders seit den Forschungen von Ulrich Müller und Anton Schwob wissen, vgl. Ulrich M Ü L L E R , „Dichtung“ und „Wahrheit“ in den Liedern Oswalds von Wolkenstein: Die autobiographischen Lieder von den Reisen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 1), Göppingen 1968; Anton S C H W O B , Oswald von Wolkenstein: Eine Biographie (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitut Bozen 4), Nachdr. der 3. Aufl. Bozen 1989 (Erstaufl. 1979). Vgl. zum Aufenthalt in Granada und dem hypothetischen Besuch Wolkensteins beim Nasridenherrscher: Pino V A L E R O - C U A D R A , El viaje a Granada de un trovador alemán del siglo XV: Oswald von Wolkenstein, Sharq al-Andalus 10-11 (1993-1994) (Homenaje/ Homenatge a Maria Jesús Rubierta Mata), 693-710, der die Darstellungsabsicht unterstreicht, die auf das weitläufige Umherziehen eines Ritters abhebt. - Zu den Reisen Oswalds weiterhin Karl R U D O L F , Reisen und Beziehungen zwischen Österreich und Spanien in Spätmittelalter und Renaissance, in: Spanien und Österreich in der Renaissance, hg. von Wolfram K R Ö M E R (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft SH 66), Innsbruck 1989, 31-39. 60 Vgl. zu diesen Aspekten der spätmittelalterlichen Adelsreise Werner P A R AV I C I N I , Von der Heidenfahrt zur Kavalierstour. Über Motive und Formen adligen Reisens im späten Mittelalter, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter 13), Wiesbaden 1993, 91-130; am Beispiel Rožmithals: J O H A N E K , Und thet (wie Anm. 10) mit der einschlägigen Literatur. Vgl. auch den Beitrag von Andreas R A N F T in diesem Band (291-311) [R A N F T , Adlige Identitätsbildung (wie Anm. 32)]. 61 Vgl. Andreas R A N F T , Adelsgesellschaften: Gruppenbildung und Genossenschaft im spätmittelalterlichen Reich (Kieler historische Studien 38), Sigmaringen 1994. 62 Übersetzung aus: Dieter K Ü H N , Ich Wolkenstein. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1977, erw. Ausgabe 1980 (Insel Taschenbuch 497), 174. <?page no="98"?> 98 Pilgerfahrten und Reiseberichte die alle lachten, oder gab es schon damals in Aragón, aber auch im südlichen Frankreich die Sitte, in einem langen Bart Goldfäden einzuflechten 63 ? [19/ 20] Zwar ist vielfach von einer europäischen Hofkultur gesprochen worden, die überall ähnlich höfischen Spielregeln folgte, aber offensichtlich gab es an fremden Höfen immer noch besondere Regeln 64 und entsprechend genügend Überraschungen. Selbst lange Aufenthalte in einem fremden Land, Austausch, Gespräche bewirkten keinesfalls automatisch, andere Gebräuche anzunehmen oder zumindest mit anderen Verhaltensweisen zu rechnen. Das wird im Zusammenhang mit Lanckmanns Bericht über die Brautwerbung der Prinzissin Eleonore von Portugal deutlich. Als Friedrich III. mit seiner portugiesischen Braut Eleonore 1452 in Italien öffentlich das Beilager symbolisch vollziehen sollte, gerieten die mitgereisten Portugiesen, die den Brauch nicht kannten, zunächst in Aufregung. Danach provozierte Friedrich III. fast einen weiteren Skandal, als er darauf bestand, daß der erste Beischlaf nicht im Bett seiner Gemahlin, sondern in seinem eigenen stattfinden sollte 65 ! Oswald wollte mit seinen Liedern auch unterhalten, wählte deshalb noch mehr als andere Berichterstatter aus, spitzte zu. Wie sehr waren aber die weiteren Spanienreisenden des 15. Jahrhunderts von schon existierenden Bildern geprägt, was nahmen sie von der fremden Umgebung wahr? Vor allem bieten Nikolaus Popplau und Hieronymus Münzer, aber auch Gabriel Tetzel vergleichsweise zahlreiche ethnographische Beobachtungen, die nicht nur auf Höfe und die dortigen Sitten bezogen sind, sich aber nur schwer systematisieren lassen. Sie betreffen Kleidung, Prozessionen, Feste, Totenkult oder religiöse Gewohnheiten, die mancher Reisender wohl wegen des gemeinsamen katholischen Glaubens anders erwartet hätte. So schreibt Gabriel Tetzel zu Portugal: In dem land Portigal sein gar vil seltsamer gewonheit. Die meidlein, die geboren werden, richtet man zu, das sie selten an den kindern sterben. An etlichen enden beschneidet man die man. Die junkfrauen trinken keinen wein bis sie man nemen. Die priester haben an etlichen enden weiber und kunnen nit latein, und predigen kein evangelium anders dann das sie sagen die zehen gebot und verkunden die heiligen tag, und an vil enden do man nit anders beichtet, dann wie man das confiteor vor dem altar spricht. Die priester, wenn sie ir erste mess singen, so gen sie mit trumettern, frauen und 63 Zur Interpretation der einzelnen Passagen vgl. M Ü L L E R , „Dichtung“ und „Wahrheit“ (wie Anm. 59), bes. 133-144, 179-185; S C H W O B , Oswald von Wolkenstein (wie Anm. 59), 111-119. 64 Dies unterstreicht Andreas R A N F T in diesem Band 291-311 [R A N F T , Adlige Identitätsbildung (wie Anm. 32)]. 65 Karl-Heinz S P I E S S , Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: Fremdheit und Reisen im Mittelalter (Mittelalterzentrum Greifswald), hg. von Irene E R F E N / Karl-Heinz S P I E S S , Stuttgart 1997, 17-36, hier: 27 und 32 mit den Quellennachweisen (aus dem Bericht des Aenea Silvio Piccolomini) und weitere Literatur. Zu den Editionen der Texte vgl. P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 120. <?page no="99"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 99 junkfrauen, die sein nächst freund sein, tanzen durch [20/ 21] die ganzen stat und haben kostlich mal zwen oder drey tag und leben wol [. . . ] 66 . Für religiöse Verhaltensweisen der Muslime steuert vor allem Hieronymus Münzer beim Besuch im ehemaligen Reich Granada zahlreiche detaillierte Beobachtungen bei 67 . In den Berichten stehen - wie auch bei Oswald - oft die Empfänge, die Prachtentfaltung, die heiligen Stätten im Zentrum des Interesses. Staunen verursachten zuweilen Bauwerke, militärische Anlagen und Reliquien. Landschaft und Flora werden nur bedingt in den Berichten charakterisiert. Interessant wird die Fruchtbarkeit des Landes bei einigen vor allem dann vermerkt, wenn das Angebaute zur Bereitstellung möglicher Handelsgüter führen kann. Hieronymus Münzer beschreibt, wie in Alicante Rosinen getrocknet werden 68 . In Portugal werden viele Dinge wahrgenommen, die dort nach den ersten sogenannten „Entdeckungsreisen“ zu sehen waren. Besonders erregten kanarische Guanchos oder „Negersklaven“ Aufsehen 69 ; Leo von Rožmital bat sogar den portugiesischen König, ihm einige Sklaven zu schenken 70 . Auch Popplau wurden dort möhrin angeboten 71 . Produkte aus Übersee bewirkten Staunen. Das Interesse der Reisenden dokumentiert sich auch darin, daß weitere Teile der Berichte Hinweise auf die „Europäische Expansion“ erkennen lassen. Popplau faßt die Geschichte [21/ 22] Nordafrikas zusammen und berichtet über Heinrich den Seefahrer 72 ; Münzer erwähnt den Anteil seiner Landsleute an den Kämpfen gegen die nordafrikanischen „Ungläubigen“ 73 . Die Zusammenhänge werden jedoch oft verkürzend und in faktengeschichtlicher Sicht entstellend wiedergegeben. 66 Vgl. S C H M E L L E R , Rožmital (wie Anm. 10), 181; H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5) 117. 67 Vgl. vor allem München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 133 v -134 v , 141 v -143 r , 150 r -151 v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 38f., 49-51, 61-63 u. ö. 68 Et faciunt tali modo: in Augusto, dum uve et racemi sunt maturi, tunc Sarraceni lixiv[i]um ex cinere vitis et aliorum parvorum fuscium faciunt et per 8 dies in vase quiescere permittunt. Tandem ad caldarium maximum buliunt et in cocleari magno ferreo perforato in bulientem lixivium racemos intingunt. Omne autem de uvis putridum ex lixivio consumitur nec racemis appendet. Et extrahentes super iunceas matracas ad solem in 8 aut decem diebus ex[s]iccant, et tandem in crateres et corbos ex sparto textas imponunt et vendunt, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 129 v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 32. 69 Siehe die Bemerkungen Münzers zu kanarischen Sklaven und deren Verkauf in Valencia, in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 123 r -124 r , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 23f. Zu den Versklavungen kanarischer Inselbewohner vgl. H E R B E R S , Die Eroberung der Kanarischen Inseln (wie Anm. 35), hier 54-62. 70 S C H M E L L E R , Rožmital (wie Anm. 10), 181, 195 (vgl. auch den Bericht von Š A Š E K , ibid. 91, 93 u. öfter). 71 Zur Absicht des portugiesischen Königs zwei möhrin zu schenken, R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 74. Sie werden nochmals in Sevilla erwähnt (93), danach nicht mehr. Der Herausgeber vermutet, daß die „Mohren“ in Sevilla verkauft wurden (101, Anm. 454). 72 Vgl. R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 76f. 73 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 168 v -169 v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 89-91. <?page no="100"?> 100 Pilgerfahrten und Reiseberichte VII. Vorwissen und Vermittler Diese und andere zunehmend interessierende und fremde Dinge machten die Reisenden sich in der Regel durch den Vergleich mit Bekanntem verfügbar. Vorwissen half, strukturierte Fragehaltungen, wie Forschungen über die Mongolenreisen verdeutlicht haben: Scholastische Bildung förderte - so Johannes Fried - eine scholastische Art des Fragens und der Wahrnehmung, so daß vieles aufgrund von Vorwissen, Motivation und anderem zunächst überhaupt nicht wahrgenommen werden konnte 74 . Andere Prägungen lassen die Berichte des 15. Jahrhunderts erkennen. Die Mitarbeit an kosmographischen Arbeiten führte zum Beispiel vor allem bei Hieronymus Münzer dazu, in jeder Stadt zunächst die Vogelperspektive zu suchen und Neues mit Bekanntem zu vergleichen: „Ich stieg auf den höchsten Turm und betrachtete wie in einem Spiegel die Stadt und ihre Lage. . . . Die Stadt hat innerhalb ihrer Mauern und außerhalb von diesen in einem Umkreis von etwa zwei Meilen mehr als 30 Klöster . . . ; und ich glaube, daß die Stadt zweimal größer ist als Nürnberg“ 75 . Ebenso wurden Distanzen und andere wichtige kosmographische Angaben vor einem ganz bestimmten Hintergrund aufgezeichnet. [22/ 23] Die jeweilige Prägung und das Vorwissen beeinflußten, waren jedoch keinesfalls festgefügte Determinanten möglicher Wahrnehmungsprozesse. Manches erscheint in den Berichten aus dem 15. Jahrhundert schon recht persönlich 76 . Schriftliches, zu Hause gelesen, oder eventuell unterwegs konsultiert, konnte, mußte aber nicht unbedingt mit dem Gesehenen in Bezug gesetzt werden. Ein gutes Beispiel ist wiederum Hieronymus Münzer. Die epischen Dichtungen um Karl den Großen in Roncesvalles, die Geschichte über die portugiesischen Entdeckungsfahrten in Lissabon, die Gründungslegende von Montserrat - sie stehen in Münzers Bericht offensichtlich für Gehörtes und Gelesenes 77 , wobei nicht immer klar ist, was zu Hause und was unterwegs 74 Johannes F R I E D , Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, Historische Zeitschrift 243 (1986), 287-332. Gerade die Mongolenreisen sind in der Folge unter diesen, aber auch weiteren Aspekten untersucht worden, vgl. Folker E. R E I C H E R T , Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 15), Sigmaringen 1992; Felicitas S C H M I E D E R , Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 16), Sigmaringen 1994, hier 66-72 und öfter. 75 So zum Beispiel zu Barcelona: Ascendebam turrim eius altissimam, ubi tamquam ex specula diligentissime situm loci et civitatis vidi. [. . . ] Habet civitas intra se et extra muros in duabus leucis plus quam 30 monasteria fratrum et sanctimonialium, et credo eam in duplo maiorem esse Nuremberga; zitiert nach München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 112 r-v ; vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 6f. 76 Arnold E S C H , Gemeinsames Erlebnis - Individueller Bericht. Vier Parallelberichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), 385-416, 388. 77 Zu den „Entdeckungsfahrten“ vgl. die Belege oben in Anm. 33 und 34; zu Münzers Aufenthalt in Santiago, wo er Teile des Liber Sancti Jacobi (insbesondere die Historia Turpini) aufzeichnen ließ, vgl. Jeanne K R O S C H A L I S , Jerónimo Münzer y su copia del Pseudo- <?page no="101"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 101 rezipiert und vielleicht auch verändert wurde. Vorwissen und Beobachtung flossen oft unkritisch ein, selbst Humanisten waren vor irrigen Verknüpfungen nicht sicher, manchmal wird Bekanntes einfach an den jeweiligen Orten „ausgeworfen“ 78 . Vergleichbare Urteile könnten auf Intertextualität der Berichte untereinander verweisen. Arnold von Harff hat vielleicht einen kurz vor seiner Reise gedruckten Pilgerführer nach Compostela gekannt 79 ; weitere Bezüge sind noch nicht untersucht. [23/ 24] Neues erschließt sich den Reisenden nicht nur durch Vorwissen und Beobachtung, sondern auch durch Menschen. In welchem Maße waren Vermittler wichtig, wie neuere Forschungen zum frühen und hohen Mittelalter unterstreichen 80 ? Wer vermittelt während der Reisen? Fast alle genannten Personen verfügten offensichtlich über die Ressourcen, um sprachkundige Dolmetscher in ihr Gefolge aufzunehmen 81 . Dazu traten Personen vor Ort. Ein schwäbischer Goldschmied informierte den Nürnberger Hieronymus Münzer bei Valencia über einen geplanten, künftigen Altar 82 , Wirtschaftsleute führten Münzer Turpín, in: El Pseudo-Turpín. Lazo entre el Culto Jacobeo y el Culto de Carlomagno. Actas del VI Congreso Internacional de Estudios Jacobeos, hg. von Klaus H E R B E R S , Santiago de Compostela 2003, 331-344; zu den portugiesischen Fahrten des 15. Jahrhunderts vgl. die ebenso in Clm 431, fol. 280 r -290 v aufgezeichneten Teile sowie K U N S T M A N N , Hieronymus Münzers Bericht (wie Anm. 34); zu Montserrat vgl. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918 (926/ 962), Band 4: Papstregesten 800-911, bearb. von Klaus H E R B E R S , Teil 2: 844-872, Lieferung 1: 844-858 (Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii I), Köln/ Weimar/ Wien 1999, Nr. † 274. 78 Vgl. z. B. künftig die Bemerkungen in der in Anm. 34 angekündigten Ausgabe des Reiseberichtes von Hieronymus Münzer. 79 Gemeint ist der Führer des Hermann Künig von Vach, die Wallfahrt und Strass nach St. Jakob, dessen erste Ausgabe wohl 1495 gedruckt wurde, vgl. H E R B E R S / P L Ö T Z , Nach Santiago (wie Anm. 5), 164-209. Ein Faksimile des ersten Drucks bei Konrad H Ä B L E R , Das Wallfahrtsbuch des Hermannus Künig von Vach und die Pilgerreisen der Deutschen nach Santiago de Compostela, Straßburg 1899, sowie künftig mit neuhochdeutscher Übertragung bei [Die Straß zu Sankt Jacob. Der älteste deutsche Pilgerführer nach Compostela, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Robert P L Ö T Z , Ostfildern 2004]. Die bisherigen sporadischen Bemerkungen zur Kenntnis dieses Führers beziehen sich in der Regel auf die eingeschlagene Wegstrecke und bleiben deshalb relativ unsicher. - Zu weiteren Benutzungen vgl. Volker H O N E M A N N , Santiago de Compostela in deutschen Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts, in: Der Jakobuskult in „Kunst“ und „Literatur“, hg. von Klaus H E R B E R S / Robert P L Ö T Z (Jakobus-Studien 9), Tübingen 1998, 129-139, 137 Anm. 25: „Intensive Benützung von Tuchers - um 1500 bereits in zahlreichen Drucken vorliegendem - Pilgerbericht durch Arnold von Harff hat die Staatsexamensarbeit von Carsten Bongers (Münster 1996) erwiesen“. Zu Tuchers Bericht vgl. nun die Edition von Randall H E R Z , Die Reise ins Gelobte Land Hans Tuchers des Älteren (1479-1480) (Wissensliteratur im Mittelalter 38), Wiesbaden 2002, zur breiten handschriftlichen Überlieferung und den Druckausgaben; vgl. ferner die Diskussion zur möglichen Abhängigkeit Tuchers von Rieter hinsichtlich seines Jerusalemberichtes (hier bes. 250-254). 80 Vgl. hierzu Hermann K A M P , Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2001. 81 Zu den Dolmetschern auf Reisen dürften weitere Studien fruchtbar sein, eine erste Sichtung bei R E I C H E R T , Erfahrung der Welt (wie Anm. 8), 37 mit Anm. 37. 82 Vgl. hierzu besonders München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 122 v , vgl. <?page no="102"?> 102 Pilgerfahrten und Reiseberichte durch die Stadt, die ihn über Zuckerrohr und Zuckerhüte, über Seidenraupen, Cochenille zum Färben schönster Tücher, Öl, Wolle oder Wein aus Alicante aufklärten 83 ; in Málaga erzählte Bernard Boil, der Begleiter Kolumbus’, dem Nürnberger Arzt über die spanischen Entdeckungsfahrten 84 , Deutsche erschließen wohl auch Kenntnisse zum Kloster Guadelupe 85 . Hören und Sehen griffen so ineinander. Kenntnisse über den Islam erwarb Münzer durch Besuche in Moscheen und auf muslimischen Friedhöfen, er formuliert auch eigene Eindrücke. Aber er wußte offensichtlich selbst, daß aufmerksame Beobachtung allein nicht ausreicht 86 , um etwas [24/ 25] mehr über eine fremde Religion zu erfahren. So nutzte er zum Beispiel in Zaragoza im Maurenviertel die Möglichkeit, einen muslimischen Imam durch einen Dolmetscher ausführlich zu befragen. Was er fragte bzw. von den gegebenen Antworten aufzeichnete, ist aufschlußreich; vielleicht schließt sich hier ein Kreis: Es waren Fragen zur Vielehe und zur Scheidung 87 . Hatte er davon schon vorher vage gehört? Wie aber vergewissert sich der Fremde, ob eine Information zutrifft oder nicht? Wie greifen Gesehenes, Gehörtes und Gelesenes ineinander? Ein Beispiel in Évora bietet wiederum der Bericht Münzers: „Dort, außerhalb des Stadttors, sahen wir in der Kirche des hl. Blasius den Teil einer Schlangenhaut, die aus Guinea in Äthiopien stammte 88 . . . und man versicherte, daß sie [die Schlange] zwei Menschen verspeisen könne, indem sie diese erwürgt, und daß sie mit Elefanten kämpfe“ 89 . Warum glaubt Münzer dies? Er schreibt unmittelbar an- P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 22. 83 Vgl. hierzu München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 122 v -129 r , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 22-31. Zur Bedeutung der Ravensburger Handelsgesellschaft in Valencia vgl. auch Andreas M E Y E R , Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft in der Region. Von der „Bodenseehanse“ zur Familiengesellschaft der Humpis, in: Kommunikation und Region (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 4), hg. von Carl. A. H O F F M A N N u. Rolf K I E SS L I N G , Konstanz 2001, 249-304. 84 Vgl. hierzu München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 155 v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 69f. (Et de insulis mihi dixit heißt es lapidar). 85 Sie werden nur genannt: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 189 r-v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 110. 86 Im Reich von Granada beschreibt er z. B. den äußeren Ablauf eines Gottesdienstes, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 142 r -143 r , 150 r -151 r ; P F A N D L , Itinerarium (Anm. 13), 50f., vgl. 61f. und öfter. Zu diesem Besuch im Reich Granada und zu seinen Beobachtungen als Quelle zur Beschreibung dieses Reiches vgl. Wilhelm H O E - N E R B A C H , Der deutsche Humanist Hieronymus Münzer im eroberten Granada, in: Die Welt des Islams 27 (1987), 45-69. 87 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 208 v -209 r ; P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 141. 88 Seit den frühesten „Entdeckungsfahrten“ unter Heinrich dem Seefahrer sah man Guinea als einen Teil Äthiopiens an. 89 Ubi extra portam in ecclesia Sancti Blasii vidimus partem cutis colubri apportati ex Ethiopie Genea. [. . . ] et dixerunt ipsum duos homines cauda et spiris implicitas devorare et cum elephantibus certare, zitiert nach München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 162 v , vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 80. <?page no="103"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 103 schließend: „Dies glaube ich vollkommen, denn schon Plinius sprach über die Tiere Indiens und Äthiopiens, und heute holen sie diese als bewundernswerte Dinge aus Äthiopien und den angrenzenden Inseln“ 90 . VIII. Niederschrift, Erzählung und Wirkung Wurden neue Beobachtungen wenigstens teilweise zu allgemeinem Wissen und beeinflußten so die schon vage bestehenden Spanienbilder? Folker Reichert, Felicitas Schmieder und andere haben am Beispiel der Ostasien-Reisen verdeutlicht, wie lange der Weg von neuem Wissen zu allgemeinem [25/ 26] Wissen sein konnte 91 . Was sagen die Schriften? Schrieben sie Altes fort 92 ? Wozu dienten sie? Waren sie Orientierungen für künftige Reisende, Selbstdarstellung oder eine Mischung von Memoria und Mirabilia, die auch zur Erbauung und Unterhaltung aufgezeichnet wurden 93 ? Was verraten Handschriften und Druckausgaben? Der Bericht Lanckmanns wurde schon 1503 gedruckt und diente auch für weitere Werke im Umfeld Maximilians I., so für eine Fassung des „Weißkunig“ oder als Material für das Werk Ungnads 94 ; ansonsten vermittelt die Überlieferung von in der Regel zwei bis sechs Handschriften ein eher zwiespältiges Bild 95 . Der rheinische Ritter Arnold von Harff bleibt mit sieben (bzw. zehn) erhaltenen Handschriften in quantitativer Hinsicht Spitzenreiter 96 . Hieronymus Münzers Bericht, der neben 90 Ibid. 162 v -163 r : Ideo bene credo quod Plinius de animalibus indicis et ethiopicis scribit, quia hodie miranda apportantur ex Ethiopia et insulis adiacentibus. 91 R E I C H E R T , Begegnungen mit China (wie Anm. 74), bes. 197-284 und vor allem S C H M I E - D E R , Europa und die Fremden (wie Anm. 74), bes. 43-72; vgl. auch die weiteren Anmerkungen. 92 Vgl. zum Aufgreifen schon lange bestehenden Wissens außer der vorigen Anm. auch die Hinweise oben in Anm. 74ff. 93 Zur weiteren medialen Verbreitung vgl. die Bemerkungen von Cordula N O L T E , Erlebnis und Erinnerung. Fürstliche Pilgerfahrten nach Jerusalem im 15. Jahrhundert, in: E R F E N / S P I E SS , Fremdheit und Reisen (wie Anm. 65), 65-92, bes. 87f. am Beispiel Bogislaws X. von Pommern mit Ankündigung weiterer vergleichender Studien. Vgl. auch K R A A C K , Monumentale Zeugnisse (wie Anm. 17), und die Studie zum Verhältnis von Text und Bild in Jerusalemreiseberichten von Andres B E T S C H A R T , Zwischen zwei Welten. Illustrationen und Berichte westeuropäischer Jerusalemreisender (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 15), Würzburg 1996. 94 Vgl. hierzu Erwin K O L L E R , Die Verheiratung Eleonores von Portugal mit Kaiser Friedrich III. in zeitgenössischen Berichten, in: Portugal - Alemanha - África. Do Imperialismo Colonial ao Imperialismo Político, Actas do IV Encontro Luso-Alem-o”, hg. von Antonio H. D E O L I V E I R A M A R Q U E S / Alfred O P I T Z / Fernando C L A R A , Lissabon 1996, 43-56, bes. 45; H E R B E R S , Viaje a Portugal (wie Anm. 21), 187f. mit weiterer Literatur (Anm. 9-11). 95 Vgl. zu den Überlieferungen am übersichtlichsten die jeweiligen Dossiers bei P A R AV I C I - N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8) sowie die verschiedenen Artikel im Verfasserlexikon s. v. 96 Vgl. Volker H O N E M A N N , Arnold von Harff, Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 471-472. <?page no="104"?> 104 Pilgerfahrten und Reiseberichte demjenigen Lanckmanns lateinisch aufgezeichnet wurde, hatte vielleicht der lateinischen Sprache wegen eine geringere Rezeption zu verzeichnen 97 . [26/ 27] Weitere Hinweise ergeben sich zuweilen aus dem Überlieferungszusammenhang: Fürschriften und Empfehlungsschreiben sind einem der Berichte von Rožmitals Reise beigefügt, zu Georg von Ehingen hat Werner Paravicini entsprechende Notizen inzwischen gesichtet 98 , denn zuweilen muß die Überlieferung erst wieder mühsam zu einem Dossier zusammengefügt werden, wie nun auch für Sebastian Ilsung in diesem Band von Roser Salicru genauer belegt wird 99 . Schriftstücke über die Entdeckungsfahrten oder ein Auszug aus dem Jakobsbuch finden sich bei Hieronymus Münzer 100 , kürzere Exzerpte zur europäischen Expansion auch bei Nikolaus von Popplau 101 , Arnold von Harff stellte Itinerar und Distanzen zusammen 102 . Eine genaue Aufschlüsselung der Handschriften dürfte weitere Ergebnisse ermöglichen. Waren aber nur Schriften und die Überlieferung wichtig? In einer Zeit, in der die Forschung mündliche Kommunikationsformen für das frühe und hohe Mittelalter stärker hervorhebt 103 , lohnt es sich, diese Frage auch für die Reiseerfahrungen verstärkt zu beachten. Von Popplau wissen wir, daß er fast in ganz Deutschland über seine Reise Bericht erstattete. Er traf den Kaiser, erzählte am Hof des Markgrafen Achilles von Ansbach und Bayreuth, in Nürnberg, bei Herzog Ernst in Weimar, und vom Hof des Herzogs Albrecht von Sachsen in Meißen zog er weiter nach Prag und Kuttenberg, wo er König Wladislaw, den Erst-Gebohrnen des Königs von Polen, traf. Er übergab die Schreiben der ausländischen Könige bzw. Fürsten und redete mit seinem Jugendfreund, dem königlichen Rat Sokolofsky und dem Herrn Behmbischof Weitmüller 104 . Allein dort soll Popplau zwölf Tage lang immer wieder erzählt haben, besonders dem königlichen Rat. Was er berichtete, bleibt hier allenfalls Vermutung 105 , jedoch 97 Dies liegt jedenfalls nahe, wenn der Überlieferungskontext in der heute in München aufbewahrten Handschrift berücksichtigt wird, der eher auf gelehrtes, humanistisches Wissen abstellte. Vgl. hierzu künftig die Einleitung der in Anm. 13 angekündigten Edition. 98 Vgl. P A R AV I C I N I , Ehingens Reise vollendet (wie Anm. 40). 99 Vgl. den Textfund zu Ilsung und seinem aragonesischen Empfehlungsschreiben im Beitrag von Roser S A L I C R U (in diesem Band: 287) [S A L I C R U , Caballeros cristianos (wie Anm. 32), 287]. Vgl. ebenfalls zu Ilsung den Textfund von Werner G Ö T T L E R in der Schweiz (vgl. Anm. 31 und 32). 100 Vgl. oben Anm. 34. 101 Vgl. R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 76-81. 102 Vgl. G R O O T E , Harff (wie Anm. 46), 251-259. 103 Vgl. z. B. aus der Fülle der Literatur Hanna V O L L R A T H , Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, Historische Zeitschrift 233 (1981), 571-594; Johannes F R I E D , Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (Beihefte zur Historischen Zeitschrift 20), hg. von Michael B O R G O L T E , München 1995, 267-318; Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, hg. von Gerd A L T H O F F / Johannes F R I E D / Patrick J. G E A R Y , New York 2002. 104 R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 152-154. 105 Jedenfalls ist die Aufarbeitung dieser möglichen Transfervorgänge nur durch gezielte Archivrecherchen und Detailstudien möglich. <?page no="105"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 105 wissen wir über die mündliche [27/ 28] Verbreitung der Ostasienerfahrungen besser Bescheid. Sie lassen erkennen, wie sehr mündliche und schriftliche Angaben voneinander abhängen konnten 106 . Für die Interpretation wesentlich ist jedoch, daß die Berichte in der Regel wohl nur Bruchteile von dem bieten, was mündlich an Reisebeobachtungen weitergegeben wurde. Vielleicht prädestinierten die Reiseerfahrungen Popplau, weiter im Dienste Friedrichs III. und auch im Osten Europas bis nach Moskau diplomatisch tätig zu sein 107 . Von Münzer wissen wir, daß auch kosmographische Arbeiten in Nürnberg seinen Aufbruch nach Südwesten bestimmten, vielleicht auch hinterher noch Auswirkungen hatten. An der Schedelschen Weltchronik 108 hat Münzer mitgearbeitet. Leute wie Münzer oder besonders Popplau standen zwischen und in verschiedenen Welten oder Kulturräumen, die jeweils neu zu definieren wären. Zumindest werden aber bei Popplau gewisse Beobachtungen - so über die verschiedenen Völker und Religionen in Aragón - in einer Art niedergeschrieben, die darauf abzielen, mit diesen Beobachtungen weiter zu wirken. Dort, in den Dörfern Aragóns, so berichtet der schlesische Reisende, wohnen viele Sarazenen, also Muslime, nicht nur Christen. Dies erscheint Popplau auf polnische Zustände transferierbar: Es wollen zwar etliche den König von Pohlen straffen, daß er Unrecht thue, daß er in seinem Lande und Königreiche mancherley Glauben verstatte. So doch des Königes aus Hispania alle Königreich, vielmehr getauffter und verkehrter Juden, und über das unglaublig Saracenos haben . . . 109 Es ist unsicher, ob solche Bemerkungen in Polen Einflüsse zeitigten, aber zumindest werden [28/ 29] hier Ansätze der Jagiellonen zu einer toleranteren religiösen Haltung, die vielleicht vom Deutschen Orden kritisiert wurden, positiv einge- 106 Vgl. S C H M I E D E R , Europa und die Fremden (wie Anm. 74), 55-66; Xenia V O N E R T Z - D O R F F , Et transivi per principaliores mundi provincias. Johannes Marignoli als weitgereister Erzähler der ‚Böhmenchronik’, in: Literatur im Umkreis des Prager Hofs der Luxemburger (Schweinfurter Kolloquium 1993) (Wolfram Studien 13), hg. von Joachim H E I N Z - L E / L. Peter J O H N S O N / Gisela V O L L M A N N - P R O F E , Berlin 1994, 142-173, beide Abhandlungen mit vielen eindrücklichen Beispielen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. 107 Vgl. zum Hintergrund besonders Gunhild R O T H , Breslauer Kaufleute unterwegs in Europa. Handelsbeziehungen, Waren und Risiken im Spiegel von Rechtstexten des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters: Vorträge des XI. Anglo-Deutschen Colloquiums, 11.-15. September 1989, Universität Liverpool (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7), hg. von Dietrich H U - S C H E N B E T T / John M A R G E T T S , Würzburg 1991, 228-239, bes. 237f. Weiterhin die bei P A R AV I C I N I / H A L M , Reiseberichte (wie Anm. 8), 221f. zitierte Literatur. 108 Vgl. hierzu die Abbildungen und Folgerungen im Beitrag von Nikolas J A S P E R T (in diesem Band 31-61) [Nikolas J A S P E R T , Eigenes und Fremdes im Spätmittelalter: Die deutsch-spanische Perspektive, in: „Das komt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus H E R B E R S u. Nikolas J A S P E R T (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, 31-61]. Zu den Konsequenzen hinsichtlich Münzers vgl. einstweilen H E R B E R S , Murcia (wie Anm. 13), 178f. mit Anm. 86 und 90 (Lit.). 109 R A D Z I K O W S K I , Popplau (wie Anm. 12), 116. <?page no="106"?> 106 Pilgerfahrten und Reiseberichte bracht 110 . Damit wird die Ansicht eines nicht unbedeutenden Zeitgenossen zumindest festgehalten. Ob Popplau die Zustände auf der Iberischen Halbinsel richtig einschätzte, ist zweitrangig, jedenfalls war die Möglichkeit zu einem Kulturtransfer gegeben 111 . IX. Bilanz: Bilder von außen und innen, Wahrnehmung und Wirkung Blickt man zurück, so ist mein Untertitel falsch gewählt. Die verschiedenen Reiseberichte vermitteln Spanienbilder, kein Spanienbild. Spanien selbst aber war auch kaum die Bezugsgröße, eher die verschiedenen Reiche oder Landschaften, jedoch scheinen die Maßstäbe sich immer wieder zu verschieben 112 . Aufgrund der Herkunft, der Interessen, der Aufträge und der Schreibanlässe waren die Bilder durchaus unterschiedlich gemalt, zeigten sogar individuelle Züge. Alte Bilder und Vorurteile wurden integriert, Schriftliches und Mündliches griff ineinander. So ist es vielleicht doch kein Zufall, daß Gabriel Tetzel in Salamanca den Stierkampf, Hieronymus Münzer dort eher die Universität beschreibt. Vermittler bestimmten zudem, was wahrgenommen und aufgezeichnet wurde. Die Bilder fremder Welten waren aber nicht nur Konstruktionen, die Vielfalt läßt ein Beobachtungswissen erkennen, gerade dann, wenn nicht nur von außen, sondern auch von innen her gesehen wird. Die Redensart „das kommt mir spanisch vor“ vereinheitlicht, verweist eher auf eine Sicht von außen. Die Habsburgerherrschaft schuf nicht nur erst [29/ 30] die Voraussetzungen für eine einheitliche Sicht verschiedener Reiche und Regionen, sondern die Redensart wurde ebenso wohl erst möglich, als spanische Truppen im Reich und später die „Leyenda negra“ um Philipp II. ein vermeintlich einheitliches Bild von Spanien suggerierten. Demgegenüber dominierte im 15. Jahrhundert nicht nur eine größere Vielfalt auf der Iberischen Halbinsel, sondern zugleich eine differenzierte Wahrnehmung dieser Situation, ohne daß die Wirkung dieser Bilder für kulturellen Transfer genau abgeschätzt werden könnte. 110 Vgl. ebd., 116 mit Anm. 684. 111 Auch Mißverständnisse führten mehrfach zum Transfer. Vgl. zum Konzept des Kulturtransfers im Mittelalter die knappen Bemerkungen bei Klaus H E R B E R S , „Europäisierung“ und „Afrikanisierung“ - Zum Problem zweier wissenschaftlicher Konzepte und zu Fragen kulturellen Transfers, in: España y el „Sacro Imperio“. Procesos de cambios, influencias y acciones recíprocas en la época de la „Europeización“ (Siglos XI-XIII), hg. von Julio V A L D E Ó N B A R U Q U E / Klaus H E R B E R S / Karl R U D O L F , Valladolid 2002, 11- 31, sowie demnächst ein Band, der aus den Forschungen des Graduiertenkollegs 516 in Erlangen: „Kulturtransfer im europäischen Mittelalter“ hervorgegangen ist. 112 So redet Münzer oft konkret von bestimmten Reichen, aber nennt dennoch z. B. die consuetudo Hispanorum bei der Beleuchtung der Kirchen oder insgesamt vom Handel Spaniens, vgl. zu diesen beiden Stellen München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 431, fol. 122 v ; vgl. P F A N D L , Itinerarium (wie Anm. 13), 22f. Eine genauere Sichtung des Gebrauchs der jeweiligen Begriffe bei allen Reisenden steht noch aus. <?page no="107"?> „Das kommt mir spanisch vor.“ 107 Wenn es Transfer gab, dann waren die ersten, bei denen sich etwas ändern konnte, die Reisenden selbst. Sie müssen nicht nur als Vermittler, sondern auch als Exponenten eines kulturellen Systems gelten, das durch Reisen neue und zusätzliche Referenzpunkte gewinnen konnte. Deshalb sind schon ethnographische Beobachtungen, die einfach nur feststellen, daß in anderen Kulturen manches abweicht, Indizien für die mögliche erste Stufe eines Kulturtransfers, wie weit auch immer weitere Folgen gereicht haben mögen. Dies könnte den von Norman Daniel in seinem Buch „The Cultural Barrier“ zitierten Satz, „We cannot change ourselves by travelling“ 113 , zumindest relativieren. 113 Vgl. Anm. 9. <?page no="109"?> II Heiligenkulte und Hagiographie <?page no="111"?> Rom im Frankenreich - Rombeziehungen durch Heilige in der Mitte des 9. Jahrhunderts I. „Rom fuhr fort, Reliquien über das Abendland auszustreuen, wie zur Zeit des Aistulf und Desiderius. Eine neue Leidenschaft, die seltsame Begier nach dem Besitze der Leichen von Heiligen, hatte sich der Christenheit bemächtigt; sie steigerte sich, genährt durch die Habsucht und Herrschsucht der Priester, in der immer finsterer werdenden Welt bis zur völligen Raserei. Wir blicken heute mit Schrecken auf jene Zeit, wo ein Totengerippe am Altar der Menschheit stand, ihre Klagen, ihre Wünsche, ihre schauerlichen Entzückungen zu empfangen. Die Römer, welche die Bedürfnisse des Auslandes immer mit praktischem Verstande auszubeuten wußten, trieben damals einen förmlichen Handel mit Leichen, Reliquien und Heiligenbildern, dies und etwa noch der Verkauf alter Handschriften war alles, worauf sich ihre Industrie beschränkte“ 1 . So beschrieb im vergangenen Jahrhundert Ferdinand Gregorovius in seinem Klassiker die Geschichte Roms zur Zeit Papst Gregors IV. (827-844). Wenn wir vielleicht heute nur noch vereinzelt mit Schrecken auf jene Zeit blicken, so liegt dies auch daran, daß sich Voreinstellungen und Fragen geändert haben, mit [133/ 134] denen Historiker die Heiligen, Reliquien und Hagiographica in die Rekonstruktion der Geschichte einbeziehen 2 . Die Beziehungen, die durch die Weitergabe und die Verehrung von Reliquien gefördert wurden sowie die daraus resultierenden Folgen stehen im Vordergrund dieses Beitrages. Ich möchte aber die Art der Verbindungen zunächst weder genauer charakterisieren noch die jeweilige Funktion schon im Erschienen in: Herrschaft - Kirche - Mönchtum 750-1050, Festschrift Josef Semmler, hg. v. Dieter R. B A U E R , Rudolf H I E S T A N D , Brigitte K A S T E N u. Sönke L O R E N Z , © Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1998, 133-169. 1 F. G R E G O R O V I U S , Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom V. bis zum XVI. Jahrhundert, hg. von Waldemar K A M P F (1953-1957, ND 1978), 1, S. 500; vgl. zur Lebenswelt des Autors: K A M P F , ebd. 4, S. 9-54. - Der folgende Text greift Fragen auf, die ich in meiner Habilitationsschrift „Papst Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jh. - Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit“ (Päpste und Papsttum 27, 1996), S. 354-408 mit teilweise anderen Akzenten verfolgt habe, und ist die überarbeitete Fassung des beim Kolloquium 1993 gehaltenen Referates, das in ähnlicher Form auch der Hessischen Sektion des Konstanzer Arbeitskreises in Marburg vorgetragen wurde. Den jeweiligen Diskussionsteilnehmern danke ich für Hinweise und Kritik. 2 Vgl. an neueren Zugängen beispielsweise: Les Fonctions des saints dans le monde occidental (Actes du colloque organisé par l’École française de Rome en 1988) (1991); Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von J. P E T E R S O H N (Vorträge und Forschungen 43, 1994) sowie weitere, zu jeweils einzelnen Aspekten im folgenden zitierte Literatur. <?page no="112"?> 112 Heiligenkulte und Hagiographie voraus näher festlegen. Die Möglichkeiten, Beziehungen mit Rom und dem Papst durch Reliquien zu schaffen, waren im Westen seit der Mitte des 8. Jahrhunderts in größerem Maße gegeben, denn erst seit Papst Paul I. (757-767) wurde es auch hier üblicher, Reliquien weiterzugeben 3 . Die neue päpstliche Haltung seit der Mitte des 8. Jahrhunderts haben McCulloh und andere mit der politischen Neuorientierung des Papsttums von Byzanz zu den Franken in Zusammenhang gebracht, die von einer neuen Reliquienpolitik begleitet gewesen sei 4 . Ob man allerdings von einer bewußten, übergreifenden „Reliquienpolitik“ der Päpste oder der Karolinger sprechen darf 5 , möchte ich zumindest dahingestellt sein lassen 6 . Richtig und wichtig bleibt aber, daß seit dieser Zeit nicht nur die in der Forschung hervorgehobenen Freundschaftsbündnisse und Taufpatenschaften engere Bindungen zwischen Päpsten und Frankenherrschern 7 förderten, [134/ 135] sondern auch Reliquienschenkungen. Sie stifteten Gemeinschaft: Schenker und Empfänger unterstellten sich der Wirkmacht und dem Schutz ihres gemeinschaftlichen Heiligen 8 , die Teilung der Gebeine konnte diese gemeinsame Teilhabe symbolisch verdeutlichen. Roman Michalowski hat 3 Vgl. statt anderer: J. M. M C C U L L O H , From Antiquity to the Middle Ages: Continuity and Change in Papal Relic Policy from the 6th to the 8th Century, in: Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting, hg. von E. D A S S M A N N und K. S. F R A N K (Jb. für Antike und Christentum 8, 1980), S. 313-324, bes. S. 321. - Zur Durchsetzung der Teilbarkeit von Reliquien im Westen vgl. beispielsweise Nicole H E R R M A N N - M A S C A R D , Les reliques des saints. Formation coutumière d’un droit (1975), S. 49-70. - A. A N G E N E N D T , Kult der Reliquien, in: Reliquien. Verehrung und Verklärung, hg. von A. L E G N E R , Ausstellungskatalog (1989), S. 9-24, hier S. 15 und D E R S ., Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart (1994), S. 154 geht von einer Praxis der Teilungen erst seit dem 9. Jh. aus, jedoch dürfte eine längere Übergangszeit angenommen werden. Vgl. allgemein zur Reliquienverehrung die zusammenfassend D E R S . , Heilige und Reliquien, S. 149-166. 4 M C C U L L O H , From Antiquity to the Middle Ages (wie Anm. 3), S. 321-324. 5 So für die Karolinger beispielsweise H. R. S E E L I G E R , Einhards römische Reliquien. Zur Übertragung der Heiligen Marzellinus und Petrus ins Frankenreich, Römische Quartalschrift 83 (1988), S. 58-75, der S. 69 von einem Reichseinheitskult spricht. 6 Skeptisch bezüglich Karl dem Großen auch schon W. H O T Z E L T , Translationen von Märtyrerleibern aus Rom ins westliche Frankenreich im 8. Jahrhundert, Archiv für elsässische Kirchengeschichte 13 (1938), S. 1-52, S. 49-52, der die Reliquienübertragungen aus Rom auch in einigen anderen Studien zusammengestellt hat, vgl. Anm. 12. 7 Hierzu vor allem A. A N G E N E N D T , Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 15, 1984); vgl. Kritik und Ergänzungen von O. E N G E L S , Zum Rombesuch Karls des Großen im Jahre 774, Jb. für fränkische Landesforschung 52 (1992), S. 15-24 und die Erwiderung von A. A N G E N E N D T , Die Karolinger und die Familie der Könige, Zs. des Aachener Geschichtsvereins 96 (1989), S. 5-33, bes. S. 15. 8 Daß man in Rom die Reliquien deshalb nicht besonders großzügig verteilte, weil man den Rang als reichstes Reliquienzentrum erhalten wollte, scheint höchstens eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, vgl. die bei M C C U L L O H , From Antiquity to the Middle Ages (wie Anm. 3), S. 322 mit der in Anm. 49 zitierte Literatur. Gleichwohl gibt es Zeugnisse zum Widerstand der römischen Bevölkerung gegen die Vergabe wichtiger Heiliger, vgl. Anm. 47. - Zur Bedeutung der gesamten Stadt Rom als Besitzerin und Hüterin der Reliquien vgl. unten bei Anm. 44 ff. <?page no="113"?> Rom im Frankenreich 113 die Anregungen des Soziologen Marcel Mauss über die Bedeutung des Schenkens in archaischen Gesellschaften für eine Interpretation der Translationen der karolingischen Epoche fruchtbar gemacht 9 und diese unter dem Aspekt von Freundschaft und Gabe 10 , als Indizien für die verschiedensten sozialen Beziehungen untersucht. Die Übergabe von Reliquien drücke eine bestehende oder sich entwickelnde Freundschaft zwischen Menschen aus, die sich in einem ähnlichen Verhältnis zum sacrum befänden. Dieses auch für die Karolingerzeit feststellbare Verhältnis sei erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts langsam zurückgetreten 11 . Rom wurde somit auch durch Heilige für die verschiedensten Teile des Karolingerreiches zu einem Ort der Orientierung. Rom bot in dieser Zeit aber nicht nur verschiedenartige Orientierungshilfe, sondern war zuweilen auch schon Entscheidungsinstanz in Rechtsfällen, beispielsweise bei den diversen Auseinandersetzungen im Westfrankenreich. Läßt sich die Entwicklung dieser beiden, auch für den weiteren historischen Prozeß zentralen Funktionen Roms und des Papsttums durch eine Untersuchung der eher hagiographischen Quellen weiter konkretisieren? Hagiographische Quellen für historische Fragestellungen zu nutzen, ist inzwischen weitgehend anerkannt, wenn auch erst teilweise in Detailforschungen umgesetzt. Sogar die positivistische Zusammenstellung der Belege ist für die Karolingerzeit noch nicht [135/ 136] vollständig 12 , denn viele kleinere Nachwei- 9 R. M I C H A L O W S K I , Przyjazn i dar w spoleczenstwie karolinskim w swietle translacij relikwii, Studia zrodloznawcze 28 (1983), S. 1-39 sowie 29 (1985), S. 9-65 (mit deutscher Zusammenfassung sowie Tabellen in deutscher Sprache), vgl. auch die darauf aufbauenden Hinweise von H. F R O S , Liste des translations et inventions de l’époque carolingienne, Analecta Bollandiana 104 (1986), S. 427-429. Besser zugänglich mit den wesentlichen Thesen R. M I C H A L O W S K I , Le don d’amitié dans la société carolingienne et les „Translationes sanctorum“, in: Hagiographie, cultures et sociétés, IV e -XII e siècles. Actes du Colloque organisé à Nanterre et à Paris (1981), S. 399-416, vgl. die weiteren Beiträge in diesem Sammelband. 10 Damit knüpft er unter anderem an die Forschungen von M. M A U S S , Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: D E R S ., Soziologie und Anthropologie 2, hg. von W. C E P E N I U S / H. R I T T E R (1978), S. 11-148 an. 11 Entsprechend wurden auch aus der Freundschaft sich entwickelnde Verhältnisse mit stärkerer juristischer Bedeutung, wie bespielsweise Verträge, zumeist auf die Reliquien bestimmter Heiliger abgeschlossen. Vgl. allgemein die in Anm. 28 zitierte Literatur. 12 Zu nennen wären für die Reliquientranslationen die verschiedenen Arbeiten von W. H O T - Z E L T , Translationen römischer Reliquien ins Elsaß im neunten Jahrhundert, Archiv für elsässische Kirchengeschichte 16 (1943), S. 1-18; D E R S ., Translationen von Märtyrerleibern aus Rom ins westliche Frankenreich (wie Anm. 6); D E R S ., Translationen von Märtyrerreliquien von Rom nach Bayern, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 53 (1935), S. 286-343; K. H O N S E L M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen, in: Das Erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textband 1 (1962), S. 159-193, sowie die in den Arbeiten von M I C H A - L O W S K I (wie Anm. 9) und bei W. B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 3. Karolingische Biographie 750-920 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart 1991), bes. S. 440-453 zusammengestellten Texte. Vgl. weiterhin Anm. 9 sowie die weitere zitierte Literatur. Zum Gen- <?page no="114"?> 114 Heiligenkulte und Hagiographie se sind nicht in dem üblicherweise herangezogenen Quellenmaterial zu finden. Auch das Verhältnis von Objekten und Texten ist nicht abschließend geklärt, immerhin konnte Walter Berschin Parallelen zwischen literarischen Einflüssen und der Übertragung von Reliquien feststellen 13 . Fragen der politischen und kirchenpolitischen Orientierung haben für die Karolingerzeit beispielsweise die weit ausgreifende, aber leider ungedruckt gebliebenen Dissertation von Hildegard Nobel zu Königtum und Heiligenverehrung 14 oder die Untersuchungen von Herbert Zielinski zu den Kirchengründungen der Karolinger 15 in Angriff genommen. Patrick J. Geary hat nicht nur Reliquiendiebstähle 16 , sondern auch die „Umsetzung“ normativer Quellen zur Bußpraxis für die Epoche von 740-840 untersucht 17 . [136/ 137] Beschränkt man den Blick auf römische Heilige, so sind die Reliquientranslationen des 8. und 9. Jahrhunderts für einzelne Aspekte, Zeiträume und Gegenden, aber keinesfalls erschöpfend und mit unterschiedlichen methodischen Vorgaben und Erkenntnisinteressen behandelt worden 18 . Die Interessen re der Translationsberichte vgl. grundlegend M. H E I N Z E L M A N N , Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 33, 1979). Zu den weiteren Genera (Martyrologien etc.) vgl. die Belege am jeweiligen Ort. 13 W. B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil 3 (wie Anm. 12) spricht zusammenfassend S. 325 f. von einem Zusammenhang der translatio sanctorum und der translatio studiorum hinsichtlich der Reliquientranslationen aus dem Westfrankenreich nach Sachsen. 14 H. N O B E L , Königtum und Heiligenverehrung zur Zeit der Karolinger (Diss. masch. Heidelberg 1956). 15 H. Z I E L I N S K I , Die Kloster- und Kirchengründungen der Karolinger, in: Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra, hg. von I. Crusius (1989), S. 95-134, S. 104 und 128; vgl. auch D E R S ., Zu den Gründungsurkunden Kaiser Ludwigs II. für das Kloster Casauria, in: Fälschungen im Mittelalter 4 (Schriften der MGH 33/ 4, 1988), S. 67-96, S. 85 f. Anm. 70 mit Ankündigung weiterer Untersuchungen. 16 P. J. G E A R Y , Furta Sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages (1978). 17 D E R S ., The Ninth Century Relic-Trade. A Response to Popular Piety, in: Religion and the People 800-1700 (1979), S. 8-19 und 289-91 bes. S. 17-19. Seinem Material ließe sich die unten in Abschnitt III näher besprochene Wundergeschichte des hl. Marcellinus hinzufügen. Grundsätzlich fraglich bleibt bei diesen Versuchen, ob Bußordnungen und Bußbücher überhaupt so verbreitet waren, daß sich diese Bestimmungen auch in Hagiographica niederschlagen konnten; zum bisherigen Stand der Forschung vgl. beispielsweise die einleitenden Bemerkungen bei L. K Ö R N T G E N , Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher (Quellen und Forschungn zum Recht im Mittelalter 7, 1993), S. 1 f. - Erst auf dem sicheren Grunde der Verbreitung dieser Texte ließe sich unterscheiden zwischen dem, was diese Texte direkt bewirken konnten und was vielleicht allgemeine Buß- und Strafvorstellungen der Zeit betraf. 18 Bisher standen in geographischer Hinsicht Bayern und das Elsaß im Vordergrund; vgl. die in Anm. 12 zitierten Abhandlungen von H O T Z E L T . Daneben sind im Westfrankenreich besonders Soissons, im Ostfrankenreich außer Fulda vor allem Sachsen behandelt worden; vgl. die folgende Anm. Zeitlich wurde das 8. Jahrhundert stärker beachtet. Die wegweisenden kultgeschichtlichen Studien von Z E N D E R beschränken sich auf das Rhein-Maas- Gebiet: M. Z E N D E R , Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung (1959), bezüglich der römischen Heiligen vgl. vor allem S. 144-175 zur Verehrung des Papstes Cornelius. Eine zusammenfassende <?page no="115"?> Rom im Frankenreich 115 der Empfänger sind jeweils in den einzelnen Fällen unterstrichen worden 19 , übergreifende Aspekte hat Friedrich Prinz aus den römischen Reliquien und Patrozinien des 8. Jahrhunderts als Identifikationshilfen für die fränkische Reichsaristokratie abgeleitet 20 , und Egon Boshof hat Reliquienübertragungen dann in seine Untersuchungen einbezogen, wenn ein unmittelbarer Bezug zur traditio Romana und zum Papstschutz erkennbar war 21 . Noch ein Wort zum zeitlichen Rahmen, zur Auswahl der Quellen sowie zu der verfolgten Fragestellung. Nicht nur das Jahr 751 war ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte des mittelalterlichen Europa, sondern auch die Aufteilung des karolingischen Reiches 843; es geht im folgenden somit auch um die verschiedenen Rombeziehungen durch Heilige in den fränkischen Teilreichen. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Entstehung von Deutschland und Frankreich aus dem Ost- und Westfranken-[137/ 138]reich - ich verweise nur allgemein auf die jüngsten Diskussionsvorschläge von Carlrichard Brühl oder von Johannes Fried 22 - gewinnt auch die Zeit seit dem Vertrag von Verdun und die zunehmende eigenständige Entwicklung der Teilreiche neues Gewicht 23 . Schon seit langem hat man die unsicheren Verhältnisse des Auflistung in einer Karte: D E R S . / J. F E L L E N B E R G , Reliquientranslationen zwischen 600 und 1200, in: Atlas zur Kirchengeschichte, bearb. von J. M A R T I N (1987), S. 24-25, Karte 28. Zu Auflistungen der Translationsberichte vgl. Anm. 9 und 12. 19 Besonders zu Sachsen und zu den dortigen Absichten des Adels, das Christentum stärker zu verwurzeln, vgl. H O N S E L M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen (wie Anm. 12); K. H A U C K , Die fränkisch-deutsche Monarchie und der Weserraum, in: Kunst und Kultur im Weserraum I ( 3 1966), ND: W. L A M M E R S (Hg.), Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich (Wege der Forschung 185, 1970), S. 416-450, vgl. dort Karte 12; H. P A T Z E , Mission und Kirchenorganisation in karolingischer Zeit, in: Geschichte Niedersachsens, hg. von Dems., 1 (1977), S. 653-712, S. 708-710; H. B E U M A N N , Die Hagiographie „bewältigt“ Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo: Expansione e resistenze (Settimane di studio del Centro italiano sull’alto Medioevo 28, 1982), S. 129-163, ND: D E R S . , Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1966-1986, hg. von J. P E - T E R S O H N und R. S C H M I D T (1987), S. 289-323; H. L Ö W E , Lateinisch-christliche Kultur im karolingischen Sachsen, in: Angli e Sassoni al di qua e al di là del Mare 2 (Settimane di studio del Centro italiano sull’Alto Medioevo 32, 1986), S. 491-536, ND: D E R S ., Religiosität und Bildung im frühen Mittelalter, hg. von T. S T R U V E (1994), bes. S. 520. 20 F. P R I N Z , Stadtrömisch-italische Märtyrerreliquien und fränkischer Reichsadel im Maas- Moselraum, HJb 87 (1967), S. 1-25. 21 E. B O S H O F , Traditio Romana und Papstschutz im 9. Jahrhundert. Untersuchungen zur vorcluniazensischen libertas, in: Rechtsgeschichtlich-diplomatische Studien zu frühmittelalterlichen Papsturkunden, hg. von D E M S ./ H. W O L T E R (Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia 6, 1976), S. 1-100, S. 30 ff., 82 ff. 22 C. B R Ü H L , Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker (1990); J. F R I E D , Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands. Bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1, 1994). Vgl. zur Diskussion um dieses Buch jetzt G. A L T H O F F und die Erwiderung von J. F R I E D : HZ 160 (1995), S. 107-130. Zur Bedeutung der ostfränkischen Teilung von 865/ 876 für Sachsen und Franken vgl. J. S E M M L E R , Francia Saxoniaque oder Die ostfränkische Reichsteilung von 865/ 76 und die Folgen, DA 46 (1990), S. 337-374. 23 Es geht also weniger um das Datum als um eine seit dieser Zeit verstärkt zu beobachtende Entwicklung. <?page no="116"?> 116 Heiligenkulte und Hagiographie Westfrankenreiches und das Versagen der königlichen Zentralgewalt als einen der Gründe dafür angesehen, warum besonders hier päpstliche Autorität und Entscheidungen zunehmend gefragt waren 24 . Galt dies auch für die Orientierung durch römische Reliquien oder lassen sich Politik und Reliquienschenkungen nicht ohne weiteres aufeinander beziehen? Verfügte man zum Beispiel in der „Gallia“ bereits über eigene Heilige in ausreichender Zahl? Jedenfalls fällt auf, daß sich die Rombeziehungen durch Heilige in dieser Umbruchszeit mit verschiedenen lokalen Schwerpunkten intensivierten 25 . Die Rombeziehungen blieben in dieser Form nicht bis zum Ende des Jahrhunderts - zumindest was römische Reliquien betraf - bestehen; auch deshalb stehen Belege aus der Mitte des 9. Jahrhunderts im Vordergrund 26 . Beiseite lasse ich hier weitgehend den „Reliquienfluß“ von eventuell früher übertragenen römischen Reliquien aus dem Westins Ostfrankenreich 27 . [138/ 139] Es geht also zunächst um Reliquien aus Rom, anschließend auch um weitere Rombeziehungen durch Heilige. Welche sozialen Beziehungen wurden durch den Erwerb hergestellt? War wirklich nur der praktische Handelsverstand der Römer entscheidend, wie Gregorovius will? Oder galten in Rom bei der Reliquienvergabe andere Spielregeln, die ja die neuere Forschung für Königtum 24 Vgl. z. B. B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 5. 25 Rombezüge durch die Übertragung von Reliquien schlossen sich in dieser Zeit an die unter Ludwig dem Frommen erfolgten Translationen an, zu den früheren vgl. die in Anm. 9 und 12 zitierten Werke. 26 Die Quellen über die Beziehungen in den ersten 20-30 Jahren nach dem Vertrag von Verdun erlauben kein geschlossenes Bild, da in der Regel nur diejenigen Translationen ausführlicher gewürdigt wurden, bei denen wichtige politische Persönlichkeiten des Reiches beteiligt waren, oder diejenigen, in denen die neuen Reliquien große kultpolitische Wirkungen zeitigten. Neben den Translationsberichten sind jedoch auch die kürzeren Notizen in den jeweiligen Zusammenhang einzuordnen. Auch der Überlieferungszufall spielt immer eine Rolle. - Die in Anm. 9 und 12 zitierten Zusammenstellungen gehen in der Regel nur von den erhaltenen Translationsberichten aus. - B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil 3 (wie Anm. 12) grenzt die von ihm behandelten Texte der Karolingerzeit (darunter auch viele Translationsberichte) für die Zeit vor 870 und nach 870 voneinander ab und postuliert einen Epocheneinschnitt um 870 (S. 337-341). Sollte dies vielleicht sogar mehr als ein literarisch zu begründender Einschnitt gewesen sein? - An Einzelbelegen (aber eben kaum noch mit ausführlicheren Berichten) sind auch aus Rom weitere Notizen (auch für das ausgehende 9. Jh.) zusammenzustellen, vgl. hierzu [J. F. B Ö H M E R - K . H E R B E R S , Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918 (926/ 962), Band 4: Papstregesten 800-911, Teil 2: 844-872, Lieferung 1: 844-858 (J. F. Böhmer, Regesta Imperii, I,4,2, 1999)]. 27 Vgl. zur Orientierung die Karten bei Z E N D E R / F E L L E N B E R G , Reliquientranslationen (wie Anm. 18) sowie bei H O N S E L M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen (wie Anm. 12); in Zusammenhang mit Studien zur Mobilität vgl. demnächst den entsprechenden Abschnitt in der Habilitationsschrift von H. R Ö C K E L E I N , Hamburg, den sie im August 1994 bei der Sitzung des „Arbeitskreises für hagiographische Fragen“ in Stuttgart-Hohenheim vorgetragen hat Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobiliät und Öffentlichkeit im Frühmittelalter (Beihefte der Francia 48, 2002)]. <?page no="117"?> Rom im Frankenreich 117 und Adel inzwischen stärker in den Blick nimmt 28 ? Wie ist das Verhältnis von Objekt und Bericht, von Reliquien und Recht? Weiterhin geht es um den Einfluß der römischen Heiligenkulte und Reliquien an den verschiedenen Orten der fränkischen Teilreiche beziehungsweise an deren Peripherie. Welche Identifikationshilfen boten sie? Gibt es Bezugspunkte zu anderen Formen des Kontaktes mit Rom, beispielsweise zu den nur wenig später einsetzenden urkundlichen Schutzverleihungen? Schließlich: Heilige waren in der Regel länger einflußreich, als dies heute bewußt ist. Sie eroberten langsam das verschiedene hagiographische Schrifttum. Wie wirkten römische Heilige und was bewirkten sie dadurch? II. Die römischen Reliquienschenkungen nach dem Vertrag von Verdun betrafen in den ersten 15-20 Jahren vornehmlich das Ostfrankensowie das Mittelreich. In den weiteren Zusammenhang der Königskrönung Ludwigs II. 844 in Rom gehören Reliquienschenkungen für das Regnum Italiae, das ich ansonsten ausklammern möchte 29 . Außer den Reliquien der Heiligen Primus und Felicianus für den norditalischen Grafen Erembert 30 wurden 844 die Reliquien des Papstes Calixt an Bischof Noting von Brescia vergeben, die dieser 854 dann auf Bitten des Markgrafen Berengar von Friaul in das Kloster Cysoing bei Tournai in Flandern übertragen ließ. Die abenteu-[139/ 140]erlichen Reisen des hl. Calixt und die weitere, äußerst interessante Ausstrahlung bis in das hohe Mittelalter hat vor kurzem Sönke Lorenz untersucht 31 . Die weiteren in Rom erfolgten Reliquienschenkungen dieser ersten 20 Jahre nach dem Vertrag von Verdun betrafen vor allem das Ostfranken- und das 28 Vgl. z. B. die Beiträge von G. A L T H O F F , H. K E L L E R , D. H Ü P P E R , J.-D. M Ü L L E R unter dem Rahmenthema: Spielregeln in mittelalterlicher Öffentlichkeit (Gesten, Gebärden, Ritual, Zeremoniell), Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 27-146; vgl. G. A L T H O F F , Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (Schriften der MGH 37, 1992). Vgl. früher bereits eindringlich zur Bedeutung sozialer Gesten und Repräsentationsriten: H. F I C H T E N A U , Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30, 1984, ND 1992), S. 48-110. 29 Vgl. ansonsten die in der spätereren Historiographie wohl fälschlich Papst Benedikt III. zugeschriebene Reliquiengabe für S. Zaccharia in Venedig, vgl. hierzu It. Pont. 7,2, S. 177 Nr. †*8 und künftig B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 340 und 341. 30 Nach einer freilich recht späten Tradition soll sogar der Nachfolger Sergius’ II. (844- 847), Papst Leo IV. (847-855), Reliquien dieser Heiligen im Kloster Biforco niedergelegt haben, vgl. It. Pont. 6,1, S. 168 Nr. 1 und It. Pont. 5, S. 158 Nr. †*1; B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), n. 29 und † 91. 31 Translatio S. Calixti Cisonium, hg. von O. H O L D E R - E G G E R , MGH SS 15, 1, S. 418- 422; vgl. S. L O R E N Z , Papst Calixt I. (217-222). Translationen und Verbreitung seines Reliquienkultes bis ins 12. Jahrhundert, in: Ex ipsis rerum documentis, FS für Harald Zimmermann, hg. von K. H E R B E R S / H.-H. K O R T Ü M / C. S E R VA T I U S (1991), S. 213- 232, bes. S. 222f.; B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 19. <?page no="118"?> 118 Heiligenkulte und Hagiographie Mittelreich. Hierzu gehören die corpora der Heiligen Chrysantus und Daria für Prüm, verschiedene Reliquien für das elsässische Kloster Erstein, für Salzburg sowie Schenkungen für die sächsischen Klöster Essen, Lamspringe, Gandersheim und die recht ausführlich aufgezeichnete Übertragung des Alexanderleichnams nach Wildeshausen. Hinzu treten zwei nur recht knapp belegte Schenkungen für Worms und Rheinau 32 . Nur einige Bemerkungen zum Erwerb und den Spielregeln zur Vergabe, zu Reliquien und Text sowie zu den Aspekten von Identifikation und Schutz seien erlaubt 33 . Soweit erkennbar, wurden fast alle Übertragungen den Vorschriften des Mainzer Konzils von 813 entsprechend 34 durch Schreiben der jeweiligen Herrscher gefördert, die teilweise erhalten sind; die tatsächlichen Empfänger der Reliquien waren in Prüm Abt Markward, in Sachsen die adeligen Klostergründer, Graf Liudolf von Sachsen und seine Frau Oda, Graf Ricdag sowie Waltbert, ein Nachfahre Widukinds. In [140/ 141] Erstein stand die Kaiserin Irmingard im Vordergrund 35 . Im Falle Prüms darf vermutet werden, daß die Neuorientierung der Prümer Abtei nach 844 auch mit der Vorliebe Lothars I. für dieses Kloster, das seine Grablege wurde, zusammenhängt 36 ; gab es vielleicht sogar politische Absichten Lothars I. 37 ? 32 Zu den möglichen fortbestehenden zwischen Rom und Fulda vgl. unten bei Anm. 118-126. 33 Die zentralen Quellen bzw. Hilfsmittel seien schon hier zitiert; die Detailstudien finden sich dann am jeweiligen Ort. Zu Prüm: Translatio ss. Chrysanti et Dariae, hg. von O. Holder-Egger, MGH SS 15, 1, S. 374-376, vgl. Germ. pont. 10 S. 281 Nr. *3 und *4; B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 27-28. Zu Liudolf von Sachsen und Oda vgl. vor allem die nicht unproblematischen Gründungsurkunden für Gandersheim, beide Urkunden im Paralleldruck bei H. G O E T T I N G , Die gefälschten Gründungsurkunden für Gandersheim, in: Fälschungen im Mittelalter 3 (Schriften der MGH 33/ 3, 1988), S. 327-371, S. 368-371 (weitere Quellennotizen künftig bei B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 40 und † 41). Zu Wildeshausen: B. K R U S C H , Die Übertragung des hl. Alexander von Rom nach Wildeshausen durch den Enkel Widukinds 851. Das älteste niedersächsische Geschichtsdenkmal (Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl. 13, 1933), S. 405-436, vgl. das Facsimile H. H Ä R T E L , Translatio s. Alexandri auctoribus Ruodolfo et Meginharto Fuldensibus, Landesbibl. Hannover Ms. I 186 (Facsimile) (1979); B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 214-217. Zu Salzburg: Translatio s. Hermetis, hg. von G. W A I T Z , MGH SS 15, 1, S. 410; B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 243-244. Zu Erstein vgl. Germ. Pont. 3, S. 31 f. Nr. *1 und 2; B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 210 und 218 (Die Hinweise dieser nun folgenden nicht mehr ausgeführten Regestennummern sind fortlaufend zu vergleichen). 34 Laut Canon 51 war die Genehmigung des Herrschers oder der Bischöfe und der Synode erforderlich, hg. von A. W E R M I N G H O F F , MGH Conc. 2,1 (1906, ND 1979), S. 272, vgl. H E I N Z E L M A N N , Translationsberichte (wie Anm. 12), S. 36 und W. H A R T M A N N , Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen, Paderborn 1989), S. 439, die Bestrebungen zur königlichen Kontrolle hervorheben. 35 Die Rolle Lothars I. ist aufgrund der Quellenlage nicht ganz eindeutig zu bestimmen. 36 Niedergelegt wurden die Reliquien schließlich in der cella Münstereifel, vgl. Germ. pont. 10, S. 281 Nr. *4. 37 F R I E D , Weg (wie Anm. 22), S. 800 vermutet Bestrebungen Lothars, den Papst für die Ein- <?page no="119"?> Rom im Frankenreich 119 Die Motive der sächsischen Bittsteller lassen sich am ehesten aus der Translatio Alexandri erschließen. Voran geht diesem Bericht eine Darstellung des exordium der Sachsen. Diese Kombination der Texte berechtigt zu der Annahme, daß die Übertragungen römischer Reliquien nach Sachsen gleichzeitig das Selbstbewußtsein des sächsischen Adels unterstützten, der wohl nach der Niederwerfung des Stellingaaufstandes Anfang der 40er Jahre 38 neue Formen der Legitimation benötigte. Vielleicht „bewältigte auch die Hagiographie“, um mit einem inzwischen geflügelten Wort zu sprechen, auch die problematischen Anfänge der Christianisierung Sachsens. Daneben bleiben die schon bisher häufig thematisierten Argumente zu bedenken: so die zentrale Rolle Bischof Altfrieds, die Bezugspunkte Sachsens zu dem römisch orientierten Kloster Fulda, die allgemeine Petrusverehrung oder die Hilfe der Reliquien für die noch teilweise nötige Mission und Christianisierung Sachsens 39 . Die in den Quellen angegebene Motivation, man wolle wirkkräftige Reliquien zur Festigung des Glaubens bei den Sachsen erwerben, hebt vor allem auf das zuletzt genannte Argument ab, das jedoch kaum ausschließlich war. Daß der „Stammvater“ der Liudolfinger 40 das älteste Familienstift seines Hauses, Gandersheim, mit römischen Reliquien ausstattete, rückt dieses erste durch den sächsischen Adel selbst errichtete Kloster besonders in den Vordergrund 41 . Die römischen corpora ergänzten [141/ 142] in Sachsen erst in dieser Zeit die teilweise schon früher aus dem Westfrankenreich nach Osten übertragenen Reliquien; sie unterstrichen somit zugleich, wie sehr Sachsen im Ostfrankenreich an Bedeutung gewann 42 . Wurde der Übergang des Königtums von den ostfränkischen Karolingern auf die Sachsenherrscher im 10. Jahrhundert durch diese Reliquienerwerbungen vielleicht mit vorbereitet? Die Reliquien der genannten Translationen wurden erbeten und erworben, nicht abenteuerlich in einem frommen Diebstahl entwendet, wie beispielsweise heitspoltik zu gewinnen, der Translationsbericht läßt dies zwar kaum erkennen, schließt es aber auch nicht aus. 38 H. G O E T T I N G , Das Bistum Hildesheim. Die Hildesheimer Bischöfe von 815-1221 (1227) (Germania Sacra NF 20, 1984), S. 90 mit stärkerer Betonung der Intentionen zur Christianisierung. Ebd., S. 90 ff. zu möglichen Zusammenhängen der Romorientierung mit Versuchen Altfrieds um eine Rehabilitation Ebos von Reims. 39 Vgl. J. S E M M L E R , Corvey und Herford in der benediktinischen Reformbewegung des 9. Jahrhunderts, Frühmittelalterliche Studien 4 (1970), S. 289-319, S. 310f. zur herausragenden Rolle Altfrieds für Gandersheim und Lamspringe; zur weiteren Literatur vgl. zusammenfassend H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 384 f. mit Anm. 181-183. Zur Bewältigung durch die Hagiographie vgl. den klassischen Aufsatz von B E U M A N N , Die Hagiographie „bewältigt“ (wie Anm. 19) ND S. 305-308 zur Translatio Alexandri und deren Bezugspunkten. 40 Zu den genealogischen Zusammenhängen vgl. die Zusammenstellung von W. G L O - C K E R , Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses (1989), S. 254-257. 41 Vgl. H. G O E T T I N G , Das Bistum Hildesheim. Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim (Germania Sacra NF 7, 1973), S. 81ff. Die weiteren Arbeiten von G O E T - T I N G , insbesondere zu den Gründungsurkunden sind bei H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1) verzeichnet. 42 Vgl. oben Anm. 19 und 27. <?page no="120"?> 120 Heiligenkulte und Hagiographie noch wenig früher die nach Seligenstadt übertragenen Gebeine der Heiligen Marcellinus und Petrus 43 , sei dieser Raub nun als Topos oder nicht in die Quellen eingegangen. In den ausführlicheren Berichten der Translatio Calixti, der Translatio Chrysanti et Dariae, der Translatio Alexandri und der Translatio Hermetis 44 werden die Verhandlungen in Rom genauer dargestellt. Nach welchen Spielregeln erhielt man dort die corpora der Heiligen? In der Regel galt es, hart zu kämpfen: Der Papst weigert sich mehrfach, berät sich mit den principes civitatis (Alexandertranslatio) oder mit dem Senat und den optimates (Hermestranslatio), erhebt die Gebeine, übergibt sie in einem feierlichen liturgischen Akt, wiederum in Anwesenheit der multitudo civitatis (Alexandertranslatio), und trägt auf, die Reliquien künftig feierlich zu verehren. Zuweilen heißt es in den Texten, daß er das Abschreiben bestimmter hagiographischer Schriften zur Bedingung für die Übergabe machte, die Texte über die Heiligen gewinnen zuweilen fast die gleiche Bedeutung wie die Reliquien selbst. Auch einflußreiche Intervenienten waren wohl - wie bei der Erwirkung einer Urkunde - wichtig und sind mehrfach belegt 45 . Gewiß [142/ 143] darf man den topischen Charakter einzelner Akte, so die anfängliche päpstliche Weigerung, nicht verkennen, denn je schwerer der Erwerb, desto wertvoller waren ja die Reliquien für die späteren Besitzer. Aber: Eine gewisse Verhandlungszeit vor der Vergabe, bestimmte Bedingungen der Übergabe sowie die Beteiligung des römischen Klerus, vielleicht sogar der weltlichen Großen Roms scheinen üblich gewesen 43 Diese durchaus abenteuerliche Geschichte hat Einhard, Translatio et miracula ss. Marcellini et Petri, hg. von Georg W A I T Z , MGH SS 15, S. 239-264 aufgezeichnet. Vgl. zum politischen Gehalt zusammenfassend J . F L E C K E N S T E I N , s.v. Einhard, in: LexMA 3 (1986), Sp. 1737-1739. Zum Problem des Raubes als Topos bzw. als literarische Tradition vgl. G E A R Y , Thefts (wie Anm. 16), S. 143-157. 44 Vgl. die in Anm. 33 zitierten Nachweise. Abweichend von den meisten anderen Translationen wurde im Falle der Salzburger Reliquientranslation keine monastische Gemeinschaft mit römischen Reliquien bedacht. Nicht eingehen kann ich hier auf die Notiz bei Sigebert von Gembloux zu einer Übertragung der Hermes-Reliquien nach Kornelimünster, vgl. hierzu H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 371-373. - Salzburger Bischöfe haben mehrfach römische Reliquien erbeten und erhalten, so erwarb Adalwin von Salzburg 859-860 Reliquien der römischen Märtyrer Chrysantus und Daria: Ann. s. Rudperti Saliburgenses a. 859, MGH SS 9, S. 770, vgl. Germ. Pont. 1, S. 11,Nr. 17; dort im Zusammenhang mit der Pallienverleihung JE 2681 (Mai 860). Rudbert berichtet im übrigen auch mit gleichem Datum wie die Translatio zu 851 von der Übertragung der Hermesreliquien. Vgl. weitere Quellenbelege zu weiteren Translationen römischer Reliquien nach Salzburg in Germ. Pont. 1, S. 13 Nr. 25 (Kommentar). Diese verschiedenen Translationen nach Salzburg beeinflußten aber wohl im 9. Jahrhundert die Patrozinien der Gegend noch nicht, eine weitere Ausstrahlung wurde wahrscheinlich durch die auch im 9. Jahrhundert noch bedeutenden Kulte von Virgil, Rupert und Vitalis verhindert. Allgemein hierzu K. F. H E R M A N N , Kirchliches Leben, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land 1, 2, hg. von H. D O P S C H (1981), S. 983-1001, S. 990. 45 Gut ablesbar ist dies auch an den königlichen Briefen, die z. B. in die Alexandertranslatio aufgenommen worden sind, vgl. außer der Edition von K R U S C H (wie Anm. 33) auch DLo I. Nr. 108 und 109 ( B Ö H M E R - Z I E L I N S K I 66 und 66A) sowie DLo I. Nr. 110 (Brief Lothars an Leo IV.). - Diese Beobachtung unterstreicht weitere Parallelen zwischen Reliquienschenkung und Urkundenverleihung, vgl. unten S. 163 f. <?page no="121"?> Rom im Frankenreich 121 zu sein. Der Papst war an die in Rom ansässigen Verehrer gebunden. Auch der oberste Liturge der Stadt konnte die von vielen Bewohnern verehrten Reliquien nicht in eigener Entscheidung weitergeben. Die Reliquien gehörten zumindest aus der Perspektive der Verfasser der gesamten Stadt Rom: Ob die feierliche Übergabe im Lateran oder S. Peter auch Rückschlüsse auf die Vorstellungen über die Reliquien als Besitz der Stadt oder des Papstes erlaubt, ist schwer zu entscheiden 46 . Schon aus früheren Texten sind jedoch Widerstände der Römer gegen die Vergabe ihrer Reliquien bekannt 47 . Besonders wird die zuweilen schon in Rom aufgetragene liturgische Verehrung der Heiligen hervorgehoben; sie wurde durch die Mitgabe der dazugehörigen Schriften sichergestellt. Hierin drückte sich auch noch in der Mitte des 9. Jahrhunderts die gemeinsame Teilhabe von Geber und Empfänger am sacrum ausgedrückt: Der Empfänger kann mit den Reliquien nicht machen, was er will, der Wunsch des Gebers erscheint bindend, andernfalls kann der Heilige strafen 48 . Diese gemeinsame Teilhabe bedingte neben den corpora das geschriebene Wort - damit werden die Übertragungen in weiterer Hinsicht interessant, unter anderem auch für eine Geschichte der Schriftlichkeit, denn außer den Translationsberichten wurden nun auch Viten, Passionen und andere hagiographische und liturgische Gebrauchsliteratur in Rom und von Rom aus vervielfältigt 49 . [143/ 144] Der von Wundern begleitete feierliche Zug der Reliquienprozession gehörte bereits zu der unmittelbar einsetzenden Verehrung. Ein adventus Domini fand statt 50 . Die ersten Wunder „bewiesen“ zugleich die Wirksamkeit und Echtheit der Reliquien, machten also bestätigende Schreiben zur Authentizität weniger wichtig 51 . Sie regten jedoch zur Aufzeichnung weiterer Wunderberichte an, 46 In der Alexander-Translatio wird von der Übergabe in St. Peter, in der Chrysantus und Daria-Translatio von derjenigen im Lateran berichtet. 47 So sollen die Römer z. B. bei der Vergabe des Papstes Alexander nach Freising 834 zum Papst gesagt haben: non debere Romam martyribus usquequaque destitui, Translatio ss. Alexandri et Iustini, hg. von W. W A T T E N B A C H , MGH SS 15, 1, S. 287. Vgl. zur Abfassungszeit der Quelle W. W A T T E N B A C H u. a., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 6 (1990), S. 804. Zu den Schwierigkeiten des Erwerbs in Rom im 9. Jh. bereits J. G U I R A U D , Les reliques romaines au IX e siècle, in: D E R S . , Questions d’histoire et d’archéologie chrétienne (1906), S. 235-261, S. 241-244. 48 Zu Strafen der Heiligen allgemein vgl. z. B. H. F I C H T E N A U , Zum Reliquienwesen im früheren Mittelalter, MIÖG 60 (1952), S. 60-89, ND: D E R S . , Beiträge zur Mediävistik 1 (1975), S. 108-144, S. 114; vgl. D E R S ., Lebensordnungen (wie Anm. 28), S. 429 f. zu Strafen der Heiligen und ihrer gelegentlichen „Unberechenbarkeit“. 49 Vgl. zu Rom als Art authentischer Tradition unten S. 168; die Art der Verbreitung von Schriften eröffnet interessante Ausblicke auch auf eine Geschichte von Verschriftung und Verschriftlichung in dieser Zeit, vgl. hierzu den Sammelband Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. von U. S C H A E F E R (ScriptOralia 53, 1993). 50 Zum Vergleich von Herrscheradventus und Reliquienadventus vgl. N. G U S S O N E , Adventus-Zeremoniell und Translation von Reliquien. Victricius von Rouen, De laude sanctorum, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 125-133 und allgemein H E I N Z E L - M A N N , Translationsberichte (wie Anm. 12), S. 66-77. 51 Diese gab es natürlich gleichwohl, vgl. die Beispiele der Authentiken bei H O N S E L - <?page no="122"?> 122 Heiligenkulte und Hagiographie die dazu beitrugen, daß die römischen Heiligen zunehmend zugleich lokale Heilige wurden. Die verschiedenen Translationsberichte dokumentierten nicht nur Ereignisse, sondern standen oft in literarischen Traditionen und Abhängigkeiten. Die historisch-philologische Forschung hat in diesem Bereich vieles noch nicht aufgearbeitet. Die Kürzungen vieler älterer Editionen auf das historisch Wichtige (besonders im vorigen Jahrhundert) haben mehrfach den Blick zusätzlich verstellt. Die Alexandertranslation als „ältestes niedersächsisches Geschichtsdenkmal“ (Bruno Krusch) oder als Zeugnis für die „haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter“ (Karl Hauck) besitzt auch wegen der Verfasserschaft des Rudolf von Fulda beziehungsweise Meginhards in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung 52 . Allerdings erfreute sich auch hier eher das „exordium“ der Sachsen als der Translationsbericht mit den folgenden Mirakeln des gelehrten Interesses. Wie konnten die knappen Auflistungen verschiedener Heiligenreliquien in den Texten entstehen? Als Beispiel sei die in die Papsturkunde vom 28. April 850 eingefügte Reliquienliste der in das elsässische Kloster Erstein übersandten römischen Heiligen genannt. Die verfälschte Urkunde, die wohl teilweise auf einen Translationsbericht zurückgeht, verzeichnet zwei Listen mit den angeblich nach Erstein übertragenen Heiligen. Die zweite ist gegenüber der ersten um die Heiligen Urban, Sixtus und Agatha erweitert 53 . Die Erweiterung spiegelt teilweise hagiographische [144/ 145] und literarische Zusammenhänge. Die Hinweise über Papst Urban I. (222-230) im Liber pontificalis 54 gründen auf der „Passio Caeciliae“ 55 . Cäcilia steht aber bereits in der unverfälschten M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen (wie Anm. 12), S. 183 sowie ebd., Abb. 2; B. B I S C H O F F , Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24, 1979, 2 1986), S. 255 f.; aber die zeitgenössischen Berichte messen diesen Bestätigungen im Vergleich zu Wundern und anderen „Echtheitsbeweisen“ kein besonders hohes Gewicht bei. Zur Bedeutung von Wundern unterwegs und Mobilität vgl. künftig R Ö C K E L E I N (wie Anm. 27). 52 Vgl. hierzu die in Anm. 38-42 zitierte Literatur. 53 JE *2603 und Germ. Pont. 3, S. 31 Nr.*1 und Nr. 2. Edition der Urkunde: P. S C H E F F E R - B O I C H O R S T , Zur Geschichte der Reichsabtei Erstein, ZGORh, NF 4 (1889), S. 283-299, S. 291; vgl. R. F R I E D E L , Geschichte des Fleckens Erstein (1927), S. 30 f. und 37; H. B Ü T T - N E R , Geschichte des Elsaß I (1939), S. 143 f. ND: Geschichte des Elsaß I und Beiträge zur Geschichte des Elsaß im Früh- und Hochmittelalter, hg. von T. E N D E M A N N (1991), S. 130 f.; D E R S ., Papsturkunden für das Elsaß bis 1198, Archiv für elsässische Kirchengeschichte 15 (1941-42), S. 1-12, hier S. 7; H O T Z E L T , Translationen römischer Reliquien ins Elsaß (wie Anm. 12), S. 10 ff.; B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 62 f. Außer der umstrittenen Urkunde für das neu gegründete Stift Erstein berichten Hrabanus Maurus und die späten Flores Temporum über eine Reliquienschenkung, die Ende 849 oder Anfang 850 zu datieren ist, vgl. Hrabanus Maurus, Epitaphium Irmingardis, hg. von E. D Ü M M L E R , MGH Poet. Lat. 2, S. 240 und Hermann Gygas, Flores temporum, hg. von Johann G. M E U S C H E N (1750), S. 86. 54 Liber pontificalis, hg. von L. D U C H E S N E , Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, 1-3, 3 hg. von C. V O G E L (1886-1892, 1957), 1 (1886), S. 143. 55 Ebd., S. 143 Anm. 44 und W. L Ü H M A N N , St. Urban. Beiträge zur Vita und Legende, zum <?page no="123"?> Rom im Frankenreich 123 ersten Ersteiner Liste. Vielleicht hat also das Studium der hagiographischen Texte die Erweiterung um Papst Urban bewirkt. Könnte die Beschäftigung mit diesen Texten vielleicht sogar dazu geführt haben, sich den noch zur jeweiligen Heiligengruppe gehörenden Heiligen zu besorgen? So etwas wäre salopp mit dem Ausdruck „Familienzusammenführungen“ zu bezeichnen. Der nach Wildeshausen übertragene Alexanderleichnam gehört eventuell in einen ähnlichen Zusammenhang, denn, nachdem schon 839 die hl. Felicitas nach Vreden übertragen worden war 56 , folgte Alexander 851 als einer ihrer Söhne nach Wildeshausen 57 . Wie es scheint, läßt sich mit diesen Beispielen das frühmittelalterliche Konzept verwandtschaftlicher, sippengebundener Gruppenbildungen gegen spätmittelalterliche Formen der Funktionszusweisung bestimmter Heiliger abgrenzen 58 . Die Ersteiner Liste weist außerdem Textbezüge zur Vita Paschalis’ I. auf, zumindest läßt sie eine genaue Kenntnis Roms und seiner Kirchen erkennen: Die Namen der Liste stimmen auffälligerweise überwiegend mit den Heiligen überein, die Papst Paschalis I. (817-824) vom Praetextatus-Zoemeterium in die Cäcilienkirche in Rom übertragen ließ. Die Passage der Vita Paschalis’ im Liber pontificalis nennt Cäcilia, Valerian, Tiburtius, Maximus, Urban und Lucius; sie erwähnt weiterhin die Errichtung eines römischen Klosters zu Ehren der Heiligen Agatha und Cäcilia 59 . Vielleicht besuchte Irmingard bei ihrer Anwesenheit in Rom 823 60 die Kirche S. Cäcilia und [145/ 146] wurde auf die neu übertragenen Reliquien aufmerksam 61 ; vielleicht kamen die Ersteiner Reliquien sogar direkt aus der römischen Cäcilienkirche. Wahrscheinlich erscheint mir, daß zugleich schriftliche Informationen des Liber pontificalis in der Ersteiner Reliquienliste verwertet wurden. Irmingard soll bei der Gründung Ersteins die Heiligen Cäcilia und Agatha angerufen haben. Damit waren dieselben Heili- Brauchtum und zur Ikonographie (1968), S. 4-13. 56 Annales Xantenses, hg. von B. von S I M S O N , MGH SS rer. Germ. 12, S. 10; vgl. H O N S E L - M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen (wie Anm. 12), S. 183 sowie ebd., Abb. 2. 57 Die Vorstellung von Heiligengruppen ist wiederholt in den Translationsberichten erkennbar; so gehören auch die nach Seligenstadt übertragenen Marcellinus und Petrus zusammen (vgl. den Bericht Einhards, wie Anm. 43). 58 Insofern spiegelt auch die Hagiographie gesellschaftliche Grundstrukturen, herrschaftlichhierarchische und genossenschaftliche. Zur Bedeutung der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter vgl. beispielsweise G. A L T H O F F , Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter (1990). Ausführlich zum familia-Begriff auch F I C H T E N A U , Lebensordnungen (wie Anm. 28), S. 113-185; kurz S. 179 f. zur „familia“ in übertragener Bedeutung. - Als klassisches Beispiel einer ausgeprägten Funktionszuweisung könnte man die 14 Nothelfer nennen, die seit dem 14. Jh. als feste Gruppe konstituiert waren. 59 Liber pontificalis (wie Anm. 54), 2, S. 56 f.; vgl. zum Kloster G. F E R R A R I , Early Roman Monasteries. Notes for the History of the Monasteries and Convents at Rome from the Vth through the Xth Century (Studi di Antichità cristiana 23, 1957), S. 23-25. Vgl. zur Übertragung auch F R I E D E L , Geschichte Erstein (wie Anm. 53), S. 19 f., der sie in das Jahr 821 legt. 60 Vgl. B Ö H M E R - M Ü H L B A C H E R 2 770a und 1018a. 61 So vorsichtig F R I E D E L , Geschichte Erstein (wie Anm. 53), S. 19 f. und 30. <?page no="124"?> 124 Heiligenkulte und Hagiographie gen genannt, die Paschalis I. in Rom für das Kloster neben der Cäcilienkirche gewählt hatte. Außerdem sollte wie in der römischen Kirche auch in Erstein die laus perennis gepflegt werden 62 . Mit der Übertragung römischer Leichname wurden oftmals zugleich der Liber pontificalis (besonders bei heiligen Päpsten) und andere Schriften im Frankenreich zunehmend bekannt 63 . Föderte dies nicht auch eine verstärkte Imitation Roms im Frankenreich? Die Ersteiner Liste verweist auf einen weiteren Aspekt: Sie nennt Heilige, die erst Papst Paschalis gut 25 Jahre zuvor in das Innere der Stadt Rom hatte überführen lassen. Diese Welle von Reliquienübertragungen in die stadtrömischen Kirchen, besonders im 8. und 9. Jahrhundert, wird in der Regel auf die äußeren Bedrohungen Roms zurückgeführt. Sie könnte jedoch auch durch ein neues Reliquienverständnis begünstigt worden sein: Nun bestand die Möglichkeit, die heiligen corpora ungehindert und häufig zu verehren; gerade für auswärtige Besucher waren sie nun besser zugänglich 64 . Die Gruppierung der Heiligen in den römischen Stadtkirchen scheint zugleich die Vergabe ins Frankenreich beeinflußt zu habe, vielleicht nicht nur im [146/ 147] Falle von Erstein. Auch Gandersheim erhielt mit den Päpsten Anastasius und Innozenz die Reliquien von Heiligen, die Papst Sergius II. 846 in seine frühere Titelkirche St. Martin übertragen ließ. Ähnliches gilt für die von Gregor IV. nach St. Peter und dann von Sergius II. an Marmoutier geschenkten Gorgonius-Reliquien 65 : 62 Liber pontificalis (wie Anm. 54), 2, S. 57: in quo et monachorum Deo servientium congregationem pro cotidianis laudibus in praefato titulo sanctae Ceciliae die noctuque omnipotenti Domino decantandis constituit. . . ; dazu vergleichend Germ. Pont. 3, S. 31 Nr. 2, hg. von S C H E F F E R - B O I C H O R S T , Geschichte (wie Anm. 53), ND S. 364: . . . in honorem domini nostri Jesu Christi et sancte genitricis illius ac beatissimarum virginum et martirum Cecilie [et] Agathe . . . ibi sanctemoniales femine pie et religiose viventes seque in divinis laudibus et ymnis incessanter, quantum humana admittit infirmitas, diebus ac noctibus exercentes . . . Diese Parallele findet sich interessanterweise in dem wohl nachträglich verfälschten Teil der Urkunde. - Zur laus perennis, die in St. Maurice d’Agaune schon früh eingeführt wurde und von dort nach Auxerre gelangte, vgl. F. P R I N Z , Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4.-8. Jh.) (München 1965, 2 1988), S. 103 ff. - Zu 862 an Auxerre geschenkte Urban-Reliquien vgl. Anm. 143. 63 Vgl. zu den Handschriften und deren Klassifizierung immer noch die Einleitung zum Liber pontificalis (wie Anm. 54), 1, S. CLXIV-CCVI und 2, S. I-VIII. Allgemeine Einführung bei A. B R A C K M A N N , s.v. Liber Pontificalis, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 11 (1902), S. 439-446, ND: D E R S ., Gesammelte Aufsätze ( 2 1967), S. 383-396, S. 389 f. Vgl. außerdem zu im Frankenreich vorhandenen Exemplaren P. C. J A C O B S E N , Flodoard von Reims. Sein Leben und seine Dichtung „De triumphis Christi“ (Mittellateinische Studien und Texte 10, 1978), S. 222-232. Im Zusammenhang mit der Übertragung der Marcellinusreliquien in die Bretagne wurde eine Passage des Liber pontificalis wohl mitgegeben, vgl. unten bei Anm. 95; vgl. auch unten Anm. 136. 64 Vgl. hierzu K. H E R B E R S , Stadt und Pilger, in: Stadt und Kirche, hg. von F.-H. Hye (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Schriftenreihe des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 12, 1995), S. 199-238 [Wiederabdruck in diesem Band, 17-52], hier S. 206-210. 65 Zur Übertragung durch Sergius II.: Liber pontificalis (wie Anm. 54), 2, S. 93-97; Inschrift, hg. von E. D Ü M M L E R , MGH Poet. Lat. 2, S. 663; Inschrift in der Kirche S. Silvestro e <?page no="125"?> Rom im Frankenreich 125 In allen drei Fällen zogen die Reliquientranslationen in das ummauerte Rom weitere Kreise bis ins Frankenreich. Reliquiengesuche waren somit auch von der Neuorganisation in Rom abhängig. Papst Gregor IV. antwortete beispielsweise dem Erzbischof Otgar von Mainz, er könne den erbetenen Leichnam nicht finden, weil er und seine Vorgänger die verschiedensten Gebeine in neu geweihte Kirchen Roms übertragen hätten, er werde allerdings weitersuchen 66 . „Wegen Umzugs nicht auffindbar“ würde man heute wahrscheinlich schreiben. Die Gruppierungen der ins Frankenreich übertragenen Reliquien beziehungsweise die dazugehörigen Listen konnten also von den Voraussetzungen in Rom, von literarischen Einflüssen oder von beidem bestimmt sein, so mag ein erstes Zwischenergebnis lauten. Berücksichtigt man diese Voraussetzungen, so ist weiterhin - auch mit der bisherigen Forschung - zu unterstreichen, daß die Empfänger wohl zu einem großen Teil mit den Reliquien neben Hilfen für die Missionierung, für die Identifikation und anderes mehr vor allem auch Schutz für die von ihnen oftmals neu gestifteten Klöster oder kirchlichen Institutionen begehrten. Welcher Art war dieser Schutz, und wie hängt er mit urkundlichen Schutzverleihungen zusammen? Den Schutz, den jeder Heilige ohnehin gewährte, scheint Liudolf von Sachsen noch durch eine persönliche Kommendation in Rom, die der fast zeitgenössische Agius von Corvey überliefert 67 , weiter verstärkt zu haben. Die Formulierung schließt neben der Kommendation an den hl. Petrus auch die familia sancti Petri ein. Könnte hiermit die Schutzsuche weiterer römischer Heiliger gemeint sein oder deutet der [147/ 148] Audruck eher darauf, daß Liudolf die familiaritas des Papstes suchte 68 ? Goetting hat aus dieser Quellenstelle gefolgert, daß vielleicht das päpstliche Begleitschreiben zu dieser Reliquientranslation eine Martino (13. Jh.), hg. von R. V I E L L I A R D , Les origines du titre de Saint-Martin aux Monts à Rome (Studi di antichità christiana 4, 1931), S. 84-87; vgl. It. Pont. 1, S. 46 Nr. *4, und künftig B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 47. Die zitierte Inschrift (V I E L L I A R D ) enthält die Namen der übertragenen Leichname sowie die Indulgenz, vgl. hierzu Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G , Römische Ablaßfälschungen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, in: Fälschungen im Mittelalter 5 (Schriften der MGH 33/ 5, 1988), S.637- 658 S. 646 f. Zu Gregor IV. vgl. Liber pontificalis (wie Anm. 54), 2, S. 74, vgl. unten Anm. 89 sowie B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 58. 66 JE 2584, Germ. Pont. 4, S. 61 f. Nr. 25, hg. von MGH Epp. 5, S. 71 f., Nr. 13.: De corpore vero sancto, quod nobis humiliter vestra quaesivit prudentia, quod dirigere non habuimus, quoniam cuncta sanctorum corpora praedecessores nostri nobiscum communiter detulerunt et unumquodque eorum ecclesiis noviter dedicatis summa veneratione condidimus. Proinde benivolentiam vestram praecamur, ut nobis spatium inquirendi diligentius praebeatis, quatenus corpus sanctum invenire valeamus ad vestram conplendum petitionem. 67 . . . et sancto Petro familiaeque sancti Petri cum omnibus suis commendati . . . , Agius von Corvey, Vita Hathumodae, ed. G. H. P E R T Z , MGH SS 4, S. 165-189, S. 168; zur Interpretation vgl. G O E T T I N G , Gründungsurkunden für Gandersheim (wie Anm. 33), S. 338 f. Anm. 52. 68 Zur familiaritas, auch im früheren Mittelalter, vgl. F I C H T E N A U , Lebensordnungen (wie Anm. 28), S. 180 f. <?page no="126"?> 126 Heiligenkulte und Hagiographie Schutzbestimmung allgemeiner Art enthalten haben könnte 69 , Boshof hat hingegen Bedenken angemeldet 70 . Die Diskussion erübrigt sich vielleicht, wenn man nicht so sehr auf einen urkundlich festgelegten Schutz abhebt, sondern daran denkt, daß sich Liudolf durch die Kommendation gleichsam als Person in den päpstlichen Schutz begab 71 , der durch die mitgegebenen Reliquien bekräftigt wurde. Johannes Fried hat - auch mit Hinweis auf das 9. Jahrhundert - Gebetsschutz und Bannschutz unterschieden, die sich gelegentlich überlagerten 72 . Der Schutz, den Petrus und seine Nachfolger spendeten, wurde durch Reliquien bekräftigt und konnte schon Formen des Bannschutzes enthalten oder diesen vorbereiten. Königlicher, päpstlicher oder sogar beide Formen des Schutzes schlossen sich eventuell an. Insofern verwundert es nicht, daß beispielsweise Gandersheim später königlichen 73 , zu Zeiten Ottos I., wie schon Josef Semmler hervorgehoben hat 74 , zusätzlich päpstlichen Schutz genoß. Auch im Falle Ersteins erscheint die Verbindung von Reliquienvergabe, Klostergründung und päpstlichem Schutz besonders deutlich. Man hat hierfür im allgemeinen die guten Beziehungen des Kaiserpaares zu Leo IV. angeführt, weiterhin Irmingards Petrusdevotion, die auch aus den Versen eines an den Papst geschenkten Behanges hervorgehe 75 . Bedenkt man zudem, daß die (erste) Reliquienliste wohl zeitgenössisch ist, die Rechtsbestimmungen der Urkunde eher aus dem 10. oder 11. Jahrhundert stammen, dann deutet sich wohl auch hier an, daß der Schutz durch Heilige als die im 9. Jahrhundert zeitgemäße Form der Sicherheit empfunden wurde. [148/ 149] Insgesamt gewann der durch die römischen Reliquien erworbene Schutz umso mehr an Gewicht, je bedeutender Rom und der Papst in den Translationsberichten erschienen. So heben die Texte der Translatio Hermetis oder Alexandri das Ansehen Roms und der Apostelfürsten sowie die Verehrung der Heiligengräber in Rom besonders eindringlich hervor. Auch deshalb war es den 69 Vgl. zusammenfassend G O E T T I N G , Gründungsurkunden für Gandersheim (wie Anm. 33), S. 340 f. 70 B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 84 f. und 89. 71 Diese Belege ergänzen die von J. F R I E D , Laienadel und Papst in der Frühzeit der französischen und deutschen Geschichte, in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter (Nationes 1, 1978), S. 367-406 behandelten Beispiele. 72 Vgl. J . F R I E D , Der päpstliche Schutz für Laienfürsten. Die politische Geschichte des päpstlichen Schutzprivilegs für Laien (11.-13. Jh.) (Abh. der Heidelberger Akad. der Wiss. phil.-hist. Kl. 1, 1980), S. 39-45; D E R S . , Formen päpstlichen Schutzes für Laienfürsten 9.-13. Jahrhundert, in: Proceedings of the fifth International Congress of Medieval Canon Law (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 6, 1980), S. 345-360, S. 346-348. 73 DLJg 3. 74 J. S E M M L E R , Traditio und Königsschutz - Studien zur Geschichte der königlichen monasteria, ZRG KA 76 (1959), S. 1-33, S. 14 f. und 18; G O E T T I N G , Kanonissenstift Gandersheim (wie Anm. 41), S. 85 f. 75 Vgl. F R I E D E L , Geschichte Erstein (wie Anm. 53), S. 20 und 34 sowie B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 65 und 69 f. Daneben sei das Bemühen um Sicherung der Rechte Irmingards gegen mögliche Ansprüche von Verwandten zu berücksichtigen. Die Verse des Behanges: MGH Poet. Lat. 3, S. 187 ff. (hg. von Ludwig T R A U B E ). <?page no="127"?> Rom im Frankenreich 127 Bittstellern wichtig, nicht nur römische Reliquien, sondern sogar die Gebeine heiliger Päpste zu erwerben. Auffälligerweise domininieren in der Reliquienliste für Erstein ähnlich wie bei Gandersheim heilige Päpste, vielleicht ein für die zukünftige Geschichte dieser Orte und päpstlicher Schutzverleihungen nicht ganz unwichtiger Aspekt 76 . Unter die Thematik des Schutzes läßt sich auch die Translation der Blasiusreliquien von Rom nach Rheinau 77 einordnen. Sie muß nach den Forschungen von Löwe zur Vita Findani in das Jahr 858 datiert werden 78 . Das um 850 von Wolvene neu eingerichtete Kloster Rheinau 79 übertrug dieser am 19. Februar 858 Ludwig dem Deutschen 80 . Ein besonderes Interesse Ludwigs des Deutschen an den neuen Reliquien für das ihm im Februar 858 in Ulm übertragene Kloster ist nicht auszuschließen 81 , wenn auch zu bedenken ist, daß Wolvene das wiedererrichtete, der hl. Maria und dem hl. Petrus geweihte Kloster 82 vielleicht doppelt sichern wollte: Neben die klassische traditio an den König trat zusätzlich der Schutz durch neue römische Reliquien. Auffälligerweise waren von den bisher erwähnten Reliquienübertragungen einige Orte an der Grenze zwischen dem Ostfranken- und dem neuen Mittelreich oder Klöster wie Prüm und Erstein in diesem Mittelreich betroffen. In die frühe Phase der 40er und 50er Jahre gehört noch die Reliquienübertragung nach Neuhausen bei Worms. Etwa 847, vielleicht schon früher, erhielt wohl das Cyriakusstift bei Worms Reliquien des hl. Cyriakus 83 . Nach freilich relativ späten Quellen ließ der damalige [149/ 150] Abt von Lorsch 84 und spätere Bischof von Worms, Samuel, den Leib des Märtyrers Cyriak in Rom holen, um ihn in der ursprünglich dem hl. Dionysius geweihten fränkischen „Palastkirche“ 76 Vgl. auch zu den Bestrebungen um einen heiligen Papst für Redon, unten Anm. 91 f. 77 Vita Findani c. 5 (BHL 2982), hg. von O. H O L D E R - E G G E R , MGH SS 15, S. 502-506, S. 505; zu den Editionen vgl. H. L Ö W E , Zur Überlieferungsgeschichte der Vita Findani, DA 42 (1986), S. 25-85, S. 26 ff. 78 H. L Ö W E , Findan von Rheinau. Eine irische peregrinatio im 9. Jahrhundert, Studi Medievali 26 (1985), S. 53-100, S. 72-74, ND: D E R S . , Religiosität und Bildung (wie Anm. 19), S. 205-252, der abweichend von der früheren Forschung das Eintreffen der Reliquien in Rheinau auf die Zeit zwischen dem 19. Februar und 12. April 858 datieren kann. 79 Vgl. zur Gründung die bei W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen 6 (wie Anm. 47), S. 790 f. Anm. 459 zitierte Literatur; vgl. außerdem: J. S T E I N M A N N / P. S T O T Z , Rheinau (Helvetia Sacra 3,1/ 2, 1986), S. 1101-1165, S. 1101 f. und 1124. 80 DLD 90, vgl. zur Sache S E M M L E R , Traditio (wie Anm. 74), S. 14; L Ö W E , Findan (wie Anm. 78), S. 68 ff. 81 So L Ö W E , Findan (wie Anm. 78), S. 73f. 82 Vgl. die Belege bei S T E I N M A N N / S T O T Z , Rheinau (wie Anm. 79), S. 1101. 83 P. C L A S S E N , Bemerkungen zur Pfalzenforschung am Mittelrhein (Deutsche Königspfalzen 1, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/ 1, 1963), S. 75-96, 82-84, ND: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, hg. von J. F L E C K E N S T E I N (Vorträge und Forschungen 28, Sigmaringen 1983), S. 475-502, ND S. 483-485 nimmt eine Reliquientranslation vor dem Neuaufbau 847 an. 84 Zur Bedeutung des Reichsklosters Lorsch für die ostfränkischen Karolinger und insbesondere für Ludwig den Deutschen vgl. zusammenfassend W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen 6 (wie Anm. 47), S. 653 f. <?page no="128"?> 128 Heiligenkulte und Hagiographie in Neuhausen bei Worms beisetzen zu lassen. Sicher ist allerdings nur die Gründung eines Kollegiatstiftes durch Bischof Samuel 847 85 sowie die Weihe am 15. Oktober 847; neben dem Salvator- und Marienpatrozinium wird auch dasjenige des Märtyrers Cyriak genannt 86 . In Neuhausen bestand wohl schon seit merowingischer Zeit eine Dionysius-Kirche sowie eine aula imperatoris 87 . Sollte der zeitliche Ansatz des neuen Cyriakpatroziniums zutreffen, so ließe sich diese Tradition ähnlich wie einige Reliquientranslationen nach Sachsen in den Konsolidierungsprozeß des neuen Ostfrankenreiches einordnen. Mit der Teilung des fränkischen Reiches 843 war der Wormsgau von seinem ursprünglich wichtigen kulturellen Bezugspunkt, dem Bistum Metz, abgetrennt 88 . Die durch den Teilungsvertrag von Verdun veränderte politische Situation konnte auch von neuen Orientierungen im Kult, der Ablösung des alten merowingischen Dionysius-Patroziniums durch einen römischen Heiligen, begleitet gewesen sein. Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, daß man sich nach der Reichsteilung 843 besonders im Mittel- und Ostfrankenreich um römische Reliquien bemühte. Die Spielregeln bei der Vergabe sowie die örtlichen Voraussetzungen nach den neuen Überführungen von Reliquien in die römischen Stadtkirchen ließen sich aus den etwas ausführlicheren Berichten ansatzweise ermitteln. Bei den Empfängern war die Suche nach neuer Orientierung, Legitimation und Schutz durch römische Reliquien, besonders durch heilige Päpste, bestimmend. Die Benutzung hagiographischer und anderer Vorlagen konnte in einzelnen Fällen ziemlich präzise nachgezeichnet werden: Folgen waren durch die mehrfach erwähnten neu kopierten Schriften vorbereitet und angelegt. [150/ 151] III. Bedenkt man die weiteren Beziehungen der fränkischen Teilreiche mit Rom und dem Papsttum, so ist der fast völlig negative Befund zum Westfrankenreich während dieser ersten 15 Jahre nach dem Vertrag von Verdun festzuhalten und 85 Vgl. Codex Laureshamensis, hg. von Karl G L Ö C K N E R , 1-3 (1929-1936), 1, S. 308 f. 86 Im allerdings erst aus dem 15. Jh. stammenden, aber wohl ältere Nachrichten verarbeitende Chronicon Wormatiense, hg. von H. B O O S , Quellen zur Geschichte der Stadt Worms, 1-3 (1886-1893), 3, S. 24, heißt es: Samuel . . . Anno vero nono ordinationis suae ipse consecravit aulam imperatoris in Nuhusen, quae prius fuit aula Dagoberti regi Francorum, in honorem salvatoris nostri domini Iesus Christi et sanctae Marie genitricis dei necnon sancti Cyriaci martyris atque omnium sanctorum. 87 Fraglich bleibt, ob man aufgrund der Bezeichnung diesen Ort mit einer merowingischen Königspfalz gleichsetzen kann. Das Chronicon Wormatiense (wie Anm. 86) nennt schon für merowingische Zeit eine aula regia, bzw. eine aula Dagoberti regis Francorum (S. 8 f., vgl. S. 24). - Zu den Schwierigkeiten, die Merkmale einer Pfalz verbindlich festzulegen, vgl. T. Z O T Z , Vorbemerkungen zum Repertorium der deutschen Königspfalzen, Blätter für deutsche Landesgeschichte 118 (1982), S. 177-203; zur Problematik von aula vgl. S. 182 f. C L A S S E N , Königspfalzen (wie Anm. 83), S. 83f. ND S. 485 kommt hinsichtlich Neuhausen als „Pfalz“ zu einem eindeutig negativen Ergebnis. 88 Vgl. weitere Überlegungen hierzu bei H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 380. <?page no="129"?> Rom im Frankenreich 129 hervorzuheben. Abgesehen von dem problematischen Translationsbericht der Gorgonius-Reliquien in das Kloster Marmoutiers bei Tours 89 ist nur eine Schenkung römischer Reliquien für die Bretagne belegt. Sie schließt mit gleichsam umgekehrten Vorzeichen an die schon erwähnte Funktion römischer Reliquien als Identifikationshilfe an, weil mit der Bretagne eine in dieser Zeit wenig in das Westfrankenreich integrierte Region angesprochen ist. Der Translationsbericht in den Gesta Conwoionis 90 kombiniert zudem in einzigartiger Weise die Rolle Roms als Entscheidungsinstanz und als Ort der Orientierung; zugleich lassen - deutlicher als bei den schon genannten Empfängern - die kurz nach der Übertragung aufgezeichneten Mirakelgeschichten erkennen, wie auch später Rom immer wieder als Bezugspunkt diente. Gegen Ende der 40er Jahre des 9. Jahrhunderts soll der bretonische Herrscher Nominoë den Abt Conwoion von Redon gebeten haben, aus Rom den Leichnam eines Märtyrers mitzubringen, der nach dem Apostel Petrus der römischen Kirche vorgestanden habe 91 . Nominoë wollte also nicht irgendeinen römischen Heiligen, sondern einen heiligen Papst; in der Vorstellung der Bittsteller gab es also eine Hierarchie unter den Heiligen 92 . Conwoion erhielt von Papst Leo IV. Reliquien des heiligen Papstes Marcellinus. Der Reliquienerwerb war in diesem Falle mit einem Ansuchen um päpstliche Rechtshilfe in politischen und kirchenpolitischen Fragen verknüpft. Es ging um den Simonievorwurf gegen einige bretonische Bischöfe sowie um königliche Würden Nominoës von der Bretagne, letztlich um Bestrebungen der Bretonen, sich kirchlich von der Metropole Tours und politisch aus dem westfränkischen Reich zu lösen 93 . [151/ 152] Die Übertragung der Marcellinus-Reliquien in das Kloster Redon gleicht in vielem den schon besprochenen Translationen, die Gesta Conwoionis mit dem zeitgenössischen Bericht heben aber die Rolle Roms und des Papstes noch stärker hervor (Rom erscheint als caput ecclesiarum, wo der vicarius Petri residiere). Der Bericht nennt zudem die wohl auch sonst üblichen Geschenke an 89 BHL 3622; hg. von AASS Mar. 2, S. 56-59; datiert wird dort auf das Jahr 846, aber der damals amtierende Papst Sergius II. ist nicht namentlich erwähnt. Es wird vom Besuch verschiedener Kirchen in Rom erzählt, bis man den hl. Gorgonius gefunden habe. Zu möglichen Verwechselungen mit früheren Gorgonius-Translationen (des gleichen oder eines anderen Heiligen? ) in das Kloster Gorze etc. vgl. J.-M. S A U G E T , Gorgonio (Bibliotheca Sanctorum 7, 1966), S. 122-125. Der wohl zeitgenössische Bericht verzeichnet die Niederlegung der Reliquien am 3. Juli 847 in . Zu weiteren Translationen (nach Gorze und anderswo) vgl. B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 58 mit weiterer Literatur. 90 Gesta Conwoionis abbatis Rotonensis, hg. von L. H E I N E M A N N , MGH SS 15, S. 455-459; jetzt zusammen mit der Vita Conwoionis und den Mirakeln neu ediert von C. B R E T T , The Monks of Redon. Gesta Sanctorum Rotonensium and Vita Conuuoionis (Studies in Celtic History 10, Woodbridge 1989); vgl. B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 202. 91 . . . qui Romanam ecclesiam post beatum Petrum apostolum rexerunt . . . , Gesta Conwoionis II 10, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 179. 92 Vgl. zu Gruppen und Hierarchie auch oben Anm. 58 und 76. 93 Zu den politischen Hintergründen vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 320-322. <?page no="130"?> 130 Heiligenkulte und Hagiographie den Papst, um die Reliquien zu erhalten, also das Prinzip des „do ut des“ 94 . Wahrscheinlich besorgte man sich zudem in Rom mindestens die Notiz des Liber pontificalis über Papst Marcellinus, wie aus Formulierungen des in der Bretagne entstandenen Quellenberichtes abzuleiten ist 95 . Der Streit um die Bretagne zwischen Karl dem Kahlen und den bretonischen Königen beziehungsweise Herzögen sowie dem bretonischen Klerus dauerte auch nach der Reliquienübertragung an. Die von Papst Leo IV. erwirkte Rechtsauskunft wurde in den Auseinandersetzungen weiter verwendet; neue päpstliche Schreiben von Benedikt III., Nikolaus I. und Hadrian II. verstärkten das Gewicht päpstlicher Entscheidungen, weil sie als argumentative Waffen, teilweise sogar durch Verfälschung, wie aus der Überlieferung nachgewiesen werden kann, eingesetzt wurden 96 . Die weiter fortwirkende aktuelle politische Bedeutung spiegelt der Kult um den hl. Marcellinus im Kloster Redon, das zumindest in dieser Zeit zum Identifikationszentrum einer vom Westfrankenreich unabhängigigen Bretagne wurde 97 . Dies verdeutlicht exemplarisch eine der nach der Übertragung der Marcellinus-Reliquien anschließend aufgezeichneten Mirakelgeschichten. Sie berichtet zu den 50/ 60er Jahren des 9. Jahrhunderts über einen vornehmen Franken und seine Verwandten aus dem Mittelreich Lothars II., Frotmund, den eine von Lothar II. versammelte Synode wegen Verwandtenmordes mit Ketten zur Buße auf Pilgerfahrt schickte. Frotmund besuchte mit seinen Brüdern Rom und reiste - mit einem päpstlichen Brief ausgestattet - weiter nach Jerusalem. Über Ägypten und Karthago ge-[152/ 153]langte die Gruppe erneut nach Rom. Von dort schickte der Papst sie wiederum ins Heilige Land. Ganz so schlimm scheint die Buße jedoch nicht gewesen zu sein, denn in Cana tranken die Büßer sogar, wie der Hagiograph vermerkt, von dem Wein, den Jesus aus Wasser verwandelt hatte. Die weitere Fahrt führte sie nach Armenien und zum Sinai, 94 Gesta Conwoionis II 10, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 179: Eodem tempore transmisit Nominoe princeps coronam auream cum gemmis pretiosissimis donum beato Petro apostolo per virum venerabilem Conwoion imperavitque ei, ut peteret a beato Leone papa unum ex sanctis corporibus martyrum . . . Auch das Chronicon Namnetense aus dem 11. Jh. berichtet ähnlich, hg. von R. M E R L E T , La chronique de Nantes (Collection de textes 19, 1896), S. 1-141, c. 11, S. 34: . . . Acceptisque a Nomenoio magnis auri argenti muneribus, Romam perrexit; offerensque papae Leoni ex parte huius tyranni aureum vas mirabiliter factum . . . Vgl. zur Funktion von Geschenken in archaischen Gesellschaften M A U S S , Gabe (wie Anm. 10) und die vor allem aus dem frühmittelalterlichen Quellenmaterial schöpfenden Bemerkungen von J. H A N N I G , Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittelalter, in: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, hg. von R. VA N D Ü L M E N (1988), S. 11-37. 95 Einige Passagen verraten zumindest Anklänge an die Vita Marcellins im Liber pontificalis, hg. von D U C H E S N E (wie Anm. 54), 1, S. 162; vgl. hierzu auch F. L O T , Festien „archevêque“ de Dol, Annales de Bretagne 22 (1906/ 07), S. 9-28, S. 27 mit Anm. 2. 96 Vgl. hierzu H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 330 ff. 97 Zum Kloster Redon vgl. allgemein A. C H É D E V I L L E , s.v. Redon, in: LexMA 7 (1994), Sp. 538 f., der insgesamt die Abtei eher als Träger kontinentaler, denn eigenständiger bretonischer Einflüsse sieht. Gerade in der Mitte des 9. Jh. scheint jedoch ein noch starker bretonischer Akzent erkennbar. <?page no="131"?> Rom im Frankenreich 131 dann erneut nach Rom. Dort riefen sie den hl. Petrus an, dem die Binde- und Lösegewalt eigne, und reisten über Burgund und Aquitanien in Richtung Bretagne. Frotmund suchte das Kloster Redon auf, wollte nach siebentägigem Gebet wieder nach Rom aufbrechen, kehrte nach einer Vision jedoch nochmals zum Grab des hl. Marcellinus in Redon zurück, wo er schließlich auf wunderbare Weise von seinen Ketten befreit wurde 98 , ein Zeichen, daß die Buße beendet war 99 . Die Geschichte greift wohl eine politisch brisante Auseinandersetzung im Westfrankenreich auf. Frotmund ist nach einem Vorschlag von Joseph-Claude Poulin wohl mit jenem Frotmund aus dem Anjou zu identifizieren, der sich mit einer ganzen Gruppe weiterer Adeliger Graf Robert von Anjou angeschlossen, sich 858-859 gegen König Karl den Kahlen erhoben und mit den bretonischen Reichsfeinden verbunden hatte. Er wurde offensichtlich auf dem Konzil von Savonnières 859 mit anderen westfränkischen Großen exkommuniziert und ermahnt 100 . Die Mirakelgeschichte bietet vielleicht das gewiß stilisierte Nachspiel dieser politischen Synodalentscheidung 101 , die nicht ganz zufällig im bretonischen Redon für den Gegner Karls des Kahlen, Frotmund, zu einem guten Ende geführt wird. An der politischen Wirkung war der heilige Papst Marcellinus beteiligt. In der Geschichte gewinnen die Reliquien ihr Gewicht im Vergleich mit den römischen Apostelgräbern. Die Konkurrenz zu Petrus und Paulus klingt im Zusammenhang [153/ 154] mit dem dritten Rombesuch an 102 . Bei dieser Gelegenheit hatte Frotmund die Hilfe des Apostels Petrus angefleht, die Bibelstelle zur Lösegewalt des Petrus wird eigens zitiert 103 . Als er darauf über Rennes 98 Gesta Conwoionis III 8, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 207-213. 99 Vgl. zu diesen Formen der frühen Buße, bei der eine gewisse Zahl verschiedenen Stätten besucht werden mußte, C. V O G E L , Le pèlerinage pénitentiel, in: Pellegrinaggi e culto dei santi in Europa fino alla prima crociata (Convegno di studi sulla spiritualità medioevale 4, 1963), S. 39-94, S. 63 f. Anm. 54 mit weiteren Belegen; J. VA N H E R W A A R D E N , Auferlegte Pilgerfahrten und die mittelalterliche Verehrung von Santiago in den Niederlanden, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland, hg. von K. H E R B E R S und D. R. B A U E R (Jakobus- Studien 7, 1995), S. 311-343, S. 315 f. mit weiteren Belegen. - Die in der Quelle genannten Strafen für das begangene parricidium sind nicht ganz eindeutig zuzuordnen, vgl. zu den rechtlichen Grundlagen J. D. C L O U D , Parricidium. From the lex Numae to the lex Pompeia de parricidis, ZRG RA 88 (1971), S. 1-66; vgl. H. H E U M A N N / E. S E C K E L , Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts ( 10 1958), S. 436. Ich danke Prof. J. van Herwaarden für seine Hinweise zu dieser Problematik. 100 Hg. von Wilfried H A R T M A N N , MGH Conc. III, S. 482 ff. mit Anm. 296. Dort ist nur der Brief auch an Frotmund gerichtet, jedoch ist später von einem homicidium die Rede; vgl. zur Sache J.-C. P O U L I N , Le dossier hagiographique de saint Conwoion de Redon. A propos d’une édition récente, Francia 18,1 (1991), S. 139-160, S. 154 f. 101 Der Name des Papstes Benedikt III. muß aufgrund des zeitlichen Ansatzes in den Mirakelerzählungen wohl in Nikolaus I. geändert werden. 102 Bei den ersten beiden Besuchen der erscheint der Papst noch als Auftraggeber der Pilgerfahrten, Gesta Conwoionis III 8, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 207-209; vgl. B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26), Nr. 381 und 417. 103 . . . iacueruntque diutissime ante sepulcrum sancti Petri apostoli, efflagitantes ab eo suum adiutori- <?page no="132"?> 132 Heiligenkulte und Hagiographie nach Redon gelangte und dort sieben Tage - zunächst erfolglos - verweilte, wollte er schon nach Rom zurückkehren 104 , wovon ihn nur eine Vision abhielt 105 . Die Anordnung der Erzählelemente verdeutlicht, wie Erfolg und Mißerfolg der Bitten auf Rom bezogen wurden. Man brauchte Rom und die Päpste, um das eigene Gewicht auszudrücken. Die Bretagne, die sich seit Ende der vierziger Jahre um päpstliche Legitimation bemüht hatte, besitzt im politischen Gefüge der Zeit sicher eine Sonderstellung, jedoch wird hier aufgrund relativ günstiger Überlieferungslage erkennbar, wie das Bemühen um päpstliche Rechtshilfe den länger wirkenden Rombezug durch Heilige zuweilen einschließen konnte. Das Genre der hagiographischen Mirakelerzählungen, die zumindest teilweise wohl auch oral tradiert wurden 106 , dürfte Ansprüche und Ambitionen in der Bretagne sogar mit größerer Breitenwirkung als Rechtstexte weiter vermittelt haben 107 . Es bleibt festzuhalten: Bei den römischen Reliquien für das Ostfranken- und das Mittelreich dominierten in der Mitte des 9. Jahrhunderts folgende Aspekte: Schutz und Hilfe zur Identifikation, zur Legitimation sowie zur Mission und Christianisierung; im Westen galt dies bis ca. 860 nur für die in dieser Zeit fast außerhalb des [154/ 155] Westfrankenreiches stehende Bretagne, die allerdings römische „Rückendeckung“ in mehrfacher Hinsicht suchte. um. Audierunt enim in Evangelio Christum dedisse potestatem sancto Petro apostolo ministerium solvendi ac ligandi ita dicentem: . . . (es folgt das Zitat Mt. 16,19), Gesta Conwoionis III 8, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 209. 104 . . . per septem dies . . . cupiens iterum Romam adire, Gesta Conwoionis III 8, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 211. 105 Dies dürfte mit der Buße zusammenhängen, die in der Regel den Besuch verschiedener Orte über einen bestimmten Zeitraum hinweg vorschrieb; vgl. hierzu die in Anm. 98 zitierte Literatur. 106 Daß Formen mündlicher Verbreitung der schriftlichen Aufzeichnung vorausgingen und diese weiter begleiteten, lassen manche Formulierungen dieses hagiographischen Genre in späterer Zeit erkennen, vgl. beispielsweise K. H E R B E R S , The Miracles of St. James, in: The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James, hg. von J. W I L L I A M S und A. S T O N E S (Jakobus-Studien 3, 1992), S. 11-35, S. 25 f. [in deutscher Übersetzung in diesem Band 351-377] und D E R S ., Milagro y aventura, Compostellanum 36 (1991), S. 295-321, S. 303 f. und 308 f. Vgl. außerdem zur Genese der Verschriftlichung von Mirakelerzählungen die Forschungen von G. S I G N O R I und von A. W E N Z - H A U B F L E I S C H , die diese im August 1994 im „Arbeitskreis für hagiographische Fragen“ in Stuttgart vorgetragen haben. Für die Karolingerzeit ist das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Mirakelberichten noch nicht grundlegend in Angriff genommen worden. 107 Ansätze für Vorstellungen, die Bretagne im 11. Jahrhundert als Lehen des hl. Petrus anzusehen, waren beispielsweise mit dieser ersten Kontaktaufnahme angelegt, vgl. B.-A. P O C Q U E T - D U - H A U T - J U S S É , La Bretagne a-t-elle été vasalle du Saint-Siège? , Studi Gregoriani 1 (1947), S. 189-196; vgl. allgemein K. J O R D A N , Das Eindringen des Lehnswesens in das Rechtsleben der römischen Kurie, AUF 12 (1931), S. 13-110 (erweiterter ND 1971), S. 102. <?page no="133"?> Rom im Frankenreich 133 IV. Bei den anderen Reliquienübertragungen war die Nachwirkung in Mirakelberichten - soweit vorhanden - in der Regel nicht mehr auf Rom bezogen 108 . Die römischen Heiligen wurden in den Mirakeln in der Regel schon bald zu Helfern, die man mit ihren neuen Ruhestätten verband. Selbst im Falle des hl. Marcellinus erscheint ja Redon durchaus bereits in Konkurrenz zu Rom; die Herkunft der Reliquien war in diesen Texten sekundär, durch die Vision wurden letzte Zweifel des Hörers oder Lesers ausgeräumt: Der hl. Marcellinus war nun in Redon zu verehren! Die römische Herkunft der Reliquien mußte vor allem bei einem Papst kaum hervorgehoben werden. Es gab aber eine weitere Art der Verbreitung, welche die Kenntnisse über die Heiligen und ihre römische Provenienz im Frankenreich stärker förderte. Durch die aus Rom mitgebrachten Schriften (vielfach Notizen zur Vita des Heiligen) und den Auftrag zur entsprechenden Verehrung 109 war eine Resonanz im christlichen Kult angelegt. Hierdurch wie durch Reliquienteilungen und die Beeinflussung neuer Patrozinien konnten sich auch römische Kulte weiter verbreiten; auf eine umfassende Sichtung verzichte ich und beschränke mich auf einige Aspekte der Liturgie 110 . Es gehört inzwischen zu den klassischen Vorgehensweisen kanonistischer Forschung, die Nachwirkung von Rechtstexten zu berücksichtigen; die Nachwirkungen hagiographischer Zeugnisse hat die historische Forschung für ihre Fragen bisher seltener genutzt. Um etwas von der Wirkung römischer Reliquien zu erfassen, möchte ich zumindest beispielhaft die Martyrologien auswerten 111 , 108 Vgl. beispielsweise von den zitierten Übertragungen die kurz nach der Übertragung aufgezeichneten und in die Translatio Alexandri, hg. von K R U S C H (wie Anm. 33), S. 429- 436 integrierten Mirakel. Vgl. auch die Miracula von Chrysantus und Daria, M I G N E , PL 121, Sp. 675-682. 109 Vgl. hierzu oben Anm. 44 ff. 110 Eine umfassende Sichtung müßte die Kultspuren in den verschiedensten religiösen Institutionen einzeln durchgehen, was durch den bisher ungleichen Forschungsstand zu deutlichen Verzerrungen führen dürfte. - Aus arbeitsökonomischen Gründen kann ich deshalb auch nicht nicht die Kalendarien und Kultzeugnisse einzelner Klöster durchmustern. Zu den Fuldaer Kalendaren der Karolingerzeit ist eine bei Hartmut Hoffmann gefertigte Dissertation von Sirka H E Y N E [Studien zur Mainzer und Fuldaer Liturgiegeschichte (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 73, 1996)] zu erwarten. Ich danke Herrn Dr. K. Nass (Braunschweig) für diesen Hinweis. - Auch Kult und Liturgie allgemein stehen wohl oftmals in wechselseitigem Austausch: So stellte E. E W I G , Beobachtungen zur Frühgeschichte des Bistums Köln, in: FS für Wilhelm Neuss (1960), S. 13- 39, ND: D E R S ., Spätantikes und fränkisches Gallien, 2, hg. von H. A T S M A (Beihefte zur Francia 3/ 2, 1979), S. 126-153, S. 132 ff., 148 und 153 fest, daß im 9. Jh. römische Kulte Köln erreichten und führte dies weitgehend auf die Übernahme der römischen Liturgie zurück. 111 Vgl. in letzter Zeit die Forschungen von J. M. M C C U L L O H , Das Martyrologium Hrabans als Zeugnis seiner geistigen Arbeit, in: Hrabanus Maurus. Lehrer, Abt und Bischof, hg. von R. K O T T J E und H. Z I M M E R M A N N (1982), S. 154-164 sowie die in den folgenden Anmerkungen zitierten Forschungen von D U B O I S , hauptsächlich zu den Martyrologien des Westfrankenreiches. Zu Prüm und zum Mittelreich ist materialreich, aber nicht ganz <?page no="134"?> 134 Heiligenkulte und Hagiographie deren große Ent-[155/ 156]wicklungzeit im 9. Jahrhundert lag 112 . In die Mitte dieses Jahrhunderts sind die von Hrabanus Maurus 113 und die von Ado von Vienne 114 verfaßten Martyrologien sowie das metrische Martyrologium Wandalberts von Prüm 115 zu datieren. Weil die Martyrologien vor allem in der Liturgie benutzt wurden - auch die monastischen Consuetudines enthalten mehrfach Vorschriften zur regelmäßigen Lesung 116 -, dürfte die Breitenwirkung ihrer knappen und deshalb eindringlichen Notizen nicht zu unterschätzen sein. Der Vergleich verschiedener Martyrologien mit ihren Vorlagen zeigt, welche Heiligen dem bisher üblichen Kanon der im Jahr verehrten Heiligen hinzugefügt wurden. Hieraus lassen sich Schwerpunkte neuer Frömmigkeitsideale und neue (kult)politische Orientierungen ableiten 117 . [156/ 157] unproblematisch: W. H A U B R I C H S , Die Kultur der Abtei Prüm zur Karolingerzeit. Studien zur Heimat des althochdeutschen Georgsliedes (Rheinisches Archiv 105, 1979), der in der Zeit des Abtes Markward, der ja die römischen Reliquien der Heiligen Chrysantus und Daria übertragen ließ, eine deutliche Romanisierung des Prümer Kultlebens feststellt (S. 97-130), vgl. hierzu auch weitere Belege in Germ. Pont. 10, S. 281 Nr. *4 und in Anm. 123-126. Allgemeine bibliographische Orientierung im Überblick von J. D U B O I S , Les martyrologes du Moyen Âge latin (Typologie des sources au Moyen âge occidental 26, Turnhout 1978). 112 Vgl. hierzu zusammenfassend D U B O I S , Martyrologes (wie Anm. 111), S. 39-57 (Nachträge in derselben Reihe). Vgl. außerdem die Aufsatzsammlung von D E M S ., Martyrologes, d’Usuard au Martyrologe romain. Articles réédites pour son soixante-dixième anniversaire (1990). 113 Hg. von J. M C C U L L O H (CC CM 44, 1979). Zur Datierung zwischen 840 oder eher 843 und 854, S. XXXIX. 114 Hg. von J. D U B O I S / G. R E N A U D , Le martyrologe d’Adon. Ses deux familles, ses trois recensions. Texte et commentaire (Sources d’histoire médiévale, 1984) mit umfassender Untersuchung der verschiedenen Familien und Fassungen. Die Abfassungszeit liegt demnach etwa um 855 (853-860). 115 Verfaßt 848, hg. von Ernst D Ü M M L E R , MGH Poet. Lat. 2, S. 567-622; vgl. die Literatur hierzu bei W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen 6 (wie Anm. 47), S. 896 f. Anm. 763. 116 Vgl. z. B. die Dekrete der 2. Aachener Synode von 817, hg. von J. S E M M L E R (Corpus Consuetudinum monasticarum 1, 1963), S. 480 u. ö. - Schon für das 8. Jahrhundert ist belegt, daß in monastischen Gemeinschaften der Diakon die Festtage der folgenden Woche secundum martirologium ankündigte, vgl. hierzu zuletzt (mit Quellennachweisen und weiterer Literatur) D U B O I S , Martyrologes (wie Anm. 111), S. 14 f.; vgl. auch S. 15 f. zu definitorischen Abgrenzungen. - Zu den Auswertungsproblemen vgl. B. de G A I F F I E R , Hagiographie et historiographie, in: La Storiografia altomedievale 2 (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’Alto Medioevo 17, 1970), S. 139-166 und 179-196 (ND D E R S ., Recueil d’hagiographie [1977], Nr. IV) sowie Anm. 136. 117 Auch für die Frage nach der Bedeutung von Papst und Rom im Orbis christianus sind Anhaltspunkte zu gewinnen, obwohl die Abhängigkeiten dieser Quellen untereinander häufig nur schwer zu entwirren sind, vgl. beispielsweise J. W O L L A S C H , Aus einem Regensburger Kalendar des 9. Jahrhunderts, in: Historiographia mediaevalis: Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters, FS für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, hg. von D. B E R G / H.-W. G O E T Z (1988), S. 60-76, mit Klärung der verschiedenen Abhängigkeiten, die römische, aber auch andere Bezüge betreffen. - Zur <?page no="135"?> Rom im Frankenreich 135 Aus den drei genannten ergibt sich folgendes Bild: Hrabanus dienten das Martyrolog Bedas sowie das Martyrologium Hieronyanum als Hauptquellen 118 . Hrabanus ergänzte zuweilen die vorhandenen Notizen, die für die Charakterisierung der frühen Päpste vor allem aus dem Liber pontificalis schöpfen 119 . Hrabanus Maurus hatte ja schon durch seine Versinschriften die in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts nach Fulda übertragenen römischen und anderen Heiligen gewürdigt 120 und berücksichtigte auch im Martyrolog - obwohl noch begrenzt - stärker als seine Vorgänger römische Traditionen 121 . Das Martyrolog Wandalberts von Prüm gründet in seinem Hauptbestand auf dem wenig früheren Martyrolog des Florus von Lyon, einer Bearbeitung des älteren Beda-Martyrologs; teilweise auch auf Beda selbst sowie auf dem Martyrologium Hieronymianum 122 . Der eigenständige Beitrag Wandalberts betrifft vor allem Heilige Italiens und besonders des westfränkischen Reiches 123 . Soweit Ergänzungen zu römischen Heiligen feststellbar sind 124 , dürfte die Übertragung der Heiligen Chrysantus und Daria aus Rom nach Prüm beziehungsweise der cella Münstereifel bestimmend gewesen sein 125 . Die Neuerungen in den Martyrologien von Hrabanus und Wandalbert sind insgesamt weiteren Verbreitung in Kalendarien vgl. die Beispiele bei B. B I S C H O F F , Über gefaltete Handschriften, vornehmlich hagiographischen Inhaltes, ND: D E R S . , Mittalterliche Studien 1 (1966), S. 91-100, vgl. D E R S ., Paläographie (wie Anm. 51), S. 282 mit Anm. 29. 118 Vgl. M C C U L L O H in seiner Edition (wie Anm. 113), sowie D E R S . , Martyrologium Hrabans als Zeugnis (wie Anm. 111), S. 157 ff. 119 Vgl. ebd. 120 Hg. von E. D Ü M M L E R , MGH Poetae Lat. 2, S. 154-258, vgl. zum Werk W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen 6 (wie Anm. 47), S. 703. Die Altartituli sind allerdings in zwei Redaktionen überliefert, vgl. bis zur endgültigen Edition durch B E C H T - J Ö R D E N S (im „Corpus Christianorum“) einstweilen: D E R S ., Vita Aegil abbatis Guldensis a Candido ad Modestum edita prosa et versibus. Ein Opus Geminum des IX. Jahrhunderts. (1994), S. IL-LII. Dem Verfasser danke ich für seinen Hinweis. Auch einige der früheren und zeitgleichen Fuldaer Papsturkunden könnten mittelbar mit Reliquienübertragungen zusammenhängen, vgl. Anm. 126. 121 Martyrologium, hg. von M C C U L L O H (wie Anm. 113), S. XXXV Anm. 43. 122 Vgl. grundlegend hierzu J. D U B O I S , Le martyrologe métrique de Wandelbert, Analecta Bollandiana 79 (1961), S. 257-293 (ND: D E R S ., Martyrologes, d’Usuard [wie Anm. 112], S. 153-190), sowie H A U B R I C H S , Kultur der Abtei Prüm (wie Anm. 111), S. 59 und 99 ff. - Ein Vergleich mit diesen Quellen macht deutlich, daß Wandelbert durchaus bei einigen Heiligen, teilweise römischen, seine Vorlage änderte oder auch die vorhandenen Notizen weiter ausschmückte, D U B O I S , Martyrologe métrique de Wandelbert, S. 262- 264. Besondere Bedeutung hatten in diesem Zusammenhang die 844 nach Prüm bzw. Münstereifel übertragenen Reliquien von Chrysantus und Daria, vgl. bei Anm. 33. 123 Vgl. D U B O I S , Martyrologe métrique de Wandelbert (wie Anm. 122), S. 270-274. Soweit römische Heilige betroffen sind, wie z. B. der hl. Sebastian, so wurde die wohl aufgrund der Translation dieses Heiligen von Rom nach Soissons 826 dort bekannte Tradition rezipiert. Ebenso mit Sichtung weiterer hagiographischer Materialien aus Prüm H A U - B R I C H S , Kultur der Abtei Prüm (wie Anm. 111), S. 97 ff. sowie Karte 2. Dort gelegentlich zu wenig zeitliche Differenzierung. 124 Vgl. hierzu H A U B R I C H S , Kultur der Abtei Prüm (wie Anm. 111), S. 106 ff. 125 Translatio ss. Chrysanti et Dariae, MGH SS 15, 1 S. 374 f.; vgl. hierzu S. 140. <?page no="136"?> 136 Heiligenkulte und Hagiographie stark von den Reliquienübertragungen der Zwanziger und Drei-[157/ 158]ßiger Jahre des 9. Jahrhunderts geprägt, die in ihren Texten nachwirkten, zuweilen auch noch neuere Reliquienübertragungen der Vierziger Jahre einschlossen 126 . Wenn man außer dem schon ausgewerteten Martyrolog Wandalberts und dem Einfluß der Translation von 844 weitere liturgisch-hagiographische Quellen Prüms sichtet, so darf man mit einer gewissen Vorsicht Haubrichs zustimmen, daß eine „Romanisierung des Prümer Kultes in der Zeit des Abtes Markward“, also in der Mitte des 9. Jahrhunderts, angenommen werden kann 127 . Die Orientierung auf Rom und die Päpste wird schließlich im Martyrolog Ados von Vienne besonders deutlich. Die Beziehungen Ados zu den Päpsten Nikolaus I. und Hadrian II. sind bekannt 128 . Der Mönch aus Ferrières und Prüm ist nach 853 in Lyon nachweisbar, bis er 859/ 60 das Bischofsamt in Vienne erlangte 129 . Nach neueren Forschungen stellte er sein Martyrolog in einer ersten Fassung schon um 855 oder unmittelbar anschließend zusammen 130 . Mit diesem Martyrolog ging Ado deutlich über sein Vorbild Florus von Lyon hinaus. Seine entscheidende Neuerung: Ein Martyrolog ohne „leere Tage“. Als Quelle diente ein Venerabile perantiquum martyrologium, das angeblich von Rom nach Ravenna geschickt worden sei, und das Ado dort benutzt habe 131 . Nach den Forschungen von Henri Quentin und Jacques Dubois stellte Ado jedoch diese Vorlage selbst zusammen. Ados Martyrolog dokumentiert, welche Heiligen in der Mitte des 9. Jahrhunderts von Ado - aber sicher auch von [158/ 159] weiteren Kreisen - favorisiert wurden. Ado ersetzte alte fränkische, angelsächsische 126 Vgl. zu den Übertragungen in den Mainzer und Fuldaer Raum Anm. 120. Zur Problematik der Fuldaer Privilegien, die trotz der Fälschung oder Verfälschung (zur Diskussion zuletzt: H. J A K O B S , Zu den Fuldaer Papsturkunden des Frühmittelalters, Blätter für deutsche Landesgeschichte 128 [1992], S. 31-84) auf „päpstliche Autorität“ setzen, vgl. auch J. F R I E D , Ludwig der Fromme, das Papsttum und die fränkische Kirche, in: Charlemagne’s Heir: New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840), hg. von P. G O D M A N / R. C O L L I N S (1990), S. 321-274, S. 254 f. (zu den Fuldaer Zehntrechten und Papst Paschalis I.). 127 Dies schlug sich auch unter anderem darin nieder, daß eine aus dem 10. Jahrhundert stammende Litanei verstärkt römische Heilige aus dem stadtrömischen Passionar aufgriff, vgl. H A U B R I C H S , Kultur der Abtei Prüm (wie Anm. 111), S. 97-130, das Zitat S. 112. Vgl. zur „ottonischen“ Neuorientierung Prüms um 1000: J. M A R Q U A R D T - C H E R R Y , Ottonian Imperial Saints in the Prüm Troper, Manuscripta 33 (1989), S. 129-136. 128 Hierzu W. K R E M E R S , Ado von Vienne. Sein Leben und seine Schriften (Diss. Bonn 1911), vgl. knapper auch die biographischen Notizen in der Edition von D U B O I S / R E N A U D , Martyrologe (wie Anm. 114), bes. S. XV-XVIII. 129 D U B O I S / R E N A U D , Martyrologe (wie Anm. 114), S. XV. 130 D U B O I S , Martyrologes (wie Anm. 111), S. 42 und D U B O I S / R E N A U D , Martyrologe (wie Anm. 114), S. XX. 131 Jüngste Edition bei D U B O I S / R E N A U D , Martyrologe (wie Anm. 114), S. XXV: Huic operi, ut dies martyrum verissime notarentur, qui confusi in kalendis satis inveniri solent, adiuvit venerabile et perantiquum martyrologium ab Urbe Roma Aquileiam cuidam sancto episcopo a pontifice Romano directum, et mihi postmodum a quodam religioso fratre aliquot diebus praestitum. Quod ego diligenti cura transcriptum positus apud Ravennam, in capite huius operis ponendum putavi. - K R E M E R S , Ado von Vienne (wie Anm. 128), S. 19 schließt zwar eine Fahrt nach Ravenna nicht unbedingt aus, lehnt jedoch einen möglichen Romaufenthalt auf jeden Fall ab; in den Quellen gibt es für beides keinen sicheren Anhaltspunkt. <?page no="137"?> Rom im Frankenreich 137 oder spanische vor allem durch römische Heilige und ergänzte die Notizen zu römischen Heiligen. Gegenüber dem Martyrolog des Florus von Lyon fügte Ado ca. 120 Einträge hinzu; knapp zwei Drittel betreffen römische Heilige 132 . Viele der von Rom ins Frankenreich seit dem 8. Jahrhundert übertragenen Heiligen sind aufgenommen. In seiner zweiten Fassung von etwa 865 benutzte Ado von den zwischen Beda und Usuard zusammengestellen Martyrologien den Liber pontificalis zur Charakterisierung heiliger Päpste 133 bei weitem am häufigsten 134 . Trotz eines auch persönlichen Akzentes 135 bezeugt das Martyrolog Ados einen Umbruch in der Mitte des 9. Jahrhunderts: Traditionelle Heilige wurden durch römische ersetzt und ergänzt, heilige Päpste zunehmend berücksichtigt. Wie auch die Aufnahme römischer Heiliger in den Canon Missae im 5. Jahrhundert ihren Beitrag zur Romanisierung des Okzidentes geleistet hat, so dürfte auch die neue Ausrichtung einiger zentraler Martyrologien im 9. Jh. wichtig geworden sein: Die Breitenwirkung 136 sollte man nicht unterschätzen 137 . Die Erweiterung um römische Heilige dokumentiert einerseits die 132 Dies geht aus einer Auswertung der bei H. Q U E N T I N , Les martyrologes historiques du Moyen Âge. Etude sur la formation du Martyrologe Romain (1908), S. 409-464, bes. S. 458-464, zusammengstellten Beobachtungen hervor. 133 Vgl. die Zusammenstellung im Rahmen der Quellenanalyse bei Q U E N T I N , Martyrologes historiques (wie Anm. 132), S. 625-627 und darauf aufbauend J. D U B O I S , Le martyrologe d’Usuard (Subsidia hagiographica 40, 1965), S. 64 und D E R S ., Martyrologe d’Adon (wie Anm. 114), S. 21. Oftmals wird nur die Sedenzzeit angeführt. 134 Vgl. die Übersicht bei D U B O I S , Martyrologe d’Usuard (wie Anm. 133), S. 63. 135 Vgl. zusammenfassend immer noch K R E M E R S , Ado von Vienne (wie Anm. 128), S. 12- 18; M. W E S C H E , s.v. Ado, in: LexMA 1 (1980), Sp. 157. 136 Vgl. Anm. 116 sowie B. de G A I F F I E R , De l’usage et de la lecture du martyrologe, Analecta Bollandiana 79 (1961), S. 40-59 mit den einschlägigen Belegen. Vgl. allerdings gerade zu Ado den Verweis darauf (S. 58 f.), daß Ados Texte zur Verkündigung teilweise schon zu lang waren; dies dürfte bei den Notizen zu römischen Heiligen aber nur vereinzelt zutreffen. - Abgeschrieben wurden seine Notizen, beispielsweise zu den Aposteln - schon kurz nach Fertigstellung: K. H E R B E R S , Frühe Spuren des Jakobuskultes im alemannischen Raum (9.-11. Jahrhundert). Von Nordspanien zum Bodensee, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland, hg. von D E M S ./ D. R. B A U E R (Jakobus-Studien 7, 1995), S. 3-27, S. 14 f. Vgl. auch zur Rezeption im 10. Jh. die Bemerkungen über Flodoard von Reims, der Ados Martyrolog und den Liber Pontificalis zusammen benutzte: J A C O B S E N , Flodoard von Reims (wie Anm. 63), S. 181. - Wie sehr Ados Martyrolog in Lyon verwendet wurde, erscheint mit trotz der Behauptung von M. R U B E L L I N , Le Pape et l’Église de Rome vus de Lyon dans la première moitié du IX e siècle, Cahiers d’Histoire 30 (1985), S. 211-230, S. 224 (keine Benutzung bis zum 13. Jh.) nicht sicher. - Zur Aufnahme römischer Heiliger in den Canon Missae im 5. Jahrhundert vgl. J. A. J U N G M A N N , Missarum Sollemnia 2 (1962), S. 315 ff. 137 Ähnlich aufschlußreich könnte eine Untersuchung der Litaneien ausfallen, die jedoch schwerer auszuwerten sind: Umfangreichste Sichtung des Materials immer noch bei M. C O E N S , Anciennes litanies des saints. Recueil d’études bollandiennes (Subsidia hagiographica 37, 1963), S. 129-322, jedoch fehlen häufig kritische Editionen, vgl. dort S. 132 f. die Hinweise auf einige der älteren Editionen. Vgl. weiterhin B. O P F E R M A N N , Litania Italica. Ein Beitrag zur Litaneigeschichte, Ephemerides Liturgicae 72 (1958), S. 306-319; allgemein auch K. K Ü P P E R S , s.v. Litanei, in: LexMA 5 (1991), Sp. 2010 f., mit weiterer Literatur. Auch die Wirkung ist schwerer einzuschätzen, weil der Umfang der Heiligennamen oftmals je nach liturgischen Bedürfnissen deutlich gekürzt wurde, vgl. z. B. C O E N S <?page no="138"?> 138 Heiligenkulte und Hagiographie [159/ 160] Nachwirkung neuer Kulte im Frankenreich, konnte aber gleichzeitig für die folgende Zeit prägend werden. Dies läßt sich noch etwas konkretisieren. V. Das Gebiet von Lyon und Vienne wurde in der Mitte des 9. Jahrhunderts kaum mit römischen Reliquien bedacht. Um so auffälliger ist der verstärkte Rombezug in den 60er Jahren des 9. Jahrhunderts, der teilweise auch mit den politischen Verhältnissen des zerrütteten Teilreiches der Provence zusammenhing, in dem Graf Gerhard von Vienne neben dem schwachen kränkelnden König Karl zunehmend an Bedeutung gewann. Im burgundischen Raum, im Grenzgebiet zwischen Mittelreich und Westfranken, entstand nicht nur Ados Martyrolog, sondern sind auch die frühesten Unterstellungen von Klöstern unter römischen Schutz und die zugehörigen päpstlichen Schutzurkunden von 863, nachzuweisen 138 . Diese räumliche und zeitliche Koinzidenz ist zumindest auffällig. Graf Gerhard von Vienne 139 hatte die Übertragung von Vézelay und Pothières an den Papst maßgeblich betrieben, päpstlicher Schutz war für einen Nichtkarolinger - so die gängige Erklärung - das Gegebene. Weniger beachtet wurde dabei, daß die traditio Romana dieser Klöster aber ebenso von Reliquientranslationen gestützt wurde. Abt Saro von Pothières, der Nikolaus I. 863 einen Brief Gerhards von Vienne übergab - der im übrigen auch an die Großen der Stadt Rom gerichtet war, ich erinnere an die „Spielregeln“ des Reliquienerwerbs 140 -, erhielt von Nikolaus außer den Schutzurkunden 141 auch die Reliquien der Heiligen Eusebius und [160/ 161] Pontianus sowie des Peregrinus und Vincentius. Diese Reliquienübertragungen haben in der mittelalterlichen Historiographie mindestens ebenso, wenn nicht stärker nachgewirkt als die Schutzurkunden. Ado von Vienne hat das für S. 136 sowie S. 166-168 und 298 ff. - Gleichwohl kann in Fällen, in denen eine genaue Datierung möglich ist, eine stärkere Berücksichtigung römischer Heiliger im Frankenreich des 9. Jahrhunderts festgestellt werden. Vgl. beispielsweise die spätkarolingische Überlieferung aus dem nordfranzösischen Raum, die heute in Freiburg, UB Cod. 363 fol. 50-50 v aufbewahrt wird, hg. von M. J. M E T Z G E R , Zwei karolingische Pontifikalien vom Oberrhein (Freiburger Theologische Studien 17, 1914), S. 68-70; zur Beurteilung hinsichtlich der römischen Heiligen (bes. einer Liste der Päpste bis auf Cyprian), S. 21. 138 So vor allem im Beispiel von Pothières und Vézelay unter Nikolaus I.; vgl. Anm. 141. Vgl. die klassische Studie von R. L O U I S , De l’histoire à la légende. Girart, Comte de Vienne dans les chansons de geste: Girart de Vienne, Girart de Fraite, Girart de Roussillon, 1-2 (1947), 1, S. 1-133 sowie unter dem Aspekt der Traditio Romana, bes. B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 12-18. 139 L O U I S , Girart (wie Anm. 138), bes. I S. 29-133. 140 Also auch hier wurden die Reliquien als Besitz der Stadt Rom angesehen. Hauptsächtlich geht es jedoch um die Unterstellung der beiden burgundischen Klöster unter den Schutz des hl. Petrus: R. B. C. H U Y G E N S , Monumenta Vizeliacensia. Textes relatifs à l’histoire de l’abbaye de Vézelay (CC CM 42, 1976 und 1980), S. 249-254 (Nr. 2). 141 JE *2830 und JE 2831, hg. von H U Y G E N S , Monumenta Vizeliacensia (wie Anm. 140), S. 255-258 (Nr. 3). <?page no="139"?> Rom im Frankenreich 139 diesen Raum offensichtlich bedeutende kultpolitische Ereignis sogar noch mit einer nachträglich angefügten, ausführlichen Notiz in sein Martyrolog ebenso wie in seine Weltchronik aufgenommen 142 . In die gleiche Zeit und in den gleichen Raum wie die päpstliche Privilegierung von Vézelay und Pothières gehört die wenig frühere päpstliche Schenkung der Urban- und Tiburtius-Reliquien für 862 143 , die vielleicht im Zusammenhang mit einer Privilegierung des Klosters St-Germain in Auxerre stehen könnte 144 . Auch in den folgenden Jahren wurde der burgundische Raum weiterhin mit römischen Reliquien bedacht, kurz hinzuweisen ist noch auf die Reliquienschenkun-[161/ 162]gen und die Kirchweihen Johannes’ VIII. bei seiner Reise ins Westfrankenreich 878; neben allgemeinen Notizen sind Flavigny, Vézelay und Pothières zu erwähnen 145 . 142 Belegt in der Translatio SS. Eusebii et Pontiani in Galliam, Analecta Bollandiana 2 (1883), S. 368-377, S. 369; Ado von Vienne, Martyrologium, hg. von D U B O I S / R E N A U D (wie Anm. 114), S. 284; Sigebert von Gembloux, Chronographia, hg. von L. B E T H M A N N , MGH SS 6, S. 268-374, a. 865, S. 341; Annales Vizeliazenses a. 838, hg. von H U Y G E N S , Monumenta Vizeliacensia (wie Anm. 140), S. 210; Vinzenz von Beauvais: Speculum Quadruplex IV: Speculum Historiale (1624), S. 975; Chronicon s. Martini Turonensis, hg. von E. M A R T È N E / U. D U R A N D , Veterum scriptorum et monumentorum amplissima collectio 5 (1729), S. 917-1072, S. 969. Vgl. zur Sache allgemein L O U I S , Girart 1 (wie Anm. 138), S. 88-92; B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 16; D E R S ., Odo von Beauvais, Hinkmar von Reims und die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im westfränkischen Reich, in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter, FS für Franz-Josef Schmale, hg. von D. B E R G / H.-W. G O E T Z (1989), S. 39- 60, S. 51. Von den zitierten Quellen nennen nur die von Hugens edierten Annales auch die Papsturkunden, die anderen Quellen verzeichnen lediglich die Translation. Die beiden Privilegien (nur das für Vézelay im Wortlaut überliefert) wurden demgegenüber in späteren Papsturkunden als Vorurkunden zitiert, jedoch kaum in der Historiographie. - Weitere, sachlich jedoch nicht über die zitierten hinausgehende indirekte Nachrichten in ungedruckten Handschriften bei L O U I S , S. 90 f. Anm. 7. 143 Vgl. Heiric von Auxerre, Miracula S. Germani, hg. von L. M. D U R U (Bibliothèque historique de l’Yonne 2, 1863), S. 114-183, S. 171; vgl. JE p. 346; J. W O L L A S C H , Das Patrimonium beati Germani in Auxerre. Ein Beitrag zur Frage der bayrisch-westfränkischen Beziehungen in der Karolingerzeit, in: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels, hg. von G. T E L L E N B A C H (1957), S. 158-224, S. 214; L Ü H - M A N N , Urban (wie Anm. 55), S. 53. Zur Quelle zuletzt: D. I O G N A - P R A T , in: Abbaye Saint-Germain d’Auxerre (1990), S. 101-104. 144 Eventuell könnte die nur erwähnte Urkunde JE *2856 für Auxerre hierauf bezogen werden, vgl. die Erwähnungen der Papsturkunde in den Herrscherurkunden Karlmanns von 884 Juni 11 Nr. 77, hg. von F. G R A T / J. de F O N T - R É A U L X / G. T E S S I E R / R.-H. B A U T I E R , Recueil des actes de Louis II le Bègue, Louis III et Carloman II, rois de France (887-884) (1978), S. 199-207, S. 202, in der Urkunde Karls III. von 886 Oktober 28 Nr. 145, hg. von P. F. K E H R , MGH DD Kar. 2, S. 231-234, S. 232 und Odos von 889 Juli 11 Nr. 11, hg. von G. T E S S I E R / R.-H. B A U T I E R , Recueil des actes d’Eudes, roi de France (888-898) (1967), S. 46-59, S. 56. Zur Sache: W O L L A S C H , Patrimonium beati Germani (wie Anm. 143), S. 214. - Aus den zitierten Erwähnungen erfahren wir von dem Privileg, das bei Karl III. und Odo zusammen mit anderen Königsurkunden und dem Synodaldekret (von 864 in Pîtres) genannt wird. 145 Zu verzeichnen wären etwa unter Johannes VIII. die angeblich erneuten Schenkungen <?page no="140"?> 140 Heiligenkulte und Hagiographie Von diesen Nachrichten war es nur ein kleiner Schritt, um auch die Erhebung des Ansegis von Sens zum päpstlichen Vikar 876 146 - zumindest in den späteren erzählenden Quellen - mit einer Übertragung der doch „hochkarätigen“ Reliquien der Päpste Gregor und Leo zu verbinden 147 . Der politische Stellenwert der Vikariatsverleihung wurde durch diese Reliquiengabe zusätzlich herausgestrichen; allerdings ist einzuräumen, daß diese Schenkung nicht zeitgenössisch belegt ist 148 . Auffällig bleibt dennoch, daß mit den genannten Orten der Raum gekennzeichnet ist, der in den Pontifikaten von Nikolaus I. bis Johannes VIII. vielfach verstärkte Rombeziehungen pflegte, welche die bisher kaum beachteten hagiographischen Aspekte einschließen. Nach dem Blick auf die burgundisch-westfränkischen Verhältnisse zeigt sich also, daß auch die juristisch formulierte Unterstellung unter den päpstlichen Schutz, die gewiß durch Synodalentscheidungen und das wohl aus dem Westfrankenreich nach Rom zurückimportierte Autuner Formular deutlich begünstigt wurde 149 , von Reli-[162/ 163]quientranslationen begleitet war. Der Schutz war durch die mitverliehenen Reliquien vielleicht „wirksamer“ zu sichern als durch eine noch so scharfe Poenformel des entfernt residierenden an Vézelay und Pothières nach der Translatio s. Mariae Magdalenae Vizeliacum hg. von F A I L L O N , Monuments inédits sur l’apostolat de sainte Marie-Madeleine en Provence 1 (1859), S. 745-52, S. 746 f. (nicht sicher); Konsekration der Kirche in Flavigny am Festtag der Heiligen Simon und Judas (28. Oktober 878), vgl. Hugo von Flavigny, Chronicon, hg. von G. H. P E R T Z , MGH SS 8, S. 280-501, S. 355; Hugo von Flavigny, Series abbatum Flaviniacensium, hg. von G. H. P E R T Z , MGH SS 8, S. 502-503, S. 502; vgl. hierzu B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 30 und A. H O L L A A R D T , L’abbaye de Flavigny et la fête des apôtres Simon et Jude, Questions Liturgiques 61 (1980), S. 29-36. Nicht ganz sicher, wie teilweise in der Literatur vorausgesetzt, ist, ob Johannes VIII. in diesem Fall Reliquien aus Rom mitgebracht hatte. Zu diesen und weiteren Reliquienschenkungen vgl. künftig B Ö H M E R - H E R B E R S , Papstregesten (wie Anm. 26). 146 Zum Gegensatz zwischen Bischof Odo von Beauvais und Hinkmar von Reims bei der Synode von Ponthion wegen dieser Erhebung vgl. B O S H O F , Odo (wie Anm. 142), S. 56-58 und H A R T M A N N , Synoden (wie Anm. 34), S. 335 f. mit Besprechung der Überlieferung (MGH Capit. 2 351 ff.) und der tendenziösen Schilderung Hinkmars in den Annales Bertiniani, hg. von F. G R A T / J. V I E L L I A R D / S. C L É M E N C E T , Les Annales de Saint- Bertin (1964), S. 20 ff. sowie zu Hinkmars Schrift: De iure metropolitanum (hg. von M I G N E , PL 126, Sp. 189-210). 147 Belegt bei Clarius von Sens, Chronicon s. Petri Vivi Senonensis, hg. von R.-H. B A U T I E R / M. G I L L E S , Chronique de Saint-Pierre-le Vif de Sens, dite de Clarius (Sources d’Histoire Médiévale, 1979), S. 60; vgl. A. F R O L O W , La relique de la vraie croix. Recherches sur le développement d’un culte (1961), S. 285 Nr. 254, der zusätzlich ein Inventar von 1095 zitiert. 148 Die politische Konstellation im Westfrankenreich erklärt zwar das Schweigen der Ann. Bertiniani; dennoch ist auffällig, daß die Translation nach Sens erst 1095 anläßlich einer erneuten Reliquienübertragung weiter verbreitet wurde, vgl. die Belege in der vorigen Anm. Vgl. zu einer päpstlichen Reliquienschenkung von 867 an Ansegis von St-Riquier, den späteren Erzbischof von Sens, die im 11. Jh. Hariulf bezeugt: Chronicon abbatiaa S. Richarii, hg. von F. L O T (Collection de textes 17, 1894), S. 126 f. 149 Vor allem B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 72 ff. und D E R S ., Odo (wie Anm. 142), S. 49-52. <?page no="141"?> Rom im Frankenreich 141 Papstes. Schutz durch Reliquien und Schutz durch eine Urkunde scheinen enger zusammenzugehören als man dies bisher gesehen hat. Den gedanklichen Zusammenhang von päpstlichem Schutz und römischen Reliquien verdeutlicht ein auf den Namen Leos IV. gefälschtes Privileg an Prudentius von Troyes 150 . Der Mönch Adremar soll für das Kloster Montiéramey die Reliquien der Titelheiligen Petrus und Leo in Rom empfangen haben. Diese Reliquien, auch in diesem Fall waren es „Papstreliquien“, solle der Bischof von Troyes im Kloster niederlegen, weihen und das Kloster unter dem Schutz und der Herrschaft der römischen Kirche bleiben. Das bei Jaffé-Ewald noch unbeanstandete Privileg, hat Boshof zu Recht als verfälscht verdächtigt, es könnte also eine spätere Vorstellungswelt spiegeln 151 . Allerdings habe ich inzwischen das noch in der MGH-Ausgabe nur nach Drucken edierte Schriftstück in einer Handschrift aus Beauvais neu nachgewiesen, die aufgrund des paläographischen Befundes in das zweite Drittel des 9. Jahrhunderts gehört 152 . Damit gewinnt der Text für die Mitte des 9. Jahrhunderts aus der hier verfolgten Perspektive an Gewicht: Er spitzt zu, was man wohl allgemein empfand: Reliquien und Schutzbestimmung gehören eng zusammen 153 , selbst wenn dies nicht immer unmittelbaren Niederschlag in den Quellen gefunden hat. Der durch die römischen Reliquien erreichte Schutz konnte als allein ausreichend empfunden, aber ebenso gleichzeitig oder später mit königlicher oder päpstlicher Privilegierung verbunden werden; Unterschiede sind im West- und Ostfrankenreich zu verschiedenen Phasen, ja sogar bei jedem einzelnen Empfänger anzunehmen. Ausschlaggebend waren wohl deren Bedürfnisse und Ziele, weniger diejenigen des Papstes; von einer bewußten päpstlichen Schutzpolitik, wie Appelt dies noch wollte, hat die Forschung ja inzwischen auch weitgehend Abstand genommen 154 . Nicht von ungefähr waren ja auch für den Erhalt [163/ 164] von Reliquien ähnlich wie für eine Urkundenbitte auch Intervenienten häufig 155 . Die Verbindung von Reliquien und Recht wird in ähnlicher Weise dadurch deutlich, daß Verträge vielfach auf ganz 150 JE 2647, der Text findet sich neu ediert in Exkurs 4 bei H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 456 f. 151 B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 26 f. vermutete nur allgemein eine recht frühe Fälschung, vielleicht noch vor 878. 152 Vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 1), S. 68 u. 71. 153 . . . ipsas illic reliquias supranominatorum sanctorum, quas a nobis accepit, eo tenore et conditione recondas atque consecres ut semper et perpetualiter sub iure ac potestate sanctae nostrae Romanae ecclesiae iam factum monasterium consistat atque permaneat, hg. von H E R B E R S , Papst Leo (wie Anm. 1), S. 457. 154 Vgl. H. A P P E L T , Die Anfänge des päpstlichen Schutzes, MIÖG 62 (1954), S. 101-111; zusammenfassungen zur Forschung vgl. bei B O S H O F , Traditio Romana (wie Anm. 21), S. 1-5 sowie unter Einschluß der problematischen Fuldaer Überlieferung die deutsche Ausgabe von M. R A T H S A C K , Die Fuldaer Fälschungen. Eine rechtshistorische Analyse der päpstlichen Privilegien des Klosters Fulda von 751 bis ca. 1158 (Päpste und Papsttum 24, 1-2, 1989). Vgl. hierzu die Gegenposition bei U. H U S S O N G , Studien zur Geschichte der Reichsabtei Fulda bis zur Jahrtausendwende. Zweiter Teil, Archiv für Diplomatik 32 (1986), S. 129-304 und jetzt J A K O B S , Zu den Fuldaer Papsturkunden (wie Anm. 126). 155 Vgl. oben Anm. 45. <?page no="142"?> 142 Heiligenkulte und Hagiographie bestimmte Reliquien abgeschlossen wurden. In räumlicher Hinsicht bleiben die Tendenz von Ados Martyrolog und die verstärkten Rombeziehungen des burgundischen Raumes für die frühe Phase dieser Verbindung von Reliquien und Schutzurkunden zumindest auffällig. Aber auch im Ostfrankenreich folgte später mehrfach weiterer Papstschutz wie in Gandersheim: Interessanterweise „wechselt“ hier im 10. Jahrhundert das Patrozinium der Schutzurkunde je nach Aussteller, erst seit der großen päpstlichen Schutzverleihung Johannes’ XIII. vom 1. Januar 968 scheinen Innozenz und Anastasius als die Patrone von Gandersheim in gefestigter Stellung 156 . VI. Wie ist der Einfluß römischer Reliquien und Heiliger im Frankenreich in der Mitte des 9. Jahrhunderts zu beurteilen? Spiegeln sie etwas von den Verhältnissen in den neu aufgeteilten Reichen, vom Verhältnis zwischen Königtum und Adel - die ja häufig Bittsteller waren? Gab es in bestimmten Gegenden einen „Nachholbedarf“ und zeigt sich so in den Reliquien auch der jeweilige Entwicklungsstand der fränkischen Teilreiche oder entziehen sich die Reliquienübertragungen überhaupt einer genaueren „politischen“ Kategorisierung? Der Erwerb römischer Reliquien und deren jeweilige Zusammensetzung waren maßgeblich von stadtrömischen Voraussetzungen sowie von literarischen Voraussetzungen mitbestimmt. Der Papst und die Stadt Rom übergaben die Reliquien nach bestimmten Spielregeln und beeinflußten durch die Mitgabe entsprechender Schriften die weitere Verehrung. Hiermit förderten sie zugleich die Wirkung der Reliquien, die vor allem in Mirakelberichten, aber auch in den Martyrologien zu erfassen waren. In den Mirakelberichten geriet die römische Herkunft zugunsten der neuen Ruhestätte in der Regel in den Hintergrund, in Martyrologien und liturgischen Büchern blieb sie stärker präsent. Im Mittelreich und in Grenzräumen erscheint die Romorientierung aufgrund der Translationsberichte und der Martyrologien besonders ausgeprägt: Lag es daran, daß man dort neuer Identifi-[164/ 165]kationshilfen am dringendsten bedurfte? Das Westfrankenreich war in der Mitte des 9. Jahrhunderts am wenigsten betroffen, am ehesten dann ab den 60er Jahren das an Burgund angrenzende Gebiet. Erst die Nachwirkung in Martyrologien, Patrozinien und in anderen Formen brachte eine deutliche lokale Ausweitung. Was könnte diese „Zurückhaltung“ des Westfrankenreiches bedingt haben? Lag dies nur an den vergleichsweise 156 Papsturkunden 896-1046, 1: 896-996, hg. von H. Z I M M E R M A N N ( 2 1988), S. 361 f., Nr. 184. Zu den verschiedenen Wechseln der Patrozinien vgl. G O E T T I N G , Das Bistum Hildesheim (wie Anm. 41), S. 78-81. Die oben in Anm. 73 zitierte Urkunde Ludwigs des Jüngeren vom 26. Januar 877 verzeichnet zwar die Reliquien der beiden Päpste, unterstreicht aber dann, die Kirche von Gandersheim sei zu Ehren des Protomärtyrers Stephan geweiht worden. Diese Beziehung zu Stephan reflektiert offensichtlich Beziehungen zur Abtei Corvey, vgl. G O E T T I N G , S. 79. Nach den Normannenverwüstungen zeigt auch Stephan V. für Köln (891 Mai): JE 3469, hg. von G. L A E H R , MGH Epp 7, S. 363 f. (Germ. Pont. 7, S. 37, Nr. 77) gut die Verbindung von Privileg und Reliquien. <?page no="143"?> Rom im Frankenreich 143 selteneren neuen Kloster- und Stiftsgründungen, an der schon weiter fortgeschrittenen Christianisierung, die weniger Unterstützung zu weiterer Mission bedurfte, an dem schon weiter gepflegten Austausch nördlich der Alpen, der größere Romreisen unnötig machte? Diese und weitere Faktoren dürften gewiß eine Rolle gespielt haben, jedoch möchte ich eine weitere Beobachtung anfügen: Der Universalität des Reiches unter Karl dem Großen entsprachen die aus den verschiedensten Teilen der damals bekannten Welt angehäuften Reliquien 157 . Könnten sich nach 843 auch die Wege geteilt haben? Das Westfrankenreich pflegte in dieser Zeit noch andere Orientierungen; man sah - zumindest was den „hagiographischen Blick“ betraf - offensichtlich weniger ausschließlich als die anderen Teilreiche nach Rom. So erklärt sich beispielsweise, daß ein Mönch aus St-Germain des Prés in dieser Zeit aus dem muslimischen Spanien Reliquien besorgte. Nachdem die Suche nach Vinzenz-Reliquien in Spanien erfolglos geblieben war, erwarb die Gesandtschaft nach Hinweisen auf „frische Märtyrer“ die erst in den Verfolgungen 852 in Córdoba umgekommenen „freiwilligen Märtyrer“ Georg, Aurelius und Nathalia. Das Interesse Karls des Kahlen an den Reliquien der „Märtyrer von Córdoba“ belegt ein interessantes überliefertes Detail des Berichtes: Als der westfränkische König selbst die Reliquien verehrte, entsandte er heimlich einen weiteren Boten nach Córdoba, der die Echtheit überprüfen sollte 158 . Auch das Karl dem Kahlen gewidmete Martyrolog [165/ 166] Usuards von St-Germain des Prés, der an der spanischen Expedition beteiligt war, verzeichnet verschiedene spanische Heilige unter den nicht unbeträchtlichen „Neuzugängen“ 159 . Die alte Universalität 157 Vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag von H. M O R D E K , Von Patrick zu Bonifatius . . . Alkuin, Ferrières und die irischen Heiligen in einem westfränkischen Reliquienverzeichnis, in: Ex ipsis rerum documentis (wie Anm. 31), S. 55-68, S. 68. 158 Vgl. zu dieser abenteuerlichen Reise, zunächst sogar mit etwas anderem Ziel die Quellenberichte (samt folgenden Mirakeln) von Aimon von St-Germain des Prés, De translatione ss. martyrum Georgii, Aurelii et Nathaliae, M I G N E , PL 115, Sp. 939-960 (BHL 3409); D E R S ., Historia translationis s. Vincentii ex Hispaniae in Castrense Galliae monasterium, M I G N E , PL 126, Sp. 1011-1028 (BHL 8644). Erneute Überprüfung durch Karl den Kahlen: M I G N E , PL 115, Sp. 957. Vgl. hierzu J. F O N T A I N E , Mozarabie hispanique et monde carolingien. Les échanges culturels entre la France et l’Espagne du VIIIe au Xe siècle, Anuario de Estudios Medievales 13 (1983), S. 17-46, S. 33 und 36-38 mit weiterer Literatur. Das Westfrankenreich dürfte für Kultbeziehungen zu Spanien auch durch seine Nachbarlage in der späten Karolingerzeit die wichtigste Rolle gespielt haben dürfte. Die Traditionslinie der älteren karolingischen transpyrenäischen Politik war wohl auf Karl den Kahlen übergegangen. Immerhin soll nach einer Vision des Chorbischofs Audradus (Modicus) von Sens (Mitte 9. Jh.) damals König Karl der Kahle vom hl. Martin den Auftrag erhalten haben, Spanien zu erobern (und dann dem Westfrankenreich anzugliedern), vgl. den Text bei L. T R A U B E , O Roma nobilis (Abh. München, 1891), S. 374-391, S. 384. Zu Leben und Werk vgl. W. W A T T E N B A C H / W. L E V I S O N / H. L Ö W E , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3 (1957), S. 358f; W. M O H R , Audradus von Sens, Prophet und Kirchenpolitiker (um 850), Archivum Latinitatis Medii Aevi 29 (1959), S. 239-267 denkt an einen Zusatz dieser Passage um 870. 159 Vgl. bereits hierzu B. de G A I F F I E R , Les notices hispaniques dans le martyrologe d’Usuard, Analecta Bollandiana 55 (1937), S. 268-283. Vgl. die Edition des Martyrologs <?page no="144"?> 144 Heiligenkulte und Hagiographie des Karolingerreiches spiegelte sich nach wie vor auch in Reliquien, aber mit unterschiedlichen Akzenten; für eine vergleichende Beurteilung der Frühzeit Karls des Kahlen und Ludwigs des Deutschen sollte man dies berücksichtigen 160 . Allerdings prägte insgesamt ein viel größeres Geben und Nehmen die Zeit als gemeinhin angenommen, so daß wechselseitige Einflüsse weder durch Reliquientausch noch durch Büchergeschenke noch durch Liturgietransfer oder ähnliches eindeutig in Quantität und Intensität bestimmbar sind. Tendenzen der „großen Politik“ werden in diesen „hagiographischen“ und ähnlichen Zeugnissen nur „gebrochen“ angedeutet, denn es waren zudem vielfach einzelne Institute, welche die Initiative ergriffen 161 . Daß frühere römische Einflüsse auch über das Westfrankenreich weiter in das Ostfrankenreich kamen, hatte ich lediglich anfangs kurz erwähnt und dann verkürzend weggelassen 162 , denn grosso modo gilt in dieser Zeit: Die Reliquienströme gingen hauptsächlich von Süden nach Norden und von Westen nach Osten 163 . Inwieweit gewann aber auch der Papst und das Papsttum durch die Reliquienschenkungen an Gewicht? Die Rolle des Papstes als Schenker führte in den herangezogenen Schriften zu Ehrenbezeichnungen, welche die Führungsposition Roms unterstreichen: Der Papst ist religiosus vir, papa et . . . Petri . . . vicarius 164 , Rom gilt als Stadt und Sitz des hl. Petrus, des princeps apostolorum 165 , als Haupt aller Kirchen 166 . [166/ 167] Dem hl. Petrus eignet die Binde- und Lövon J. D U B O I S , Le martyrologe d’Usuard (Subsidia hagiographica 40, 1965), S. 144 ff., der in der Einleitung die neuen spanischen Heiligen zusammengestellt (S. 93-96). 160 Erleichtert wurde den „fremden“ Reliquien das „Eindringen“ in dieser Zeit durchaus, denn das karolingische Europa schuf sich nur wenige eigene Heilige, ganz im Gegensatz zu vorangehenden oder nachfolgenden Epochen, vgl. P. R I C H É , Les carolingiens en quête de sainteté, in: Les Fonctions des saints dans le monde occidental (wie Anm. 3), S. 217-224. Zu Unterschieden der Hagiographie in Merowinger- und Karolingerzeit vgl. zusammenfassend auch B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil 3 (wie Anm. 12), S. 326- 332. 161 Die Herrscher waren allenfalls am Rande beteiligt, ihre Rolle war vor allem dann zentral, wenn es um eigene Hausklöster, wie die oben behandelten Orte Prüm, Erstein etc. ging. 162 Vgl. Anm. 27. Einen ersten Eindruck vermittelt die Karte bei H O N S E L M A N N , Reliquientranslationen nach Sachsen (wie Anm. 12), S. 161. Insbesondere geht es in dem hier interessierenden Zeitraum um Reliquientranslationen aus dem westfränkischen Reich nach Sachsen. Vgl. zum Beschaffen der Reliquien in Rom als „hagiographisches Cliché“ B. de G A I F F I E R , La plus ancienne vie de Sainte Pusinne de Binson, honorée en Westphalie, Analecta Bollandiana 76 (1958), S. 188-223. S. 208 f. 163 Vgl. F R I E D , Weg (wie Anm. 22), S. 804. 164 So im Brief an Leo IV. aus der Alexander-Translatio (DLo I Nr. 110; vgl. oben Anm. 45); ähnlich auch in den Gesta Conwoionis, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 179 (vgl. S. 194 mit Anm. 94). 165 So in der Translatio s. Hermetis, hg. von W A I T Z (wie Anm. 33), S. 410. 166 So ebenfalls in den Gesta Conwoionis, hg. von B R E T T (wie Anm. 90), S. 179: . . . quae caput est omnium ecclesiarum, quae sub universo caelo sunt. Vgl. zu diesen verschieden Begriffen A. A N G E N E N D T , Princeps imperii - Princeps apostolorum. Rom zwischen Universalismus und Gentilismus, in: D E R S . / R . S C H I E F F E R , Roma - caput et fons. Zwei Vorträge über das päpstliche Rom zwischen Altertum und Mittelalter (1989), S. 7-44, S. 14 f. u. ö. <?page no="145"?> Rom im Frankenreich 145 segewalt 167 . Gewiß wurde mit solchen Formulierungen dem Nachfolger Petri noch keine juristische Vorherrschaft zugemessen, bedeutete dies noch nicht die „Unterwerfung“ des „kirchlichen Lebens unter die Autorität der . . . Päpste“, wie Rudolf Schieffer es einmal genannt hat 168 , aber es läßt sich gleichwohl eine Anerkennung der besonderen Stellung Roms und des Papstes erkennen. Dabei wurde die päpstliche Autorität besonders an bestimmten Orten und zu gewissen Zeiten bemüht, wenn Auseinandersetzungen auch Reliquien zu Waffen in einem aktuellen Streit werden ließen, wie im Falle der Bretagne, wo Rom zugleich als Orientierung und als Entscheidungsinstanz diente, sonst blieben diese beiden Aspekte in dieser Zeit fast immer getrennt. Das Westfrankenreich beanspruchte nach 843 oft päpstliche Rechtshilfe, seltener römische Reliquien, dies könnte auf strukturellen Unterschieden zwischen den karolingischen Teilreichen, aber auch auf bestimmten traditionellen Orientierungen basieren. Die persönlichen Beziehungen, die durch die Reliquiengaben zwischen Geber und Schenker entstanden, dürfen insgesamt keinesfalls gering veranschlagt werden. Der Austausch von Geschenken und Reliquien war in der Tat in starkem Maße nach der Formulierung von Mauss ein „fait social total“ 169 ; der anfangs zitierte Gregorovius hat durchaus Recht, wenn er eine Haupttätigkeit Roms in der Weitergabe von Reliquien und Büchern sah. Erkannt hat er aber nicht die soziale Bedeutung dieses Schenkens und Austauschens. In den Zusammenhang sozialer Beziehungen gehört offensichtlich auch die Vorstellung, daß der durch die Reliquien zunächst gewährte Schutz gleichzeitig oder später von einem schriftlichen, urkundlichen Schutzversprechen begleitet werden konnte. Daß dies erstmals im burgundischen Raum deutlich greifbar wird, war sicherlich auch durch weitere, andere Faktoren bedingt: die neue Herrschaft Gerhards von Vienne sowie die auch in weiterer Beziehung engen Bindungen an Rom, von denen das Martyrolog Ados von Vienne ebenso ein deutliches Zeugnis ablegt. Zwar lief im frühen Mittelalter ohne Heilige buchstäblich nichts, um es einmal salopp zu formulieren, aber ich möchte den Eindruck vermeiden, daß nur Heilige, oder gar römische Heilige das Leben in den karolingischen Teilreichen geprägt hätten. Der Erwerb römischer Reliquien samt den damit zusammenhängenden und hier keinesfalls vollständig untersuchten Folgen gehören in den größeren Zusammenhang weiterer Rombeziehungen der Karolingerzeit. So hat beispielsweise Rudolf Schieffer [167/ 168] die Weitergabe römischer Bücher mit dem Bedürfnis nach etwas „Authentischem“ erklärt und am Rande darauf verwiesen, daß ähnliche Bedürfnisse auch bei den Reliquienbitten vorherrschend gewesen sein könnten: Die in Rom verschenkten Codices und die Reliquienschenkungen lassen sich zuweilen sogar von den Quellen her gedank- 167 Vgl. oben im Zusammenhang mit dem Mirakel aus dem Kloster Redon Anm. 98 f. 168 Vgl. R. S C H I E F F E R , „Redeamus ad fontem“. Rom als Hort authentischer Überlieferung im frühen Mittelalter, in: A N G E N E N D T / D E R S . , Roma - caput et fons (wie Anm. 166), S. 45-70, S. 66. 169 So die klassische Definition von M A U S S , Gabe (wie Anm. 10). <?page no="146"?> 146 Heiligenkulte und Hagiographie lich verknüpfen: Beides wurde mehrfach von Petenten zusammen erbeten 170 . Buchwidmungen, Beschaffung römischer Bücher, monastischer Regeln 171 und Rechtstexte, liturgische Austauschbeziehungen sind verschiedene Aspekte dieses in der Hochkarolingerzeit besonders ausgeprägten Prozesses. Dabei war der Wunsch nach etwas Römischem, Authentischem entscheidend. Diese Beziehungen führten in der Karolingerzeit allenfalls in Ansätzen zu einer Uniformierung von liturgischen oder rechtlichen Gebräuchen. Dennoch dürften diese Rombezüge, die vor allem in Baukunst und Liturgie weiter wirkten, langfristig prägend gewesen sein. In den liturgischen Zusammenhang lassen sich auch viele Reliquientranslationen aus der Mitte des 9. Jahrhunderts einordnen. Die Weitergabe der begehrten Teile und ihre Deposition in den verschiedenen Altären zog in der darauf jeweils abgestimmten Liturgie immer wieder die Besinnung auf die dort niedergelegten Reliquien nach sich und vergegenwärtigte so Rom und seine Heiligen. Der Ausgangspunkt des Reliquienkultes liegt im Totengedenken, unter anderem ausgedrückt in der Feier der Eucharistie, die Lebende und Tote im Gedächtnis Christi vereinte. Somit lassen sich Imitationen römischer Bauten, die Übersendung römischer Bücher und der Erwerb römischer Reliquien zusammen würdigen: Die Erinnerung an Rom und seine Heiligen wurde durch die fortwährende liturgische Verehrung vielleicht wesentlich nachdrücklicher immer wieder ins Bewußtsein gerufen als durch irgendeinen Papstbrief oder eine -urkunde, die nur für einige Schriftkundige im Schrein des Klosters zugänglich war. Das Martyrolog Ados und seine Ableitungen trugen dazu bei, daß Rom und die Päpste fast wöchentlich im liturgischen Geschehen präsent waren, römische Märtyrer und besonders heilige Päpste evozierten immer wieder - selbst mit ihren nur kurzen Notizen - stets das Zentrum der westlichen Christenheit. Das Ensemble der verschiedenen Rombeziehungen hat seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts maßgeblich auch die Autorität der römischen sedes an verschiedenen Orten im Frankenreich gefestigt und somit den Boden für die spätere Entwicklung bereitet. Die neue Situation im Frankenreich nach dem Vertrag von Verdun (843) bot hierfür erneut gute Ansatzpunkte. Vieles kam zusammen oder konkurrierte miteinander: geopolitische Voraussetzungen, Reichsteilungen, das Fehlen anderer Schutzherren und anderes mehr. Der gordische Knoten, wie es zu einer stets zunehmenden [168/ 169] Bedeutung Roms und des Papsttums im Frankenreich und dessen Nachfolgestaaten kam, läßt sich nicht nur von einer Seite aus durchhauen. Aber die Romorientierung durch Heilige war auch ein Phänomen mit Langzeitwirkung, wenn diese auch 170 S C H I E F F E R , Redeamus ad fontem (wie Anm. 168), S. 67 f. 171 Die Benediktregel könnte ihre Durchsetzung im Frankenreich vor allem ihrem Ruf als römische Regel verdanken, den die Karolingerherrscher und ihre monastischen Berater förderten. Auch hier galt Rom als Leitbild, vgl. zusammenfassend S C H I E F F E R , Redeamus ad fontem (wie Anm. 168), S. 60-62 sowie jüngst F. J. F E L T E N , Die Bedeutung der „Benediktiner“ im frühmittelalterlichen Rheinland. Reflexionen, Amerkungen und Fragen, Teil 1, Rheinische Vierteljahresblätter 56 (1992), S. 21-58, S. 26 f. <?page no="147"?> Rom im Frankenreich 147 nur vereinzelt konkret zu belegen ist: Erst spätere Epochen zeitigten viele Ergebnisse und Folgen der Rombeziehungen in einer Zeit des Umbruchs; nicht nur durch Papsturkunden, Papstbriefe oder kirchenrechtliche Schriften war die Karolingerzeit für spätere Epochen prägend. <?page no="149"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber Pontificalis und in römischen hagiographischen Texten Harald Zimmermann zur Vollendung des 75. Lebensjahres zugeeignet 1. Einleitung „Er war nämlich hervorragender Herkunft, reinen Glaubens, sehr freimütig im Predigen, demütig vor Gott, berühmt unter den Menschen, lebhaft in seinen Gesichtszügen, noch lebhafter in seinem Verstand, ein Lenker der Kirchen, Rächer des einfachen Volkes, Schützer der Armen, Schirm und Tröster der Witwen, Beschenker der Bedürftigen, Versammler der Versprengten, Hüter der Versammelten, ein Verächter der weltlichen Dinge, begierig verliebt nur in die Schätze der Weisheit“, so preist der Verfasser einer Passage im Liber pontificalis Papst Sergius II. nach dessen Erhebung 844 1 . [165/ 166] Ein richtiger Papst besaß diese Eigenschaften. Ist dies nur ein Tugendkatalog, dem man keine weitere Bedeutung beimessen muß, weil er einfach zu Texten wie dem Liber pontificalis gehörte? Wurde vielleicht jeder Papst so charakterisiert? Die Frage nach dem topischen Charakter sowie nach dem Verhältnis von Typus und Individuum drängt sich bei diesem Quellenmaterial auf. Sowohl für die Skizzen des Liber pontificalis wie auch für hagiographische Texte - Erschienen in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes L A U D A G E , © Böhlau Verlag, Köln/ Wien 2003, 165-191. 1 Erat enim origine insignis, fide purus, praedicatione liberior, Deo humilis, hominibus clarus, vultu alacris, mente alacrior, ecclesiarum gubernator, plebium ultor, pauperum fauctor, viduarum tegmen et consolator, indigentium largitor, dispersorum congregator, congregatorum conservator, inanium seculariumque rerum contemptor, solis sapientiae divitiis avidus et amator, Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire 1-2, ed. Louis D U C H E S N E (1886/ 1892), 3, ed. Cyrille V O G E L (1957); vgl. die Edition der Rezensionen mit späteren Zufügungen: Liber pontificalis nella recensione di Pietro Guglielmo e del card. Pandolfo, glossato da Pietro Bohier, vescovo di Orvieto, 1-3, ed. Ulderico P ˇ R E R O V S K Ý ( Studia Gratiana 21-23, 1978); das Zitat D U C H E S N E Bd. 2, S. 87. Die Übersetzung folgt weitgehend dem Vorschlag von Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 2. Merowingische Biographie: Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9, 1988), S. 130. - Die hier gedruckten Überlegungen wurden beim Kolloquium in Düsseldorf und in etwas veränderter Fassung beim Festkolloquium zu Ehren von Harald Zimmermann in Tübingen im November 2001 vorgetragen. Den jeweiligen Zuhörern danke ich für Anregungen. <?page no="150"?> 150 Heiligenkulte und Hagiographie aber nicht nur für diese - ist häufig unterstrichen worden, daß Typen, keine Individuen vorgestellt würden. Beschrieben werde in dieser Zeit und speziell in diesen Texten, nicht der Mensch als Individuum, sondern der Typus, der in bestimmten sozialen Rollen als Papst, als Bischof, als Heiliger oder wie auch immer fungiere 2 . Die Folgen sind nicht unerheblich: Gibt es - zumindest nachweisbare - Individualität erst seit der Renaissance, wie ja für viele seit Jakob Burkhardt feststeht 3 ? Vielleicht allenfalls seit dem 11. und 12. Jahrhundert 4 ? Gestatten [166/ 167] Texte der früheren, der sogenannten „archaischen“ Zeit, besonders aber Texte wie der Liber pontificalis oder hagiographische Viten 5 , überhaupt den Blick auf Einzelpersonen? 2 In dieser Richtung etwa Oskar K Ö H L E R , Das Bild des geistlichen Fürsten in den Viten des 10., 11. und 12. Jahrhunderts (Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 77, 1935) zusammenfassend S. 135-139. 3 Jacob B U R C K H A R D T , Die Kultur der Renaissance in Italien, ein Versuch. Die letzte noch von Burckhardt durchgesehene (2. Auflage, 1869). Am bequemsten heute in der 11. Aufl., hg. von Konrad H O F F M A N N (Kröners Taschenausgabe 53, 1988) zu benutzen. - Die von den Grundvorstellungen einer - zumindest in weiten Teilen - im Mittelalter fehlenden Individualität prägen auch beispielsweise die Überlegungen von Aaron J. G U R J E W I T S C H , Das Individuum im europäischen Mittelalter (1994), bes. S. 9-128. Kritik an solchen auch in anderer Form von Karl Lamprecht vertretenen Ansätzen mit Durchsicht der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreiber bei Franz M Ü N N I C H , Die Individualität der mittelalterlichen Geschichtsschreiber bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (Diss. Halle, 1907), der jedoch die römischen Quellen nicht berücksichtigt. 4 Vgl. beispielsweise die Vorschläge, die bereits Bernhard F. S C H M E I D L E R , Italienische Geschichtsschreiber des XII. und XIII. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (Leipziger historische Abhandlungen 11, 1909), zur Differenzierung der Burkhardtschen These gemacht hat; dazu Klaus H E R B E R S , Von Venedig nach Nordeuropa. Bernhard F. Schmeidler und die europäische Mittelalterforschung in Erlangen seit 1921, in: Geschichtswissenschaft in Erlangen, hg. von Helmut N E U H A U S (Erlanger Studien zur Geschichte 6, 2000) S. 71-102, bes. S. 83. Zu Möglichkeiten, schon bei Geschichtsschreibern des 10./ 11. Jahrhunderts individuelle Züge zu entdecken, vgl. bereits Rudolf T E U F F E L , Individuelle Persönlichkeitsschilderung in den deutschen Geschichtswerken des 10. und 11. Jahrhunderts (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 12, 1914), der bei den Viten solche ohne persönliche Züge von anderen unterscheidet (S. 77-121). 5 Marc V A N U Y T F A N G H E , Die Vita im Spannungsfeld von Legende, Biographik und Geschichte, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hgg. von Anton S C H A R E R / Georg S C H E I B E L R E I T E R (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32, 1994) S. 194-221, und inzwischen D E R S ., Artikel Biographie II (spirituelle), Reallexikon für Antike und Christentum, Suppl. 1 Lfg. 7-8 (2000) Sp. 1088-1364 (Überblick über die Traditionen von der griechisch-römischen Antike bis ins 6. Jahrhundert). In der Hagiologie werden (mindestens) zwei Grundtypen der hagiographischen Vita unterschieden: die „rhetorisch idealisierende Form der christlichen Biographie“, die den Tugendbegriff im traditionellen Sinn versteht, und die aretalogische, hagiographisch stilisierende Vita, in der die virtutes die göttliche Kraft darstellen, vgl. Friedrich L O T T E R , Methodisches zur Gewinnung historischer Erkenntnisse aus hagiographischen Quellen, Historische Zeitschrift 229 (1979) S. 298-356, hier S. 311, und Martin H E I N Z E L M A N N , Die Funktion des Wunders in der spätantiken und frühmittelalterlichen Historiographie, in: Mirakel im Mittelalter, hgg. von D E M S . , Klaus H E R B E R S und Dieter R. B A U E R (Beiträge zur Hagiographie 3, 2002) S. 23-61, hier S. 32 bei Anm. 42. <?page no="151"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 151 Die gängige Sichtweise, bis ins hohe Mittelalter erschienen in den überlieferten Quellen fast ausschließlich Typen, keine Individuen, ist inzwischen mehrfach kritisiert worden. So beruht die Annahme einer archaischen Zeit unter anderem auf spezifischen modernen Vorstellungen über das Mittelalter. Hiergegen hat sich unter anderen Otto G. Oexle gewandt und am Beispiel der Vita des Johannes von Gorze auch durch die Untersuchung empirischen Materials individuelle Züge freigelegt 6 . Ebenso scheint die erneute Beschäftigung mit Bischofsviten inzwischen zu differenzierteren Urteilen zu kommen 7 . Der 1996 erschienene stattliche 24. Band der Miscellanea Medievalia mit dem Titel „Individuum und Indivi-[167/ 168]dualität im Mittelalter“ 8 hat vor allem das Verdienst, auch die theoretischen mittelalterlichen Diskussionen um das Individuelle eingehend gesichtet zu haben. Die Mehrzahl der Beiträge behandelt aber die Zeit ab dem 12. Jahrhundert und bringt die hier in den Blick genommenen Quellengruppen nicht ins Spiel 9 . Der vorgegebene Terminus „Personenbeschreibungen“ bedarf der kurzen Erläuterung. Walter Berschin versteht hierunter die Beschreibung des Äußeren einer Person 10 . Mir geht es allgemein um personenbezogene Merkmale, die das Äußere und weitere Charaktereigenschaften betreffen können, sowie um die Frage, inwieweit Handeln hierauf zurückgeführt wird 11 . Ob diese Beschreibungen Wirklichkeit abbilden, steht zunächst nicht zur Diskussion. [168/ 169] 6 Otto G. O E X L E , Individuen und Gruppen in der lothringischen Gesellschaft des 10. Jahrhunderts, in: L’abbaye de Gorze au Xe siècle, hgg. von Michel P A R I S S E / D E M S . (1993) S. 105-139. 7 Vgl. Stephanie C O U É , Hagiographie im Kontext. Schreibanlaß und Funktion von Bischofsviten aus dem 11. und vom Anfang des 12. Jahrhunderts (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 24, 1997) oder jüngst Stephanie H A A R L Ä N D E R , Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 47, 2000). Hier geht es jedoch - ähnlich wie bei den Studien zur réécriture - um eine stärkere Würdigung der diskursiven Elemente, um einen Blick in die Werkstatt der jeweils schreibenden Autoren. 8 Individuum und Individualität im Mittelalter, hg. von Jan A. A E R T S E N / Andreas S P E E R (Miscellanea mediaevalia 24, 1996). 9 Vgl. jedoch zum frühen Mittelalter den Beitrag von Wilhelm K Ö L M E L , Autobiographien der Frühzeit, in: Individuum und Individualität (wie Anm. 8) S. 667-682. 10 Walter B E R S C H I N , Personenbeschreibung in der Biographie des frühen Mittelalters, in: Historiographie im frühen Mittelalter (wie Anm. 5) S. 186-193. 11 Damit wird ein „retour au sujet“ eingeschlossen, vgl. hierzu Roger C H A R T I E R , L’Histoire culturelle entre „Linguistic Turn“ et Retour au Sujet, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf V I E R H A U S und Roger C H A R T I E R , hg. von Hartmut L E H M A N N (1995) S. 29-58; Otto Gerhard O E X L E , Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Kulturgeschichte Heute, hg. von Wolfgang H A R D T W I G / Hans-Ulrich W E H L E R (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16, 1996) S. 14-40. Vgl. auch Manfred F R A N K , Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer „postmodernen“ Toterklärung (Edition Suhrkamp 1377, 1986); Wolfgang Christian S C H N E I D E R , Ruhm, Heilsgeschehen, Dialektik. Drei kognitive Ordnungen in Geschichtsschreibung und Buchmalerei der Ottonenzeit (Historische Texte und Studien 9, 1988) untersucht an Beispiele der Ottonenzeit, welche Denkvorstel- <?page no="152"?> 152 Heiligenkulte und Hagiographie 2. Quellenproblematik der Viten Ich behandele Passagen aus dem Liber pontificalis und exemplarisch eine hagiographisch bestimmte Vita, die jedoch auch in den Bereich der Papstgeschichte gehört. Diese Texte werden gemeinhin gerade nicht unter der skizzierten Fragestellung gelesen. Welche quellenkritischen Voraussetzungen sind zu bedenken? Für die hagiographisch bestimmten Viten fallen generalisierende Bemerkungen schwer, denn die Vielfalt dieser Texte ist gerade in jüngster Zeit immer wieder nachdrücklich unterstrichen worden; sie stehen in einer spätantiken Tradition mit paganen, jüdischen und christlichen Elementen 12 . Ihre Zielsetzungen erschließen sich oft erst nach Zusammenstellung eines „Dossier hagiographique“, nach der Untersuchung der jeweiligen Kontexte und nach der Ermittlung der Traditionen in verschiedenen hagiographischen Regionen 13 . Gerade der hier im Zentrum stehende italische Raum verweist auf zahlreiche antike und spätantike Traditionen. Der Liber pontificalis wird häufig als Steinbruch benutzt, seltener wird der spezifische Charakter berücksichtigt. Entstehung, Struktur und Verbreitung müßten nicht nur für das gesamte Werk, sondern im [169/ 170] Grunde auch für die Vita jedes Papstes gesondert untersucht werden 14 . Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunders wurde darüber gestritten 15 , wie und seit wann dieses Buch lungen hinter beschriebenen menschlichem Handeln bei Geschichtsschreibern und Bildern der Ottonenzeit ausgemacht werden können (gegenüber der häufigen bisherigen Annahme zweckrationalen Handelns Ottos I. in der Forschung, S. 22 u. ö.). Diese Ansätze werden im folgenden - vor allem wegen der spezifischen Quellenstruktur des Liber pontificalis - nur in eingeschränktem Maße berücksichtigt. Für die unten herangezogene Gregorvita (S. 183-189) verdienten sie jedoch einen eingehenderen Umsetzungsversuch. 12 Vgl. oben Anm. 5 und unten Anm. 89. 13 Vgl. den auf vier Bände konzipierten Aufriß: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, hg. von Guy P H I L I P P A R T (CC Teil 1 [1994] und Teil 2 [1996]), der räumlich und zeitlich differenziert. Vgl. hierzu die Rezension von Klaus H E R B E R S , Francia 25/ 1 (1998) S. 291- 294. Zu den räumlichen, zeitlichen und überlieferungsgeschichtlichen Kontexten vgl. das Projekt zu hagiographischen Dossiers in der Gallia: Martin H E I N Z E L M A N N , Les sources hagiographiques narratives composées en Gaule avant l’an mil (SHG). Inventaire, examen critique, datation, Francia 15 (1987) S. 701-714; vgl. schon Francia 9 (1981) S. 887-890. Kurz hierzu auch D E R S ., Préface, in: Manuscrits hagiographiques et travail des hagiographes, hg. von D E M S . (Beihefte der Francia 24, 1992), S. 7 f.; vgl. auch zusammenfassend: Klaus H E R B E R S , Hagiographie im Kontext - Konzeption und Zielvorstellung, in: Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung, hg. von Dieter R. B A U E R / D E M S . (Beiträge zur Hagiographie 1, 2000) S. IX-XXVIII, hier S. XIV f.; jüngst: L’hagiographie du haut Moyen Âge en Gaule du Nord. Manuscrits, textes et centres de production, hg. von Martin H E I N Z E L M A N N (Beihefte der Francia 52, 2001) mit zahlreichen Einzelstudien. 14 Zwar sind die einzelnen Viten grundsätzlich ähnlich strukturiert, aber dennoch in vielen Punkten unterschiedlich, die zumeist von verschiedenen Verfassern geschrieben wurden. 15 Vgl. die Vorworte der jeweiligen Edition: Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1); vgl. auch die Nachträge von V O G E L in Band 3 (wie Anm. 1); dazu außerdem Cyrille V O G E L , Le „Liber Pontificalis“ dans l’édition de Louis Duchesne. Etat de la question, in: <?page no="153"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 153 in Rom kontinuierlich geführt wurde. Für die hier interessierenden Aspekte ist wichtig, daß spätestens seit dem 7. Jahrhundert die Papstviten des Liber pontificalis fortlaufend von Zeitgenossen 16 verfaßt wurden 17 . [170/ 171] Die Struktur der Viten ähnelt sich. Maximal setzen sie sich aus folgenden Elementen zusammen: Herkunft, Werdegang und Erhebung des jeweiligen Papstes, Charaktereigenschaften, Dauer des Pontifikates, Rechtsbestimmungen, Bautätigkeit, Gründungen, Schenkungen, politische und kirchenpolitische Informationen, Tod und Begräbnisort, Sedisvakanz, Ordinationen 18 . Bedenkt man diese Grundstruktur, die im einzelnen variieren konnte, so wird klar, daß der Ausdruck „Vita“ nur als eine Art „Verabredungsbegriff“ verwendet wer- Monseigneur Duchesne et son temps, Actes du colloque 23-25 mai 1973 (Collection de l’École française de Rome 23, 1975) S. 99-127. Übersetzung mit Kommentar bei Raymond D AV I S , The Book of Pontiffs (Liber pontificalis). The Ancient Biographies of the First Ninety Roman Bishops to A. D. 715. (Translated Texts for Historians, Latin series 5, 1989); D E R S ., The Lives of the Eight-Century Popes (Liber pontificalis). The Ancient Biographies of nine popes from ad 715 to ad 817 (Translated Texts for Historians 13, 1992); zusammenfassende Stellungnahmen bei Albert B R A C K M A N N , Der Liber Pontificalis, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche ( 3 1902) S. 439-446, ND in: D E R S ., Gesammelte Aufsätze ( 2 1967) S. 383-396, hier S. 387; B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 115-138; Françoise M O N F R I N , Liber pontificalis, Dictionnaire Historique de la Papauté (1994) S. 1042-1043; weitere Literatur bei Klaus H E R B E R S , Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27, 1996) S. 12-17; allgemein Horst F U H R M A N N , Papstgeschichtsschreibung. Grundlinien und Etappen, in: Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Wissenschaftliches Kolloquium zum hundertjährigen Bestehen des DHI in Rom (1989) S. 141-191. - Zur Bedeutung für Byzanz vgl. Peter S C H R E I N E R , Der Liber Pontificalis und Byzanz. Mentalitätsgeschichte im Spiegel einer Quelle, mit einem Exkurs: Byzanz und der Liber Pontificalis (Vat. Gr. 1455), in: Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag, hg. von Karl B O R C H A R D T / Enno B Ü N Z , Bd. 1 (1998) S. 33-48. 16 Diverse Einschnitte sind sogar in den erhaltenen Handschriften abgrenzbar, so bei Konstantinus ( † 715), bei Stephan II. ( † 757), bei Stephan III. ( † 772) sowie bei Hadrian I. ( † 795). Vgl. B R A C K M A N N , Liber pontificalis (ND) (wie Anm. 15) S. 389 f. Zu den Handschriften dieses Teiles des Liber pontificalis vgl. die Einleitung von D U C H E S N E (wie Anm. 1 ) 1 , S. CLXIV-CCVI und 2, S. I-VIII. 17 Selbst Manuskripte, die beispielsweise im Frankenreich vorhanden waren, wurden eventuell weiter aktualisiert. So bat Hinkmar von Reims im September 866 den Abgesandten der Synode von Soissons, Egilo von Sens, die gesta pontificum vom Pontifikat Sergius’ II. an mitzubringen, da diese in istis regionibus nicht verfügbar seien: Die Briefe des Erzbischofs Hinkmar von Reims 1, ed. Ernst P E R E L S (MGH Epp. 8.1, 1939) Nr. 186 S. 194: . . . ut non obliviscamini impetrare gesta pontificum ab initio gestorum Sergii papae, in quibus invenitur Ebo fuisse damnatus, usque ad praesentem annum istius praesulatus, quia nos in istis regionibus satis hoc indigemus. Vgl. zum Konzil von Soissons, Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860-874, ed. Wilfried H A R T M A N N (MGH Conc. 4, 1998), S. 201-228. Zur Verbreitung vgl. schon Max B U C H N E R , Zur Überlieferungsgeschichte des „Liber pontificalis“ und zu seiner Verbreitung im Frankenreiche im 9. Jahrhundert, Römische Quartalschrift 34 (1926) S. 141-165. 18 Vgl. Michel S O T , Gesta episcoporum. Gesta abbatum (Typologie des sources du moyen âge occidental 37, 1981) S. 32 f. zu den frühen Papstviten, deren Schematismus stärker ausgeprägt ist und bei denen in der Regel die Frage des Martyriums eine Rolle spielte. <?page no="154"?> 154 Heiligenkulte und Hagiographie den darf 19 , denn es geht vor allem um die Amtshandlungen der römischen Bischöfe. Mittelalterliche Autoren haben deshalb mit „Gesta“ oder ähnlichen Bezeichnungen treffender die eigentliche Zielsetzung umschrieben 20 . [171/ 172] Bis heute wird gestritten, wo die Viten abgefaßt wurden, ob im Vestiarium oder in der „Kanzlei“ - soweit diese überhaupt schon in dieser Zeit ausgeprägt war 21 . Wegweisende Abhandlungen von Geertman und de Blaauw haben insbesondere für das 8. und 9. Jahrhundert die Struktur und Funktion derjenigen Teile der Viten genauer ermittelt, welche die jeweils begünstigten römischen Kirchen betrafen. Bestimmte Listen der Hauptkirchen, Titelkirchen und Diakonien in den Registern könnten der kirchlich römischen Verwaltung vorgelegen haben 22 . Noble 23 kam bei einer kurzen Untersuchung der Viten von 530-816 zu dem Schluß, ein pragmatischer Charakter zeichne die Texte aus 24 . Die Viten seien vielleicht sogar zu Schulzwecken verwendet worden. Deshalb sei das Buch in der „Kanzlei“ entstanden beziehungsweise aufbewahrt worden 25 . 19 Franz-Josef S C H M A L E , Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung (1985) S. 116 zieht die Bezeichnung „Gesta“ vor. Vgl. auch Heinz H O F - M A N N , Artikulationsformen historischen Wissens in der lateinischen Historiographie des hohen und späten Mittelalters, in: La Littérature historiographique des origines à 1500 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 11.2, 1987) hier S. 367-687, S. 603 und S O T , Gesta episcoporum (wie Anm. 18) der S. 32 f. den Liber pontificalis als Prototyp für weitere Bischofs-Gesta ansieht. Unter dem Etikett der „Biographie“ wird der Liber pontificalis allerdings bei B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 115-138 behandelt. 20 Vgl. außer der in der vorigen Anm. zitierten Literatur die Sichtung in den Quellen bei Ottorino B E R T O L I N I , Il „Liber Pontificalis“, in: La Storiografia altomedievale (Settimane di Studio 17.1, 1970) S. 387-456, bes. S. 403-416, der Bezeichnungen wie gesta oder ähnlich häufig nachweisen kann; vgl. auch B R A C K M A N N , Liber Pontificalis (wie Anm. 15) (ND) S. 383; insofern nehmen die in der vorigen Anm. genannten modernen Autoren eine mittelalterliche Tradition auf. 21 Vgl. grundlegend Hans-Walter K L E W I T Z , Cancellaria. Ein Beitrag zur Geschichte des geistlichen Hofdienstes, DA 1 (1937) S. 44-79, auch in: D E R S ., Ausgewählte Aufsätze zur Kirchen- und Geistesgeschichte des Mittelalters (1971)S. 13-48. Zum 9. Jh. vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 15) S. 243-246; zum 10. Jahrhundert: Hans Henning K O R T Ü M , Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896 - 1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17, 1995), der S. 425 von einem „niedrigen Organisationsgrad“ spricht. 22 Sybil D E B L A A U W , Cultus et decor. Liturgie en architectuur in laataniek en meddeleeuws Rome. Basilica Salvatoris, Sanctae Mariae, Sancti Petri (1987); dabei hat er die Lateranbasilika, S. Maria Maggiore sowie St. Peter und das Wechselverhältnis von Liturgie und Ausstattung von der Spätantike bis ins 14. Jh. in den Blick genommen. Vgl. weiterhin Herman G E E R T M A N , More Veterum. Il Liber pontificalis e gli edifici ecclesiastici di Roma nella tarda antichità e nell’alto medioevo (1975) bes. S. 130-153. 23 Thomas F. X. N O B L E , A New Look at the Liber Pontificalis, AHP 23(1985) S. 347-358; wiederholt bei D E M S ., Literacy and the Papal Government in Late Antiquity and the Early Middle Ages, in: The Uses of Literacy in Early Mediaeval Europe, hg. von Rosamond M C K I T T E R I C K (1990) S. 82-108, bes. S. 97. 24 So im Anschluß an Erich C A S P A R , Geschichte des Papsttums, 2 (1933) S. 316. 25 N O B L E , New Look (wie Anm. 23) S. 354; Noble verwendet den Ausdruck „Kanzlei“ mit der gebotenen Vorsicht. <?page no="155"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 155 Schon Caspar hatte dies für die Zeit nach Papst Zacharias (741-752) vertreten 26 , nachdem noch Duchesne von einer Redaktion im Vestiarium ausgegan-[172/ 173]gen war 27 . Dieser Streit ist hier nicht für alle Viten generell zu entscheiden. Sicher gehören aber die Listen der von den Päpsten übereigneten Geschenke eher in den Zusammenhang des Vestiarium, die oft spärlichen Notizen zu Person, Rechtssetzungen oder im engeren Sinne „politische“ Informationen in die Nähe von Archiv und Kanzlei. 3. Tugendkataloge und andere personenbezogene Bemerkungen im Liber pontificalis . Vor dem Hintergrund dieser Struktur der „Viten“, die weniger als hagiographische Viten des frühen Mittelalters der paganen, jüdischen und frühchristlichen Tradition der Spätantike verpflichtet sind 28 , wird deutlich, daß nicht nur die Zuordnung zu einer Gattung problematisch ist, sondern auch die Tatsache, daß personenbezogene Angaben eher in den Passagen zum „politischen Wirken“, seltener in den sogenannten Geschenklisten erscheinen. Was sind zunächst die Aufzählungen der Eigenschaften, die ich verkürzend und nicht ganz treffend als „Tugendkataloge“ bezeichne, zu interpretieren? Die Tradition solcher Charakterisierungen, von denen eine zu Beginn angeführt wurde, ist vielfach nachgewiesen. Über die pagane Literatur im Imperium Romanum, die „Passiones apostolorum“ und andere Texte können diese bis ins hellenistische Griechenland zurückverfolgt werden. Elogien finden sich in klassischen Texten vielfach am Ende einer Personenwürdigung 29 , im Liber pontificalis stehen sie oft am Anfang, spätestens nach der Erhebung des Papstes. Zu den dort angesprochenen Eigenschaften kann zuweilen auch die Charakterisierung des Äußeren zählen. Gerhard B. Ladner nennt dies [173/ 174] „Ikonismus“ und versteht darunter die Beschreibung einiger äußerer Merkmale, die nicht ausgesprochen individuell sein müssen, sondern eher in Form eines Steckbriefes aufgezeichnet wurden 30 . Daß trotz solcher nur knappen Merkmale 26 Vgl. C A S P A R , Geschichte 2 (wie Anm. 24), S. 732 und 775. 27 Vgl. z. B. Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) S. CLXII und CCXLIII-CCXLV. 28 Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen zum frühen Mittelalter von Sofia B O E S C H G A J A N O , L’agiografia, in: Morfologie sociali e culturali in Europa fra tarda antichità e alto medioevo II (Settimane di Studio 45, 1998) S. 797-843 und den Überblick von Martin H E I N Z E L M A N N , Funktion des Wunders (wie Anm. 5); vgl. auch oben Anm. 5. 29 Paul K I R N , Das Bild des Menschen in der Geschichtsschreibung von Polybios bis Ranke (1955) S. 44-48, auch mit mittelalterlichen Beispielen aus dem Frankenreich des 9. Jahrhunderts. 30 Gherardo L A D N E R , I ritratti dei papi nell’antichità e nel medioevo, 1: Dalle origini fino alla fine della lotta per le investiture (Monumenti di antichità cristiana 2.4, 1941) S. 67 f. (hier nach der italienischen Ausgabe zitiert, vgl. die deutsche Ausgabe: Gerhart B. L A D N E R , Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, 1: Bis zum Ende des Investiturstreits [Monumenti di antichità cristiana 2.4, 1941]) (bei Ladner Rückgriff auf J. Fürst und A. Schenk), vgl. auch den 3. Band mit aktualisierten Nachträgen D E R S ., Die Papstbildnis- <?page no="156"?> 156 Heiligenkulte und Hagiographie zur Person nicht ein Typus, sondern das Individuum erfaßt werden sollte, und der Ikonismus zugleich auf Bild und Text zielt, belegt eine Passage des um 840 geschriebenen „Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis“. Dort heißt es sinngemäß: Wenn jemand frage, woher man dies alles wisse, so sollte er erfahren, daß die bildliche Darstellung es den Schreiber gelehrt habe 31 . Der römische Liber pontificalis scheint auf den ersten Blick in dieser Hinsicht jedoch weniger einschlägig als der Ravennater zu sein. Hier geht es nicht nur um Beschreibungen des Äußeren. Daher seien zunächst einige Beobachtungen hervorgehoben, die zugleich das schubweise Eindringen personenbezogener Bemerkungen in das Textcorpus des Liber pontificalis verdeutlichen. Die dürren Texte zu den frühen Päpsten werden erstmals unter Severinus (640-642) mit Angaben tugendhafter Eigenschaften zur Person erweitert: „Er war heilig, gütig gegenüber allen Menschen, ein Liebhaber der Armen, freigebig und sehr milde“ 32 . Seit dieser Zeit werden solche Tugendkataloge ein fast fester Bestandteil der [174/ 175] knappen Skizzen. Ob der seit dem Pontifikat des folgenden Papstes, Theodor (642-649), zunehmende griechisch-orientalische Einfluß in Rom diese Tendenz verstärkte, ist unsicher, aber durchaus denkbar. Die Elogien sind keinesfalls immer gleichförmig; so hebt etwa der Autor der Vita Leos II. (682-683) dessen Qualitäten in Gesang und Psalmodie oder dessen Kompetenz in der griechischen Sprache hervor 33 . Johannes VII. (705-707), griechischer Herkunft, wird als Freund der Künste und bildlicher Darstellungen charakterisiert. Sein Bild, so steht es im Liber pontificalis, könne man in der Basilica S. Maria Antica in Rom sehen 34 . Die Vita verzeichnet weiterhin, Johannes sei im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sergius I. (687-701) humana fragilitate timidus gewesen. Hiermit fügte der Schreiber ein weiteres freilich von Rufin entlehntes 35 persönliches Merkmal hinzu 36 . Obwohl Sansterre diese Charakse des Altertums und des Mittelalters 3: Addenda et corrigenda, Anhänge und Exkurse; Schlusskapitel: Papstikonographie und allgemeine Porträtikonographie im Mittelalter (Monumenti di antichità cristiana 2.4, 1984) S. 18-35; B E R S C H I N , Personenbeschreibung (wie Anm. 10) S. 190. 31 Agnellus: Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, ed. Oswald H O L D E R - E G G E R (MGH SS rer. Lang., 1878) S. 265-391, S. 348: Et si fortasse quis secum cogitet, dicat aut alios interroget, quomodo iste vel unde scire poterat horum sanctorum effigies, quales fuerunt illi, si macilentes, si pingues, nulla dubitatio inde adcrescat, quia pictura insinuat mihi illorum vultus. 32 Erat autem sanctus, benignus super omnes homines, amator pauperum, largus, mitissimus, Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 1 S. 329; vgl. auch die knappen Bemerkungen der insgesamt stärker auf das Spätmittelalter zielenden Beobachtungen von Heinrich S C H M I D I N G E R , Das Papstbild in der Geschichtsschreibung des späteren Mittelalters, Römische Historische Mitteilungen 1 (1958) S. 106-129, bes. S. 110 f. 33 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm.1 ) 1, S. 359, vgl. B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 118 f. 34 L A D N E R , Ritratti (wie Anm. 30) S. 88-95 mit den entsprechenden Abbildungen. 35 Rufinus, Hom. in Iud. IX 1: duo quaedam dicta sunt, quibus arguitur humana fragilitas, id est timidi et formidolosi corde. Ich danke Herrn Dr. B. Vogel für die Feststellung dieser und weiterer Similien. 36 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 1, S. 386, zu Abschluß der Vita. <?page no="157"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 157 teristik durch eingehende Interpretation des ikonographischen Programms nicht bestätigen kann 37 , so bleibt interessant, wie der Schreiber durch personenbezogene Aussagen politisches Handeln verdeutlichen, nicht unbedingt nur literarisches Wissen dokumentieren will. Es geht hier weniger um „Wahrheit“ als um neue Formen der Wahrnehmung. Schon diese wenigen Hinweise zeigen: Die Tugendkataloge der Päpste heben nicht notwendigerweise immer dasselbe hervor, sind nicht nur „Schablonen“. Dennoch bleibt richtig, daß sich viele Elogien ähneln, auf biblische Modelle oder andere literarische Vorlagen zurückgeführt werden können, ohne daß ich dies hier im einzelnen vorführen kann 38 . Trotz [175/ 176] bisheriger Nachweise bleiben Aufgaben, die Similien und Abhängigkeiten oder modern, die „Intertextualität“ einzelner Passagen noch besser als bisher zu verdeutlichen 39 . Die für mein Thema ergiebigeren „Viten“ des 8. und 9. Jahrhunderts bieten neue Tendenzen. Einen weiteren Schritt zur individuelleren Gestaltung hat die Forschung für die Zeit seit 715 erkennen wollen 40 , schon die zunehmende Ausführlichkeit der Texte sticht ins Auge. Seit Hadrian I. (772-795) gibt es nicht nur tüchtige, sondern sogar schöne Päpste: elegans et nimis decorabilis persona, heißt es. Ähnliches wird über Paschalis I. (817-824), Gregor IV. (831-841), ja auch von Nikolaus I. (858-867) berichtet, der aspectu pulcher gewesen sei. Für manche war dies ein Grund für sehr weitreichende Schlüsse. So hat der Ausdruck aspectu pulcher vor einiger Zeit eine Autorin dazu verleitet zu behaupten, hiermit könne ursprünglich nur die Päpstin Johanna gemeint gewesen sein, denn Schönheit sei keine Bezeichnung für einen männlichen Papst. Die Tradition solcher Charakterisierungen spricht jedoch gegen ihre Ansicht 41 . Ein weiterer Aspekt gewinnt seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, besonders seit der Vita Hadrians I., an Bedeutung. Nun werden sogar die Bemerkungen zu päpstlichen Stiftungen mit Bestandteilen aus Elogien ver- 37 Jean-Marie S A N S T E R R E , Jean VII. (705-707). Idéologie pontificale et réalisme politique, in: Rayonnement grec. Hommage à Ch. Delvoye, hg. von Lydie H A D E R M A N N - M I S G U I C H / Georges R A E P S A E T / Guy C A M B I E R (1982) S. 377-388, korrigiert das Bild vom schwachen Papst, vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 15) S. 188. 38 Da mit Hilfe der neuen elektronischen Möglichkeiten Similien leichter festzustellen sind, könnte eine derartige Revision aller „Viten“ durchaus weitere eindrückliche Funde zutage fördern, die zugleich auch die Diskussion über die Entstehung des Liber pontificalis erneut anregen könnten. 39 Vgl. hierzu vor allem Gérard G E N E T T E , Palimpsestes. La littérature au second dégré (1982). - Vgl. zur Aufbereitung der hagiographischen Literatur unter dem Konzept der réécriture, unten Anm. 71. 40 So will Walter Berschin ab 715 individuellere Züge im Papstbuch feststellen: B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 122. 41 Joan M O R R I S , Pope John VIII - an English Woman alias Pope Joan (1985); vgl. Klaus H E R B E R S , Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918 (926/ 962), Band 4: Papstregesten 800-911, Teil 2: 844-872, Lieferung 1: 844-858 (Johann Friedrich B Ö H M E R , Regesta Imperii, I., 1999), n. †335 mit weiterer Literatur. <?page no="158"?> 158 Heiligenkulte und Hagiographie sehen. Es heißt, dieser oder jener heiligmäßige Papst habe aus Liebe für eine bestimmte Institution diesen oder jenen Gegenstand gestiftet 42 . [176/ 177] Ein guter oder heiligmäßiger Papst wirkt entsprechend auch thaumaturgisch. Schon mit der Vita Martins I. (649-653) waren Wundergeschichten erstmals in eine Papstvita aufgenommen worden 43 ; Wunder, die am Papst geschehen oder die er sogar selbst erwirkt, bieten vor allem die Viten von Leo III., Paschalis I. und Leo IV.: Leo III. wird 799 wunderbar errettet, Paschalis I. bekämpft eine Feuersbrunst, die hl. Caecilia verrät ihren Ruheort, Leo IV. gebietet - wie schon Paschalis - einem Brand Einhalt und bezähmt einen Basilisken 44 . Einige dieser generellen Tendenzen seien nun noch am Beispiel der Vita Sergii II im Liber pontificalis erläutert; sie gewährt nicht nur durch zwei überlieferte Fassungen Einblick in die Werkstatt der Schreiber, sondern erschließt auch Dimensionen einer persönlichkeitsbezogenen Darstellung. Deshalb seien hier drei Textpassagen aus der Edition von Duchesne eingefügt. I. Sergius, natione Romanus, ex patre Sergio, regionis quarte, sedit annos III. Hic cum inlustri editus a matre fuisset, castis nutrimentis eum erudire ingenti coepit cum studio, ut nihil obscenum vel libidinis ab eo quisquis audire aut videre non poterat. Puerilia oblectamenta contempnebat non breviter, ita ut actibus pollere videretur piis ab omnibus, et moribus clarescere maiorum coepit nobilium, puris munitus instructusque maternis ingeniis. Igitur mater exultabat cotidie, omnipotenti Deo gratias reeferebat alacriter, qui talem sibi superno prole concessit auxilio. Duodecimo quidem aetatis suae anno obiit mater eius, migravitque ad Dominum. Qui relictus a matre, pater iam olim luce caruerat, parentum cum suis morabatur in aede fratribus. Eodem tempore urbis Rome primatum regebat ecclesiae Leo tercius, papa benignus atque praecipuus, qui generositatem huius praeclari pueri reminiseens, ac parentum eius nobilitatem recolens, ad suam iussit magno cum amore duei praesentiam. Itaque cum adductus fuisset, hilari vultu eum serenaque mente contemplare coepit, et suo supra modum placuit animo. Tunc praesul eum scolae cantorum ad erudiendum communes tradidit litteras et ut mellifluis instrueretur canti-[177/ 178]laenae melodiis. Insignis idem et sollertissimus puer celeriter omne litterarum disciplinae sumpsit ingenium, ut omnes ipsius praecelleret scolae puerulos. His auditis optimus pontifex inexplebili reple batur cotidie gaudio pro pueritiae eius benignis profectibus. Tunc eum acolitum in sancta constituit Romana aecclesia. Vicesimo autem pontificatus sui anno cum decessisset officio, Romane sacerdotium Stephanus suscepit ecclesiae; quem etiam ipse amplo cum cordis diligebat affectu, et cum eum strenue in divinis Scripturis nobiliter contemplaret velocem, protinus illi subdiaconatus concessit officium, parvoque tempore episcopatus sui administratum regimen, ecclesiae gubernacula Paschalis suscepit. A quo idem vir per omnia prudentissimus, vita, eruditione, moribus adhornatus, tituli beati Silvestri confessoris atque pontificis presbiter consecratur. Qui super omnes misericordia, studio, vigilantia atque omnibus optimis institutionibus claruit. Paschali vero defuncto, praesulatus culmen accepit Eugenius. Igitur pontifitio cum tribus perdurasset Eugenius annis, Valentinus saedis ipsius pontifex 42 Vgl. zum Beispiel zu Hadrian: Erat enim saepefatus beatissmus pontifex amator ecclesiarum Dei . . . . Hic enim coangelicus vir fecit, . . . , Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 1, S. 409. 43 B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 117 44 H E R B E R S , Mirakel im Liber pontificalis, in: Mirakel im Mittelalter (wie Anm. 5), S. 114- 134. <?page no="159"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 159 consecratur; cuius post casum ecclesiae apicem suscepit Gregorius. A quo cum diligentius praedictus vir amaretur, archipresbiterum cum in sancta ordinavit ecclesia. Qui vero cum per XVI sollertissime gubernasset ecclesiam annos, ad extrema ductus occubuit. 45 II. Erat enim origine insignis, fide purus, praedicatione liberior, Deo humilis, hominibus clarus, vultu alacris, mente alacrior, ecclesiarum gubernator, plebium ultor, pauperum fauctor, viduarum tegmen et consolator, indigentium largitor, dispersorum congregator, congregatorum conservator, inanium seculariumque rerum contemptor, solis sapientiae divitiis avidus et amator. 46 III. Cum enim esset idem pontifex imbecillis membris ob humorem podagricum, incessu pedum et pene manuum officio carebat; attamen animosus, ore incomptus et convitiis deditus, actu et sermonibus instabilis, leviter omnia faciens. Unde et adnullabant ipsum optimates Romanorum. Erat denique illius pontificis frater quidam, nomine Benedictus, brutus et stolidus valde, [178/ 179] qui propter imbecillitatem illius pontificis curam ecclesiasticam et publicam immerito usurpaverat. Cum vero esset insulsus et operibus rusticis deditus, curam ecclesiasticam et publicam necessitatem omnia in muris parietum et aedificiis diversis expendere caepit, in tantum ut diu noctuque incessanter laborando et vexando, non deficeret. 47 In der relativ ausführlichen Beschreibung zum Werdegang (Nr. I) verweisen die ersten Daten auf die vornehme Herkunft (es war dieselbe Familie, der auch Stephan IV. und später Hadrian II. angehörten). Sie wird ausschließlich auf die mütterliche Linie zurückgeführt. Kindliche Spiele interessierten den künftigen Papst nicht, sondern das Vorbild der edlen Vorfahren. Die Mutter erzieht, bis sie im 12. Lebensjahr des Sohnes stirbt. Mit seinen Brüdern lebt Sergius im Haus seiner Eltern. Papst Leo III. wird auf das Kind aufmerksam, auf dessen generositas und auf die nobilitas der Eltern, bestellt Sergius zu sich und mustert ihn hilari vultu . . . serenaque mente, er kommt zu einem positiven Ergebnis. Zur Erziehung gelangt Sergius in die Schola cantorum, um die litterae und den Gesang zu studieren. Sergius lernt schnell, überragt schon bald seine Mitschüler. Täglich freut sich Leo III. über den Jungen. Sergius wird Akolyth, und nach dem Tod Leos III. verfolgt Stephan IV. die Entwicklung und die Laufbahn ebenso wohlwollend. Wenig später macht Paschalis I. ihn zum Kardinalpriester von S. Martino ai Monti. Nach Eugen und Valentinus wird Sergius dann unter Gregor IV. Erzpresbyter. Diese Beschreibung des Werdegangs, die nicht mit Hinweisen auf Charaktereigenschaften - auch bei den ihn fördernden Mentoren - spart, führt zwangsläufig zur Wahl und Erhebung des Sergius, auch gegen den Konkurrenten Johannes. Nach dem Bericht über die Erhebung folgt ein weiteres Elogium (Nr. II 48 ), das insgesamt sehr viel schematischer wirkt. Dies ist vielleicht nicht 45 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 86. 46 Ebda. S. 87. 47 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 97. 48 Vgl. bereits oben S. 178 mit Anm. 46. <?page no="160"?> 160 Heiligenkulte und Hagiographie ganz ohne Grund so, denn hier scheint der Verfasser wesentlich mehr aus der Patristik zu schöpfen 49 . [179/ 180] Die weiteren Passagen lassen weniger Persönliches erkennen, die Stiftungsnotizen führen den Papst fast durchgehend mit Bemerkungen wie idem vero sanctissimus praesul oder ähnlich ein. Auffällig ist jedoch, daß vor allem Orte der eigenen Erziehung oder Karriere bedacht werden, so die Schola cantorum oder die ehemalige Titelkirche S. Martino ai monti. Über mehrere Kapitel zieht sich die Geschenkliste für diese Kirche hin: Der Vitenschreiber überschlägt sich fast in preisenden Bezeichnungen für den Schenker 50 . Wenig später folgt in einer von zwei überlieferten Vitenfassungen 51 die Notiz über die Krankheit Sergius’ II. (Nr. III): „Da dieser Papst wegen einer Podagra kränkelte, konnte er nicht gehen und kaum seine Hände gebrauchen. Dabei war er hitzig, redete ungepflegt, suchte Streit, war unzuverlässig in Taten und Worten und tat alles leichthin“ 52 . Es folgt eine nicht weniger deutliche Charakterisierung des Bruders Benedikt, der als Usurpator bezeichnet wird 53 . Warum äußert sich der Vitenschreiber auf einmal so negativ? Hatte Sergius Gegner? Wird dies nur an dieser Stelle ausnahmsweise, gegen den Charakter der Quellenart und nur wegen der Gunst der Überlieferung greifbar? Verweist dies auf einen Umschwung der allgemeinen Stimmung? Diese Fragen stehen hier nicht zur Entscheidung an. Wichtig ist, daß auch politisches Handeln auf persönliche Eigenschaften bezogen wird. Die individuellen Gebrechen führen zur Usurpation, sie sollen auch erklären, warum Benedikt Erfolg hat. Für unsere Fragestellung bleibt zweitrangig, ob diese zutrafen oder nicht. [180/ 181] Was läßt sich nach diesem kurzen Blick auf die Sergiusvita im Vergleich mit weiteren Lebensabrissen hervorheben? Elogienähnliche Charakterisierungen finden sich oft - wenn auch nicht immer - zu Beginn der Vita im Zusammenhang mit Jugend und Karriere und mehrfach ein zweites Mal nach dem Bericht über die Erhebung. Dieses durchaus übliche, manchmal sogar - wie bei Nikolaus I. - gedoppelte Elogium (Typus II 54 ) wirkt schematischer, schöpft häufig aus literarischen Traditionen, wird jedoch variiert und nur selten in völliger Gleichförmigkeit wiederverwendet. Hingegen wirken die Charakterisierungen 49 Vgl. besonders Rufinus, Hist. eccl. XI 9: ille in fide purus, hic in praedicatione liberior, ille deo humilis, hic etiam hominibus erat (Dank an Dr. B. Vogel für die Feststellung dieser Similie). 50 Schon an dieser Stelle sind zwei abweichende Fassungen der Sergiusvita überliefert, in einer folgt der Schreiber bezeichnenderweise der Schenkungsnotiz Paschalis’ I. für S. Prassede, vgl. H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 41) n. 47. 51 Vgl. zu diesen Fassungen Detlev J A S P E R , Romanorum Pontificum Decreta vel Gesta. Die Pseudoisidorischen Dekretalen in der Papstgeschichte des Pseudo-Liudprand, AHP 13 (1975) S. 85-119, und D E R S . , Die Papstgeschichte des Pseudo-Liudprand, DA 31 (1975) S. 17-107, bes. S. 54-73 und die Bemerkungen bei H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 41) n. 52 mit weiterer Literatur. 52 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 97, vgl. zur Übersetzung B E R - S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 131. 53 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 97 (vgl. oben S. 178, Nr. III). 54 Zu Nikolaus und der Doppelung vgl. Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 151 Z. 2-19 und 152 Z. 29 f. <?page no="161"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 161 zu Jugend und früher Karriere zumindest partiell individueller. Obwohl die Verweigerung kindlicher Spiele dies bei Sergius II. nicht belegt, so dürfte die sonst völlig unübliche Hervorhebung der Prägung durch die Mutter zumindest in gebrochener Form auch auf Realitäten verweisen. Sofern Elogien dem Bericht über Wahl und Weihe folgen, erscheinen sie dagegen meist schematischer. Sind sie in den Bericht über Jugend und Ausbildung integriert, wirken sie individueller. Wenn man überspitzt formulieren will: Ein Papst entwickelt sich als Kind individuell, ist er gewählt, besitzt er einen festen Katalog an Eigenschaften. Persönliche Charakteristika läßt weiterhin besonders die Passage zum Jahr 846 (Nr. III) erkennen. Bei allen Erklärungen, warum das Verhältnis Sergius’ II. und seines Bruders Benedikt so und nicht anders dargestellt wird, bleiben der Hinweis auf Krankheit und körperliche Defekte sowie weiterhin das vernichtende Urteil über Benedikt, der im übrigen zu Anfang der Vita - als von der Erziehung Sergius’ im Hause der Eltern mit seinen Brüdern die Rede ist - gar nicht näher gewürdigt wird. Wie schon erwähnt, finden sich solche Bemerkungen vor allem in den eher erzählenden, weniger den Geschenke auflistenden Passagen der Vita. Die Bemerkungen zu Karriere und zum persönlichen Lebensweg erscheinen jedoch in den Geschenklisten teilweise verkürzt und verändert wieder. Sergius stiftet für die Institutionen, die ihn in Jugend und zu Beginn seiner Karriere so geprägt hatten. Sergius beschenkt besonders die Schola cantorum und seine ehemalige Titelkirche. Die in den letzten Jahren intensivierten Forschungen zum Stiftungswe-[181/ 182]sen 55 haben gezeigt, in welchem Maße die Stiftungen auch den Willen der jeweiligen Auftraggeber und Stifter ausdrücken und in anthropologischer Perspektive Geberfreude und Suche nach Anerkennung verbinden 56 . Aus einigen dieser Schenkungen werden sogar - soweit ein Bildprogramm erwähnt wird - ikonographische Schwerpunkte der Päpste deutlichen, so für Johannes VII. 57 , für Leo III. 58 oder Leo IV. 59 . Für den Nachfolger des Sergius, für Leo IV. (847-855), ist eine hohe Zahl an Stifterbildern nachzuweisen. Bei insgesamt zehn Objekten findet sich der Hinweis im Liber pontificalis: de nomine domini Leonis quarti papae oder ähnlich. Diese Bezeichnungen waren nicht neu, aber die Quantität sticht hervor und läßt für die Herrschaft, aber auch die Person Leos IV. Rückschlüsse zu 60 . 55 Vgl. Michael B O R G O L T E , Die Stiftungen des Mittelalters in rechts- und sozialgeschichtlicher Sicht, ZRG Kan. 74 (1988) S. 7 1-9 4 ; Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von D E M S . (Redaktion: Wolfgang Eric W A G N E R ) (Stiftungsgeschichten 1, 2000); Ralf L U S I A R D I , Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätmittelalterlichen Stralsund (Stiftungsgeschichten 2, 2000). 56 Michael B O R G O L T E , Totale Geschichte des Mittelalters? Das Beispiel der Stiftungen. Antrittsvorlesung 2. Juni 1992 (1993) S. 17. 57 Vgl. S A N S T E R R E , Jean (wie Anm. 37). 58 L. Edward P H I L I P P S , A Note on the Gifts of Leo III to the Churches of Rome: „Vestes cum storiis“, Ephemerides Liturgicae 102 (1988) S. 72-78. 59 H E R B E R S , Leo (wie Anm. 15) S. 188-194. 60 Vgl. hierzu H E R B E R S , Leo (wie Anm. 15) S. 186. <?page no="162"?> 162 Heiligenkulte und Hagiographie Im Fall Leos IV. mag dieser persönliche Zug noch an zwei Beispielen erläutert werden: Die Leostadt in Rom und Leopolis, die während seines Pontifikates vor allem zum Schutz gegen die Sarazenen neu befestigt worden waren, trugen seinen Namen. Aber wie wurde diese Namensgebung eingeführt? Bei der Einweihung der Leostadt 852 soll der Papst drei Orationen gesprochen haben, und in der letzten steht auffälligerweise: pro civitate hac, quam ego famulus tuus, Leo quartus episcopus, te auxiliante, novae operae dedicavi, meoque ex nomine Leoniana vocatur. . . 61 . Der Vitenschreiber unterstrich den Anteil des Papstes, und der Text erscheint als Oration zumindest merkwürdig 62 . Wichtiger in unserem Zusammenhang ist [182/ 183] jedoch, daß der Schreiber hiermit zugleich das Selbstbewußtsein Leos hervorhob. 4. Ein Beispiel römischer Hagiographie im 9. Jahrhundert: die Vita Gregors des Großen Der alte Liber pontificalis brach in der Zeit kurz nach 870 ab. Waren damit die skizzierten Ansätze zu Ende? Es ist schon mehrfach hervorgehoben worden, daß in den 70er und 80er Jahren des 9. Jahrhunderts eine literarische Renaissance in Rom ihrem Höhepunkt zustrebte 63 . Ein wichtiger Träger dieser „Renaissance“ war Johannes Hymmonides, den einige Forscher sogar als Autor der Vita Hadriani im Liber pontificalis ansehen 64 . Sicher ist er jedoch der Verfasser einer Vita Gregors des Großen. Im Liber pontificalis nahm die Vita dieses bedeutenden Papstes nur etwa 15 Zeilen ein, und Erich Caspar urteilte schon: „In den bürokratischen Amtsstuben, aus denen die offiziöse Papstchronistik hervorging, fehlte es an Verständnis für den besonderen Wert dieser Persönlichkeit und 61 Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1) 2, S. 124. 62 Zur Interpretation vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 15) bes. S. 145 f. 63 Vgl. statt anderer Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 3. Karolingische Biographie 750-920 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10, 1991) S. 372. 64 Zur möglichen, aber eher unwahrscheinlichen Autorschaft vgl. Girolamo A R N A L D I , Giovanni Immonide e la cultura a Roma al tempo di Giovanni VIII, Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio evo 68 (1956) S. 33-89; S. 49 Anm. 2; Wilhelm W A T T E N B A C H / Wilhelm L E V I S O N / Heinz L Ö W E , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 4: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Italien und das Papsttum ( 1 9 6 3 ) S. 461 Anm. 307; B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 1) 2, S. 138 und bes. 3 (wie Anm. 63) S. 372 Anm. 88. Vgl. zu Autor und Werk außerdem die Studie von Helmut G O L L , Die Vita Gregorii des Johannes Diaconus. Studien zum Fortleben Gregors des Großen und zu der historischen Bedeutung der päpstlichen Kanzlei im 9. Jahrhundert (Diss. Freiburg 1940); Claudio L E O N A R D I , La „Vita Gregorii“ di Giovanni Diacono, in: Roma e l’età carolingia (1976) S. 381-393; D E R S ., L’agiografia romana nel secolo IX, in: Hagiographie. Cultures et sociétés: IV e -XII e siècles: actes du colloque organisé à Nanterre et à Paris (2-5 mai 1979) Centre de recherches sur l’Antiquité tardive et la haut Moyen Âge, Université <?page no="163"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 163 ein Stockwerk darüber, im Diakonenkolleg, herrschte sogar [. . . ] ein gewisses [183/ 184] Ressentiment gegen sein Andenken“ 65 . Vielleicht dauerte es deshalb bis zum 9. Jahrhundert, bis Johannes Diaconus (oder Hymmonides) im Auftrag Papst Johannes’ VIII. eine neue Vita Gregors des Großen verfaßte. Welches waren die causae scribendi? Das Widmungsschreiben nennt verschiedene Punkte: Es verweist zunächst auf liturgische Bedürfnisse, denn zur Vigil des hl. Gregor (am 11. März 873) habe keine ausführliche Vita vorgelegen 66 . Außerdem seien die vorhandenen Viten des Mönches von Whitby 67 und des Paulus Diaconus 68 zu kurz gewesen. Weiter heißt es, Papst Johannes VIII. habe den römischen Autor beauftragt, entsprechende Materialien des römischen Archivs zu benutzen; gemeint sind die Jahresbände des Briefregisters, die der Autor wohl in den unter Einfluß Hadrians I. angefertigten Auszügen konsultierte 69 . Johannes Hymmonides unterstreicht weiterhin, er habe die Lebensbeschreibung nicht chronologisch, sondern systematisch aufgebaut und außerdem durch bis heute erfahrbare Wunder angereichert 70 . Was in der fast 200 Spalten bei Migne umfassenden Vita aufgezeichnet wird, ist hier nicht im einzelnen vorzustellen. Unter anderem gingen Vorstellungen und Wirklichkeiten des [184/ 185] päpstlichen Rom zur Zeit Johannes VIII. in literarischer Verarbeitung in den Text ein; diese Beobachtung ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt hagiographischer Réécriture sehr interessant 71 . In diesem de Paris X (1981) S. 471-490; B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 63) 3, S. 372-387 (mit weiteren Literaturangaben). 65 C A S P A R , Geschichte des Papsttums (wie Anm. 24) 2, S. 515. 66 Vgl. den einleitenden Widmungsbrief, ed. M I G N E PL 75, Sp. 61.: Nuper ad vigilias beati Gregorii, Romani pontificis, Anglorum gentis apostoli, lectione de Paulino civitatis Nolanae praesule consuetudinaliter personante, visus es a venerabilibus episcopis, divino quodam instinctu commotus, requirere cur tantus pontifex, qui multorum sanctorum Vitas texuerat, gestis propriis in propria duntaxat Ecclesia caruisset; praesertim cum et apud Saxones, et apud Langobardorum sibi prorsus infensissimam gentem, gestis propriis ubique polleret. 67 The Earliest Life of Gregory the Great by an anonymous monk of Witby, hg. und übers. von Bertram C O L G R AV E (1968, 2 1985). 68 Hartmann G R I S A R , Die Gregorbiographie des Paulus Diakonus in ihrer ursprünglichen Gestalt, nach italienischen Handschriften, Zeitschrift für katholische Theologie 11 (1887), Edition S. 162-173. 69 Der Hinweis auf Hadrian I. findet sich in der Vita IV 71, ed. M I G N E PL 75 Sp. 223: Ex quorum multitudine primi Hadriani papae temporibus quaedam epistolae decretales per singulas indictiones excerptae sunt et in duobus voluminibus, sicut modo cernitur, congregatae. Vgl. allgemein G O L L , Vita Gregorii (wie Anm. 64) S. 15-35 (mit Diskussion der Thesen von Peitz) und Ernst P I T Z , Papstreskripte im frühen Mittelalter. Diplomatische und rechtsgeschichtliche Studien zum Brief-Corpus Gregors des Großen (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 14, 1989), vor allem S. 33-36. 70 Vgl. hierzu G O L L , Vita Gregorii (wie Anm. 64) S. 65-68, weiterhin die Beiträge im Sammelband Mirakel im Mittelalter (wie Anm. 5). 71 Vgl. zum Aspekt von réécriture und causae scribendi auch meinen Beitrag: Le Liber Pontificalis comme source de réécritures hagiographiques (IX e -X e siécles), in: La Réécriture hagiographique dans l’occident médiéval. Transformations formelles et idéologiques, hgg. von Monique G O U L L E T / Martin H E I N Z E L M A N N (Beihefte der Francia 58 , 2003) 87- <?page no="164"?> 164 Heiligenkulte und Hagiographie Sinne bedeutete Neufassung auch neues Erinnern und bedeutete, die aufgrund der neuen Zeitbedürfnisse empfundenen Defizite bisheriger Vitenfassungen auszugleichen. Päpstliche Vergangenheit wurde so auch von der Gegenwart her konstituiert 72 . Die Ausführlichkeit ermöglichte unter anderem weitere Ausgestaltungen. Die Gregorvita vermittelte einen menschlichen Papst, einen Papst zum Anfassen. Dies wird schon allein bei der Passage zur Mission bei den Angeln deutlich. Gregor der Große sieht Händler mit Knaben von heller Hautfarbe und schöner Gestalt, die in Rom auf dem Forum zum Verkauf angeboten werden. Als er die Händler fragte, woher die jungen Männer kämen, und er zur Antwort erhielt, von der Insel Britanniens, fragte der Papst, ob denn die Bewohner dieser britischen Insel noch Heiden seien. Nach Beantwortung seufzte Gregor tief und sagte: „Oh weh, wie schöne Gesichter besitzt jetzt der Fürst der Finsternis, eine so schöne Stirn trägt einen Sinn bar der Gnade Gottes“ 73 . Acriter ingemiscens heißt es. Zwar bleibt unbestritten, daß Seufzen und Klagen, aber auch das Bittgebet unter Trä-[185/ 186]nen seit der Spätantike zur Charakterisierung von Asketen, Mönchen, Bischöfen oder Päpsten verwendet wurde 74 , jedoch dürfte Seufzen und Weinen als menschliches Verhalten akzeptiert worden sein 75 . Ein Papst der seufzt, erscheint für den Leser der Vita als Mensch 76 . 107 [in deutscher Übersetzung in diesem Band 171-196]. 72 Vgl. allgemein Johannnes F R I E D , Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebildung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen M I E T H K E / Klaus S C H R E I - N E R (1994), S. 73-104; D E R S ., The Veil of Memory. Anthropological Problems when considering the Past (German Historical Institute London, The 1997 Annual Lecture, 1998); Bernd S C H N E I D M Ü L L E R , Constructing the Past by Means of the Present. Historiographical Foundations of Medieval Institutions, Dynasties, Peoples and Communities, in: Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, hgg. von Patrick J. G E - A R Y / Johannes F R I E D / Gerd A L T H O F F / Eckhardt F U C H S (Publications of the German Historical Institute, 2002), S. 167-192 und die weiteren dort versammelten Beiträge. 73 Vgl. Vita I 21, ed. M I G N E PL 75 Sp. 71: Tunc Gregorius acriter ingemiscens: Heu! Proh dolor! inquit, quam splendidas facies princeps tenebrarum nunc possidet, tantaque frontis species vacuam ab interna Dei gratia mentem gestat. Die deutsche Übersetzung folgt B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 63) 3, S. 375. 74 Zu den Gaben der Tränen vgl. Herbers, Leo (wie Anm. 15), S. 160 f. mit weiterer Literatur. - Nicht ganz sicher ist, der Autor der Gregorvita die Worte eines seufzenden Papstes sogar aus Gregors eigener Regula pastoralis entlehnte. 75 Vgl. hierzu Matthias B E C H E R , Cum lacrimis et gemitu. Das Weinen der Sieger und der Besiegten im frühen und hohen Mittelalter, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. von Gerd A L T H O F F (Vorträge und Forschungen 51, Stuttgart 2001), S. 25-52, bes. S. 29, der auf die Akzeptanz gezeigter Emotionalität verweist. 76 Es geht hier vor allem um eine Wirkungsebene des Textes. Dies berührt nur am Rande die Frage, wie echt die Emitionen überhaupt dargestellt werden konnten und inwieweit sie ausgesprochen demonstrativ waren, vgl. hierzu Gerd A L T H O F F , Empörung, Tränen, Zerknirschung. „Emotionen“ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelallters, FmSt 30 (1996) S. 60-79, bes. S. 63. Vgl. auch die Sammlung der einschlägigen Arbeiten D E R S ., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde (1997). Die <?page no="165"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 165 Bekannt ist die Beschreibung Gregors und seiner Eltern aufgrund der Gemälde im römischen Hauskloster der Familie 77 . Diese Passage der Vita hat Walter Berschin folgendermaßen übertragen: „Es wird dann auch in einer kleinen Apsis hinter dem Vorratsraum der Brüder der von der Meisterhand desselben Künstlers auf eine runde Gipsscheibe gemalte Gregor gezeigt. Er hat eine rechte und wohlgebildete Gestalt, ein Antlitz, das zwischen der Länge des väterlichen und der Rundheit des mütterlichen so die Mitte hält, daß es zugleich mit einer gewissen Rundung auf das angenehmste gelängt erscheint. Der Bart ist nach väterlicher Art rötlich und mäßig stark. Das Vorhaupt ist dermaßen kahl, daß er nur in der Mitte der Stirn zwei spärliche, nach rechts zurückgestrichene Löckchen hat. Er trägt eine runde, große Tonsur, schwärzliches, geziemend gekämmtes, bis zur Mitte des Ohrs herabreichendes Haar, hat eine schöne Stirn, hohe und lange, aber schwache Augenbrauen, zwar nicht große, aber offene Augen mit dunkler Pupille, ausgeprägte Tränensäcke. Die Nase geht von der Wurzel der zusammenneigenden Brauen fein auf, wird zur Mitte zu breiter, ist dann ein wenig [186/ 187] gebogen und springt am Ende mit offenen Nüstern vor. Er hat einen roten Mund mit vollen und gegliederten Lippen, wohlgebildete Wangen, ein von der Ecke der Kinnladen schicklich vorspringendes Kinn, dunkle und lebhafte Hautfarbe, noch nicht, wie das später eintrat, die Blässe des Magenkranken. Er hat eine sanfte Miene, schöne Hände und feine, zum Schreiben geschickte Finger . . . “ 78 . Schon Gerhard Ladner hatte unter anderem mit dieser Passage seine These vom Ikonismus weiter erläutert, eine bildliche Darstellung hatte bereits 1597 Angelo Rocca rekonstruiert 79 . Trotzdem bietet der Diakon Johannes keinen puren Ikonismus, denn er weiß mehr als das Bild verraten kann: Die Bemerkung zur Blässe des Magenkranken beruht auf der Kenntnis der Krankheit Gregors, über die Johannes vor allem im vierten Buch berichtet 80 . dort beschriebenen Beispiele zeigen, daß auch inszenierte Emotionen deshalb wirkten, weil sie tatsächlich menschliche Eigenschaften evozierten. 77 Vita IV 83 und 84, ed. M I G N E PL 75 Sp. 230 f. Vgl. die nachstehende Abbildung [im Originalbeitrag]. 78 Vita IV 84, ed. M I G N E PL 75 Sp. 230 f.: Sed et in absidula post cellarium Gregorius eiusdem artificis magisterio in rota gypsea pictus ostenditur: statura iusta et bene formata facie de paternae faciei longitudine et maternae rotunditate ita medie temperata, ut cum rotunditate quadam decentissime videatur esse deducta, barba paterno more subfulva et modica, ita calvaster, ut in medio frontis gemellos cincinnos rarusculos habeat, et dextrorsum reflexos, corona rotunda et spatiosa, capillo subnigro et decenter intorto sub auriculae medium propendente, fronte speciosa, elatis et longis, sed exilibus superciliis, oculis pupilla furvis non quidem magnis, sed patulis, subocularibus plenis, naso a radice vergentium superciliorum subtiliter directo, circa medium latiore, deinde paululum recurvo et in extremo patulis naribus prominente, ore rubeo, crassis et subdividuis labiis, genis compositis, mento a confinio maxillarum decibiliter prominente, colore aquilino et vivido, nondum, sicut ei postea contigit, cardiaco, vultu mitis, manibus pulchris, teretibus digitis et habilibus ad scribendum . . . ; zum dt. Text vgl. B E R S C H I N , Personenbeschreibung (wie Anm. 10) S. 191; vgl. auch D E R S ., Biographie und Epochenstil (wie Anm. 63) 3, S. 382 f. Vgl. außerdem L A D N E R , Ritratti (wie Anm. 30) 1, S. 70-74. 79 Vgl. L A D N E R , Ritratti I (wie Anm. 30) 1, S. 72 f. [vgl. die Abbildung im Originalbeitrag]. 80 Vgl. z. B. Vita II 18 und fast wortgleich mit Rückverweis IV 74, M I G N E PL 75 Sp. 94 und 224. <?page no="166"?> 166 Heiligenkulte und Hagiographie Johannes Hymmonides schuf mit seiner Vita ein monumentales Werk, für die biographische Literatur hat Walter Berschin den Text an die Seite von Einhards Vita Karoli gestellt 81 . Heiligkeit und ekklesiologische Muster finden hier zusammen, schließen sich nicht aus, wie Claudio [187/ 188] Leonardi hervorhebt 82 . Johannes aber zeigte humilitas. Papst Nikolaus I. und Gregor I. erscheinen zum Schluß dem Schreiber in einer Vision mit dem Vorwurf: Du schreibst von Toten, die Du zuvor im Leben nie gesehen hast 83 . Johannes Hymmonides ist kein Zeitgenosse und mit der literarischen Form der Vision entschuldigt sich der Verfasser gleichsam, daß er das Leben aus dem Abstand skizziert. Zugleich wird angedeutet, wie sehr Gregor auch für den zeitgenössischen Papst, heiße er nun Nikolaus I., Hadrian II. oder Johannes VIII., steht. Die letzten Abschnitte der Vita zeigen durchaus aktuelle Bezüge. Die Gegenwart stiftet in dieser Gregorvita des 9. Jahrhunderts die Einheit der Vergangenheit. Gleichzeitig hat Johannes Hymmonides Möglichkeiten genutzt, dem vor langer Zeit lebenden Gregor I. menschliche Züge zu verleihen und ihm dadurch näher zu kommen, daß er Materialien wie Briefe und Werke seines Helden selbst zu Rate zog. Besonders erschloß er jedoch die Persönlichkeit seines Helden durch die Art der Komposition. Wie schon angedeutet, ordnete er sein Werk nicht chronologisch, sondern systematisch: Die Regula pastoralis Gregors diente ihm als Gliederungsprinzip seiner Vita; hier griff er in subtiler Weise Persönliches dadurch auf, daß er den Aufbau eines zentralen Werkes seines Helden imitierte 84 . Die Übernahme der Struktur und die Erweiterung auf der Basis von Gregors eigenen Schriften steht auf der einen Seite, auf der anderen ergeben sich sogar Bezugspunkte zum Liber pontificalis: Eine Personenbeschreibung in ikonistischer Weise lag im Liber pontificalis schon zu Johannes VII. ansatzweise vor, bildliche Darstellungen etwa von Paschalis I. und Leo IV. könnten hinzugefügt werden, Heiligkeit und Wundertätigkeit römischer Pontifices wurden seit Martin I. (649-653), besonders aber im 9. Jahrhundert seit den Viten Leos III., Paschalis I. oder Leos IV. her-[188/ 189]vorgehoben. Die zunehmende Beschreibung körperlicher Merkmale trifft sich vielleicht mit den Entwicklungen der 81 B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil (wie Anm. 63) 3, S. 387. 82 Claudio L E O N A R D I , Pienezza ecclesiale e santità nella „Vita Gregorii“ di Giovanni Diacono, Renovatio 12 (1977) S. 51-66, bes. S. 59. 83 Vgl. u. a. Vita IV 100, M I G N E PL 75 Sp. 241. 84 Vgl. den Widmungsbrief, M I G N E PL 75, Sp. 61-62: . . . et secundum distributionem ejusdem doctoris, qua librum Regulae patoralis quadripartita ratione distinxerat. Die Edition der Regula: Grégoire le Grand, Règle pastorale, introduction, notes et index par Bruno J U D I C , 2 Bde. (Sources chrétiennes 381-382, 1992). Ein Problem bestand darin, daß die Regula im vierten Buch kaum mehr als den Prolog des Autors bietet, vgl. ebda. 2, S. 534-541. <?page no="167"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 167 Papstbildnisse in der bildenden Kunst 85 oder mit Charakterisierungen auf den Epitaphien der Päpste 86 , wie noch eingehender untersucht werden müßte. Trotzdem geht die Gregorvita des Johannes Hymmonides weit über die Skizzen des Liber pontificalis hinaus. Es gibt keine Abfolge der Amtsinhaber, es gibt keine Chronologie: Gregor ist vielleicht ein Musterpapst, der aber unter anderem durch die sachlich angeordnete Darstellungsweise individueller wirkt. 5. Fazit Ziehen wir eine kurze Bilanz: Die biographische Ausgestaltung bis hin zur ikonistischen Beschreibung Gregors I. bei Johannes Hymmonides hebt ein teilweise hagiographisches Werk hervor, das sich dem alten Liber pontificalis nur bedingt beigesellen ließ. Die ausgeklügelte Struktur deutet wesentlich stärker auf ältere Traditionen. Den antiken Unterschied zwischen Geschichte und Biographie will Walter Berschin mit Sulpicius Severus am Ende des vierten Jahrhunderts fortgesetzt sehen: als Verfasser der Chronica sei dieser Historiker, als Verfasser der Martinsvita werde er Biograph. In der Martinsvita reduzierten sich Namen und Fakten auf Exemplarisches, die Chronologie trete in [189/ 190] den Hintergrund 87 . Wenn Johannes die Vita Gregorii nicht chronologisch, sondern systematisch anordnete, dann griff auch er den alten Unterschied auf. Das Klima für die offensichtlich stärkere Rezeption antiker Modelle bot jedoch gerade die oft als Renaissance bezeichnete Epoche Johannes’ VIII., in der in Rom und Neapel ähnliche Werke geschrieben, aber auch griechische Texte ins Lateinische übersetzt wurden. Die Vita Gregorii wurde zudem von den Entwicklungen hagiographischer Texte beeinflußt. Das Widmungsschreiben gibt Auskunft über verschiedene 85 Vgl. beispielsweise die Darstellungen in S. Paolo fuori le mura, die in diesem Zusammenhang auch von kunsthistorischer Seite noch einmal erneut zur untersuchen wären, vgl. die Abb. bei L A D N E R , Ritratti (wie Anm. 30) 1, S. 39-51 und D E R S ., Papstbildnisse (wie Anm. 30) 3, S. 160-166. 86 Zu den Epitaphien vgl. allgemein Michael B O R G O L T E , Petrusnachfolge und Kaiserimitation: Die Grablegen der Päpste, ihre Genese und Traditionsbildung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 95, 1989) und die von Sebastian S C H O L Z (Mainz) zu erwartende Habilitationsschrift [Politik, Selbstverständnis, Selbstdarstellung. Die Päpste in karolingischer und ottonischer Zeit (Historische Forschungen, 2006)]; vgl. einstweilen D E R S . , Karl der Große und das „Epitaphium Hadriani“. Ein Beitrag zum Gebetsgedenken der Karolinger, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, hg. von Rainer B E R N D T (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 80, 1997) S. 273-294; S. 377 f. mit Anm. 19 f. werden hier zur Beschreibung der Person Verse des Epitaphs Theodulfs zitiert. Verse 5-10 erinnern sehr an die behandelten Elogien des Liber pontificalis. 87 Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 1. Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8, 1986) S. 211. <?page no="168"?> 168 Heiligenkulte und Hagiographie causae scribendi. Andere, heute nicht von mir vorgestellte Viten wurden aus verschiedenen Gründen verfaßt: zu Förderung eines Kultes, einer Institution, zur Erbauung oder aus anderen Gründen, über die in letzter Zeit viel diskutiert worden ist. Deshalb habe ich mit der Gregorvita nicht unbedingt einen repräsentativen hagiographischen Text interpretiert. Die Vita ist offensichtlich schwer einzuordnen, jedoch bezieht sie den in der jüngeren Forschung oft beschworenen „hagiographischen Diskurs“ ein, der sich in den verschiedensten Schriftsorten belegen läßt 88 . Neben diesem aber stehen andere Diskurse, zum Beispiel der biographische. Nähert man sich den Lebensskizzen aus dieser Perspektive, so gehören auch die Viten des Liber pontificalis keinesfalls in eine biographische Tradition, sondern basieren gerade in ihren Geschenklisten in großem [190/ 191] Maße auf Verwaltungsschriftgut, gehören teilweise zur „pragmatischen Schriftlichkeit“. Aber der biographische, persönlichkeitsbezogene Diskurs nimmt ab dem 7. Jahrhundert zu, er überlagert im 9. Jahrhundert in den letzten „Viten“ fast die zunächst noch dominierenden Geschenklisten. Wenn die Vita Leos IV. beispielsweise die Chronologie außer Kraft setzt, um über die mehrere Jahre dauernde Erbauung und Einweihung der Leostadt zu berichten, dann findet sich sogar hier ein Indiz für den Wechsel von einer durch Verwaltungsnotizen bestimmten Chronologie zur Systematik. Es geht dann nicht mehr nur um das Amt, sondern auch um den persönlichen Anteil, den ein Papst aufgrund eigener Voraussetzungen und Prägungen einbrachte und während seines Pontifikates umsetzte. Ob dies mit einem neuen Zielpublikum einherging, ist fraglich. Jedoch bereiteten die letzten Viten des alten Liber pontificalis - und dies könnte eine genauere Analyse von Similien und Vorlagen weiter präzisieren - die römische literarische Renaissance der 70er Jahre des 9. Jahrhunderts, für die Johannes Hymmonides u. a. steht, vielleicht vor, deuten zumindest Entwicklungen an. Die Texte sagen sicherlich oft mehr über die Schreiber als über die Beschriebenen, Autoren zeigen ihre literarische Bildung, aber die Schriften müssen nicht ausschließlich nur als Metatexte gelesen werden. Es geht weniger um historische Fakten als um Vorstellungen. Ob Sergius II. wirklich freimütig im Predigen war, wissen wir nicht, denn es wurde gerade an dieser Stelle nicht 88 Insofern entspricht die Vita nicht den in Anm. 5 vorgestellten Typen einer hagiographischen Vita. - Zum hagiographischen Diskurs vgl. Marc V A N U Y T F A N G H E , L’hagiographie: un ‘genre’ chrétien ou antique tardif? , Analecta Bollandiana 111 (1993) S.135-188, bes. 147 f.; Martin H E I N Z E L M A N N , Hagiographischer und historischer Diskurs bei Gregor von Tours? , in: Aevum inter utrumque. Mélanges offerts à Gabriel Sanders, publiés par Marc V A N U Y T F A N G H E / Roland D E M E U L E N A E R E (Instrumenta patristica 23, 1991) S. 237-258; mit anderem Akzent Felice L I F S H I T Z , Beyond Positivism and Genre: „Hagiographical“ Texts as Historical Narrative, Viator 25 (1994) S. 95-113, bes. S. 98-99; Marc V A N U Y T F A N G H E , Le remploi dans l’hagiographie: Une „loi du genre“ qui étouffe l’originalité? , in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto Medioevo (Settimane di Studio 46, 1999) S. 359-411, S. 362: „L’hagiographie comme telle, en effet, n’est pas un genre littéraire, c’est pluôt un langage, une écriture, un discours pouvant se greffer sur plusieurs genres ou sous genres“. <?page no="169"?> Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen 169 nur aufgeschrieben was war, sondern was sein sollte. Schon Cicero sagte ja, daß die narratio von den geschehenen Dingen berichtet, den res gestae, so wie sie sich ereignet haben oder ereignet haben könnten 89 . Aber daß im päpstliche bestimmten Rom im 8.und 9. Jahrhundert zunehmend Personen in Aussehen und persönlichem Verhalten beschrieben wurden, gehört auch zur Entwicklung von Vorstellungen über Individuen und individuelles Handeln. Das Individuum erscheint aus dieser Perspektive nicht eine „Erfindung“des 12. Jahrhunderts oder der Renaissance gewesen zu sein. 89 Cicero, Marcus Tullius: De inventione I, ed. Theodor N Ü S S L E I N (1998), 19, 22. <?page no="171"?> Der Liber Pontificalis als Quelle hagiographischer Réécritures im 9.-10. Jahrhundert I. Einleitung Der berühmte Hrabanus Maurus, dem man im 19. Jahrhundert den Titel praeceptor Germaniae gab, schrieb im 9. Jahrhundert die Autorschaft des Liber Pontificalis, einer Sammlung von Papstviten, Papst Damasus (366-384) zu. Die Hrabanus Maurus bekannte Fassung des Liber Pontificalis begann mit der Vita des Apostels Petrus, der ein an Papst Damasus andressierter Brief vorausging 1 . Nach der Synode von Soissons 866, beauftragte Erzbischof Hinkmar von Reims († 882) Egilo von Sens mit der Aktualisierung der gesta pontificum ausgehend vom Pontifikat Sergius’ II. († 847), da eine solche in istis regionibus noch fehle 2 . Als man in der Mitte des 9. Jahrhunderts in Rom für das Kloster Redon um Reliquien eines Papstes ersuchte - es wurden schließlich jene des Papstes Erschienen unter dem Titel: Le Liber Pontificalis comme source de réécritures hagiographiques (IX e -X e siécles), in: La réécriture hagiographique dans l’Occident médiéval (Beihefte der Francia 58), hg. v. Monique G O U L L E T u. Martin H E I N Z E L M A N N , © Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2003, 87-107. Aus dem Französischen übertragen von Gordon Blennemann. 1 . . . legitur in codice quem Damasus de episcopis Romanae ecclesiae petente Hieronymo presbytero conscripsit . . . schreibt Hrabanus Maurus in seinem Traktat über die Chorbischöfe: M I G N E , PL 110, 1197; vgl. zu Hrabanus Maurus die Beiträge im Band: Hrabanus Maurus: Lehrer, Abt und Bischof (Akad. der Wiss. und der Literatur, Geistes- und Sozialwiss. Klasse, Abh. 4), hg. v. Raymund K O T T J E u. Harald Z I M M E R M A N N , Wiesbaden 1982. Die Zuschreibung des Textes an Papst Damasus bezieht sich auf Hieronymus’ Brief an Damasus, der dem zweiten Teil des Liber pontificalis (künftig LP) vorausgeht, vgl. Le Liber pontificalis, ed. Louis D U C H E S N E , Texte, introduction et commentaire, 2 Bde., Bd. 3 hg. v. Cyrille V O G E L , Paris 1886-1892, 1957; Brief an Damasus: I 117. Zum Hrabanus Maurus-Zitat vgl. die Ergänzungen durch Vogel im dritten Band 51. Ich danke Frau Maschmann, Frau Keller sowie vor allem Monique Goullet und Martin Heinzelmann für die Durchsicht des Textes und ihre Vorschläge. 2 Hinkmar von Reims, Briefe (MGH Epistolae VIII), ed. Ernst P E R E L S , Hannover 1939, 194 Nr. 186 . . . ut non obliviscamini impetrare gesta pontificum ab initio gestorum Sergii papae, in quibus invenitur Ebo fuisse damnatus, usque ad praesentem annum istius praesulatus, quia nos in istis regionibus satis hoc indigemus. Vgl. zur Synode von Soissons Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860-874 (MGH Concilia IV), ed. Wilfried H A R T M A N N , Hannover 1998, 201-228. Zur Verbreitung des LP nördlich der Alpen vgl. bereits Max B U C H N E R , Zur Überlieferungsgeschichte des „Liber pontificalis“ und zu seiner Verbreitung im Frankenreiche im 9. Jahrhundert, Römische Quartalschrift 34 (1926), 141-165. Vgl. auch die in den Anmerkungen 8 und 27 zitierte Literatur. <?page no="172"?> 172 Heiligenkulte und Hagiographie Marcellinus -, stützte man sich bei der Redaktion der Texte, die uns über diese Ereignisse unterrichten, auf die Vita Marcellini des Liber Pontificalis 3 . Der Liber Pontificalis war im Westeuropa des 9. Jahrhundert mithin als Grundlagentext und Referenz bekannt. Wie wurde er aber genutzt? Verfolgten Hrabanus Maurus, Hinkmar und die Delegation des Klosters Redon dieselben Absichten? Im Falle der Translation der Marcellinus-Reliquien war das Ziel vor allem liturgischer Natur: Lediglich die Vita des Papstes wurde als Quelle verwendet 4 . Der Liber Pontificalis als Gesamttext wurde nicht in Betracht gezogen. Hinkmar demgegenüber interessierte sich für die gesta der Päpste. Es ist daher notwendig, zwischen den einzelnen Viten der Päpste und der Sammlung der Viten als Ganzes zu unterscheiden. Dabei handelt es sich allerdings um eine heikle Aufgabe. Nimmt man den von Louis Duchesne 5 edierten Gesamttext in den Blick, so werden die Probleme schnell sichtbar. Das Textensemble steht nicht allein für die Einzelviten sondern repräsentiert zugleich ein Dossier ganz eigener Art: Es handelt sich um die Textsammlung einer Institution, die sich über die Abfolge dieser Viten selbst definiert. Es ist daher wichtig, das Werk aus der Sicht seiner einzelnen Teile, d. h. der Papstviten zu behandeln, die darauf hin befragt werden müssen, ob sie dem zugehören, was gemeinhin als „Hagiographie“ bezeichnet wird. Zugleich muss das Werk mit Blick auf das Textensemble, das es bildet, betrachtet werden. Wie die Bitten des Hrabanus Maurus und Hinkmars unterstreichen, wurde der Text im übrigen nicht nur angefordert sondern tatsächlich genutzt. Daher stellt sich die Frage nach den Modalitäten seiner Übernahme und Überarbeitung oder sukzessiven Réécriture. In Übereinstimmung mit dem im Vorwort [des Bandes] gegebenen Definitionen verstehe ich unter Réécriture „den Vorgang der Neufassung eines Textes, um dessen Form zu verbessern oder ihn in Hinblick auf andere Texte, bestimmte Leser etc. anzupassen“. Diese Form der Réécriture stellt eine bewusste Handlung dar und kann mitunter auf einen Absatz oder einen Satz begrenzt sein 6 . Zugleich muss aber eingeräumt werden, 3 Klaus H E R B E R S , Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts - Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27), Stuttgart 1996, 375 (mit den entsprechenden Literaturangaben). - Zum bretonischen Kontext vgl. Joseph-Claude P O U L I N , Le dossier hagiographique de saint Conwoion de Redon. A propos d’une édition récente, Francia 18/ 1 (1991), 139-160. 4 Siehe unten, 180. 5 Le LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1); vgl. die Edition mit späteren Ergänzungen: Liber pontificalis nella recensione di Pietro Guglielmo e del card. Pandolfo, glossato da Pietro Bohier, vescovo di Orvieto (Studia Gratiana 21-23), ed. Ulderico P ˇ R E R O V S K Ý , 3 Bde., Rom 1978. 6 Siehe Monique G O U L L E T / Martin H E I N Z E L M A N N , Avant-propos, in: La réécriture hagiographique dans l’Occident médiéval. Transformations formelles et idéologiques (Beihefte der Francia 58), hg. v. D E N S . , Ostfildern 2003, 7-14, 12f. mit Anmerkung 28 (Zitat der Definition des Robert). Vgl. außerdem: Manuscrits hagiographiques et travail des hagiographes (Beihefte der Francia 24), hg. v. Martin H E I N Z E L M A N N , Sigmaringen 1992; L’hagiographie du haut Moyen Âge en Gaule du Nord. Manuscrits, textes et centres <?page no="173"?> Der Liber pontificalis 173 dass die Begriffe Überarbeitung und Réécriture letztlich gleichbedeutend sind. Die Neufassung (Hypertext) formt im Allgemeinen einen zuvor existierenden Text (Hypotext) um 7 . Die Übernahme umfasst dem gegenüber laut Marc van Uytfanghe „Sachverhalte, die meist kaum voneinander zu unterscheiden sind (Plagiat, Anleihen, Reminiszenzen, strukturelle Ähnlichkeiten, gedankliche Gemeinsamkeiten)“ 8 , die allerdings die identische Weiternutzung älterer Elemente gemein haben. Es handelt sich somit um nur eine der möglichen Vorgehensweisen im Rahmen der Réécriture wie jeder Form der Textproduktion überhaupt. Die Réécriture hat die Verjüngung eines Textes zum Ziel, indem sie in ihm Veränderungen unterschiedlichster Kategorien einbringt. Im Unterschied dazu zielt die Übernahme darauf ab, in einen Text Anleihen aus einem anderen Text zu integrieren, ohne dass dabei Veränderungen vorgenommen werden. Es hier nicht möglich, den Liber Pontificalis einer umfassenden und detaillierten Analyse zu unterziehen. Ich beschränke mich darauf, ausgehend von einer Auswahl an Texten des 9. und 10. Jahrhunderts einige Perspektiven auf die in ihm zu findenden Réécritures aufzuzeigen. Bevor ich aber mit der eigentlichen Untersuchung beginne, werde ich kurz den Gesamttext vorstellen und dabei vor allem die Frage stellen, inwiefern der Liber Pontificalis überhaupt als hagiographischer Text angesehen werden kann (II.). Die Beispiele, die ich in den beiden Hauptteilen analysiere, betreffen nacheinander die Réécriture einiger Papstviten (III.) sowie die Réécriture bezogen auf den Gesamttext und wichtige Einzelabschnitte des Liber (IV.). Sie geben mir die Möglichkeit, einige allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen (V.). II. Der Liber Pontificalis, ein hagiographischer Text? Zwischen Personen und Institution a) Genese, Zusammenstellung und Struktur der einzelnen Teile Der ältere Liber Pontificalis bietet bis zum 9. Jahrhundert ein Ensemble von mehr als 100 vitae. Der Titel selbst ist nicht zeitgenössisch. Gesta oder Chronica pontificum, oder Liber episcopalis in quo continentur acta beatorum pontificum Urbis Romae, und auch Chronica Damasi sind die gängigen Bezeichnungen, bevor man de production (Beihefte der Francia 52), hg. v. Martin H E I N Z E L M A N N , Stuttgart 2001. Vgl. auch die übrigen Beiträge im Band La réécriture. 7 Diese Terminologie basiert auf Genette, vgl. G O U L L E T / H E I N Z E L M A N N , Avantpropos (wie Anm. 6), 11 mit Anm. 21, unten Anm. 81 und Marc V A N U Y T F A N G H E , Le remploi dans l’hagiographie: Une »loi du genre« qui étouffe l’originalié? , in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto Medioevo (Settimane di Studio del centro italiano di studi sull’Alto Medioevo [künftig: Settimane . . . ] 46), Spoleto 1999, 359-411, 371 (mit Anm. 49). 8 V A N U Y T F A N G H E , Remploi (wie Anm. 7), 362. <?page no="174"?> 174 Heiligenkulte und Hagiographie seit dem 12. Jahrhundert und verstärkt seit dem 15. Jahrhundert vom Liber Pontificalis spricht 9 . Der Großteil der Notizen, auf die die Bezeichnung gesta besser passt als vitae 10 , sind nach dem selben Schema aufgebaut: Papstname, Herkunft, Dauer des Pontifikats, variierende Informationen über den Pontifikat, die allerdings umso detaillierter werden, je mehr man in der Zeit voranschreitet. Darauf folgen Ausführungen über Beschlüsse zur kirchlichen Disziplin und Liturgie, Schenkungen, Ordinationen, der Tod, das Begräbnis und die Dauer der Sedesvakanz. Die Mehrheit dieser vitae wurde somit nicht als hagiographischer Text angelegt. Sie verfolgen ein anderes Ziel. Der Liber Pontificalis steht in vor allem in Italien verbreiteter byzantinischer Tradition 11 . Aus dem Frühmittelalter kennen wir außerhalb von Byzanz keine weitere Institution, die über eine Sammlung dieses Typs verfügte. Dennoch wurde das Schema vor allem durch Institutionen wie Bistümer und Klöster imitiert und modifiziert 12 . 9 Vgl. Albert B R A C K M A N N , Der Liber Pontificalis, in: Realenzyklopädie, 3, 1902 (ND: D E R S ., Gesammelte Aufsätze, Köln/ Graz 2 1967), 383-396 (383 zu den unterschiedlichen Titeln); Ottorino B E R T O L I N I , Il »Liber Pontificalis«, in: La Storiografia altomedievale 1 (Settimane . . . 17/ 1), Spoleto 1970, 387-456 (grundlegender Artikel mit sehr ausführlicher Diskussion der mittelalterlichen Titel und Handschriften, vgl. vor allem 403-416); zur Zuschreibung an Anastasius Bibliothecarius seit Platina vgl. Girolamo A R N A L D I , Come nacque la attribuzione ad Anastasio del »Liber Pontificalis«, in: Bullet. stor. ital. 75 (1963), 321-343; zur allgemeinen Orientierung: Horst F U H R M A N N , Papstgeschichtsschreibung. Grundlinien und Etappen, in: Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Wissenschaftliches Kolloquium zum hundertjährigen Bestehen des DHI in Rom, Tübingen 1989, 141-191; Françoise M O N F R I N , Liber pontificalis, in: Dict. historique de la papauté, Paris 1994, 1042-1043; H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 12-17. 10 Vgl. Michel S O T , Gesta episcoporum. Gesta abbatum (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, fasc. 37), Brepols 1981; zudem sollte zwischen „res gestae“ und „narratio rerum gestarum“ unterschieden werden, vgl. Hans-Werner G O E T Z , Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Orbis mediaevalis - Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 1999, 134-159. 11 Vgl. S O T , Gesta (wie Anm. 10), 32f. Vgl. beispielsweise für Ravenna: Agnellus, Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, ed. Oswald H O L D E R - E G G E R (MGH Script. rer. Lang.), Hannover 1878, 265-391; Johannes Diaconus, Gesta episcoporum Neapolitanorum, ed. Georg W A I T Z (MGH Script. rer. Lang.), Hannover 1878, 398-435 (vgl. die Edition von Bartolomeo C A P A S S O , Monumenta ad Neapolitani ducatus historiam pertinentia I, [Neapel 1881], 145-225). Zur byzantinischen Tradition und der Bedeutung dieser Quelle für die byzantinische Geschichte vgl. Peter S C H R E I N E R , Der Liber Pontificalis und Byzanz: Mentalitätsgeschichte im Spiegel einer Quelle, mit einem Exkurs: Byzanz und der Liber Pontificalis (Vat. Gr. 1455), in: Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag, hg. v. Karl B O R C H A R D T u. Enno B Ü N Z , Stuttgart 1998, 1, 33-48. 12 Vgl. S O T (wie Anm. 10), 33-41; Gesta entstehen zunächst am häufigsten in der Gallia, vgl. Heinz H O R M A N N , Profile der lateinischen Historiographie im zehnten Jahrhundert, in: Il secolo di ferro: Mito e realità del secolo X, 2 (Settimane . . . 38), Spoleto 1991, 837-905, 850-853; vgl. auch die vorhergehenden Anmerkungen sowie Dirk S C H L O C H T E R M E Y - E R , Bistumschroniken des Hochmittelalters. Die politische Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung, Paderborn u. a. 1998, besonders 13; als Beispiel aus dem 9. Jahrhundert vgl. die Gesta abbatum Fontanellensium: Chronique des abbés de Fontenelle (Saint- <?page no="175"?> Der Liber pontificalis 175 Wie verlief die Genese dieses Buchs? Seit den Untersuchungen Louis Duchesnes 13 stimmt der Großteil der Forscher darin überein, dass der ursprüngliche Liber Pontificalis im 6. Jahrhundert verfasst wurde, gefolgt von sukzessiven und jeweils zeitgenössischen Schreibphasen bis ins 9. Jahrhundert. Diese erste Rezension umfasst die Lebensbeschreibungen bis zu Hormisdas (514-523) und wurde bis zu Silverius († 537) fortgesetzt. Diese erste Textschicht ist lediglich als Rekonstruktion greifbar 14 . Die handschriftliche Überlieferung reicht lediglich bis zur zweiten Rezension der Sammlung zurück. Der ursprüngliche Liber Pontificalis wurde mindestens bis zu Anastasius II. (496-498) aufgrund älterer Quellen erarbeitet. Der Text basiert auf Bischofslisten, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen und im Kontext polemisch-theologischer Kontroversen erstellt wurden. Zugleich verfügte man über kommemorative Verzeichnisse wie die Depositio martyrum (in den Chronographus anni 354 integriert) 15 . Man könnte weitere Kataloge des 5. Jahrhunderts hinzufügen, die im Streit um die Donatisten zum Einsatz kamen. Außerdem dienten Texte wie die Dekretalensammlungen, die Verzeichnisse der tituli und verschiedenste hagiographische Texte vor allem für die Viten von Petrus, Clemens, Calixt, Urban und anderer als Vorlage. Der zweite, im 6. oder spätestens ab dem 7. Jahrhundert entstandene Teil des Liber Pontificalis versammelt mehr zeitgenössisch verfasstes oder zusammengestelltes Material, behält dabei aber eine einheitliche Struktur. Wandrille), ed. Pascal P R A D I É (Les Classiques de l’Histoire de France au Moyen Âge 40), Paris 1999 zur Modellfunktion des LP für die Struktur und das Vokabular (Einleitung LVI). 13 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), introduction. Vgl. Cyrille V O G E L , Le »Liber Pontificalis« dans l’édition de Louis Duchesne. État de la question, in: Monseigneur Duchesne et son temps, Actes du colloque 23-25 mai 1973 (Collection de l’École française de Rome 23), Rom 1975, 99-127 und die übrigen Beiträge in diesem Band. Vgl. die Einleitungen zu den Übersetzungen von Raymond D AV I S , The Book of Pontiffs (Liber pontificalis): The Ancient Biographies of the First Ninety Roman Bishops to A. D. 715 (Translated Texts for Historians, Latin series 5), Liverpool 1989; D E R S . , The Lives of the Eighth-Century Popes (Liber pontificalis): The Ancient Biographies of nine popes from A. D. 715 to 817 (Translated Texts for Historians, Latin series 13), Liverpool 1992; D E R S ., The Lives of the Ninth-Century Popes (Liber pontificalis): The Ancient Biographies of ten popes from A. D. 817 to 891 (Translated Texts for Historians, Latin series 20), Liverpool 1995. 14 Unter anderem in den Quellen der zweiten Redaktion und im Catalogus Felicianus und Cononianus, vgl. B R A C K M A N N , LP (wie Anm. 9), 385-388; Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 1: Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8), Stuttgart 1986, 270-277. 15 Neben dem Chronographus anni 354 sind dies vor allem der Liber generationis des Hippolytus, die Notitia regionum urbis Romae, der Catalogus Liberianus oder Filocalianus, vgl. vor allem B R A C K M A N N , LP (wie Anm. 9), 386. Vgl. zur Rolle der römischen Märtyrer zur Zeit von Papst Damasus: Marianne S Á G H Y , Scinditur in partes populus. Pope Damasus and the Martyrs of Rome, Early Medieval Europe 9 (2000), 273-287. <?page no="176"?> 176 Heiligenkulte und Hagiographie b) Der hagiographische Diskurs im Liber pontificalis Angesichts der sehr verschiedenen Ursprünge des Materials, das nicht einheitlich der literarischen Tradition der Spätantike angehört, stellt sich die Frage, inwiefern dieser Text überhaupt der Hagiographie angehört 16 . Die Hagiographie könnte allgemein als die Gesamtheit „aller Dokumente [definiert werden], die mit dem Ziel erstellt wurden, Heilige zu ehren und ihr Andenken zu bewahren“. Das hier untersuchte Textensemble scheint allerdings nicht homogen zu sein und bildet auch kein eigenes „literarisches Genre“ 17 . Inwiefern entspricht der Liber Pontificalis dieser Definition? Einige grundlegende Elemente, wie die Depositio martyrum, stehen zweifellos in dieser Tradition. Die Viten des Liber Pontificalis haben jedoch die Besonderheit, dass sie ebenso die apostolische Sukzession der römischen Bischöfe unterstreichen und aus einer antiken Tradition schöpfen, die nicht jener der Heiligenviten entspricht, da die Texte als Ganzes darauf abzielten, eine Institution durch Personen zu beschreiben 18 . Von diesem Punkt aus betrachtet kann der Liber Pontificalis kaum als hagiographischer Text bezeichnet werden. Berücksichtigt man aber die aktuelle Forschungsdiskussion um die Bedeutung des Begriffs hagiographisches „Genre“ und die damit verbundenen Vorschläge, diesen durch den Begriff „hagiographischer Diskurs“ zu ersetzen, der als mehrere Gattungen und Untergattungen umfassende „Ausdrucksweise, Schreibstil und Diskurs“ 19 definiert wird, so finden sich auch im Liber Pontificalis Passagen, die dem hagiographischen Diskurs zuzuordnen sind. Dies betrifft nicht allein das Martyrium der ersten Bischöfe Roms. Mit- 16 Vgl. beispielsweise Sofia B O E S C H G A J A N O , L’agiografia, in: Morfologie sociali e culturali in Europa fra tarda antichità e alto medioevo II (Settimane . . . 45), Spoleto 1998, 797-843 und den Beitrag von Martin H E I N Z E L M A N N , Die Funktion des Wunders in der spätantiken und frühmittelalterlichen Historiographie, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen - Erscheinungsformen - Deutungen (Beiträge zur Hagiographie 3), hg. v. Martin H E I N Z E L M A N N , Klaus H E R B E R S u. Dieter R. B A U E R , Stuttgart 2002, 23-61. 17 Vgl. Anne-Marie H E L V É T I U S , Les saints et l’histoire. L’apport de l’hagiologie à la médiévistique d’aujourd’hui, in: Die Aktualität des Mittelalters, hg. v. Hans-Werner G O E T Z , Bochum 2000, 135-163, besonders 135. - Die klassischen Definitionen von René Aigrain und Hippolyte Delehaye, die mit dem Begriff „Hagiographie“ auch neuzeitliche Forschungen zu den Heiligen bezeichnen, lassen wir in diesem Zusammenhang unbeachtet. Einige Forscher schlagen aus diesem Grund den Begriff „Hagiologie“, der den kritischen Studien vorbehalten ist, vor, vgl. Guy P H I L I P P A R T , Hagiographes et hagiographie, hagiologes et hagiologie: des mots et des concepts, Hagiographica 1 (1994), 1-16; ebenso H E L V É T I U S , Les saints (wie in dieser Anm.), 136-137f. 18 Die Viten wurzeln somit in gewisser Weise in römischer und byzantinischer literarischer Tradition, stehen zugleich aber auch den Gesta nahe, vgl. oben 174. 19 V A N U Y T F A N G H E , Remploi (wie Anm. 7), 362. Vgl. zur Einführung des Begriffs des hagiographischen Diskurses unter anderem Marc V A N U Y T F A N G H E , L’hagiographie: un »genre« chrétien ou antique tardif? , AnalBoll 111 (1993), 135-188, besonders 147-148; Martin H E I N Z E L M A N N , Hagiographischer und historischer Diskurs bei Gregor von Tours? , in: Aevum inter utrumque. Mélanges offerts à Gabriel Sanders (Instrumenta patristica 23), hg. v. Marc V A N U Y T F A N G H E u. Roland D E M E U L E N A E R E , Steenbrugge 1991, 237-258; Felice L I F S H I T Z , Beyond Positivism and Genre: “Hagiographical” Texts as Historical Narrative, Viator 25 (1994), 95-113, besonders 98-99 (mit anderer Sichtweise). <?page no="177"?> Der Liber pontificalis 177 unter zeigt der hagiographische Diskurs sich auch in der Beschreibung des historischen Kontextes, wie dies etwa in einzelnen Passagen im zweiten Teil der Papstviten sichtbar wird. Ich nehme aus dem 9. Jahrhundert das Beispiel Leos IV. 20 , eines Papstes, der durch Visionen inspiriert wurde 21 und wundertätig war 22 . Seine Kräfte zeigten sich vor allem in liturgischen und rituellen Zusammenhängen. Zu Beginn seines Pontifikats, besänftigt Leo IV. während der Prozession zum 15. August 847 einen Drachen: Seine Predigt, sein Gebet und seine Gesten sorgen für das wundersame Ergebnis 23 und erscheinen als göttlicher Dienst. Die entsprechende Passage, die in eine Reihe von Schenkungslisten eingefügt ist, greift auf unterschiedliche Traditionen zurück. Das Resultat bestätigt die Position Marc Van Uytfanghes, für den der hagiographische Diskurs oft mehr „performativ denn informativ“ ist. Im Falle unseres Beispiels bedeutet dies, dass die Passage vor allem dazu anhält, „Gott durch eine seiner Kreaturen zu loben“ 24 . Da die Viten seit dem 7. Jahrhundert von unterschiedlichen Personen verfasst wurden, ist es kaum verwunderlich, dass der hagiographische Diskurs mit wechselnder Intensität eingesetzt wird 25 . So führte ein Feuer im Stadtteil von St. Peter, dort wo sich die scholae peregrinorum 26 befanden, bei Paschalis 20 H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 43-45 zum hagiographischen Diskurs in der Vita Leonis. 21 Vgl. zur Vision in Centumcellae H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 153-154. 22 H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 421-424. 23 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), II 110: In primo quidem pontificatus sui anno, iuxta basilicam beatae Luciae martyris, quae in Orphea sita est, in quibusdam tetris abditisque cavernis diri generis serpens, qui basiliscus grece, latine regulus dicitur, ortus est; qui flatu suo ac visione omnes qui ad easdem properabant cavernas celeriter necabat, mortisque tradebat periculo, ita ut omnes stupor ac timor invaderet, serpentis virtutem mirantes et gladium. Ipse vero beatissimus et praeclarus pontifex, hanc populi necem audiensque perniciem, in orationibus se convertit, atque ieiuniis Dominum deprecare non cessans, ut ab huiusmodi omnes interitu liberaret. Dum haec agebantur, praeclarus et celeberrimus dies advenit in quo beatae Dei genetricis semperque virginis Mariae Adsumptio caelebratur; tunc praefatus et universalis papa a patriarchio cum hymnis et canticis spiritalibus, sancta praecedentes icona, ad basilicam sancti Adriani martyris, sicut mos est, propriis pedibus cum clero perrexit. De qua regressus cum omni fidelium cetu, ad beatae genetricis Dei et domini nostri lesu Christi quae Praesepe dicitur, cum Dei laudibus, magna comitante caterva populi, properabat. Qui cum pervenisset ad locum in quo ipse sevissimus basiliscus tetris, ut iam superius diximus, iacebat cavernis, omni clero et populo stare praecepit, atque iuxta easdem cavernas properans, super foramen, unde ipsius pestiferi flatus egrediebatur serpentis, intrepide stetit; et oculos ad caelum pariter tendit et palmas, Christum qui est super omnia Deus profusis lacrimis deprecavit ut ab eodem loco diri serpentis genus sua potentia effugaret. Et data super populum oratione, Dei laudes ad basilicam quam superius memoravimus, profectus est exhibere. Ab eodem vero die, ipse mortifer basiliscus ita effugatus atque ab ipsis proiectus est antris, ut ultra in illis locis nulla lesionis eius macula appareret. Vgl. Klaus H E R B E R S , Zu Mirakeln im Liber pontificalis des 9. Jahrhunderts, in: Mirakel im Mittelalter (wie Anm. 16), 114-134, insbesondere 124-126. 24 V A N U Y T F A N G H E , L’Hagiographie (wie Anm. 19), 148-149; D E R S ., Remploi (wie Anm. 7), 408-409 (dort das Zitat). 25 H E R B E R S , Mirakel im LP (wie Anm. 23). 26 Vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 255-259; Rudolf S C H I E F F E R , Karl der Große, die <?page no="178"?> 178 Heiligenkulte und Hagiographie I. (817-824) und Leo IV. (847-855) zu sehr verschiedenen Reaktionen: ersterer bietet seine Hilfe an und wird so, trotz der Betonung göttlicher Intervention, zum „Papst als Feuerwehrmann“ 27 , während Leo IV. als Wundertätiger das Feuer durch Gebet besänftigt 28 . Die Passagen aus den beiden Viten erscheinen dennoch so unterschiedlich, dass Formen der hagiographischen Réécriture oder Übernahme kaum nachgewiesen werden können. Es kann lediglich festgehalten werden, dass der Begriff der virtus in die Vita Leos IV. eingeführt wird 29 . III. Einzelne Réécritures von Papstviten und das päpstliche Rom im 9. Jahrhundert Ich möchte nun summarisch anhand von Beispielen aus dem 9. und 10. Jahrhundert einige Fälle von Réécriture vorstellen und widme mich dabei den Unterschieden zwischen Réécriture/ Überarbeitung einerseits und Übernahme andererseits 30 . 1. Die Réécriture konnte bereits zu Lebzeiten eines Papstes beginnen. Für mehrere Päpste sind zwei Viten überliefert, die kurz nacheinander geschrieben wurden, wie z. B. für Gregor II. (715-731) oder Sergius II. (844-847). Die Unterschiede zwischen den zwei Versionen betreffen allerdings nur zum Teil den hagiographischen Diskurs 31 . Dennoch ist es sinnvoll, die beiden Versionen der schola Francorum und die Kirchen der Fremden in Rom, Römische Quartalschrift 93 (1998), 20-37. 27 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), II 53-54: Sed neque hoc silentio praetereundum esse arbitramur quod eodem tempore, diabolico operante versutia, per quorundam gentis Anglorum desidiam ita est omnis illorum habitatio, quae in eorum lingua burgus dicitur, flamma ignis exundante conbusta [. . . ]. Et dum haec ter beatissimus pontifex quasi hora noctis conticinium persensisset, subito propter amorem aecclesiae beati Petri apostoli atque tantam peregrinorum illorum devastationem nudis pedibus calciatus equester cucurrit. Qui tantam omnipotentis Dei in eius adventum misericordiam adfuit, ut locus in quo prius idem quoangelicus pontifex constitit, nequaquam ulterius impetum ignis transgredi permisit; sed ipse Dei clementia exorando et multitudo fidelium qui aderant decertando, aciem ignis Deo miserante extincta est. 28 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), II 111: Quo audito, ipse beatissimus pontifex illic celeri cursu profectus est, et obvius ante ignis impetum se praeparavit, Dominum deprecari caepit ut ipsius incendii flammas extingueret; et crucis propriis faciens signaculum digitis, amplius ignis extendere flammas non potuit; beati virtutem ferre non valens pontificis, extinctus flammas redegit in cinerem. 29 Vgl. die lateinischen Zitate in Anm. 27 und 28. Zum hagiographischen Diskurs in der Vita Paschalis’ I. siehe vor allem den folgenden Abschnitt mit den Anm. 35-36. 30 Siehe die Anmerkungen 6-8. 31 LP, ed. Duchesne (wie Anm. 1), I 396-410; II 91-101. Zu den beiden Viten des Sergius und dem Codex Farnesianus vgl. Detlev J A S P E R , Romanorum Pontificum Decreta vel Gesta. Die Pseudoisidorischen Dekretalen in der Papstgeschichte des Pseudo-Liudprand, Archivum Historiae Pontificum 13 (1975), 85-119; D E R S ., Die Papstgeschichte des Pseudo- Liudprand, Deutsches Archiv 31 (1975), 17-107, besonders 54-53 und die bei Klaus H E R - B E R S , Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918 (926/ 962), Band 4: Papstregesten 800-911, Teil 2: 844-872, Lieferung 1: 844-858 (J. F. Böhmer, Regesta Imperii, <?page no="179"?> Der Liber pontificalis 179 Vita Sergius’ II. näher zu betrachten. Die handschriftliche Überlieferung lässt nicht deutlich erkennen, welche der beiden Versionen zuerst entstand 32 . Im Codex Farnesianus wird jedoch eine Zweitversion der Vita greifbar, die auf den für die Viten im Liber Pontificalis üblichen stilisierten Lobpreis verzichtet 33 . Das Ende der Vita verrät die kritische Haltung der Fassung im Farnesianus (linke Spalte in der Edition von Duchesne). Der Autor beschreibt dort die unrechtmäßige Usurpation durch Benedikt, den Bruder des Papstes, und den Angriff der Sarazenen auf die Kirche von St. Peter. Es scheint somit, dass die Fassung des Farnesianus nur wenige Zeit danach geschrieben wurde. Die beiden Versionen bedienen sich nur teilweise des hagiographischen Diskurses. Sie interessieren sich vor allem für die Krönung Ludwigs II., für das entsprechende Konzil, für die Schenkungen an römische Kirchen oder auch für die Einfälle der Sarazenen im Jahr 846 34 . Allerdings verdient der Abschnitt zur Wiederherstellung von St. Martin und St. Silvester in unserem Zusammenhang Aufmerksamkeit, da die Restaurierung von einer Reliquientranslation von den Friedhöfen ins Innere der ewigen Stadt begleitet wird. Es ist kaum anzunehmen, dass der Autor der Fassung im Farnesianus den parallelen oder älteren Text der Vita Sergii benutzt hat. Die beiden Versionen unterscheiden sich vor allem in ihrer Art, die Namen der Heiligen, die von den römischen Friedhöfen zur restaurierten Kirche von St. Martin übertragen wurden, zu nennen 35 . Es gibt allerdings eine für unser Thema interessantere Beobachtung: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Autor des Farnesianus für die Zusammenstellung dieses Abschnitts als einziger eine I,4,2), Köln u. a. 1999, Nr. 47 und 52 zitierte Literatur. Der Großteil der Forschung neigt dazu, in den beiden Versionen zeitgenössische politische Tendenzen zu sehen. 32 Vgl. LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), II I-IV. 33 Zu solchen Elogien und deren Entwicklung vgl. meinen Beitrag: Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber Pontificalis und in römischen hagiographischen Texten, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes L A U D A G E , Köln 2003, 165-191, Wiederabdruck in diesem Band 149-169. 34 Vgl. H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), besonders Nr. 30-46 und 59. 35 Vgl. die erste Fassung (Text der rechten Spalten unserer Übersicht) mit der späteren Version: . . . ipse a Deo protectus et beatissimus papa, pia devoione sollicitus pro desiderabili dilectione sanctorum Silvestri et Martini, ecclesiam quae sancto eorum fuerat nomini consecrata, quam ab exordio sacerdotii sui usquequo ad pontificatus culmen deductus est strenue gubernavit, et per olitana tempora defecta vetustate marcuerat, ruinisque confracta diu antiquitus lacerata manebat, Dei annuente clementiam, in meliorem pulcrioremque statum a fundamentis perfecit. Absidam quoque ipsius aureis musibo perfuso coloribus ingenti amore depinxit. Et ad honorem omnipotentis Dei eiusdemque beatissimi Silvestri praesulis corpus cum beatissimo Fabiano atque Stephano et Sotere martyribus ac pontificibus, simulque Asterio martyre cum sacratissima filia eius sanctoque Ciriaco et Mauro, Largo et Szmaragdo et Anastasio et Innocentio pontificibus, una cum sancto Quirino ac Leone episcopis, pariter Artemio, Sisiano, Pollione, Teodoro, Nicrando, Crescentiano martyribus; cum quibus beata Sotere atque Paulina, necnon Nemmia, Iuliana et Quirilla, Teopiste, Sophia, virginibus atque martiribus, et beata Ciriacae vidua, cum aliis multis quorum nomina Deo soli sunt cognita, utrosque sub sacro altare dedicans collocavit. His igitur magnifice peractis, gratanti animo menteque sollicita obtulit in eadem ecclesia perenniter haec permanenda: . . . (LP, ed. D U C H E S N E [wie Anm. 1], II 93-94 für beide Versionen). <?page no="180"?> 180 Heiligenkulte und Hagiographie ältere Vita nutzte, nämlich jene Paschalis’ I., welche die Restaurierung und Reliquientranslation nach S. Prassede behandelt. Vita Paschalis’ I. Ecclesiam etenim beatissimae Christi martyris Praxedis, quae quondam a priscis aedificata temporibus, nimia iam lassata senio, ita ut fundamentis casura ruinam sui minaretur, isdem venerabilis pontifex illius ruinam ante praevidens, eidemque ecclesiae curam adhibens, illic pervigil sepius existens, in alio non longe demutans loco, in meliorem eam quam dudum fuerat erexit statum. Absidam vero eiusdem ecclesiae musibo apere exornatam variis decenter coloribus decoravit. Simili modo et arcum triumphalem eisdem metallis mirum in modum perficiens compsit. Vita Sergius’ II. (Fassung des Farnesianus) Ecclesia etenim beatissimi Martini confessoris Christi atque pontificis, quae quondam priscis aedificata temporibus, nimio iam lassata senio, ita ut a fundamentis casura ruinam sui minaretur, idem venerabilis pontifex illius ruinam ante praevidens, eidemque ecclesiae curam adhibens, illic pervigil saepius existens, in alio non longe demutans loco, in meliorem eam quam dudum fuerat erexit statum. Hic enim beatissimus et praeclarus pontifex multa corpora sanctorum dirutis in cimiteriis iacentia, pia sollicitudine, ne remanerent neglecte, querens atque inventa colligens, magno venerationis affectu in iamdictae sanctae Christi martyris Praxedis ecclesia, quam mirabiliter renovans construxerat, cum omnium advocatione Romanorum, episcopis, presbiteris, diaconibus et clericis laudem Deo psallentibus, deportans recondidit. Qui dum sanctissimi atque coangelici praesulis haec intima cordis vigilantia gererentur ut reconditorum ibidem sanctorum corporum Deo indesinenter super astra placentium precibus apud omnipotentem Dominum iuverentur, . . . (LP, ed. Duchesne II [wie Anm. 1], 54) Hic enim beatissimus et praeclarus pontifex multa corpora sanctorum dirutis in cimiteriis iacentia, pia ea sollicitudine, ne remanerent neglectui, quaerens atque inventa colligens, magno venerationis affectu in iamdicti sancti Martini confessoris Christi atque pontificis ecclesiam quam mirabiliter renovans construxerat, cum omnium advocatione Romanorum, presbyteris, diaconibus et clericis laudem Deo psallentibus, deportans recondidit. Qua dum sanctissimi atque coangelici praesulis haec intima cordis vigilantia gererentur, ut reconditorum quidem sanctorum corporum Deo indesinenter super astra placentium precibus apud omnipotentem Dominum iuvaretur, . . . (LP, ed. Duchesne II [wie Anm. 1], 93-94) Eine vertiefte Studie zu weiteren Passagen aus Viten des Liber Pontificalis dürfte weitere Übernahmen und Réécritures erkennen lassen, wie dies etwa die Analyse der Elogien zu den einzelnen Personen unterstreicht 36 . In unserem Kontext ist hervorzuheben, dass eine solche Übernahme auch in zwei Notizen zur Translation von Reliquien nach Rom vorliegt. 2. Führten die Translationen päpstlicher Reliquien, die nicht allein die römischen Friedhöfe und die Kirchen der ewigen Stadt betrafen, zur Réécriture der betreffenden Viten? Wir wissen durch die Studien Martin Heinzelmanns, Walter Berschins und anderer, dass in einer Vielzahl von Translationsberichten hagiographische Erzählungen Erwähnung finden, die zusammen mit den Reli- 36 Vgl. die Ergebnisse meines Beitrags: Personenbeschreibungen (wie Anm. 33). <?page no="181"?> Der Liber pontificalis 181 quien übermittelt wurden 37 . Für die im 8. und 9. Jahrhundert transferrierten päpstlichen Reliquien ist die Frage der Quellenlage schwierig. Man bedenke Gregor in Saint-Médard und an anderen Orten 38 , Anastasius und Innozenz in Gandersheim 39 , Calixt in Cysoing, Reims und anderswo 40 , Marcellinus in Redon 41 , Urban in Erstein und Auxerre 42 . Es existieren lediglich einige indirekte Spuren, die Auskunft darüber geben, dass die entsprechende Translation zu einer (verkürzten? ) Kopie des hagiographischen Dossiers führte, was möglicherweise sogar eine Réécriture hervorrief. Der Großteil der Volltexte wie auch der handschriftlichen Überlieferung ist verloren. 3. Wenn die Dokumentation für die Translationen nördlich der Alpen eher ungenügend ist, so stellt sich die Situation für Clemens I., den seine Translation nach Rom führte, anders dar. Die Notiz des Liber Pontificalis hatte zu ihm festgehalten: Qui etiam sepultus est in Grecia 43 . Es ist möglich, dass der Autor hierbei von der Passio Clementis beeinflusst wurde, die in der Gallia auch Gregor von Tours bekannt war 44 . 37 Vgl. allgemein Martin H E I N Z E L M A N N , Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 33), Turnhout 1979; D E R S . , Einhards „Translatio Marcellini et Petri“. Eine hagiographische Reformschrift von 830, in: Einhard. Studien zu Leben und Werk, hg. v. Hermann S C H E F E R S , Darmstadt 1997, 269-298; Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 3: Karolingische Biographie 750-920 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinische Philologie des Mittelalters 10), Stuttgart 1991, 325-326, konstatiert Verbindungen zwischen der translatio sanctorum und der translatio studiorum; Klaus H E R B E R S , Rom im Frankenreich - Rombeziehungen durch Heilige in der Mitte des 9. Jahrhunderts, in: Herrschaft - Kirche - Mönchtum 750-1050, Festschrift für Josef Semmler, hg. v. Dieter R. B A U E R , Rudolf H I E S T A N D , Brigitte K A S T E N u. Sönke L O R E N Z , Sigmaringen 1998, 133-169, besonders 136 mit weiteren Literaturhinweisen; wiederabgedruckt in diesem Band, 111-147. Vgl. auch Henri F R O S , Liste des translations et inventions de l’époque carolingienne, AnalBoll 104 (1986), 427-429 (basierend auf den Forschungsergebnissen von R. Michalowski); vgl. Hedwig R Ö C K E L E I N , Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter (Beihefte der Francia 48), Stuttgart 2002. 38 Vgl. die Translatio Sancti Sebastiani c. 15, M I G N E , PL 132, 594; vgl. zu diesen Kulttraditionen Bruno J U D I C , Le culte de saint Grégoire le Grand et les origines de l’abbaye de Munster en Alsace, in: L’hagiographie du haut Moyen Âge (wie Anm. 6), 263-295, 287 mit Anm. 80 zu Saint-Médard. 39 H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), Nr. 40 und Nr. † 41. 40 Sönke L O R E N Z , Papst Calixt I. (217-222): Translationen und Verbreitung seines Reliquienkultes bis ins 12. Jahrhundert, in: Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik, Festschrift für Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, hg. v. Klaus H E R B E R S , Hans Henning K O R T Ü M u. Carlo S E R VA T I U S , Sigmaringen 1991, 213-232; H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), Nr. 19 (mit Literaturangaben). 41 Vgl. zu dieser Translation H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), Nr. 202-203 (mit Literaturangaben). 42 Vgl. H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), Nr. 210; vgl. H E R B E R S , Rom im Frankenreich (wie Anm. 37), 140f. und 144-147. 43 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), I 123. 44 Gregor von Tours, In gloria martyrum, c. 35-36, ed. Bruno K R U S C H , in: MGH Script. rer. Mer. I, 2, Hannover 1885, 510-511. <?page no="182"?> 182 Heiligenkulte und Hagiographie Im Kontext des kirchlich politischen Disputs zwischen Byzanz und Rom 45 , der nicht allein das photianische Schisma sondern auch den Kampf um die Mission der Slaven betraf 46 , gelangten die slavischen Missionare Konstantin- Kyrill und Method 867 nach Rom zu Papst Nikolaus I. (858-867). Hadrian II. (867-872) hatte ihnen die Mission der Slaven anvertraut. Ich möchte nicht in die Einzelheiten dieses fundamentalen Ereignisses der Kirchenpolitik des 9. Jahrhunderts gehen. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist die Tatsache, dass Konstantin-Kyrill und Method 867 die Reliquien des heiligen Clemens nach Rom brachten. Auf eine Bitte des Bischofs Gauderich von Velletri hin begann der berühmte Anastasius Bibliothecarius, Teile des Dossiers zu Clemens aus dem Griechischen zu übersetzen 47 . Dieses heute verlorene Material diente Johannes Hymmondes (Johannes Diaconus) zur Abfassung seiner Vita Clementis, die sehr wahrscheinlich von Gauderich fertiggestellt wurde und von der nur Fragmente bekannt sind 48 . Es ist möglich, dass der dritte Teil dieses lateinischen Dossiers der Legenda Italica aus der Feder Leos von Ostia († 1115) entspricht 49 . Wenn Leo älteres Material als Übernahme gemäß der Terminologie M. Van Uytfanghes nutzt, so haben Johannes Diaconus und Gauderich im 9. Jahrhundert sehr wahrscheinlich eine Réécriture verfasst. Allerdings beziehen 45 František D V O R N I K , The Photian Schism. History and Legend, Cambridge 1948, ND 1970; Klaus H E R B E R S , Papst Nikolaus und Patriarch Photios. Das Bild des byzantinischen Gegners in lateinischen Quellen, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. v. Odilo E N G E L S u. Peter S C H R E I N E R , Sigmaringen 1993, 51-74. 46 Vgl. zur Mission von Kyrill und Method und zur Konkurrenz zwischen Passau, Rom und Byzanz: Egon B O S H O F , Die Regesten der Bischöfe von Passau, I: 731-1206 (Regesten zur bayerischen Geschichte I), München 1992, 37-38, Nr. 146 (mit Literaturangaben); D E R S . , Das ostfränkische Reich und die Slawenmission im 9. Jahrhundert: die Rolle Passaus, in: Mönchtum - Kirche - Herrschaft (wie Anm. 37), 51-76. Zur Lektüre der Vita Constantini im Sinne des hagiographischen Diskurses vgl. Giorgio Z I F F E R , Hagiographie und Geschichte. Die altkirchenslavische Vita Constantini, in: Rhythmus und Saisonalität, hg. v. Peter D I L G , Gundolf K E I L u. Dietz-Rüdiger M O S E R , Sigmaringen 1995, 143-150. 47 Vgl. den Brief Gauderichs in: MGH Epistolae 7, ed. Ernst P E R E L S u. Gerhard L A E H R , Hannover 1912-1928, 435-438, 436: hinc etiam viro peritissimo Iohanni (sc. Immonide) digno Chrisi levitae scribendae eius vitae actus et passionis historiam ex diversorum colligere Latinorum voluminibus institisti. Ad extremum hinc quoque mihi exiguo, ut, si qua de ipso apud Grecos invenissem Latinae traderem linguae, saepe iniungere voluisti. 48 BHL 1851 (und Supplement) mit Angabe der fragmentarischen Editionen. Vgl. allgemein Wilhelm W A T T E N B A C H / Wilhelm L E V I S O N / Heinz L Ö W E , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger IV, Weimar 1963, 472. Zu den entsprechend der verschiedenen Versionen varierenden Fragmenten und den Handschriften: Giovanni O R L A N D I , Iohannis Hymmonidis et Gauderici Veliterni, Leonis Ostiensis excerpta ex Clementinis recognitionibus a Tyrannio Rufino translati (Testi e documenti per lo studio dell’Antichità), Mailand 1968; vgl. die Rezension von Pierre D E V O S , AnalBoll 91 (1973), 456-457. 49 BHL 1851ab. Zur Version Leos von Ostia vgl. O R L A N D I , Iohannis Hymmonidis (wie Anm. 48) und Leonard B O Y L E (O. P.), Dominican Lectionaries and Leo of Ostia’s Translatio S. Clementis, Archivum Fratrum Praedicatorum 28 (1958), 362-394. <?page no="183"?> Der Liber pontificalis 183 sie sich nicht direkt auf jene kurze Notiz im Liber Pontificalis, sondern vielmehr auf anderes Material 50 . Ich überlasse die Details den Spezialisten, halte allerdings fest, dass wir im Dossiers Clemens’ einen bestimmten politisch-kirchlichen Hintergrund, ein bestimmtes römisches Klima des Papsttums im Kampf mit Byzanz und anderen Herrschaftsträgern finden. Dies war offenbar auch einer der Beweggründe für die Réécriture dieser Papstvita, die in der Form des Liber Pontificalis gewiss als allzu summarisch empfunden wurde. 4. Diese Tedenz tritt noch deutlicher hervor, wenn man das Beispiel Gregors des Großen in Betracht zieht. Der Liber Pontificalis widmet seiner Vita nicht einmal 15 Zeilen, die zudem kaum dem hagiographischen Diskurs entsprechen. Tatsächlich wird Gregor dort als Autor von Homilien und Büchern, als Organisator der Mission in Britannien, als Erneuerer der Liturgie und als Wohltäter der römischen Kirchen genannt. Zudem folgen knapp Name, Tod, Ordinationen etc. 51 . Die mit Auftrag Papst Johannes’ VIII. im 9. Jahrhundert von dem bereits erwähnten Johannes Hymmonides (oder Johannes Diaconus) geschriebene Vita Gregors ist deutlich anders. Der Autor nahm für sich in Anspruch, viel genauer und vollständiger zu sein als die kurzen Viten des Liber Pontificalis, vollständiger aber auch als der Mönch von Whitby und Paulus Diaconus, die bereits zur Réécriture des Gregor-Dossiers beigetragen hatten. Der Prolog des Johannes Diaconus ist sehr deutlich und legt die causae scribendi dieser Réécriture dar. Es sind zunächst die liturgischen Bedürfnisse. Anlässlich der Vigil zum Fest des heiligen Gregor, am 11. März 873, wurde Papst Johannes VIII. nach der Lektüre Paulinus’ von Nola bewusst, dass eine umfassende Vita zum diesem großen Papst in Rom noch fehlte, während eine solche bei den Angelsachsen und Langobarden bereits existierte 52 . Der Autor 50 Vgl. den Brief Anastasius’ an Gauderich, ed. P E R E L S / L A E H R (wie Anm. 47), 436; zur Translatio vgl. auch die Angaben zu Kyrill und Method BHL 2072, 2073 (und Supplement). Zur Translation des Reliquien Clemens’ nach Casauria (872) vgl. Herbert Z I E L I N S K I , Zu den Gründungsurkunden Kaiser Ludwigs II. für das Kloster Casauria, in: Fälschungen im Mittelalter, Teil IV: Diplomatische Fälschungen (II) (MGH Schriften 33/ IV), Hannover 1988, 67-96, 84-86; D E R S ., Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926), Band 3: Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna, Teil 1: Die Karolinger im Regnum Italiae 840-887 (888) (J. F. Böhmer, Regesta Imperii I, 3, 1), München 1992, Nr. 349; zur den bei Zielinski zitierten Quellen ist zu ergänzen: Libellus Querulus de miseriis ecclesiae Pennensis, ed. Adolf H O F M E I S T E R (MGH SS 30/ 2), Hannover 1934, 1462-1467, 1462 (um 1080 verfasst); vgl. demnächst Klaus H E R B E R S (Regesta Imperii I, 4, 3). 51 LP, ed. D U C H E S N E (wie Anm. 1), I 312. 52 Vgl. den Text des Widmungsschreibens an Johannes VIII.: Nuper ad vigilias beati Gregorii, Romani pontificis, Anglorum gentis apostoli, lectione de Paulino civitatis Nolanae praesule consuetudinaliter personante, visus es a venerabilibus episcopis, divino quodam instinctu commotus, requirere cur tantus pontifex, qui multorum sanctorum Vitas texuerat, gestis propriis in propria duntaxat Ecclesia caruisset; praesertim cum et apud Saxones, et apud Langobardorum sibi prorsus infensissimam gentem, gestis propriis ubique polleret; . . . M I G N E , PL 75, 61. Zur Vita vgl. die Studie von Helmut G O L L , Die Vita Gregorii des Johannes Diaconus. Studien zum Fortleben Gregors des Großen und zu der historischen Bedeutung der päpstlichen Kanzlei im <?page no="184"?> 184 Heiligenkulte und Hagiographie spielt hier auf die Viten des Mönchs von Whitby 53 und des Paulus Diaconus 54 an, die sich laut dem Widmungsbrief als zu kurz erwiesen, um so übernommen zu werden 55 . Papst Johannes habe Johannes Diaconus daher angewiesen, er möge doch die Materialien des römischen Archivs verwenden. Hier bezieht sich der Text sicherlich auf die Bände des Registers Gregors, die der Autor möglicherweise als Grundlage für die Redaktion solcher Passagen nutzte, die mit Auftrag Papst Hadrians I. erstellt wurden 56 . Johannes Hymmonides unterstrich im übrigen, er wolle keine chronologische Abfolge sondern eine thematische Zusammenstellung mit Hinzufügung von Mirakeln vornehmen 57 . Diese neue Vita des Johannes 58 basierte somit auf der Korrespondenz Gregors, und die Réécriture stützte sich auf ein Quellendossier, das sich vollständig von den vorhergehenden Viten unterschied, in denen die Fassung des Liber Pontificalis nicht einmal Erwähnung findet. Aufgrund seines Umfangs bietet der Text zudem Aspekte, die bereits als Form der Individualisierung bezeichnet werden können: Gerhart B. Ladner griff daher auf die physische Beschreibung des Protagonisten zurück, um den von ihm eingeführten Terminus „Ikonismus“ zu erläutern. Er versteht darunter die Beschreibung bestimmter äußerer Eigenschaften, die in einer Art „Steckbrief“ zusammengetragen werden 59 . 9. Jahrhundert, Diss. Freiburg 1940; Claudio L E O N A R D I , La »Vita Gregorii« di Giovanni Diacono, in: Roma e l’età carolingia, Rom 1976, 381-393; D E R S . , L’agiografia romana nel secolo IX, in: Hagiographie. Cultures et sociétés, Paris 1981, 471-490; B E R S C H I N , Biographie III (wie Anm. 37), 372-387. 53 BHL 3637, Anonymus von Whitby: The Earliest Life of Gregory the Great, ed. Bertram C O L G R AV E , Laurence 1968, 72-139 (Text und Übersetzung). 54 BHL 3639, Paulus Diaconus, Vita b. Gregorii: Die Gregorbiographie des Paulus Diakonus in ihrer ursprünglichen Gestalt, nach italienischen Handschriften, ed. Hartmann G R I S A R , Zeitschrift für katholische Theologie 11 (1887), 158 und 173, Text 162-173. 55 Cumque venerabiles episcopi has ab utrisque gentibus haberi quidem, sed compendiosissime, responderent. . . . M I G N E , PL 75, 61. 56 Der Hinweis auf die excerptae befindet sich in der Vita Gregorii IV 71, M I G N E , PL 75, 223: Ex quorum multitudine primi Hadriani papae temporibus quaedam epistolae decretales per singulas indictiones excerptae sunt et in duobus voluminibus, sicut modo cernitur, congregatae. Vgl. zur Diskussion um die Nutzung der Quellen des Registers und des Archivs G O L L , Vita Gregorii (wie Anm. 52), 15-35 (mit Diskussion vor allem zu P I T Z ); vgl. die Bestandaufnahme bei Ernst P I T Z , Papstreskripte im frühen Mittelalter. Diplomatische und rechtsgeschichtliche Studien zum Brief-Corpus Gregors des Großen (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 14), Sigmaringen 1989, besonders 33-36. 57 Vgl. die Praefatio: . . . exceptis illis miraculis quae nostris temporibus facta multis adhuc superstitibus, vivis vocibus celebrantur, . . . M I G N E , PL 75, 62. 58 Ich kann hier nicht dietailliert beschreiben, was in mehr als 200 Spalten dargelegt wird (M I G N E , PL 75, 61-242); zu weiteren Aspekte der Vita vgl. H E R B E R S , Personenbeschreibungen (wie Anm. 33). 59 Vgl. Gerhart B. L A D N E R , Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, I: Bis zum Ende des Investiturstreits (Monumenti di Antichità Cristiana 2, Ser. 4), Rom 1941, 70-71; vgl. Walter B E R S C H I N , Personenbeschreibung in der Biographie des frühen Mittelalters, in: Historiographie im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), hg. v. Anton S C H A R E R u. Georg S C H E I B E L R E I - T E R , München 1994, 186-193 und H E R B E R S , Personenbeschreibungen (wie Anm. 33). <?page no="185"?> Der Liber pontificalis 185 Darüber hinaus gibt es aber auch eine allgemeinere Zielsetzung: Es geht darum, durch Gregor die klassische römische Tradition hervorzuheben 60 . Johannes Diaconus unterstreicht die Einheit der römischen Tradition im Geistlichen und Weltlichen. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass der Autor vor allem die Qualitäten Gregors als guter Römer klassischer Bildung lobt. Vom Gebet Gregors für die Erlösung Trajans, die der Mönch von Whitby ausführlich in seiner Version der Vita Gregors beschrieben hatte 61 , berichtet er nur zögerlich. Dennoch gehört auch die Vita des Johannes Hymmonides dem hagiographischen Diskurs an: Das römisch-ekklesiologische Moment und das der Heiligkeit schließen sich nicht gegenseitig aus, wie dies Claudio Leonardi deutlich herausgearbeitet hat 62 . Aufgrund der Initiative Papst Johannes’ VIII. war das Werk des Johannes Hymmonides insgesamt betrachtet Ausdruck der Konzeption eines Mönchpapstes und „Grenzgängers“ zwischen dem antiken Rom und dem christlichen Rom des 9. Jahrhunderts. Diesen Aspekt lieferten weder der Liber Pontificalis noch die vorhergehenden Viten Gregors 63 . Insofern war dies eines der zentralen Anliegen dieser Réécriture des 9. Jahrhunderts. In dieser Perspektive suchte Johannes’ Werk auch die Lücken in den älteren Viten zu überdecken. Er beabsichtigte allerdings, die Position des Papsttums seiner Zeit zu stärken, indem er durch einen Akt der Erinnerung das Bild des „Modellpapstes“ Gregor I. evozierte: Papst Nikolaus I. (858-867) erscheint zusammen mit Gregor dem Großen in einer Vision, in der er den Autor dafür tadelt, über Verstorbene zu schreiben, die er nie sah 64 . Es scheint, dass Johannes Hymmonides durch die Vision den Leser um Verzeihung dafür bittet, dass er das römische Leben aus so großer Distanz beschreibt. Zugleich unterstreicht er durch diese Vision, die den Autor in die Nähe eines Papstes seiner Zeit rückt, dass Gregor auch das zeitgenössische Papsttum repäsentiert. Schließlich verdeutlichen diese Kapitel fast explizit die Idee, dass die Gegenwart der Ausgangspunkt ist, von dem aus sich die Einheit der Vergangenheit konstituiert 65 . 60 Walter Berschin vergleicht seine literarische Qualität mit Einhards Vita Karls des Großen: B E R S C H I N , Biographie (wie Anm. 37), III 387. 61 Vgl. Anonymus von Whitby: ed. C O L G R AV E (wie Anm. 54), 90; Johannes Diaconus, ed. M I G N E , PL 75, 104-106. 62 W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E (wie Anm. 49), IV 468. Claudio L E O N A R D I , Pienezza ecclesiale e santità nella Vita Gregorii, Renovatio 12 (1977), 51-66. 63 Es ist interessant, dass diese Tedenz in einer Zeit auftritt, in der der alte LP mit der Vita Hadrians endet. Vielleicht entsprach eine Vita wie die des Johannes Hymmonides eher den Bedürfnissen der Zeit und denen Johannes VIII. Vgl. die Erlanger Doktorarbeit: Dorothee A R N O L D , Johannes VIII. Päpstliche Herrschaft in den karolingischen Teilreichen am Ende des 9. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften 23/ 797), Frankfurt a. M. 2005. 64 Vita IV, 100, M I G N E , PL 75, 241-242. 65 Vgl. zu diesen Konzepten beispielsweise: Johannnes F R I E D , Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebildung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter, hg. v. Jürgen M I E T H K E u. Klaus S C H R E I N E R , Sigmaringen 1994, 73-104; D E R S ., The Veil of Memory. Anthropological Problems when considering the Past (German His- <?page no="186"?> 186 Heiligenkulte und Hagiographie Andererseits modifizierte die Réécriture, wie bereits gesagt, die Struktur des Textes: Johannes Hymmonides zeichnete seinen Protagonisten, indem er seinen Text frei von jeder Chronologie systematisch ordnete: Die regula pastoralis Gregors selbst dient ihm dabei als Plan 66 . Somit bestand seine Réécriture nicht allein darin, dass er sich auf neues Material stützte und die Briefe des Heiligen benutzte, sondern auch darin, dass er sich an dessen Denkweise selbst ausrichtete, indem er die Ordnung und Struktur der regula pastoralis imitierte 67 . Die beiden Viten Clemens’ und Gregors sind keine Einzelphänomene. Die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts zählt zu den fruchtbarsten Epochen hagiographischer Textproduktion in Rom und Neapel, vielleicht auch der Réécriture. Die literarische Produktion berücksichtigte nicht allein die Päpste sondern auch die griechischen Heiligen 68 . Man machte sich das griechische Erbe und die Tradition von Byzanz zu eigen, indem man sie übersetzte und an die zeitgenössische italische Realität anpasste. Die beiden letzten Beispiele - die Viten Clemens’ und Gregors - folgen in diesem Sinne den gewohnten causae scribendi der hagiographischen Réécriture, hier vor allem aufgrund des neuen Klimas in Rom, das ich hier nicht näher vorstellen kann. Es ist nahezu müßig zu unterstreichen, dass die Unterschiede zwischen den entsprechenden Notizen des Liber Pontificalis und den neuverfassten Viten des 9. Jahrhundert rein quantitativ gesehen gering sind: In umfassenderer Hinsicht zeigt die römische Réécriture einzelner Papstviten auch, bis zum welchen Grad die alten Viten des Liber Pontificalis als unzureichend betrachtet wurden, um die neue Position und die wachsende Bedeutung der Päpste und des Papsttums für die römische Kultur zu bezeugen 69 : torical Institute London, The 1997 Annual Lecture), London 1998; Bernd S C H N E I D M Ü L - L E R , Constructing the Past by Means of the Present. Historiographical Foundations of Medieval Institutions, Dynasties, Peoples and Communities, in: Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography (Publications of the German Historical Institute), hg. v. Patrick J. G E A R Y , Johannes F R I E D , Gerd A L T H O F F u. Eckhardt F U C H S , New York 2002, 167-192 sowie die übrigen Beiträge in diesem Band. 66 Vgl. das Widmungsschreiben M I G N E , PL 75, 61-62: . . . et secundum distributionem ejusdem doctoris, qua librum Regulae patoralis quadripartita ratione distinxerat . . . Die Edition der Regula: Grégoire le Grand. Règle pastorale. Introd., notes et index par Bruno J U D I C (Sources chrétiennes 382), 2 Bde., Paris 1992, 381-382. Ein Problem stellt das vierte Buch der regula pastoralis dar, das nicht viel mehr als den Prolog Gregors bietet, vgl. ebd. II, 534-541. 67 Gregor übernimmt ebenso viele Passagen aus der Regula, vgl. zu einigen Beispielen H E R B E R S , Personenbeschreibungen (wie Anm. 33) und die Analyse von G O L L , Vita Gregorii (wie Anm. 52), 39-54. 68 L E O N A R D I , L’agiografia romana (wie Anm. 52); D E R S . , Pienezza (wie Anm. 62); Girolamo A R N A L D I , Giovanni Immonide e la cultura a Roma al tempo di Giovanni VIII, Bulletino storico italiano, 68 (1956), 33-89. Vgl. auch die unterschiedlichen Widmungsschreiben in MGH Epistolae VII, 395-442 und den Beitrag von Gerhard L A E H R , Die Briefe und Prologe des Bibliothekars Anastasius, Neues Archiv 47 (1928), 416-468, der die Studie von Arthur L A P Ô T R E , Études sur la papauté au IX e siècle (Recueil d’études de Lapôtre), Turin 1978 diskutiert; zu Anastasius vgl. die bei H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 215, Nr. 91 zitierte Literatur. 69 Dies trifft vielleicht weniger auf die Viten des 8. und 9. Jahrhunderts zu. Einige Forscher <?page no="187"?> Der Liber pontificalis 187 In diesem Sinne zeigen die Réécritures eine Dimension, die als ideologisch bezeichnet werden kann. IV. Übernahme und Réécriture des Liber Pontificalis als Gesamttext In der Mitte der 9. Jahrhunderts wurden einige der Papstviten offenbar als unzureichend und der Neufassung bedürfend empfunden. Über diese Einzelfälle hinaus bleibt zu untersuchen, inwiefern sich der Liber Pontificalis auch als Ganzes oder zumindest als Teil zur Réécriture eignete und in welchem Maße sich in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf den hagiographischen Diskurs anbot. Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig, da der Liber Pontificalis vielfach als Beispiel diente und bis ins 15. Jahrhundert benutzt, akualisiert, fortgeführt und neuverfasst wurde. Bereits der im 6. Jahrhundert verfasste ursprüngliche Liber Pontificalis war möglcherweise Ergebnis einer Réécriture 70 . Diese unterschiedlichen Versuche der Réécriture hatten allerdings wenig mit dem hagiographischen Diskurs zu tun, wenngleich viele der Päpste der ersten Jahrhunderte als Heilige angesehen wurden 71 . Zudem vervielfältigten sich die Verbreitungskontexte des Liber Pontificalis und damit die Funktionen des Textes. a) Martyrologien des 9. Jahrhunderts Richtet man den Blick von den hagiographischen Réécritures einzelner Viten auf jene, die sich auf den gesamten Liber pontificalis oder zumindest auf weite Teile beziehen, so verringert sich die Zahl der Beispiele 72 . Wir beschränken uns wollen sogar die Vita Hadrians II. Johannes Hymmonides zuschreiben, ohne hierfür aber ausreichende Belege zu haben, vgl. unter anderem A R N A L D I , Giovanni Immonide (wie Anm. 68), 49; W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E IV (wie Anm. 48), 461, Nr. 307; Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 2: Merowingische Biographie: Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9), Stuttgart 1988, 138 und besonders III (wie Anm. 37), 372 Anm. 88. 70 Siehe oben 173-175. 71 Vgl. Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G , Heilige Päpste - päpstliche Kanonisationspolitik, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen 43), hg. v. Jürgen P E T E R S O H N , Sigmaringen 1994, 73-100, 91-94 und 96-97 zum Kult der ersten Päpste seit dem 12. Jahrhundert. 72 Ich berühre hier nicht das sehr interessante Untersuchungsfeld zur Bedeutung des Kontextes in der handschriftlichen Überlieferung, vgl. beispielweise die Studie von Helmut R E I M I T Z , Ein karolingisches Geschichtsbuch aus Saint-Amand. Der Codex Vindobonensis palat. 473, in: Text - Schrift - Codex: Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung (Mitteilungen des Insituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 35), hg. v. Christoph E G G E R u. Hartwig W E I G L , <?page no="188"?> 188 Heiligenkulte und Hagiographie auf zwei Fälle, die sich zur Diskussion anbieten. Zunächst das Martyrolgium Ados von Vienne. Der für seine Kontakte zum Papsttum bekannte 73 , 859/ 860 74 Erzbischof von Vienne gewordene Ado erstellte eine erste Fassung seines Martyrologiums um 855 oder wenig später 75 . Das Neue an seinem Werk war 76 , dass er ein Martyrologium ohne Lücken schuf. Aus diesem Grund benötigte er neues Textmaterial. Abgesehen von der Bibel nutzte er vor allem Eusebius/ Rufinus, Gregor von Tours, Beda und den Liber pontificalis 77 . Noch heute wird darüber diskutiert, ob Ado jenes venerabile perantiquum martyrologium, das er als seine Hauptquelle ausgab, in Teilen selbst verfasste 78 . Diese Quelle sei von Rom nach Ravenna geschickt worden, und Ado gab vor, sie in Italien kennengelernt und kopiert zu haben: Huic operi, ut dies martyrum verissime notarentur, qui confusi in kalendis satis inveniri solent, adiuvit venerabile et perantiquum martyrologium ab Urbe Roma Aquileiam cuidam sancto episcopo a pontifice Romano directum, et mihi postmodum a quodam religioso fratre aliquot diebus praestitum. Quod ego diligenti cura transcriptum positus apud Ravennam, in capite huius operis ponendum putavi 79 . Eine Reise Ados nach Ravenna bleibt allerdings ungewiss, und die Erfindung dieser Reise könnte damit erklärt werden, dass Ado den neuen Teilen seines Martyrologiums mehr Autorität verleihen wollte. Dieses gefälschte perantiquum Wien u. a. 2000, 34-90, zur Struktur der Handschrift vgl. die Tabelle auf Seite 77; vgl. auch die demnächst erscheinenden Studien von Meta Niederkorn-Bruck, Wien. 73 Vgl. bereits Wilhelm K R E M E R S , Ado von Vienne. Sein Leben und seine Schriften, Diss. Bonn 1911; vgl. auch die biographischen Notizen in der Edition des Martyrologiums: Le Martyrologe d’Adon. Ses deux familles, ses trois recensions. Texte et commentaire (Sources d’histoire médiévale 19), ed. Jacques D U B O I S u. Geneviève R E N A U D , Paris 1984, besonders XV-XVIII. 74 Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), XV. 75 Jacques D U B O I S , Les martyrologes du Moyen Âge latin (Typologie des sources au Moyen Âge occidental 26), Turnhout 1978, 42 et Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), XX. 76 Zusammenfassend D U B O I S , Martyrologes (wie Anm. 75), 42-43. Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), XXIf. mit Ergebnissen, die sich auf Henri Q U E N T I N , Les martyrologes historiques du Moyen Âge. Étude sur la formation du Martyrologe romain, Paris 1908, stützen. 77 Die Ergebnisse von Q U E N T I N , Martyrologes historiques (wie Anm. 76) in der Graphik bei Jacques D U B O I S , Le martyrologe d’Usuard (Subsidia Hagiographica 40), Brüssel 1965, 61-63. Ado griff mehr als andere zeitgleiche Martyrologien auf den LP zurück; es bleibt zu klären, welche Handschriften ihm zur Verfügung standen. 78 Vgl. Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), XXIV, auf der Grundlage von Ergebnissen Dom Quentins. Vgl. nun zu den Beziehungen zwischen Martyrologien und Kalendaren Arno B O R S T , Die karolingische Kalenderreform (Schriften der MGH 46), Hannover 1998, zu Ado 64 und 358. 79 Vgl. die Edition Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), XXV, zu den Gründen der Erfindung dieses Hypotextes vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 217 und 391. - Zu Ado als Urkundenfälscher vgl. zuletzt Beate S C H I L L I N G , Guido von Vienne - Papst Calixt II. (Schriften der MGH 45), Hannover 1998, 275ff. Es wäre interessant, die unterschiedlichen literarischen Aspekte Ados aus der Sicht der Fälschungen, der Fiktion, der Textübernahme und der Réécriture aufzugreifen. <?page no="189"?> Der Liber pontificalis 189 martyrologium wäre demnach in der Terminologie Genettes 80 ein Hypotext, der dem Hypertext Ados als Grundlage diente. In diesem Fall wäre der Autor der beiden Texte ein und derselbe! Im Hypertext setzten sich die römischen Heiligen gegenüber den alten fränkischen, angelsächsischen und spanischen Heiligen durch. Im Vergleich zum Martyrologium des Florus von Lyon fügte Ado 130 Einträge hinzu, von denen annährend zwei Drittel römische Heilige betrafen 81 . Ungefähr 20 Einträge sind dem Liber pontificalis entnommen 82 . Dies sind die Tatsachen. Kann die Vorgehensweise Ados als Réécriture bezeichnet werden? Quentin und Dubois sprechen von „Quellen“, und der Gebrauch, den er vom Liber pontificalis macht, entspricht in der Tat eher einer Anleihe oder Übernahme als einer Réécriture stricto sensu. Das perantiquum martyrologium aber fasst die heiligen Päpste innerhalb einer Gruppe römischer Heiliger, die auf eine ganz andere Art angeordnet sind: Der Liber pontificalis, der einer chronologischen Ordnung folgt, wird dort nach dem Ablauf der Feste im Kirchenjahr umstrukturiert 83 . Veränderungen ergaben sich vor allem beim Kontext. 84 Ansonsten suchen wir bei Ado vergeblich nach einem bewussten Akt der Réécriture des Liber pontificalis selbst oder zumindest einer Reihe der in ihm enthaltenen Viten. Das perantiquum martyrologium ist die eigentliche Grundlage für seine Réécriture 85 . Bei Ado ist vor allem die neuartige Struktur von Bedeutung. Für einige Einträge hat er zudem wie Hrabanus Maurus und 80 Gérard G E N E T T E , Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, 13, vgl. Monique G O U L L E T / Martin H E I N Z E L M A N N , Avant-propos, in: La réécriture (wie Anm. 6), 11. 81 Diese Zahlen ergeben sich aus den Listen bei Q U E N T I N , Martyrologes historiques (wie Anm. 76), 409-464, besonders 458-464. Vgl. zu den Schlussfolgerungen unter Berücksichtigung der Translationen römischer Heiliger nördlich der Alpen H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 393-403 und D E R S . , Rom im Frankenreich (wie Anm. 37), besonders 160-164. 82 Vgl. Q U E N T I N , Martyrologes historiques (wie Anm. 76), 625-627; D U B O I S , Martyrologe d’Usuard (wie Anm. 77), 64; Martyrologe d’Adon (wie Anm. 73), 21. Häufig nennt das Martyrologium nur den Zeitraum des Pontifikats nach dem LP, vgl. D U B O I S , Martyrologe d’Usuard (wie Anm. 77), 61-63. 83 Nichtsdestotrotz verändern auch die Martyrologien zuweilen den Text ihrer Quellen, wie dies ein wenig später bei Notker von St. Gallen in seiner Notiz zum Hl. Jakobus zu beobachten ist, vgl. Klaus H E R B E R S , Frühe Spuren des Jakobuskultes im alemannischen Raum (9.-11. Jahrhundert) - Von Nordspanien zum Bodensee, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland (Jakobus-Studien 7), hg. v. Dieter R. B A U E R u. Klaus H E R B E R S , Tübingen 1995, 3-27, 13-18. 84 Vgl. zu diesen Vorgängen die verschiedenen Beiträge im Band: Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung (Beiträge zur Hagiographie 1), hg. v. Dieter R. B A U E R u. Klaus H E R B E R S , Stuttgart 2000 und die Zusammenfassung der Zielsetzungen in der Einleitung Hagiographie im Kontext - Konzeption und Zielvorstellung, in: ebd., IX-XXVIII. Vgl. auch zu Konzepten des kulturellen Austauschs und terminologischen Fragen Peter B U R K E , Kultureller Austausch (Erbschaft unserer Zeit 8; Edition Suhrkamp 2170), Frankfurt a. M. 2000, 9-40. 85 Vgl. Anm. 79 und 80. <?page no="190"?> 190 Heiligenkulte und Hagiographie andere 86 - allerdings in besonders ausgiebiger Weise - aus dem gesamten Liber pontificalis geschöpft. Diese Vorgehensweise bot sich möglicherweise vor allem im Falle Ados an. Denn die Region, in der er sein Martyrologium schuf, war in dieser Zeit, wie neuere Forschungen gezeigt haben 87 , in vielerlei Hinsicht von römischen und päpstlichen Einflüssen geprägt. Vor allem die Verehrung römischer Reliquien nahm an Bedeutung zu und begleitete eine wachsende politische Orientierung hin zum Papsttum, von der beispielsweise Graf Gerhard von Vienne zeugt. Ado hat selbst zu dieser Orientierung in mehreren Bereichen beigetragen: Neben dem Martyrologium soll es uns genügen, auf seine Umarbeitungen verschiedener päpstlicher Urkunden hinzuweisen 88 . b) Die hagiographische Perspektive am Beispiel Flodoards von Reims Das Beispiel Flodoards von Reims († 966) erscheint mir noch signifikanter. Der Kanoniker der Kirche von Reims spielte eine wichtige Rolle in der karolingischen Tradition des 10. Jahrhunderts, und sein literarisches Schaffen erhielt mehrfach die Aufmerksamkeit der Gelehrten 89 . Einige seiner hagiographischen Schriften sind verloren. Flodoard ist heute vor allem als Autor von Annalen (zwischen 919 und 966) 90 und der Historia Remensis ecclesiae 91 bekannt. Zu seiner Zeit aber, zum Beipiel in Lobbes oder in Trier 92 , war Flodoard als Gelehrter aufgrund eines anderen Werkes berühmt, das im Kontext dieser Tagung unsere Aufmerksamkeit verdient: das De triumphis Christi 93 . Dieses Werk, dass von einigen Forschern zu den größten poetischen Werken des 10. Jahrhundert gezählt wird 94 , besteht aus 19939 Versen, die in drei Teilen die Geschichte von den Zeiten der Apostel bis ins 10. Jahrhundert behandeln: die Siege Christi und der Heiligen in Palästina (drei Bücher), die Siege Christi in Antiochia (zwei Bücher) und die Siege Christi in Italien (14 Bücher). Die Siege Christi werden vor allem durch Heilige erzielt 95 : Diese Perspektive nimmt 86 John M. M C C U L L O H , Das Martyrologium Hrabans als Zeugnis seiner geistigen Arbeit, in: Hrabanus Maurus (wie Anm. 1), 154-164. 87 Cf. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), besonders 398-399. 88 Vgl. S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 79), 275-319. Es wäre interessant diesen Forschungsansatz unter Berücksichtigung der Chronik Ados, ed. Georg Heinrich P E R T Z , in: MGH SS 2, Hannover 1829, 315-323 fortzuführen. 89 Vgl. vor allem die Analyse von Michel S O T , Un historien et son église au X e siècle: Flodoard de Reims, Paris 1993. 90 Les annales de Flodoard, publ. d’apres les ms., avec une introd. et des notes par P H I L I P P E L A U E R (Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire 39), Paris 1905. 91 Historia Remensis ecclesiae (MGH SS 36), ed. Martina S T R A T M A N N , Hannover 1998. 92 S O T , Historien (wie Anm. 89), 78-79. 93 M I G N E , PL 135, 491-886. Teiledition bei L A U E R (wie Anm. 90), 176-180. 94 Vgl. Peter Christian J A C O B S E N , Flodoard v. Reims, in: Lexikon des Mittelalters 4, 550. 95 Peter Christian J A C O B S E N , Flodoard von Reims. Sein Leben und seine Dichtung „De triumphis Christi“ (Mittellateinische Studien und Texte 10), Leiden u. a. 1978, 89. <?page no="191"?> Der Liber pontificalis 191 Flodoard für Palästina und Antiochia ein. Siege der Heiligen werden durch Bischöfe bekräftigt, [vor allem] in Antiochia und Rom, den beiden sedes des Apostels Petrus, denn die Bischöfe werden häufig ebenso als Heilige angesehen. Der Teil zu Italien ist am umfangreichsten. Ein proemium stellt das Rom der Konsuln und Kaiser in Parallele zum Rom der Heiligen und Päpste. Die Zeit der Apostel, Petrus und Paulus und ihre Nachfolge, die römischen Kaiser und die Christenverfolgungen bilden das Thema der ersten beiden Bücher, die mit Konstantin im Jahre 312 schließen. Die Bücher III bis VIII sind gleich strukturiert. Italien entspricht Rom mit seinen Päpsten und Heiligen und vor allem den päpstlichen Märtyrern, die besonders ausführlich beschrieben werden 96 . Das neunte Buch widmet sich Heiligen, die Flodoard zeitlich nicht einordnen konnte und die er gemäß ihrer Grabstätten aufzählt. Dieses Buch ist zudem Papst Sylvester gewidmet, dessen Acta er nach der Version B übernimmt 97 . Vor allem die Bücher X bis XII verdienen unsere Aufmerksamkeit. Flodoard schöpft hier ausgiebig aus dem Liber pontificalis, den er neuverfasst und ihn dabei als quasi einzige Quelle nutzt. Im Sinne Gérard Genettes könnte man sogar von Hypotext und Hypertext sprechen, d. h. der Text Flodoards „legt sich auf den Liber pontificalis auf eine Art und Weise, die nicht dem einfachen Kommentar entspricht“ 98 . Was die literarische Form anbelangt, so nutzt Flodoard die Versform, vom Inhalt her gesehen dominiert allerdings die Idee, dass die Papstgeschichte voll und ganz Teil der Siege Christi ist und sich einreiht in die Geschichte der Heiligen in Rom und Italien. Das 12. Buch endet mit Papst Leo VII. (936-939), dem Zeitgenossen Flodoards, den dieser auf einer Reise nach Rom kennengelernt hatte 99 . Nach dem Ende der Version des Liber pontificalis, die ihm zur Verfügung stand, wird die Réécriture Flodoards zu einem eigenständigen Werk: Er nutzt die Korrespondenz Fulcos von Reims und den Text der päpstlichen Epitaphien, die er während seiner Romreise gesehen hatte. Die Aufzeichnungen betreffen vor allem die päpstlichen Beziehungen zu Reims, Inhalte, die er in anderer Form in seiner Historia Remensis ecclesiae erneut aufgriff. Die beiden letzten Bücher (XIII und XIV) bilden einen Anhang, der den übrigen Heiligen Italiens gewidmet ist. Als Kanoniker der Kirche Saint-Pierre in Reims folgt Flodoard den Spuren des Apostels Petrus. Dies erklärt den geographischen Zuschnitt seines Werkes: Palästina, Antiochia und Italien und insbesondere Rom 100 . Wenn während 96 Im Prinzip geht er dabei über die Notizen des LP hinaus. Vgl. zu den Quellen vor allem J A C O B S E N , Flodoard (wie Anm. 96), 233-274. 97 Ebd., 259 mit den genaueren Angaben. 98 G E N E T T E , Palimpsestes (wie Anm. 80), 13, vgl. das Vorwort zu diesem Band [Monique G O U L L E T / Martin H E I N Z E L M A N N , Avant-propos, in: La réécriture (wie Anm. 6),] 11. 99 Vgl. zur Reise Flodoards nach Rom Harald Z I M M E R M A N N , Papstregesten 911-1024 (J. F. Böhmer, Regesta Imperii II, 5), Wien u. a. 1969, 2 1998, Nr. 126 mit Bibliographie. 100 Zu den drei sedes (Antiochia, Alexandria und Rom) des Apostels Petrus gemäß dem sogenannten Decretum Gelasianum (JK 700), ed. Ernst von D O B S C H Ü T Z , Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 3, Reihe 8/ 4), Leipzig 1912, 32-33. Vgl. zum sogenannten <?page no="192"?> 192 Heiligenkulte und Hagiographie der ersten Jahrhunderte die Päpste mit den übrigen Heiligen alternieren, so erhalten die päpstlichen Märtyrer, d. h. Alexander (Buch III), Calixtus und Urban (Buch IV), Stephan (Buch V) und Marcellinus (Buch VIII) seine besondere Aufmerksamkeit. Von Sylvester an werden Rom und die Päpste zum einzigen Thema. Die übrigen Heiligen werden erst in den beiden letzten Büchern ergänzt. Insgesamt betrachtet verfügen wir mit den Triumphi über einen Text mit gleichzeitig chronologischer und geographischer Grundkonzeption, den man geneigt ist, als Hagiochronologie und Hagiogeographie zu bezeichnen 101 . Denis Muzerelle hat die These vertreten, dass die Abschnitte, in denen man eine Réécriture des Liber pontificalis antrifft, in erster Linie den „historischen Teil“ bilden, dem Flodoard einen „hagiographischen Teil“ zur Seite stellt 102 . Diese Gegenüberstellung erscheint mir übertrieben, da die Fokussierung auf Rom unseren Autor nicht allein dazu führt, Elemente aus dem Liber pontificalis zu nutzten und wiederzuverwenden, sondern diese Sammlung von Viten aus einer Perspektive neu zu verfassen, die nicht allein historiographisch sondern zugleich auch hagiographisch ist. Die Päpste werden den übrigen Heiligen beigeordnet. Darüber hinaus führt Flodoards Herkunft aus Reims dazu, dass er seinem Werk eine besondere Ausrichtung gab, die als „päpstliche Perspektive“ der Gallia und vor allem von Reims bezeichnet werden kann. Hinkmar hatte sich im 9. Jahrhundert damit begnügt, ein Exemplar des Liber pontificalis zu erbitten 103 ; Flodoard geht weiter: Er erwähnt ausdrücklich Papst Calixtus I., dessen Reliquien unter Erzbischof Fulco nach Reims umgebettet wurden 104 . Bereits in den ersten Büchern (I-II) erhalten die von Petrus und seinen Nachfolgern nach Gallien entsandten Schüler die Aufmerksamkeit Flodoards: Trophimus, Sabinianus, Potentianus, Fronto und Georg wie auch Paulus, Martialis, Sixtus, (der als noster bezeichnet wird) 105 . Später erscheinen die Schüler, die von Clemens gesandt worden waren: Dionysius, (den Flodoard nicht mit Dionysios Areopagites verwechselt), Sixtus, Mamertus, Eutropius 106 . Gallien im allgemeinen und Reims im besonderen sind somit Gegenstand eines spezifischen Interesses, das auch in den Büchern X-XII begegnet, durch Hormisdas (514-523) und seine Beziehungen zu Saint-Remi (er habe den Heiligen Remigius sogar zu seinem Decretum Gelasianum Walter U L L M A N N , Gelasius I. (492-496). Das Papsttum an der Wende der Spätantike zum Mittelalter (Päpste und Papsttum 18), Stuttgart 1981, 256-259. 101 Beispielweise S O T , Historien (wie Anm. 90), 100. 102 Unveröffentlichte Diss. zitiert bei S O T , Historien (wie Anm. 90), 99. 103 Siehe oben, 171. 104 Erwähnt vor allem in der Historia Remensis ecclesiae IV 1 und 8, ed. S T R A T M A N N (wie Anm. 91), 371 und 399; H E R B E R S , Regesten (wie Anm. 31), Nr. 19. Zum Textdossier der Translation vgl. L O R E N Z , Calixt (wie Anm. 40). 105 Die Triumphe in Italien I 9, ed. M I G N E , PL 135, 609-614; vgl. J A C O B S E N , Flodoard (wie Anm. 95), 245-246; S O T , Historien (wie Anm. 89), 89; vgl. zu diesen Heiligen Anke K R Ü G E R , Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert (Beiträge zur Hagiographie 2), Stuttgart 2002, besonders 27-50. 106 Vgl. die Triumphe in Italien II 14, M I G N E , PL 135, 628, vgl. J A C O B S E N , Flodoard (wie Anm. 95), 247; S O T , Historien (wie Anm. 89), 90. <?page no="193"?> Der Liber pontificalis 193 Vikar gemacht). Flodoard vergisst nicht die Begegnung in Reims zwischen Stephan IV. (816-817) und Ludwig dem Frommen, nicht die Erzbischof Ebo übertragene Dänenmission Paschalis’ I. (817-824) und ebenso nicht, in Bezug auf Nikolaus I. (858-867), dessen Verbindungen zu Hinkmar von Reims. Diese Perspektive ist offensichtlich, die Informationen des Liber pontificalis werden in ihrem Sinne umgeschrieben, auch wenn die Struktur der Papstviten beibehalten wird und diese im übrigen zum Teil als Modell für die gesta episcoporum, d. h. die Historia Remensis ecclesiae Flodoards verwendet werden 107 . Für die Bücher X-XII stützte sich Flodoard auf den Liber pontificalis 108 , von dem sich zwei Kopien im Archiv von Reims befanden 109 . Peter Christian Jacobsens und Michel Sots Studien haben uns gezeigt, dass Flodoard sehr wahrscheinlich sogar die Version B des Liber pontificalis benutzte 110 , allerdings nicht ausschließlich 111 . Selbst wenn Flodoard in seinen Triumphi nicht unmittelbar den Wunsch äußert, einen Hypotext neue zu verfassen, so kann man doch konstatieren, dass dieses Werk die Viten des Liber pontificalis bewusst restrukturiert. In diesem Sinne ist es legitim, Flodoards Werk als in Teilen hagiographische Réécriture des Liber pontificalis zu bezeichnen. Dabei wurde nicht allein die Form der Vorlage durch die Neuerschaffung eines epischen Textes verändert. Zugleich änderten sich auch der Sinn und die Intention des Liber pontificalis, da die Päpste nun in eine Reihe von Heiligen eingeordnet wurden, die die Siege Christi illustrieren und ihre Beziehungen zu Gallien deutlich hervorheben sollen. c) Weitere Fortsetzungen und Réécritures Andere Autoren, die den Liber pontificalis genutzt oder neugeschrieben haben, scheinen eher außerhalb des hagiographischen Diskurses zu stehen. Ich verweise lediglich exemplarisch auf einige Namen wie Pseudo-Liudprand 112 , der den Liber pontificalis im 11. Jahrhundert geschrieben oder vielmehr in einer klar juristischen Perspektive neuverfasst hat und dabei die übrigen Informationen beiseite ließ. Dies trifft auch auf eine ganze Reihe von Werken zu, die im Zusammenhang mit dem Invesiturstreit stehen und bei denen man nur selten von einem hagiographischen Diskurs sprechen kann. Zu denken ist auch an die Fortsetzung des Petrus Guillermus im 12. Jahrhundert oder an die 107 S O T , Gesta (wie Anm. 10), 35 und die Einleitung zur Edition der Historia Remensis ecclesiae von S T R A T M A N N (wie Anm. 91), 3-4. 108 Es nicht bekannt, ob Flodoard im Zusammenhang seiner Reise nach Rom 936 ein Exemplar mitnahm, vgl. zur Reise Flodoards Z I M M E R M A N N , Papstregesten 911-1024 (wie Anm. 99), Nr. 126. 109 J A C O B S E N , Flodoard (wie Anm. 95), 223. 110 Ebd., 222-232. 111 S O T , Historien (wie Anm. 89), 95-96. 112 M I G N E , PL 129, vgl. die Beiträge von J A S P E R , Papstgeschichte (wie Anm. 31) und D E R S ., Decreta (wie Anm. 31). <?page no="194"?> 194 Heiligenkulte und Hagiographie verschiedenen Papst-Kaiser-Chroniken, wie zum Beispiel jene des Martinus Polonus († 1278) mit dem catalogus pontificum Romanorum und dem catalogus imperatorum Romanorum, die ebenfalls aus dem Liber pontificalis schöpfen 113 . Im 14. Jahrhundert schuf Petrus Bohier eine Neufassung durch Glosierung, um Karl V. (1364-1380) an seine Verpflichtungen gegenüber dem Papsttum zu erinnern 114 . Von allen diesen näher zu untersuchenden Versuchen nimmt fast keiner eine hagiographische Perspektive ein oder folgt den Prinzipien des hagiographischen Diskurses. V. Ergebnisse Die Réécriture des Liber pontificalis im 9. und 10. Jahrhundert umfasst mindestens zwei Aspekte: Réécriture einzelner Viten, die weitestgehend dem hagiographischen Diskurs zugehören; Réécriture ganzer Teile der Sammlung eher historiographischer oder sogar institutioneller Dimension. 1. Die Réécriture einzelner Papstviten folgt mehr oder weniger den Gewohnheiten der Übernahme oder der Réécriture bei anderen Texten wie Heiligenviten 115 . Dies zeigt sich bereits in einzelnen Passagen verschiedener Viten, die sich - wie im Falle Sergius’ II. - Formulierungen vorhergehender Texte bedienen. Die Konzentrierung der Reliquien und des hagiographischen Gedächtnisses in Rom begünstigte dort vor allem im 9. Jahrhundert in einer bestimmten kirchenpolitischen Situation die Réécriture einiger Papstviten. Hagiographisch-kirchliche Perspektive und Diskurs dieser Réécritures erscheinen dort besonders stark ausgeprägt: Durch einige Schlüsselpäpste bleibt die Konzeption einer Institution, die sich in Kontinuität zur römischen Welt und teilweise in Opposition zu Byzanz - wie in der Vita Gregorii - versteht, unterschwellig präsent. Selbst wenn diese Werke die Entwürfe des Liber pontificalis, aus denen sie schöpfen, nicht nennen, so kann man aus einem Vergleich mit den Modellen schließen, dass deren Struktur und Inhalt als unzureichend im Hinblick auf eine literarische und kulturelle Erneuerung betrachtet wurden. Aus diesem Grund reicht die Vita Gregors über den Entwurfcharakter des Liber pontificalis hinaus: Sie verzichtet auf die Abfolge der Päpste und eine chronologische Perspektive, Papst Gregor wird als Person genutzt, um dem Papsttum des 9. Jahrhundert Orientierung zu geben. Die für diese Zielsetzung adäquate Form war eine Vita, die sich mehr als die Entwürfe des Liber pontificalis vom hagiographischen Diskurs inspirieren ließ, wenngleich die klassische Ausrichtung der antiken Biographie nicht fehlt. 2. Die Réécriture des gesamten Textensembles oder von Teilen des Liber pontificalis führte uns zur Untersuchung der Texte Ados und Flodoards. Ihre 113 Zu diesen Fortsetzungen vgl. B R A C K M A N N , LP (wie Anm. 9), 391-396; B E R T O L I N I , Il »Liber Pontificalis« (wie Anm. 9); F U H R M A N N , Papstgeschichtsschreibung (wie Anm. 9), 142f.; und die Angaben bei H E R B E R S , Leo (wie Anm. 3), 16-17. 114 Vgl. die Edition von P ˇ R E R O V S K Ý (wie Anm. 5). 115 Siehe oben, 178-187. <?page no="195"?> Der Liber pontificalis 195 Werke lassen neue Konzeptionen erkennen: besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Päpsten und den römischen Heiligen. Ein Gutteil der Notizen zu ihnen wurde aus einem von Ado selbst erstellten Hypotext in sein Martyrologium per circulum anni übernommen. Bei Flodoard handelt es sich um einen groß angelegten Entwurf einer Hagiogeographie, die mit einer Hagiochronologie gepaart ist: Die Geschichte der „Triumphe“ Christi erfolgt über neun Jahrhunderte durch die Heiligen und die Nachfolger Petri. Bei Flodoard ist der Liber pontificalis in ein Dossier vor allem narrativer hagiographischer Texte eingebunden; bei Ado und anderen wird er in die Welt der Liturgie übertragen, und bei dieser Übertragung dominiert die chronologische und geographische Ausrichtung. Vor allem bei Flodoard ist die Réécriture für ein vorrangig westfränkisches Publikum bestimmt. Wie ist allerdings zu erklären, dass sich die Réécritures des Liber pontificalis an bestimmten Orten konzentrierten? Anscheinend begünstigten die kirchliche Situation und die Ausrichtung auf Rom in Vienne und Reims eine Réécriture, die die päpstliche Dokumentation durch Umwandlung auf neue Weise nutzte. Die Vorliebe für und Kenntnis der römischen Quellen zeigt sich im übrigen auch in anderen Dokumenten aus Vienne und Reims 116 . 3. Offene Fragen a) Wenn die hagiographische Réécriture uns mehr über die Hagiographie als über den Heiligen 117 sagt, so trifft dies auch auf die unterschiedlichen Versuche der Réécriture einer Papstvita zu. Vielfältige Probleme können mit dieser Form der Réécriture einhergehen: die Frage der Heiligkeit der Päpste, das Problem einer Sammlung von Texten, die zu Beginn vor allem aus kirchlicher, rechtlicher, liturgischer und historiographischer, weniger aus hagiographischer Sicht verfasst wurde. Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Im Fall der Päpste beschränkt sich die Réécriture häufig nicht allein auf eine hagiographische Dimension: Die Grenze zwischen Historiographie und Hagiographie bleibt eher vage und verschwommen 118 , und einige Texte können gleichzeitig zwei Diskursformen angehören. Denken wir an all die anderen Formen der Fortsetzung, Übernahme und Réécriture des Liber pontificalis, so stellt sich die Frage nach den Beziehungen zwischen der hagiographischen Réécriture einerseits und den übrigen Formen der Réécriture andererseits, seien sie rechtlicher, historiographischer oder ekklesiologischer Natur. Und in welchem Maße kann auch die Übersetzung eines Textes als Réécriture eingestuft werden? b) Die Réécritures Ados und Flodoards waren alle beide darauf ausgerichtet, einen großen Teil des Liber pontificalis in einen neuen Kontext oder in neue Strukturen einzubinden. Vielleicht müsste auch, wie dies angedeutet wurde, der Zusammenhang zwischen Réécriture und Kontext diskutiert werden, ein 116 Siehe Anm. 79, 88 und 92. 117 Unter anderem: V A N U Y T F A N G H E , Remploi (wie Anm. 7), 360. 118 Siehe zum Verhältnis zwischen Historiographie und Hagiographie oben Anm 18. <?page no="196"?> 196 Heiligenkulte und Hagiographie Konzept, das kürzlich durch Studien zu „Hagiographie im Kontext“ vertieft wurde 119 . c) Aufgrund der hier vorgestellten Beispiele könnte man ebenso die Definition der Réécriture selbst diskutieren: Sind mehrere Definitionen und insbesondere eine mögliche Ausweitung des Begriffs auf unausgesprochene oder sogar unfreiwillige Formen von Inter- und Hypertextualität möglich? Wenn der Kampf Roms gegen Byzanz jedenfalls die hagiographische Réécriture einzelner Papstviten im 9. Jahrhundert begünstigte, so haben Persönlichkeiten wie Hrabanus Maurus und Hinkmar, die Exemplare des Liber pontificalis erbeten hatten, den Boden für eine Réécriture dieses Schlüsseltextes in einem neuen Kontext nördlich der Alpen bereitet. 119 Hagiographie im Kontext (wie Anm. 84). <?page no="197"?> III Geschichte der Iberischen Halbinsel <?page no="199"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln - ein Modell für die spätere Expansion Portugals und Spaniens nach Afrika und Amerika? Seit dem Urteil von Charles Verlinden, der die Eroberung und Kolonisation der Kanarischen Inseln als ein „Laboratorium“ für die Eroberung und Kolonisation der Neuen Welt bezeichnete 1 , scheint die Zauberformel für die mittelalterlichen Vorstöße in den atlantischen Raum gefunden zu sein. Sie wurde in der Forschung bereitwillig aufgegriffen: so sprach beispielsweise G. Hamann davon, daß die Kanarischen Inseln als „Exerzierboden“ für die Kolonisationsmethoden in der Neuen Welt dienten 2 . Begriffe wie „Laboratorium“ oder „Modell“ können jedoch [51/ 52] nur Hilfen sein, um die Bedeutung dieser frühen Phase der „europäischen Expansion“ 3 besser einzuordnen. Dem Fragezeichen, das Erschienen in: Afrika. Entdeckung und Erforschung eines Kontinents (Bayreuther Historische Kolloquien 3), hg. v. Heinz D U C H H A R D T , Jörg A. S C H L U M B E R G E R u. Peter S E G L , © Böhlau Verlag, Köln/ Wien 1989, 51-95. 1 Ch. V E R L I N D E N , Précédents médiévaux de la colonie en Amérique (Mexiko 1954) S. 60. Vgl. V. C O R T E S A L O N S O , Los cautivos canarios, in: Homenaje a Elías Serra Ráfols Bd. 2 (La Laguna 1970) S. 135-148, S. 137. - Der folgende Text ist die um Anmerkungen erweiterte Fassung des in Bayreuth gehaltenen Vortrages. Dabei beschränkte ich mich auf einige zugespitzte Fragestellungen. Ein Überblick über die gesamte Forschung zu den Kanarischen Inseln im Spätmittelalter kann hier nur soweit geboten werden, wie es die Fragestellung verlangte; verwiesen sei deshalb auch auf die Literaturverzeichnisse der zitierten neueren Arbeiten. - Für begleitende Gespräche, kritische und fördernde Hinweise danke ich Dr. Hannes Möhring (Bayreuth-Tübingen). 2 G. H A M A N N , Atlantische Inseln, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980) Sp. 1170-1173, Sp. 1171; vgl. weiterhin M. M A R R E R O R O D R Í G U E Z , La esclavitud en Tenerife a raíz de la conquista (La Laguna 1966) S. 53. - Nur am Rande behandeln folgende neuere Werke die Eroberung der Kanarischen Inseln im Gesamtzusammenhang der europäischen Expansion: L. H. P A R I A S (Hg.), Historia universal de las exploraciones, 4 Bde. (Madrid 1967) Bd. 1 S. 256-408 (Beitrag von M. M O L L A T ); W. R E I N H A R D , Geschichte der europäischen Expansion, 3 Bde. (Stuttgart 1983-1988) Bd. 1 S. 38; F. M A U R O , Die europäische Expansion (Wissenschaftliche Paperbacks, Stuttgart 1984) S. 34 und M. M O L L A T , Les explorateurs du XIII e au XVI e siècle. Premiers regards sur des mondes nouveaux (Paris 1984) S. 49-51 sowie A. P I N H E I R O M A R Q U E S , Guia de historia dos descobrimentos e expans-o portuguesa. Estudo (Lissabon 1988) S. 81. Zur Einführung sind immer noch lesenswert: H. K E L L E N B E N Z , Die Grundlagen der überseeischen Expansion Europas, in: Saeculum Weltgeschichte Bd. 6 (Freiburg 1971) S. 1-27 und J. E N G E L , Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, in: Handbuch der europäischen Geschichte 3 (Stuttgart 1971) S. 77-104. 3 Vgl. zuletzt H. P I E T S C H M A N N , Europäische Expansion, Lexikon des Mittelalters Bd. 4 (1987) Sp. 174-183 mit Zitat weiterer im folgenden noch teilweise zu besprechender Literatur. Klassisch und grundlegend zur europäischen Expansion bleibt das Überblicks- <?page no="200"?> 200 Geschichte der Iberischen Halbinsel den Titel abschließt, kommt aus diesem Grund besondere Bedeutung zu. Eine zweite Vorbemerkung sei erlaubt. Die Kanarischen Inseln gehören ja selbst - zumindest in geographischer Hinsicht - zum Kontinent Afrika. Somit dürften die folgenden Ausführungen neben dem Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem „Modellcharakter“ auch gleichzeitig als ein Beitrag zum Rahmenthema „Afrika - Entdeckung und Erforschung eines Kontinents“ gelten. Eine Schwierigkeit des Themas besteht darin, daß die Inselgruppe, die aus insgesamt sieben größeren Inseln (Lanzarote, Fuerteventura, Gran Canaria, Tenerife, Gomera, La Palma und Hierro) besteht, in verschiedenen Schüben erobert und kolonisiert wurde. Deshalb gilt es, das Problem der Ungleichzeitigkeit und die geographische Differenzierung im Auge zu behalten. Angesichts der Tatsache, daß für das 14. und 15. Jahrhundert zur europäischen Expansion allgemein und auch zu den Kanarischen Inseln ein umfangreiches Quellenmaterial vorliegt, das teilweise erst in den letzten drei Jahrzehnten erschlossen wurde, kann ich in diesem Rahmen nur einige Aspekte hervorheben. Die bereits im Altertum bekannten Kanarischen Inseln 4 wurden in der [52/ 53] ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (gegen 1336 bzw. 1341) wiederentdeckt 5 , wie wir aus dem sogenannten „Bericht des Bocaccio“ (Niccoloso da Recco) wissen 6 . Möglicherweise ist diese Wiederentdeckung auch in eiwerk von P. C H A U N U , L’Expansion européenne du XIII e au XV e siècle (Paris 1969), vgl. insbesondere S. 120-124. 4 Vgl. hierzu den Vortrag von J. D E S A N G E S in diesem Band [J. D E S A N G E S , Rom und das Innere Afrikas, in: H . D U C H H A R D T , J . A . S C H L U M B E R G E R , P. S E G L (Hg.), Afrika: Entdeckung und Erforschung eines Kontinents (Bayreuther Historische Kolloquien 3, Köln/ Wien 1989), S. 31-50] sowie allgemein zum Folgenden: A. R U M E U D E A R M A S , España en el Africa atlántica, 2 Bde. (Madrid 1956/ 57) (mit Schwerpunkt auf dem 15. Jahrhundert und der frühen Neuzeit); D E R S ., La conquista de Tenerife (Santa Cruz 1975); J. D E V I E R A Y C L AV I J O , Historia general de las Islas Canarias, hg. von E. S E R R A R À - F O L S , 3 Bde. (Santa Cruz 1950-52) (vgl. auch die Ausgabe von A. C I O R A N E S C U , Santa Cruz 7 1981, mit Einleitung des Editors und zusätzlichen Anmerkungen); G. G. K I N Z E L , Die rechtliche Begründung der frühen portugiesischen Landnahmen an der westafrikanischen Küste zur Zeit Heinrichs des Seefahrers. Untersuchungen über Voraussetzungen, Vorgeschichte und Geschichte der portugiesischen Expansion in Nordafrika, Westafrika und auf den Inseln im Atlantik bis zum Jahre 1460 (Göppingen 1976) S. 101 sowie den Sammelband von E. S C H M I T T u. a. (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion (bisher) Band 1-4 (München 1984-1988) (mit übersetzten und kommentierten Quellenauszügen) Bd. 1 (1986) S. 47ff. Durch diese Sammlung ist insbesondere bezüglich der Kanarischen Inseln das klassische Werk von R. H E N N I N G , Terrae incognitae, Bd. 3 und 4 (Leiden 1938) (zu den Kanarischen Inseln vgl. Bd. 3 S. 136ff. u. 206ff.) weitgehend überholt. - Der Überblick von S. L Ó P E Z H E R R E R A , Die Kanarischen Inseln. Ein geschichtlicher Überblick (Madrid 1978) ist ein geraffter, nicht immer befriedigender Abriß. 5 Nachrichten zu früheren Eroberungen sind umstritten, vgl. I. R I N G E L , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 206. - Nicht eingegangen werden kann hier auf den Zusammenhang von Entdeckungsfahrten in den Atlantik mit der Entwicklung der Kartographie, vgl. hierzu F. R. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Atlantic Exploration before Columbus. The Evidence of Maps, Renaissance and Modern Studies 30 (1986) S. 12-36. 6 Ediert in Monumenta Henricina, hg. von M. L O P E S D E A L M E I D A , I. F E R R E I R A D E C O S T A B R O C H A D O , A . J . D I A S D I N I S , (bisher) Band 1-15 (Coimbra 1960-1974) <?page no="201"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 201 nem Brief Alfons’ IV. von Portugal an den Papst von 1345 gemeint, in dem eine Fahrt der Portugiesen zu den Kanarischen Inseln erwähnt wird 7 . 1344 ließ sich Luis de la Cerda, ein Urenkel Alfons’ X. von Kastilien, von Papst Clemens VI. mit den Kanarischen Inseln belehnen. Dieser Akt rief heftige Reaktionen in Spanien und Portugal hervor, die bereits die später noch zunehmende kastilisch-portugiesische Rivalität andeuten. Er zeigt auch das Ringen verschiedener Kräfte um das Archipel; neben Kastilien und Portugal müssen Frankreich (das Herkunftsland von Luis de la Cerda) sowie Mallorca bzw. Aragón genannt werden. Bei dieser Ausgangslage gewann die päpstliche Entscheidungs- und Legitimationshilfe grundlegende Bedeutung, die auch für die weitere Entwicklung der europäischen Expansion wichtig blieb. Spätere Fahrten der Katalanen und Mallorquiner wie auch der Kastilier und Andalusier im 14. Jahrhundert können noch nicht als eine planmäßige Inbesitznahme oder Unterwerfung bezeichnet werden; sie hatten teilweise einen missionarischen Hintergrund, waren jedoch teilweise auch reine Beutezüge 8 . Erst die Unternehmungen des Normannen Jean IV. de Béthencourt und von Gadifer de [53/ 54] la Salle (1402), über die wir einen ausführlichen Bericht besitzen 9 , können als erster Versuch gelten, die Inseln Lanzarote, Fuerteventura und Hierro des Archipels zu erobern und teilweise zu kolonisieren. Auch Béthencourt bediente sich der päpstlichen und außerdem der kastilischen Unterstützung. Nachdem Gil Eanes 1433 versucht hatte, das Kap Bojador zu umsegeln, wurden die Kanarischen Inseln auch für Portugal wieder zunehmend als Stützpunkt interessant. Deshalb nahm im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts die portugiesischkastilische Rivalität weiter zu und erreichte zur Zeit des Basler Konzils einen Höhepunkt. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage der Mission, der Versklavung der heidnischen Bewohner und der Entwicklung von rechtlichen Normen äußerst intensiv diskutiert. Die eigentliche Eroberung und Kolonisation der Inseln Gran Canaria, Palma und Tenerife erfolgte dann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, vor allem, nachdem das ganze Archipel im Vertrag von Alcaçovas 1479 endgültig Kastilien zugesprochen worden war. Somit sind zwei Phasen zu unterscheiden: eine erste bis 1479 und eine weitere von 1479 bis etwa 1520 10 . (Diese Quellensammlung ist grundlegend und ersetzt bisherige Drucke; im folgenden als MH mit Band-, Seitenzahl und Nr. zitiert), Bd. 1 S. 203, Nr. 87, übers. v. G. S C H M I T T , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 48-53. Der Bericht stammt aus dem Jahr 1341, dort wird jedoch von einer Entdeckung „kurz zuvor“ berichtet; d. h. die Entdeckung könnte noch in den dreißiger Jahren stattgefunden haben. - Nicht zugänglich war mir A . D . D E S O U S A C O S T A , Súplicas dos pontificados de Clemente VI, Inocéncio VI e Urbano V (Monumento Portugaliae Vaticana 1, Rom/ Porto 1968). 7 Vgl. den Brief von (1345) Februar 12, MH I 230-234 Nr. 97 (vgl. auch: Clementis papae VI epistolae . . . quae ad Franciam pertinent, ed. E. D É P R E Z und G. M O L L A T , S. 314f. Nr. 1317): gentes nostras et naues aliquas illuc misimus, ad illius patrie conditionem explorandum . . . 8 Vgl. hierzu unten Abschnitt I und II. 9 Le Canarien, vgl. zur Edition und Quellenkritik unten Anm. 25. 10 Im weiteren steht die erste Phase im Vordergrund der Überlegungen; lediglich gelegent- <?page no="202"?> 202 Geschichte der Iberischen Halbinsel Da während der gesamten Zeit nicht nur die Eroberung und Inbesitznahme praktisch erfolgte, sondern auch heftig und kontrovers in der Theorie erörtert wurde, sollen die folgenden fünf Abschnitte auch diese Aspekte ansprechen 11 . I. Zunächst zu den Problemen, die schon bei den frühen Beute- und Missionsfahrten im 14. Jahrhundert wichtig wurden: Sklaverei und Mission. Sklaverei und Sklavenhandel sind keine besonderen Probleme der alten und neuen Geschichte, sondern während des gesamten Mittelalters gab [54/ 55] es - wenn auch in verschiedener Intensität und nicht in allen Gegenden Europas - Sklaverei und Sklavenhandel 12 . Die Sklaverei nahm jedoch am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit im Zusammenhang mit der europäischen Expansion deutlich zu. Von der Wiederentdeckung der Kanarischen Inseln an ging mit ihrer Eroberung und der Missionierung ihrer Bewohner die teilweise Versklavung der Bevölkerung Hand in Hand. Bereits 1342, also vor der Belehnung von Luis de la Cerda 1344 13 , gab es nachweislich mehrere Fahrten der Mallorquiner zu den Kanarischen Inseln 14 . Entsprechend berichten zwei Urkunden Peters IV. von Aragón aus dem Jahre 1346, daß die Mallorquiner Kaperfahrten zu den Kanaren unternähmen und sie in Mallorca Sklaven und Sklavinnen von den Kanarischen Inseln hielten 15 . lich wird die zweite mitbehandelt. M. A. L A D E R O Q U E S A D A , La economía de las Islas Canarias a comienzos del siglo XVI, Anuario de estudios atlanticos 31 (1974) S. 725-749 unterscheidet drei Phasen: die Entdeckung im 14. Jahrhundert, die militärische Eroberung im 15. Jahrhundert und die Formierung einer neuen Gesellschaft am Ende des 15. Jahrhunderts (S. 725). 11 Diese Aspekte bleiben bei V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1) im Hintergrund. 12 Ch. V E R L I N D E N , L’esclavage dans l’Europe médiévale, Bd. 1: Péninsule ibérique, France (Brügge 1955), zu den Kanarischen Inseln S. 550ff. und 617. Vgl. auch den knappen Überblick von D E M S ., Wo, wann und warum gab es einen Großhandel mit Sklaven während des Mittelalters? (Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Köln 1970). 13 Vgl. unten S. 65f. 14 A. R U M E U D E A R M A S , Mallorquínes en el Atlantico, in: Homenaje a Elías Serra Ráfols, Bd. 3 (La Laguna 1970) S. 261-276, besonders S. 262-265, mit Textedition S. 272 und F. S E V I L L A N O C O L O M , Mallorca y Canarias, Hispania. Revista española de Historia 32 (1970) S. 123-148, besonders S. 124-133, Ed. S. 141 (Nachdr.: Anuario de estudios atlánticos 18 [1972]). Vgl. die dort zitierte Literatur. 15 1346 August 28: . . . habitatores Maioricarum . . . qui habent captivos dictarum insularum Fortunie . . . sowie: . . . nonnulli habitatores Maioricarum cum armatis navigiis et alias transfretant seu transfretare intendunt pro dampnificando insulas Fortunie sine dicti principis consciencia seu consensu . . . , J. V I N C K E , Der verhinderte Kreuzzug Ludwigs von Spanien zu den Kanarischen Inseln, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Erste Reihe 17 (1961) S. 57-71 Anhang 8 und 9 (die Zitate auf S. 67). Vgl. D E N S ., Die Evangelisation der Kanarischen Inseln im Geiste Raimund Lulls, Estudios Lulianos 4 (1960) S. 307-314, S. 303. <?page no="203"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 203 In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts herrschten besonders zwei Tendenzen vor: einerseits die hauptsächlich von Mallorca bzw. Aragonien ausgehenden Versuche, die Inseln zu missionieren 16 , andererseits die wiederholten Fahrten, um Beute und Sklaven zu machen 17 . Da-[55/ 56]bei werden in der Forschung oft mallorquinisch-katalonische Züge von den andalusischkastilischen Unternehmungen unterschieden 18 und häufig die eher religiösmissionarisch motivierten Fahrten aus Mallorca und Katalonien 19 den kastilisch-andalusischen „Raubzügen“ gegenübergestellt. Eine solche Unterscheidung läßt jedoch unberücksichtigt, daß sich zumeist mehrere Ziele mischten. Dieses Bild scheint zudem durch die Überlieferung mitbestimmt zu sein; sie ist bei genauerem Studium der Quellen zu korrigieren. So berichtet der Text des Züricher Kanonikers Felix Malleolus Hemmerlin († 1458) über eine Fahrt von mallorquinischen Seeleuten, die etwa 1370 stattgefunden haben soll 20 . Er zeigt, daß es sich auch bei dieser Reise wohl nicht um eine Missionsfahrt, sondern eher um einen nicht genauer geplanten Beutezug gehandelt hat 21 , bei dem sich 16 Vgl. hierzu unten Abschnitt II. 17 Grundlegend hierzu: A. R U M E U D E A R M A S , Piraterías y ataques navales contra las islas Canarias, 3 Bde. (Madrid 1947-1959), für die hier zur Debatte stehende Zeit Bd. 1 S. 3-46 sowie B. B O N N E T Y R E V E R O N , Las expediciones a Canarias en el siglo XIV, Revista de Indias 18 (1944) S. 577-610 und 19-21 (1945) S. 7-31, 189-220 und 389-414 (lag mir nur teilweise vor); vgl. ferner: F. P É R E Z E M B I D , Los descubrimientos en el Atlantico y la rivalidad castellano-portuguesa hasta el tratado de Tordesillas (Sevilla 1948) S. 81- 101; A. P É R E Z V O I T U R I E Z , Problemas internacionales de la conquista de Canarias (La Laguna 1958) S. 134ff.; K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 115-118 und J. M E R C E R , The Canary Islanders. Their Prehistory, Conquest and Survival (London 1980) S. 156-159. 18 P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 81-101; K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 116. Hinzuzufügen wären noch die Fahrten italienischer und französischer Schiffe, über die wir aber nur dürftig informiert sind. Die angebliche Fahrt der „matelots de Cherbourg“, die in den Anfang des 14. Jh. gehören soll, entbehrt gesicherter Quellen und ist endgültig ins Reich der Legende zu verweisen, vgl. P É R E Z E M B I D , S. 60f. Zu Portugal und „Lancelotto“ vgl. E. S E R R A R Á F O L S , Lancelotto Malocello et la découverte portugaise des Canaries, Revue belge de philologie et d’histoire 36 (1958) S. 1173-1209; D E R S ., Lancelotto Malocello en las islas Canarias, in: Congresso internacional de historia dos descubrimentos. Actas III (Lissabon 1961) S. 467-478. Vgl. zur umstrittenen Echtheit des Transsumptes König Jo-os I. die Diskussion zwischen S E R R A R Á F O L S und C H . V E R L I N D E N , die L. V O N E S , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 272 Anm. 2 resümiert. 19 Die umfangreiche ältere Literatur verzeichnet P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 81-84 Anm. 60. Vgl. ferner R U M E U D E A R M A S , Mallorquínes (wie Anm. 14) und D E N S ., El opispado de Telde (Madrid 1960), insbesondere S. 27-111. 20 Der Bericht ist inseriert in das Werk von Felix Hemmerlin, De nobilitate et rusticitate. Den einschlägigen Passus dieses zwar gedruckten, aber fast nicht mehr greifbaren Werkes hat A. L Ü T O L F , Zur Entdeckung und Christianisierung der westafricanischen Inseln, Theologische Quartalschrift (1877) S. 319-332 ediert. Die zuweilen unter dem Titel: Acerca del descubrimiento y cristianización de las islas del occidente de Africa por . . . de Lucerna, Revista de Historia 64 (1942) S. 284-292 zitierte Abhandlung ist eine spanische Übersetzung dieser Edition. 21 . . . Cum pyrate quandam galeam sive classem regis Aragoniae hostiliter insequerentur . . . , ebenda S. 322. Auch ein mallorquinischer Zug von 1366 scheint militärische Ziele verfolgt zu <?page no="204"?> 204 Geschichte der Iberischen Halbinsel Piraterie und Handelsinteressen vermischten. Der maghrebinische Geschichtsschreiber Ibn Khald ¯ un († 1406) erwähnt für das Jahr 1377 kanarische Sklaven, die im heutigen Marokko lebten 22 . [56/ 57] Aber nicht nur in Marokko, sondern auch auf Sklavenmärkten in Sevilla und Mallorca wurden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kanarische Ureinwohner als Sklaven gehandelt. Wie es scheint, entwickelte sich schon seit dieser Zeit Sevilla als wirtschaftlicher und strategischer Bezugspunkt für die atlantischen Eroberungen 23 . In der Chronik Heinrichs III. heißt es zum Jahre 1393, Schiffe mit sevillanischer und baskischer Besatzung seien von Sevilla aufgebrochen und hätten unter anderem 160 Gefangene von den Kanarischen Inseln mitgebracht. Der Text ist eines der frühesten Zeugnisse für wirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken, denn wie der Verfasser anschließend bemerkt, seien die Inseln leicht und mit nur geringem Kostenaufwand zu erobern 24 . Von weiteren Versklavungen am Beginn des 15. Jahrhunderts erfahren wir aus der Chronik „Le Canarien“ 25 , die über die Entdeckungsfahrt des Normanhaben, A. R U M E U D E A R M A S , La expedición mallorquína de 1366 a las Islas Canarias, Anuario de estudios atlánticos 27 (1981) S. 15-23, Apendice S. 23: . . . coram insulas de Canaria et alios hostes nostros . . . 22 „We have heard that European Christian ships reached them in the middle of this century, fought with the (inhabitants), plundered them, captured some of them, and sold some of the captives along the Moroccan coast . . . “, Ibn Khaldún, Muqaddimah, ed. u. trad. F. R O S E N T H A L , 3 Bde. (London 1958, 2 1967) S. 116f. 23 Vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 116. - Die Landwirtschaft in Mallorca war bereits zu dieser Zeit auf Sklavenwirtschaft eingerichtet; Eigentümer mit 10-60 oder sogar mit mehr Sklaven sind seit 1374 belegt, vgl. V E R L I N D E N , Wo (wie Anm. 12) S. 24f. sowie D E N S ., in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) S. 185, der für die Zeit bis 1348 den Anteil der Sklaven auf 36% berechnet und für 1428 17,94% vermerkt; vgl. ebenda S. 186-189 die Übersetzung einer Überwachungsordnung für Sklaven auf Mallorca von 1406. Vgl. allgemein V E R L I N D E N , Esclavage (wie Anm. 12) S. 249ff. 24 Pedro Lopez de Ayala, Chronik Heinrichs III., Anm. 3, Kap. 20, ed. C. R O S E L L , Cronicas de los Reyes de Castilla (Biblioteca de Autores Españoles 68, Madrid 1953) S. 214f.: „ . . . algunas gentes de Sevilla, é de la costa de Vizcaya é de Guipuzcoa, armaron algunos navios en Sevilla, é levaron caballos en ellos, é pasaron á las islas que son llamadas Canarias . . . é tomaron el Rey é la Reyna de la isla con ciento é sesenta personas, en un logar, é trajeron otros muchos de los moradores de la dicha isla . . . E enviaron á decir al Rey lo que alli fallaron, e como eran aquellas islas ligeras de conquistar, si la su merced fuese, é á pequeña costa.“ 25 Pierre Boutier und Jean le Verrier, Le Canarien. Cronicas francesas de la Conquista de Canarias, ed. E. S E R R A ( R Á F O L S ) und A. C I O R A N E S C U (Fontes Rerum Canariarum, Bde. 8, 9 und 11, La Laguna 1959, 1960 und 1964) Kap. 42, S. 154-156. Mit dieser Ausgabe liegt erstmals ein kritischer Text von beiden Fassungen der Chronik (mit spanischer Übersetzung) vor. Text G (= Bd. 11) berichtet über die Zeit von 1402-1404 aus der Perspektive des Gadifer de la Salle, während Text B (= Bd. 9) den Aktionen von Gadifer de la Salle kritisch gegenübersteht und bis 1406 reicht. Der Einleitungsband (= Bd. 8) enthält neben einer umfassenden Einleitung noch weitere 140 Dokumente. Die älteren Editionen sind durch diese Ausgabe überholt. Leichter greifbar ist die englische Übersetzung mit einer noch immer lesenswerten Einleitung: P. Boutier und J. le Verrier, The Canarian or book of the Conquest and Conversion of the Canarians by Messire Jean de Béthencourt, hg. von R. H. M A J O R <?page no="205"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 205 nen Béthencourt berichtet. Eine Freilassungsurkunde von 1415 nennt eine kanarische Sklavin namens Antonia 26 . [57/ 58] Auch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gibt es noch zahlreiche einzelne Nachweise, die zeigen, wie die Versklavung der Kanarier bis ins 16. Jahrhundert weiter fortschritt 27 . In dieser Zeit, insbesondere nach 1479, als die Siedlung und Kolonisation auf den Kanarischen Inseln systematischer betrieben wurde, unterwarf man auch die Urbevölkerung, vor allem auf den Inseln Gran Canaria, La Palma und Tenerife. Die Kanarier wurden als Sklaven verschleppt oder arbeiteten als Abhängige auf ihren Inseln und wurden dort assimiliert, waren aber bis auf die einheimische Führungsschicht schlechter gestellt als die aus Portugal, Italien und Kastilien stammenden Siedler 28 . Über die Sklaverei am Ende des 15. Jahrhunderts und insbesondere während des 16. Jahrhunderts sind wir in jüngerer Zeit umfassend informiert worden 29 . Nach einer Rebellion auf La Gomera und nachdem der Conquistador Alonso Fernández de [58/ 59] Lugo die Inseln La Palma und Tenerife unterworfen hatte, wurden am Ende des 15. Jahrhunderts - besonders in den Jahren 1494-1496 - zahlreiche Kanarier versklavt, bald jedoch wieder freigelassen 30 . Dafür brachte (New York 1872, ND 1971). - Über den Verkauf von 400 Sklaven vgl. auch V. C O R T E S A L O N S O , Cautivos (wie Anm. 1) S. 140 mit weiteren Quellennachweisen zur Sklaverei. 26 1415 April 24, ed. S E V I L L A N O C O L O M , Mallorca y Canarias (wie Anm. 14) S. 143-146; vgl. weitere, spätere Dokumente ebenda S. 146-148 sowie allgemein zu den kanarischen Sklaven auf Mallorca S. 136-138 und Anm. 23. - V. C O R T E S ( A L O N S O ), La conquista de las islas canarias a través de las ventas de esclavos de Valencia, Anuario de estudios atlanticos 1 (1955) S. 479-547, S. 483. D I E S ., Cautivos (wie Anm. 1) S. 140 zitiert die Chronik des Gomes Eanes de Azurara, um den Verkauf von Guanchen (so der Name der kanarischen Urbevölkerung von Tenerife) als Sklaven in Lagos zu belegen. Jedoch ist der Text der Chronik nicht eindeutig. Zur Chronik des Azurara vgl. Anm. 79. 27 Vgl. hierzu die Arbeiten von V. C O R T E S A L O N S O , La esclavitud en Valencia durante el reinado de los reyes Católicos (1479-1516) (Valencia 1965); C O R T E S A L O N S O , Conquista (wie Anm. 26) und D I E S ., Cautivos (wie Anm. 1); vgl. auch zu den kanarischen Sklaven, die nach Italien kamen: Ch. V E R L I N D E N , Gli Italiani nell’economía delle Canarie all’inizio della colonizzazione spagnola, Economia e Storia (1960) S. 149-172, S. 169. - M A R R E R O R O D R Í G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) behandelt die wichtigste Insel im Westen der Inselgruppe; M. L O B O C A B R E R A , La esclavitud en las Canarias orientales en el siglo XVI (Negros, moros y moriscos) (Santa Cruz de Tenerife 1982) äußerst detailliert den Osten. - Die Bezeichnung „Kanarier“ entspricht nicht der Vielfalt der verschiedenen Völker auf den Inseln (vgl. z. B. Guanchen für Tenerife); sie wird aus Gründen der Vereinfachung für die Gesamtheit der nichteuropäischen Inselbewohner verwendet. 28 F. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , The Canary Islands after the Conquest. The Making of a Colonial Society in the Early Sixteenth Century (Oxford 1982) S. 201; zur Besiedlung vgl. unten Abschnitt III. 29 Vgl. vor allem V. C O R T E S ( A L O N S O ), Conquista (wie Anm. 26); M A R R E R O R O D R Í - G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) und L O B O C A B R E R A , Esclavitud (wie Anm. 27). 30 D. W Ö L F F E L , Los gomeros vendidos por Pedro de Vera y doña Beatriz de Bobadilla, El Museo Canario 1 (1933) S. 5-84; C O R T E S A L O N S O , Esclavitud (wie Anm. 27) S. 53- 65; C O R T E S ( A L O N S O ), Conquista (wie Anm. 26) S. 486-500; an speziellen Studien: M A R R E R O R O D R Í G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) S. 22-24 und 84 (mit Betonung der Sondersituation auf Tenerife). Zum Rückgang der „einheimischen Sklaven“ vgl. auch L O B O C A B R E R A , Esclavitud (wie Anm. 27) S. 205-225. <?page no="206"?> 206 Geschichte der Iberischen Halbinsel man im 16. Jahrhundert zunehmend Sklaven aus den afrikanischen Küstengebieten auf die Inselgruppe, die vor allem in der Zuckerherstellung arbeiteten 31 . Teilweise wurden die Kanarischen Inseln auch zum Umschlagplatz für den Sklavenhandel von Afrika nach Amerika 32 . Wie läßt sich die Sklaverei auf den Kanarischen Inseln und der Handel mit kanarischen Sklaven charakterisieren? Blickt man auf die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts, so muß man verschiedene zeitliche und geographische Phasen unterscheiden. Die bis 1479 vorherrschenden Beutefahrten brachten Kanarier nach Spanien und vereinzelt auch nach Portugal. Während der planmäßigen Eroberung und Kolonisation nach 1479 kamen zwar noch weitere Sklaven aus dem Archipel auf die Iberische Halbinsel - mit einem letzten Höhepunkt 1494-1496 - doch bald endeten diese Transporte, denn für eine längerfristig angelegte Kolonisation konnte man die ohnehin nur dünn besiedelten Inseln 33 nicht vollständig entvölkern. Die früheren Bemühungen kirchlicher Institutionen, von einer Versklavung potentieller Christen abzusehen, wurden von der spanischen Krone aufgegriffen. Für eine Kolonisation benötigte man eben neben den hauptsächlich von der Iberischen Halbinsel stammenden Siedlern noch weitere Arbeitskräfte, die teilweise noch zusätzlich aus den dem Archipel benachbarten Gebieten des afrikanischen Festlandes herbeigeschafft wurden. Insofern ähnelt die Situation auf den Kanarischen Inseln eher der späteren Situation in Amerika als in Afrika, man brauchte Ar-[59/ 60]beitskräfte für die neue Wirtschaft und die neuen Wirtschaftsformen 34 . Die zwiespältige Rolle der Kanarischen Inseln wird gut aus der Situation am Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts deutlich: Kanarische Bewohner wurden als Sklaven nach Madeira oder auf die Azoren zusammen mit Negersklaven gebracht 35 . Auf den Kanaren selbst arbeiteten hingegen Schwarze und Mauren als Sklaven, hauptsächlich in den Zuckermühlen 36 . Dies waren Bevölkerungsverschiebungen, die eher akuten Bedürfnissen entsprangen als einem größeren Plan. Gegen die Sklaverei erhob sich schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Protest, wenn auch zunächst nur verhalten. Papst Eugen IV. verbot 1434, Sklaven auf den Kanarischen Inseln gefangenzunehmen und befahl, frühere 31 M A R R E R O R O D R Í G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) S. 47ff. und 84. 32 Vgl. M A R R E R O R O D R Í G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) S. 54-59; L O B O C A B R E R A , Esclavitud (wie Anm. 27) S. 161-202 und D E R S ., Relaciones entre Gran Canaria, Africa y America a través de la trata, in: Il Coloquio de Historia Canario Americana V,1 (1977) S. 119-133. Vgl. zur Verschleppung von Kanariern nach Amerika: M. S A N T I A G O , Colón en Canarias, Anuario de estudios atlanticos 1 (1955) S. 337-396, S. 383ff. sowie den allgemeinen Literaturbericht zur Neuzeit: H. P I E T S C H M A N N , Der atlantische Sklavenhandel bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts - eine Problemskizze, Historisches Jahrbuch 107 (1987) S. 122-133. 33 Vgl. unten Abschnitt III sowie Anm. 102. 34 Vgl. unten S. 79 sowie zusammenfassend M A R R E R O R O D R Í G U E Z , Esclavitud (wie Anm. 2) S. 107f. 35 M E R C E R , Canary Islanders (wie Anm. 17) S. 225-227; F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 20. 36 M E R C E R , Canary Islanders (wie Anm. 17) S. 234-237. <?page no="207"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 207 Gefangene wieder freizulassen 37 . Bisher wurde jedoch zu wenig unterstrichen, für wie wichtig der Papst bzw. die Impetranten der Urkunde diese Mahnung erachteten und wie wenig der päpstlichen Aufforderung demgegenüber gefolgt wurde. Nur so erklärt sich, daß Eugen IV. am 13. Januar 1436 sein Anliegen wiederholte 38 . Aus den [60/ 61] beiden päpstlichen Schreiben wird auch deutlich, auf welchen rechtlichen Grundlagen die Sklavennahme basierte. Die Idee der Versklavung stand grundsätzlich in der Tradition der Reconquista und der Kreuzzüge, so daß Kreuzzugsbullen oft implicite auch das Recht zur Versklavung einschlossen 39 . Die Vorstellung, daß man auch bei den Kanarenzügen den Kampf gegen die Sarazenen fortsetzte, war vor allem von portugiesischer Seite beim Basler Konzil vertreten worden 40 . Die Bekriegten waren allerdings keine Muslime und konnten so nach der Auffassung der Zeit eher für den christlichen Glauben gewonnen werden. An diesem Punkt setzten die beiden zitierten päpstlichen Schreiben von 1434 und 1436 an; dort heißt es nämlich, einige der Gefangenen seien getauft gewesen oder hätten kurz vor der Taufe gestanden 41 37 Creator ommium, 1434 Dezember 17, MH V S. 118-123 Nr. 42, S. 121: nonnulli christiani . . . ad prefatas insulas, cum eorum navigiis, manu armata, incedentes, plures inibi, eciam iuxta ipsorum simplicitatem incaute raptos, utriusque sexus homines, nonullos iam tunc baptismatis unda renatos et alios ex eis, sub spe ac pollicitacione quod eos uellent sacramento baptismatis insignire, eciam quandoque fraudulenter et deceptorie securitatis fide promissa et non servata, secum captiuos eciam ad partes cismarinas duxerunt, bonis eorum prede expositis seu in eorum usus et utilitatem conuersis, nonnullos quoque ex habitatoribus et incolis predictis subdiderunt perpetue seruituti ac aliquos personis aliis uendiderunt et alia contra eos diuersa illicita et nepharia commiserunt . . . , S. 122: . . . pristine restituant libertati ac totaliter liberos perpetuo esse . . . Vgl. hierzu Ch.-M. D E W I T T E , Les bulles pontificales et l’expansion portugaise au XV e siècle, Revue d’histoire ecclésiastique 48 (1953) S. 683-718, 49 (1954) S. 438-461, 51 (1956) S. 413- 453 und 809-836, 53 (1958) S. 5-46 und 443-471 (auch separat, im folgenden nach der Zeitschriftenfassung zitiert; sehr viel des von D E W I T T E erschlossenen Materials wurde in die MH aufgenommen), hier Bd. 48 S. 711-712; K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 246 und P. E. R U S S E L , El descubrimiento de Canarias y el debate medieval acerca de los derechos de los príncipes y pueblos paganos, Revista de historia canaria 36 (1978) S. 9- 32, hier S. 21f. Laut D E W I T T E könnte das Kriegsverbot vielleicht gegen die Portugiesen gerichtet gewesen sein. 38 Dudum nostras, MH V S. 184f. Nr. 83 mit wörtlicher Übernahme des in der vorigen Anm. zitierten Schreibens. Vgl. auch die Urkunde Eugens IV. Regimini gregis, 1434 September 29, MH V S. 89-93 Nr. 38, in der von den pacifici incedentes (S. 91) die Rede ist. Zur Haltung Eugens IV. vgl. auch Abschnitt V. 39 Vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 297. 40 Vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 298; und unten S. 81ff. Außerdem gab es weiterhin das Recht, Kriegsgefangene zu machen, vgl. ebenda S. 302. 41 Creator omnium, vgl. das Zitat in Anm. 37. Zur Politik der Kurie und der spanischen Krone vgl. bereits D. W Ö L F E L , La curia romana y la corona de España en la defensa de los aborígenes canarios, Anthropos 25 (1930) S. 1011-1083 mit umfangreichem Quellenkatalog (S. 1032-1083); vgl. auch die spätere Urkunde Pius’ II. Pastor bonus von 1462 Oktober 7, MH XIV S. 230-236 Nr. 89 mit der Aufforderung, kanarische Sklaven, die zwar getauft, aber trotzdem von Piraten oder anderen versklavt worden waren, in die Freiheit zu entlassen. Vgl. über die gängige spätmittelalterliche Lehre P I E T S C H M A N N , Europ. Expansion (wie Anm. 3) Sp. 181 zur Versklavung von Nichtmuslimen; demnach setzten sich thomistische Vorstellungen nur zögernd durch. Die Kanarischen Inseln bieten hierfür frühe Ansätze. <?page no="208"?> 208 Geschichte der Iberischen Halbinsel - entsprechend begründete man die Freilassung eines Sklaven nicht nur mit der Heirat oder dem Freikauf, sondern häufig auch mit der Taufe 42 . Dies bezeugen unter anderem die Freilassungsurkunden für christliche Kanarier im 15. Jahrhundert 43 . Auch die auf den Kanarischen Inseln etablierte christliche Hierarchie griff zugunsten der versklavten Kanarier ein; so verteidigte der Bischof [61/ 62] der Kanarischen Inseln die einheimischen Inselbewohner mit dem Argument, daß die meisten der Sklaven Christen seien 44 . Die päpstlichen Urkunden lassen allerdings auch andere Akzente erkennen. Nikolaus V. (1447-1455) gewährte in seiner Urkunde Romanus pontifex den Portugiesen weitreichende Rechte, um in Afrika die Ungläubigen zu versklaven 45 . Hier klingt es an einigen Stellen sogar fast so, als sollte die Versklavung den Missionsbemühungen vorausgehen 46 . Nikolaus V. hatte hier jedoch die Afrikafahrten der Portugiesen, nicht die Eroberung der Kanarischen Inseln im Auge. 42 L O B O C A B R E R A , Esclavitud (wie Anm. 27) S. 255ff., besonders S. 260-262. C O R T E S ( A L O N S O ), Esclavitud (wie Anm. 27) hat bei der Untersuchung ihres Quellenmaterials allerdings festgestellt, daß die Taufe vor allem bei jüdischen Sklaven als Grund für die Freilassung galt (S. 136ff.), was in diesen Fällen auf die besondere Stellung der Juden in Valencia zurückzuführen ist. 43 Ed. C O R T E S A L O N S O , Cautivos (wie Anm. 1) S. 145-148; vgl. dort weitere Belege zu den Jahren 1184 und 1185. - Zur Freilassung kanarischer Sklaven vgl. u. a. die in Anm. 38 zitierte Urkunde Dudum nostras. Auf einem anderen Blatt steht, ob Kanarier dieses Argument im einzelnen Fall zur Geltung bringen konnten; skeptisch hierzu vor allem M E R C E R , Canary Islanders (wie Anm. 17) S. 223ff. 44 Vgl. C O R T E S ( A L O N S O ), Conquista (wie Anm. 26) S. 488. Vgl. ferner W Ö L F E L , Curia romana (wie Anm. 41) S. 1024, 1052 und 1053-1058. Zur kirchlichen Infrastruktur auf den Kanarischen Inseln vgl. S. J I M É N E Z , Canarias, in: Diccionario de Historia eclesiastica de España, Bd. 1 (1972) S. 327-331. Vgl. ferner A. O L I V E R , Conquista y evangelización de las Canarias, in: Historia de la Iglesia en España II 2 (Biblioteca de Autores cristianos, Maior 22, Madrid 1982) S. 408-415 mit weiterer Literatur. Oliver erklärt den Untergang des Bistums von Telde 1393 auch mit den fortwährenden „razzias esclavistas“ (S. 412). 45 1455 Januar 8, MH XII S. 71-79 Nr. 36. Vgl. die Übersetzung von U. K N E F E L K A M P / G . S C H M I T T , in: S C H M I T T (Hg.): Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 223-231 (mit weiterer Literatur). Vgl. ähnlich auch bereits Dum diversas, 1452 Juni 18, MH XI S. 197-202 Nr. 145. - Schon hier sei darauf verwiesen, daß das wechselhafte Bild in den Papsturkunden auch auf den Einfluß der Impetranten zurückgeführt werden kann, vgl. unten Anm. 161. - Zur portugiesischen Sklavennahme und zum Sklavenhandel an der westafrikanischen Küste vgl. G. K I N Z E L / T H . S C H L E I C H , in: S C H M I T T (Hg.): Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 4 S. 28-30 mit der dort zitierten Literatur. - Der Zusammenhang bzw. Widerspruch zwischen Sklaverei und Mission war nicht neu. Schon früher (seit dem 12. Jahrhundert) scheint es Konflikte zwischen abhängiger Arbeit von Nichtchristen und Taufe gegeben zu haben. Darauf deuten jedenfalls die Statuten des Zisterzienserordens zum Jahr 1151: De Saracenis antiqua sententia teneatur, scilicet ut nec emantur, nec baptizari prohibeantur, Statuta Capitulorum Generalium ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, ed. J. M. C A N I V E Z 1 (1116-1220) (Louvain 1933) 1152 (25) (S. 49); ähnlich wird die Vorschrift wiederholt 1157 (49) (S. 66); 1176 (16) (S. 83) und 1215 (10) (S. 436). Sollten Muslime die Taufe zur Freilassung gesucht haben und/ oder verhinderten Christen die Taufe, um sich die muslimischen Arbeitskräfte zu erhalten? 46 Vgl. J. F I S C H , Die europäische Expansion und das Völkerrecht (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 26, Stuttgart 1984), S. 206f. <?page no="209"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 209 Die insgesamt wenig pointierte theoretische Stellungnahme der Päpste zum Sklavenproblem entsprach der Diskussion an den Universitäten. Dort übernahm man die aristotelische Begründung der Sklaverei, und stellte bis ins 14. Jahrhundert nicht die Forderung, diese aufzuheben 47 . [62/ 63] II. Die Möglichkeit, die eroberten Völker für das Christentum zu gewinnen, hängt mit dem Problem der Sklaverei zusammen. Nach kirchlicher Lehre war die Versklavung in der Regel dann ausgeschlossen, wenn die Bevölkerung christlich wurde 48 . In der Frühphase der europäischen Expansion war der Missionsgedanke zwar nicht unbekannt 49 , aber insgesamt beherrschten noch wirtschaftlich motivierte Beutefahrten, von Entdeckerdrang geleitete Vorstöße oder durch den Kreuzzugsgedanken beeinflußte Züge das Bild. Die Mission zählte allerdings in der Regel nicht zu den Zielen der Kreuzzüge 50 . Ein Wandel dieser 47 Vgl. J. M I E T H K E , Bildungsstand und Freiheitsforderung (12.-14. Jahrhundert), in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert, Protokoll über die Arbeitstagung vom 7.04.-10.04.1987 auf der Insel Reichenau Nr. 294 (ms. - schriftlich, demnächst im Druck), S. 36 [Jürgen M I E T H K E , Bildungsstand und Freiheitsforderung (12. bis 14. Jahrhundert), in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. von Johannes F R I E D (Vorträge und Forschungen 39) Sigmaringen 1991, S. 221-247]. Zu juristischen Aspekten der Debatte vgl. Abschnitt V. 48 Vgl. die in Anm. 43f. zitierten Beispiele zur Freilassung von Sklaven und die zitierten Papsturkunden Eugens IV. (Anm. 37f., 41 und 45). 49 Zu den früh- und hochmittelalterlichen Traditionen vgl. den Sammelband von H. B E U - M A N N (Hg.), Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der deutschen Ostpolitik des Mittelalters (Wege der Forschung 7, Darmstadt 1963). 50 Die Verbindung von Kreuzzugs- und Missionsidee in ihrer historischen Entwicklung findet sich jetzt gründlich aufgearbeitet bei: B. Z. K E D A R , Crusade and Mission. European Approaches toward the Muslims (Princeton 1984); allerdings ausschließlich im Hinblick auf die Bekehrung der Muslime. Die hiermit zusammenhängende Frage der Toleranz gegenüber dem Glauben des Gegners behandelt R. Ch. S C H W I N G E S , Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm von Tyrus (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 15, Stuttgart 1977) und die dort verarbeitete Literatur sowie (kritisch hierzu) H. M Ö H R I N G , Heiliger Krieg und politische Pragmatik: Salahadinus Tyrannus, DA 39 (1983) S. 417-466, besonders S. 439-466. - Bei diesen Erörterungen ist schließlich auch von Interesse, wie ein Kreuzzug definiert wird, und insbesondere, ob man die Reconquista auf der Iberischen Halbinsel als einen solchen auffaßt. Während z. B. J. G O Ñ I G A Z T A M - B I D E , La Historia de la bula de la cruzada (Victoriensia 4, Vitoria 1958) besonders S. 43-62 die Reconquista als Kreuzzug bezeichnet (so auch den Zug zu den Kanarischen Inseln 1344, S. 334f.), werden in jüngerer Zeit die vielfältigen Motive und Formen betont, die eine Gleichsetzung mit den Kreuzzügen ausschlössen. Allerdings sei in den päpstlichen Verlautbarungen große Ähnlichkeit zwischen Kreuzzügen und Reconquista zu erkennen, vgl. die Überlegungen von O. E N G E L S , Die Iberische Halbinsel von der Auflösung des Kalifates bis zur politischen Einigung, in: Handbuch der Europäischen Geschichte Bd. 2 (Stuttgart 1987) S. 918-998, S. 926-935 mit weiterer Literatur. Bestimmt ist bei der Beantwortung dieser Frage zeitlich und räumlich zu differenzieren. <?page no="210"?> 210 Geschichte der Iberischen Halbinsel Auffassung ist erst seit Papst Innozenz IV. (1243-1254) festzustellen. Er sah in einem Kreuzzug auch die Möglichkeit, künftige Missionsarbeit vorzubereiten; zudem schloß er auch die Ungläubigen außerhalb ehemals christlicher Länder in seine Überlegungen ein und forderte ein allgemeines Mis-[63/ 64]sionsrecht der Christen 51 . Obwohl bereits teilweise von Ludwig dem Heiligen in die Praxis umgesetzt 52 , gewann diese neue Position nur zögernd an Boden. In theoretischer Hinsicht blieb sie neben der von Hostiensis († 1270) entwickelten Variante (die den christlichen Führungsanspruch gegenüber nichtchristlichen Völkern stärker betonte) 53 bis zu Beginn der Neuzeit bestimmend 54 . Die Begründung der Missionsrechte ist insofern auch in größerem Zusammenhang interessant, weil hieraus bis in die Neuzeit oftmals die Rechte zur Eroberung nichtchristlicher Gebiete abgeleitet wurden 55 . So wenig wie sich in theoretischer Hinsicht ein eindeutiges, durchgängiges Bild ergibt, so wenig folgte auch die praktische Durchführung eindeutigen Zielen. Es lassen sich allenfalls bestimmte Tendenzen ermitteln. So standen z. B. die portugiesischen Afrikafahrten unter Heinrich dem Seefahrer noch in der Tradition der Kreuzzüge, weil man durch Afrika hindurch in das Reich des Priesterkönigs „Johannes“ 56 in Äthiopien gelan-[64/ 65]gen wollte, um von 51 Dabei waren Zwangsbekehrungen ausgeschlossen, jedoch sollte Missionaren der Zutritt verschafft werden. Die zentrale Passage in Innozenz’ IV. Dekretalenkommentar ist: Innozenz IV., Apparatus super quinque libros decretalium (Lyon 1525, Frankfurt 1570, Venedig 1578) X 3.34.8 par. 5 (quod super). Die Textpassage ist neu ediert und kommentiert von B. Z. K E D A R , Canon Law and the Burning of the Talmud, Bulletin of Medieval Canon Law, NS 9 (1979) S. 79-82; vgl. auch den kritischen Druck bei D E M S ., Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 217 sowie S. 160 Anm. 3 die Überlegungen zu einem Zusatz in der Frankfurter Ausgabe, dessen Stellenwert wohl erst durch die Forschungen von M. Bertram (Rom) sicher zu bestimmen sein wird. Vgl. ferner J. M U L D O O N , ‚Extra ecclesiam non est imperium‘. The Canonists and the Legitimacy of Secular Power, Studia Gratiana 9 (1966) S. 551-580, S. 572ff., der auch in seinem Buch: Popes, Lawyers and Infidels (Pennsylvania 1979) Innozenz IV. zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht (S. 6ff.) - Die Konsequenzen im Zusammenhang mit dem Völkerrecht behandelt F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 187-189. Vgl. dazu unten Abschnitt V. In größerem Zusammenhang beschreibt J. R I C H A R D , La Papauté et les missions d’Orient au Moyen Âge (XIII e -XV e siècles) (Collection de l’École française de Rome 33, Rom 1977) päpstliche Orientierungen bezüglich nichtchristlicher Völker. 52 Vgl. K E D A R , Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 161-169. 53 Hostiensis (Heinrich von Segusio), In primum . . . quartum decretalium librum commentaria, 2 Bde. (Venedig 1581, ND Turin 1965) X 3.34.8 (Band 2,1 fol. 128f.), vgl. K E D A R , Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 169f. sowie F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 189-191. - Hostiensis hatte mehr als Innozenz IV. die Muslime im Auge. 54 Vgl. K E D A R , Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 202f. und F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 192-196. 55 Vgl. unten Abschnitt V. 56 Vgl. hierzu zuletzt: U. K N E F E L K A M P , Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs Johannes. Dargestellt anhand von Reiseberichten und anderen ethnographischen Quellen des 12. bis 17. Jahrhunderts (Diss. Freiburg 1985) mit ausführlicher Besprechung der älteren Thesen zum Priesterkönig Johannes. <?page no="211"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 211 dort das Heilige Land zurückzuerobern 57 . Vor diesem Hintergrund erscheint es zukunftsweisend, daß es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ernsthafte Bestrebungen gab, die Kanarischen Inseln friedlich zu missionieren 58 . Natürlich blieben solche Absichtserklärungen problematisch, denn was sollte geschehen, wenn die Bevölkerung sich der friedlichen Mission widersetzte? Sehr häufig wurde dann doch der gewaltsame Weg eingeschlagen oder zumindest in Betracht gezogen 59 . Jedoch sollte man den Unterschied zwischen grundsätzlich friedlicher und vorsätzlich kriegerischer Absicht nicht verwischen. Das erste Zeugnis für friedliche Missionsabsichten ist die bereits zitierte Urkunde Clemens’ VI. von November 1344 für Ludwig de la Cerda, in der sich die päpstliche Lehensverleihung deutlich mit dem päpstlichen Missionswunsch verbunden findet 60 . Weitere Papsturkunden unterstützten diese Belehnung Ludwigs mit den Kanarischen Inseln 61 ; in einer heißt es, die heidnische Irrlehre solle auf den Inseln dem christlichen [65/ 66] Glauben weichen 62 . Wenn hier vom Heidentum die Rede ist, so dürfte - zumindest indirekt - eine Abgrenzung von Andersgläubigen wie den Muslimen, Juden oder Häretikern eingeschlossen sein 63 . Diese Abgrenzung ist umso wahrscheinlicher, als man 57 Die Suche nach dem Priesterkönig war nicht das alleinige Motiv für die portugiesischen Fahrten, vgl. ebenda S. 107-112 und D E R S ., in: S C H M I T T , Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 125f. sowie M. M E Y N , in: S C H M I T T , Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 2 S. 46-48 mit weiterer Literatur. Meyn wertet den Missionsgedanken als zentrales Motiv, jedoch zeichnen die frühen zeitgenössischen Quellen ein weniger eindeutiges Bild. 58 Vgl. zum Folgenden: J. Z U N Z U N E G U I , Los orígenes de las misiones en las islas canarias, Revista española de teología 1 (1941) S. 361-408, besonders S. 364-372; J. V I N C K E . Primeras tentativas misionales en Canarias, Analecta Sacra Tarraconensia 15 (1942) S. 291-301; P É R E Z V O I T U R I E Z , Problemas internacionales (wie Anm. 17) S. 170-194 sowie zusammenfassend: O L I V E R , Conquista (wie Anm. 44) S. 408ff. - Vorstellungen über friedliche Mission lassen sich auch bereits bei Kritikern der Kreuzzüge im 12. Jahrhundert feststellen, so z. B. bei Radulf Niger, De re militari et triplici via peregrinationis Ierosolimitane, ed. L. S C H M U G G E (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 6, Berlin 1977) S. 65 mit Zusammenstellung der Belege in Anm. 292 und dem Zitat des Urteils von Flahiff, daß hier „in gewisser Weise der franziskanische Missionsgedanke vorformuliert“ sei. 59 Dies betont F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 196ff. 60 Tue devotionis sinceritas, 1344 November 15, MH I S. 207-214 Nr. 89, S. 210: . . . ut in eisdem insulis orthodoxa fides propagetur et vigeat cultusque divinus inibi obseruetur et quod per tuum ministerium christianitatis termini dilatentur . . . , vgl. R I N G E L , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 205-215 mit Übersetzung der Urkunde und Verweis auf weitere Literatur. 61 Desiderabiliter affectantes, 1344 Dezember 11, MH I S. 216f. Nr. 91; Vinee Domini, 1344 Dezember 11, MH I S. 214-216 Nr. 90; zwei Urkunden Provenit ex tue, 1345 Januar 13, MH I S. 228-230 Nr. 95 und 96; vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 75ff. und R U M E U D E L A S A R M A S , Obispado (wie Anm. 19), S. 39ff. 62 Vinee Domini (wie Anm. 61): . . . quod ipse, ad acquirendas Fortunie ac quasdam alias insulas, in partibus Affrice consistentes et eidem adiacentes, ut ex illis eliminata paganei erroris spurcicia, diuini nominis ibidem laudetur gloria et catholice fidei uigeat plenitudo . . . (S. 215) - Weitere Urkunden finden sich teilweise nur bei Z U N Z U N E G U I , Misiones (wie Anm. 58) S. 385ff.; vgl. auch S E V I L L A N O C O L O M , Mallorca y Canarias (wie Anm. 14) S. 133-136. 63 Die Problematik der terminologischen Abgrenzung, wie sie z. B. S C H W I N G E S , Kreuz- <?page no="212"?> 212 Geschichte der Iberischen Halbinsel in der Mitte des 14. Jahrhunderts mehr und mehr feststellte, wie schwierig es war, die Mitglieder selbstbewußter Religionsgemeinschaften wie Muslime oder Juden ohne die Anwendung von Gewalt für das Christentum zu gewinnen 64 . Deshalb dürfte auch Clemens VI. ernsthaft an die friedliche Missionierung der Kanarier gedacht haben, und wenn er sie 1351 gentes ydolatras et paganos nennt, so mußte diese Ausdrucksweise nicht eine Abwertung der Rechte der Inselbewohner einschließen 65 . Ludwig de la Cerda konnte seinen geplanten Zug nicht ausführen 66 , [66/ 67] und in der Folgezeit übernahmen hauptsächlich die Mallorquiner den Missionsauftrag 67 . Wenn auch ihren Expeditionen kein großer Erfolg beschieden war, so glaubte man jedoch in den Intentionen dieser Missionsreisen den Einfluß des großen Theoretikers Raymundus Lullus aus Mallorca zu erkennen, insbesondere in den Formulierungen, daß durch „Wort und Beispiel“ die kanarische Bevölkerung für das Christentum gewonnen werden sollte 68 . Dieser Einfluß zugsideologie (wie Anm. 50) S. 91f., 121 und 127 versucht (insbesondere zwischen gentiles und pagani, wenn auch mit einigen Einschränkungen) hat M Ö H R I N G , Salahadinus (wie Anm. 50) S. 440-442 betont und eine Interpretation im jeweiligen Kontext gefordert. Im zitierten Beispiel dürfte spurcicia die Abgrenzung sicherstellen. - Wie unscharf die Begrifflichkeit jedoch sein konnte, zeigt eine Urkunde Pauls II. Rationi congruit, 1466 August, MH XIV S. 329-33 Nr. 145: dort heißen die Kanarier zunächst infideles et pagani, und kurz darauf werden die vom Christentum wieder abtrünnig gewordenen Kanarier als in heresi bezeichnet. Vgl. auch unten S. 88 mit Anm. 170. 64 Vgl. K E D A R , Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 202 mit Zitat verschiedener Quellenzeugnisse. 65 Dum diligenter, 1351 Mai 15, MH I S. 237f. Nr. 101; idolatrus ist hier wohl synonym mit paganus bzw. gentilis, vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae Lib. VIII 10,1 und 2, ed. W. M. L I N D S AY (Oxford 1911) Bd. 1 (ohne Paginierung), jetzt auch ed. J. O R O Z R E T A / M. A. M A R C O S C A S Q U E R O (Biblioteca de Autores Cristianos 433-434, Madrid 1982) S. 718. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus. Exploration and Colonisation from the Mediterranean to the Atlantic 1229-1492 (Hampshire/ London 1987) S. 232 glaubt, Bezeichnungen wie idolatrus könnten dahingehend gedeutet werden, heidnischen Völkern das Recht einer eigenen Souveränität abzusprechen, jedoch schließt der Kontext (vgl. Anm. 68) im vorliegenden Fall diese Interpretation m. E. aus. 66 V I N C K E , Verhinderte Kreuzzug (wie Anm. 15) insbesondere S. 61f. und D E R S ., Primeras tentativas (wie Anm. 58) S. 294; beide Abhandlungen mit Quellenanhang. 67 D E R S ., Primeras tentativas (wie Anm. 58 ) S. 294ff.; D E R S ., Evangelisation (wie Anm. 15) S. 310ff. 68 Dum diligenter (wie Anm. 65) S. 238: ad instruendum in fide catholica et moribus honestis gentes ydolatras et paganos habitantes in eis, doctrina uerbi pariter et exempli, per quorum solerciam uigilem possint dicte gentes in eisdem fide ac moribus instrui et unitati sancte matris ecclesie agregari . . . Zum Einfluß Lulls vgl. V I N C K E , Evangelisation (wie Anm. 15) S. 310. Die Positionen Lulls zur friedlichen Mission sind allerdings weniger eindeutig als der Artikel von Vincke dies suggeriert, vgl. bereits die noch vorsichtigen Einschränkungen bei B. A L T A N E R , Glaubenszwang und Glaubensfreiheit in der Missionstheorie des Raymundus Lullus. Ein Beitrag zur Geschichte des Toleranzgedankens, Hist. Jahrbuch 48 (1928) S. 586-619 sowie entschiedener K E D A R , Crusade and Mission (wie Anm. 50) S. 189-199. Vgl. allgemein zu Lulls ausgesprochen komplexer Lehre K. F L A S C H , Das philosophische Denken im Mittelalter (Stuttgart 1986) S. 381-394, besonders S. 385f. Eine Urkunde vom 31. August 1369 (ed. Z U N Z U N E G U I , Misiones [wie Anm. 58] S. 396 Nr. 17) zeigt, <?page no="213"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 213 scheint noch länger bestimmend geblieben zu sein, denn die Werke Lulls wurden auf den Kanarischen Inseln kopiert 69 . Ein weiterer Missionsversuch von 1386 blieb wenig erfolgreich; möglicherweise kamen in diesem Jahr dreizehn „freires chrestiens“ auf die Inseln, die man 1391 erschlug, und deren Testament Gadifer de la Salle 1403 erhielt 70 . Begleitet wurden diese Missionsversuche von kirch-[67/ 68]lich-organisatorischen Maßnahmen, so der Errichtung eines Bischofssitzes für die Kanarischen Inseln (1351 bzw. 1369-1403), der 1369 in Telde eingerichtet wurde; das Bistum unterstand unmittelbar dem Hl. Stuhl. Später war der Sitz des Bischofs der Kanarischen Inseln in Rubicon und La Palma 71 . Wenn sich auch diese Ansätze bescheiden ausnehmen und keinesfalls endgültig waren, so wird in späteren Papsturkunden immer wieder die schon bestehende kirchliche Infrastruktur hervorgehoben und ihr Ausbau weiter gefördert 72 . Die friedlichen Missionsversuche hatten allerdings nur sehr beschränkten Erfolg, u. a. litten sie wohl auch durch die fortgesetzten Beutefahrten 73 . Die kastilisch-portugiesische Rivalität im 15. Jahrhundert dürfte die weitere Mission zudem eher behindert als gefördert haben. Trotzdem konnte sie - mit gewissem Erfolg - fortgesetzt werden. Um 1430 übernahmen hauptsächlich Franziskaner die Missionsarbeit; sie konnten die Unterstützung von Papst Eugen IV. gewinnen, wie aus mehreren Urkunden und Briefen zu erkennen daß man das Problem der Verkündigung durch Dolmetscher lösen wollte. Verwirrung herrscht über die richtige Datierung dieser Urkunde, vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 86 und K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 117. Der auf der Registerüberlieferung beruhende Druck bei Z U N Z U N E G U I spricht jedoch für den 31. August als richtiges Datum (bei Z U N Z U N E G U I irrig 30. September). - Gegen Dolmetscher bei der Mission spricht sich Ricoldo da Montecroce ( † 1320) in seinen „Regulae generales“ aus, weil diese die Argumente der Missionare eventuell nicht richtig wiedergäben, vgl. A. D O N D A I N E , Ricoldiana. Notes sur les oeuvres de Ricoldo da Montecroce, Archivum fratrum praedicatorum 37 (1967) S. 119-179, S. 168-170. 69 Vgl. E. M. P A R E J A F E R N Á N D E Z , El Ms. luliano Torcaz I (La Laguna 1949). 70 Vgl. V I N C K E , Primeras tentativas (wie Anm. 58) S. 301 Nr. 3; P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 93f.; K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 117. - Zum Testament der dreizehn Brüder vgl. B. B O N N E T , El testamento de los trece frailes, Revista de Historia 7 (1941) S. 288-305 mit Analyse von „Dichtung und Wahrheit“. 71 Die Bischofsreihe beginnt wohl mit einem Karmeliter Bernhard, ist später dann jedoch nicht ganz sicher zu rekonstruieren, vgl. insgesamt M. F. N U Ñ E Z , Telde, in: Dicionario de Historia eclesiastica IV (Madrid 1975) S. 2542-2544. Vgl. ferner O L I V E R , Conquista (wie Anm. 44) mit weiteren Einzelheiten und J I M É N E Z , Canarias (wie Anm. 44). Der Bischofssitz in Telde wurde 1404 durch einen Sitz in Rubicon ersetzt, bis 1483 La Palma Bischofsstadt wurde. - R I C H A R D , Papauté et missions (wie Anm. 51) hebt hervor, daß die direkte Unterstellung von Missionsbistümern die päpstliche Missionspolitik seit dem 13. Jahrhundert zunehmend bestimmte (S. 15). 72 Vgl. den Druck der Urkunden zur Errichtung von Kirchen und anderen kirchlichen Einrichtungen bei Z U N Z U N E G U I , Misiones (wie Anm. 58) S. 399-408 Nr. 19-34. 73 Vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 117f. <?page no="214"?> 214 Geschichte der Iberischen Halbinsel ist 74 . Hier setzten sich langsam thomistische Auffassungen durch, die auch die grundsätzliche Freiheit der Inselbewohner berücksichtigten 75 . Ferdinand und Isabella unterstützten diese Ansätze, indem sie auch die- [68/ 69]jenigen Inselbewohner vor der Versklavung schützten, die in Kürze getauft werden sollten. Dies geschah nicht ganz uneigennützig: Wenn man sicherstellte, daß die Missionare und die „Bekehrten“ auch der kastilischen Krone ergeben waren, so hatten die Katholischen Könige viel gewonnen. Christliche, das Königtum anerkennende Kanarier waren besser als die für das Wohl nur weniger Großer zur Verfügung stehenden Sklaven. Die franziskanische Mission schritt jedoch nur zögernd voran; erst unter den Päpsten Pius II. (1458-1464), Paul II. (1464-1471) und Sixtus IV. (1471-1484) scheint sie auf den Kanarischen Inseln wieder erfolgreicher gewesen zu sein; Fray Alonso de Bolaño spielte hierbei eine wichtige Rolle. Der Text der Papsturkunden spiegelt teilweise die Konzeptionen dieser Phase franziskanischer Mission wider; so heißt es in der Urkunde Pius’ II. für den Franziskaner Bolaño über die Ordensleute: . . . qui, non timentes sed amantes barbaras nationes, ad illam conuersionem . . . pergunt intrepidi . . . 76 . Gegen 1480 nahm der franziskanische Einfluß zugunsten der Aktivitäten des Säkularklerus ab. Damit schwand auch die recht positive Beurteilung der Kanarier, wie sie die Franziskaner propagiert hatten. Einige dieser Franziskaner bzw. ihre Nachfolger wurden schon bald als Missionare in die Neue Welt entsandt 77 . Insgesamt gesehen sollte die Verbindung von Mission und Kolonisation nicht nur für die Eroberung der Neuen Welt, sondern teilweise auch (wie oft übersehen wird) für die portugiesischen Afrikafahrten zukunftsweisend werden. Allerdings diente die Mission ähnlich wie auf den Kanarischen Inseln auch in Amerika oft genug als Vorwand bzw. Instrument für eine „Europäisierung“ der fremden Völker 78 . Aber nicht nur in der Neuen Welt wurden die erprobten Formen der Mission übernommen: Auch die Portugiesen stellten 74 Vgl. z. B. direkt zur Mission: Sincere devotionis, 1432 Februar 1, MH IV S. 89f. Nr. 16; Cum tu ad insulas, 1432 Februar 4, MH IV S. 91f. Nr. 17; In supreme dignitatis, 1432 Februar 4, MH IV S. 93-95 Nr. 18; Regimini gregis, 1434 September 29, MH V S. 89-93 Nr. 38; Ad ea ex apostolice, 1434 September 29, MH V 93-95 Nr. 39; das für Eugen IV. angefertigte Gutachten von 1437 August 27, MH VI S. 139-199 Nr. 57 (vgl. unten Anm. 142) läßt die Möglichkeit der Mission unter Zwang erkennen: ut gentes ad fidem conuertantur . . . et pugnare contra infideles resistentes (S. 151). Vgl. allgemein F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 236 (u. Anm. 27). 75 Vgl. Anm. 41 und P I E T S C H M A N N , Europ. Expansion (wie Anm. 3) Sp. 181. 76 Vgl. Ex assuete, 1462 Dezember 12, MH XIV S. 241-245 Nr. 95, S. 242f., sowie ferner die Urkunden Pastor bonus, 1462 Oktober 7, MH XIV S. 230-236 Nr. 89; Non debet, 1464 Januar 12, MH XIV S. 271-274 Nr. 111; Rationi congruit, (1466 August) MH XIV S. 329-333 Nr. 145. Vgl. zum Gesamtzusammenhang D E W I T T E , Bulles (wie Anm. 37) 53 (1958) S. 27-29, A. R U M E U D E A R M A S , La Conquista de Tenerife 1494-1496 (Santa Cruz 1975) S. 19-42 sowie F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 238-240. 77 F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 240. 78 Vgl. H. P I E T S C H M A N N , Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 2. Reihe 19, Münster 1980) S. 69-72. <?page no="215"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 215 in der Mitte des 15. Jahrhunderts fest, daß die heidnischen Schwarzen anders als die Muslime Nordafrikas leichter zu bekehren waren und oft gute Christen wurden. In der Chronik [69/ 70] Azuraras († 1473/ 74) über die Eroberung Guineas heißt es hierzu: „. . . Obwohl von schwarzer Haut, hatten sie wie die anderen eine Seele, zudem waren diese Schwarzen nicht von maurischer, sondern von heidnischer Herkunft, so daß sie leichter auf den Wege des Heiles zu führen sind . . . “ 79 . Ähnlich heißt es auch in weiteren Quellenberichten, so bei Cá da Mosto († 1483) 80 oder bei Diogo Gomes († ca. 1490) 81 . Nachdem Heinrich der Seefahrer dies erkannt hatte, trat auch bei ihm der Gedanke der Mission stärker in den Vordergrund 82 . Auszuschließen ist nicht, daß die viel früher zu datierende „missionarische Eroberung“ der Kanarischen Inseln durch Aragonesen-Katalanen, Kastilier und Normannen für die späteren portugiesischen Afrikafahrten beispielhaft wirkte. Unbestreitbar spielten bei dieser 79 Gomes Eánes de (A)zurara, Cronica de Guinea, ed. J. de B R A G A N Ç A (Biblioteca Histórica: Serie Ultramarina, Porto 1937, überarbeitete Neuauflage, o. O. 1973), vgl. die kommentierte französische Übersetzung: Chronique de Guinée, ed. L. B O U R D O N und R. R I C A R D (Mémoires de l’Institut français d’Afrique Noire 60, Dakar 1960); vgl. auch den Abdruck in: MH XIV S. 55ff., Nr. 15 (einzelne Passagen verstreut auch in den anderen Bänden). Maßgebliche Edition jetzt: Crónica dos feitos notáveis que se passaram na conquista da Guiné, ed. T. D E S O U S A S O A R E S (Lissabon 1978) (war mir bisher nicht zugänglich). Zum Autor vgl. A. J. D I A S D I N I S , Vida e obra de Gomes Eánes de Zurara, Bd. 1 (Lissabon 1949) S. 3ff. (Bd. 2 bietet ebenfalls eine Edition der Chronik) sowie A. D U C H Â T E A U , Azurara, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980) Sp. 1318. Hier Kap. 16, S. 86: „que pero negros fossem, assim tinham almas como os outros, quanto mais que estes negros n-o vinham da linhagem de Mouros, mas de gentios, pelo qual seriam melhores trazer ao caminho da salvaç-o . . . “. Sollte „gentios“ hier mit gentiles gleichzusetzen sein, so hat es denselben Sinn wie pagani, vgl. die Einschränkungen bei S C H W I N G E S , Kreuzzugsideologie (wie Anm. 50) S. 91 Anm. 30. 80 Alvise Cá da Mosto, Le Navigazione atlantiche di Alvise da Cá da Mosto, Antoniotto Usodimare e Niccoloso da Recco, ed. R. C A D D E O (Mailand 1928, 2 1929; hier nach der ersten Auflage zitiert) S. 159-258, Kap. 10: „il detto signor Infante . . . spera che conversando con Cristiani leggiermente si potriano ridurre alla fede nostra“ (S. 190f.). Das Buch Cadamostos wurde 1508 ins Deutsche übersetzt und gedruckt. Diese Fassung wurde 1980 faksimiliert: Cadomostos Beschreibung von Westafrika. Der Druck der deutschen Ausgabe von 1508 in Abbildungen, hg. von U. S A D J I (Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 77, Stuttgart 1980). Dort heißt es im 10. Kapitel (ohne Paginierung): „Der Fuerste ist der hoffnung, nach dem sie gemainschafft haben mit den Christen, das man sie leychtlich mochte bringen in unsern glawben . . . “. Zu Cá da Mosto vgl. neben der Einleitung in der Edition: G. H A M A N N , Cadamosto, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983) Sp. 1336. 81 Diogo Gomes, De prima inventione Guineae, in: O Manuscrito „Valentim Fernandes“, ed. A. B A I A O (Lissabon 1940) (die neuere Edition von M O N O D - M A U N Y - D U VA L , De la première découverte de la Guinée (Bissau 1959) S. 13-57 war mir nicht zugänglich): Deinde dominus Infans suo consilio dicebat, quod vltra non facerent litem cum gente illa . . . quia intentio sua erat ipsos facere christianos . . . (S. 191), vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 296f. 82 Vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 301f. Zu Heinrich dem Seefahrer vgl. A. D. S O U S A C O S T A , O Infante D. Henrique na expans-o portugesa, Itinerarium 5 (1959) S. 419-568; P. E. R U S S E L L , Prince Henry the Navigator (London 1960), der den Kreuzzugsgedanken und das Rittertum als zentrale Motive für dessen Handeln sieht (S. 24ff.); vgl. ferner D E N S .: Prince Henry the Navigator: The Rise and Fall of a Culture-Hero (Oxford 1984) (war mir bisher nicht zugänglich). <?page no="216"?> 216 Geschichte der Iberischen Halbinsel zeitlichen Verschiebung auch die unterschiedlichen Zielsetzungen eine Rolle, denen Aragonien-Kastilien sowie Portugal jeweils Vorrang einräumten. Diese gilt es in den folgenden Punkten genauer herauszuarbeiten. III. Wenn es im folgenden Abschnitt vor allem um eine Skizze der gesellschaftlichen Strukturen auf den Kanarischen Inseln geht, so stehen die Überlegungen in engem Zusammenhang mit der Frage, inwieweit die Expansion in den atlantischen Raum sich von früheren mittelalterlichen Fahrten im Mittelmeerraum abgrenzt und vorbildhaft für weitere Vorstöße an der Küste Afrikas entlang oder nach Westen wirkte. Damit wird zugleich eine schon 1954 von Ch. Verlinden aufgeworfene Frage neu gestellt 83 . Die bisherigen kolonialen Erfahrungen waren vor allem von den Genuesen und Aragonesen gewonnen worden. Hierbei stand der Raum des Maghreb im Vordergrund. Der Vorstoß zu den atlantischen Archipelen bedeutete keine fundamental neue Erfahrung in klimatischer Hinsicht, aber es stellte sich das Problem der Besiedlung in neuer Weise. Die zunächst kolonisierten Inseln der Kanaren - Lanzarote, Fuerteventura und Hierro - waren äußerst dünn besiedelt. Mit einer Kolonisierung und Bevölkerung der Inseln war die Frage nach neuen Wirtschaftsformen verknüpft. Die Probleme und Bedingungen ähnelten am ehesten den Gegebenheiten im südlichen, „atlantischen“ Spanien. Die Verleihung des Archipels an Luis de la Cerda im 14. Jahrhundert erfolgte noch ganz im Rahmen feudaler Formen 84 . Allerdings bedarf es in unserem Zusammenhang zunächst einer Erklärung, warum Clemens VI. Luis de la Cerda auch mit der Insel Galeta (Galite) im Mittelmeer 85 belehnte. Diese Insel - auf dem Weg von Tunis nach Barcelona der nordafri-[71/ 72]kanischen Küste vorgelagert - war ein wichtiger Posten, um Anschluß an den Goldhandel der Sahara zu gewinnen. Könnte nicht auch die Bezeichnung der Kanarischen Inseln als insule Fortunate darauf hinweisen, daß man sie zu dieser Zeit geographisch noch so gelegen dachte, daß ihr Besitz eine günstige Position für die Beteiligung am Goldhandel versprach 86 ? Die Suche nach Gold ist auch beim Zug Jeans de Béthencourt als Motiv noch erkennbar, jedenfalls berichtet ein Kapitel des „Canarien“, das wohl auf 83 Vgl. V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1). 84 Vgl. die Nachweise in Anm. 60-66. 85 Tue deuocionis, 1344 November 15 (wie Anm. 60): . . . et illa que est in mari Mediterraneo Galeta . . . 86 Vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 147f. Zum Goldhandel vgl. M. B L O C H , Le problème de l’or au Moyen Âge, Annales d’histoire économique et sociale 5 (1933) S. 1-34 und P. V I L A R , Gold und Geld in der Geschichte. Vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart (München 1984) S. 45ff. zum Gold im Zusammenhang mit den (vor allem portugiesischen) Entdeckungsfahrten. - Die Bezeichnung Insule Fortunate geht auf Plinius zurück und hatte sich in der Antike wohl wegen der Fruchtbarkeit des Archipels durchgesetzt. <?page no="217"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 217 dem „Libro del conscimiento de todos los reynos“ basiert, über die geographische Lage des „Goldflusses“ 87 . Bevor wir diesen Zug genauer erörtern, ist jedoch zunächst allgemein zu fragen, inwieweit wirtschaftliche Motive als Triebkräfte für die Eroberer, Entdecker und Kolonisatoren gelten können. Mit Recht hat Peter Herde darauf hingewiesen, daß die wirtschaftlichen Motive, insbesondere für die frühen portugiesischen Entdeckungsfahrten, nicht zu hoch veranschlagt werden dürften, sondern hier ein ganzes Knäuel von Motiven vorlag, in das „Religiöses“ und „Weltliches“, nämlich Handelsinteressen, Neugier, Abenteurertum, Fortsetzung der „Reconquista“ und vieles andere mehr ineinander verstrickt waren 88 . Handelsinteressen werden freilich in einigen päpstlichen Bullen 89 durchaus deutlich. So erlaubte Papst Martin V. in einer Urkunde vom 3. [72/ 73] Juli 1418 90 den Handel mit den Ungläubigen, allerdings waren Güter für den Kriegseinsatz hiervon ausgenommen. Wenn man die Chronik Azuraras über die Eroberung Guineas heranzieht, so findet sich dort ein ganzes Kapitel über die Motive, welche die Fahrten Heinrichs des Seefahrers bestimmten 91 . Der Autor unterscheidet fünf Gründe; nennt das Handelsmotiv aber nur am Rande. Es heißt, falls man auf christliche Bevölkerung stieße, könne man Handel treiben 92 . Diese Einschränkung, die durchaus auch kanonistische Traditionen widerspiegelt, zeigt freilich, wie sehr in letzter Konsequenz die weitere Entwicklung des Handels auch mit der Mission verbunden war 93 . In derselben Chronik wird auch ausführlich der Kanarischen Inseln gedacht, das Wirtschaftsleben aber nur gestreift; der Verfasser beschreibt Sitten und Gebräuche und nennt dabei auch die auf den Inseln vorhandenen Produkte 94 . Von den wirtschaftlichen Motiven zu unterscheiden ist die Finanzierung der Entdeckungsfahrten; die gerade bei den frühen Fahrten immensen 87 Vgl. Le Canarien (wie Anm. 25) Kapitel 56f., Bd. 9, S. 202-209. Der „Libro del conoscimiento“ entstand wohl 1348: Libro del conoscimiento de todos los reynos e tierras e señorios que son por el mundo . . . con notas de Márcos Jiménez de la Espada (Madrid 1877, ND Barcelona 1980) S. 52ff. (vgl. dort zu den Kanarischen Inseln S. 50f.). 88 Vgl. P. H E R D E , Das geographische Weltbild und der Beginn der Expansion Europas an der Schwelle der Neuzeit, Nassauische Annalen 87 (1976) S. 69-85, hier S. 82-85 mit reicher weiterer Literatur; vgl. R U S S E L , Henry (wie Anm. 82) S. 10 und 22. 89 Rex regum, 1418 April 4, MH II S. 282-286 Nr. 143. Damit ist die frühere Edition von E. S T A E D L E R , Die Cruciata Martins V. vom 4. April 1418, Archiv für Urkundenforschung 17 (1942) 310ff. überholt, die Interpretation jedoch noch lesenswert. Vgl. ferner D E W I T T E , Bulles (wie Anm. 37 ) 48 (1953), S. 686ff. sowie H E R D E , Weltbild (wie Anm. 88) S. 81f. 90 Super gregem, 1418 Juli 3, MH II S. 299f. Nr. 146, vgl. H E R D E , Weltbild (wie Anm. 88) S. 81f. 91 (A)zurara, Cronica Guinea, Kapitel 7, ed. B R A G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 43-49. Vgl. zu den Gründen auch R U S S E L , Henry (wie Anm. 82) S. 18f. und K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 281-289. 92 Ebenda. 93 Vgl. P. H E R D E , Christians and Saracens at the Time of the Crusades: Some Comments of Contemporary Medieval Canonists, Studia Gratiana 12 (1967) S. 361-376, hier S. 373f. mit dem Akzent auf den Beziehungen zu Muslimen und Juden. 94 (A)zurara, Cronica Guinea, Kapitel 79-81, ed. B R A G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 333-342. <?page no="218"?> 218 Geschichte der Iberischen Halbinsel Kosten und Investitionen lassen jedoch die wirtschaftlichen Interessen eher als untergeordnet erscheinen 95 . Der Zug Jeans de Béthencourt im Jahre 1402 kann als erster Versuch bezeichnet werden, die Kanarischen Inseln, insbesondere Lanzarote, in Besitz zu nehmen. Die bereits skizzierten früheren Aktionen waren lediglich kurze Fahrten oder sind - wie im Falle der „Seeleute von Dieppe“ [73/ 74] - nicht hinreichend belegt 96 . Der Zug des Jean de Béthencourt läßt sich wegen des erhaltenen ausführlichen Berichtes gut rekonstruieren. Dieses Buch, „Le canarien“ genannt, beschreibt erstmals ausführlich die atlantische Welt und ihren politischen und militärischen Kontakt mit der europäischen Gesellschaft 97 . Es skizziert zunächst die Situation, die der Eroberer Béthencourt auf den Kanarischen Inseln vorfand 98 und erzählt weiterhin über die Landnahme sowie die Anfänge der Kolonisation in wirtschaftlicher und administrativer Hinsicht. In einer Version von „Le Canarien“ heißt es, der Normanne Béthencourt „gab jedem Land samt Zubehör; für jeden soviel wie ihm gut schien und wie diesem (nach seinem Rang) zukam“ 99 . Im nächsten Satz wertet dann der Chronist und bemerkt, daß letztlich keiner mit dieser Verteilung zufrieden war 100 . Wie immer man zu dieser Wertung stehen mag, so ähnelt die Form der Landvergabe doch stark der seit dem 13. Jahrhundert in den wiedereroberten Teilen Südspaniens praktizierten Landverleihung, insbesondere derjenigen in Andalusien, die aufgrund der Notizen in den sechs erhaltenen „Libros de repartimiento“ relativ gut rekonstruiert werden kann 101 . Dabei gab es sowohl große als auch klei- 95 Der Zug Jeans de Béthencourt war deutlich unterfinanziert, vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 179. Vgl. allgemein H. K E L L E N B E N Z , Die Finanzierung der spanischen Entdeckungen, VSWG 69 (1982) S. 153-181 mit weiterer Literatur. Zu den Kanarischen Inseln (jedoch erst in einer späteren Phase): F. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , La financiación de la conquista de las Islas Canarias durante el reinado de los Reyes Católicos, Anuario de estudios atlánticos 28 (1982) S. 343-378. Nicht zugänglich waren mir die Beiträge zum III Coloquio de Historia Canario-Americana (1978) (Gran Canaria 1980). 96 Vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 61. Zu dieser „Legende“ mag beigetragen haben, daß in Dieppe und der Normandie die Breiten der Kanarischen Inseln durchaus bekannt gewesen sein könnten, vgl. M. M O L L A T , Le commerce maritime normande à la fin du Moyen Âge (Paris 1952) S. 13 und 245 sowie F E R N Á N D E Z A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 174. Vgl. oben Anm. 18. 97 Vgl. Anm. 25 zur Einordnung der Quelle. 98 Vgl. die Beschreibung der Inseln in „Le Canarien“ (wie Anm. 25) Kapitel 79-82, Bd. 9 S. 308-329. 99 Ebenda S. 321: „Et leur bailla à chacun part et porcion de terres, de manoyrs et maisons, logis, a chacun selon qui lui sembloit bon et qui lui appartenoit“, vgl. M. M O L L A T , La place de la conquête des îles canaries dans l’histoire coloniale française, Anuario de estudios atlanticos 4 (1958) S. 548 sowie F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 48. 100 Vgl. ebenda. 101 Erhalten sind die Bücher von Sevilla, Écija, Carmona, Vejer, Cádiz und Jerez, das bekannteste ist wohl dasjenige von Sevilla. Vgl. J. G O N Z Á L E Z , El repartimiento de Sevilla, 2 Bde. (Madrid 1949) (Bd. 1 Studien, vgl. insbesondere S. 227ff., Bd. 2: Edition) sowie das <?page no="219"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 219 ne Besitzungen. Fernández-Armesto hat die weiteren Quellen, die allerdings erst Ende des 15. Jahrhunderts einsetzen und teilweise empfind-[74/ 75]liche Lücken aufweisen, gesichtet und wahrscheinlich gemacht, daß ausländische Siedler wohl bei der Landvergabe bevorzugt wurden, wovon besonders die Italiener, weniger die Portugiesen profitierten 102 . Charles Verlinden hatte noch vermutet, daß bei der Eroberung der Kanarischen Inseln im 14. Jahrhundert die im Mittelmeerraum und auch in den Kreuzfahrerstaaten übliche feudale Landvergabe praktiziert worden sei 103 . Die Detailuntersuchungen über das 15. Jahrhundert lassen jedoch eine größere Ähnlichkeit mit den Verleihungs- und Verteilungsformen bei der Wiederbesiedlung Inner- und Südspaniens erkennen. Wie auch dort reichte die Zahl der zur Verfügung stehenden Leute zur Besiedlung kaum aus 104 . Mit der Verteilung und Nutzung des Bodens hängt das in der Kolonisationsphase aufgebaute Wirtschaftssystem zusammen. Wie entwickelte sich das Wirtschaftsleben auf den Kanarischen Inseln im Laufe des 15. Jahrhunderts? In dem hier vorgegebenen Rahmen müssen einige Streiflichter genügen 105 . Behält man die Frage nach dem Modellcharakter der Kanarischen Inseln im Auge, so fällt auf, wie sehr die koloniale Wirtschaft seit 1479 derjenigen im Mutterland ähnelte. Austausch und Handel wurden im 15. Jahrhundert immer bedeutender 106 . [75/ 76] jüngst edierte Buch von Jerez: M. G O N Z Á L E Z J I M É N E Z und A. G O N Z Á L E Z G Ó - M E Z , El libro del repartimiento de Jerez (Cádiz 1980); allgemein zum Hintergrund vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 49 und D E R S ., Before Columbus (wie Anm. 65) S. 61ff. 102 F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 51-68. Als Größe der Bevölkerung gibt Cá da Mosto, Navigazione, ed. C A D D E O (wie Anm. 80) Kap. 5 in seiner Chronik für das Jahr 1455 die Bevölkerungszahl der drei Hauptinseln an: 14 000-15 000 für Tenerife, 8 000-9 000 für Gran Canaria und etwas weniger für La Palma (S. 176-178). Allerdings läßt sich aus dieser und anderen Quellen nicht mit Sicherheit die tatsächliche Größe der Bevölkerung errechnen, insbesondere weil Kanarier und Afrikaner als Haussklaven arbeiteten und die unabhängig wirtschaftenden Ureinwohner nicht erfaßt werden können, vgl. die Zahlen von Anfang des 16. Jahrhunderts bei M. A. L A D E R O Q U E S A D A , Economía (wie Anm. 10) S. 735, vgl. auch dort S. 728-737 zu den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Ladero Quesada schätzt die Bedeutung der Portugiesen höher ein als Fernández-Armesto. 103 V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1) S. 36f. 104 Vgl. M. G O N Z É L E Z J I M É N E Z , En torno a los orígenes de Andalucía. La repoblación del siglo XIII (Sevilla 1980), der S. 45 auf die Probleme der Quantifizierung aufmerksam macht. Die Tendenz lassen jedoch die Belege zur Herkunft der Siedler erkennen (S. 46ff.). 105 Jüngste Analyse der kanarischen Wirtschaftsgeschichte seit 1478 bietet E. A Z N A R V A L - L E J O , La integración de las Islas Canarias en la Corona de Castilla (1478-1526) (Madrid 1983) S. 227-438; knapper Überblick bei J. M A T Z N E T T E R , Die Kanarischen Inseln. Wirtschaftsgeschichte und Agrargeographie (Gotha 1958) S. 67-91; fundierter und aktueller L A D E R O Q U E S A D A , Economía (wie Anm. 10). 106 A Z N A R V A L L E J O , Integración (wie Anm. 105) S. 313-360. - Zu den frühen Zuständen auf den Inseln läßt sich neben den bisher zitierten erzählenden Quellen auch die Beschreibung des Italieners L. Torriani heranziehen, die zwar von 1590 stammt, aber teilweise auf älteren Quellen (auch heute verlorenen) basiert: Leonardo Torriani, Die kanarischen Inseln und ihre Urbewohner. Eine unbekannte Bilderhandschrift vom Jahre 1590, (italienisch- <?page no="220"?> 220 Geschichte der Iberischen Halbinsel Auf den zunächst besiedelten kleineren Inseln im Osten fuhr man fort, in traditioneller Weise mit Viehzucht, Ziegenhaltung, Getreidebau und Fischfang zu wirtschaften. Neu war die Ausbeute der Färberflechte, der „orseille“. Aus Afrika übernahm man als Arbeitstiere Kamel und Esel 107 . Zu einem nennenswerten Export kam es nicht, wie aus einer Beschwerdeschrift der Bewohner Lanzarotes aus dem Jahre 1477 erhellt: „Sie besaßen nur Wasser, Käse und Ziegenfleisch, so daß, wenn sie in einem Jahr Brot hatten, dies jedoch nicht auch im zweiten besaßen“ 108 . Trotz dieses düsteren Bildes lag wohl der entscheidende Fortschritt für die östlichen Inseln seit dem 15. Jahrhundert im europäisch beeinflußten Getreidebau, der bis ins 18. Jahrhundert die wirtschaftliche Grundlage blieb 109 . Förderlich für diese Entwicklung der „angestammten Wirtschaft“ war auch die relativ rasche „Hispanisierung“, die vielfach eine Verschmelzung beider Bevölkerungsgruppen weit fortschreiten ließ. Ein anderes Bild bot sich auf den Hauptinseln Gran Canaria, Tenerife und La Palma im Westen. Dort entstand in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine völlig neue Kulturlandschaft. Die Neuaufteilung des Landes diente hier unter anderem auch dazu, einen wirtschaftlich tragfähigen Großgrundbesitz zu schaffen. Dies entsprach gerade - wie bereits bemerkt - den südspanischen Verhältnissen, erwies sich aber auch für die noch zu behandelnde Zuckerrohrkultur als vorteilhaft 110 . Zu den [76/ 77] Großgrundbesitzern zählten neben den Kastiliern auch ansässige Fürsten, ferner Portugiesen und Genuesen. Die Portugiesen brachten von Madeira die Zuckerrohrkultur auf die Kanarischen Inseln, die Genuesen stellten für diese kapitalintensive Produktion häufig die finanziellen Mittel 111 . Die Zuckerproduktion, die sich zuerst seit dem ersten Kreuzzug im Mittelmeerraum weiter verbreitet hatte, insbesondere in Palästina, Zypern und deutsch) hg. v. D. J. W Ö L F E L (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Geographie und Völkerkunde 6, Leipzig 1940) (vgl. S. 26ff. zu bekannten und heute unbekannten Quellen). Berührungspunkte mit Torriani hat der etwa gleichzeitig schreibende J. de Abreu Galindo, Historia de la conquista de las siete islas de Canaria, ed. A. C I O R A N E S C U (La Laguna 1977) (vgl. S. VIIIff. zu den Quellen). 107 M A T Z N E T T E R , Kanarische Inseln (wie Anm. 105) S. 69. 108 V I E R A Y C L AV I J O , Hist. general, hg. v. E. S E R R A R Á F O L S (wie Anm. 4) Bd. 2 S. 18: „Solo tenían agua del cielo, queso y ganado cabrio, de manera que si un año cogían pan, no la cogían en dos . . . “, vgl. M A T Z N E T T E R , Kanarische Inseln (wie Anm. 105) S. 70 Anm. 1. 109 M A T Z N E T T E R , Kanarische Inseln (wie Anm. 105) S. 70. 110 Vgl. A Z N A R V A L L E J O , Integración (wie Anm. 105) S. 229-238 und insbesondere S. 260- 264 mit Auswertung ungedruckten Materials. Vgl. allgemein L A D E R O Q U E S A D A , Economía (wie Anm. 10) S. 742-745 und zu Tenerife R U M E U D E A R M A S , Conquista (wie Anm. 76). Zu antiken Traditionen in Marokko vgl. P. B E R T H I E R , Les anciennes sucreries du Maroc et leurs réseaux hydrauliques, 2 Bde. (Rabat 1966-1969) (freundlicher Hinweis von Prof. Desanges). 111 Vgl. G. C A M A C H O Y P É R E Z G A L D O S , El cultivo de la caña de azúcar y la industria azucarera en Gran Canaria (1510-1512), Anuario de estudios atlanticos 7 (1961) sowie zusammenfassend A Z N A R V A L L E J O , Integración (wie Anm. 105) S. 260ff. Vgl. ferner: V. M A G A L H Ã E S G O D I N H O , Os descobrimientos e a economia mundial, 4 Bde. (Lissabon 1979-1983) Bd. 4 S. 73-93. <?page no="221"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 221 Kreta (weniger in Sizilien, Spanien und Portugal), wurde so auch für die Atlantischen Inseln bedeutsam 112 . Mit dem auflebenden Export stießen die neuen Zuckerproduzenten in das Vakuum, das durch die nach Westen fortschreitenden Eroberungen der Türken im Orient geschaffen worden war 113 . Die Kanarischen Inseln zählten seit dem Ende des 15. Jahrhunderts neben Madeira zu den wichtigsten Zuckerproduzenten - 1526 sind für Gran Canaria zwölf, für Tenerife elf und für Gomera ein Betrieb nachgewiesen 114 . Sogar die Augsburger Handelsfamilie Welser engagierte sich in der Zuckerproduktion in La Palma. Die Zuteilungen an Bewässerungsland waren oft mit der Bedingung verbunden, binnen drei Jahren eine Zuckermühle (ingenio) zu errichten 115 . Bezieht man in unseren Überblick noch den Aufbau der Verwaltung mit ein, so ist damit eigentlich gleichzeitig die Frage nach den „kolonialen“ Gesellschaftsstrukturen gestellt. Unter den Gesichtspunkten Eroberung, Mission und Wirtschaft sind bereits einzelne Stationen beim Aufbau der kanarischen Gesellschaft kurz skizziert worden. Die franziskanische Mission im 15. Jahrhundert 116 unterstützte den Aufbau neuer gesellschaftlicher Formen; wirtschaftliche Neuansätze und Mission gingen Hand in Hand. [77/ 78] Häufig wird in den gelehrten Arbeiten betont, die Anfänge der europäischen Expansion und insbesondere die Eroberung der atlantischen Inseln seien eigentlich eine Fortsetzung der spanischen, bzw. der portugiesischen „Reconquista“ gewesen 117 . Dies wird ja auch aus vielen Papsturkunden 118 oder auch aus dem Vergleich mit der Eroberung des „atlantischen“ Andalusien 119 deutlich. Soviel Richtiges auch an der These ist, daß die Landverleihungen und gesellschaftlichen Organisationsformen denjenigen im südlichen Spanien gleichen, so darf doch nicht verkannt werden, daß die kanarische Gesellschaft weniger als die spanische durch die Aristokratie bestimmt war. 112 Vgl. summarisch V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1) S. 46-51. 113 V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1) S. 53. 114 Vgl. ebenda sowie zur „inneren“ Struktur vgl. vornehmlich aufgrund der Archivalien von Behörden A Z N A R V A L L E J O , Integración (wie Anm. 105) S. 392-401. 115 M A T Z N E T T E R , Kanarische Inseln (wie Anm. 105) S. 76f. 116 Vgl. neben der in Anm. 76f. zitierten Literatur auch H. S A N C H O D E S O P R A N I S , Los conventos franciscanos de la misión de Canarias (1443-1487), Anuario de estudios atlánticos 5 (1959) S. 375-397. 117 Vgl. z. B. J. G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia (wie Anm. 50) S. 334f. und Anm. 50 zur begrifflichen Abgrenzung der Reconquista. 118 Vgl. insbesondere die häufige Verleihung von Ablässen in den Papsturkunden, welche die jeweiligen Eroberer erwirkten oder erwirken ließen, von denen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) genannt seien: Provenit ex tue deuotionis, 1345 Januar 13, MH I S. 228-230 Nr. 95 und 96; Dum diligenter, 1351 Mai 15, MH I S. 237f. Nr. 101; Apostolatus officium, 1403 Januar 22, MH I S. 293-304 Nr. 123-126; Provenit ex vestre, 1416 April 1, MH II S. 248f. Nr. 123 (bedingt); Ecclesiarum et religiosorum, 1423 Mai 4, MH III S. 70f. Nr. 39 (bedingt); Sincere devotionis, 1432 Februar 1, MH IV S. 89f. Nr. 16; In supreme dignitatis, 1432 Februar 4, MH IV S. 93-95 Nr. 18 und Dum diversas, 1432 Juni 18, MH XI S. 199-202 Nr. 146. 119 Vgl. z. B. J. G O N Z Á L E Z , Las conquistas de Fernando III en Andalucia, Hispania 6 (1946) S. 584-588 und G O N Z Á L E Z J I M É N E Z , Orígenes (wie Anm. 104). <?page no="222"?> 222 Geschichte der Iberischen Halbinsel „Atlantic colonial societies, in short - and that of the Canaries in particular - were markedly different from those which preceeded them“ formuliert Felipe Fernández-Armesto zugespitzt 120 . Diese „neue“ Gesellschaftsform wirkte unter einigen Aspekten bis in die Neue Welt. 1497 trugen Ferdinand und Isabella Columbus auf, das Land von La Española unter die Siedler je nach ihrem Stand aufzuteilen 121 . Man fühlt sich an die zitierte Stelle aus „Le canarien“ von Jean de Béthencourt erinnert 122 . Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sind Parallelen erkennbar: im Zuckerrohranbau. Gerade in bezug auf den Zucker haben die Kanarischen Inseln neben Madeira durchaus als Modell gewirkt: über St. Domingo, Puerto Rico, Mexiko und Peru breitete sich die Zuckerwirtschaft im spanischen Kolonialreich aus. Das portugiesische Madeira beeinflußte hingegen die weitere Entwicklung Afrikas: Über die Azoren gelangte die Zuckerwirtschaft bis in den Golf von Guinea 123 . Jedoch muß hier noch [78/ 79] kurz erwähnt werden, daß die portugiesisch beherrschten atlantischen Inseln in vielen Aspekten das kanarische Vorbild kopierten; dies gilt sowohl für die Form der Besiedlung als auch für die Wirtschaft 124 . Wenn somit die Kanarischen Inseln den übrigen (portugiesischen) atlantischen Inseln, die der Küste Afrikas vorgelagert waren, als Modell diente, so muß bezüglich Amerikas auch auf Unterschiede verwiesen werden. In der Neuen Welt stand z. B. eine zahlreiche Indianerbevölkerung nur wenigen fremden Siedlern gegenüber. Die Zuteilungen von Indianern als Arbeiter nannte man „repartimiento“ (später „encomienda“). Der aus der spanischen Siedlungspolitik übernommene Begriff kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Akzent auf der Zuteilung von Personen lag, weniger auf derjenigen von Land 125 . Fernández-Armesto hat wohl in jüngster Zeit am eingehendsten die kanarische Gesellschaft am Ende des 15. Jahrhunderts in den verschiedensten Aspekten untersucht und kam dabei zu einem sehr nuancierten Bild. Insgesamt gesehen ist jedoch unbestritten, daß neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf den kanarischen und anderen atlantischen Inseln erstmals greifbar werden. Dabei bleibt die Frage, ob das ganz zu Anfang zitierte Bild Verlindens, der die Kanarischen Inseln mit einem Laboratorium vergleicht, nicht doch seine Berechtigung hat, wenn auch der Begriff vielleicht eine zu planvolle Vorbereitung späterer Eroberungen suggeriert. Wir werden hierauf zum Schluß nochmals zurückkommen 126 . 120 F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 204. 121 V I E R A Y C L AV I J O , Historia general (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 282, vgl. M A T Z N E T T E R , Kanarische Inseln (wie Anm. 105) S. 67. 122 Vgl. oben Anm. 99. 123 V E R L I N D E N , Précédents (wie Anm. 1) S. 53. 124 Vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 197-202 mit den einschlägigen Quellennachweisen. 125 Vgl. R. K O N E T Z K E , Süd- und Mittelamerika Bd. 1 (Fischer Weltgeschichte 22, Frankfurt 1965) S. 174-176. 126 Vgl. oben S. 51 sowie unten S. 94. <?page no="223"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 223 IV. Die Entwicklung der kolonialen Gesellschaft auf den Kanarischen Inseln hängt eng mit der spanisch-portugiesischen Rivalität zusammen, die bereits im 14. Jahrhundert begann und deshalb zum Thema gehört, weil sie sich am Streit um die Kanarischen Inseln entzündete. In allen Phasen dieses Streites war das Papsttum als Entscheidungsinstanz maßgeblich beteiligt. Ausgangspunkt muß die erwähnte päpstliche Belehnung Luis’ de [79/ 80] la Cerda mit den Kanarischen Inseln von 1344 sein 127 . Diese Verleihung steht in der Tradition der seit dem Ende des 11. Jahrhunderts unter Papst Urban II. ausgebildeten „Insel-Theorie“. Nach dieser Lehre waren alle Inseln dem päpstlichen Stuhl eigen 128 . Man berief sich zumeist auf die Konstantinische Schenkung 129 . Aus einer bei der Investitur gehaltenen Predigt des Papstes läßt sich schließen, daß diese Begründung wohl auch Papst Clemens VI. geläufig war 130 . Besonders interessant ist die Urkunde Clemens’ VI. wegen der Reaktionen, die sie hervorrief. Während Peter IV. von Aragón dem Papst Unterstützung für den Zug Luis’ de la Cerda zusagte 131 , lehnte Alfons IV. von Portugal eher ab 132 . Zwar fügte er sich grundsätzlich dem päpstlichen Entscheid, machte jedoch deutlich, daß die Inseln besonders nahe bei Portugal gelegen seien, und daß er schon früher Leute zur Erkundung der Kanarischen Inseln entsandt habe 133 . Alfons XI. von Kastilien anwortete freundlicher und bot dem Papst seine Hilfe an, verwies allerdings darauf, daß seine Vorfahren (womit er die [80/ 81] Westgoten 127 Vgl. oben Anm. 60. Vgl. neben den zitierten Werken auch zum größeren Zusammenhang B. W. D I F F I E / G. W I N I U S , Foundations of the Portuguese Empire 1415-1580 (Minnesota/ Oxford 1977) besonders S. 29ff., 42f., 64f. und 92ff. sowie zur Zeit Heinrichs des Seefahrers R U S S E L , Henry (wie Anm. 82). 128 V E R L I N D E N , in: Schmitt (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 191f. Vgl. ausführlich L. W E C K M A N N , Las Bulas Alejandrinas de 1493 y la teoría del papado medieval. Estudio de la supremacía papal sobre islas 1091-1493 (Mexiko 1949). 129 Vgl. ebenda. Zur konstantinischen Schenkung vgl. H. F U H R M A N N , Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum, DA 22 (1966) S. 63-178; D E R S ., Das frühmittelalterliche Papsttum und die konstantinische Schenkung, in: Settimane di Studio del Centro italiano di studi sull’Alto Medioevo 20 (1973) S. 257-292 und N. H U Y G H E - B A E R T , Une légende de fondation: Le Constitutum Constantini, Le Moyen Âge 85 (1977) S. 177-209. Zur frühen Wirkungsgeschichte (in ottonischer Zeit) vgl. H. Z I M M E R M A N N , Ottonische Studien, MIÖG Ergänzungsband 20 (1962) S. 122-190, Nachdruck: D E R S ., Im Bann des Mittelalters, hg. v. I. E B E R L und H.-H. K O R T Ü M (Sigmaringen 1986) S. 1-70, S. 149ff. (S. 28ff.) und neuerdings: K. Z E I L I N G E R , Otto III. und die konstantinische Schenkung, in: Fälschungen im Mittelalter (MGH Schriften 33,2, Hannover 1988) S. 509-536 (mit weiterer Literatur). 130 I. R I N G E L , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 207. 131 Ebenda S. 208. 132 1345 Februar 12, MH I S. 231-234 Nr. 97, übers. G. S C H M I T T , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 215-218. 133 Ebenda S. 232: propter uicinitatem que nobis est cum insulis sepedictis . . . propter negocium quod iam per nos et gentes nostras feliciter fuerat inchoatum . . . vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 79. <?page no="224"?> 224 Geschichte der Iberischen Halbinsel meinte) Afrika von den Ungläubigen befreit hätten und demnach Kastilien als Nachfolger des Westgotenreiches der Erwerb Afrikas zukomme 134 . Mit diesen Antworten wird der Beginn der kastilisch-portugiesischen Rivalität als Eroberermächte von den Quellen her faßbar. Beide Argumente - die geographische Nähe und die begonnene Unterwerfung auf portugiesischer sowie die westgotische Tradition auf kastilischer Seite - wurden in späteren Streitigkeiten wieder aufgegriffen 135 . Eine zweite Phase intensiver Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nachbarländern stammt aus der Zeit des Basler Konzils (1435). Als Gil Eanes 1433 den Versuch unternommen hatte, das Kap Bojador zu umsegeln, wurde es für die portugiesischen Unternehmungen immer interessanter, auf den Kanarischen Inseln einen Stützpunkt zu erwerben 136 . Erste Versuche hierzu gingen bereits auf das Jahr 1424/ 25 zurück 137 . Die portugiesischen Motive scheinen vielfältig gewesen zu sein, zu ihnen zählte auch die Hoffnung auf Gold. Dieses Interesse ist jedoch nur indirekt zu erschließen, weil der Chronist Azurara die Mißerfolge Heinrichs des Seefahrers eher versteckte, um den Glanz seines Helden ungebrochen zu belassen 138 . Der Bericht des Diogo Gomes zum Jahr 1415 läßt dieses Ziel jedoch ahnen 139 . [81/ 82] Bei der Suche nach einem Stützpunkt wurden freilich nicht die von Kastilien christianisierten Inseln beansprucht, sondern vielmehr der Erwerb einer weiteren, noch „heidnischen“ Insel für Portugal angestrebt. Anders als in Kastilien sah man hier wohl noch einen rechtsfreien Raum 140 . König Eduard (Duarte I.) hob in einer Supplik an den Papst von August 1436 erneut die Nähe der Inseln zu Portugal sowie die bisherigen portugiesischen Missionsversuche hervor und brachte das Argument der begonnenen subiugatio als Rechtstitel ins Spiel 141 . 134 Sanctitas vestre litteras, 1345 März 13, MH I S. 234f. Nr. 98: . . . quanquam nulli dubium existat quod progenitores nostri clare memorie terram istam de manibus perfidorum ac potentia regum Africe, Deo propicio, acquirentes, eandem ab eorundem perfidorum ferocitate et seuis impugnationibus defensarunt . . . , vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 113 sowie R I N G E L , in: S C H M I T T (Hg.), Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 208. 135 So auf dem Basler Konzil, vgl. unten S. 90. 136 (A)zurara, Cronica Guinea, Kap. 9, ed. B R A G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 53f., vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 241. Zu den portugiesisch-kastilischen Beziehungen dieser Zeit vgl. S U Á R E Z F E R N Á N D E Z , Relaciones entre Portugal y Castilla en la época del infante Don Enrique 1393-1460 (Madrid 1960). 137 (A)zurara, Cronica Guinea, Kap. 79, B R A N G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 333. 138 Vgl. P. E. R U S S E L , O Infante Dom Henrique e as Ilhas Canárias (Lissabon 1979). 139 Diogo Gomes, De prima (wie Anm. 81), hier nach dem kommentierten Auszug in MH II S. 235-237 zitiert (die Zuschreibung zu Diogo ist nicht ganz sicher). Vgl. auch Azuraras gleichzeitigen Bericht zur Eroberung Ceutas, Auszug in: MH II S. 101-103 sowie S. 235- 237. Aus der Kombination beider Zeugnisse könnten portugiesische Zielsetzungen aus dem Jahr 1415 erschlossen werden, vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 189ff. 140 K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 244. 141 . . . parata navium . . . classe, de consenssu et mandato serenissimi regis Eduardi, domini et fratris sui, ad preffatas insulas Canarie misit ut primum eos ipsos paganos as fidem christianam et devocionem corone Portugalie convertisset, MH V S. 254-258 Nr. 129, vgl. D E W I T T E , Bulles <?page no="225"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 225 Die abweichende kastilische Position vertrat Alfons von Cartagena († 1456) auf dem Basler Konzil, wenn auch sein Text selbst wohl nicht vorgetragen wurde, sondern nur dem kastilischen Gesandten bei der Kurie, Luis Alvarez de Paz, zugestellt wurde 142 . Seine Argumentation war wesentlich ausführlicher, berücksichtigte die portugiesischen Einwände; stützte sich letztlich jedoch wieder auf das „Westgoten-Argument“. Der Papst blieb in diesem Rechtsstreit zwischen Kastilien und Portugal neutral 143 , so daß [82/ 83] die beiden iberischen Mächte bis zum Vertrag von Alcaçovas (4.9.1479) ohne wesentliche Beteiligung der Kurie weiter um die Kanarischen Inseln rangen. Beide Länder konnten auch die Konzilväter des Basler Konzils nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme zwingen. Diese verwiesen darauf, wie überflüssig es sei, um bestimmte Einflußbereiche zu streiten, wo es doch Möglichkeiten genug gebe, Kreuzzüge gegen die Moslems zu führen 144 . Nach den Auseinandersetzungen im kastilisch-portugiesischen Krieg beendete der Vertrag von Alcaçovas den Streit, indem die Kanarischen Inseln Kastilien zugesprochen wurden 145 . Papst (wie Anm. 37) Bd. 48 (1953) S. 702ff.; zur Datierung vgl. auch K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 247-249. Bezeichnenderweise werden Herrschaftsrechte und Mission zusammen genannt! Zum juristischen Hintergrund der geographischen „Nähe“ vgl. P É R E Z V O I T U R I E Z , Problemas internacionales (wie Anm. 17) S. 95 und 103-113. 142 Dies geht aus der Kopie des Gutachtens hervor; vgl. die kommentierte Edition des Gutachtens in der maßgeblichen Ed.: MH VI S. 139-199 Nr. 57, insbesondere S. 187-189. Zu Alfons von Cartagena vgl. A. B I R K E N M AY E R , Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Mittelalter 20,5 (1922) S. 130-136; zu seiner Bedeutung für die Entwicklung weltlichen Rechtes aus religiösen Grundlagen, vgl. A. P É R E Z V O I T U R I E Z , La conquista de Canarias y el derecho internacional. Reflexiones sobre una interpretación, in: Homenaje a Elías Serra Ráfols Bd. 1 (La Laguna 1970) S. 391-400. Allgemein zum Problem der Kanarischen Inseln auf dem Basler Konzil vgl. die Sichtung der Literatur durch S O U S A C O S T A , in: MH VI S. 139-143 Anm. 1 sowie knapper jüngst J. H E L M R A T H , Das Basler Konzil 1431-1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 22, Köln 1987) S. 247-249. 143 Die beiden Bullen Romanus pontifex von 1436 September 15, MH V S. 281f. Nr. 137, zugunsten von Portugal sowie die Bulle Romani pontificis von 1436 November 6, MH V S. 345-347 Nr. 143, zeigen deutlich das Dilemma. Die Portugal zunächst zugestandene Erlaubnis zur Inbesitznahme der Inseln wurde in der zweiten Bulle - wohl wegen kastilischer Proteste - wieder zur Disposition gestellt. Vgl. zur letzten Bulle auch das flankierende Schreiben Dudum ad nos (MH V 347-349 Nr. 144) sowie allgemein L. S U Á R E Z F E R N Á N D E Z , La cuestión de las Canarias ante el concilio de Basilea, in: Actas do Congresso internacional de Historia dos Descubrimentos Bd. 4 (Lissabon 1961) S. 505-509 sowie K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 220, 251f. und 259f. - Weitere Dokumente zum Streit auf dem Konzil in MH VI S. 234-242. Zu portugiesischen Fahrten zu den Kanarischen Inseln bis 1479 vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 147-149 und 166-169. 144 Exhibita nobis, (1438), MH VI S. 239-242 Nr. 83: Sarraceni tanti terrarum spacia, in diuersis orbis partibus, detinent, ut omnibus principibus catholicis satis habundeque sit ubi aduersus eos, pro Christi nomine, bellicos possint subire labores . . . , vgl. K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 265f. 145 F. G. D AV E N P O R T , European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies to 1648 (Washington 1917) S. 31-41 Nr. 3, vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 217. <?page no="226"?> 226 Geschichte der Iberischen Halbinsel Sixtus IV. ratifizierte den Vertrag 1481 mit der Bulle Aeterni Patris 146 . Damit waren die Richtungen der weiteren europäischen Expansion durch Kastilien und Portugal festgelegt. Die geographische Lage der Kanarischen Inseln favorisierte aufgrund von Wind- und Strömungsverhältnissen weitere Fahrten nach Westen, kein Hafen mit tieferem Wasser lag weiter westlich; nicht ohne Grund wird Christoph Columbus von den Kanarischen Inseln zu seiner Westfahrt aufgebrochen sein 147 . Die atlantischen Besitzungen Portugals boten wesentlich ungünstigere Bedingungen für Vorstöße nach Westen. Portugal konnte seine Ziele nur im Süden weiterverfolgen; die Expansion nach Westen blieb zunächst Kastilien reserviert. Dürfen somit die Auseinandersetzungen zwischen Kastilien und Por-[83/ 84]tugal um die Kanarischen Inseln zwar kaum als Modell gelten, so waren doch durch ihren Abschluß die Weichen für die weitere europäische Expansion nach Afrika und Amerika gestellt, wobei zudem die beiden bisherigen Hauptkonkurrenten Portugals und Kastiliens, Aragón-Katalonien und Genua, inzwischen weitgehend ausgeschaltet waren 148 . V. Die zumeist in Auseinandersetzung mit dem Papsttum geführten theoretischen Diskussionen deuteten jedoch in weiterer Hinsicht in die Zukunft: Wenn sie auch noch mittelalterlichen Traditionen verhaftet waren, so nahmen sie doch teilweise die frühneuzeitlichen Debatten über die Rechte der Christen gegenüber den Heiden vorweg. Es war bereits hervorgehoben worden, wie sehr der Gedanke des Kreuzzuges und/ oder der Mission auch die Eroberung der Kanarischen Inseln bestimmte 149 . Bei der Eroberung der Kanarischen Inseln setzte man sich intensiv mit den von den Eroberern unterschiedlichen Bewohnern auseinander, und hier liegt ein früher Beitrag zur „Entdeckung des Menschen“, von der man im Zusammenhang mit der europäischen Expansion gesprochen hat 150 . Die 146 Ebenda (D AV E N P O R T ) S. 49-52 Nr. 4, vgl. P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 219f. 147 Vgl. S A N T I A G O , Colon (wie Anm. 32) zu den Aufenthalten auf den Kanarischen Inseln. Vgl. die Kartenskizzen auf S. 340, 351 und 357 zu den eingeschlagenen Routen. Der Name der Kanarischen Inseln wurde schon bald schlagwortartig mit Amerika verbunden vgl. hierzu M. G I M É N E Z F E R N Á N D E Z , America, „Ysla de Canaria por ganar“, Anuario de estudios atlanticos 1 (1955) S. 309-336, besonders S. 328ff. 148 Die Gründe für die „Monopolisierung“ der weiteren Expansion durch Portugal und Kastilien sind vielfältig und bedürften eigener eingehender Untersuchungen, vgl. die vorläufigen Überlegungen von F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 217-222. 149 Vgl. oben S. 56ff. 150 Vgl. z. B. J. H. E L L I O T T , The Discovery of America and the Discovery of Man, in: Proceedings of the British Academy 58 (1972) S. 101-125 (jedoch erst mit dem 16. Jahrhundert einsetzend). <?page no="227"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 227 Kennzeichnung der Inselbewohner basierte zwar auf früheren Traditionen, aber je nachdem, ob Missionare, Historiographen, Juristen oder Kanonisten die kanarischen Bewohner charakterisierten, fiel das Urteil über die „Wilden“ unterschiedlich aus und folgte auch neuen Mustern 151 . Das Bild von den Kanariern hob sich in gewisser Weise von der Beschreibung der Schwarzen ab, die man als Bewohner von einer anderen Welt ansah und oft in die Nähe von Affen [84/ 85] rückte 152 . Schon in der Chronik „Le Canarien“ über die Eroberungen Béthencourts wurden die Bewohner der Kanarischen Inseln durch die Bezeichnung „paians mescreans“ als Heiden von den Muslimen abgehoben und so das „neue“ Afrika von dem „muslimischen Afrika“ geschieden 153 . Die Beurteilung fremder Völker ist im Rahmen der im Spätmittelalter gängigen Konzeptionen zu interpretieren. Berücksichtigt man die zitierten Auseinandersetzungen im Umkreis des Konzils von Basel, so zeigt sich, wie sehr papalistische und andere dem widerstrebende Vorstellungen bestimmend waren. Welche Bedeutung hatte die Eroberung der Kanarischen Inseln für die Entwicklung der Völkerrechtslehre? Die papalistische Theorie verstand die Welt als eine societas omnium christianorum, in der der Papst der verus imperator war 154 , der den Staaten das Recht zur Herrschaft verleihen konnte. Auf dieser Doktrin beruhte weitgehend die portugiesische Expansion; sie galt auch weitgehend für die portugiesischen Versuche, auf den Kanarischen Inseln Fuß zu fassen 155 . Der Gegenpol zu dieser Theorie wurde von Philosophen wie Johannes von Paris, Wilhelm von Ockham oder Marsilius von Padua entwickelt. Unter aristotelischem Einfluß vertraten sie eine andere Lehre von der Souveränität. Demnach besaß die congregatio fidelium keine politischen Rechte, sondern die societas humana oder die communitas mortalium 156 . Beide Theorien wurden mehr oder weniger explizit in den Auseinandersetzungen um die Kanarischen Inseln benutzt. Versuchen wir, die Entwicklung an einigen Beispielen zu skizzieren. Dabei werden wir gleichzeitig auch Aspekte der Mission und Sklaverei wieder aufgreifen. [85/ 86] 151 Vgl. hierzu F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 224ff. Die Anfänge des Bildes vom „edlen Wilden“ könnten auch anhand der Quellen zu den Kanarischen Inseln weiter erschlossen werden. 152 Vgl. (A)zurara, Chronica Guinea, Kapitel 25f., ed. B R A G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 121ff. 153 Le Canarien (wie Anm. 25) Kapitel 24, Bd. 11 S. 27, vgl. R U S S E L , Descubrimiento (wie Anm. 37) S. 10-12. Vgl. zur Abgrenzung zwischen Muslimen und Heiden oben S. 66. 154 Vgl. H. F U H R M A N N , Der wahre Kaiser ist der Papst, in: Schriftenreihe der Universität Regensburg 12 (1986) S. 99-121, der die Entwicklung dieses erstmals um 1160-1170 in der „Summa Parisiensis“ auftauchenden Satzes interpretiert, vgl. zum größeren Zusammenhang: M. W I L K S , The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages: The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists (Cambridge 1964), insbesondere S. 15-64 und 254-287. 155 Vgl. die zitierte Supplik (Anm. 141) und allgemein R U S S E L , Descubrimiento (wie Anm. 37) S. 13. 156 W I L K S , Problem of Sovereignity (wie Anm. 154) S. 84-117. <?page no="228"?> 228 Geschichte der Iberischen Halbinsel Schon der Bericht über die Fahrt des Niccoloso dà Recco zu den Kanarischen Inseln von 1341 157 , dessen Anliegen natürlich nicht rechtliche Fragen waren, läßt gleichwohl eine gewisse Distanz zur papalistischen Theorie erkennen: Wir finden dort nicht das Bild der bestialischen Heiden, das später oft gezeichnet wurde, teilweise nur, um den päpstlichen Eroberungsauftrag zu erhalten. Der Bericht zeichnet ein positives Bild der Bewohner, ihre Sprache sei „wohlklingend“ (politum), und „fließend“ (expeditum), sie wohnten in schönen Häusern und besäßen Tempel. Das Volk der Kanarischen Inseln tanze und singe gern wie die Franzosen (more gallico) und es heißt weiter mit der leichten Ironie eines „Italieners“: „ sie lachen gern, sind lebhaft und recht freundlich, mehr als viele von den Spaniern sind“ 158 . Natürlich muß bei diesem positiven Bild der Kanarischen Inseln die Zielsetzung des Textes beachtet werden: Er sollte auch zum Handel ermuntern und andeuten, daß man auf den Kanarischen Inseln gute Partner finde, mit denen man leicht Handelsbeziehungen anknüpfen könne. In anderen Texten wird stärker hervorgehoben, daß die Kanarier „rechtlos“, gleichsam wie Tiere, lebten, wie es beispielsweise bei Peter IV. von Aragón 1352 oder im „Canarien“ über die Eroberung Béthencourts heißt 159 . Welches Bild zeichnen die erhaltenen Papsturkunden? Die Papsturkunden seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind von zwei widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Entweder dominierte die Theorie der militärischen Eroberung mit anschließender Zwangsbekehrung oder der Gedanke der friedlichen Mission 160 . Dabei ist immer zu bedenken, daß gerade bei den Papsturkunden der Einfluß der Impetranten auf die Formulierung der Urkunden bedeutend war 157 MH I S. 201-206 Nr. 88, vgl. Anm. 6 sowie P É R E Z E M B I D , Descubrimientos (wie Anm. 17) S. 69, K I N Z E L , Begründung (wie Anm. 4) S. 104-106, R U S S E L , Descubrimiento (wie Anm. 37) S. 17. 158 Ebenda S. 205: Ridentes sunt et alacres et satis domestici, ultra quam sint multi ex ispanis. Vgl. die deutsche Übersetzung (wie Anm. 6) hier S. 52. 159 R U M E U D E A R M A S , Mallorquínes (wie Anm. 14) S. 272-274; Le Canarien (wie Anm. 25) Bd. 9 S. 12 und Bd. 11 S. 15 und 65, vgl. F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 233. Diese Charakterisierungen finden sich außerdem besonders häufig in Berichten, die in Portugal entstanden, vgl. unten S. 87ff. 160 F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 205-209 erkennt in den Papsturkunden die grundlegende Tendenz, die gewaltsame Eroberung zu rechtfertigen. Dies sei auch dann noch gegeben, wenn von friedlicher Mission gesprochen werde, denn letztlich hätte man bei Weigerung der zu Bekehrenden den Weg der gewaltsamen Unterwerfung stets im Auge gehabt. Fisch verdeutlicht dies an mehreren Formulierungen der Urkunden durchaus plausibel, jedoch lassen sich nicht alle Beispiele auf diese Argumentation zurückführen. Zudem scheinen gerade im Bereich eines sich nur langsam verändernden Rechtes Nuancen besonders wichtig zu sein. <?page no="229"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 229 und berücksichtigt werden muß 161 . Mit der Belehnung von Luis de la Cerda 162 machte bereits Papst Clemens VI. den Versuch, die päpstliche Souveränität im Sinne der papalistischen Theorie sicherzustellen. Clemens VI. selbst - soweit man die eigene Beteiligung an der Ausfertigung seiner Papsturkunden unterstellen darf 163 - verfügte jedoch über keine umfassenden Informationen, um diesen grundsätzlichen Anspruch genauer zu begründen. Seine Aufforderung zur Mission 164 schloß aber grundsätzlich die Möglichkeit ein, einen Krieg gegen die heidnischen Völker zu führen. Dabei griff er auch indirekt auf die seit Augustin ausgebildete kirchliche Lehre eines gerechten Krieges 165 zurück. Es war in diesem Sinne folgerichtig, einen Krieg gegen diejenigen zu führen, die christliche Vorstellungen verletzten 166 . Wenn auch bei Clemens VI. dieser Gedanke an einen Krieg noch im Hintergrund stand, so lassen doch die Urkunden zugunsten von Luis de la Cerda die Möglichkeit offen, die päpstliche Oberhoheit - die auch mit der „Insel-Theorie“ zur Geltung gebracht wurde - gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Ka-[87/ 88]stilien und Portugal stellten in ihren Antworten 167 die kuriale Auffassung vom göttlichen Recht (der lex divina) in Frage; für sie gehörte das Territorium nach dem ius gentium einem der Völker; dem Papst stand allenfalls die geistige Oberhoheit zu 168 . Seit dem 15. Jahrhundert ist die päpstlich-kuriale Position keineswegs mehr allgemein dominant; im Bericht über die Eroberung Béthencourts und Gadifers de la Salle scheint eher die antipapalistische Theorie begünstigt zu sein: Gadifer 161 Vgl. hierzu die Überlegungen von E. P I T Z , Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 236, Tübingen 1971) S. 314; D E R S ., Die römische Kurie als Thema der vergleichenden Sozialgeschichte, QF 58 (1978) S. 216-359, S. 282f. und D E R S ., Diplomatische Studien zu den päpstlichen Erlassen über das Zauber- und Hexenwesen, in: P. S E G L (Hg.), Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarum von 1487 (Bayreuther Historische Kolloquien 2, Köln/ Wien 1988) S. 23-70, insbesondere S. 65ff. 162 Vgl. hierzu die verschiedenen Urkunden oben Anm. 60-62. 163 Vgl. oben Anm. 161. 164 Vgl. oben Abschnitt II. 165 Vgl. F. H. R U S S E L , The Just War in the Middle Ages (Cambridge 1975). Die spätere Zeit behandelt (besonders im Zusammenhang mit der portugiesischen Expansion) M U L - D O O N , Popes (wie Anm. 51) S. 134f. - Zum Problem des vom gerechten Krieg unterschiedlichen „Heiligen Krieges“ im Verhältnis zum Rechtsdenken vgl. J. A. B R U N D A G E , Holy War and Medieval Lawyers, in: The Holy War, hg. von Th. P. M U R P H Y (Ohio 1976) S. 99-140, S. 121ff. und zum 12. Jahrhundert (hauptsächlich im Zusammenhang mit den Kreuzzügen) E.-D. H E H L , Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 19, Stuttgart 1980). Das Interesse Clemens’ VI. an einem universalen Anspruch des Papsttums geht aus einer Predigt des Papstes hervor: M . G . M A R T Í N E Z / E . S E R R A R Á - F O L S , Sermón de Clemente VI Papa acerca de la otorgación del reino de Canarias a Luis de Espana, Revista de historica canaria 29 (1963/ 64) S. 88-111, vgl. bes. S. 110. 166 Schon Innozenz IV. (vgl. Anm. 51) erwähnt die Sünden contra naturam, wozu häufig sexuelle Perversionen, Idolatrie und Blasphemie zählten, vgl. zum Idolatrievorwurf oben Anm. 65. 167 Vgl. oben S. 80f. (mit Anm. 131-134). 168 R U S S E L , Descubrimiento (wie Anm. 37) S. 19. <?page no="230"?> 230 Geschichte der Iberischen Halbinsel de la Salle erkannte die Autorität des kanarischen Königs an, den er gegen die Übergriffe der Spanier verteidigen wollte 169 ; er erwies sich also als Anwalt der heidnischen Kanarier gegen andere Christen! In den Stellungnahmen der Päpste im 15. Jahrhundert wechseln - je nach Adressaten - die Akzente. Verdeutlichen läßt sich dies an den Verlautbarungen Eugens IV. und seiner Zeit. In einer Urkunde, welche die Versklavung der Kanarier verbietet, definierte Papst Eugen IV. einen Heiden: . . . insule, quarum habitatores et incole, solam legem naturalem imitantes, nullam antea fidelium aut hereticorum sectam noverant 170 . Kein Antipapalist hätte sich an einer solchen Formulierung gestoßen. Eine andere Position wird in der schon zitierten Supplik des portugiesischen Königs Eduard (D. Duarte I.) aus dem Jahr 1436 deutlich 171 . Dort rückt dieser die Kanarier in die Nähe von „Wilden“ (indomiti silvestres fere homines), die im Grunde unkultiviert wie Tiere lebten. D. Duarte wußte wohl, warum er so formulierte: Offensichtlich wollte man von portugiesischer Seite die Expansion auf der Basis von Kreuzzugstraditionen durchführen. Deshalb mußte man den Papst überzeugen, daß Vorstellungen von einer societas humana im Fall der Kanarischen Inseln nicht zutrafen. Außerdem hob D. Duarte weiterhin hervor, man wolle [88/ 89] der kanarischen Bevölkerung nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch eine rechtliche Ordnung vermitteln 172 . Für ihr Ziel kamen die Portugiesen dem Papst sehr entgegen: Sie billigten ihm nicht nur die spirituelle Oberhoheit über alle Länder zu, sondern sogar die volle Oberhoheit. So heißt es in der Supplik zum Schluß, Gott habe dem Papst die volle potestas auf dem gesamten Erdkreis übertragen 173 . Die zweifache Antwort Eugens IV. 169 Le Canarien (wie Anm. 25) Kap. 12, Bd. 9 S. 59: „Alés et me faites le roy venir et ceulx qui avesquez lui sont, et je les garderé bien contre les Espaignols“. 170 Creator omnium, 1434 Dezember 17, MH V S. 118-123 Nr. 52, hier S. 121 (vgl. Anm. 37). Wie bereits erwähnt, ist bei solchen Formulierungen stets der Einfluß der Petenten auf die Abfassung der Urkunden zu berücksichtigen. Interessant ist die Abgrenzung der „Heiden“ von anderen „häretischen Gemeinschaften“, vgl. oben S. 66 mit Anm. 63 und 64. 171 Vgl. Anm. 141 und 155, 1436 August, MH V S. 254-258 Nr. 129. Zu den Auseinandersetzungen von 1436 vgl. die Studie von J. M U L D O O N , A Fifteenth-Century Application of the Canonistic Theory of the Just War, in: Proceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, 1972, hg. von St. K U T T N E R (Rom 1976) S. 467-480, hier S. 470f. Daß die jeweiligen Parteien, welche die Urkunden impetrierten, auch Einfluß auf die Formulierung von Papsturkunden hatten, zeigt die Antwort auf die Supplik. 172 . . . ad preffatas insulas Canarie misit, ut primum eos ipsos paganos ad fidem christianam et devocionem corone Portugalie conuertisset, leges eciam ciuiles et politicum uiuendi modum eisdem traderet . . . , MH V S. 256. Überhaupt nennen besonders portugiesische Dokumente Heidentum und Rechtslosigkeit oft zusammen. Die Supplik Alfons’ V. an Paul II. von 1466 Juni 26, MH XIV S. 322-324 Nr. 140 spricht von den Kanarischen Inseln, ubi homines sine lege et cultu diuino agunt. 173 Vgl. MH V S. 258 die aufschlußreiche Formulierung: Quamvis enim infidelium loca propria auctoritate plerique debellare et occupare nitantur, nichilominus quia Domini est terra et plenitudo eius, qui et sanctitati vestre plenariam orbis tocius potestatem reliquit, que, de auctoritate et permissu sanctitatis vestre, possidebuntur, de speciali licencia et permissione omnipotentis Dei possideri videntur. <?page no="231"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 231 wurde bereits erwähnt 174 , sie ging hauptsächlich auf die Missionsabsicht der Portugiesen, weniger auf die anderen Aspekte ein. Nur das Ziel Portugals erklärt, warum die Bewohner der Kanarischen Inseln gleichsam als abstoßende „Wilde“ charakterisiert wurden. Der Bericht der auch in Portugal entstanden Chronik von Guinea aus der Feder von Azurara zeigt, daß man auch über andere Informationen verfügte: Hier werden die Kanarier als ein äußerst kultiviertes Volk geschildert 175 . Die Positionen Eugens IV. waren insgesamt gesehen stärker von friedlichen Missionsvorstellungen geprägt. Man vergleiche seinen Geleitbrief für einen Bewohner von La Gomera 176 , sein Verbot der Sklavenjagd auf den Kanarischen Inseln 177 , die den Einfluß der Franziskanermission des 15. Jahrhunderts erkennen lassen, bei der noch die Ideale Raimund Lulls nachwirkten 178 . Diese Ausrichtung reflektiert auch der bereits zitierte Bericht des Züricher Kanonikers Hemmerlin 179 , der aus etwa derselben Zeit stammt. Einerseits berichtet Hemmerlin zwar kri-[89/ 90]tisch und rückt die Einwohner der Inseln aufgrund ihrer Ernährung und ihrer Sexualpraktiken in die Nähe von Tieren, andererseits bestätigt er der Bevölkerung jedoch aufgrund des gemeinsamen Besitzes den status innocentie, sie lebe gemäß der lex nature und der lex divina 180 . Diese Kennzeichnungen Hemmerlins ähneln den Positionen Eugens IV. durchaus, vielleicht war Hemmerlin jedoch bei der Abfassung dieser Passage noch stärker von den Auseinandersetzungen während des Basler Konzils beeinflußt. Die Rivalität zwischen Kastilien und Portugal, die in den Jahren 1434- 1437 ihren Höhepunkt erreichte, führte nämlich auch dazu, daß Eugen IV. und die Kurie die italienischen Juristen aus Bologna Antonio Minucci da Pratovecchio († 1468) und Antonio de Roselli († 1466) beauftragten, sich unter anderem zur Frage zu äußern, ob ein christlicher Fürst Gebiete besetzen dürfe, die niemals unter christlicher Herrschaft gestanden hätten. Es ging im letzten um das Problem, inwieweit Nichtchristen über bestimmte natürliche Rechte verfügten, also um eine Definition möglicher Souveränität. Gewiß gab es zu dieser Diskussion bereits frühere Beiträge. Die Frage, ob beispielsweise die Mongolen Bundesgenossen der Christen werden könnten, untersuchte z. B. der 1245 von Papst Innozenz IV. zur Erkundung der Mongolen entsandte Johannes de Plano Carpini. Er kam zu dem Ergebnis, ihr barbarisches Wesen schließe 174 Vgl. Anm. 143. 175 Vgl. (A)zurara, Chronica Guinea, Kapitel 79-82, ed. B R A G A N Ç A (wie Anm. 79) S. 333- 348. Zwar werden gewisse dem Autor ungewohnte Sitten wie das Nacktgehen der Bevölkerung erwähnt, jedoch bleibt der Bericht weitgehend deskriptiv und wertet die Sitten nicht ab. 176 Devotionis tue, 1434 September 29, MH V S. 87-89 Nr. 37. 177 Regimini gregis, 1434 September 29, MH V S. 89-94 Nr. 38 und Creator omnium, 1434 Dezember 17, MH V S. 118-123 Nr. 52. 178 Vgl. oben Abschnitt II sowie Anm. 68. 179 Hemmerlin, ed. L Ü T O L F (wie Anm. 20). 180 Ebenda S. 324. <?page no="232"?> 232 Geschichte der Iberischen Halbinsel eine solche Möglichkeit aus 181 . Andere Schlußfolgerungen ergaben sich aus einer Kontroverse auf dem Konstanzer Konzil. Der polnische König Wladislaw hatte im Krieg mit dem Deutschen Orden auch litauische Truppen eingesetzt. In seiner Stellungnahme hierzu stützte sich der Jurist Wladimiri vor allem auf Äußerungen von Papst Innozenz IV. und kam zu dem Schluß, daß auch diese „Ungläubigen“ Teil der menschlichen Gemeinschaft wären 182 . Von der Beantwortung der Frage nach der Souveränität hing je-[90/ 91] doch auch die Anerkennung päpstlicher Autorität mit ab. Besaß der Papst die Jurisdiktion über „souveräne Völker“ wie die Ungläubigen? Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Kanarischen Inseln entwickelten Minucchi da Pratovecchio und Antonio de Roselli in ihren Gutachten die papalistische Theorie weiter und schwächten sie gleichzeitig ab; der Papst habe demnach über die Heiden zwar „de jure“ die Jurisdiktion, aber nicht „de facto“. Nur in bestimmten Ausnahmen, wenn die heidnische Bevölkerung keine päpstlich entsandten Missionare in ihre Gebiete ließe, könne der Papst einen Krieg erlauben, denn erst dann würden sie gegen das ius naturale verstoßen 183 . Wie der hier nicht im einzelnen darzulegende Argumentationsgang und die benutzten Quellen zeigen, griffen die Juristen - wie in mittelalterlichen juristischen Gutachten kaum anders zu erwarten - auf frühere Rechtssätze zurück und verwandten auch die Argumente von Innozenz IV. und in geringerem 181 Johannes de Plano Carpini, Ystoria Mongalorum, ed. A. W Y N G A E R T (Sinica Franciscana I, Florenz 1929) S. 1-130. Vgl. G. A. B E Z Z O L A , Die Mongolen in abendländischer Sicht (1220-1270). Ein Beitrag zur Frage der Völkerbegegnungen (Bern/ München 1974) S. 120- 123 (mit weiterer Literatur) sowie R I C H A R D , Papauté et missions (wie Anm. 51) S. 17- 98. Vgl. auch J. F R I E D , Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, HZ 243 (1986) S. 287-332, S. 304ff., allerdings mit anderer Fragestellung. - Solche theoretischen Äußerungen behinderten allerdings nicht die fortgesetzten Versuche zu einem Bündnis. 182 E. W E I S E , Die Staatsschriften des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert Bd. 1: Die Traktate vor dem Konstanzer Konzil 1414-1418 über das Recht des Deutschen Ordens am Lande Preußen (Göttingen 1970) S. 130-149, besonders S. 147f. Vgl. H. D. K A H L , Die völkerrechtliche Lösung der „Heidenfrage“ bei Paulus Vladimir von Krakau († 1435) und ihre problemgeschichtliche Einordnung, Zeitschrift für Ostforschung 7 (1958) S. 161-209 (mit Erörterung der Kreuzzugstradition und der Entstehung des Völkerrechtes) sowie F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 196-205, der betont, wie leicht die verschiedensten Argumente gefunden werden konnten, um einen Krieg gegen die Ungläubigen zu rechtfertigen. Es genügte auf die Nichtanerkennung christlicher Herrschaft bzw. auf die Ungläubigkeit der „Heiden“ hinzuweisen. 183 Druck der auf den 17. Oktober 1436 und auf Oktober 1436 datierten Gutachten: MH V S. 285-320 Nr. 140 und S. 320-334 Nr. 141 mit reichem Kommentar und Ausweis der benutzten Quellen. Die Gutachten wurden erstmals von D E W I T T E , Bulles (wie Anm. 37) Bd. 48 (1953) S. 700 entdeckt. Vgl. zur Sache J. M U L D O O N , Fifteenth-Century Application (wie Anm. 170) S. 472-477 (allerdings ohne Benutzung der MH-Edition) sowie knapper F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Before Columbus (wie Anm. 65) S. 233. - Zu Rosellis „imperialistischen Grundsätzen“ in anderen Zusammenhängen vgl. P. S E G L , Heinrich Institoris. Persönlichkeit und literarisches Werk, in: D E R S ., Der Hexenhammer (wie Anm. 161) S. 103-126, S. 122. <?page no="233"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 233 Maße von Hostiensis, die in ihren Schriften mehrfach zitiert werden 184 . Vergleicht man die Benutzung der Quellen in beiden Gutachten, so ging Roselli gegenüber Minucci da Pratovecchio merklich weiter, er zog sogar mehrfach Cicero und Aristoteles heran, um die natürlichen Rechte aller Menschen, auch von Nichtchristen hervorzuheben 185 . Die so weiter ent-[91/ 92]wickelte, modifizierte papalistische Theorie wurde zwar in Spanien und Portugal rezipiert, konnte sich aber insgesamt noch nicht durchsetzen. Das Memorandum des bereits genannten Alfons von Cartagena fiel zugunsten von Kastilien aus, blieb jedoch auch traditionellen Argumenten und indirekt der papalistischen Theorie verpflichtet 186 . Auch die bekannte Bulle Romanus pontifex von 1455 187 griff die Ideen der italienischen Juristen nicht auf. Deshalb könnte man meinen, die theoretischen Traktate hätten die Souveränitätsrechte der Ungläubigen oft anerkannt, hingegen nicht die päpstlichen Bullen, die der „Praxis“ näherstanden 188 . Trotzdem dürften die Überlegungen aus den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts zukunftsweisend gewesen sein: Die Diskussionen über die Indios und die Souveränität Spaniens in Amerika erscheinen aus dem hier gezeichneten Blickwinkel weniger neu als bisher angenommen 189 . Beide Völker, Spanier und Portugiesen, nahmen seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts zumindest indirekt an den geistigen Auseinandersetzungen teil, die in Fortsetzung aristotelischer Gedanken an den europäischen Universitäten geführt wurden, und man darf wohl die These vertreten, daß beide Völker auf der Basis ihrer Auseinandersetzungen um die Kanarischen Inseln auch die geistigen Waffen 184 Vgl. zu den beiden wichtigsten Quellen oben Anm. 51 und 53 sowie die Nachweise in der Edition. Vgl. auch M U L D O O N , Popes (wie Anm. 51) S. 125-128. 185 Naturali iuri insinuatur sic: . . . et hoc uult Tulius, primo offitiorum, capitulo primcipio (sic), und: . . . cum secundum sententiam filosofiomne animal apetat uiuere ac propriam salutem tueri, ut in 2° de anima, MH V S. 323 und öfter (S. 325 und 336). 186 MH VI S. 139-199 Nr. 57, vgl. Anm. 142. Die Inseln werden Kastilien zugesprochen (S. 187), der Verleiher dieser Rechte ist eindeutig der Papst (S. 195). 187 Vgl. oben S. 62, 1455 Januar 8, MH XII S. 71-79 Nr. 36, übers. G. S C H M I T T / U . K N E F E L - K A M P , in: S C H M I T T , Europ. Expansion (wie Anm. 4) Bd. 1 S. 223-231, vgl. S. 218-223 die Einleitung von G. K I N Z E L mit weiterer Literatur. Zu „Sklaverei und Mission“ in dieser Urkunde vgl. oben. 188 Vgl. F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 209. Für die „Praxis“ sollte man allerdings den Papsturkunden die erzählenden Quellen zu Seite stellen, die zwar zuweilen quellenkritische Probleme aufwerfen, aber vielleicht die Praxis und die Vorstellungen der Eroberer deutlicher widerspiegeln als die Papsturkunden. 189 Vgl. z. B. Palacio Rubios Indianerproklamation: L. H A N K E , The „requerimento“ and its Interpreters, Revista de Historia de America 1 (1938) S. 25-34 sowie Franciscus de Victoria, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in barbaros, (lateinischdeutsch) ed. W. S C H Ä T Z E L (Die Klassiker des Völkerrechts 2, Tübingen 1952) (vgl. insbesondere Teil 2, S. 48ff: imperator non est dominus totius orbis [S. 50] und S. 58ff. zum abgelehnten Rechtsanspruch des Papstes). - Dabei ist unumwunden einzuräumen, daß es in Amerika trotz dieser einzelnen Äußerungen hauptsächlich darum ging zu fragen, wie die Europäisierung der Indianer erreicht werden könne, vgl. die zusammenfassenden Würdigungen bei P I E T S C H M A N N , Staat (wie Anm. 78) S. 69-71 und F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 209-245. <?page no="234"?> 234 Geschichte der Iberischen Halbinsel - die juristische Theorie - zu handhaben lernten, um ihre weitere Expansion nach Amerika - so die Spanier - oder ihr Ausgreifen in das südliche Afrika - so die Portugiesen - und ihre dortigen Aktionen zu rechtfertigen. Fassen wir einige Ergebnisse zusammen: Die Eroberung und Kolonisation der Kanarischen Inseln stand in ihren Anfängen noch ganz in der Tradition der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel. Der Bezug zu Traditionen der Kreuzzüge beeinflußte vor allem die portugiesische Expansion im 15. Jahrhundert. Die Eroberung der Kanarischen Inseln weist insofern in die Zukunft, als man sich hier schon relativ früh von Kreuzzugsvorstellungen löste. Anhand von Beispielen konnte dies unter den Stichpunkten Mission und Versklavung der Bevölkerung verdeutlicht werden. Der Missionsgedanke und der weitgehende Verzicht auf Versklavung leitete eigentlich von einer „Reconquista“ - die ja eine Zurückdrängung der Muslime bezweckte - zu einer „Conquista“ über. Dabei ging man zwar noch grundsätzlich von einer Unterwerfung des jeweiligen Volkes aus, teilweise akzeptierte man dieses jedoch in gewisser Weise bereits als einen - wenn auch „untergeordneten“ - Partner. Diese Positionen gründeten auch auf antipapalistischen Vorstellungen, die in den Diskussionen um die Kanarischen Inseln im 15. Jahrhundert weiterentwickelt wurden. Hinzu tritt noch ein weiterer Aspekt: Ein allgemeiner Missionsauftrag bedeutete gleichzeitig, daß die Mitwirkung des Papstes wie bei den Kreuzzügen nicht mehr unentbehrlich war; er konnte auch von weltlichen Gewalten - wie im 15. Jahrhundert bereits teilweise auf den Kanarischen Inseln - geltend gemacht werden. Als durch den kastilisch-portugiesischen Streit um die Kanarischen Inseln die Richtungen der portugiesischen und kastilischen Expansion (auch mit Billigung des Papstes) im Vertrag von Alcaçovas 1479 festgelegt wurden, begannen die Kastilier, die Kanarischen Inseln systematisch zu unterwerfen, zu besiedeln und zu kolonisieren. Diese gezielte Eroberungs-, Besiedlungs- und Missionspolitik, die auch eine Integration der kanarischen Bevölkerung teilweise mit einschloß, führte zu unterschiedlichen Konsequenzen, auch hinsichtlich der weiteren Expansion. Am stärksten wirkte das neue Gesellschaftssystem auf die von Portugal kolonisierten atlantischen Inseln. Der Aufbau der kanarischen Gesellschaft ging Hand in Hand mit der Mission, sie half entscheidend bei der späteren oder gleichzeitigen Kolonisation. In dieser Hinsicht sind die Zeugnisse zu den Kanarischen Inseln wegweisend und ihrer Zeit voraus. Die Tatsache, daß die Kanarier nicht als Muslime, sondern als „unwissende Hei-[93/ 94]den“ angesehen wurden, führte dazu, daß man ihre Bekehrung und Unterwerfung unter die Krone (auch wenn teilweise ihre grundsätzliche Souveränität anerkannt wurde) gleichsam voraussetzte oder als „leicht“ ansah 190 . Wenn wir abschließend nochmals die Charakterisierung der kanarischen Geschichte durch Verlinden bedenken, der ja die spätmittelalterliche Entwicklung auf den Kanarischen Inseln mit einem „Laboratorium“ verglichen hatte, 190 Vgl. P É R E Z V O I T U R I E Z , Problemas internacionales (wie Anm. 17) zusammenfassend S. 236. <?page no="235"?> Die Eroberung der Kanarischen Inseln 235 so scheint dieser Ausdruck vielleicht ein wenig überzogen. In einem Labor testet man planmäßig und zielgerichtet. Vorzuziehen ist die Formulierung von Fernández-Armesto, der von einer „Alchemistenküche“ spricht, in der sich die verschiedensten Einflüsse mischten und auf deren „Gerichte und Zutaten“ man später zurückgreifen konnte. Fernández-Armesto legt den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf das Gesellschaftssystem der Kanarischen Inseln, jedoch behandelt er kaum den Bereich von Kreuzzugsgedanken, Mission, papalistischer Theorie und Völkerrechtslehre 191 . Aber auch neue Konzeptionen gehörten zum Inventar dieser „Alchemistenküche“ und die Anwendung dieser „Zutaten“ dürfte in einigem wegweisend für die weitere Zukunft geworden sein 192 . Die Diskussionen der verschiedenen Mächte bereiteten das neue Völkerrecht vor, das am Beginn der Neuzeit steht. Denkt man an die Gutachten der Bologneser Juristen im Streit um die Kanarischen Inseln, so erscheint die Indianerproklamation von Palacios Rubio 1512 193 weniger neu. Insgesamt dürften die Einflüsse aus dieser „Alchemistenküche“ für die weitere Expansion in die Neue Welt wichtiger als für die Expansion nach Afrika geworden sein, obwohl auch die portugiesischen Fahrten nach Westafrika in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf den Erfahrungen und Überlegungen bei der Eroberung der Kanarischen Inseln - ob bewußt oder unbewußt - aufgebaut haben. Wenn aber hauptsächlich die Spanier, weniger die Portugiesen, die neuen Konzeptionen aufgriffen - Portugal baute bis ins 16. Jahrhundert eher [94/ 95] ein Handelsimperium auf - so hatte dies weitreichende Konsequenzen für die Unterschiede zwischen der Neuen Welt und Afrika, die ja bis heute anhalten. Es bleibt anderen Arbeiten überlassen, die Rolle der Kanarischen Inseln für die technische Entwicklung der Schiffahrt, die Kartenkunde, für die Wandlung der Mentalitäten der erobernden, wichtiger noch: der eroberten Völker oder auch für die entstehende kapitalistische Weltökonomie zu würdigen. Hier konnte es nur darum gehen, die Afrika vorgelagerten Inseln und ihre Rolle am Ende des Mittelalters zwischen Europa, Afrika und Amerika in einigen Aspekten zu skizzieren. 191 F E R N Á N D E Z - A R M E S T O , Canary Islands (wie Anm. 28) S. 209. 192 Der Entwicklung des Völkerrechtes aus den mittelalterlichen Grundlagen hat sich Muldoon gewidmet. Vgl. neben den zitierten Arbeiten (Anm. 51 und 170) auch dessen Literaturbericht: The Contribution of the Medieval Canon Lawyers to the Formation of International Law, Traditio 28 (1972) S. 483-497. Vgl. ferner F I S C H , Expansion und Völkerrecht (wie Anm. 46) S. 183-208. 193 Vgl. Anm. 189. <?page no="237"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert I. Einleitung Reliquien von Spanien nach Rom zu bringen, bedeutete dies nicht, Eulen nach Athen zu tragen? 1099 soll eine Delegation aus Toledo nach Rom gekommen sein, darunter wohl der Toledaner Erzbischof, um dem noch amtierenden Papst Urban II. solche Schätze zu überreichen. Die Gesandtschaft wird schnell vorgelassen, nachdem sie gesagt hat, welche wertvollen Reliquien sie mit sich führt: Hiermit dürfe jeder eintreten, so der Türhüter. Urban II., avidissimus, fragt, welche Teile der Heiligen die spanische Gesandtschaft mitgebracht habe. Und in der Tat, die Spanier präsentieren schönste Teile aus den Lenden und der Seite des Heiligen, die der römische Pontifex in feierlicher Liturgie in den Schatzkasten der hl. Cupiditas legt und beim Altar der heiligen Aviditas, nicht weit von der Kirche der heiligen Avaritia entfernt, an den Kalenden des Mai ehrwürdig eigenhändig beisetzt. Der Leser ahnt, um welche Reliquien es sich handelt: Gemeint sind diejenigen der hll. Albinus und Rufinus, Namen, die auch mit Silber- und Goldstück, übersetzt werden können. Die vielleicht in Toledo verfaßte Satire 1 lebt von dieser und anderen Doppeldeutigkeiten, von Verdrehungen der Bibel, der Erschienen in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts (Mittelalterforschungen 6), hg. v. Ernst-Dieter H E H L , Ingrid Heike R I N G E L u. Hubertus S E I B E R T , © Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2002, 25-60. 1 Tractatus Garsia, The Translation of the Relics of SS Gold and Silver, ed. R O D N E Y M . T H O M S O N (Textus minores 46), Leiden 1973, hier S. 14-30, der nach zwei römischen Handschriften und zwei aus Cambridge ediert. Ob der Name Garsia nur auf einen Toledaner Kleriker verweist, ist zweifelhaft, vgl. kurz hierzu T H O M S O N , S. 5. P E T E R L I - N E H A N , The Spanish church and the papacy in the thirteenth century (Cambridge studies in medieval life and thought 3), Cambridge 1971, S. 251. Vgl. zur Quelle M[ A N U E L ] C . D Í A Z Y D Í A Z , Index Scriptorum Latinorum Medii Aevi Hispanorum. Pars prior (Filosofia y letras 13, num 1), Salamanca 1958, Nr. 829: „scriptor certe hispanus“; D. Manuel C. Díaz y Díaz teilte mir in einem Gespräch 1999 seine eher skeptische Einschätzung bezüglich einer Abfassung des Traktates in Toledo mit. - Zur Pontifikatszeit des Bernhard von Toledo vgl. J U A N F R A N C I S C O R I V E R A R E C I O , La Iglesia de Toledo en el siglo XII (1086-1208), Rom 1966 und mit neuerer Literatur A R M I N K O H N L E , Abt Hugo von Cluny: 1049-1109 (Beihefte der Francia 32), Sigmaringen 1993, S. 223-233. Der nachfolgende Text orientiert sich an dem in Mainz und verändert in Münster gehaltenen Vortrag, der nur an wenigen Beispielen einige Tendenzen der Zeit zu verdeutlichen suchte; für Anregungen bzw. Hilfe danke ich den jeweiligen Diskussionsteilnehmern, Dr. Nikolas Jaspert und den Hilfskräften des Erlanger Lehrstuhles. <?page no="238"?> 238 Geschichte der Iberischen Halbinsel Umdeutung liturgischer Formeln und von anderen Mitteln der Parodie 2 . Mit diesen wirkmächtigen Heiligen habe der Papst sogar hartnäckige Leute wie den Gegenpapst Wibert, den aufsässigen [25/ 26] König Heinrich IV. und andere gezähmt. Wer diese Reliquien besitze, dem sei der Zugang zum Papst gewiß 3 . Als dann Garsia, der Begleiter des Toledaner Erzbischofs, sieht, wie dieser zur Rechten des Papstes sitzt, ruft er Papst Urban zu: „Mein Herr sitzt durch die Gnade der Märtyrer Albinus und Rufinus zu deiner Rechten“ 4 . Es geht hier nicht darum, in dieser Geschichte Fakt und Fiktion zu scheiden, es geht auch nicht darum zu zeigen, in welcher Tradition der Rom- und Papstkritik 5 sie steht. Ich habe sie deshalb als Einstieg gewählt, weil sie - freilich überzeichnend - verdeutlicht, worauf Beziehungen mit Rom, insbesondere die Gewährung besonderer Privilegien zu Beginn des 12. Jahrhunderts zu basieren scheinen. Daß gerade Papst Urban II. und die ihn umgebenden fressenden und saufenden Kardinäle in der Satire zum Gespött gemacht werden, signalisiert, daß am Ende des 11. Jahrhunderts zur Zeit Urbans II. Akzente päpstlicher Politik angesprochen werden, die im 12. Jahrhundert bestimmend bleiben sollten 6 . Für die Iberische Halbinsel denke ich an seine Entscheidungen in Bistums- und weiteren Rangstreitigkeiten, an Äußerungen zur Reconquista und zu den verschiedenen sich formierenden Reichen sowie allgemein an die Förderung von neuen Ordensgemeinschaften und Formen religiosen Lebens. Dehnt man das Interesse auf das gesamte 12. Jahrhundert aus, so bietet die Forschung ein ungleichmäßiges Bild. An der Iberischen Halbinsel fasziniert vor allem die Umbruchsphase vom 11. zum 12. Jahrhundert, Studien von 2 Deshalb macht jede Übersetzung viele Aspekte dieser Komik und Parodie zunichte; vgl. allgemein P A U L L E H M A N N , Die Parodie im Mittelalter: mit 24 ausgewählten parodistischen Texten, 2. neu bearb. und erg. Aufl. Stuttgart 1963, S. 26-30, hier S. 29 mit Kommentar zu Übersetzungen und Paraphrasen. 3 Si quis duorum martirum reliquias habet, securus accedat et offerat, non habentes exeant foras, Tractatus, ed. T H O M S O N (wie Anm. 1), S. 26 (nach einem langen, mit Bibelzitaten versehenen Lobpreis dieser Reliquien). Vgl. hierzu auch A L F O N S B E C K E R , Papst Urban II. (1088-1099) (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 19, I-II), Stuttgart 1964 und 1988, Bd. 2, S. 331. 4 Tractatus, ed. T H O M S O N (wie Anm. 1), S. 36; kurz vorher ein Zitat aus Hebr. 1,13. 5 Vgl. J O S E F B E N Z I N G E R , Invectiva in Romam: Romkritik im Mittelalter vom 9. bis zum 12. Jahrhundert (Historische Studien 404), Lübeck/ Hamburg 1968, bes. S. 68-70 und W E R N E R M A L E C Z E K , Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216: die Kardinäle unter Coelestin III. und Innocenz III. (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom 1,6), Wien 1984, S. 260. 6 Grundlegend zu Urban II. ist B E C K E R , Urban (wie Anm. 3). <?page no="239"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 239 Odilo Engels 7 , Ludwig Vones 8 , die Sammelbände und Untersuchungen von Reilly 9 oder Fletcher 10 [26/ 27] könnten hier genannt werden 11 . Nach etwa 1130/ 1140 erscheint erst wieder das 13. Jahrhundert interessant genug, um eine monographische Abhandlung wie diejenige Peter Linehans zur Iberischen Halbinsel und dem Papsttum anzuregen 12 . Die allgemeinen Papst- und Kirchengeschichten verharren meist, von Ausnahmen 13 abgesehen, stärker in Mitteleuropa. Welche Chance sollte auch die 7 O D I L O E N G E L S , Papsttum, Reconquista und spanisches Landeskonzil im Hochmittelalter, in: Annuarium Historiae Conciliorum 1, 1969, S. 37-49 und 241-287, wiederabgedruckt in: D E R S ., Reconquista und Landesherrschaft. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge 53), Paderborn u.a. 1989, S. 327-386 (und mit Originalpaginierung). 8 L U D W I G V O N E S , Die „Historia Compostellana“ und die Kirchenpolitik des nordwestspanischen Raumes 1070-1130 (Kölner Historische Abhandlungen 29), Köln/ Wien 1980; übergreifend D E R S ., Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (711-1480). Reiche, Kronen, Regionen, Sigmaringen 1993 sowie weitere zahlreiche Einzelstudien. 9 B E R N A R D F. R E I L L Y , The Kingdom of León-Castilla under Queen Urraca: 1109-1126, Princeton 1982; Santiago, Saint-Denis and Saint Peter. The Reception of the Roman Liturgy in León-Castile in 1080, hg. von B E R N A R D F. R E I L L Y , New York 1985; D E R S . , The Kingdom of León-Castilla under King Alfonso VI: 1065-1109, Princeton N. J. 1988; D E R S ., The Kingdom of León-Castilla under King Alfonso VII: 1126-1157, Philadelphia 1998. 10 R I C H A R D A . F L E T C H E R , The Episcopate in the Kingdom of León in the Twelfth Century (Oxford Historical Monographs), Oxford 1978; D E R S ., Saint James’s Catapult. The Life and Times of Diego Gelmírez of Santiago de Compostela, Oxford 1984. 11 Eigene Studien betreffen auch - soweit sie Fragen von Iberischer Halbinsel und Papsttum berühren - eher diese Umbruchszeit, vgl. vor allem K L A U S H E R B E R S , Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber Sancti Jacobi“ (Historische Forschungen 7), Wiesbaden 1984; D E R S ., Politik und Heiligenverehrung auf der Iberischen Halbinsel. Die Entwicklung des „politischen Jakobus“, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von J Ü R G E N P E T E R S O H N (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1994, S. 177-275. 12 L I N E H A N , Spanish church and the papacy (wie Anm. 1); zahlreiche weitere Studien von Linehan betreffen diese Zeit; vgl. zusammenfassend jetzt D E R S ., History and the Historians of Medieval Spain, Oxford u. a. 1993; vgl. auch die Aufsatzsammlung: D E R S ., Spanish Church and Society 1150-1300 (Collected studies series 184), London 1983, bes. S. 245-349. 13 Vgl. den Stand der Forschung zu den einzelnen Päpsten in Dictionnaire historique de la papaute, Paris 1994; von den neueren überblickshaften Papstgeschichten, die auch Südwesteuropa stärker beachten, hebe ich B E R N H A R D S C H I M M E L P F E N N I G , Das Papsttum: Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance, 4. überarb. Aufl. Darmstadt 1996 (erstmals 1984) hervor; vgl. auch den Abschnitt zur Ausbreitung der römischen Kirchenverfassung von M I C H E L P A R I S S E , Die Iberische Halbinsel, in: Machtfülle des Papsttums (1024-1274), hg. von A N D R É V A U C H E Z , dt. bearb. und hg. von O D I L O E N G E L S , G E O R G I O S M A K R I S und L U D W I G V O N E S (Geschichte des Christentums 5), Freiburg u. a. 1994, S. 290-306; allgemein A G O S T I N O P A R AV I C I N I B A G L I A N I , Die römische Kirche vom ersten Laterankonzil bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, ebd. S. 181- 252; vgl. auch den systematischen Überblick von R U D O L F S C H I E F F E R , Papsttum und mittelalterliche Welt, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 1997, S. 580-589. <?page no="240"?> 240 Geschichte der Iberischen Halbinsel Iberische Halbinsel neben Friedrich Barbarossa oder Thomas Becket haben 14 ? Jedoch ist die Forschung in thematischen Fragen vorangeschritten: Studien zum päpstlichen Schutz für Laienfürsten von Johannes Fried 15 betreffen die Iberische Halbinsel maßgeb-[27/ 28]lich, die Rolle der Päpste bei der Entstehung der portugiesischen Landeskirche und Portugals hat Peter Feige verdeutlicht 16 , die von Stefan Weiss untersuchten Legatenurkunden des 12. Jahrhunderts berücksichtigen Spanien in hohem Maße 17 . Ein ausführlicher Forschungsbericht wäre ein eigener Vortrag 18 ; unter übergreifender Perspektive scheint mir in den meisten der neueren Arbeiten zumindest implicite ein Aspekt dominant, den auch die zitierte Satire überzeichnend zumindest thematisiert: Die Initiativen der Bittsteller und Betroffenen förderten maßgeblich die Zunahme päpstlichen Einflusses auch auf der Iberischen Halbinsel. Sollte diese Tendenz das 12. Jahrhundert charakterisieren, so ergeben sich zugleich Fragen nach Formen, Möglichkeiten und der Intensität dieser Initiativen sowie umgekehrt nach den Handlungsspielräumen der Päpste. Welche Mittel und Funktionsweisen waren bestimmend? Da dieser Wechselprozeß für ein gesamtes Jahrhundert unmöglich im einzelnen auszuleuchten ist, beschränke ich mich nach kurzer Erörterung der Quellen auf einige, mir vertrautere Beispiele, die hoffentlich dennoch allgemeinere Schlußfolgerungen erlauben. Damit hoffe ich zugleich Aktion und Reaktion näher zu charakterisieren sowie wichtige Adressaten päpstlicher Schreiben, Bischöfe, Orden und Herrscher zu berücksichtigen. 1. Welche Formen der Auseinandersetzung dominierten bei Bistums- und Rangstreitigkeiten? Wie war der Weg vom Kampf um Privilegien zu Verwaltung, Routine und Verfahren? 2. Unter welchen Voraussetzungen war die Förderung bestimmter Orden und ordensähnlicher Gemeinschaften, wie der Ritterorden, möglich? 3. Wie konnten Päpste zerstrittene Teilreiche zum Kampf gegen einen gemeinsamen muslimischen Feind einigen, wo lagen Möglichkeiten, politische Ziele umzusetzen? 14 Zu Barbarossa und Alexander III. jetzt vor allem J O H A N N E S L A U D A G E , Alexander III. und Friedrich Barbarossa (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 16), Köln u. a. 1997; zu Thomas Becket vgl. die grundlegende Biographie von F R A N K B A R L O W , Thomas Becket, London 1986 (als Taschenbuch London 1986 und Berkeley u. a. 1990), vgl. bes. (TB-Ausgabe 1986) S. 134-137. 15 J O H A N N E S F R I E D , Der päpstliche Schutz für Laienfürsten: die politische Geschichte des päpstlichen Schutzprivilegs für Laien (11.-13. Jh.) (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1980, Nr. 1), Heidelberg 1980. 16 P E T E R F E I G E , Die Anfänge des portugiesischen Königtums und seiner Landeskirche, in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 1 Nr. 29), Münster 1978, S. 85-436. 17 S T E F A N W E I S S , Die Urkunden der päpstlichen Legaten von Leo IX. bis Coelestin III. (1049-1198) (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 13), Köln u. a. 1995; weitere Untersuchungen zu einzelnen Pontifikaten werden am jeweiligen Ort zitiert. 18 Zur Orientierung vgl. auch die in den vorigen Anm. genannten Studien, zusammenfas- <?page no="241"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 241 4. Schließlich resümierend: Welche Mittel und Funktionsweisen bestimmten das Wechselverhältnis von Papsttum und Iberischer Halbinsel, und welche Entwicklungslinien werden während des 12. Jahrhunderts deutlich? II. Ausgangslage und Quellen Welche Situation herrschte zu Ende des 11. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel? Nach einer Zeit weitgehender Isolation, die durch die muslimischen Eroberungen seit 711 mitbedingt war, vermehrten sich in den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts die Kontakte zu den Päpsten. Schon früher hatte das am stärksten zum übrigen Europa orientierte Katalonien sich vereinzelt nach Rom gewandt, ab der Zeit Alexanders II. wurde dann päpstlicher Einfluß in Aragón und Navarra deutlicher 19 , intensivierte sich im Zusammenhang mit der Restituierung der Metropole [28/ 29] Tarragona 1089 20 , bis die Beziehungen auch mit Kastilien-León zunahmen 21 , besonders nachdem Toledo 1085 erobert send V O N E S , Geschichte (wie Anm. 8) mit reichen Literaturangaben auf S. 304-316. 19 Erinnert sei an die Gesuche um päpstlichen Schutz, vgl. vor allem F R I E D , Schutz für Laienfürsten (wie Anm. 15), zum 11. Jahrhundert S. 56-103 und zu Aragón im 12.-13. Jahrhundert den dort gebotenen Längsschnitt, bes. S. 184-205. Vgl. weiterhin den vieldiskutierten, in der Collectio Britannica überlieferten Brief Alexanders II. bezüglich der Eroberung von Barbastro: JL 4530; zu den Fragmenten Alexanders in dieser Sammlung vgl. T I L M A N N S C H M I D T , Alexander II. (1062-1073) und die römische Reformgruppe seiner Zeit (Päpste und Papsttum 11), Stuttgart 1977, S. 224-227. Allgemein zur Collectio Britannica vgl. K L A U S H E R B E R S , Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts - Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27), Stuttgart 1996, S. 49-63; besonders zu den Briefen Urbans II. vgl. R O - B E R T S O M E R V I L L E (in collaboration with S T E P H A N K U T T N E R ), Pope Urban II., the Collectio Britannica, and the Council of Melfi (1089), Oxford 1996. Zusammenfassend vgl. jetzt A N T O N S C H A R E R , Herrschaft und Repräsentation. Studien zur Hofkultur König Alfred des Großen (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 36), München 2000, S. 13 Anm. 12. Eine genauere Untersuchung der Fragmente zu Alexander II. ist ein Desideratum. - Zur Interpretation des Zuges von Barbastro vgl. u. a. A L B E R T O F E R R E I R O , The Siege of Barbastro 1064-65: A Reassessment, in: Journal of Medieval History 9, 1983, S. 129-144, besonders S. 132-134; M A R C U S B U L L , Knightly Piety and the Lay Response to the First Crusade: The Limousin and the Gascony 970-1130, Oxford 1993, S. 73-81, die den Zug nicht als Kreuzzug werten; vgl. auch H E R - B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 190 Anm. 66 mit weiterer Literatur. 20 Vgl. hierzu B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, bes. S. 227-230, der die päpstlichen Restitutionsprivilegien für Süditalien und die spanische Reconquista in einen Zusammenhang stellt, denn beides gehöre zur Geschichtstheologie Urbans; zur päpstlichen Unterstützung und der Bedeutung Pisas bei der Restitution von Tarragona in den Jahren 1089ff. vgl. jetzt auch M I C H A E L M A T Z K E , Daibert von Pisa. Zwischen Pisa, Papst und erstem Kreuzzug (Vorträge und Forschungen, Sonderband 44), Sigmaringen 1998, S. 79-85 mit den entsprechenden Quellenbelegen. 21 Vgl. J U A N F R A N C I S C O R I V E R A R E C I O , Los Arzobispos de Toledo: Desde sus orígenes hasta fines del siglo XI (Instituto Provincial de Investigaciones y Estudios Toledanos: Publ. Ser. 2. Vestigios del pasado 4), Toledo 1973; D E R S ., La Iglesia de Toledo en el siglo XII (wie Anm. 1). Zur Umbruchssituation vgl. auch die Beiträge in den Sammelbänden: <?page no="242"?> 242 Geschichte der Iberischen Halbinsel worden war 22 . Begünstigend wirkte, daß die anhaltende sogenannte Reconquista, die Rückeroberung der von den Muslimen beherrschten Gebiete, immer wieder neue, umstrittene Herrschafts- und Rechtsräume schuf. Um diese Räume gegebenenfalls neu zu strukturieren, bot sich unter anderem päpstliche Entscheidungshilfe an. Universale Tendenzen des sogenannten Reformpapsttums stießen so häufig auf bereitwillige Akzeptanz. Die Päpste spielten bei der Öffnung Spaniens zum übrigen Europa hin während der Jahre 1070-1130 eine wichtige Rolle, allerdings - und dies macht es schwer, den exakten Anteil der päpstlichen Einwirkung zu bemessen - im Verbund mit anderen Trägern neuer Einflüsse 23 . Diese Bedeutung spiegelt sich für das ausgehende 11. und beginnende 12. Jahrhundert noch durchaus in der Historiographie, allerdings weniger in übergreifenden Werken als in einzelnen Quellen der jeweils betroffenen Bistümer oder Klöster 24 . Sie verherrlichen in der Regel ihre Helden bzw. Kirchen und kommentieren entsprechend das jeweilige Verhältnis nach Rom. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts treten diese Quellen jedoch zurück, und vor dem Hintergrund weitgehen-[29/ 30]den Schweigens besitzen die vereinzelten allgemeinen Stimmen zu Ende des 12. Jahrhunderts besonderen Aussagewert 25 . Santiago, Saint-Denis and Saint Peter (wie Anm. 9) und nun die Beiträge in: El papado, la iglesia leonesa y la basílica de Santiago a finales del siglo XI. EI traslado de la sede episcopal de Iria a Compostela en 1095, hg. von F E R N A N D O L Ó P E Z A L S I N A , Santiago de Compostela 1999. 22 Vgl. zur Eroberung von Toledo J O S É M I R A N D A C A L V O , La reconquista de Toledo por Alfonso VI, Toledo 1980 und die Kongreßakten: Estudios sobre Alfonso VI y la Reconquista de Toledo. Actas del II Congreso Internacional de Estudios Mozárabes (Toledo 20-26 Mayo 1985) 3 Bde. (Instituto de Estudios visigótico mozárabes de Toledo, Serie Historica 4-5), Toledo 1987-1989. Vgl. allgemein die in Anm. 8-12 zur politischen Geschichte angegebene Literatur. 23 Vgl. zu diesem Prozeß auch für die Beziehungen Spaniens zum übrigen Europa den Sammelband: España y el Sacro Imperio. Procesos de cambios, influencias y acciones reciprocas en la época de la „europeización“ (siglos XI-XIII), hg. von K L A U S H E R B E R S , K A R L R U D O L F und J U L I O V A L D E Ó N B A R U Q U E , [Valladolid 2002]. 24 Allgemein zu den Quellen des 12. Jahrhunderts D Í A Z Y D Í A Z , Index Scriptorum (wie Anm. 1), S. 199-252 Nr. 879-1175. Bekannt und hier einschlägig sind vor allem die folgenden historiographischen Werke: die Bistumsgeschichte von Santiago de Compostela: Historia Compostellana, ed. E M M A F A L Q U E R E Y (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 70), Turnhout 1988; die Viten Geraldi, Tellonis und Theotonii aus dem portugiesischen Raum: Portugaliae Monumenta Historica, Scriptores I, Lissabon 1856, ND 1967, S. 53-59, 62-75 und 79-88 (sowie weitere in diesem Band verzeichnete Quellen); weiterhin Vita und Mirakel Ollegars von Tarragona, vgl. hierzu die Neuaufbereitung des hagiographischen Dossiers durch M A R T I N A U R E L L , Prédication, croisade et religion civique. Vie et miracles d’Oleguer († 1137), évêque de Barcelone, in: Revue Mabillon, NS. 10, 71, 1999, S. 113-168 (mit Edition). 25 Interessant ist es vor allem, aus diesen Quellen zu erfahren, wie verschiedene noch zu charakterisierende Prozesse von den Zeitgenossen eingeschätzt wurden. Wenn ein erster Eindruck nicht täuscht, wurde das Papsttum in der übergreifenden Historiographie zum Ende des 12. Jahrhunderts nur selten zu einem zentralen Thema. Sogar der selbstbewußte Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada von Toledo scheint sich in seinem monumentalen <?page no="243"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 243 Weil das Bild der Historiographie insgesamt nicht besonders bunt ausfällt, basiert die Grundlage, um das Papsttum und die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert zu beschreiben, bis heute maßgeblich auf den verschiedenen Publikationen des Kehrschen Papsturkundenunternehmens 26 , in der Unterabteilung der Hispania Pontificia von Odilo Engels weiter betrieben 27 , von Demetrio Mansilla ergänzt 28 und im Rahmen der Regesta Imperii in Tübingen für die Iberische Halbinsel von 1181-1198 namentlich von Ulrich Schmidt nach chronologischen Gesichtspunkten bzw. Pontifikaten bearbeitet 29 . Beim Stand der Sammlungen erscheinen quantitative Überblicke, zum Beispiel über räum- Geschichtswerk zu Beginn des 13. Jahrhunderts vor allem für päpstliche Entscheidungen hinsichtlich Toledos zu interessieren, war er es doch, der diese Frage des Toledaner Vorrangs im Streit mit Braga und Compostela im Zusammenhang mit dem Laterankonzil 1215 wortgewaltig betrieb, vgl. M I C H A E L H O R N , Der Streit um die Primatswürde der Erzbischöfe von Toledo. Ein Beitrag zur Geschichte der älteren Papstregister, in: Archivum Historiae Pontificiae 29, 1991, S. 259-280, bes. S. 262f. Vgl. auch unten S. 39f. Zum historiographischen Werk Rodrigos von Toledo ist eine Erlanger Dissertation von Matthias Maser zu erwarten [M A T T H I A S M A S E R , Die Historia Arabum des Rodrigo Jiménez de Rada. Arabische Traditionen und die Identität der Hispania im 13. Jahrhundert. Studie - Übersetzung - Kommentar (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 3), Münster u. a. 2006]. 26 P A U L F R I D O L I N K E H R , Papsturkunden in Spanien. Vorarbeiten zur Hispania Pontificia, 2 Bde. (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch- Historische Klasse. Neue Folge, Bd. 18 Nr. 2; Bd. 22 Nr. 1) Berlin 1926 und 1928; C A R L E R D M A N N , Papsturkunden in Portugal (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaft in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge, Bd. 20 Nr. 3), Berlin 1927. Vgl. D E R S ., Das Papsttum und Portugal im 1. Jahrhundert der portugiesischen Geschichte (Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften 1928, Nr. 5), Berlin 1928. 27 Vgl. hierzu die jährlichen Berichte im Deutschen Archiv, die „Portugalia Pontificia“ wird inzwischen von Maria Cristina Almeida e Cunha bearbeitet. Eine Aufteilung der übrigen „Hispania Pontificia“ auf verschiedene Bearbeiter ist zu erwarten. Eine vorläufige Liste der Papsturkunden, die für die Hispania Pontificia vorgesehen sind, findet sich bei R I C H A R D F L E T C H E R , Las iglesias del reino de León y sus relaciones con Roma en la alta Edad Media, in: El Reino de León en la alta edad media 6 (Colección Fuentes y estudios de historia leonesa 53), León 1994, S. 476-478. 28 D E M E T R I O M A N S I L L A , La documentación pontificia hasta Inocencio III (965-1216) (Monumenta Hispaniae Vaticana, Registros 1), Rom 1955. 29 In Tübingen ist der von Dr. Ulrich Schmidt bearbeitete Bestand zu Spanien für die Jahre 1181-1198 abgeschlossen, kann aber nur für diesen kurzen Zeitraum Auskunft geben. Für Einsichtnahme während meiner Zeit als Regestenmitarbeiter danke ich Ulrich Schmidt herzlich. Allgemein zum Stand der Regesta Imperii vgl. die im Deutschen Archiv erscheinenden Berichte. - Mehrere neue Papsturkunden bzw. Überlieferungen mitgeteilt hat P A U L F R E E D M A N , A Privilege of Pope Alexander III for Sant Pau del Camp (Barcelona), in: Archivum Historiae Pontificiae 31, 1993, S. 255-263; D E R S ., A New Letter from the Early Pontificate of Pope Innocent III, in: Römische Historische Mitteilungen 29, 1987, S. 215-220; D E R S ., Papal Letters of the Twelfth Century from La Seu d’Urgell, in: Life, Law and Letters. Historical Studies in honour of Antonio García y García, hg. von P E T E R L I N E H A N u. a. (Studia Gratiana 28 und 29), 2 Bde., Rom 1998, hier Bd. 1, S. 265-279. Für Hinweise danke ich Dr. N. Jaspert, Erlangen. <?page no="244"?> 244 Geschichte der Iberischen Halbinsel liche Schwerpunkte päpstlicher Urkundenempfänger, noch verfrüht, dafür müssen die neuen Hilfsmittel abgewartet werden 30 . [30/ 31] Unstrittig nahmen schriftlich überlieferte päpstliche Entscheide besonders seit der Mitte des Jahrhunderts massiv zu. Zugleich könnte das weitgehende Schweigen der Historiographie hierzu andeuten, daß ein Trend zu Routine und Gleichförmigkeit eingesetzt haben könnte. Wie läßt sich dieser Prozeß fassen? III. Bistums- und Rangstreitigkeiten - Vom Kampf um Rechte zu Verwaltung und Routine Viele der überlieferten Urkunden thematisieren Zuordnungsfragen dieser oder jener Diözese zu dieser oder jener Metropole, also Rangfragen und Vorrechte. Die Kämpfe um den Toledaner Vorrang, das bekannteste Beispiel, blieben im ganzen 12. Jahrhundert virulent 31 . Kurz nach der Eroberung Toledos 1085 ver- 30 Päpstliche Privilegien für die verschiedenen Empfänger der Iberischen Halbinsel zu Beginn und am Ende des Jahrhunderts kontrastiv gegenüberzustellen, dürfte ein anschauliches und in der Tendenz wahrscheinlich klares Ergebnis zeitigen. Dies deutet schon die Sammlung der 2. Auflage von JL an. Vgl. Überlegungen zu Quantitäten von Papstprivilegien allgemein zu Ende des 12. Jahrhunderts bei K A T R I N B A A K E N / U L R I C H S C H M I D T , Chronologische und diplomatische Aspekte bei Deperdita der Papstregesten 1181-1198, in: Diplomatische und chronologische Studien aus der Arbeit an den Regesta Imperii, hg. von P A U L - J O A C H I M H E I N I G (Forschungen zur Kaiser-und Papstgeschichte des Mittelalters 8), Köln u. a. 1991, S. 83-96 (S. 83-85 zu Quantitätsberechnungen). Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, daß - graphisch dargestellt - eine ab Alexander III. (1159-1181) steil ansteigende Kurve das Ergebnis wäre, interessant wäre jedoch eine Erläuterung der regionalen Verteilung, die eine Digitalisierung der Regesten vielleicht schon bald leicht ermöglichen wird. Vgl. auch den Näherungsversuch mit weiteren Zahlen von R U D O L F H I E S T A N D , Die Leistungsfähigkeit der päpstlichen Kanzlei im 12. Jahrhundert mit einem Blick auf den lateinischen Osten, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, hg. von P E T E R H E R D E , H E R M A N N J A K O B S (Archiv für Diplomatik, Beiheft 7), Köln u. a. 1999, S. 1-26. 31 Ebenso spannend und wichtig könnte eine Untersuchung der Rolle Tarragonas ausfallen, das die Metropolitanrechte von Narbonne übernahm; vgl. oben Anm. 20 und außer den Studien von P A U L K E H R , Das Papsttum und der katalanische Prinzipat bis zur Vereinigung mit Aragón (Abhandlungen der Preußischen Akademie. Philosophisch-Historische Klasse 1926, Nr. 1), Berlin 1926, bes. S. 52-59; B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 252; L A W R E N C E M C C R A N K , Restoration and reconquest in medieval Catalonia: the Church and principality of Tarragona, 971-1177, Diss. University of Virginia 1974; D E R S ., La restauración canónica e intento de reconquista da la sede Tarraconense, in: Cuadernos de Historia de España 61-62, 1977, S. 145-245; zu dem später wichtigen Erzbischof Ollegar: A U R E L L , Prédication, croisade et religion civique (wie Anm. 24); U R S U L A V O N E S - L I E B E N S T E I N , Saint-Ruf und Spanien: Studien zur Verbreitung und zum Wirken der Regularkanoniker von Saint-Ruf in Avignon auf der Iberischen Halbinsel (11. und 12. Jahrhundert) (Bibliotheca Victorina 6,1-2), Paris u. a. 1996. Zu den Verteidigungsversuchen Narbonnes gehörte auch die Berufung auf einen eigenen Apostelschüler, Sergius Paulus, vgl. die wohl noch während des Pontifikats in Narbonne auf Papst Stephan V. gefälschte Papsturkunde JL † 3462 (M I G N E , PL 129, Sp. 818), nach der Sergius Paulus als erster <?page no="245"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 245 lieh Urban II. schon am 15. Oktober 1088 den Primat sowie die Legationsrechte auf der Iberischen Halbinsel an den neuen Erzbischof 32 . Diese Entscheidung berücksichtigte die Be-[31/ 32]deutung der alten Metropole, schuf aber Stoff für Folgekonflikte, vor allem mit Braga und mit Santiago de Compostela. War diese Privilegierung Toledos ein „geschickter Schachzug“ 33 Urbans II., wie schon Carl Erdmann vermutete? Ob bewußtes oder unbewußtes Handeln des Papstes: Letztlich förderte Urbans Privileg zweifellos verschiedene Kontakte mit Rom, denn „um die interimistische Oberhoheit des Toledaners abschütteln zu können, brauchte man das Papsttum“ 34 . a) Die eingangs zitierte Parodie führte die Rechte des Toledaners auf dessen reiche Geschenke zurück. Nur Überzeichnung? Ein Einzelfall? Die Historia Compostellana, die Bistumsgeschichte Compostelas aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, nennt sich selbst zuweilen registrum; Ludwig Vones hat sie in seiner grundlegenden Studie zutreffend als Mischform zwischen Gesta und Registrum oder als Chartularchronik bezeichnet 35 , in der die verschiedensten Quellen zur Ehre des Sitzes und des Bischofs und nachmaligen Erzbischofs Diego Gelmírez aufgezeichnet wurden. Dabei könnte der römische Liber pontificalis, dessen Aufzeichnungen unter anderem historiographische Notizen aus Archiv und Kammer zusammenstellen 36 , durchaus prägend gewesen sein 37 . Gut 80 Bischof von Narbonne die spanische Kirche Narbonne unterstellt habe, vgl. hierzu demnächst K L A U S H E R B E R S , Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918 (926/ 962), Band 4 Papstregesten 800-911, Teil 4: 882-911 ( J O H A N N F R I E D R I C H B Ö H - M E R , Regesta Imperii I). Zum Fälschungszusammenhang vgl. bereits K E H R , Das Papsttum und der katalanische Prinzipat, S. 6f. und 17 sowie I S O L D E S C H R Ö D E R , Die westfränkischen Synoden von 888 bis 987 und ihre Überlieferung (MGH Hilfsmittel 3), München 1980, S. 131-134; K L A U S H E R B E R S , Frühe Spuren des Jakobuskultes im alemannischen Raum (9.-11. Jahrhundert) - Von Nordspanien zum Bodensee, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland (Jakobus-Studien 7), Tübingen 1995, S. 3-27, hier S. 16f. mit Sichtung weiterer Notizen über angebliche Missionierungsversuche auf der Iberischen Halbinsel. 32 JL 5366; vgl. die Benachrichtigungen an König Alfons VI. (JL 5367), an Abt Hugo von Cluny (JL 5371) und den Episkopat Spaniens (JL 5370), vgl. hierzu B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 227 und 234f. und zur Intervention Hugos von Cluny K O H N L E , Abt Hugo von Cluny (wie Anm. 1), S. 120 und S. 276 mit Regesten n. *46 und 47. 33 E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 8; vgl. auch B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 232-236. 34 E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 8. Vgl. einige Belege bei H O R N , Streit um die Primatswürde der Erzbischöfe von Toledo (wie Anm. 25), S. 260f. mit Anm. 10. 35 V O N E S , Historia Compostellana (wie Anm. 8), S. 27-40; vgl. D E R S ., Historia Compostellana, in: Lexikon des Mittelalters 5, 1991, Sp. 42. 36 Vgl. zum alten Liber pontificalis K L A U S H E R B E R S , Leo IV. und das Papsttum (wie Anm. 19), S. 11-48. 37 V O N E S , Historia Compostellana (wie Anm. 8), S. 38-40 vermutet sogar, daß die Verfasser, besonders der belesene Giraldus, den alten Liber pontificalis gekannt haben könnten. Zumindest ist die Zielsetzung identisch; vgl. zum Typus der Gesta im 10. Jahrhundert auch das Werk Flodoards von Reims, hierzu M I C H E L S O T , Un historien et son église au X e siècle: Flodoard de Reims, Paris 1993; allgemein D E R S ., Gesta episcoporum, gesta abbatum (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 37), Turnhout 1981; zum hohen <?page no="246"?> 246 Geschichte der Iberischen Halbinsel Papsturkunden sind in die Historia Compostellana aufgenommen 38 , mehrfach wird über die Art ihres Erwerbs berichtet: Die Mischung von Urkundenregister und Historiographie macht sie für die gestellten Fragen besonders ertragreich. Diego Gelmírez, Bischof am Grab eines Apostels, konnte sich mit einer Toledaner Oberhoheit nicht abfinden, wollte jedoch zunächst Erzbischof werden. Als die benachbarte Metropole Braga gerade verwaist war - Mauritius von Braga hatte seine Erzdiözese verlassen und war nach Rom gegangen 39 , - fragte er bei Papst Gelasi-[32/ 33]us II. durch zwei über Frankreich nach Jerusalem ziehende Compostellaner Kanoniker an, ob Bragas Erzbistumswürde nach Compostela übertragen werden könne 40 . Gelasius bat Diego unter anderem um Unterstützung der römischen Kirche 41 . Diego verstand schnell und schickte Boten mit 120 Goldunzen zum Papst 42 . Die Quelle spricht nicht wie die Mittelalter: D I R K S C H L O C H T E R M E Y E R , Bistumschroniken des Hochmittelalters: die politische Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung, Paderborn u. a. 1998. 38 Vgl. die Zusammenstellung: Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), S. 559-562. 39 Zum Gegenpapsttum des Mauritius als Gregor VIII. vgl. C A R L E R D M A N N , Mauritius Burdinus, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 19, 1927, S. 205-261; P I E R R E D AV I D , Études historiques sur la Galice et le Portugal du VI e au XII e siècle, Coimbra 1947, S. 441-501; C A R L O S E R VA T I U S , Paschalis II. (1099-1118). Studien zu seiner Person und seiner Politik (Päpste und Papsttum 14), Stuttgart 1979, S. 128-131; besonders zur Absetzung und den Riten K L A U S S C H R E I N E R , Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Entehrende Entblößung und schandbares Reiten im Spiegel einer Miniatur der „Sächsischen Weltchronik“, in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65. Geburtstag, hg. von D I E T E R B E R G , H A N S - W E R N E R G O E T Z , Bochum 1989, S. 151- 202. Die Zeiträume von Mauritius’ Abwesenheit aus Spanien sind nicht bis ins letzte geklärt. 40 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 3, S. 225. 41 . . . , ut . . . debita caritate subuenias, JL 6645, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 3, S. 226. Zu den Geldzahlungen zur Rangerhöhung Compostelas unter anderem F E I G E , Anfänge des portugiesischen Königtums (wie Anm. 16), S. 155f.; V O - N E S , Historia Compostellana (wie Anm. 8), S. 289-395; R I C H A R D A . F L E T C H E R , Saint James’s Catapult (wie Anm.10), S. 192-222, besonders S. 205f.; K L A U S H E R B E R S , Santiago de Compostela zur Zeit von Bischof und Erzbischof Diego Gelmírez (1098/ 99-1140), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 98, 1987, S. 89-102, hier S. 97f. Unter dem Stichwort „Bestechlichkeit“ bei G E R H A R D S Ä B E K O W , Die päpstlichen Legationen nach Spanien und Portugal bis zum Ausgang des XII. Jahrhunderts, Diss. Berlin 1931, S. 74f. Aus Sicht der „Einnahmen“: K A R L J O R D A N , Zur päpstlichen Finanzgeschichte im 11. und 12. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 15, 1933-1934, S. 61-104, hier S. 83-88; M A R Y S T R O L L , The Jewish Pope: Ideology and Politics in the Papal Schism of 1130 (Brills Studies in Intellectual History 8), Leiden u. a. 1987, S. 111-120, die auch analysiert, warum dieses System nach 1124 nur noch eingeschränkt funktionierte. Vgl. zur Spätzeit Calixts II. J O H A N N E S L A U D A G E , Rom und das Papsttum im frühen 12. Jahrhundert, in: Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, hg. von K L A U S H E R B E R S , Stuttgart 2001, S. 23-53, hier S. 49-51 mit Anm. 152-166, auch unter Verwendung des Compostellaner Beispiels. 42 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 4, S. 226-228 (vgl. II 15-20, S. 251ff.). <?page no="247"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 247 Toledaner Satire von wertvollen Reliquien, sondern benutzt einen anderen schönen Ausdruck: Benediktionen. Die Gesandtschaft - obwohl die Boten als Pilger gekleidet waren - konnte das Gebiet der verfeindeten Aragonesen nicht durchqueren, erst eine noch vorsichtiger operierende zweite Botenschar mit 100 Goldunzen erreichte den Papst in Südfrankreich 43 . Aber es war zu spät, um Bragas Rechte durch einen päpstlichen Spruch zu ergattern. Der plötzliche Tod Gelasius’ II. und die Wahl Calixts II. 1119 in Cluny schufen neue Voraussetzungen 44 . Denn nun stand ein Mann an der Spitze der westlichen Kirche, der durch verwandtschaftliche und weitere Beziehungen Galicien und Compostela persönlich verbunden war 45 . Mönche aus Carrión de los Condes sollten wiederum eine neue Gesandtschaft mit unterstützen, damit sich die Compostellaner Boten besser heimlich durch das verfeindete Aragón hindurchschlagen konnten. Eine goldene Truhe, 211 Poiteviner Schillinge, sechzig Mailänder Münzen und 20 Tolosaner Schillinge gehörten unter anderem zu den Gaben, die auf abenteuerliche Weise nach Südfrankreich gelangten; angeblich hatte aber inzwischen auch König Alfons einen unter Zwang verfaßten Brief zugunsten Toledos an den Papst gerichtet, der diesen vier Tage zu unzähligen [33/ 34] Tränen veranlaßt habe 46 . Papst Calixt II., der auf einem Konzil in Toulouse keine Entscheidung in der Angelegenheit traf, erklärte den Compostellanern, ihr Bischof müsse persönlich zu einem weiteren Konzil in Reims kommen, nur dort könne über eine mögliche Rangerhöhung des Sitzes entschieden werden. Daraufhin überreichte man dem Papst nur 20 Unzen und gab die übrigen Schätze Abt Pontius zur Aufbewahrung - in eine Art „Zwischendepot“ 47 . Damit war die spannende Geschichte noch nicht beendet. Diego schickte schließlich stellvertretend Hugo von Porto, einen früheren Compostellaner Kanoniker, zum Konzil, der den Papst in Cluny traf und ihm die „zweitbeste“ Lösung vorschlug. Calixt solle die Erzbischofswürde des noch nicht von den Muslimen eroberten Mérida auf Compostela übertragen 48 . Die Stimmung erschien zunächst ungünstig. Die Aussöhnung des Papstes mit Pontius von Cluny sowie die Bitten zahlreicher Personen, darunter vieler Kardinäle, sollen den Papst schließlich dazu bewegt haben, Compostela die Metropolitanrechte 43 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 6, S. 229-232. 44 Zu dessen Pontifikat vgl. nun die umfassende Studie von B E A T E S C H I L L I N G , Guido von Vienne - Papst Calixt II. (MGH Schriften 45), Hannover 1998. Außerdem hatte Gelasius II. schon zuvor die Neubesetzung Bragas angeordnet: JL 6639, ed. M A N S I L L A , Documentación (wie Anm. 28), S. 72, Nr. 53. 45 Dies hebt auch die Historia Compostellana hervor, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 9, S. 237, vgl. zusammenfassend S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44), S. 450. 46 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 10, S. 238-240, S. 238 die Auflistung der Gaben, die mit den Ortsbezeichnungen auch auf die vielleicht durch den Pilgerverkehr geförderte »Internationalität« Compostelas verweisen. 47 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 11, S. 241: uiginti uncias auri attribuimus, archam uero auream cum predictis morabitinis et cetera Cluniacensi abbati ad reseruandum commendauimus. 48 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 12, S. 243f. <?page no="248"?> 248 Geschichte der Iberischen Halbinsel Méridas bis zur Rückeroberung sowie die päpstliche Legation für die Metropolitangebiete von Braga und Mérida anzubieten 49 . Neue Boten kamen aus Compostela, um weiteres Geld zu bringen. Weihegaben wurden eingeschmolzen und der Betrag von 260 Silbermark und andere Geschenke verschiedenen Pilgern mitgegeben. In Montpellier nahmen Cluniazenser alles in Empfang 50 . Der Papst stellte am 26. Februar 1120 das begehrte Privileg aus 51 . Das Geld hatte aber nicht gelangt, Hugo hatte noch 20 Unzen zuzahlen müssen, weil der goldene Kasten angeblich nur außen vergoldet und 50 Unzen falsch gewesen sein sollen. Kein Problem für den neuen Erzbischof: Gerne erstattete er dies und gewährte einen Betrag für weitere Mühen des Gesandten und Überbringers, den er außerdem reich beschenkte; für ein solches Privileg sollte man sich doch nicht lumpen lassen 52 ! [34/ 35] Urkunden wie diese gingen notgedrungen auf Kosten von anderen: Braga, die Metropole in dem sich formierenden Portugal, erwirkte 1121 ein Privileg, das aus der Obödienz des Compostellaners befreite 53 . Hatte Braga vielleicht mehr als Compostela geboten 54 ? Diego mußte sich anstrengen, wollte er nicht in der Folge ins Hintertreffen geraten. Deshalb sandte er weitere Geschenke 55 , um die verliehenen Rechte in perpetuum zu erlangen. 1124 schickte er mit Bittbriefen 400 aureos 56 . Calixt II. händigte nun eine zunächst unbesiegelte Urkunde aus, die in Compostela überprüft und gegebenenfalls ergänzt werden sollte. Die Überlieferung gestattet es, die Rohfassung dieses Privilegs mit der Endfassung zu vergleichen. Tatsächlich wurde der Text in Compostela noch in einigen Punkten verändert oder präzisiert. Gewährte die Kurie diese Mög- 49 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 14-15, S. 246-251. 50 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 16, S. 251-254. Die Verteilung auf Jerusalempilger/ Kreuzfahrer verweist am Rande darauf, daß trotz päpstlicher Verbote solche Fahrten stattfanden. Vgl. auch hierzu N I K O L A S J A S P E R T , „Pro nobis qui pro vobis oramus, orate“. Die Kathedralkapitel von Compostela und Jerusalem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Santiago, Roma, Jerusalem, Actas del III Congreso International de Estudios Jacobeos, hg. von P A O L O C A U C C I V O N S A U C K E N , Santiago de Compostela 1999, S. 187-212, bes. S. 187-194 mit weiteren Belegen und Beobachtungen. Der in der Historia Compostellana versprochene Erlaß von Bußstrafen an Geldüberbringer ist aufschlußreich: pro Unze übertragenen Goldes ein Jahr Lösung von der Pönitenz: Illi autem consilio et admonitione ipsius episcopi sub specie penitentie illi X auri uncias, alii VIII . . . et sic de ceteris sub fide distribuerunt. Quot cuique uncias auri ad ferendum conmendauerunt, a tot eum penitentie annis soluerunt (S. 253). 51 JL 6823, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 17, S. 254f.; das Ausstellungsdatum verweist laut S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44), S. 454 auf zähe Verhandlungen von sieben bis acht Wochen. Vgl. die begleitenden Urkunden JL 6827, JL 6824 und JL 6825. 52 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 20, S. 261f. 53 Vgl. JL 6911, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 43, S. 294; E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 22, auch zum weiteren Umfeld. 54 Der Brief des Deusdedit spricht von sieben „aurei“ ad sedandam curiam, quam nimis iratam inuenerat, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 44, S. 295. 55 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 57, S. 333f. 56 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 63, S. 347. <?page no="249"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 249 lichkeiten, um bei der Rückkehr für die korrigierte Fassung nochmals Geld zu erhalten? Oder entsprach dies einem auch im 12. Jahrhundert noch deutlicher als bisher angenommenen Einfluß der Empfänger auf die Ausstellung päpstlicher Privilegien 57 ? Jedenfalls erhielt Compostela nach der Übermittlung von weiteren Geldzahlungen 58 am 23. Juni 1124 ein Privileg, das die Metropolitanwürde in perpetuum verlieh, mit Unterstellung der Suffragane Coimbra, Salamanca und Ávila 59 . Die Legatenwürde für ganz Spanien, ein weiteres Ziel, blieb Diego versagt, obwohl er 1126 Papst Honorius II. 300 Morabitiner bringen ließ 60 . Geschenke, Zahlungen und Privilegien werden in dieser für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts einzigartigen Quelle als völlig normale Formen des wechselseitigen Zusammenwirkens charakterisiert. Heißt dies im Blick auf die eingangs zitierte Toledaner Parodie, daß man in Compostela eher verstanden und akzeptiert hatte, worauf es ankam? Hilfreich für ein solches „besseres“ Verstehen war vielleicht auch, daß die Compostellaner Kirche durch Pilger- und andere Weihegaben zu den reichsten der Iberischen Halbinsel gehörte 61 . Die hier nur unter einem Aspekt skizzierten Austauschbeziehungen waren selbstredend jedoch von weiteren Handlungen begleitet: Bitten, Argumentation, Interventionen, Akte symbolischer Kommunikation gehörten hierzu; auch die verwandtschaftlichen Beziehungen Compostellaner Kreise zu Calixt II. spielten gewiß eine Rolle. [35/ 36] Vielleicht machte ein Papst des 12. Jahrhunderts für Geld vieles, aber sicher nicht alles. Da die verliehenen päpstlichen Privilegien - nicht nur diejenigen Compostelas - oft andere Sitze und deren Rechte oder Ansprüche berührten, mußte häufig ein wie auch immer gestalteter Ausgleich gefunden werden 62 . 57 Vgl. zur Bedeutung dieses Stückes und zum möglichen Empfängereinfluß sowie zur Arbeitsweise der päpstlichen Kanzlei generell V O N E S , Historia Compostellana (wie Anm. 8), S. 452-456; H E R B E R S , Santiago de Compostela zur Zeit (wie Anm. 41), S. 98f. und S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44), S. 460f. mit Anm. 375. - H A N S - H E N N I N G K O R - T Ü M , Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896-1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17), Sigmaringen 1995, beschränkt sich im wesentlichen auf das 10. und beginnende 11. Jahrhundert. 58 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 64, S. 353f. mit Details zu den Überbringern (Pilger), Verlusten und der Aushändigung an verschiedene Personen in Rom. 59 JL 7160, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 64, S. 355f. 60 Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), III 10, S. 434f. Auch Innozenz II. wurde z. B. noch mit Geschenken bedacht (III 25, S. 461). 61 Vgl. H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), bes. S. 217. Die in der Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 16, S. 252 genannten Gaben verweisen explizit auch auf von Muslimen erbeutete Reichtümer. 62 Zu den „außenpolitisch“-diplomatischen Problemen dieser Ausgleichsmöglichkeiten vgl. den Beitrag von C L A U D I A Z E Y in diesem Band (S. 243-262) [C L A U D I A Z E Y , Zum päpstlichen Legatenwesen im 12. Jahrhundert: Der Einfluß von eigener Legationspraxis auf die Legatenpolitik der Päpste am Beispiel Paschalis’ II., Lucius’ II. und Hadrians IV, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , <?page no="250"?> 250 Geschichte der Iberischen Halbinsel Gesuche stießen deshalb immer wieder an Grenzen, Fürsprecher mußten gewonnen, Rangfragen und Übergabeformen beachtet werden. Könnte zudem die Bedeutung von materiellen Zuwendungen während des Pontifikates Calixts II. eine besondere Intensität erlangt haben, die danach wieder zurücktrat 63 ? Außerdem blieb unter Calixt II. päpstliches Handeln vor allem auf Kastilien-León ausgerichtet. Führte dies dazu, daß das zinspflichtige Reich Aragón der Kurie entfremdet wurde, weil Alfons I., el Batallador, in diesem Zusammenhang eher als Störfaktor empfunden wurde 64 ? Zwar übertrafen materiell gesehen die Compostellaner »Benediktionen« den aragonesischen Lehnszins kurzzeitig, jedoch war eine solche Ausrichtung langfristig vielleicht wenig tragfähig. b) Päpstliche Legitimation ließ sich zu Beginn des 12. Jahrhunderts nicht nur more Compostellano erreichen. Toledo, Compostela und Braga konkurrierten unter anderem mit Geldzahlungen, aber auch mit Rechtstiteln. Was war mit Orten, die weniger zahlen konnten, keine Personen und Möglichkeiten gefunden hatten, um diese Wohltaten an die richtige Stelle gelangen zu lassen, vielleicht nur über schwach fundierte Rechtstitel verfügten? Auch sie setzten seit Beginn des 12. Jahrhunderts zunehmend auf päpstliche Legitimation. Nachdem eine Urkunde Urbans II. den asturischen Bischofssitz Oviedo der Toledaner Kirchenprovinz zugesprochen hatte 65 , eximierte Paschalis II. den Sitz mit einer Urkunde vom 30. September 1105 66 . Waren für diesen Ort höhere Würden nicht möglich? Oviedo, nach eigenem Verständnis Keimzelle des leonesischen Reiches, Hort westgotischer Traditionen, sollte nach Ansicht maßgebender Kreise zu Beginn des 12. Jahrhunderts Metropole werden. Am ehesten war an die große Zeit Oviedos im 9. Jahrhundert anzuknüpfen. Also verfälschte Bischof Pelayo von Oviedo (1101-1129) Konzilstexte 67 , um den Metropolitanstatus zu legitimieren. Die einschlägigen Schriften verzeichneten eine Gesandtschaft nach Rom, weiterhin ein Konzil mit päpstlicher Legitimation sowie päpstliche Briefe und Privilegien; dabei bleibt hier zunächst unerheblich, inwieweit diesen Texten ein echter Kern zugrundeliegen könnte. [36/ 37] Die auf einen Papst Johannes gefälschten Urkunden im sogenannten „Liber testamentorum“ 68 betreffen auch die Metropolitanrechte Oviedos, eine I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6) Stuttgart 2002, S. 243-262]. 63 Vgl. zur Bedeutung des Pontifikates Calixts S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44) und L A U D A G E , Rom und das Papsttum (wie Anm. 41); zum Einschnitt und der Rolle des Kanzlers Haimerich vgl. S T R O L L , The Jewish Pope (wie Anm. 41), S. 111-120. Die Kritik an der „Bestechlichkeit“ der Kardinäle hielt aber an, wenn auch mehr aus dem Reich und England vorgetragen, vgl. unten Anm. 204. 64 Vgl. zuletzt mit weiterer Literatur S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44), S. 461. 65 JL 5801, ed. M A N S I L L A , Documentación (wie Anm. 28), S. 147 Nr. 4 und 48 Nr. 6. 66 JL 6039, vgl. D E M E T R I O M A N S I L L A , La supuesta metrópoli de Oviedo, in: Hispania Sacra 8, 1955, S. 264-274; E N G E L S , Papsttum, Reconquista und spanisches Landeskonzil (wie Anm. 7), S. 280; S E R VA T I U S , Paschalis (wie Anm. 39), S. 125. 67 Vgl. hierzu E N G E L S , Papsttum, Reconquista und spanisches Landeskonzil (wie Anm. 7), S. 276-287. 68 JE 3035 und JE 3036, vgl. hierzu demnächst K L A U S H E R B E R S / D O R O T H E E A R - <?page no="251"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 251 ist mit Rota abgebildet, und zeigt die Devise Verba Domini celi firmati sunt 69 (siehe Farbtafel I [vgl. Originalbeitrag]). Die Rota ist für das 9. Jahrhunderts anachronistisch, die Devise entspricht aber den Worten, die Papst Paschalis II. in seiner Rota verwandte 70 ; Pelayo benutzte wohl das Exemtionsprivileg oder eine andere Urkunde von Paschalis II. für sein Machwerk. Pelayo konnte mit seiner Aktion keine Verleihung von Metropolitanrechten durchsetzen: Bei den ungünstigen Konstellationen hätte er wohl nur mit einem zeitgenössischen Papstprivileg konkurrieren können. Das Beispiel Oviedo deutet aber an, wie besonders in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zunehmend auf päpstliche Autorität gesetzt wurde, auch in anderen fiktionalen oder gefälschten Texten 71 . In diesen Zusammenhang gehören nicht nur die Nachahmung römischer Urkundenformen, sondern auch weitere Aspekte der Romimitation: Die Übernahme der römischen Liturgie und römischer Rechtsformen, aber auch die Kardinäle in Compostela charakterisieren diesen Prozeß 72 . N O L D , Papstregesten 872-882. Zum „Liber Testamentorum“ vgl. F R A N C I S C O J AV I E R F E R N Á N D E Z C O N D E , El libro de los testamentos de la Catedral de Oviedo, Rom 1971; D E R S ., Los obispos ovetenses y la consolidación del feudalismo en la Asturias medieval, in: El papado, la iglesia leonesa (wie Anm. 21), S. 129-156, bes. S. 148-156 mit neuerer, auch kodikologischer Literatur zum „Liber Testamentorum“ (S. 156). - JE 3036 hat möglicherweise einen echten Kern bezüglich des Weihebefehles für die Compostellaner Kirche und wurde deshalb von C L A U D I O S Á N C H E Z A L B O R N O Z von Johannes VIII. auf Johannes IX. umdatiert. Vgl. zur Problematik die Vorbemerkungen in der Edition von H A R A L D Z I M M E R M A N N , Papsturkunden 896-1046, Bd. 1 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 174), Wien 1984, S. 1- 15 Nr. † 6. Die Sachlage erfordert meines Erachtens eine erneute Untersuchung, gerade hier könnten „echte“ und „falsche“ Traditionen um Johannes VIII. und Johannes IX. zu neuen Texten in unterschiedlicher Überlieferungsform verschmolzen worden sein. 69 JE 3035, ed. S A N T O S A . G A R C Í A L A R R A G U E T A , Colección de documentos de la catedral de Oviedo (803-1200), Oviedo 1962, S. 40f. Nr. 9. 70 Zum Aufkommen der Rota zu Zeiten Leos IX. vgl. J O A C H I M D A H L H A U S , Aufkommen und Bedeutung der Rota in den Urkunden des Papstes Leo IX., in: Archivum Historiae Pontificiae 27, 1989 S. 7-84 und vertiefend D E R S ., Aufkommen und Bedeutung der Rota in der Papsturkunde, in: Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden, hg. von P E - T E R R Ü C K E R T (Historische Hilfswissenschaften 3), Sigmaringen 1996, S. 407-423. Zur Übernahme und Weiterführung in spanischen Urkunden vgl. L U I S A P A R D O R O D R Í - G U E Z , La Rueda hispana. Validación y simbología, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen (wie Anm. 30), S. 241-258. 71 Der für den Compostellaner Jakobuskult wichtige Liber Sancti Jacobi geht sogar so weit, den unter Calixt II. und besonders Innozenz II. wichtigen Kanzler Haimerich für einzelne seiner Kapitel um Legitimation zu bemühen, vgl. Liber Sancti Jacobi, ed. K L A U S H E R - B E R S , M A N U E L S A N T O S N O I A , Santiago de Compostela 1998, S. 251. Zur evozierten päpstlichen Autorität in diesem Sammelwerk vgl. H E R B E R S , Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 59-70. 72 Vgl. hierzu stellvertretend für die reiche Literatur die verschiedenen Beiträge in dem Sammelband: Santiago, Saint-Denis and Saint Peter, hg. von R E I L L Y (wie Anm. 9); zum Compostellaner Kardinalat vgl. H E R B E R S , Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 93-95; zur verstärkten Rezeption römischer Rechtsformen unten S. 55. <?page no="252"?> 252 Geschichte der Iberischen Halbinsel c) Diskussion um Primats- und Metropolitanrechte, um Suffragane und ähnliche Fragen beschäftigten und betrafen nicht nur 73 , aber vor allem, die Sitze Toledo, Braga und Compostela noch das ganze 12. Jahrhundert hindurch 74 . Dabei war die [37/ 38] Stellung Bragas politisch brisant, förderte doch eine unabhängige Metropole Braga eine portugiesische Landeskirche und zugleich die Identität des neuen portugiesischen Reiches 75 . Ich rücke nicht die einzelnen Stationen, sondern nur den Abschluß dieses Ringens von Toledo, Braga und Compostela in den Blick 76 . Erst auf dem Vierten Laterankonzil von 1215 bzw. kurz danach kam es zu einer Entscheidung. Der Toledaner Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada begann auf dem Konzil mit einer flammenden Rede; einige der anschließenden Wortduelle sind überliefert 77 . Dabei wurden die verschiedensten Argumente in die Debatte eingebracht. So war ja einer der Erzbischöfe Bragas, Mauritius mit dem Beinamen Burdinus, 1118-1121 als Gegenpapst Gregor VIII. 78 unrühmlich in Rom abgesetzt worden 79 : Mauritius, den der Toledaner Erzbischof genährt hatte, der dann später Erzbischof in Braga wurde, war ein unrechtmäßiger Papst 80 ! 73 Vgl. zu Tarragona oben Anm. 20. 74 D E M E T R I O M A N S I L L A , Disputas diocesanas entre Toledo, Braga y Compostela en los siglos XII al XV, in: Anthologica Annua 3, 1955, S. 89-143. 75 Hier rang Alfons Henríquez lange um die Anerkennung der königlichen Titulatur, welche die Päpste in ihren Schreiben lange Zeit sorgsam vermieden, vgl. hierzu grundlegend F E I G E , Anfänge des portugiesischen Königtums (wie Anm. 16), S. 244-312. 76 Zum Kampf um die Durchsetzung des toledanischen Primates mit Hilfe verschiedener Fälschungen vgl. F E I G E , Anfänge des portugiesischen Königtums (wie Anm. 16), S. 345- 369; P E T E R L I N E H A N , The Toledo Forgeries c. 1150 - c. 1300, in: Fälschungen im Mittelalter (Schriften der MGH 33), Hannover 1988, Bd. 1, S. 643-674 und P E T E R F E I G E , Zum Primat der Erzbischöfe von Toledo über Spanien. Das Argument seines westgotischen Ursprungs im Toledaner Primatsbuch von 1253, in: ebenda, S. 675-714. Demnach waren die Gegner Toledos vornehmlich Braga, Santiago, Tarragona und Narbonne, wie die Schrift im Zusammenhang mit dem Vierten Laterankonzil (vgl. die nächste Anm.) erkennen läßt. 77 Zur Überlieferung und zu den Drucken dieser „pars concilii Lateranii“ (Mittelstück des Toledaner Primatsbuches von 1253) vgl. F E I G E , Anfänge des portugiesischen Königtums (wie Anm. 16), S. 347f. Anm. 14 (mit weiterer Literatur); die bei G I O VA N N I D E M E T R I O M A N S I , Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Nachdruck der Ausgabe Paris 1903, Graz 1961, Bd. 22, Sp. 1071-1075 abgedruckte Fassung entstammt einer veränderten Abschrift von 1590; bester Paralleldruck beider Fassungen bei F I D E L F I T A , Santiago de Galicia. Nuevas impugnaciones y nueva defensa, in: Razón y Fe 1, tomo 2, 1902, S. 178- 195 (= 5. Teil des Fortsetzungsaufsatzes), S. 182-195. - Zur Sache H O R N , Streit um die Primatswürde der Erzbischöfe von Toledo (wie Anm. 25), S. 263ff.; allgemein auch: R AY - M O N D E F O R E V I L L E , Lateran I-IV (Geschichte der ökumenischen Konzilien 6), Mainz 1970, S. 312-315. - Aus biographischer Perspektive vgl. J. G O R O S T E R R A T Z U , Don Rodrigo Jiménez de Rada. Gran estadista, escritor y prelado, Pamplona 1925, S. 160-184. 78 Vgl. oben Anm. 39. 79 Er wurde von seinen Gegnern auf einem Esel gedemütigt durch die Straßen Roms getrieben, vgl. S C H R E I N E R , Gregor VIII., nackt auf einem Esel (wie Anm. 39). Zum Spottnamen Burdinus vgl. E R D M A N N , Mauritius Burdinus (wie Anm. 39), S. 235-238. 80 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, die etwas verworren dargestellt werden, vgl. die Edition von F I T A , Santiago de Galicia (wie Anm. 77), S. 188. <?page no="253"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 253 Wenn jemand an diesem Skandal zweifele, so der Toledaner, dann schaue er doch auf die Wände des Laterans, um dies selbst zu sehen. Damit hatte Rodrigo glänzend den Ort des Geschehens einbezogen! Wir können uns diese Bilder vorstellen, auf die alle fasziniert starrten, wenn wir uns ein Toledaner Manuskript vergegenwärtigen, wo Mauritius in einem Käfig gefangen sitzt 81 . [38/ 39] Dies war glänzend inszeniert und unterstreicht, wie symbolische Kommunikation mögliche vorherige Absprachen und Performativität auch Auseinandersetzungen im kirchlichen Bereich bestimmten. Mehr das gesprochene Wort als die später aufgezeichneten Rechtssetzungen bestimmten das Geschehen, symbolisierten so auch die Machtverhältnisse 82 . Es ging um eine Aktualisierung von kirchenrechtlicher Tradition: Sie wurde mündlich evoziert und so auch neu konstruiert 83 . 81 Si quis astancium dubitat erigat oculos ad presentes loci parietes, et ad occulum videbit huiusmodi istoriam picturatam. Erigentes autem occulos ut indicit omnia decernentes domini Toletani subtilitatem et periciem collaudantes murmurare ceperunt inspicientes erubescentem faciem Archiepiscopi Bracharensis, ed. F I T A , Santiago de Galicia (wie Anm. 77), S. 190. Zu dieser Abbildung vgl. auch die Erläuterungen von G E R H A R T B . L A D N E R , Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters (Monumenti di antichità cristiana 2,4), Bd. 1, Città del Vaticano 1941, S. 199f., mit Nachträgen in Bd. 3, 1984, S. 255f. - Zu den künstlerischen Darstellungen vgl. I N G O H E R K L O T Z , Die Beratungsräume Calixtus’ II. im Lateranpalast und ihre Fresken. Kunst und Propaganda am Ende des Investiturstreits, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 52, 1989, S. 145-214, bes. S. 145-154; D E R S ., Gli eredi di Costantino: il papato, il Laterano e la propaganda visiva nel XII secolo, Rom 2000 (war mir noch nicht zugänglich); S C H I L L I N G , Guido (wie Anm. 44), S. 590f. mit weiterer Literatur zu den Nachzeichnungen dort in Anm. 5. Vgl. auch den Beitrag von H E R K L O T Z in diesem Band (S. 276ff.) [I N G O H E R K L O T Z , Bildpropaganda und monumentale Selbstdarstellung des Papsttums, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6) Stuttgart 2002, S. 273-292]. Allgemein zur Sache U R S U L A N I L G E N , Bilder im Widerstreit zwischen Regnum und Sacerdotium, in: Streit um Bilder: von Byzanz bis Duchamp, hg. von K A R L M Ö S E N E D E R , Berlin 1997, S. 28-47. 82 Diese Aspekte harren einer zusammenfassenden Aufarbeitung. Fragen von symbolischer Kommunikation und Performativität nimmt der Münsteraner Sonderforschungsbereich verstärkt in den Blick; vgl. die Vorstellung des Projekts durch G E R D A L T - H O F F / L U D W I G S I E P , Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsteraner Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 393-412. Kirchliche Entscheidungen und Konzilien sind sicher ein noch weiter zu erschließendes Gebiet, wie durch Absprachen, Untersuchung, Ritual und Vermittlung die Entscheidungen vorbereitet und dann auch inszeniert wurden. Vgl. zur Bedeutung von rituellen Handlungen und Oralität auf Konzilien der Reformzeit: J O H A N N E S L A U D A G E , Ritual und Recht auf päpstlichen Reformkonzilien (1049-1123), in: Annuarium Historiae Conciliorum 29, 1997, S. 287-334, dessen Ergebnisse über die Bedeutung oral bestimmter Denkformen auch auf Konzilien durchaus bis 1215 weitgehend zutreffen dürften. Wichtige Ergebnisse über die politische Bedeutung der gelehrten Rede sind von der noch ungedruckten Kölner Habilitationsschrift von J O H A N N E S H E L M R A T H , Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/ 55. Studien zu Reichstag und Rhetorik (1994) zu erwarten. 83 Vgl. zur Konstruktion der Vergangenheit im Zusammenhang mit Überlegungen zum so- <?page no="254"?> 254 Geschichte der Iberischen Halbinsel Ein weiterer Aspekt ist ebenso wichtig. Beide Parteien erwähnten in ihren Reden auch die Vielzahl früherer Entscheidungen durch Päpste und Legaten 84 . Die Vertreter Toledos und Bragas sammelten zudem in der Folge weitere Materialien, um ihre jeweiligen Rechtspositionen zu untermauern. Diese Textsammlungen sind größtenteils erhalten und zeigen, wie zuletzt Michael Horn verdeutlicht hat 85 , daß beide Parteien in Rom die päpstlichen Registerüberlieferungen zumindest der Pontifkate zwischen Urban II. und Alexander III. benutzt haben, um ihre Prozeßmaterialien zusammenzustellen 86 . Es geht weniger um das Was, sondern eher um das [39/ 40] Wie, das durchaus dem skizzierten Privilegienerwerb der verschiedenen beteiligten Sitze Toledo, Braga und Compostela zu Beginn des Jahrhunderts gegenübergestellt werden kann. Mit der Sammlung einschlägiger Rechtstitel, mit einem anschließenden, geordneten Verfahren in Rom werden Tendenzen deutlich, die offensichtlich im Laufe des 12. Jahrhunderts in den iberischen Reichen für Kontrahenten zunehmend üblich wurden, ja auch zu einem kritischen Vergleich des vorhandenen Materials führten 87 . Dem entsprachen auf der päpstlichen Seite zunehmend abwägende Papstbriefe, weil die inzwischen stärker verfestigten Positionen nun sorgfältiger austariert werden mußten. Ein Meisterstück dieser diplomatischen Versuche ist der Brief Eugens III. vom 27. April 1148 an Alfons VII. von Kastilien-León. Der Papst beruhigte den König hinsichtlich des Konkurrenten Alfons I. von Portugal sowie des damit zusammenhängenden Streites zwischen Toledo und Braga und übersandte ihm dann als Zeichen die Goldene Rose, die er selbst am Sonntag Laetare als Zeichen von Passion und Auferstehung zu tragen pflegte, damit auch Alfons VII. zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen möge 88 . zialen und kulturellen Gedächtnis J A N A S S M A N N , Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung, politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, der Thesen von Maurice Halbwachs fortführt, und die Beiträge im Sammelband Imagination, Ritual, Memory, Historiography: Concepts of the Past, hg. von P A T R I C K J . G E A R Y , J O H A N N E S F R I E D , G E R D A L T H O F F , E C K H A R D T F U C H S (Publications of the German Historical Institute) [Cambridge 2001]. 84 F I T A , Santiago de Galicia (wie Anm. 77), S. 186f. 85 H O R N , Streit um die Primatswürde (wie Anm. 25), besonders S. 267-276. 86 Dazu gehören auch im weiteren Sinne die später in Toledo angelegten sogenannten „Primatsbücher“. Vgl. außerdem zu den Versuchen, die päpstlichen Register des 12. Jahrhunderts zu rekonstruieren, die in Anm. 77 genannte Literatur sowie diverse Abhandlungen von U T A - R E N A T E B L U M E N T H A L , Bemerkungen zum Register Papst Paschalis’ II., in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66, 1986, S. 1-19; D I E S ., Cardinal Albinus of Albano and the „Digesta Pauperis scolaris Albini“. Ms. Ottob. Lat. 3057, in: Archivum Historiae Pontificiae 20, 1982, S. 7-49; D I E S ., Papal Registers in the Twelfth Century, in: Proceedings of the Seventh International Congress of Medieval Canon Law, hg. von P E T E R L I N E H A N (Monumenta Iuris Canonici C. Subsidia 8), Città del Vaticano 1988, S. 135-151 87 H O R N , Streit um die Primatswürde (wie Anm. 25), S. 275. 88 JL 9255, ed. M A N S I L L A , Documentación (wie Anm. 28), S. 94 Nr. 78. Ausführliche Paraphrase und Analyse bei F E I G E , Anfänge des portugiesischen Königtums (wie Anm. 16), S. 286-288; vgl. M I C H A E L H O R N , Studien zur Geschichte Papst Eugens III. (1145- . <?page no="255"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 255 Die angedeutete Tendenz zu Verrechtlichung und Routine im Laufe des 12. Jahrhunderts heißt jedoch nicht, daß Rechtstitel vorher völlig unwichtig waren, Geld in Rom später keine Rolle mehr spielte, oder daß die Suche nach helfenden Personen überflüssig wurde, sondern dies bedeutet nur, daß römische und kanonische Normen und Formen an Gewicht gewonnen hatten. Eine solche Entwicklung war zeittypisch, wird aber auf der Iberischen Halbinsel - vergleicht man damit die 20er Jahre des 12. Jahrhunderts - wie in einem Zeitraffer erkennbar, ohne daß eine stringente Entwicklungslogik vorausgesetzt werden kann 89 . IV. Amatores ordinum? Zisterzienser, Regularkanoniker und Ritterorden Wenn Bitten und päpstliche Entscheide vielfach im Wechselspiel funktionierten, das zwar bei mehreren Streitparteien guter Kenntnisse von Recht, von früheren Entscheidungen und vielleicht einer gewissen politisch-diplomatischen oder finanziellen Einflußnahme bedurfte, läßt sich dann überhaupt von einer päpstlichen Privilegienpolitik sprechen? Zumindest erscheint der päpstliche Spielraum auf den ersten Blick enger als oft vorausgesetzt. Ob die Päpste zum Beispiel aus einem übergeord-[40/ 41]neten Interesse heraus eher Bischöfe oder Klöster förderten, kann für die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert kaum schlüssig beantwortet werden 90 . Möglicherweise gilt für das 12. Jahrhundert als Tendenz, daß die Bischöfe stärker als früher in das Kalkül der Päpste einbezogen wurden, zumal mehrere Schismen dieser Zeit konkurrierende Päpste zwangen, um Obödienzen zu kämpfen 91 . 1153) (Europäische Hochschulschriften III, 508), Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 161ff. und L I N E H A N , History and the Historians (wie Anm. 12), S. 270. Vgl. zur Symbolik der Rose E L I S A B E T H C O R N I D E S , Rose und Schwert im päpstlichen Zeremoniell. Von den Anfängen bis zum Pontifikat Gregors XIII. (Wiener Dissertationen aus dem Gebiet der Geschichte 9), Wien 1967, S. 73, die den Brief in den Zusammenhang von Eugens Kreuzzugsplänen einordnet. 89 Somit ist klar, daß auch schon vorher päpstliche Schreiben diplomatisch ausgewogen abgesandt wurden, vgl. zu den Zielen der Spanienpolitik Urbans II. B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 227-254, aber die Interessenlage wurde zunehmend komplizierter. Zur weiterhin wichtigen Rolle von Zahlungen auch in späterer Zeit (so am Ende des 12. Jahrhunderts) vgl. M A L E C Z E K , Kardinalskolleg (wie Anm. 5), S. 260-263. 90 Bischofsbesetzungen scheinen oft stärker lokal bestimmt, vgl. zu Kastilien-León R I - C H A R D A . F L E T C H E R , The Episcopate in the Kingdom of León (wie Anm. 10). Auch die Herkunft der jeweiligen Päpste ist zu berücksichtigen. 91 Vgl. allgemein S C H I M M E L P F E N N I G , Papsttum (wie Anm. 13), S. 185. Zu denken ist an das Schisma 1130 zwischen Innozenz II. und Anaklet II., vgl. hierzu F R A N Z - J O S E F S C H M A L E , Studien zum Schisma des Jahres 1130 (Studien zur Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 3), Köln/ Graz 1961, bes. S. 216-218, der davon ausgeht, daß die Iberische Halbinsel weitgehend Innozenz II. anhing. Vgl. aber JL 8374 und JL 8426 zu Bemühungen Anaklets um Compostela: F L E T C H E R , Saint James’s Catapult (wie Anm. 10), S. 217- 221; H E R B E R S , Santiago de Compostela zur Zeit (wie Anm. 41), S. 99 und S T R O L L , <?page no="256"?> 256 Geschichte der Iberischen Halbinsel Gab es jedoch Orden, die päpstliche Positionen auf der Iberischen Halbinsel stärkten und deshalb auch den Päpsten vielleicht besonders wichtig waren 92 ? Das lange verbreitete Bild, bei der ersten Phase päpstlicher Einflußnahme auf der Iberischen Halbinsel seien die Cluniazenser gleichsam die Kampfgruppe päpstlicher Interessen gewesen, hat die Forschung, besonders Peter Segl, inzwischen mehrfach deutlich differenziert 93 . Ähnlich grundsätzliche Bedenken gelten für die Zisterzienser 94 oder die Regularkanoniker im 12. Jahrhundert 95 . Zwar wird die Förderung zisterziensischen monastischen Lebens am ehesten mit dem „Zisterzienserpapst“ Eugen III. in Verbindung gebracht 96 , auch Her- The Jewish Pope (wie Anm. 41), S. 115f. Während des Schismas zwischen Alexander III. und den Parteigängern Friedrichs I. Barbarossas sind sogar Pilgerfahrten deutscher Bischöfe nach Compostela nachzuweisen, um mit den Parteigängern Alexanders Kontakt aufzunehmen: So unternahm Bischof Albert I. von Freising im April 1163 eine Pilgerfahrt, um im Schisma zwischen Alexander III. und Viktor IV. Papst Alexander III. aufsuchen zu können, vgl. J O H A N N E S E N G E L , Das Schisma Barbarossas im Bistum und Hochstift Freising: 1159-77, München 1930, S. 92-98; weiterhin J O S E F M A S S , Das Bistum Freising im Mittelalter, München 1986, S. 184 mit Anm. 95; zum Schisma allgemein vgl. L A U D A G E , Alexander III. und Friedrich Barbarossa (wie Anm. 14). 92 Vgl. unter übergreifender Perspektive den Beitrag von H U B E R T U S S E I B E R T in diesem Band (S. 207-241) [H U B E R T U S S E I B E R T , Autorität und Funktion: Das Papsttum und die neuen religiösen Bewegungen in Mönch- und Kanonikertum, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6) Stuttgart 2002, S. 207-241]; mit starken Akzenten auf Fragen von Mönchtum und Reform in dieser Zeit G I L E S C O N S T A B L E , The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1997. 93 P E T E R S E G L , Königtum und Klosterreform in Spanien. Untersuchungen über die Cluniazenserklöster in Kastilien-León vom Beginn des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, Kallmünz 1974; D E R S ., Die Cluniazenser in Spanien - mit besonderer Berücksichtigung ihrer Aktivitäten im Bistum León von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Die Cluniazenser in ihrem politisch-sozialen Umfeld, hg. von G I L E S C O N S T A - B L E , G E R T M E L V I L L E und J Ö R G O B E R S T E , Münster 1998, S. 537-558; vgl. künftig auch den Sammelband Cluny en Peninsule ibérique (XI e -XIII e siècle), hg. von M A R I A H I L L E B R A N D T und P A S C U A L M A R T Í N E Z S O P E N A (erscheint in der Reihe Jakobus- Studien, Tübingen). 94 Zusammenfassend zu den erst seit der Mitte des Jahrhunderts langsam sich auch auf der Iberischen Halbinsel verbreitenden Zisterziensern vgl. N [ I K O L A S ] J A S P E R T , Zisterzienser. V. Iberische Halbinsel, in: Lexikon des Mittelalters 9, 1998, Sp. 644-645, die dort zitierte Literatur stellt die spezifischen Beziehungen zu Rom nicht in den Vordergrund. 95 Zu den Regularkanonikern in Katalonien vgl. N I K O L A S J A S P E R T , Stift und Stadt: das Heiliggrabpriorat von Santa Anna und das Regularkanonikerstift Santa Eulalia del Camp im mittelalterlichen Barcelona (1145-1423) (Berliner Historische Studien 24, Ordensstudien 10), Berlin 1996, S. 50-66; vgl. dazu auch V O N E S - L I E B E N S T E I N , Saint-Ruf (wie Anm. 31). 96 Vgl. hierzu das einschlägige Kapitel von H O R N , Eugen (wie Anm. 88), besonders S. 36-40 zum „zisterziensischen“ Werdegang Eugens III. Zur Bedeutung zisterziensischer Lebensformen auch auf der Iberischen Halbinsel siehe unten im Zusammenhang mit Calatrava (S. 43ff. mit Anm. 123). <?page no="257"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 257 kunft und Orientierung der Kardinäle ist [41/ 42] zu berücksichtigen 97 , jedoch müßten vergleichende Studien das Bild weiter präzisieren. Wie differenziert päpstliche Einflüsse auf neue Ordensgemeinschaften einzuschätzen sind, zeigt die Arbeit von Ursula Vones-Liebenstein zu den Regularkanonikern von Saint-Ruf 98 . Die Kanonikergemeinschaft aus der Provence gewann in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor allem in Katalonien, dann auch in León und Portugal an Bedeutung. Dabei scheinen die verschiedensten Interessen von Herrschern, Adel und Episkopat entscheidend, um neue Gemeinschaften dieser Prägung zu fördern, weniger die begleitenden, gleichsam dazugehörenden päpstlichen Privilegierungen. Dennoch wird deutlich, daß zur Zeit des zweiten Kreuzzuges, 1147/ 1148, als das Interesse an den Regularkanonikern von Saint-Ruf im südlichen Katalonien zurückging, der Sanrufianer Nikolaus Breakspear , wenig später als Papst Hadrian IV. (1154-1159) inthronisiert, der Bewegung durch seine Reise an den „Tatort“ nochmals wichtige Anstöße geben konnte 99 . Mindestens ebenso wichtig erscheinen bestimmte Konstellationen: War schon an der Wende zum 12. Jahrhundert die cluniazensische Herkunft der Legaten und Päpste zuweilen günstig gewesen, um auf der Iberischen Halbinsel mit entsprechenden Kräften zusammenzuwirken, so blieben frühere Ordensbindungen der Päpste - und ihrer Vertrauenspersonen - auch künftig zuweilen prägend 100 . Bewegungen, die sich der vita apostolica verpflichtet fühlten, und dazu gehörten die Regularkanoniker, hatten in der Mitte des 12. Jahrhunderts zusammen mit den Zisterziensern Konjunktur. Dies spiegelt sich in päpstlichen Privilegien, dürfte jedoch kaum ein Spezifikum der Iberischen Halbinsel gewesen sein. Zugute kamen diese Tendenzen auch Orden, zu deren Aufgaben der aktive Kampf gegen Gegner des christlichen Glaubens zählen konnte. Die Ritterorden, im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entstanden 101 , erschienen zunächst 97 Vgl. hierzu grundlegend M A L E C Z E K , Kardinalskolleg (wie Anm. 5), S. 244-249, der auch Fragen von Ausbildung, Werdegang, (verwandtschaftliche) Netzwerke etc. bei der Kreierung von Kardinälen in den Blick nimmt. 98 V O N E S - L I E B E N S T E I N , Saint-Ruf (wie Anm. 31). 99 Dieser durch Saint-Ruf geprägte Papst Hadrian IV. dürfte vielleicht auch dazu beigetragen haben, daß sich Sanrufianer im leonesischen Raum etablierten, vgl. V O N E S - L I E B E N S T E I N , Saint-Ruf (wie Anm. 31), S. 239-279 mit reicher Literatur. 100 Neben Hadrian IV. sind zuvor Eugen III. (1145-1153), der Zisterzienserpapst, oder später Gregor VIII. (1187), den Kehr als den großen Förderer der Orden überhaupt angesehen hat, vielleicht hervorzuheben. Vgl. oben Anm. 96 und 99 sowie zu Gregor VIII. unten Anm. 119 mit der einschlägigen Arbeit von K E H R . 101 Die Literatur zu den Ritterorden ist inzwischen unübersehbar. Vgl. zur Orientierung über die ältere Forschung den Sammelband: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. von J O S E F F L E C K E N S T E I N und M A N F R E D H E L L M A N N (Vorträge und Forschungen 26), Sigmaringen 1980; A L A N J . F O R E Y , The Military Orders from the Twelfth to the Early Fourteenth Centuries, Basingstoke 1992; zum Orden vom Heiligen Grab vgl. Militia Sancti Sepulcri. Idea e istituzioni. Atti del colloquio internazionale, hg. von K A S P A R E L M und C O S I M O D A M I A N O F O N S E C A , Città del Vaticano 1998. <?page no="258"?> 258 Geschichte der Iberischen Halbinsel in den Pyrenäenreichen als eine Art „Import“ aus dem Heiligen Land. Die besondere Situation Spaniens führte jedoch seit etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts zur Entwicklung [42/ 43] eigener Ritterorden 102 . Die Forschung hebt in der Regel Interessen von König und Adel hervor; aber lag die Förderung solcher Gemeinschaften zu Zeiten der Kreuzzüge auch verstärkt im päpstlichen Interesse? Schon seit den 20er Jahren waren zunächst im ostiberischen Raum Bruderschaften mit militärischen Aufgaben und Zielen entstanden 103 . Päpstliche Bestätigungen und Unterstützung durch Legaten gehörten von Anfang an dazu 104 . In den 60er Jahren des 12. Jahrhunderts nahm der Calatrava- Ritterorden 105 Gestalt an. Das angeblich bedrohte Calatrava la Vieja wurde 102 Vgl. neben der in den weiteren Anmerkungen genannten Literatur auch A L A N J . F O - R E Y , The Military Orders and the Spanish Reconquest in the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Traditio 40, 1984, S. 197-234 sowie die Actas del Congreso Internacional Hispano-Portugues sobre „Las órdenes militares en la Peninsula durante la Edad Media“, in: Anuario de Estudios Medievales 11, 1981, mit zahlreichen Einzelstudien hauptsächlich zur Ordensgeschichte nach der Gründung; E N R I Q U E R O D R Í G U E Z - P I C AV E A M A T I L L A , Catorce años de historiografía sobre la orden de Calatrava en la Edad Media (1976-1989), in: Hispania 50, 2, num. 175, 1990, S. 941-964; J O S É V I C E N T E M A T E L L A - N E S M E R C H Á N , Historiografía medieval de la orden de Santiago en los últimos años (1974-1989), ebenda, S. 965-985; zur späteren Bedeutung im Rahmen von Reconquista und Landnahme vgl. zusammenfassend L U D W I G V O N E S , Die Landnahme der Ritterorden von Santiago und Calatrava in der Extremadura, Andalusien und Murcia im 13. Jahrhundert, in: Ritterorden und Region - Politische, soziale und wirtschaftliche Verbindungen im Mittelalter (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica 8), Thorn 1995, S. 67-90. Vgl. auch A N A M U R R A U R E L L , Relaciones europeas de las órdenes militares españolas, in: España y el Sacro Imperio (wie Anm. 23), [S. 179-271]. 103 So die cofradía de Belchite, die mit der Eroberung Zaragozas in Bezug steht; vgl. hierzu P E T E R R A S S O W , La cofradía de Belchite, in: Anuario de Historia del Derecho Español 3, 1926, S. 200-227; zum Datum vgl. A N T O N I O U B I E T O A R T E T A , La creación de la cofradía de Belchite, in: Estudios de la Edad Media de la Corona de Aragón 5, 1952, S. 427-434; Vgl. allgemein J O S É G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula de la Cruzada (Victoriensia. Publicaciones del seminario de Vitoria 4), Vitoria 1958, S. 81ff. mit weiteren Belegen; zu Fragen vergleichbarer Entwicklungen in Ost und West vgl. K L A U S H E R B E R S , Las órdenes militares ¿lazo espiritual entre Tierra Santa, Roma y la Peninsula Iberica? El ejemplo de la Orden de Santiago, in: Santiago, Roma, Jerusalen (wie Anm. 50), S. 161-173, bes. 162f.; N I K O L A S J A S P E R T , Frühformen der geistlichen Ritterorden und die Kreuzzugsbewegung auf der Iberischen Halbinsel, in: Europa an der Wende (wie Anm. 41), S. 90-116. 104 So wurde die cofradía de Belchite auf einem Konzil im Beisein des päpstlichen Legaten Wilhelm (Bischof von Arles) bestätigt, vgl. G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Anm. 103), S. 81; R A S S O W , Cofradía (wie Anm. 103); E N G E L S , Papsttum, Reconquista und spanisches Landeskonzil (wie Anm. 7), S. 364f. Zum Anteil des apostolischen Legaten Boso von Santa Anastasia bei der Werbung für das Unternehmen in Südfrankreich vgl. W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 71ff. Die Indulgenz vom 10. Dezember 1118: JL 6665. 105 B E R N D S C H W E N K , Aus der Frühzeit der geistlichen Ritterorden Spaniens, in: Die geistlichen Ritterorden Europas (wie Anm. 101), S. 109-140, bes. S. 123-130 und D E R S ., Calatrava. Entstehung und Frühgeschichte eines spanischen Ritterordens zisterziensischer Observanz im 12. Jahrhundert (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 2, Nr. 28), Münster 1992. <?page no="259"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 259 1158 an die Zisterzienser unter Abt Raimund von Fitero übergeben; der Erzbischof von Toledo warb zusätzlich Krieger an. Nach Raimunds Tod zogen sich die Mönche aus Fitero wieder zurück. Die in Calatrava zurückbleibenden Laien unter ihrem Meister bemühten sich um eine Bindung an den Zisterzienserorden. Nachdem das Generalkapitel in Citeaux am 14. September 1164 eine Regel gegeben hatte, approbierte Papst Alexander III. am 25. September 1164 die kastilische Zisterziensermiliz 106 . 1187 wurde sie endgültig [43/ 44] dem Zisterzienserorden affilliert 107 . Die Integration in den Zisterzienserverband hatte Konsequenzen, denn die Laien galten wohl als Konversen. Vielleicht formulierte Alexander III. deshalb die militärischen Aufgaben relativ restriktiv: Es ging stärker um defensive Aufgaben im Bereich von Calatrava 108 . Anders akzentuierte derselbe Papst elf Jahre später, als er den wohl 1170 gegründeten Orden von Santiago 109 bestätigte; hier wurde die Kriegsführung 106 JL 11064, ed. M I G N E , PL 200, Sp. 310-312; zur handschriftlichen Überlieferung der Regel und der Forschungsdiskussion zur Datierung vgl. S C H W E N K , Calatrava (wie Anm. 105), S. 126; D E R S ., Aus der Frühzeit (wie Anm. 105), S. 136 mit Anm. 120. Gewisse Diskrepanzen zwischen den Schriftstücken aus der zisterziensischen und der päpstlichen Kanzlei, auf die J O S E P H F. O ’ C A L L A G H A N , The Affiliation of the Order of Calatrava with the Order of Citeaux, in: Analecta Sacris Ordinis Cisterciensis 15, 1959, S. 161-193; 16, 1960, S. 3-59 und 255-292; ND D E R S ., The Spanish Military Order of Calatrava and its Affiliates, London 1975, (Collected Studies), Nr. 1 S. 32 und zusammenfassend S. 284 hingewiesen hat, sind vielleicht weniger entscheidend. Laut Schwenk konnte sich der Papst „auf das Wesentliche beschränken“, vgl. S C H W E N K , Calatrava (wie Anm. 105), S. 127f. Der Vergleich mit den Bestätigungsurkunden anderer Gemeinschaften wie den Templern, Hospitalitern, Santiagorittern oder der Perreiromiliz zeige außerdem, daß diese Gemeinschaften erst wesentlich später von einer kirchenrechtlich übergeordneten Instanz approbiert wurden (ebd.). Zum Vergleich beispielsweise Papsturkunden für Templer und Johanniter, ed. R U D O L F H I E S T A N D (Vorarbeiten zum Oriens Pontificius 1 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch Historische Klasse, 3. Folge Nr. 77), Göttingen 1972, S. 204-210 Nr. 3. 107 Urkunde Gregors VIII. vom 4. November 1187, JL 16035. Zur Einordnung in den historischen Zusammenhang (Schlacht bei Hattin etc.) vgl. S C H W E N K , Calatrava (wie Anm. 105), S. 446-474, bes. 461-472, dort auch eingehender Vergleich mit den Bestimmungen Alexanders III. 108 Vgl. JL 11064, ed. M I G N E , PL 200, Sp. 310-312: ad ipsius loci defensionem viriliter pugnaretis . . . , vgl. hierzu S C H W E N K , Calatrava (wie Anm. 105), S. 129. Der laut Schwenk fehlende Zusatz in universo mundo, der bei den Templern zu finden sei, bezieht sich dort nicht direkt auf die militärischen Aktionen, sondern eher auf den Orden und dessen Ausbreitung, vgl. Papsturkunden für Templer und Johanniter, ed. H I E S T A N D (wie Anm. 106), S. 205: Proinde, dilecti in domino filii de uobis et pro uobis omnipotentem dominum collaudamus, quoniam in uniuerso mundo uestra religio et ueneranda institutio nuntiatur. 109 Allgemein B E R N D S C H W E N K , Jacobusorden, in: Lexikon des Mittelalters 5, 1991, Sp. 264f. mit kurzer Darlegung der wichtigsten Phasen. Ausführlicher: D E R E K W. L O - M A X , La Orden de Santiago (1170-1275) (Consejo Superior de Investigaciones Científicas. Escuela de estudios medievales 33), Madrid 1965; J O S É L U Í S M A R T Í N R O D R Í - G U E Z , Los orígenes de la órden de Santiago (1170-1195), Barcelona 1974; knapper: J U L I O G O N Z Á L E Z , Regesta de Fernando II, Madrid 1943, S. 91-94; D E R S ., El reino de Castilla en la epoca de Alfonso VIII, 3 Bde., Madrid 1960, Bd.1, S. 591-602; S C H W E N K , Aus der Frühzeit (wie Anm. 105), S. 123-130; H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie <?page no="260"?> 260 Geschichte der Iberischen Halbinsel offensiver, ansatzweise auf die ganze Christenheit hin gefaßt 110 . Wesentlich deutlicher als beim Calatrava-Orden sind verschiedene päpstlich-römische Einflüsse auszumachen, denn nicht nur der leonesische König Ferdinand II. und der Erzbischof von Compostela waren bei der Entstehung des Santiago- Ordens beteiligt 111 . Der Legat Hyacinth, später als Coelestin III. Papst, nahm schon kurz nach der Gründung Ordensmeister und -brüder sub protectione sacrosanctae Romanae Ecclesiae [44/ 45] und bestätigte ihren Orden kraft apostolischer Autorität 112 . Für die Santiagoritter, die geistlich zunächst nicht von einer Mönchsgemeinschaft, sondern von einer Kanonikergemeinschaft 113 unterstützt wurden, schien eine andere Regel als für den Calatrava-Orden geboten. Die ältere Fassung der Regel, die sich in einer vatikanischen Handschrift erhalten hat 114 , thematisierte bereits, daß Männer und Frauen, Verheiratete und Zölibatäre, ein Leben nach Anm. 11), S. 243-247; D E R S ., Las órdenes militares (wie Anm. 103), S. 164-172. Knapper Überblick bei J O S É L U Í S M A R T Í N R O D R Í G U E Z , in: Alarcos 1195. Actas del Congreso Internacional conmemorativo del VIII Centenario de la Batalla de Alarcos, hg. von R I - C A R D O I Q U Z I E R D O B E N I T O und F R A N C I S C O R U I Z G Ó M E Z , Cuenca 1996, S. 33- 45. - Interessanterweise benannten sich alle anderen bedeutenden spanischen Ritterorden wie z. B. die von Alcantara und Calatrava nach ihrem Stammsitz, der Santiago-Orden hingegen nach einem Heiligen, vielleicht auch nach dessen Grabesort, aber jedenfalls nicht nach dem Stammsitz. 110 JL 12504, vgl. unten Anm. 124. 111 Vgl. hierzu H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 243f. sowie D E R S ., Las órdenes militares (wie Anm. 103), S. 164-167. 112 Dies geht aus dem 11. Abschnitt der zweiten Fassung der Regel hervor, demnach habe Hyacinth bei seiner Legation pro pace inter reges reformanda in Soria den Magister der Gemeinschaft mit einigen Brüdern getroffen und auf Bitten verschiedener genannter Könige und Geistlicher . . . eorum ordinem auctoritate apostolica, qua fungebatur, confirmavit, vgl. E U T I M I O S A S T R E S A N T O S , La Orden de Santiago y su Regla, 2 vols., Madrid 1982, Bd. 2, S. 23; vgl. D E R S ., Alberto de Morra, „Cardenal Protector“ de la Orden de Santiago, in: Hidalguia 31, 1983, S. 369-392, S. 380f. Zur Legation vgl. G O N Z Á L E Z , Alfonso VIII (wie Anm. 109), S. 378ff. (zum Itinerar) und allgemein zur Urkundentätigkeit W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 182ff. (möglicherweise wäre die hier angesprochene Bestätigung als Deperditum hinzuzufügen). 113 Schon bei der Gründung war das Domkapitel von Compostela wichtig; vgl. hierzu H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 243f. Zur nicht ganz klar bestimmbaren Bedeutung Loyos bei Portomarín vgl. E U T I M I O S A S T R E S A N T O S , El martirologio de Uclés y los orígenes de la Orden de Santiago, in: Hispania Sacra 34, 1982, S. 217-252, hier S. 218. 114 Zur älteren Fassung vgl. bereits J E A N L E C L E R C Q , La vie et la prière des chevaliers de Santiago d’après leur règle primitive, in: Scripta et documenta 10, 1958, S. 347-357, hier S. 348-350 zum Überlieferungszusammenhang des Cod. Vat. Lat. 7318 mit einem Brief des Hyacinth. Vgl. den Text der neuen Regel: The Rule of the Spanish Military Order of St. James 1170-1493, hg. von E N R I Q U E G A L L E G O B L A N C O (Medieval Iberian Peninsula Texts and Studies 4), Leiden 1971; beide Texte im Paralleldruck bei S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 21-43, ebd. S. 3-7 zur handschriftlichen Überlieferung und weiteren bisherigen Drucken. Vgl. zur Sache außerdem D E R S ., Alberto de Morra (wie Anm. 112); D E R S ., El martirologio de Uclés (wie Anm. 113), S. 217-252. <?page no="261"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 261 apostolischen Vorstellungen führen sollten 115 . Der Text war noch unbeholfen und konnte das Ziel offensichtlich nicht in ein adäquates Regelwerk bringen 116 . Hilfe wurde in Rom geleistet, wie die neue Regel eigens hervorhebt 117 . Die überarbeitete Fassung trug in mehreren Punkten die Handschrift des Magisters Albertus de Morra: . . . regula nova ore suo dictavit, wie es im exordium magnum der zweiten Regel heißt 118 . Albertus de Morra, Kardinaldiakon von S. Adriano, Glossator des Dekretes, seit 1178 päpstlicher Kanzler und dann 1187 für zwei Monate als Gregor VIII. Papst 119 , konzipierte die zweite, die neue Regel. Er [45/ 46] war dem Kanonikerideal des ordo antiquus 120 verpflichtet und versuchte, ein apostolisches Leben für Männer mit ihren Frauen durch Pauluszitate und durch den Verweis auf die frühchristliche Gemeinschaft von Jerusalem zu legitimieren 121 . Die Mitglieder des Santiago-Ordens durften verheiratet sein und religiöse Berufung mit ehelicher Keuschheit verbinden. Um kämpfende Laien und Frauen einzubeziehen, bot die Augustinusregel eine wohl 115 Zu diesen Konzeptionen vgl. S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112), S. 381. 116 S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112), S. 381 unterstreicht theologische und juristische Probleme. 117 Vgl. zur Reise des Pedro Fernández nach Rom S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112), S. 380; zur Überarbeitung in Rom vgl. Absatz 12 der neuen Regel: S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 23f. (Prolog). Den für die Überarbeitung einschlägigen Prolog der zweiten Regel hat A N G E L F E R R A R I N U Ñ E Z , Alberto de Morra, postulador de la Orden de Santiago y su primer cronista, in: Boletín de la Real Academia de Historia 146, 1960, S. 63-139, eingehend untersucht und interpretiert. 118 Absatz 13 berichtet von Beratungen, Absatz 14 lautet dann: Deinde Cardinalis Magister Albertus circa hunc ordinem non parum deuotus approbans cum exemplis et auctoritatibus Apostoli Pauli, et plurimorum sanctorum Patrum, sanctum et confirmatione dignum, ore suo dictauit, et stilo exarauit, et auctoritate apostolica confirmauit, S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 24; vgl. S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112), S. 387f. 119 Vgl. zu seiner Biographie außer der bisher zitierten Literatur die Angaben von L U D W I G V O N E S , Gregoire VIII, in: Dictionnaire historique de la papaute, Paris 1994, S. 749f. (mit Literatur). Zu den hier interessierenden Fragen schon P A U L F. K E H R , Papst Gregor VIII. als Ordensgründer, in: Miscellanea Francesco Ehrle, Bd. 2: Per la storia di Roma (Studi e testi 38), Rom 1924, S. 248-275, zum Santiago-Orden S. 251f. Zur Legationstätigkeit Alberts vgl. W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 249-253. 120 Unsicher bleibt, ob Alberto de Morra Kanoniker in St-Martin de Laon war, das sich im Laufe des 12. Jahrhunderts dem ordo novus zuwandte; jedenfalls erließ er nach der Gründung von Augustiner-Chorherren-Gemeinschaften in St. Andrea in Platea und in Santa Trinita di Palazzolo in Benevent für diese Statuten, die dem ordo antiquus verpflichtet waren und die Urban III. 1187 (Italia Pontificia 9, S. 74 Nr. 4) bestätigte, vgl. V O N E S , Gregoire (wie Anm. 119), S. 749. Laut V O L K E R T P F A F F , Sieben Jahre päpstlicher Politik. Die Wirksamkeit der Päpste Lucius III., Urban III., Gregor VIII., in: Zeitschrift der Savigny- Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 67, 1981, S. 148-212 mit Auflistung der Urkunden, dort S. 178 zu Gregors Einflussnahme auf die Regel von S. Andrea de Platea in Benevent mit „verschärfter Augustinerregel“. Vgl. auch die einzelnen Belege bei S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112). Der schon genannte Sanrufianer, Papst Hadrian IV. (vgl. Anm. 99), kreierte Albertus de Morra zum Kardinal. 121 Vgl. den Nachweis der verschiedenen Zitate in der Ausgabe bei S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 21-43. <?page no="262"?> 262 Geschichte der Iberischen Halbinsel flexiblere Grundlage als die Traditionen der Zisterzienser 122 . Diese Beobachtung unterstreicht Ergebnisse der Forschung, die in jüngerer Zeit auch bei den im Heiligen Land entstandenen Ritterorden wesentlich häufiger Einflüsse der Kanonikerregel als der Zisterzienserregel feststellt 123 . Alexander III. griff in seiner Bestätigung von 1175 den Gedanken der vita communis und die Grundregeln auf, nach denen der Orden geführt werden sollte 124 . Außer dieser Zusammenfassung versprach der Papst seinen Schutz und apostolische Jurisdiktion, bestimmte ein jährliches Generalkapitel an Allerheiligen und Visitation der Häuser durch besondere Mitglieder. Die bestellten Priester sollten Messe lesen, Sakramente spenden und vor allem die Kinder der Ordensbrüder unterrichten. Rechtlich war der Orden nur vom Papst oder seinem Legaten (a latere) abhän-[46/ 47]gig. Bischöfliche Rechte waren zwar zu respektieren, aber alle neuen vom Orden gegründeten Kirchen sollten von der bischöflichen Jurisdiktion ausgenommen sein. Als Anerkennung solle der Orden jährlich 10 malachinos an den Papst zinsen 125 . Auffällig ist im Vergleich zur Bestätigung des Calatrava-Ordens die programmatische Arenga, die im Falle von Calatrava nur die Zustimmung zur gerechten Bittstellung thematisiert hatte 126 . Alexander beginnt fast emphatisch: „Gepriesen sei Gott mit seinen Gaben . . . , der seine Kirche immer mit neuen Sprößlingen bereichert und für die Väter Söhne hervortreten läßt“ 127 . Wenn 122 Vielleicht ist die Beobachtung von Sastre Santos, daß sogar der Festkalender von Saint- Ruf im Ordensmartyrologium von Uclés festzustellen ist, ein weiterer Beleg für diese Tendenz, vgl. S A S T R E S A N T O S , Alberto de Morra (wie Anm. 112), S. 389; D E R S ., Martirologio de Uclés (wie Anm. 113), S. 5-21 (mit Druck des Martyrologs S. 6-29), der die Orientierung dieses Ritterordens auf das Kanonikerideal in seinen Forschungen besonders hervorgehoben hat. 123 Dies liegt wohl auch an der das Bild beeinflussenden und oft in dieser Hinsicht überschätzten Figur Bernhards von Clairvaux, der ja in einem eigenen, freilich keinesfalls breit rezipierten Traktat die Ritterorden pries. Zur Forschung über die Regeln der Ritterorden vgl. außer J A S P E R T , Frühformen der geistlichen Ritterorden (wie Anm. 103), S. 95-101, auch K A S P A R E L M , Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden des Mittelalters. Forschungsstand und Forschungsprobleme, in: Militia Christi e Crociata nei secoli XI-XIII, Atti della undecima Settimana internazionale di studio Mendola, 28 agosto-1 settembre 1989 (Miscellanea del Centro di studi medioevali 13), Mailand 1992, S. 477-518. - Die Bedeutung der Zisterzienserregel scheint hingegen durch den Einfluß von Calatrava bei vielen diesem Orden affillierten Gemeinschaften bestimmend geworden zu sein. 124 JL 12504, ed. Bullarium Ordinis Militiae Sancti Iacobi Gloriosissimi Hispaniarum Patroni, 1719, S. 13-17; M I G N E , PL 200, Sp. 1024-1030; M A R T Í N R O D R Í G U E Z , Orígenes (wie Anm. 109), S. 248-254 Nr. 73; vgl. S. 34 Nr. 59; S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 53-62 (in Paralleldruck und Vergleich mit der Urkunde Lucius’ III. vom 17. November 1184, ed. M A N S I L L A , Documentación [wie Anm. 28], S. 145-151 Nr. 124). Bei Sastre Santos findet sich eine weitere Auflistung der verschiedenen päpstlichen Bestätigungen (vgl. S. 44-49). 125 S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 61. Die Regel enthält ähnliche Bestimmungen. 126 Justis petentium desideriis facilem nos convenit impertiri consensum, et vota quae arationis tramite non discordant, effectu sunt prosequente complenda, JL 11064, ed. M I G N E , PL 200, Sp. 310-312. 127 Benedictus Deus in donis suis et sanctus in omnibus operibus suis, qui ecclesiam suam nova semper <?page no="263"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 263 Arengen politischen Gehalt besitzen 128 , dann wird er hier deutlich! Dabei fällt auf, daß spätere Papsturkunden - so die Bestätigung Lucius’ III. - die durchaus apokalyptischen Töne nicht mehr aufgreifen 129 . Das mehrjährige Ringen um Akzente der Ordensregel, Alexanders emphatische Bestätigung und weitere Indizien unterstreichen, daß Päpste wie Alexander III. an neu strukturierten, überregionalen Gemeinschaften interessiert sein konnten und daß für sie die neue Form des Santiago-Ordens wohl gegenüber Calatrava die interessantere Variante zu sein schien. Dabei fällt auf, daß Alexander 1175 im gleichen Jahr die dem Santiago-Orden in einigen Aspekten - wie der ehelichen Keuschheit - ähnlichen Lazariter bestätigte. Mögen sogar übergeordnete Gesichtspunkte den Papst geleitet haben 130 ? Inwieweit waren aber im Falle des Santiago-Ordens die Konstellationen entscheidend? Wertet man die dreifache römische „Geburtshilfe“, das heißt durch den Legaten Hyacinth, durch Albertus de Morra und durch die keinesfalls routinemäßi-[47/ 48]ge Bestätigung Alexanders III., dann hatte vor allem der rührige Legat Hyacinth - vielleicht sogar auf Drängen des Bischofs von Salamanca 131 - eine sich bietende Chance genutzt. Er dürfte die weiteren Schritte in Rom gefördert haben 132 . Wenn langfristig vor allem die Könige, weniger prole fecundat et sic pro patribus filios in ea facit exurgere sicque a generatione in generationem noticiam nominis sui et lucem fidei christiane diffundi, ut sicut ante ortum solis stelle sese ad occasum infirmamento sequuntur, ita in ecclesiasticis gradibus generationes iustorum, antequam veniat dies Domini magnus et horribilis ut tenebras veri solis splendor illuminet pro tempora sibi succedunt, et sicut multi sepe per caudam draconis deiciuntur in terra, ita et per adoptionem spiritus cotidiana fiat reparatio perditorum et de profundo inferni ad querenda multi celestia erigantur, et ita corpore teneatur in terra ut tamquam cives sanctorum et domestici Dei cogitatione ac desiderio conversentur in celis . . . , JL 12504; ed. S A S T R E , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 53 (vgl. zu weiteren Editionen Anm. 124). 128 Vgl. zur Interpretation von Arengen allgemein H E I N R I C H F I C H T E N A U , Arenga, Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 18), Graz-Köln 1957, bes. S. 110f.; zu Lichttopoi bei Innozenz III. in einer Urkunde für den Santiago-Orden vgl. ebenda S. 111. 129 Der Paralleldruck bei S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 53 läßt dies gut erkennen; zur Interpretation ebenda S. 46; in der Narratio will Sastre Santos den Einfluß Alberts de Morra erkennen. 130 Leider existiert nur eine Notiz dieser Bestätigung Alexanders für die Lazariter, vgl. R U - D O L F H I E S T A N D , Papsturkunden für Kirchen im Heiligen Lande (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge Nr. 136), Göttingen 1985, S. 277 Nr. 110; vgl. zum Orden: K AY P E T E R J A N K R I F T , Leprose als Streiter Gottes. Institutionalisierung und Organisation des Ordens vom Heiligen Lazarus zu Jerusalem von seinen Anfängen bis zum Jahre 1350 (Vita regularis 4), Münster 1995, S. 63-64; zum Vergleich schon H E R B E R S , Las órdenes militares (wie Anm. 103), S. 170. 131 Vgl. im Vorwort der Neuen Regel, ed. S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 23: . . . vero Salmantini episcopi, cui dictus cardinalis magis quam alicui personae de terra illa credere videbatur . . . Mit dem angesprochenen Bischof von Salamanca war Pedro Suárez (1167-1176) gemeint, der später Erzbischof von Santiago de Compostela wurde (1177-1198). 132 Vgl. oben Anm. 112. <?page no="264"?> 264 Geschichte der Iberischen Halbinsel die Päpste mit dem Santiago-Orden zusammenwirkten, so unterstreicht dies, wie sehr beständige Einflußnahme von apostolischer Unterstützung im Lande selbst abhing. Als Hyacinth nicht mehr in Spanien weilte, verringerten sich anscheinend die Möglichkeiten päpstlicher Einwirkung. V. Reconquista - Heidenkampf und die Einheit der Reiche Aufgabe der Ritterorden wurde zunehmend der Kampf gegen die „Ungläubigen“. Die Aufforderung, die Muslime zu bekriegen, gehörte mindestens seit den Zeiten Urbans II. ebenso zum festen Bestand päpstlicher Appelle 133 . Diese Initiativen vor allem unter dem Aspekt von Anspruch und Durchsetzung hier vollständig vorzustellen, ist nicht möglich. Päpstliche Ermahnungen, Versprechungen und Schreiben im Zusammenhang mit der Reconquista lassen sich allerdings - wenn man sie „grosso modo“ sichtet und gruppiert - in vier Zeiträume gliedern 134 : 1. Um 1118-1123 im Zusammenhang mit Kriegszügen gegen Zaragoza und weiteren Orten - eingeschlossen die Verlautbarungen auf dem Ersten Laterankonzil 135 ; 2. Aktivitäten und Begünstigungen der Jahre 1146-1148, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Kreuzzug und den Zügen gegen Lissabon, Almería und Tortosa interpretiert werden können 136 ; 3. Aufrufe zur Unterstützung bzw. zur Kompensation, nachdem Jerusalem an die Muslime verloren gegangen war 137 ; [48/ 49] 133 Vgl. B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 227ff. und übergreifend zur Geschichtstheologie und zum Restauratio-Gedanken Bd. 2, S. 333-376; vgl. hierzu auch I N G R I D H E I K E R I N G E L , Ipse transfert regna et mutat tempora. Beobachtungen zur Herkunft von Dan. 2,21 bei Urban II., in: Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker, hg. von E R N S T D I E T E R H E H L , H U B E R - T U S S E I B E R T , F R A N Z S T A A B , Sigmaringen 1987, S. 137-156, S. 146-156 mit Überlegungen zur Bedeutung des Zitates in Texten der Iberischen Halbinsel, durch die Urban auch gewisse Reconquista-Vorstellungen rezipiert haben mag. 134 Vgl. schon in dieser groben Einteilung G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Anm. 103), S. 63-109; vgl. auch die Sichtung der Kämpfe in Portugal mit ähnlichen Schwerpunkten bereits bei C A R L E R D M A N N , Der Kreuzzugsgedanke in Portugal, in: Historische Zeitschrift 141, 1930, S. 23-53. 135 Vgl. hierzu die Cofradía de Belchite und die oben in Anm. 103 zitierte Literatur. 136 Petitiones Alfons’ VIII., vgl. JL 9255, S Ä B E K O W , Die päpstlichen Legationen nach Spanien (wie Anm. 41), S. 49 mit Anm. 178. Vgl. zu Tortosa: R U D O L F H I E S T A N D , Reconquista, Kreuzzug und Heiliges Grab. Die Eroberung von Tortosa 1148 im Lichte eines neuen Zeugnisses, in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 1 Nr. 32), Münster 1984, S. 136-158; N I K O - L A S J A S P E R T , Capta est Dertosa, clavis Christianorum: Tortosa and the Crusades, in: The Second Crusade. Scope and Consequences, hg. von M A R T I N H O C H und J O N A T H A N P H I L L I P S , Manchester 2001, S. 90-110. 137 Vgl. zum Umfeld im Vorderen Orient H A N N E S M Ö H R I N G , Saladin und der Dritte <?page no="265"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 265 4. Päpstliche Bemühungen um 1195, nachdem die muslimischen Almohaden in Alarcos auch aufgrund der Uneinigkeit der Christen einen wichtigen militärischen Erfolg davontragen konnten. Nur zu dieser letzten Phase möchte ich päpstliche Kampfesappelle im Zusammenhang mit Fragen nach einer einheitlichen Hispania behandeln und damit zugleich die Frage von Einheit und Teilreichen kurz thematisieren, denn Handeln in Einheit und Erfolge im Maurenkampf sah schon Urban II. 138 als zusammengehörig an. Dieses durchgehende zentrale Thema päpstlicher Spanienpolitik 139 ist auch bei der vorgestellten päpstlichen Einflußnahme auf die Ordensregel der Santiagoritter deutlich 140 . Es gewann zu Ende des Jahrhunderts unter almohadischem Druck erneut an Bedeutung. Schon 1188 hatte Clemens III. einen ausführlichen - noch unveröffentlichten - Brief 141 an den Erzbischof von Toledo geschickt, in dem er die Einheit der Christen in der Hispania beschwor, um ein großes Heer gegen die Muslime aufzubieten. Seine Appelle verhallten, die Reiche blieben zerstritten 142 . Die Almohaden fügten schließlich in der Schlacht von Alarcos im Juli 1195 den Christen eine empfindliche Niederlage zu 143 . Anhaltende Differenzen zwischen den christlichen Kreuzzug: aiyubidische Strategie und Diplomatie im Vergleich vornehmlich der arabischen mit den lateinischen Quellen (Frankfurter Historische Abhandlungen 21), Wiesbaden 1980. Vgl. hierzu als päpstliche Reaktion z. B. die Urkunde Gregors VIII. vom 4. November 1187: JL 16035. Zur Kreuzzugsenzyklika Clemens’ III. vgl. B E N J A M I N Z . K E D A R , Ein Hilferuf aus Jerusalem vom September 1187, in: Deutsches Archiv 38, 1982, S. 112-122. 138 Vgl. oben Anm. 133. 139 Schon Erdmann sah in Anlehnung an Kehr in der „Zusammenfassung aller Kräfte zum Kampf gegen die Ungläubigen“ das oberste Ziel päpstlicher Politik: E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 3. Zur Spanienpolitik Gregors VII. vgl. A N T O N I O O L I V E R , „Regnum Hispaniae“ en el programa de reforma de Gregorio VII, in: Studi Gregoriani 14: La Riforma Gregoriana e l’Europa, Rom 1991, S. 75-82. 140 Vgl. den Auftrag Papst Alexanders III. an Hyacinth, die Kräfte der spanischen Herrscher zu einigen, Kapitel 11, ed. S A S T R E S A N T O S , Orden de Santiago y su Regla (wie Anm. 112), Bd. 2, S. 23, vgl. den Textauszug oben in Anm. 131. 141 Toledo, Arch. Cat. (A und F 17), vgl. R I V E R A R E C I O , La Iglesia de Toledo en el siglo XII (wie Anm. 1), S. 221ff. und R E Y N A P A S T O R D E T O G N E R I , Del islam al cristianismo: En las fronteras de dos formaciones económico-sociales: Toledo, siglos XI-XIII (Historia, ciencia, sociedad 124), Barcelona 1975, S. 124f. mit jeweils kurzen Paraphrasen. 142 Auch der provenzalische Troubadour Peire Vidal meinte in dieser Situation, eine Einigung der iberischen Herrscher sei nötig, vgl. G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Anm. 103), S. 95. 143 Vgl. A. H U I C I M I R A N D A , La campaña de Alarcos, in: Revista del Instituto Egipcio de Estudios Islámicos 2, 1954, S. 1-71 (Berücksichtigung von arabischen und lateinischen Quellen); D E R S ., Las grandes batallas de la Reconquista durante las invasiones africanas (almorávides, almohades y benimerines), Madrid 1956, S. 137-216; allgemein: G O N Z Á L E Z , Alfonso VIII. (wie Anm. 109), Bd. 1, S. 952-964; knapper D E R S ., Reyes cristianos y imperio almohade, in: Historia General de España y America 4: La España de los Cinco Reinos, Madrid 1984, S. 470-562, hier S. 518, sowie der Sammelband Alarcos 1195. Actas del Congreso Internacional (wie Anm. 109). <?page no="266"?> 266 Geschichte der Iberischen Halbinsel Herrschern, die einheitliches Handeln verhinderten, hatten den Almohaden geholfen. Alfons IX. von León hatte sogar Kontakt zu den Almohaden aufgenommen und ein Bündnis gegen Kastilien angestrebt 144 . Schon vor der Schlacht hatte Coelestins Neffe, der Kardinal Gregor von San Angelo, 1192-1194 die Iberische Halbinsel als Legat bereist; 1196-1197 weilte er erneut in Spanien, um dem päpstlichen Willen nach einheitlichem Handeln nochmals 145 Nach-[49/ 50]druck zu verleihen. Coelestin III. richtete zahlreiche Briefe an die Herrscher sowie die Ritterorden, um mit den gleichen Ablaßversprechungen wie für einen Kreuzzug im Heiligen Land gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel zu kämpfen 146 . Damit stellte er sich in die lange Tradition päpstlicher Reconquista-Appelle seit der Zeit Urbans II. 147 . Im Vergleich zu früheren päpstlichen Einheits- und Kampfesappellen ist interessant, wie die Historiographie Coelestins Bemühen würdigte. Aus der Zeit kurz nach der Schlacht stammt die Notiz der Gesta Comitum Barcinonensium über eine Pilgerfahrt Alfons’ II. von Aragón nach Santiago de Compostela 148 . Alfons von Aragón habe diese Fahrt angetreten, um alle Könige zum Abschluß eines Vertrages gegen die Muslime zu bewegen 149 . Dem päpstlichen Wunsch und Vorschriften entsprechend 150 , so heißt es bezeichnenderweise, 144 Vgl. G O N Z Á L E Z , Alfonso VIII (wie Anm. 109), Bd. 1, S. 949-970. 145 Vgl. G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Anm. 103), S. 99-102; W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 304-308. 146 Vgl. die verschiedenen bei G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Amn. 103), S. 96 besprochenen Papsturkunden. 147 Seit den Aufrufen zur Eroberung von Tarragona, vgl. C A R L E R D M A N N , Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6), Stuttgart 1935, S. 293 und B E C K E R , Urban (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 338f. mit Anm. 151 (weitere Literatur). 148 Gesta Comitum Barcinonensium, ed. L [ L U Í S ] B A R R A U D I H I G O , J [ A U M E ] M A S S Ó T O R R E N T S (Cróniques catalanes 2), Barcelona 1925, S. 14f. und 48; vgl. hierzu A N T O N I O U B I E T O A R T E T A , La Peregrinación de Alfonso II de Aragón a Santiago de Compostela, in: Estudios de la Edad Media de la Corona de Aragón 5, 1952, S. 438-452. Die Chronik von San Juan de la Peña folgt den Gesta. - Zur Quelle, die in fränkischen Traditionen steht, vgl. M I C H E L Z I M M E R M A N N , La prise de Barcelone par Al-Mansûr et la naissance de l’historiographie catalane, in: L’historiographie en Occident du V e au XV e siècles. Actes du congrès de la société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur, Tours 1977 (= Annales de Bretagne 1980), S. 191-218, besonders S. 207 und 213. Knapp im Zusammenhang mit Itinerarstudien J U A N C A R U A N A , Itinerario de Alfonso II de Aragón, in: Estudios de la Edad Media de la Corona de Aragón 7, 1962, S. 35-226, hier S. 224f. 149 Et quia omnes reges Hispanie discordes inter se tunc temporis erant, et quidam eorum dilectionis fedus cum Sarracenis habebant, predictus Ildefons, qui prouidus in omnibus bonis erat, in animo suo limina beati Iacobi uisitare proposuit, et omnes alios reges conuicinos eius inuicem conuocare, ut dilectionis fedus inter eos mitteret contra Agarenos expugnandos, Gesta (wie Amn. 148), S. 14; vgl. die zweite Redaktion S. 48 sowie die katalanische Fassung S. 137. 150 Die Position Papst Coelestins III. wird kurz zuvor erwähnt: . . . sancitum fuit adomino papa Celestino, . . . , quatinus ipse Ildefonsus cum aliis regibus Hispanie Sarracenos impugnarent, et prohibitum a iam dicto papa fuit ne aliqui illorum fedus pacis cum Sarracenis haberent; Gesta (wie Anm. 148), S. 14. Vgl. die zusammenfassende Würdigung der päpstlichen Politik bei <?page no="267"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 267 kam es zu einer antimuslimischen Allianz 151 . Die zweite Redaktion der Gesta akzentuierte sogar pointierter: Alfons II. folgte in dieser Version mit seinen Einigungsbestrebungen gleichsam den päpstlichen Intentionen 152 . Die historiographische Rezeption entsprach der allgemeinen Bedeutung der Situation, aber vielleicht spielten auch der Name und die Kompetenz Coelestins eine [50/ 51] Rolle. Kein anderer Papst als er kannte die Situation der Hispania besser. Zu seiner vertieften Einsicht hatten die praktischen Erfahrungen als Legat beigetragen. Nicht nur die Gründung des Santiago-Ritterordens hatte er gefördert, auch sein wohl 1155 ausgestellter Appell zum Kampf gegen die Ungläubigen belegt Reconquista-Erfahrung 153 . In einer eigenen Urkunde 154 rief er damals als Kardinallegat, der sich in höchster Not auf Bitten der Könige und des Klerus und Volkes von Spanien selbst das Kreuz auf die Brust geheftet hatte, Episkopat, Templer, Hospitaliter und Geistliche auf, die notwendigen Hilfsmittel bereitzustellen; er appellierte, daß alle wie Glieder dem Haupte der römischen Kirche in dieser Not zu Hilfe eilen mögen. Dies waren die Worte eines selbstbewußten Legaten, der keinen Zweifel ließ, wem die Führung eines solchen Unternehmens zukam. Hyacinth war Fachmann für Iberica geworden und blieb es als Papst weiterhin. Auch wenn nicht in allem erfolgreich 155 , so wußte er, wohin er sich wenden, welche Personen er gegebenenfalls einschalten mußte und wie er Briefen über das Wort hinaus den geeigneten Nachdruck verleihen konnte. Die Briefe Coelestins in diesen Krisenjahren belegen zugleich, wie sehr dieser Papst sich der verschiedenen konkurrierenden Reiche jenseits der Pyrenäen bewusst war. Dennoch lassen die päpstlichen Verlautbarungen die Bischöfe von Rom vielfach als Verfechter einer übergeordneten Hispania-Idee erschei- G O Ñ I G A Z T A M B I D E , Historia de la bula (wie Anm. 103), S. 95-97 und 98-102. Vgl. die Urkunden Coelestins III.: K E H R , Papsturkunden in Spanien 2 (wie Anm. 26), S. 574-578 Nr. 220f.; weiterhin E R D M A N N , Papsturkunden in Portugal (wie Anm. 26), S. 376f. Nr. 154; vgl. auch K E H R , S. 578-80 Nr. 222 und S. 591-593 Nr. 230. - Einige Papsturkunden versprechen sogar dieselbe remissio peccatorum wie bei einer Jerusalemfahrt. Vgl. auch G O N Z Á L E Z , Alfonso VIII (wie Anm. 109), Bd. 1, S. 720. 151 Vgl. U B I E T O A R T E T A , Peregrinación (wie Anm. 148), S. 450f. gegen Interpretationen auf der Grundlage von Rodrigo Jiménez de Rada; zur strittigen Auswertung dieser Quelle vgl. H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 252 mit Anm. 399. 152 Vgl. das Zitat der ersten Fassung in Anm. 149, die zweite Fassung ebenda S. 48 fügt hinzu: praeceptum apostolicum ducere ad effectum 153 Schon das von ihm abgehaltene Konzil von Valladolid (1155 Januar) hatte den Kampf gegen die Muslime thematisiert, S Ä B E K O W , Die päpstlichen Legationen nach Spanien (wie Anm. 41), S. 49f.; vgl. W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 176 mit Anm. 5 und 6. 154 W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 176 Nr. 8 mit den älteren Drucken, Text im Anhang bei E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 55- 58. 155 Vgl. unten Anm. 198f. . <?page no="268"?> 268 Geschichte der Iberischen Halbinsel nen 156 . Dies drückt sich nicht nur in den genannten Appellen zur Einigkeit aus, sondern auch im Wortgebrauch für die Legaten, die fast nie in eines der Reiche, sondern in partes Hispaniarum entsandt wurden, ein schönes Beispiel dafür, wie die Außenperspektive die Wahrnehmung von geographischen und herrschaftlichen Einheiten bestimmen konnte. Dies entsprach im übrigen auch der Außendarstellung von Rechtsgelehrten der Iberischen Halbinsel, die in Bologna und anderswo sich als Hispani bezeichneten und wohl auch so genannt wurden 157 . [51/ 52] Kontakte der Päpste zu Bischöfen und Christen im muslimischen Spanien blieben mehr als eingeschränkt, sind zumindest kaum überliefert 158 . Zu den päpstlichen Aufrufen hätte auch eine päpstliche Perspektive für die freilich nicht mehr zahlreichen Christen im muslimischen Herrschaftsbereich gehört. Sie fehlt weitgehend, vielleicht auch nur der Überlieferung wegen. Bezeichnenderweise war es aber wiederum Coelestin III., der selbst in hohem Alter in die Zukunft blickte. Der neue Erzbischof von Toledo, Martin, erhielt 1192 unter anderem zwei Papsturkunden. Eine Bestätigung betraf den Toledaner Primat und die Metropolitanrechte samt der Erlaubnis, in den von den Muslimen zurückeroberten Gebieten Bischöfe und Priester einzusetzen, sowie dem Auftrag, einen zweisprachigen Priester nach Al-Andalus und Marokko zu schicken, damit dort wieder „missioniert“ werden könne 159 . Dies bedeutete nicht nur 156 J O S É A . M A R AVA L L , El concepto de España en la Edad Media (Colección estudios políticos 2), 3. Aufl. Madrid 1981. Hierzu und allgemein zum Hispania-Konzept vgl. J U L I O V A L D E Ó N B A R U Q U E , La corona de Castilla, in: Las Españas medievales, hg. von D E M S . (Historia y Sociedad 77), Valladolid 1999, S. 11-25. Eine Durchsicht aller Papsturkunden des 12. Jahrhunderts in dieser Hinsicht wäre ein Desiderat; jedenfalls fällt bei einzelnen Stichproben die häufige Verwendung einer die wohl gesamte Iberische Halbinsel einschließenden Bezeichnung Hispania auf. 157 Vgl. zu „nationalen“ Aspekten in diesem Zusammenhang schon G A I N E S P O S T , Studies in Medieval Legal Thought, Public Law and the State, 1100-1322, Princeton 1964, S. 482-493 („Vincentius Hispanus and Spanish Nationalism“); es handelt sich um eine überarbeitete Fassung seines Aufsatzes „Blessed Lady Spain - Vincentius Hispanus and Spanish National Imperialism in the Thirteenth Century“, in: Speculum 29, 1954, S. 198- 209; weiterhin H E L M U T G . W A L T H E R , Spanische und deutsche Kanonisten im Dialog über das Imperium, in: España y el Sacro Imperio, hg. von H E R B E R S , R U D O L F und V A L D E Ó N B A R U Q U E (wie Anm. 23) [S. 153-178, hier S. 163-178] mit weiteren Belegen. Zu den spanischen Bezügen des Vincentius Hispanus schon J AV I E R O C H O A S A N Z , Vincentius Hispanus. Canonista Boloñés del siglo XIII (Cuadernos del Instituto jurídico español 13), Rom-Madrid 1960, besonders S. 76ff. 158 Bis auf einen kleinen Beleg ist kaum etwas überliefert: Als Anfang des 12. Jahrhunderts Bischof Julian von Málaga von seinem Sitz vertrieben wurde, sieben Jahre in einem almoravidischen Gefängnis schmachtete und der Erzdiakon von Málaga sein Nachfolger wurde, appellierte der rechtmäßige Bischof nach seiner Freilassung an Paschalis II., der Klerus und Laien von Málaga ermahnte, sie sollten, wenn sie unter den Sarazenen wie unter Wölfen und Löwen hausten, umso mehr Gott richtig dienen, vgl. M A N S I L L A , Documentación (wie Anm. 28), S. 70-71 Nr. 51. 159 JL 16898, ed. M A N S I L L A , Documentación (wie Anm. 28), S. 154-156 Nr. 127; vgl. hierzu und zum größeren Zusammenhang mit der Diskussion weiterer zugehöriger Papsturkunden und Belege: A N E T T E H E T T I N G E R , Die Beziehungen des Papsttums zu Afrika von <?page no="269"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 269 institutionell-juristisches Vorausschauen, sondern verweist bereits auf die Zeit der Überzeugungsmission, die im 13. Jahrhundert auch durch ein verstärktes Erlernen der arabischen Sprache an Bedeutung gewann 160 . VI. Strukturen des Wechselverhältnisses: Geld, Gunst und Recht - System und Person - Rhetorik und Durchsetzung Der Blick auf die „Peripherie“ gehört in verschiedene Zusammenhänge aktueller Forschung und erschließt einige Aspekte des Rahmenthemas wie im Zeitraffer. Damit bietet er zugleich konkrete Hinweise auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, auf die Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen. Die Sondersituation der Iberischen Halbinsel förderte Beziehungen besonderer Art, begünstigte aber auch Entwicklungen, die von etwa 1070-1130 im Eilschritt nachholten, was in anderen Reichen Europas innerhalb dreier Jahrhunderte gewachsen war. Eine erste Phase intensivierter Kontakte war etwa um 1130 abgeschlossen. Spätestens dann erschien päpstliche Legitimation in verschiedenster Ausprägung, auch für Fälscher, häufig als gegeben und dienlich. Das breite Spektrum der Kontakte in dieser ersten Phase gewährt deshalb vielleicht nicht von ungefähr vereinzelt Einblicke in die Praxis päpstlicher Amts- [52/ 53]führung, die Quellen im übrigen Europa nicht bereithalten: Dazu zähle ich die ausgesprochen früh und unverblümt aufgezeichneten Einzelheiten der Historia Compostellana zu den päpstlichen Einkünften und zu Entscheidungsstrukturen in der päpstlichen Umgebung, zur Art der Urkundenausstellung, aber auch die detaillierten Hinweise auf die älteren Papstregister des 12. Jahrhunderts 161 . Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwieweit die Konzeption von einem inneren und äußeren Europa 162 noch weiter zu differenzieren und der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 36), Köln u. a. 1993, S. 289-294. 160 Zu Raimundus Lullus und seiner Sprachenpolitik vgl. die bei K L A U S H E R B E R S , Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Artes im Mittelalter, hg. von U R S U L A S C H A E F E R , Berlin 1999, S. 232-248, S. 240f. angegebene Literatur. Schon Papst Alexander III. hatte einen Sarazenenfürsten in Montpellier getroffen und zur Verständigung einen Dolmetscher gebraucht, wie in der Vita Alexanders des Kardinaldiakons Boso im wesentlichen überliefert wird, vgl. hierzu H E T T I N G E R , Beziehungen des Papsttums zu Afrika (wie Anm. 159), S. 281-288. 161 Vgl. oben S. 32-36 und 39f. 162 Vgl. hierzu grundlegend P E T E R M O R A W , Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Hochfinanz - Wirtschaftsräume - Innovationen, Festschrift für Wolfgang von Stromer, hg. von U W E B E S T M A N N , F R A N Z I R S I G L E R , J Ü R G E N S C H N E I D E R , Bd. 2, Trier 1987, S. 583-622; ND: D E R S ., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von R A I N E R C H R I S T O P H S C H W I N G E S , Sigmaringen 1995, S. 293-320. <?page no="270"?> 270 Geschichte der Iberischen Halbinsel zu konkretisieren ist. Kategorien wie Papstnähe und Papstferne 163 müßten bei einer vom Anspruch her universalen Ordnungsmacht in ihren verschiedenen Facetten und besonders in den unterschiedlichen Beziehungsnetzen weiter aufgeschlüsselt werden. Die präsentierten Beispiele zum Wechselverhältnis von Papsttum und Iberischer Halbinsel im 12. Jahrhundert stelle ich unter drei Leitmotive: 1. Geld, Gunst und Recht; 2. System und Personen sowie 3. Rhetorik und Umsetzung. 1. Geld, Gunst und Recht: Die gerade im Compostellaner Beispiel aufgrund günstiger Quellensituation aufgelisteten Zahlungen können seit den 30er Jahren in diesem Ausmaß nicht mehr nachgewiesen werden. Dies muß nicht heißen, daß es sie nicht mehr gegeben hat. Die zunehmende Bedeutung von Geld scheint jedoch gerade die Zeit der sich formierenden päpstlichen Zentralbehörden allgemein begleitet zu haben, wie Johannes Laudage für die 20er Jahre des 12. Jahrhunderts aus römischer Perspektive verdeutlichen konnte; Begriffe wie Bestechlichkeit greifen hier jedoch kaum 164 . Aus den vorgestellten iberischen Beispielen ergibt sich, dass Zahlungen und Geschenke sowie persönliche Beziehungsgeflechte zunehmend durch rechtliche Verfahrensweisen ergänzt oder überlagert wurden. Rechtstitel gewannen an Gewicht. Dieser Weg war nicht gradlinig, die Stationen von 1120 (1124)-1215 hatte ich übersprungen: Konzilien, wie das durch den päpstlichen Legaten Hyacinth präsidierte Konzil von Valladolid 1155, wo mit gleichzeitig aufwendiger Inszenierung unter anderem die rechtlichen Anliegen von Braga und Composte-[53/ 54]la vorgetragen wurden, dürfen mit ihrem Verfahren als wichtige Etappen auf diesem Weg gelten 165 . Grenzen eines nie völlig schematischen »do ut des« wurden besonders dann erreicht, wenn konkurrierende Ansprüche offensichtlich verletzt und vor allem wenn diese von den Betroffenen geltend gemacht wurden. Schon 1120 gab es konkurrierende Briefe aus Toledaner Perspektive, die eine Entscheidung aufschoben; 1126 erlangte Diego die Legatenwürde für ganz Spanien 163 Diese Begriffe in Analogie zu den Termini Königsnähe und Königsferne wurden von Bernd Schneidmüller in die Diskussion eingebracht. 164 L A U D A G E , Rom und das Papsttum (wie Anm. 41), S. 48-51. Es wäre ein Forschungsdesiderat zu untersuchen, wie sich die Zahlungen seit dem Pontifikat Calixts II. in ihrer räumlichen und zeitlichen Differenzierung darstellen. Außerdem müßten allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Gabe und Geld in diese Zusammenhänge einbezogen werden, denn die Überlegungen des Soziologen Marcel Mauss zum Gabentausch in archaischen Gesellschaften sind durchaus in Bezug auf Geldzahlungen weiter mit mittelalterlichen Beispielen zu präzisieren; vgl. hierzu beispielweise die Arbeit von K N U T G Ö R I C H , Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001, bes. Kap. VI.: „Geld und Ehre“ (S. 331-363). Wie sehr das Konzept von Mauss auch Diskussionen um die richtige Ökonomie der jeweiligen Gegenwart geprägt hat, belegt B E A T E W A G N E R - H A S E L , Wirtschaftsmythen und Antike. Zur Funktion von Gegenbildern der Moderne am Beispiel der Gabentauschdebatte, in: MythenMächte - Mythen als Argumente, hg. von A N E T T E V Ö L K E R - R A S O R und W O L F G A N G S C H M A L E , Berlin 1998, S. 54-63. 165 Vgl. E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 38f., die Texte S. 54-63; W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 176. <?page no="271"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 271 nicht, wohl kaum, weil die Zahlungen nicht ausreichten, sondern eher, weil die Toledaner Rechte schon zu fest verankert waren, um als Ganzes noch zur Disposition zu stehen. Die inzwischen zahlreicheren Privilegien waren nun in einer weiteren Phase stärker als zuvor gegeneinander auszutarieren. Das Gefüge der Vorrechte und Ansprüche war komplizierter geworden: römisches und kanonisches Recht „mußte“ somit förmlich das Prinzip des „do ut des“ ergänzen, dieser Trend zu Routine und Professionalisierung ist ab den 30er Jahren verstärkt erkennbar und gehört zu einer allgemeinen Entwicklung struktureller Umgestaltungen, welche die päpstliche Herrschaft allgemein betreffen. Bildung und weitere (spirituelle) Prägungen der Amtsinhaber und der von ihnen kreierten Kardinäle beeinflußten päpstliche Entscheidungen. Die Ausstellung der Privilegien, an denen die Kardinäle zumindest durch ihre Unterschriften zunehmend beteiligt waren 166 , wurde formalisiert. Die Petenten legten häufig Wert auf die Kardinalsunterschriften, mußten aber in der Regel die Dispositio der Privilegien selbst vorformulieren. Formelsammlungen, die in der Spätzeit Alexanders III. von dessen Kanzler Albertus de Morra (später Gregor VIII.) ausgearbeitet wurden, sollten Routineangelegenheiten erleichtern 167 . Um Streitigkeiten beizulegen, entwickelten sich im gesamten lateinischen Westen fester gefügte Formen: Legaten, delegierte Richter, Appellationsmöglichkeiten und andere Stichworte umschreiben diesen Prozeß 168 . Immer öfter suchten Angehörige des gesamten Orbis christianus die Entscheidung in Rom. So häufig wurde päpstliche Hilfe bemüht, daß Eugen III. über zu viele kleine Prozesse klagte 169 . [54/ 55] 166 B R U N O K A T T E R B A C H / W. M . P E I T Z , Die Unterschriften der Päpste und Kardinäle in den „Bullae Maiores“ vom 11. bis 14. Jhdt., in: Miscellanea Francesco Ehrle, Bd. 4: Scritti di storia e paleografia (Studi e testi 40), Rom 1924, S. 177-274, zum 12. Jh. S. 122-144. Zu Calixt jetzt L A U D A G E , Rom und das Papsttum (wie Anm. 41), S. 31f. und 42-53. 167 Zur Formelsammlung des Albertus de Morra („forma dicendi“ und stylus, der später zu seiner Ehre „stylus gregorianus“ genannt wurde), vgl. zusammenfassend V O N E S , Grégoire VIII (wie Anm. 119), S. 749. 168 Diese Entwicklung wurde von einer Rezeption des kanonischen und römischen Rechtes begleitet. Das ist aber für die Iberische Halbinsel noch nicht eingehend untersucht. Zu diesen Voraussetzungen, welche die Entwicklung des Prozeßwesens und des gelehrten Rechtes in Portugal betreffen, ist eine Erlanger Dissertation von Ingo Fleisch in Vorbereitung [I N G O F L E I S C H , Regnum - Sacerdotium - Studium. Der westiberische Raum und die europäische Universitätskultur im Hochmittelalter. Prosopographische und rechtsgeschichtliche Studien (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 4), Münster u. a. 2006]. Allgemein hierzu: S C H I M M E L P F E N N I G , Papsttum (wie Anm. 13), S. 185. Vgl. den noch immer nützlichen Forschungsbericht von A N T O N I O G A R C Í A Y G A R C Í A , La canonística ibérica (1150-1250) en la investigación reciente, in: Bulletin of Medieval Canon Law NS 11, 1981, S. 41-75. Vgl. außerdem die weiteren Abhandlungen dieses Autors, die nun übersichtlich zusammengestellt sind in: Life and Letters (wie Anm. 29), S. XIX-XL. 169 Ab Alexander III. sollte deshalb in Rom nur noch entschieden werden, wenn der Streitwert mindestens 20 Silbermark betrug. Wie es scheint, war das Ansehen des Papsttums gestiegen, man erwartete von Rom objektivere Entscheidungen, vgl. S C H I M M E L P F E N - N I G , Papsttum (wie Anm. 13), S. 179. <?page no="272"?> 272 Geschichte der Iberischen Halbinsel Gefördert wurde diese Entwicklung weiterhin durch die Rezeption römischer, kirchenrechtlicher Sammlungen. Schon Diego Gelmírez war zu Beginn des 12. Jahrhunderts aus Rom die vorgratianische Sammlung des Polycarp gewidmet worden 170 . In den Zusammenhang der Übernahme römischer Gebräuche und Traditionen gehörte in Compostela außer der Rezeption der römischen Liturgie schon seit den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts das kanonische Recht 171 . Offensichtlich studierte auch seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert eine nicht kleine Gruppe aus Santiago Rechtswissenschaft in Bologna 172 . Nach 1140, nach dem Decretum Gratians, entstanden immer häufiger Zusätze (paleae), später auch in Appendices neue Textsammlungen. Diese enthielten vermehrt päpstliche Dekretalen, besonders seit dem Pontifikat Alexanders III. Das Papsttum verdankte die Durchsetzung päpstlicher Rechtsvorstellungen somit auch zu einem großen Teil den jeweils lokalen Sammlern 173 , von denen ich für die Iberische Halbinsel nur die bruchstückhafte Sammlung aus Sigüenza, die 25 Dekretalen Alexanders III. und eine Eugens III. enthielt, als Beispiel 174 nenne 175 . [55/ 56] 170 Petistis iam dudum et hoc sepe, ut opus arduum et supra uires meas aggrederer, librum canonicum scilicet ex Romanorum pontificum decretis aliorumque sanctorum patrum autoritatibus atque diuersis conciliis autenticis utiliora sumens seriatim conponerem, ed. H E R M A N N H Ü F - F E R , Beiträge zur Geschichte der Quellen des Kirchenrechtes und des römischen Rechts im Mittelalter, Münster 1862, S. 75 (nach Paris, Bibl. Nat., Ms.lat. 3881); vgl. zu anderen Drucken des Prologs die auch zu weiteren Problemen grundlegende Studie von U W E H O R S T , Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von S. Crisogono. Quellen und Tendenzen (MGH Hilfsmittel 5), München 1980, S. 7 Anm. 23 und S. 14 Anm. 60. Horst datiert die Entstehung der Sammlung in die Zeit eher nach 1111 (S. 4-6). Zur Compostellaner »Schule« vgl. M A N U E L C . D Í A Z Y D Í A Z , Problemas de la cultura en los siglos XI-Xll: La escuela episcopal de Santiago, in: Compostellanum 16, 1971, S. 187-200. 171 Die Historia Compostellana nennt an einer Stelle den Besitz von 14 Büchern: II 57, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), S. 334, vgl. zur Identifizierung, u. a. der 74-Titel-Sammlung: A N T O N I O G A R C Í A Y G A R C Í A , Reforma gregoriana e idea de la „Militia sancti Petri“ en los reinos ibericos, in: Studi Gregoriani 13: La La Riforma Gregoriana e l’Europa. Congresso internazionale, Salerno 20-25 maggio 1985, [Rom 1989], S. 241-262, S. 248f.; D E R S ., Antiguos manuscritos jurídicos en Compostela, in: In iure veritas: Studies in Canon Law in Memory of Schafer Williams, hg. von S T E V E N B . B O W M A N und B L A N C H E E . C O D Y , Cincinnati, USA, 1991, S. 85-92. Vgl. zur Imitation Roms und zur Rezeption des römisch bestimmten Rechtes in Compostela H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 215f. 172 Vgl. W A L T H E R , Spanische und deutsche Kanonisten in Bologna und ihr Dialog über das Imperium (wie Anm. 157). 173 So allgemein S C H I M M E L P F E N N I G , Papsttum (wie Anm. 13), S. 186. 174 Vgl. A N T O N I O G A R C Í A Y G A R C Í A , Manuscritos jurídicos medievales de la Catedral de Sigüenza, in: Xenia medii aevi historiam illustrantia oblata Thomae Kaeppeli O. P. (Studia e Letteratura: Raccolta di Studi e Testi 141), Rom 1978, S. 27-50, hier S. 45f., vgl. D E R S ., Canonística Ibérica (wie Anm. 168), S. 47 Anm. 37 mit weiterer Literatur. 175 Zu späteren Sammlungen gehören die Collectiones Alcobacenses sowie weitere Texte, die die Kanonistik inzwischen zunehmend sichtet und auswertet. Die Collectio Romana des Bernhard von Compostela entstand zu Beginn des 13. Jh. (ca. 1206). Zu Personen wie Petrus Hispanus mit seinem Apparat zur „Compilatio prima antiqua“, Martin Arias <?page no="273"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 273 Das Recht ergänzte und überlagerte, löste aber Zahlungen nicht ab. Das „Do ut des“-Prinzip war schon anfangs weder ein simples Verhältnis zweier Kontrahenten noch von festen Werten geprägt: Die Höhe der Gaben bemaß sich vielleicht an der Gegenleistung und der augenblicklichen Konstellation - für bestimmte Privilegien mußte Diego beispielsweise nachbessern -, aber es gab keinen „Tarif“ 176 . Dennoch scheint die Bitte des katalanischen Bischofs Arnald von Urgell 1174 von Diegos Zahlungen verschieden. Er bat den Legaten Hyacinth, für ihn in Rom zu intervenieren, und er erklärte sich bereit, für eventuelle Ausgaben geradezustehen 177 . 1162 verkaufte man in Compostela Äcker, um die von Alexander III. entsandten Legaten mit 20 Silbermark bedenken zu können; der vergleichsweise geringe Betrag erklärt sich auch aus der Situation des um Obödienzen ringenden Alexander III. 178 . Jedoch wirkt dies - verglichen mit früheren Zeiten - wenig. Geld blieb auch nach dem Pontifikat Calixts II. wichtig 179 , aber die Summen und die Verfahrensweisen folgten nun anscheinend engeren, zumindest teilweise anderen Regeln. Trotzdem scheinen Begriffe wie „Korruption“ oder „Bestechlichkeit“ auch für diese Phase keinesfalls zutreffend. 2. Deutlich macht dies außerdem, daß weder zu Beginn noch zu Ende des 12. Jahrhunderts von einem festen System, sondern allenfalls von Tendenzen gesprochen werden kann: in einem stärker von Rechtsnormen geprägten Geflecht spielten neben Geld, konkurrierenden Ansprüchen und Rangfragen vor allem persönliche Beziehungen eine Rolle. Kardinäle, Legaten und weitere Vermittler scheinen schon zu Beginn des Jahrhunderts in das „Do ut des“-Prinzip von Zamora und weiteren, von denen allerdings auch viele in Italien blieben und nicht mehr auf die Iberische Halbinsel zurückkehrten, vgl. die Zusammenstellung bei G A R C Í A Y G A R C Í A , Canonística Ibérica (wie Anm. 168), S. 53-63; zu den freilich stärker im 13. Jahrhundert belegten Personen vgl. W A L T H E R , Spanische und deutsche Kanonisten in Bologna und ihr Dialog über das Imperium (wie Anm. 157) mit weiterer Literatur. 176 Hiermit meine ich nicht die spätestens seit Innozenz III. belegten üblichen Gebührensätze zur Ausfertigung einer Papsturkunde, vgl. hierzu schon H A R R Y B R E S S L A U , Handbuch der Urkundenlehre, 1. Band, 3. Aufl. Berlin 1958, S. 329f. 177 Vgl. K E H R , Papsturkunden in Spanien (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 459 Nr. 161. 178 Die Bereitschaft der Betroffenen, riesige Geldzahlungen aufzubringen, bestand offensichtlich nur dann, wenn auch Außergewöhnliches zu erwarten war. Der geringe Betrag ist deshalb meines Erachtens kein Zeichen für die Notlage Spaniens (wie S Ä B E K O W , Die päpstlichen Legationen nach Spanien [wie Anm. 41] S. 53, vermutete: „Notlage Spaniens, . . . wenn sogar der reiche Wallfahrtsort Santiago, zu dem König Ferdinand die Legaten schickte, kirchliche Liegenschaften veräußern mußte, um die Kurie zufriedenzustellen“), sondern er spricht eher dafür, daß ohne Gegenleistung und zumal für einen noch um Obödienzen ringenden Papst sich die Spendenbereitschaft in Grenzen hielt. - Zu diskutieren bleibt, ob Säbekow mit der Bezeichnung dieser Bezahlung als „Bestechlichkeit“ nicht von einem zu modernen Staatsbegriff ausgeht. 179 Vgl. zu Überlegungen, daß der Höhepunkt der Zahlungen seit Calixt II. überschritten war, oben Anm. 41-63. <?page no="274"?> 274 Geschichte der Iberischen Halbinsel einbezogen. Deshalb wurden sie 180 - zumindest von klugen Bittstellern - mit Geld bedacht, um die päpstliche Entscheidung zu fördern 181 . Das Ringen um Bundesgenossen oder um Fürsprecher, in Rom und anderswo, verdeutlichen die Briefe an die Päpste sowie die zahlreichen und häufigeren Romrei-[56/ 57]sen - Erzbischof Peculiaris von Braga war siebenmal in Rom 182 -, die noch systematischer gesichtet werden müßten. Diese Beobachtungen ordnen sich in neuere Forschungen über die Rolle von Vermittlern und Spielregeln in der mittelalterlichen Gesellschaft ein 183 , greifen auch Fragen über die retardierenden oder beschleunigenden Wirkungen konsensualer Herrschaft 184 oder der Inszenierung jeweiliger Machtansprüche - hier besonders auf päpstlich bestimmten Konzilien 185 - auf. Für die päpstliche Machtentfaltung ist in jüngerer Zeit mehrfach nicht nur aufgrund der spanischen Beispiele deutlich geworden, wie dieses Prinzip besonders seit dem Pontifikat Calixts II. an Gewicht gewann 186 . Die Durchsetzung von Obödienzen, die längere Zeiträume der Papstgeschichte des 12. Jahrhunderts mit ihren Schismen bestimmte, dürfte die Bedeutung von Mittlern weiter gesteigert haben 187 , von denen Legaten beson- 180 Die oben S. 33-35 genannten Summen gingen keinesfalls alle an den Papst, vielmehr waren u. a. Kardinäle, Vermittler aus Cluny sowie die direkten Petenten einbezogen. 181 Die Briefe und Bittschreiben an den Papst, die in den großen Forschungsprojekten zur Papstgeschichte leider bisher nicht systematisch erfaßt werden, sind aufschlußreich, will man die Bedeutung Roms und das päpstliche Urteil einschätzen. - Vgl. beispielsweise die Belege bei K E H R , Das Papsttum und der katalanische Prinzipat (wie Anm. 31) zu den katalanischen Kanonikern, die sich 1115 an die maiestatis vestre reverentia wenden (S. 86) oder Graf Raimund Berengar IV., der Hadrian IV. 1156 als den ehrwürdigen Herrn und Vater der christlichen Religion bezeichnet (S. 90). 182 E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 27ff. Vgl. hierzu künftig die Erlanger Dissertation von I N G O F L E I S C H (wie Anm. 168), der auch auf Zahlungen im Zusammenhang mit dem Verfahren von 1215 eingeht. 183 Vgl. außer zahlreichen Aufsätzen zusammenfassend G E R D A L T H O F F , Spielregeln der Politik im Mittelalter: Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. 184 B E R N D S C H N E I D M Ü L L E R , Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit: Festschrift für Peter Moraw, hg. von P A U L - J O A C H I M H E I N I G u. a. (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53-87, der Chancen und Probleme konsensualer Staatlichkeit seit dem hohen Mittelalter - allerdings eher mit Blick auf Mitteleuropa - würdigt. 185 Für die hier in den Blick genommene Thematik wäre am ehesten auf das Konzil von Valladolid 1155 (vgl. die kurze Paraphrase zur Inszenierung bei E R D M A N N , Papsttum und Portugal [wie Anm. 26], S. 39) oder die Verhandlungen auf dem Laterankonzil 1215 zu verweisen, vgl. oben S. 38-40. Allgemein zur Bedeutung von Inszenierung und Mündlichkeit auf Konzilien L A U D A G E , Ritual und Recht (wie Anm. 82). 186 L A U D A G E , Rom und das Papsttum (wie Anm. 41), S. 42-53. 187 Zu den Schismen vgl. S C H M A L E , Studien zum Schisma (wie Anm. 91); S T R O L L , The Jewish Pope (wie Anm. 41); L A U D A G E , Alexander III. und Friedrich Barbarossa (wie Anm. 14). Zu vergleichen sind für diese Zeiten auch die Ergebnisse bezüglich der Legatentätigkeit vgl. hierzu W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17). <?page no="275"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 275 ders wichtig waren 188 . Hinzu treten Rechtsgelehrte 189 , Reisende und Pilger 190 , aber auch weitere, hier kaum genannte Personengruppen, die vermitteln konnten. Dies gilt nicht nur für Personen, die von Rom auf die Iberische Halbinsel kamen, sondern auch umgekehrt für Spanier in Rom. Warum hebt der bekannte Benjamin von Tudela bei seiner Beschreibung Roms die jüdischen Berater und Beamten des Papstes Alexander III., darunter dessen Palast- und Besitzverwalter, hervor 191 ? Lagen hier [57/ 58] für die in diesem Beitrag kaum thematisierten Personengruppen jeweils besondere Kontaktmöglichkeiten vor 192 ? Die Beobachtungen von Werner Maleczek, wie schwer für das Kardinalskolleg des 12. Jahrhunderts das System von den Personen zu trennen sei 193 , gelten mithin auch auf einer allgemeineren Ebene. Trotz zunehmender Formalisierung blieb das persönliche Format der Bittsteller oder Vermittler oft entscheidend. 188 Vgl. außer dem Beitrag von C L A U D I A Z E Y in diesem Band [C L A U D I A Z E Y , Zum päpstlichen Legatenwesen im 12. Jahrhundert: Der Einfluß von eigener Legationspraxis auf die Legatenpolitik der Päpste am Beispiel Paschalis’ II., Lucius’ II. und Hadrians IV, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6) Stuttgart 2002, S. 243-262] zu den Urkunden W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17). 189 Vgl. vor allem Anm. 172-175. 190 Vgl. die Urkunde Calixts II., der mit einem Brief vom 5. Juli 1121 Erzbischof Diego von Compostela einen Pilger empfiehlt: JL 6920, Historia Compostellana, ed. F A L Q U E R E Y (wie Anm. 24), II 44, S. 297. Vgl. zu den Boten, die in Pilgerkleidung durch feindliches Gebiet reisten, oben S. 33. Allgemein zum Kulturaustausch durch Pilger und der Frage von Pilgerwegen K L A U S H E R B E R S , La génesis del camino de Santiago, in: Año mil, año dos mil. Dos milenios en la Historia de España, Madrid 2001, S. 43-61 mit der Sichtung bisheriger Literatur. 191 Benjamin von Tudela/ Petrachja von Regensburg, Jüdische Reisen im Mittelalter, aus dem Hebräischen, deutsch von S T E F A N S C H R E I N E R (Sammlung Dieterich 416), Leipzig 1991 (vgl. dort S. 166 zur 1907 erschienenen maßgeblichen Edition von Marcus Nathan Adler). Die Benjamin-Passage hier S. 14: „Von dort [sc. Lucca] dauert die Reise sechs Tage bis zur Stadt Rom [. . . ]. Dort leben etwa zweihundert angesehene Juden. Steuern zahlen sie niemandem. Einige von ihnen sind Beamte des Papstes Alexander, des Oberhauptes der gesamten Christenheit. Unter ihnen sind große Gelehrte, an ihrer Spitze der Oberrabbiner Rabbi Dani’el und Rabbi Jechi’el, ein Beamter des Papstes, ein wendiger, verständiger und kluger junger Mann. Er geht im Palast des Papstes ein und aus, denn er ist sein Palast- und Besitzverwalter. Dieser Rabbi Jechi’el ist der Enkel Rabbi Nathans, der den Aruch und seine Kommentare verfaßt hat. . . “. Der im Text genannt Großvater ist bekannt: Nathan ben Jechi’el († 1106), der mit seinem Aruch, einem mehrbändigen Wörterbuch zum Talmud, der jüdischen Welt geläufig war. Zumindest erstaunt dieser Hinweis, nachdem doch gerade im Schisma von Innozenz II. und Anaklet II., dem angeblich jüdischen Papst, die Diskussion um jüdische Einflüsse wieder angefacht war. 192 Der Rolle der Juden auf der Iberischen Halbinsel wird traditionell großes Gewicht eingeräumt, in der Regel jedoch weniger im Hinblick auf das Papsttum. Allgemein zu den Juden vgl. J U L I O V A L D E Ó N B A R U Q U E , in: España y el Sacro Imperio (wie Anm. 23) [ J U L I O V A L D É O N B A R U Q U E , La España judía y el Imperio, in: España y el „Sacro Imperio“ (wie Anm. 23), S. 33-41]. Zur Situation in Rom und zur Polemik vgl. S T R O L L , The Jewish Pope (wie Anm. 41), S. 158-168. 193 M A L E C Z E K , Kardinalskolleg (wie Anm. 5), S. 207f. <?page no="276"?> 276 Geschichte der Iberischen Halbinsel Dies zeigt das Beispiel der Legaten: Nach den jüngsten Forschungen von Stefan Weiß steht die Iberische Halbinsel mit der Zahl der Legatenurkunden an zweiter Stelle nach Frankreich 194 . Ausgesprochen viele dieser Urkunden stammen aber von dem mehrfach genannten päpstlichen Legaten Hyacinth, der 1154- 1155 und 1171-1174 auf der Iberischen Halbinsel anwesend war 195 . In dieser Zeit schlichtete er unter anderem Bistumsstreitigkeiten, predigte den Kreuzzug, förderte den Santiago-Ritterorden und sprach sogar auctoritate domini Pape den galicischen Rodesindus heilig 196 . Zugespitzt: Er förderte das neue System der Beziehungen an verschiedenen Orten und in unterschiedlicher Weise - aber vor allem seine Persönlichkeit erlaubte diese Förderung des Systems. 3. Damit ist die Frage von „Rhetorik und Umsetzung“ angesprochen: Dort, wo über Appelle hinaus päpstliche Politik aktiv umgesetzt werden konnte, hing dies maßgeblich davon ab, wer vermittelte, wer das Feld bereitete, welcher Legat betraut wurde 197 . Dies galt in vielen Phasen der verschiedensten Rangstreitigkeiten, dies galt bei den Interventionen Nikolaus Breakspears zugunsten von Saint-Ruf, dies galt für verschiedene Aktivitäten Hyacinths/ Coelestins, des „Fachmanns für Spanien“, der zugleich mit dem Santiago-Orden eine zukunftsweisende semireligiose Ge-[58/ 59]meinschaft förderte. Reichte kompetente und geschickte vermittelnde Tätigkeit aber aus? Vermittler päpstlicher Politik waren erfolgreich, wenn lokale Machthaber mit diesen Vorstellungen harmonierten oder für sie gewonnen wurden. Dies gelang nicht immer, und Legaten wurden nicht überall mit Geld verwöhnt oder mit offenen Armen empfangen. Auch Hyacinth hatte seine Mißerfolge: Alfons I. von Portugal soll ihm sogar den Garaus gemacht haben, indem er damit drohte, ihm den Fuß abzuschnei- 194 W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 337f., der die Aufgabe der Legaten vor allem als „Friedensstifter“ und „Vermittler“ hervorhebt. 195 Vgl. die ca. 50 aufgelisteten Urkunden bei W E I S S , Urkunden der päpstlichen Legaten (wie Anm. 17), S. 173-190; ebenda S. 190: „Mit den beiden Spanienlegationen Hyacinths erreichte das Urkundenwesen der päpstlichen Legaten den höchsten Stand seiner Entwicklung innerhalb des Untersuchungszeitraums“. 196 Die beiden Schriftstücke zur Heiligsprechung des hl. Rosendus von Celanova, die García y García vor dreißig Jahren in New York entdeckt hat, sind deshalb aufschlußreich, weil Coelestin III. später seine frühere Entscheidung als Legat mit päpstlicher Autorität eigens bekräftigte, vgl. A N T O N I O G A R C Í A Y G A R C Í A , À propos de la canonisation des saints au XII e siècle, in: Revue de droit canonique 18, 1968, S. 3-14. - Es ist hier nicht darauf einzugehen, was dies für das päpstliche Kanonisationsverfahren bedeuten könnte; jedenfalls atmet die Urkunde durchaus den Geist eines selbstbewußten Legaten; zur Sache bereite ich einen eigenen Beitrag vor [K L A U S H E R B E R S , Le dossier de saint Rosendus de Celanova. Structure, évolution, réécriture et influence papale, in: Miracles, vies et réécritures dans l’Occident médiéval, hg. v. M O N I Q U E G O U L L E T und M A R T I N H E I N Z E L M A N N (Beiheifte der Francia 65), Ostfildern 2006, S. 103-120.]. 197 Vgl. hierzu im vorliegenden Band den Beitrag von C L A U D I A Z E Y [C L A U D I A Z E Y , Zum päpstlichen Legatenwesen im 12. Jahrhundert: Der Einfluß von eigener Legationspraxis auf die Legatenpolitik der Päpste am Beispiel Paschalis’ II., Lucius’ II. und Hadrians IV, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6), Stuttgart 2002, S. 243-262]. <?page no="277"?> Das Papsttum und die Iberische Halbinsel 277 den 198 . Diese bei Roger von Hoveden überlieferte Geschichte überzeichnet woh 199 , verweist aber auf bestehende Konfliktpotentiale. Nicht alle päpstlichen Vorstellungen konnten somit umgesetzt werden, aber dennoch gab es Präferenzen, wie die Quellen zuweilen erkennen lassen 200 . Die in den päpstlichen Texten mitschwingenden politischen Grundvorstellungen blieben deshalb öfter Rhetorik als oft vorausgesetzt. Dies bedeutet nicht, daß manche schon seit Beginn des Jahrhunderts immer wieder verwendete politisch-theologische Denkfigur - wie der stets gesuchte Zusammenhang von Kreuzzug und Reconquista - nicht an einzelnen Stellen langfristig prägend wurde: Die Ordenshistoriographie des Santiago-Ordens im 15. Jahrhundert könnte dies belegen 201 . Gleichzeitig aber wurden die Voraussetzungen für die Umsetzung aufgrund der verschiedenen Faktoren, die zumindest eine Entwicklung erkennen lassen, günstiger. Dabei wäre auch zwischen den verschiedenen Reichen und Räumen der Iberischen Halbinsel noch einmal deutlich zu unterscheiden. Ich habe mich vor allem im Weglassen geübt: Fragen nach dem Verhältnis von päpstlichem Interpretationsrahmen und geschichtstheologischer Deutung zeitgenössischer Ereignisse blieben ebenso ausgespart wie die zahlreichen weiteren Möglichkeiten, außerhalb von Urkunden und Briefen römische Einflüsse zu sichten, oder systematisch danach zu fragen, wie sich im Laufe des Jahrhunderts Änderungen der gegenseitigen Wahrnehmung beobachten lassen. Fragen nach zentrifugalen Kräften, die päpstliche Schutzversprechungen de facto unterstützten 202 , Möglichkeiten der Beziehungen durch Kult und Hagiographie 203 blieben ausgeblendet. [59/ 60] 198 Roger de Hoveden, Chronica, ed. W I L L I A M S T U B B S (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 51), Bd. 2, London 1869, S. 333 zu 1187; Anlaß war hier die geplante Absetzung des Bischofs von Coimbra: Cumque vellet degradare episcopum Colimbriae, Aldefonsus rex Portugalensis non permisit episcopum illum degradari. Sed incontinenti mandavit supradicto cardinali ut a terra sua decederet, vel pedem suum amputaret. 199 Zur Unglaubwürdigkeit vgl. schon E R D M A N N , Papsttum und Portugal (wie Anm. 26), S. 47. 200 Dies gilt z. B. für den Santiago-Orden, vgl. oben S. 47f. mit Anm. 127. 201 Vgl. hierzu D E R E K W. L O M A X , The Medieval Predecessors of Rades y Andrada, in: Iberoromania NF Nr. 23, 1986, S. 81-90, S. 85f.; H E R B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), S. 247 und D E R S ., Mentalidad y milagro. Protagonistas, autores y lectores, in: Compostellanum 40, 1995 (erschienen 1996), S. 321-338, hier S. 335-337. 202 Neben weiteren übergangenen Problemen gehört dazu, wie die Rhetorik von der Einheit der Hispania sich damit vertrug, daß außer für Kastilien-León päpstlicher Schutz allen anderen iberischen Reichen auf Bitten gewährt und damit zentrifugale Kräfte gestärkt wurden. 203 Vgl. in jüngerer Zeit zum Jakobuskult unter Einbeziehung päpstlicher Interessen H E R - B E R S , Politik und Heiligenverehrung (wie Anm. 11), zu Rosendus vgl. oben Anm. 196, zu weiteren hagiographischen Fragen auf der Iberischen Halbinsel oben Anm. 24 (zu Tarragona) und Arbeiten von P A T R I C K H E N R I E T , vgl. unter anderem dessen Studie: Un exemple de religiosité politique. Saint Isidore et les rois de León (XI e -XII e siècles), in: Fonctions sociales et politiques du culte des saints dans les sociétés de rite grec et latin au Moyen Âge et à l’époque moderne. Approche comparative, hg. von M A R E K D E R W I C H l <?page no="278"?> 278 Geschichte der Iberischen Halbinsel Ich tröste mich damit, daß viele der Themen, die eigentlich zum Wechselverhältnis „Papsttum und Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert“ gehören, schon im ausgehenden 11. Jahrhundert unter Papst Urban II. ansatzweise angeschlagen wurden 204 : Fragen einheitlichen Handelns gegen Muslime, Bistumsgrenzen und Toledaner Vorrang, Förderung der neuen Orden und der Kanonikerbewegung. Und es ist vielleicht aufschlußreich, daß die eingangs zitierte Satire des Garsia für lange Zeit die vielleicht einzige hispanische Stimme im breiten Reigen mittelalterlicher Rom- und Papstkritik blieb, danach jedoch das Terrain von Autoren aus England und dem Imperium besetzt wurde 205 . Kritik und Satire begleiteten mithin einen Prozeß von Institutionalisierung und Professionalisierung der römischen Kurie und bringen einige Tendenzen der Zeit, vielleicht wie in einem Zerrspiegel, auf den Punkt. Mit ihrer kritischen Anklage repräsentiert sie vielleicht die Stimme einer unterlegenen Partei. Die Ironisierung, warum sich hier die Tür direkt öffnet, wie leicht der Ehrenplatz zu erhalten ist, reflektiert unter anderem, wie schwer und kompliziert der Weg zumeist war. und M I C H E L D M I T R I E V , Breslau 1999, S. 77-95. Eine Magisterarbeit zum Vinzenzkult in Portugal von S O F I A S E E G E R ist in Erlangen inzwischen abgeschlossen. 204 Vgl. auch unten in diesem Band die Überlegungen von A L F O N S B E C K E R , Das 12. Jahrhundert als Epoche der Papstgeschichte [A L F O N S B E C K E R , Das 12. Jahrhundert als Epoche der Papstgeschichte, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, hg. von E R N S T - D I E T E R H E H L , I N G R I D H E I K E R I N G E L , H U B E R T U S S E I B E R T (Mittelalter-Forschungen 6), Stuttgart 2002, S. 292-323]. 205 M A L E C Z E K , Kardinalskolleg (wie Anm. 5), S. 251-270. <?page no="279"?> IV Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit <?page no="281"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. mit Erzbischof Johannes VII. von Ravenna, 860-861 Zu den Zielen eines Regestenwerkes gehört es seit jeher, den chronologischen Ablauf der einschlägigen Ereignisse so präzise wie möglich zu dokumentieren, bietet doch erst die Chronologie eine Grundlage für weitere historische Arbeit. Das Problem zeitlicher Einordnung stellt sich nicht nur bei undatierten Urkunden und Briefen bzw. Registerfragmenten, sondern auch bei den sogenannten „historiographischen Regesten“. Hier wird die Datierung sogar oft noch zusätzlich dadurch erschwert, daß aus mehreren, eventuell widersprüchlichen Quellenzeugnissen ein Regest gefertigt werden muß. An einem kleinen Beispiel aus dem Jahr 861 soll das Bemühen um chronologische und quellenkritische Präzision exemplarisch verdeutlicht werden. Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. (858-867) mit Erzbischof Johannes VII. von Ravenna (850-878) in den Jahren 860-861 wird zumeist als das erste Ereignis gekennzeichnet, bei dem sich die kirchenpolitischen Anschauungen des 858 erhobenen Papstes deutlich erkennen lassen. Zwar gehören diese Auseinandersetzungen in einen schon früher einsetzenden und weiter andauernden Prozeß 1 ; sie gewannen jedoch unter [51/ 52] Nikolaus I. erneut an Aktualität, als der Ravennater Erzbischof Johannes VII. die Unabhängigkeit und Erweiterung seines Machtbereiches energisch betrieb 2 . Allerdings erhielt der Streit Erschienen in: Diplomatische und chronologische Studien aus der Arbeit an den Regesta Imperii (Beihefte zu Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii 8), hg. v. Paul-Joachim H E I N I G , © Böhlau Verlag, Köln/ Wien 1991, 51-66. 1 So spricht H. Z I M M E R M A N N , Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie, Stuttgart 1981, S. 84 von dem „alten Streit zwischen Rom und Ravenna, in den auch der Kaiser hereingezogen wurde“. Als überblicksartiger Längsschnitt ist immer noch G. B U Z Z I , Ricerche per la storia di Ravenna e di Roma dall’850-1118, in: Archivio della società Romana di storia patria 38 (1915), S. 107-214 heranzuziehen. Nur knappe Notizen bei A. S I M O N I N I , Autocefalia ed esarcato in Italia, Ravenna o. J. [1969], S. 176 und G. F A S O L I , Il dominio territoriale degli arcivescovi di Ravenna fra l’VIII e l’XI secolo, in: I poteri temporali dei vescovi in Italia e in Germania nel medioevo, Bologna 1979, S. 87-140, hier S. 104. Zu den Anfängen päpstlicher Herrschaft im Exarchat vgl. O. B E R T O L I N I , Gli inizi del governo temporale dei papi sull’esarcato di Ravenna, in: Archivio della società Romana di storia patria 89 (1966), S. 25-35. Die fünfbändige „Storia di Ravenna“, von der der zweite Band (hg. von A. C A R I L E ) unsere Zeit betrifft, ist im Druck [Storia di Ravenna, 2: Dall’età bizantina all’età ottoniana, 2 Teile, Venedig 1991-1992]. - Für Kritik und Hilfe danke ich Herrn K. Görich, Tübingen. 2 Vgl. E. P E R E L S , Papst Nikolaus I. und Anastasius Bibliothecarius. Ein Beitrag zur Geschichte des Papsttums im neunten Jahrhundert, Berlin 1920, S. 45 f. Der Anfang des Konfliktes dieses Erzbischofs mit Rom ist unter Papst Leo IV. erstmals faßbar, vgl. JE 2627 und 2628, ed. A. V O N H I R S C H - G E R E U T H , Berlin 1899 Nachdr. 1978 (= MGH Epp. V), <?page no="282"?> 282 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit wohl auch durch die Amtsauffassung Nikolaus’ I. seinen besonderen Akzent; so hob W. Ullmann hervor, der Papst habe die „petrinische Theorie“ angewandt und die „kirchliche Disziplin“ zur Geltung gebracht 3 . Ähnlich urteilen auch Franzen und Bäumer, die hier einen der zahlreichen Kämpfe sehen, die Nikolaus führte, um die „universale Jurisdiktion“ durchzusetzen 4 . Über die einzelnen Etappen dieser Auseinandersetzung berichtet die Nikolausvita des Liber pontificalis am ausführlichsten 5 . Sie sind in ihrer Abfolge mehrfach referiert worden 6 und veranlaßten schon den Editor Duchesne zu folgender Bemerkung: „Entre le concile où l’archevêque de Ravenne fut condamné par contumace et le mois de novembre 861 se [52/ 53] placent beaucoup d’allées et venues du pape luimême, de l’archevêque et des légats impériaux . . . “ 7 . Bisher wurde jedoch darauf verzichtet, die Ereignisse des Jahres 861 chronologisch genauer zu fixieren 8 . Seitdem H. Fuhrmann ein wichtiges Datum im Konflikt zeitlich festlegen konnte 9 ist jedoch ein Versuch auf soliderer Grund- S. 588 f., vgl. It. Pont. V 39 n. 100 und 90 n. 21. Die früheren Papstschreiben bezüglich des Erzbistums in It. Pont. V S. 20-39, n. † *1-100. 3 W. U L L M A N N , Kurze Geschichte des Papsttums im Mittelalter, Berlin/ New York 1978, S. 94 f. 4 A. F R A N Z E N / R. B Ä U M E R , Papstgeschichte. Das Petrusamt in seiner Idee und seiner geschichtlichen Verwirklichung in der Kirche, Freiburg 2 1978, S. 128 f. (dort ist irrig von einer Synode in Ravenna die Rede). F. X. S E P P E L T , Geschichte der Päpste, Band 2, München 1955, S. 249-251 betont vor allem die Durchsetzung päpstlicher Obergewalt in der Auseinandersetzung mit den Metropoliten. 5 Ed. L. D U C H E S N E , Le Liber pontificalis, Band 2, Paris 1892, Nachdr. 1981, S. 151-167, hier S. 155-158. 6 Vgl. z. B. die Abschnitte der in Anm. 1-4 zitierten Literatur; die beiden jüngsten Darstellungen bei R. J. B E L L E T Z K I E , Pope Nicholas I and John of Ravenna. The Struggle for Ecclesiastical Rights in the Ninth Century, in: Church History 49 (1980) S. 262-272 sowie J. C. B I S H O P , Pope Nicholas I and the First Age of Papal Independence, Univ. Ph.D. Columbia 1980, S. 307-318; knapper I. H E I D R I C H , Ravenna unter Erzbischof Wibert (1073- 1100). Untersuchungen zur Stellung des Erzbischofs und Gegenpapstes Clemens III. in seiner Metropole, Sigmaringen 1984 (= Vorträge und Forschungen, Sonderband 32) S. 29 (alle Abhandlungen mit weiterer Literatur); zur (relativen) Chronologie vgl. D U C H E S - N E , Liber S. 17 und Ital. pont. V S. 39-41 n. *100-108 sowie Anm. 8 und 9. - In der Regel erhält Johannes die Ordnungszahl X. (so auch P. B. G A M S , Series episcoporum, Regensburg 1873, S. 717); bei P E R E L S , Nikolaus; S I M O N I N I , Autocefalia und B I S H O P wird er als VIII. der Ravennater Johannes-Bischöfe gezählt. Neuerdings hat allerdings J.-Ch. P I C A R D , Le souvenir des évêques. Sépultures, listes épiscopales et culte des évêques en Italie du Nord des origines au X e siècle, Rom 1988 (= Bibliothèque des Ecoles Françaises d’Athènes et Rome 268), S. 493-95 und 749 die Fehlzählung erläutert und nachgewiesen, daß VII. die richtige Ordnungszahl ist. 7 D U C H E S N E , Liber, S. 168 Anm. 22. 8 K E H R , in: It. Pont. V S. 39-41 n. *101-108 datiert lediglich die beiden Konzilien (n. 103 und *107/ 108) genauer; jedoch n.*104-*106 nur allgemein auf 861. Zu n. 103 vgl. die folgende Anm. 9 H. F U H R M A N N , Nikolaus I. und die Absetzung des Erzbischofs Johann von Ravenna, in: ZRG GA 44 (1958), S. 353-358 datiert It. Pont. V S. 40 n. 103 (dieses Konzil wird in <?page no="283"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 283 lage möglich. Bei dem Bemühen um chronologische Präzisierung ergeben sich auch neue Einsichten zur Beurteilung der Vita Nicolai sowie des Verhältnisses von Nikolaus I., Erzbischof Johannes VII. von Ravenna und Kaiser Ludwig II. (850-875). Zunächst sei der Ablauf der Ereignisse kurz skizziert 10 : Wie aus dem Liber pontificalis und den Vorwürfen und Beschlüssen des späteren Konzils deutlich wird, hatte sich der Ravennater Erzbischof schon einige Zeit lang geistliche und weltliche Rechte angemaßt, die eigentlich dem Papst oder anderen Amtsträgern vorbehalten waren, und damit auch den Unmut vieler Bewohner Ravennas und der Emilia bewirkt. Auf die Beschwerden vieler Ravennater hin ermahnte Papst Nikolaus I. den Erzbischof Johannes VII. von Ravenna mehrfach, Rechtsüberschreitungen zu unterlassen. Schließlich lud er ihn dreimal brieflich zu einem Konzil, das am 24. Februar 861 in Rom zusammentrat und neben anderen Beschlüssen die Exkommunikation über den abwesenden Erzbischof verhängte. Daraufhin erwirkte Johannes die Unterstützung des Kaisers Ludwig II. in Pavia und zog mit dessen Boten nach Rom, die aber keinen Sinneswandel des Papstes herbeiführen konnten. Eine erneute Ladung des Papstes zu einem Konzil im November beachtete Johannes nicht und scheint sogar seine bisherige Politik weiter fortgesetzt zu haben. Daraufhin wurden die vom „Volk“ begleiteten ravennatischen Senatoren in Rom vorstellig, berichteten über „Missetaten“ des Erzbischofs in Ravenna und baten den Papst, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ihrem Wunsch entsprechend reiste Nikolaus I. nach Ravenna. Erzbischof Johannes verließ [53/ 54] erneut die Stadt und wandte sich in Pavia zum zweiten Mal an den Kaiser, wurde als Exkommunizierter dort jedoch deutlich zurückhaltender empfangen. Gleichwohl erreichte er nochmals, daß kaiserliche Boten ihn nach Rom begleiteten, deren Fürsprache allerdings wiederum keinen Erfolg zeitigte. Nikolaus I. verlangte vom Erzbischof Genugtuung und lud ihn vor ein zusammengetretenes Konzil, das an drei Tagen (16.-18. November 861) über die Ravennater Probleme verhandelte. In der domus Leoniana legte Erzbischof Johannes ein Treuegelöbnis ab; am nächsten Tag wurde er dann in der Lateranbasilika zur Kommunion wieder zugelassen und erhielt die Erlaubnis zur Meßfeier. Am dritten Verhandlungstag faßte das Konzil Beschlüsse, welche die geistlichen und weltlichen Rechte und Pflichten des Erzbischofs in der Emilia und Ravenna betrafen und deutlich die römische Oberhoheit widerspiegeln. Ein Teil dieser Bestimmungen wurde auch in einen Brief an die Bischöfe der Emilia geschrieben 11 . der älteren Literatur oft noch dem Jahr 862 zugeordnet) auf den 24. Februar 861. Zu den Konzilien vgl. W. H A R T M A N N , Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und Italien, Paderborn u. a. 1989 (= Konziliengeschichte, Reihe A), S. 293-296. 10 Hier nach der Vita Nicolai im Liber pontificalis, D U C H E S N E , Liber, S. 155-157. 11 Die Nachrichten des Liber pontificalis sind (soweit der Papst betroffen ist) in It. Pont. V S. 39-41 n. *101-108 verarbeitet, der auf den November 861 datierte Brief ebenda S. 9 n. 36 (= S. 163 n. 2 und 301 n. 2), ed. E. P E R E L S , Berlin 1902-1925, Nachdr. 1978 (= MGH Epp. VI), S. 614-617. <?page no="284"?> 284 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Der Personenkonstellation von Papst, Ravennater Erzbischof und Kaiser entsprechen die Orte der Handlung: Rom, Ravenna und Pavia. Die Reisen der verschiedenen Personen, insbesondere des beschuldigten Erzbischofs in der Zeit zwischen den beiden datierten Konzilien vom 24. Februar und dem 16.-18. November 861 12 , sind folgendermaßen aneinanderzureihen: 1. Rom nach Ravenna (Benachrichtigung über die Exkommunikation auf einem Konzil am 24. Februar) (ca. 380 km) 13 2. Ravenna nach Pavia (Erzbischof Johannes VII.) (ca. 300 km) 3. Pavia nach Rom (Erzbischof Johannes VII. in Begleitung kaiserlicher Boten) (ca. 640 km) 14 [54/ 55] 4. Rom nach Ravenna (Erzbischof Johannes VII.) (ca. 380 km) 5. Ravenna nach Rom (Einwohner von Ravenna und Umgebung zur Beschwerde) (ca. 380 km) 6. Rom nach Ravenna (Papst Nikolaus I.) (ca. 380 km) 7. Ravenna nach Pavia (Erzbischof Johannes VII. auf der Flucht vor Papst Nikolaus I.) (ca. 380 km) 8. (a) Ravenna nach Rom (Papst Nikolaus I.) (ca. 380 km) und (b) Pavia nach Rom (Johannes VII. mit kaiserlichen Missi; anschließend Konzil vom 16.-18. November) (ca. 640 km) 15 . Zu einer genaueren Datierung der Ereignisse bietet sich an, die Marsch- und Reisegeschwindigkeit im Mittelalter zu berücksichtigen 16 . Die bisherigen systematischen Studien zeigen, daß die Marschgeschwindigkeit im Mittelalter durchaus großen Schwankungen unterlag. Sie mag bei Eilboten bis zu 70 km, in Einzelfällen und bei günstigem Gelände sogar bis zu 90 km, am Tage betragen 12 Vgl. zu diesen festliegenden chronologischen Bezugspunkten Anm. 9 sowie It. Pont. V S. 40 f. n. 107 und 108. Dabei ist n. 107 auf die beiden Tage 16. und 17. November aufzuteilen. 13 Die km-Angaben sind ungefähr und gehen von den heutigen Landstraßen aus, berücksichtigen jedoch - soweit bekannt - mittelalterliche Straßen. Vgl. K. S C H R O D , Reichsstraßen und Reichsverwaltung im Königreich Italien (754-1197), Stuttgart 1931 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 25). 14 Wahrscheinlich über die Via Francigena, vgl. zu dieser Straße W. G O E Z , Von Pavia nach Rom, Köln 5 1985. 15 Möglicherweise war die Beschwerde der Ravennater Bürger mit den Reisen des Erzbischofs Johannes VII. von Ravenna verschränkt. 16 Klassisch hierzu ist immer noch F. L U D W I G , Untersuchungen über die Reise- und Marschgeschwindigkeit im XII. und XIII. Jahrhundert, Berlin 1897, mit Bericht über ältere Forschungen (S. 1-6); vgl. ferner E. M Ü L L E R - M E R T E N S , Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen, Berlin 1980 (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 25), S. 113-121 sowie allgemein N. O H L E R , Reisen im Mittelalter, München 1986, S. 138-144 und die in den folgenden Anmerkungen zitierte Literatur. <?page no="285"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 285 haben 17 . Jedoch sind der Zustand der Straßen, die natürlichen Hindernisse, Gesamtdauer und Zweck der Reise, die Jahreszeit, die Ausstattung der Reisenden sowie weitere Faktoren stets zu berücksichtigen. Nur die Auswertung eines umfassenden Quellenmaterials kann halbwegs verläßliche allgemeine Näherungswerte erbringen; bisher war vor allem das Hochmittelalter im Blickfeld der Forschung 18 . Beispiele für die zitierten Höchstleistungen von etwa 90 km täglich lassen sich auch für das 9. Jahrhundert belegen, wie aus einem Brief Papst [55/ 56] Johannes’ VIII. hervorgeht. Aus Frankreich, vom Konzil in Troyes zurückgekehrt, lud der Papst am 24. November 878 von Turin aus die Bischöfe von Parma, Piacenza, Reggio und Modena zu einer Synode nach Pavia am 2. Dezember 19 . Die Zeit war knapp und der Papst konnte nicht jedem der Bischöfe eine gesonderte Einladung zugehen lassen. Deshalb ließ er in den Brief hineinschreiben: Et qui primo hanc epistolam legerit, alio sub omni festinatione transmittat 20 . Berücksichtigt man die weiteste Entfernung bis nach Modena, so ergeben sich für Hin- und Rückweg etwa 600 km (nach heutigen Straßenkilometern), die in maximal neun Tagen zu bewältigen waren. Hieraus läßt sich ein Schnitt von 70 bis 80 km pro Tag errechnen; die Höchstleistung an einzelnen Tagen dürfte mit ziemlicher Sicherheit 90 km oder sogar mehr betragen haben. Bei diesem Beispiel wird jedoch deutlich - ähnlich wie in einzelnen von Ludwig, Elze und Reinke zitierten Fällen aus dem Hochmittelalter -, daß solche Leistungen wohl nur in Ausnahmefällen unter extremem Zeitdruck und nur für eine geringe Folge von Tagen möglich waren. Zudem dürfen wir in der norditalienischen Po-Ebene günstige Straßenverhältnisse voraussetzen. Deshalb konnte wohl auch schon Papst Zacharias mit seinem Gefolge dort vergleichsweise hohe Tagesleistungen erreichen 21 . Will man nicht nur Höchstleistungen, sondern die übliche Reisezeit ermitteln, so läßt sich aus dem 9. Jahrhundert ein weiteres instruktives Beispiel anführen. Im Jahr 844 erhielt Abt Markward von Prüm in Rom die Reliqui- 17 Vgl. R. E L Z E , Über die Leistungsfähigkeit von Gesandtschaften und Boten im 11. Jahrhundert, in: Histoire comparée de l’administration (IV e -XVIII e siècles), hg. von W. P A - R AV I C I N I / K. F. W E R N E R , München 1980, S. 3-10 (Nachdr.: D E R S . , Päpste - Kaiser - Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik, London 1982, Nr. XIV). 18 Vgl. die zitierten Werke von L U D W I G , Marschgeschwindigkeit, besonders S. 179-184 sowie 190-193 (der allerdings die Entfernungen in Luftlinie angibt) und E L Z E , Leistungsfähigkeit, S. 6 f. (mit stärkerer Berücksichtigung der Rahmenbedingungen). Vgl. jetzt auch zur Reisegeschwindigkeit des Königshofes M. R E I N K E , Die Reisegeschwindigkeit des deutschen Königshofes im 11. und 12. Jahrhundert nördlich der Alpen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 123 (1987), S. 225-251 mit Referat bisheriger Forschungen (S. 228-230) und Berücksichtigung der verschiedensten Faktoren. 19 JE 3202, ed. E. C A S P A R , Berlin 1912-1928, Nachdr. 1978 (= MGH Epp. VII), S. 125 Nr. 147. 20 Ebenda. Wenn auch das Konzil letztlich nicht stattfand, so dürfte der Text jedoch keinen Zweifel daran lassen, daß man sich der Möglichkeiten bewußt war, in der knappen Zeit notfalls alle Geladenen in Pavia zu versammeln. 21 An sieben Tagen reiste er von Ravenna nach Pavia, also gut 40 km am Tag, vgl. Duchesne, Liber I S. 430 und JE I S. 264, Vgl. zu dieser Strecke auch unten S. 58. <?page no="286"?> 286 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit en der hl. Chrysantus und Daria sowie der „46 Heiligen“, die in feierlicher Translation nach Prüm überführt wurden. Für die etwa 1600 km lange Strecke von Rom bis nach St. Goar brauchte der Zug fünfzig Tage 22 , woraus sich ein Tagesdurchschnitt von 32 km ergibt 23 . In der [56/ 57] Regel dürfte folglich die durchschnittliche Geschwindigkeit - zumal wenn man länger und mit größerem Gefolge reiste - 20-35 km nicht überschritten haben 24 . Für die genauere Datierung der Ereignisse im Ravennater Streit ist es erforderlich, auch die mögliche Verweildauer an den Orten sowie etwaige „Ruhepausen“ in Rechnung zu stellen und nach Hinweisen im Quellentext der Nikolausvita zu suchen, um die Ereignisse in die Nähe des ersten oder zweiten der chronologisch festliegenden Konzilien rücken zu können. Außerdem dürfte aufgrund der geographischen Gegebenheiten der Weg von Ravenna nach Pavia leichter und schneller als die Strecken von Rom nach Ravenna oder von Pavia nach Rom zu bewältigen gewesen sein. Die angegebenen Daten können deshalb bei diesen „Variablen“ nur Näherungswerte sein. Erzbischof Johannes VII. von Ravenna muß seine zweite Reise von Pavia nach Rom (Nr. 8b) ziemlich kurz vor dem November-Konzil unternommen haben, denn wie es scheint, blieb er in Rom, als er sich seiner ausweglosen Situation voll bewußt wurde 25 . Hieraus folgt, daß wohl auch die zweite Reise des Erzbischofs nach Pavia (Nr. 7) kurz zuvor statt-[57/ 58] gefunden haben muß. Sie 22 Ex Translatione SS. Chrysanti et Daria, ed. O. H O L D E R - E G G E R (= MGH SS XV/ 1), S. 374-376, hier S. 375, vgl. A. G O E R Z , Mittelrheinische Regesten, Koblenz 1876, Nachdr. Aalen 1974, S. 156 n. 546 und F L O S S , Romreise des Abtes Markward von Prüm und Übertragung der hl. Chrysantus und Daria nach Münstereifel im Jahre 844, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 20 (1869), S. 96-217, hier S. 131f. Am Rande sei vermerkt, daß dieser Bericht nicht mit der Datierung von DLo I n. 85, ed. Th. S C H I E F - F E R , Berlin-Zürich 1966 (=MGH DD Karolinorum III), S. 207-209 auf den 25. Mai 844 in Einklang zu bringen ist. Der an der Translation beteiligte Abt Markward (der nach dem Translationsbericht am 2. Juli 844 noch in St. Goar weilte) wird hier als persönlich anwesender Petent genannt. Von der älteren Forschung wurde das Diplom noch zum Jahr 845 eingereiht, von BM 2 und Schieffer jedoch aus diplomatischen Überlegungen in das Jahr 844 gesetzt. So sind Bedenken gegenüber der Datierung des Diploms oder dem Translationsbericht anzumelden. Aber selbst im letzteren Fall ist an der angegebenen Reisezeit für die Entfernung kaum zu zweifeln. 23 Ähnliche Ergebnisse gehen auch aus der Untersuchung von W. M A T T H A E I , Einhards Translatio SS. Marcellini et Petri in kulturgeschichtlicher Beziehung, 1. Teil, Grünberg 1884 (= Programm des Gymnasium Fridericianum zu Laubach, 1883-1884), besonders S. 22 f. hervor. 24 Vgl. nebst E L Z E , Leistungsfähigkeit auch das Referat früherer Forschungen bei E. M Ü L L E R - M E R T E N S , Reichsstruktur S. 114; vgl. auch C. B R Ü H L , Fodrum, gistum, servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Köln/ Graz 1968, Band 1, S. 66 sowie R E I N K E , Reisegeschwindigkeit des deutschen Königshofes S. 240 und 250, die 27-36 km für Königsreisen im 11./ 12. Jahrhundert ermittelt hat. 25 Tunc, sicut ipse egregius papa decreverat, multis in unum episcopis provinciarum convenientibus, eidem archiepiscopo destinavit, ut coram veniens de se plenissimam satisfactionen ostenderet et quae praevaricatus fuerat satius emendaret. Quod archiepiscopus perterritus audiens et se a nemine <?page no="287"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 287 erscheint im Liber pontificalis als eine Flucht vor Papst Nikolaus I., die erst nötig wurde, als ihm dessen Ankunft in Ravenna (Nr. 6) bekannt wurde. Aus dieser inneren Logik des Textes ergibt sich, daß die Reisen Nr. 7-8 eher in die zeitliche Nähe des Novemberkonzils gerückt werden müssen. Dabei ist eine gewisse Verweildauer in Pavia, um mit Ludwig II. Kontakt aufzunehmen, durchaus wahrscheinlich. Die zweite Reise des Erzbischofs von Pavia nach Rom (Nr. 8b) - bei der noch die Zeit für Vermittlungsversuche in Pavia und in Rom berücksichtigt werden müssen - dürfte wohl spätestens zwischen dem 20. und 25. Oktober begonnen worden sein. Der Aufbruch zu der zeitlich früher liegenden Reise von Ravenna nach Pavia (7) wäre entsprechend Mitte Oktober anzunehmen. Hingegen suggeriert die Darstellung der Ereignisse in der Vita Nicolai, daß sich die Übermittlung des Exkommunikationsbeschlusses (Nr. 1) sowie die Reise Johannes’ VII. von Ravenna nach Pavia und weiter nach Rom (Nr. 2 und 3) unmittelbar an die Sentenz des Februarkonzils angeschlossen haben dürften. Eilmärsche sind kaum anzunehmen, deshalb ist wohl ein Tagesdurchschnitt von etwa 30 km (von Ravenna nach Pavia vielleicht bis zu 40 km) realistisch. Hieraus ergibt sich folgende zeitliche Struktur: - 861 Februar 24: Konzil - 861 Februar 25 - ca. März 10: Übermittlung der Exkommunikationssentenz - 861 ca. März 10 - ca. März 18: Reise Johannes’ VII. von Ravenna nach Pavia - 861 März 20 - ca. April 8: Reise (nach etwa zweitägigem Aufenthalt) von Pavia nach Rom - 861 April 9: Unterredung mit Nikolaus I. - 861 ca. April 10-20: Reise von Rom nach Ravenna In diese Zeit von Februar bis April 861 gehören aus sachlichen und textlichen Gründen alle genannten Ereignisse, die als „Nachwirkung“ der Februarsynode aufzufassen sind. Zeitlich vor die Novembersynode sind hingegen folgende Ereignisse zu fixieren: - 861 Mitte Oktober: Reise Johannes’ VII. von Ravenna nach Pavia - 861 Oktober 20-25: Reise in Begleitung kaiserlicher Legaten von Pavia nach Rom - 861 November 16-18: Konzil in Rom. [58/ 59] Die noch nicht näher bestimmte Intervention der Ravennater Bürger in Rom und die Reise des Papstes nach Ravenna (Nr. 5 und 6) bleiben noch genauer als auf den Zeitraum zwischen dem 20. April und Mitte Oktober zu datieren. Auch hier hilft es, den Text des Liber pontificalis sorgfältiger zu lesen. Denn adiuvariposseconspiciens, in angustiae lamenta et nimiae tribulationis se contulit questus, et quos poterat cum lacrimis implorabat, dicens: . . . , D U C H E S N E , Liber, S. 156. Auszuschließen ist eine zwischenzeitliche Rückkehr nach Ravenna allerdings nicht. <?page no="288"?> 288 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit dort heißt es, Johannes VII. von Ravenna habe sich (wohl fluchtartig) auf den Weg nach Pavia gemacht, als er vom Kommen des Papstes erfuhr 26 . Nikolaus’ Reise nach Ravenna muß also etwa in die Zeit von Anfang bis Mitte Oktober gelegt werden; die Beschwerde der Ravennater in Rom erfolgte also kurz zuvor, spätestens etwa Ende September 27 . Folgt man diesen Überlegungen, so dürfte im Konflikt zwischen Nikolaus I. und Johannes VII. von Mitte April bis Mitte September eine gewisse „Ruhepause“ anzunehmen sein. Die so ermittelte Chronologie orientiert sich allerdings ausschließlich am Liber pontificalis. Trotz der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen muß diese Quelle als eine gleichsam offiziöse Darstellung der Papstgeschichte gelten und bedarf daher noch mehr als andere der Quellenkritik. Hilfreich ist hierbei, wenn wir zunächst fragen, wie sich der Ravennater Konflikt in weiteren Quellen niedergeschlagen hat. Die meisten anderen Quellen basieren auf dem Liber pontificalis oder gehen mittelbar auf diesen zurück. Flodoard von Reims gibt in seinem Werk „De Christi triumphis“ 28 auf der Basis des Liber pontificalis ein knappes Resümee. Die Petrus Guillermus zugeschriebene Fassung des Liber pontificalis 29 kürzt die Geschichte deutlich ab: hier wird von der [59/ 60] Verurteilung des Ravennaters (im Februar 861) berichtet, aber Johannes von Ravenna geht lediglich einmal zu Kaiser Ludwig II., der auch nur eine Gesandtschaft nach Rom schickt. Daran schließt sich unmittelbar das Novemberkonzil an 30 . Ähnlich berichtet auch Ende des 15. Jahrhunderts Platina in seiner Papstgeschichte 31 von einer einmaligen Unterstützung des Ravennaters durch den Kaiser. Anders als die bisher genannten Quellen basiert der wohl am Ende des 9. Jahrhunderts niedergeschriebene „Libellus de imperatoria potestate in urbe Roma“ 32 nicht auf dem „alten Liber pontificalis“. Entstehungszeit- und -ort 26 Cum de eius adventu Iohannes archiepiscopus cognovisset, usque Papiam continuo imperatoris aures denuo molestandas iter arripuit, Liber pontificalis, ed. D U C H E S N E , Liber, S. 156. 27 Es sei nochmals darauf verwiesen, daß diese Berechnungen Näherungswerte sind, die nur unter der Voraussetzung der zugrunde gelegten Marschgeschwindigkeiten gelten können und weiter auseinandergezogen werden müssen, wenn wir eine längere Aufenthaltsdauer als ein bis zwei Tage in den einzelnen Orten voraussetzen. 28 Ed. P. J. M I G N E , PL, Bd. 135, Paris 1879, Sp. 595-886, Sp. 821; vgl. hierzu P. Chr. J A C O B - S E N , Flodoard von Reims. Sein Leben und seine Dichtung „De triumphis Christi“, Leiden- Köln 1978 (= Mittellateinische Studien und Texte 10), besonders S. 139-181 und 266. 29 Vgl. hierzu A. B R A C K M A N N , Der Liber pontificalis, in: RTE 3 1902, Nachdr.: D E R S ., Gesammelte Aufsätze, Köln-Graz 2 1967, S. 383-396 sowie U. P ˇ R E R O V S K Ý , Liber pontificalis nella recensione di Pietro Guglielmo e del card. Pandolfo, glossato da Pietro Bohier, 3 Bände, Rom 1978 (= Studia Gratiana 21-23), Band 1; auch bezüglich der Zuschreibungen zu Petrus Guillermus, Pandolfus und den Glossen des Petrus Bohier. Die von Duchesne edierte ausführliche, bis Hadrian II. bzw. Stephan V. reichende Fassung wird künftig der Einfachheit halber einfach als „Liber pontificalis“ oder „alter Liber pontificalis“ zitiert. 30 P ˇ R E R O V S K Ý , Liber, Band 2, S. 602-603. 31 Bartolomeo Platina, Liber de vita Christi ac omnium pontificum, ed. G. G A I D A , Citta di Castello 1913-1934 (= Muratori 2 III/ 1), S. 153 f. 32 Ed. G . Z U C C H E T T I , Il Chronicon di Benedetto, monaco di S. Andrea del Soratte e il <?page no="289"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 289 sowie Quellenwert sind zwar bis heute umstritten 33 , jedoch besteht Einigkeit darüber, daß der Verfasser vor allem die kaiserlichen Rechte in Italien hervorheben wollte. Der Autor muß wohl auch die Zeit Ludwigs II. noch recht gut gekannt haben 34 . Gemäß dieser Quelle zitierte Papst Nikolaus I. den Erzbischof Johannes VII. von Ravenna zu einem Konzil - angeblich mit dem Hintergedanken, aus Neid diesen durch einen anderen (gefügigeren) zu ersetzen. Daraufhin wandte sich der Erzbischof Johannes an die Kaiserin Angilberga, die durch Boten den Papst bewegen wollte, einzulenken. Als dies erfolglos blieb, erwirkte sie bei ihrem Gatten Schutz für den Erzbischof. Den Konflikt Ludwigs II. mit dem Papst führt der Verfasser des „Libellus“ darauf zurück, daß Nikolaus den Erzbischof gebannt habe, ohne den Kaiser zu befragen. Auch ein Konzil müsse vom Kaiser und nicht vom Papst einberufen werden 35 . Der anschließende Text im „Libellus“ scheint auf den Konflikt zwischen [60/ 61] Nikolaus I. und Ludwig II. wegen der Absetzung der Erzbischöfe Gunther von Köln und Thietgaud von Trier bezogen zu sein, den der Verfasser wohl nicht exakt von der „Ravennater Auseinandersetzung“ trennt 36 . Alle Quellen mit Ausnahme des Liber pontificalis kürzen übereinstimmend die verschiedenen Phasen des Konfliktes zwischen den beiden Konzilien ab; so berichten alle Textzeugnisse nur von einem Hilfegesuch des Ravennaters an Ludwig II. Könnte es sich auch im Falle der mit dem Liber pontificalis mittelbar zusammenhängenden Quellen (Flodoard, Liber pontificalis des Petrus Guillermus und Platina) um eine nicht weiter beachtenswerte Kürzung handeln, so kommt doch dem Bericht des „Libellus“ eigenständige Bedeutung zu. Hier Libellus de imperatoria potestate in urbe Roma, Rom 1920 (= Fonti per la Storia d’Italia 55), S. 191-210, hier S. 201-203. 33 Vgl. den Überblick über die Forschung bei W. W A T T E N B A C H / W. L E V I S O N , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger. IV. Heft bearbeitet von H. L Ö W E , Weimar 1963, S. 425 f. Löwe plädiert für eine Entstehungszeit spätestens im ersten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts. Vgl. dort die weitere Literatur zur Tendenz der kaiserfreundlichen Schrift. Vgl. ebenda zu A. G A U D E N Z I , Il Monastero di Nonantola. App. terza: Sulla unione del Esarcato al regno d’Italia e sul passaggio dello studio a Ravenna tra il IX e X secolo e sulle produzioni letterarie e giuridiche di Ravenna in quella età, in: Bulletino dell’Istituto storico Italiano 37 (1916), S. 513-570, hier S. 524 ff., der die Entstehung der Schrift in Ravenna vermutet. 34 W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen, S. 425. 35 Angeblich gab Kaiser Ludwig II. daraufhin viele Patrimonien in Campanien und der Pentapolis (gleichsam als Rache? ) seinen Leuten zurück. 36 Vgl. die Fußnoten der in Anm. 32 zitierten Edition. <?page no="290"?> 290 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit wird auch ein klares, „positives“ Bild von Kaiser Ludwig gezeichnet, der nach erfolgloser Hilfeleistung 37 keinewegs auf die päpstliche Linie einschwenkte 38 . Wenn auch daran festzuhalten ist, daß die Vita Nicolai im Liber pontificalis den Ereignissen am nächsten steht, so stellt sich doch angesichts der Abweichungen in den anderen Quellen (insbesondere des „Libellus“) die Frage, welches Gewicht und welche Interpretation den einzelnen, detailliert beschriebenen Etappen des Konfliktes im Liber pontificalis zukommt 39 . Könnte mit dem betont ausführlichen Bericht des Liber pontificalis nicht nur die Liebe zum Detail, sondern auch eine ganz spezielle Tendenz verbunden sein? In der Darstellung des Liber pontificalis hält sich Ludwig im gesamten Konflikt ausgesprochen zurück; der Ravennater erscheint als treibende Kraft 40 . Entsprechend verfährt Nikolaus mit den kaiser-[61/ 62]lichen Boten: zwar bleibt er in der Sache konsequent, tadelt sie aber nur „gütig“ wegen des Verkehrs mit dem exkommunizierten Erzbischof 41 . Wie es scheint, bewirkte der Papst hiermit eine Wandlung bei Ludwig und bot so dem Kaiser Gelegenheit, auf die päpstliche Linie einzuschwenken. Das zweite Hilfegesuch von Johannes in Pavia erscheint zwar vordergründig als eine Parallele oder Wiederholung des ersten Vorstoßes 42 , ist aber für die Interpretation des kaiserlichen Verhaltens äußerst aufschlußreich. An der Darstellung läßt sich der „Sinneswandel“ des Kaisers und seiner Gefolgschaft ablesen. Zunächst manifestierten sich Einfluß und Rückhalt des Papstes in der Bevölkerung: als die Bewohner Pavias von der Exkommunikation erfuhren (konnten sie dies nicht schon beim ersten Mal? ), mieden sie den Gebannten; auch Ludwig II. empfahl ihm nur durch einen internuncius die Unterwerfung 43 und gewährte ihm erst nach erneuten inportunis precibus Unterstützung durch seine Legaten. In diesem Zusammenhang wird 37 Nicht ins Gewicht fällt wohl die Variante des „Libellus“, daß Angilberga anstelle Ludwigs als Mittler fungierte; sie scheint durch Vermischung mit der Auseinandersetzung um die Absetzung der Erzbischöfe Thietgaud und Gunther bedingt, in die Angilberga 864 eingriff; vgl. hierzu BM 2 (RI I) 1222g-i sowie Ch. E. O D E G A A R D , The Empress Engelberge, in: Speculum 26 (1951), S. 77-103, hier S. 81 f.; S. K O N E C N Y , Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert, Wien 1976 (= Dissertationen der Universität Wien 132), S. 121. 38 Diesen Eindruck erwecken auch de facto die anderen „gekürzten“ Quellen, ob gewollt oder ungewollt. 39 Die einzelnen Viten des Liber pontificalis sind noch nicht erschöpfend behandelt worden, vgl. die Dokumentation des Forschungsstandes bei Th. F. X. N O B L E , A New Look at the Liber pontificalis, in: Archivum Historia Pontificiae 23 (1985), S. 347-358, S. 347 f. Anm. 3. 40 D U C H E S N E , Liber, S. 155, Zeile 29-30: Deinde Papiam pergens, imperatoris auribus Lodowici Cesaris molestiam intulit, solamenque mundanum quaesivit. Tunc largiente ei Augusto legatos precipuos, cum illis, superbiae repletus tumore, Romam pervenit. 41 Ebenda Zeile 31: . . . benigne eos redarguit. 42 Vielleicht bewog dieser Eindruck einige der späteren Autoren dazu, diese „Doppelung“ zu „kürzen“? 43 Ebenda S. 156 Zeile 16 f.: Vadat et fastu elationis deposito, tanto humilietur pontifici, cui et nos et omnis Ecclesiae generalias inclinatur et obedientiae ac subiectionis colla submitta, quia quod cupit aliter minime consequi poterit. <?page no="291"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 291 auch nur mit einem Nebensatz die Bischofsweihe Liutards von Pavia durch den Papst erwähnt. Diese beiläufige Bemerkung trägt dazu bei, die Vorstellung von einem papsttreuen Bischof und einer dem Papst ergebenen Gefolgschaft in Pavia zu erwecken 44 . Insgesamt scheint es, daß der Verfasser der Vita die Unterstützung des „rebellischen“ Erzbischofs durch den Kaiser zwar nicht verschweigen, Ludwig jedoch insgesamt als treuen Gefolgsmann päpstlicher Weisungen zeichnen will. Da die anderen Quellen und insbesondere der „Libellus“ nicht von einem zweimaligen Hilferuf des Ravennaters bei Ludwig berichten, könnte man sich fragen, ob der zweite Besuch Johann-[62/ 63]es’ VII. in Pavia im Liber pontificalis nicht sogar ein wenig unmotiviert wirkt. Wenn nämlich der Ravennater beim ersten Rombesuch die Unterwerfung unter den Papst ablehnte, so ist die Flucht aus Ravenna vor Nikolaus I. zwar verständlich, weniger jedoch der zweite Hilferuf an den Kaiser, zumal die kaiserlichen Legaten Nikolaus schon einmal nicht umstimmen konnten. Einsichtiger wird die Darstellung im Liber pontificalis jedoch, wenn man annimmt, daß der Autor den „Rückzug“ des Kaisers aus dem Ravennater Streit erklären wollte. Wenn also nur in der Vita Nicolai von zwei Reisen berichtet wird, so muß dies zwar nicht notwendigerweise heißen, daß die zweite Reise erfunden wäre, aber sie bot dem Autor die Möglichkeit, einen langsamen Sinneswandel des Kaisers auch in seiner Darstellung auszudrücken. Neuerdings hat Belletzkie unterstrichen, daß der Konflikt des Papstes mit Johannes von Ravenna auch erstmals das Zerwürfnis von Kaiser und Papst offenbare 45 . Er verweist in diesem Zusammenhang auf das schon länger bestehende gute Verhältnis zwischen Ludwig und Ravenna sowie darauf, daß Ludwig bei der Erhebung Nikolaus’ I. eine maßgebliche Rolle spielte 46 . Das 44 Ebenda, S. 156, Zeile 8-10: concives eiusdem urbis una cum Liutardo episcopo suo a Romano pontifice consecrato, cum audissent quod a summo pontifice excommunicatus idem esset archiepiscopus, in tanta se custodiae circumspectione dederunt, ut nec in suis domibus eum reciperent, . . . . Das Bistum von Pavia war exemt und Bischof Liutard, der ab 830 belegt ist (vgl. P. B. G A M S , Series episcoporum ecclesiae catholicae, Regensburg 1873, S. 800) und wohl von Papst Gregor IV. geweiht worden war. Zu seiner Rolle als Berater Ludwigs II. vgl. E. H O F F , Pavia und seine Bischöfe im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Bischöfe von Pavia unter besonderer Berücksichtigung ihrer politischen Stellung, Pavia 1943, S. 99-103. 45 B E L L E T Z K I E , Pope Nicholas I and John of Ravenna. The Struggle for Ecclesiastical Rights in the Ninth Century, in: Church History 49 (1980), S. 262-272 (ähnlich schon früher L. D U C H E S N E , Les premiers temps de l’Etat pontifical, Paris 1911, S. 239-242). Belletzkies Hauptanliegen ist es zwar zu zeigen, daß Nikolaus erstmals im Falle von Ravenna die Durchsetzung kirchlicher Rechte gleichsam als Exempel statuierte, aber er widmet auch dem Verhältnis von Ludwig und Nikolaus einen längeren Abschnitt (S. 266-268). Allgemein und knapper: H. H E E S , Studien zur Geschichte Kaiser Ludwigs II., Diss. Regensburg 1973, S. 91 f. 46 Vgl. JE I S. 342 und BM 2 (RI I) 1216b; der kaiserliche Einfluß auf die Wahl wird vor allem in den Annales Bertiniani, ed. F. G R A T / J. V I E L L I A R D / S. C L É M E N C E T , Annales de Saint-Bertin, Paris 1964, S. 78 (und weiteren hiervon abhängigen Quellen) hervorgehoben, während die Vita Nicolai (D U C H E S N E , Liber, S. 152) interessanterweise nur von der Präsenz des Kaisers berichtet. <?page no="292"?> 292 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Konzil vom Februar habe einerseits die Exkommunikation über den Erzbischof Johannes von Ravenna wegen des Vorwurfs der Häresie verhängt 47 , andererseits aber auch den Einfluß des Kaisers bei der Wahl des Papstes einschränken wollen 48 . Im Konflikt mit Ravenna sei Nikolaus noch vorsichtig mit Ludwig umgegangen und [63/ 64] habe ihm goldene Brücken gebaut 49 . Später, in den Auseinandersetzungen mit Gunther und Thietgaud (863/ 4) bzw. mit Byzanz (866), sei der Konflikt mit Ludwig offen zutage getreten 50 . Belletzkie argumentiert auch mit der Person des päpstlichen Bibliothekars Anastasius, dessen Einfluß wohl erstmals wieder mit dem Brief des Papstes faßbar ist, der im Zusammenhang mit der Novembersynode von 861 entstand 51 . So richtig diese Beobachtungen sind, so verwundert es doch, daß Belletzkie dem Text des Liber pontificalis weithin volles Vertrauen schenkt 52 . Bedenkt man nämlich, daß dieser Text wohl von Anastasius verfaßt wurde 53 , der 855 der Kandidat des Kaisers gegen Benedikt III. war 54 , so ist fraglich, ob nicht die Rolle des 47 Canon 8 und 9, ed. J. D. M A N S I , Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio, 1767, Nachdr. Graz 1960, Band 15 Sp. 659 48 Canon 11 ebenda, vgl. A. W E R M I N G H O F F , Verzeichnis der Akten fränkischer Synoden von 843-918, in: NA 26 (1901), S. 607-678, hier S. 630; It. Pont. V 40 n. 103 und BM 2 (RI I) 1222a. Vgl. zur Interpretation: P E R E L S , Nikolaus, S. 48 f.; F U H R M A N N , Nikolaus I. und Johann von Ravenna, S. 353-358; B E L L E T Z K I E , Nicholas and John, S. 263-267 und 271. 49 Dies belegt B E L L E T Z K I E , Nicholas and John, S. 267 mit dem Auspruch des Papstes zu den kaiserlichen Boten bei deren zweiter Intervention: Si dilectus filius noster domnus imperator istius Iohannis archiepiscopi actus et bene mores cognosceret ipse non solum pro illo nos minime flagitaret, sed etiam ut se corrigeret ad nos eum etiam eo nolente dirigeret (D U C H E S N E , Liber, S. 156). Diese Darstellung kann jedoch aus der oben S. 61-63 erläuterten Zielsetzung des Liber pontificalis erklärt werden. Merkwürdigerweise benutzt Belletzkie den „Libellus“ nicht für seine Argumentation. 50 Zu 866 und der Vorgeschichte vgl. J. L. W I E C Z Y N S K I , The Anti-Papal Conspiracy of the Patriarch Photius in 867, in: Byzantine Studies 1 (1974), S. 180-189. 51 Vgl. Anm. 11. B E L L E T Z K I E , Nicholas and John, S. 268. Zur Frage, wann Anastasius in der päpstlichen Umgebung wieder an Einfluß gewann und seit wann er auch Einfluß auf das Diktat der Briefe ausübte, vgl. P E R E L S , Nikolaus, S. 215 f. und 242-280 (auch in Auseinandersetzung mit A. Lapôtre); zusammenfassend G. A R N A L D I , Anastasio Bibliotecario, in: Dizionario Biografico degli Italiani 3, Rom 1961, S. 25-37, hier S. 36 f. und D. L O H R M A N N , Das Register Papst Johannes’ VIII. (872-882). Neue Studien zur Abschrift Reg. Vat. 1, zum verlorenen Originalregister und zum Diktat der Briefe, Tübingen 1968 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 30), S. 239-258. 52 Ähnlich auch B I S H O P , Nicholas, S. 315 f. 53 Laut D U C H E S N E , Liber, S. Vf. dürfte Anastasius oder jemand unter seiner Aufsicht als Schlußredaktor gelten; der Stil der Vita Nicolai wechselt nach Duchesne im Anschluß an den Bericht über Geschenke aus Byzanz (S. 154 f.), also noch vor Darstellung des Ravennater Konfliktes. Vgl. zur Verfasserschaft des Anastasius außerdem A. L A P Ô T R E , De Anastasio Bibliothecario Sedis Apostolicae, Paris 1885, Nachdr.: D E R S . , Etudes sur la papauté au IX e siècle, Turin 1978, Band 1 S. 121-466, hier S. 335 f.; P E R E L S , Nikolaus, S. 181 ff. und 250 Anm. 2; W A T T E N B A C H / L E V I S O N / L Ö W E , Geschichtsquellen S. 460f. und A R N A L D I , Anastasio, S. 36 f. 54 Zu diesem Schisma ist die hauptsächliche Quelle der Liber pontificalis, D U C H E S N E , Liber, S. 140-144; vgl. JE I S. 339 und 341. Vgl. außerdem H. Z I M M E R M A N N , Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz/ Wien/ Köln 1968, S. 43 f. Vgl. weiterhin sowie allgemein zu <?page no="293"?> Der Konflikt Papst Nikolaus’ I. 293 Kaisers im Ravennater Streit zumindest stilisiert wurde. Anastasius, der Nikolaus I. und Ludwig II. [64/ 65] gleichermaßen ergeben war 55 , dürfte auch beim Redigieren dieser Passagen diplomatische Rücksichten genommen haben. Überhaupt ist auffällig, wie selten in der Vita Nicolai Ludwigs II. - der ja durchaus gerade in Italien und Rom gegenüber dem Papsttum kaiserliche Rechte nachdrücklich beanspruchte - gedacht wird 56 . So ist bereits von Duchesne darauf hingewiesen worden, daß die Bedeutung Ludwigs im Konflikt mit Thietgaud und Gunther 864 völlig übergangen werde 57 . Im Ravennater Streit bot sich für Anastasius noch die Möglichkeit, das Verhältnis von Ludwig II. und Nikolaus I. zu „harmonisieren“; die späteren Konfrontationen werden im Liber pontificalis nicht erwähnt und wohl bewußt verschwiegen. Ludwig II. erscheint bei seiner zweiten Begegnung mit Johannes VII. von Ravenna als jemand, der den Erzbischof nur aufgrund falscher Informationen zunächst unterstützte, um sich dann der päpstlichen Politik zu beugen. Wenn man den Bericht des „Libellus de imperatoria potestate“ dagegen hält, so scheint in der Tat die Schilderung im Liber pontificalis, in der die Unterstützung des Kaisers für Johannes schrittweise abgeschwächt wird, als eine Stilisierung, die sich auch aus der Verfasserschaft des Anastasius erklärt und die auf andere Weise als das Schweigen zu den Jahren 864 und 866 die wahre Rolle des Kaisers kaschiert. Wenn man diese Tendenz für die hier besprochene Passage des Liber pontificalis als gegeben annimmt, so muß man dennoch nicht das Handlungsgefüge im Liber pontificalis grundsätzlich in Frage stellen. Fassen wir einige Ergebnisse zusammen: Der Konflikt zwischen Papst Nikolaus I. und Johannes VII. von Ravenna, der mittelbar auch Kaiser Ludwig II. betraf, endete mit einem Sieg Nikolaus’ I. Der Weg zu diesem Sieg wird in der Vita Nicolai am ausführlichsten erzählt. Die Passage stammt wohl aus der Feder des Bibliothekars Anastasius und ist von der Tendenz gekennzeichnet, Johannes von Ravenna zu belasten und Ludwig II. zu entlasten. Dabei wird diese „Entlastung“ durch einen zweiten Besuch des Ravennaters bei Kaiser Ludwig erreicht, dem so [65/ 66] Gelegenheit gegeben wird, auf die päpstliche Linie „einzuschwenken“. Eine Gegenposition bietet der „Libellus“, der den Konflikt auf Kaiser und Papst zuspitzt. Die „wahre“ Rolle des Kaisers scheint somit in keiner der beiden Hauptquellen zutreffend erfaßt. Die Chronologie der Ereignisse zwischen Februar und November 861 kann jedoch genauer als bisher fixiert werden, vor allem durch die Berechnung der jeweiligen Reisezeit, Ludwig II.: P. D E L O G U , Strutture politiche e ideologia nel regno di Lodovico II (Ricerche sull’aristocrazia carolingia in Italia II), in: Bulletino del’Istituto Storico Italiano 80 (1968), S. 137-189, besonders S. 156-164 sowie H. Z I E L I N S K I , Ludwig II. von Italien, in: NDB 15 (1987), S. 323-327 (mit weiterer Literatur). 55 Vgl. bereits D U C H E S N E , Liber, S. VI; zur Verfasserschaft des Anastasius zugeschriebenen Briefes Ludwigs II. vgl. die Einleitung des Editors W. H E N Z E , Berlin 1912-1928, Nachdruck München 1978 (= MGH Epp. VII), S. 386-394. 56 Nur im Zusammenhang mit der Erhebung (S. 152-152), der vorliegenden Episode, sowie anläßlich eines Geschenkes des Kaisers (S. 159). Hierbei ist zu beachten, daß ja der Anfang der Vita nicht Anastasius zugeschrieben wird, vgl. Anm. 53. 57 D U C H E S N E , Liber, S. VI. <?page no="294"?> 294 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit aber auch durch die Berücksichtigung der inneren Logik, die man aus dem Bericht der Nikolausvita erschließen kann. Es ließe sich einwenden, daß der Versuch, die Ereignisse der wichtigsten erzählenden Quelle, des Liber pontificalis, genauer chronologisch zu bestimmen, müßig sei, wenn doch die Quellenkritik darauf verweist, daß der Text selbst zurechtgebogen sein könnte und trotz der zeitlichen Nähe den Sachverhalt nicht unbedingt in allem zutreffend wiedergeben muß. Dennoch ist eine möglichst präzise chronologische Aufarbeitung des Materials ebenso wie die quellenkritische Beurteilung der Texte notwendig und sinnvoll. Will man beide Grundsätze in den Regesten zu den Ravennater Streitigkeiten berücksichtigen, so können sich die Prinzipien an zwei Stellen Geltung verschaffen: in dem erschlossenen Datum, das in der Kopfzeile erscheint, und im Kommentar, der den regestierten Text quellenkritisch einordnet und auf die Überlegungen zur Datierung verweist. <?page no="295"?> Papst Leo III. (795-816), der Koronator Karls des Großen - Möglichkeiten päpstlicher Politik an der Schwelle des 9. Jahrhunderts 1. Einleitung Als Papst Leo III. am 23. Dezember 800 in Rom den Ambo bestieg, setzte er mit einem Reinigungseid den Schlußstrich unter fast zwei turbulente Jahre, die am 25. April 799 begonnen hatten 1 . Dramatischer kann man sich den Beginn dieser Krise wirklich kaum vorstellen: Der Papst, bei einer Prozession überfallen, am Boden liegend und nur knapp in Sicherheit gebracht. Seine Gegner versuchen, ihn zu verstümmeln, scheitern aber. Leos Anhänger bringen ihn in Sicherheit, dann gelangt er mit Geleitschutz ins Frankenreich zu Karl dem Großen 2 . Dieser Papst sollte dann wenig später Karl zum Kaiser krönen, dieser Papst, der nicht einmal in Rom akzeptiert wurde? „Der umstrittene Leo und der unangefochtene Karl“ könnte man die dramatischen Ereignisse der Jahre 799/ 800 bezeichnen; war dies nicht eine völlig ungleiche Beziehung? So hat man es hier Erschienen in: Geschichte im Bistum Aachen 5 (2000), 1-24, © Geschichtsverein für das Bistum Aachen e.V. 1 Der folgende Text bietet die geringfügig überarbeitete Fassung meines am am 27.1.2000 in Aachen gehaltenen Vortrages zur Eröffnung des Karlsfestes und wurde nur um die wichtigsten Belege in den Anmerkungen ergänzt. Für Ergänzungen und Hilfe danke ich Dr. des. B. Vogel, Erlangen. 2 Die im folgenden verwendeten Quellen finden sich in den einschlägigen Regestenwerken verzeichnet, vgl. von den jeweiligen Ausstellern her E N G E L B E R T M Ü H L B A C H E R , Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918, Bd. 1 ( J O H A N N F R I E D - R I C H B Ö H M E R , Regesta Imperii I, 1, Innsbruck 2. Aufl. 1908, ND Hildesheim 1966, mit Nachträgen von C. Brühl) (künftig Böhmer-Mühlbacher mit Nr.) und P H I L I P P J A F F É , Regesta pontificum Romanorum, Editionem secundam correctam et auctam auspiciis Gulielmi Wattenbach curaverunt Samuel Loewenfeld, Ferdinand Kaltenbrunner, Paul Ewald (Leipzig 2. Aufl. 1885, ND Graz 1956) (künftig JE) 2492-JE †2542. Weiterhin sind im Einzelfall die empfängerbezogenen Regestenwerke der Italia pontificia und der Germania pontificia heranzuziehen. Vgl. zur aktuellen Diskussion (auch mit Nachweis neuerer Quelleneditionen und Literatur), insbesondere zu den Ereignissen von 799/ 800. den Katalogband: Kunst und Kultur der Karolingerzeit, 799 Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn (Ausstellungskatalog, Mainz 1999). Zu den Ereignissen am 25. April 799 aus päpstlicher Perspektive ist die Leovita im Liber pontificalis (ed. L O U I S D U C H E S N E , Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, II Bde., Bd. III hg. von C Y R I L - L E V O G E L , Paris 1886-1892, 1957), Bd. II 4f. heranzuziehen. Zusammenfassend zu Karl dem Großen vgl. jetzt den Überblick von M A T T H I A S B E C H E R , Karl der Große (München 1999). Weiterhin sind die diversen Papstgeschichten heranzuziehen, insbesondere B E R N H A R D S C H I M M E L P F E N N I G , Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance (Darmstadt 1984, 4. Aufl. 1996). <?page no="296"?> 296 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit am Ort auch gesehen: Blickt man auf die Stirnseite des Karlsschreins, wo Papst Leo III. und Erzbischof Turpin von Reims den großen Karolingerherrscher flankieren, so deuten ihre Art des Stehens und ihr Gesichtsausdruck an, daß sie dem Kaiser deutlich untergeordnet wurden 3 . In der Tat gilt Leo III. häufig als ein Papst, der von dem großen Karolinger abhängig war. Er hat deshalb bis heute nicht die beste Presse; erst in jüngerer Zeit melden sich vereinzelt Stimmen mit einer positiveren Wertung zu Wort 4 . Ist aber eine Bilanz wirklich so ernüchternd? Wir sollten den überlieferten Quellen erneut eine Chance geben und gerade hier in Aachen [1/ 2] versuchen, einmal stärker von Rom aus zu blicken, auch auf die Geschehnisse von 799/ 800. Außerdem war Leo III. nicht nur während jener turbulenten Monate Bischof von Rom: Die 18 weiteren Jahre, der gesamte Zeitraum von 795-816 wird heute unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, obwohl die Ereignisse von 799/ 800 einen durchaus wichtigen Platz einnehmen müssen. Um eine römische Perspektive einnehmen zu können, empfiehlt es sich, stärker auf römische Quellen zu sehen, die häufig von den fränkischen abweichen 5 . Die wichtigste aus der päpstlichen Umgebung ist die Lebensbeschreibung Leos III. im halboffiziösen Liber pontificalis. Sie verzeichnet allerdings vor allem Geschenke und Baumaßnahmen des Papstes und basiert in diesen Passagen vornehmlich auf Notizen der in Rom geführten Rechnungsbücher 6 . Nur die Ereignisse der Jahre 799-800 unterbrechen die sonst durchgehenden Geschenklisten. Aus römischer Sicht standen somit - berücksichtigt man die gesamte Pontifikatszeit - die Fürsorge des Papstes um Ausstattung der römischen Kirchen, um die Stadt Rom und das Umland, das sogenannte Patrimonium Petri, im Vordergrund des Interesses. Allerdings greift auch dies zu kurz. Weitere Quellen erschließen zumindest Ereignisse wie die zweite päpstliche Reise ins Frankenreich 804/ 05, die theologischen Diskussionen sowie den erneuten römischen Aufstand von 815, die Beziehungen zu Byzanz, zu England und zu anderen Orten. Wichtigste kontrastierende Quellen sind die fränkischen Reichsannalen, eine später überarbeitete Fassung, die sogenannten Einhardsannalen sowie einige der erhaltenen Briefe 7 . Für die Ereignisse von 799-800, die 3 Vgl. aus der Vielzahl der Abbildungen: Karl der Große und sein Schrein in Aachen. Eine Festschrift, hg. von H A N S M Ü L L E J A N S (Aachen-Mönchengladbach 1988) Abb. S. 59. 4 Vgl. H O R S T F U H R M A N N , Die Päpste. Von Petrus zu Johannes Paul II. (München 1998) S. 99-105. Zur Neubewertung Leos III. auch: K L A U S H E R B E R S , Der Pontifikat Papst Leos III. (795-816), in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit, 799 Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn (Ergänzungsband zur Ausstellung, Mainz 1999) S. 13-18. 5 Zur Erschließung der Quellen vgl. die in Anm. 2 angegebenen Regestenwerke. 6 Vgl. zur Bestimmung des Liber pontificalis in jüngerer Zeit T H O M A S F. X . N O B L E , A New Look at the Liber Pontificalis, AHP 23/ 1985, S. 347-358; T H O M A S F. X . N O B L E , Literacy and the Papal Government in Late Antiquity and the Early Middle Ages, in: The Uses of Literacy in Early Mediaeval Europe, hg. von R O S A M O N D M C K I T T E R I C K (Cambridge 1990) S. 82-108 und K L A U S H E R B E R S , Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts - Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27, Stuttgart 1996) S. 11-48. 7 Vgl. zu den Briefen MG Epist. IV (Berlin 1895). <?page no="297"?> Papst Leo III. 297 im Zentrum des Vortrags stehen, möchte ich dem Vergleich, aber auch der Narrativität Raum geben. Diese Ereignisse werden vor allem dann spannend, wenn wir bedenken, daß hier konkret erkennbar wird, wie Rom zwischen byzantinischen Traditionen und den neuen Orientierungen zu den Franken einen eigenständigen Platz suchte. 2. Herkunft - Probleme - Erste Schwierigkeiten Wie wurde man in dieser Zeit Papst? Eine Papstwahlordnung, die - wie noch heute - den Kardinälen die Wahl des künftigen Papstes vorbehält, gab es noch nicht. Klerus und Volk von Rom, de facto die Führungsschichten der Stadt, wählten und erhoben ihren neuen [2/ 3] Bischof. Interessen beherrschten das Geschehen, so daß die Quellen zwar fast stereotyp die Einmütigkeit der Wahlen betonen, aber liest man zwischen den Zeilen, so werden vielfach divergierende Tendenzen erkennbar. Immer wieder kam es zu Schismen. Aber Karrieren basieren nicht nur auf Zufall oder göttlicher Eingebung, sondern haben ihre Vorgeschichte 8 . Wie war es bei Papst Leo? Über Herkunft und Ausbildung gewähren fast nur die einleitenden Notizen der Leovita im Papstbuch, dem erwähnten Liber pontificalis, Aufschluß. Leo war römischer Herkunft, sein Vater hieß Atzuppius: Leo natione Romanus, ex patre Atzuppio. Dieser Vatername belegt jedoch keinesfalls zwingend die Herkunft der Familie aus einem süditalisch-griechischen Geschlecht, wie teilweise gefolgert worden ist 9 . Wann Leo geboren wurde, wissen wir nicht. Schon früh wurde er in der päpstlichen Umgebung erzogen, stach durch Intelligenz und soziales Engagement hervor, übernahm Aufgaben in der päpstlichen Kammer, war zuletzt Presbyter von Santa Susanna. Einen Tag nach dem Tod seines Vorgängers Hadrian I. (772-795) soll er am Stephanstag, also am 26. Dezember 795, von Klerus und Volk gewählt und schon am Fest des Evangelisten Johannes (27. Dezember) geweiht worden sein. Das war schneller als sonst üblich, warum diese Hast? Der Liber pontificalis verrät nichts über die Hintergründe. Vielleicht war Leo der Favorit einer Parteiung, die die Gunst der Stunde nutzen, ihren Kandidaten mit einem Überraschungscoup durchbringen wollte. Worauf kann sich diese Vermutung stützen? Leo war Römer, aber ziemlich sicher gehörte er nicht zu den vornehmen Kreisen, aus denen einige seiner Vorgänger wie Stephan II., Paul I. und Hadrian I. stammten. Vielleicht war dies einer der Gründe, warum er schon bald in Gegensatz zu denen geriet, auf die sich seine Vorgänger gestützt hatten. 8 Klassisch zu den frühen Päpsten M I C H E L A N D R I E U , La carrière ecclésiastique des papes et les documents liturgiques du Moyen Âge, Revue des sciences religieuses 21/ 1947, S. 3-4, 89-120). 9 Vgl. hierzu schon P E T E R C L A S S E N , Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Nach dem Handexemplar des Verfassers hg. von H O R S T F U H R M A N N / C L A U D I A M Ä R T L (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mitttelalters 9, Sigmaringen 1985, 2. Aufl. 1988) S. 43f. (Zitate nach der Aufl. von 1985). <?page no="298"?> 298 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Teilweise waren dies Verwandte Hadrians I. Mußte Leo allein deshalb schon bald den Schulterschluß mit Karl, dem Frankenkönig und Patricius der Römer, suchen? Mit dem Amt des Patricius der Römer verbanden sich Schutzpflichten für Rom. Schon die früheren kaiserlichen Vertreter in Italien, der Exarch von Ravenna und der Dux von Rom, hatten die römische Kirche beschützt. 754, bei seiner Reise ins Frankenreich, übertrug Papst Stephan II. dieses Amt auf König Pippin und dessen Söhne. Karl der [3/ 4] Große hat den Patriciustitel 774 sogar offiziell in seine Königstitulatur aufgenommen. Leo III. übermittelte kurz nach der Wahl Karl dem Großen (768-814) die Schlüssel vom Petersgrab und das Banner der Stadt Rom. Dies waren nicht nur Ehrengaben, sondern sie erinnerten Karl zugleich an seine Rechte und Pflichten für die römische Kirche und den römischen Dukat. Wegen dieser Bindungen des Empfängers bleibt fraglich, ob Leo damit eine Art Oberherrschaft des Frankenherrschers anerkannte. Dennoch scheint der neue Papst die Anlehnung an die Franken gesucht zu haben, denn gleichzeitig bat er um die Übersendung eines Boten, der den Treueid abnehmen solle 10 . In diesem Zusammenhang fällt auf, daß in päpstlichen Urkunden seither zunehmend nach den Herrscherjahren Karls datiert wurde. Ist somit eine gewisse Hinwendung zu den Franken dokumentiert, die jedoch vornehmlich fränkische Quellen bezeugen, so zeigen die verschiedenen Baumaßnahmen am Lateranpalast, vor allem am accubitum und am solarium, daß Leo III. mit seiner Baupolitik durchaus eigenständige und zugleich römische Traditionen unterstrich, wie sie auch in Byzanz weiter gepflegt wurden. Als programmatisch gelten die im Lateran, im triclinium, wohl um 799/ 800 angebrachten Mosaikbilder, die in barocker Umgestaltung sowie in Zeichnungen bis heute erhalten sind 11 . Die genannte Datierung liegt deshalb nahe, weil sich der Abschluß der Baumaßnahmen im Liber pontificalis auf das Jahr 799 legen läßt 12 . Was wird dargestellt? In der Apsis werden die Apostel zur Missionierung der Welt entsandt, rechts davon überreicht Christus an Petrus die Schlüssel und an Kaiser Konstantin die Fahne, jeweils Symbole für die geistliche und weltliche Gewalt. Links übergibt dann Petrus analog an Leo das Pallium, an Karl eine Fahne. Petrus selbst hatte demnach an beide, an Leo und an Karl, den Auftrag zur Herrschaft verliehen. Erscheinen hier die Wendung zu den Franken und das päpstliche Programm zum Verhältnis beider Gewalten, so akzentuiert aus fränkischer Perspektive 10 B Ö H M E R - M Ü H L B A C H E R (wie Anm. 2) 328m. 11 Vgl. die verschiedenen Überlieferungen der bildlichen Darstellungen bei G E R H A R D B . L A D N E R , Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, Bd. I: Bis zum Ende des Investiturstreits (Monumenti di Antichità Cristiana 2, Ser. 4, Rom 1941), ital. Fassung: I ritratti die papi nell’Antichità e nel medioevo (Rom 1941) S. 115-120 mit Abb. 94-101. 12 Lib. pont. (ed. D U C H E S N E II) (wie Anm. 2) S. 3f., unmittelbar vor der Erzählung über das Attentat am 25. April 799. Zur Strukturierung der Leovita nach den Geschenklisten vgl. außer der in Anm. 6 genannten Literatur H E R M A N G E E R T M A N , More Veterum. Il Liber pontificalis e gli edifici ecclesiastici di Roma nella tarda antichità e nell’alto medioevo <?page no="299"?> Papst Leo III. 299 ein wohl von Alkuin verfaßter Brief Karls, den Abt Angilbert von St-Riquier als Königsbote übermittelte, das Verhältnis etwas anders. Darin heißt es: „Unsere Aufgabe ist es, allenthalben mit Hilfe der göttlichen Liebe die heilige Kirche Christi gegen Angriffe der Heiden und gegen Ver-[4/ 5]heerung durch Ungläubige mit den Waffen nach außen zu verteidigen und nach innen durch die Erkenntnis des katholischen Glaubens zu stärken. Euch aber, Heiligster Vater, kommt es zu, wie einst Moses, mit zu Gott erhobenen Händen unser Heer zu unterstützen, damit das Christenvolk dank des durch Eure Fürbitte erflehten Segens Gottes über die Feinde seines heiligen Namens immer und überall den Sieg davontrage und der Name unseres Herrn Jesus Christi auf der ganzen Welt verherrlicht werde“ 13 . Trotz verschiedener Zielvorstellungen scheint Karl in diesem Verhältnis schon zu Anfang den Ton anzugeben. Aber es sind vor allem die fränkischen Quellen, die diese Perspektive immer wieder einnehmen, ja einnehmen müssen. 3. Das gescheiterte Attentat Schwierigkeiten in Rom holten Leo bald ein. Je schwächer er dort war, desto mehr brauchte er Rückhalt, den er nicht mehr in Byzanz, wo seit 797 die umstrittene Kaiserin Irene herrschte 14 , sondern nur noch bei den Franken finden konnte. Verschiedene Briefe aus dem Frankenreich bezeugen die Sorge, mit der man nach Rom blickte. Der Magister der Hofschule, Alkuin, erkundigte sich im Juni 798 in einem Brief, was denn der römische Adel Neues vorhabe: Quid Romanorum nobilitas novi habeat adinventum. Dies kommentierte Arn von Salzburg mit den Worten, daß der Papst, der ein gerechtes Leben führe, unter den Angriffen der Söhne der Zwietracht, der filii discordiae, leide 15 . Ab 798 wehte dem Papst der Wind ins Gesicht; die Umgebung des Königs schien dies zu ahnen, vielleicht sogar zu wissen. Warum tat Karl nichts? Waren ihm, obwohl Patricius, die römischen Verhältnisse letztlich doch egal? Fügten sich die Entwicklungen vielleicht sogar in seine Vorstellungen ein? Dies bleibt bestenfalls Vermutung, denn Sicheres wissen wir nicht, weil die Quellen schweigen. Wenige Monate später dann dramatische Tage in Rom: Als der Papst bei der Letania Maior, der Bittprozession am Markustag, also am 25. April 799, von (Groningen 1975) bes. S. 37-71. 13 B Ö H M E R - M Ü H L B A C H E R (wie Anm. 2) 330, der Text ist in MG Epist. IV (wie Anm. 7) S. 136-138, S. 137f. zu vergleichen; hierzu z. B. eine (von vielen) deutschen Übersetzungen dieser Passage bei F R A N Z X AV E R S E P P E L T , Geschichte der Päpste (München 1955) Bd. 2, S. 185f. 14 F R A N Z D Ö L G E R , Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565-1453. 1. Teil: Regesten von 565-1025 (Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit Reihe A, Abt. 1, München-Berlin 1924) 350; vgl. R A L P H - J O H A N N E S L I L I E , Byzanz unter Eirene und Konstantin VI. (780-802). Mit einem Kapitel über Leon IV. (775-780) von I L S E R O C H O W (Berliner byzantinistische Studien 2, Frankfurt am Main [u. a.] 1996) S. 220-291. 15 MG Epist. IV (wie Anm. 7) S. 235f., das Zitat 236 und S. 257f., das Zitat S. 258. <?page no="300"?> 300 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Gegnern überwältigt wurde, geschah das Unerhörte, wohl unter maßgeblichem Einfluß des höchsten Amtsträgers, des primicerius Paschalis, eines Neffen des verstorbenen Papstes [5/ 6] Hadrian I., und des Schatzmeisters, des sacellarius Campulus. Waren ihnen unter dem neuen Papst frühere Möglichkeiten der Einflußnahme und der persönlichen Entfaltung beschnitten worden? Standen hinter ihnen weitere adelige Bewohner Roms, wie die Annales regni Francorum zu den Prozessen nach Karls Kaiserkrönung berichten 16 ? Was geschah aber am 25. April 799? Erlauben die erzählenden Quellen ein klares Bild? Die Reichsannalen und die ausführlichere Leovita im offiziösen Papstbuch berichten perspektivisch und tendenziös. Am Ende stand die Kaiserkrönung Karls; die Geschichtsschreiber interpretierten die Vorgänge vom Ergebnis her. Gegner des Papstes hatten ihm Buhlerei und Meineid vorgeworfen. Welches Bild zeichnet die Leovita? Campulus und Paschalis schlossen sich der Prozession vom Lateran nach S. Lorenzo an. Sie begleiteten den Papst und versteckten ihre hinterlistigen Gedanken in freundlichen Gesprächen. Bei S. Silvestro in Capite warteten päpstliche Gegner, um Leo nicht weit vor S. Lorenzo vom Pferd zu reißen und zu Boden zu werfen. Das unbewaffnete Volk stob auseinander. Man versuchte, Leo die Augen auszustechen, die Zunge auszureißen. Nackt und bloß blieb er auf der Straße. Die Leovita will sogar wissen, daß man ihn vor die Confessio von S. Silvestro geschleppt habe, um ihn noch vollständiger des Augenlichtes und der Zunge berauben zu können. S. Silvestro war ein Kloster der in Rom ansässigen Griechen. Hieß dies, daß die Verschwörer mit einer byzantinisch-griechischen Parteiung Roms verbündet waren? Leo blieb im Blute vor dem Altar liegen. Später brachte man ihn in das Kloster S. Erasmo. Dort konnte er sich mit Hilfe seines treuen Kämmerers Albinus im Schutze der Nacht an der Mauer abseilen und aus dem Kloster fliehen. Man brachte ihn nach St. Peter, dann führten ihn fränkische Königsboten nach Norden. Mit Gottes Hilfe und der Unterstützung des heiligen Petrus erlangte der Papst Seh- und Sprechvermögen zurück. Ein großes Wunder, wie die Leovita vermerkt 17 . Aber was verbirgt sich hinter dem Ereignisbericht? Ein blinder und stummer Papst könnte sein Amt nicht länger ausüben. Seine Gegner wollten den amtierenden Papst offensichtlich nach byzantinischem Brauch amtsunfähig machen; darauf deutet auch der Versuch, Leo der [6/ 7] bischöflichen Gewänder 16 . . . et multi alii Romanae urbis habitatores nobiles, Annales regni Francorum a. 801, ed. F. K U R Z E (MG SS rer. Germ. [6], Hannover 1895) S. 114. 17 Theodulf von Orléans sollte es in einem Gedicht spöttisch kommentieren, vgl. Theodulf von Orléans, Carm. 32, v. 11-24 (MG Poetae I, hg. von E R N S T D Ü M M L E R , Berlin 1880) S. 523f. Zur Funktion der Wunder im Lib. pont. vgl. künftig auch K L A U S H E R B E R S , Wunder im Liber pontificalis, erscheint in: D I E T E R B A U E R , M A R T I N H E I N Z E L M A N N und D E R S ., Mirakel im Mittelalter (Stuttgart 2001) [Zu Mirakeln im Liber pontificalis des 9. Jahrhunderts, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, hg. von M A R T I N H E I N Z E L M A N N / K L A U S H E R B E R S / D I E T E R R . B A U E R (Beiträge zur Hagiographie 3, Stuttgart 2002) 114-135]. <?page no="301"?> Papst Leo III. 301 zu berauben. Blendung und Verstümmelungen vor der Confessio gehörten zu üblichen Absetzungsriten 18 . Man hatte dem Papst in S. Silvestro den Prozeß gemacht. Durch ein Wunder, so betont der Vitenschreiber, gesundete Leo. Damit war er in den Augen des päpstlichen Chronisten restituiert und unangefochten: Wem Verstümmelungen nichts anhaben, der besitzt - jedenfalls bei einem auch für Hagiographie empfänglichen Schreiber - seine Legitimität durch Gott selbst. Leo kam nach St. Peter, wo die Anwesenden diese Wundertaten Gottes sahen, der den unschuldigen und gerechten Papst aus den Händen seiner Feinde gerettet hatte. Alle stimmten deshalb in Gesänge ein: Benedictus Dominus Deus Israel qui facit mirabilia magna solus, et non deseruit sperantes in se. . . 19 . Fast eine halbe Druckseite nimmt dieser Lobpreis des Wunders ein. Erst dann entschied der so deutlich legitimierte und restituierte Papst, ins Frankenreich zu reisen. War Leo wirklich so frei, diesen Entschluß selber zu fällen? Warum mußte er überhaupt reisen, wenn er die Menge auf seiner Seite hatte? Die fränkische Perspektive ist anders 20 : Nach der Errettung aus dem Kloster habe sich Leo zu den Gesandten Karls nach St. Peter begeben und sei dann nach Spoleto gebracht worden. Ganz zufällig scheinen Franken, Abt Wirund und Herzog Winigis von Spoleto, anwesend gewesen zu sein. Sie empfingen den Papst, nicht er sie, wie es die Vita Leonis will. Mithin: in der päpstlichen Quelle freier päpstlicher Entschluß, in den Reichsannalen fränkische Fürsorge, welche die Abhängigkeit des römischen Pontifex unterstreicht. Die etwas späteren Einhardsannalen, unsere dritte Hauptquelle, zeigen einige Berührungspunkte mit dem Bericht der römischen Leovita. Hier eilt Herzog Winigis, erst nachdem er von dem Anschlag erfahren hat, nach Rom, nimmt Leo auf und führt ihn nach Spoleto. Als Karl davon Kenntnis erhält, befiehlt er, den Papst ehrenvoll ins Frankenreich zu geleiten. In Leovita und Einhardsannalen wird Abt Wirund nicht erwähnt. Deutet dies darauf, daß Wirund vielleicht erst nach Rom reiste, als man von dem Attentat im Frankenreich erfuhr? Waren es dann zwei Monate unsicheren Wartens für den Papst, bis die fränkischen Boten kamen, eine Zeit, die nach Karls Kaiserkrönung der Leovita und den Einhardsannalen nicht mehr recht ins Bild paßte? 21 [7/ 8] Nur die Reichsannalen deuten somit an, wie bedroht Leos Stellung war. Aber warum sind hier die fränkischen Helfer fast wie bestellt in Rom? Wußte 18 H A R A L D Z I M M E R M A N N , Papstabsetzungen des Mittelalters (Graz-Wien-Köln 1969) S. 27. So vermerken auch viele spätere Quellen eine Wiedereinsetzung (so die Annales S. Amandi [MG SS I, Hannover 1826] S. 14). Vgl. zu den Riten auch W. B R Ü C K N E R , Devestierung, in: HRG I (1971) Sp. 724-726. 19 Lib. pont. (ed. D U C H E S N E II) (wie Anm. 2) S. 5. 20 Hauptquellen sind die Annales regni Francorum und die sog. Einhardsannalen, die einschlägigen Stellen sind bei B Ö H M E R - M Ü H L B A C H E R (wie Anm. 2) 348b verzeichnet. Vgl. auch die kontrastierende Gegenüberstellung der päpstlichen und fränkischen Quellen bei M A T T H I A S B E C H E R , Karl der Große und Papst Leo III. Die Ereignisse der Jahre 799 und 800 aus der Sicht der Zeitgenossen, in: Ausstellungskatalog (wie Anm. 2) S. 22-36. 21 So B E C H E R , Karl der Große (wie Anm. 20) Katalog S. 25f. <?page no="302"?> 302 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit man vielleicht doch etwas von dem römischen Vorhaben? Paschalis und Campulus waren im Frankenreich jedenfalls nicht unbekannt, sie hatten päpstliche Aufträge Hadrians I. ins Frankenreich übermittelt 22 . Oder verweisen die Texte nur darauf, wer in Rom eigentlich die Macht besaß oder vorgab, sie zu besitzen? 4. Die Verhandlungen in Paderborn Leo III. gelangte über Spoleto ins Frankenreich, nach Paderborn. Dort traf er im Juli ein. In bunten Farben schildert das Epos „Karolus Magnus et Leo Papa“ den glänzenden Empfang, allerdings stammt dieses Werk nach neueren Untersuchungen erst aus der Zeit nach der Kaiserkrönung 23 . Nicht nur zeremoniell 24 , sondern auch inhaltlich wird aus der Retrospektive das Verhältnis von Leo und Karl überhöht dargestellt. Ob Leo III. bei seinem Besuch Reliquien des hl. Stephanus in einem Altar der Erlöserkirche niederlegte, angeblich auch eine Kirche in Eresburg weihte, ist unsicher; zu beiden Akten hat die Forschung durchaus Vorbehalte angemeldet 25 . Halten wir uns also eher an die anderen historiographischen Skizzen. Die Reichsannalen berichten nichts über die Verhandlungen in Paderborn, die Einhardsannalen vermerken als Ergebnis, Leo sei mit großer Ehre nach Rom geleitet und dort restituiert worden. Diese Wortwahl suggeriert, daß Leos Gegner ihn tatsächlich abgesetzt hatten. Am ausführlichsten bleibt wiederum das Papstbuch, es berichtet von dem ehrenvollen Empfang, von Verwüstungen der päpstlichen Gegner in Rom, von den auch nach Paderborn übermittelten Anschuldigungen gegen Leo, aber ebenso davon, daß der Episkopat an der Paderquelle zusammengekommen und daß der Papst dann, auf Rat des Königs, mit fränkischer Begleitung ehrenvoll nach Rom geschickt worden sei. Auch 22 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 9) S. 46 Anm. 151. 23 Vgl. zum Epos jüngst die Farbreproduktion: De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser. Mit Beitr. von L U T Z E . V O N P A D B E R G , J O H A N N E S S C H W I N D und H A N S - W A L T E R S T O R K (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 36, Paderborn 1999). In seiner Vorbemerkung zum parallel erschienenen Nachdruck von Text und Übersetzung: De Karolo rege et Leone papa, hg. und übersetzt von F R A N Z B R U N H Ö L Z L (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 36, Beiheft, Paderborn 1999 [zuerst 1966]) S. 5, widerspricht F. Brunhölzl der auch durch L. von Padberg favorisierten These von D. Schaller. F. Brunhölzl hat eine ausführlichere Darlegung seiner Thesen im Hist. Jahrbuch vorgesehen [F R A N Z B R U N H Ö L Z L , Über die Verse De Karolo rege et Leone papa , Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 274-283]. 24 Achim Hack hat erst jüngst die Schilderung des Zermoniells mit dem Etikett „panegyrisch“ gekennzeichnet: A C H I M T H O M A S H A C K , Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-Kaiser-Treffen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 18, Köln [u. a.] 1999) S. 445-458 (mit weiterer Literatur). 25 Hierzu und zu anderen hagiographischen Problemen des 9. Jahrhunderts in Sachsen vgl. demnächst H E D W I G R Ö C K E L E I N , Translationen nach Sachsen (erscheint in den Beiheften der Francia 2001) [H E D W I G R Ö C K E L E I N , Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter <?page no="303"?> Papst Leo III. 303 hier die römisch-päpstliche Perspektive: Bischöfe strömen herbei, ein Konzil entscheidet, der König berät nur, diese Darstellung spricht für sich. Nötig war es in jedem Fall, die römischen Verhältnisse zu regeln, weil in Paderborn auch Leos römische Gegner erschienen waren, die den Papst offensichtlich mit Hilfe des Frankenkönigs zur Selbstabsetzung bewegen wollten. Vielleicht schon vorher hatten karolingische Rechtskundige über den Fall Leo gebrütet. Die Überle-[8/ 9]gungen Alkuins und Arns gehen aus Briefen und Schriften hervor 26 . Inhaltliche Argumente für den Papst fanden sie kaum. Geltend machen konnten sie nur die päpstliche Immunität, den Grundsatz, daß der oberste Stuhl Richter sei, aber nicht gerichtet werde: Prima sedes a nemine iudicatur, ein auf die symmachianischen Fälschungen zurückgehender Satz, der sich schließlich auch für Leo durchsetzte 27 . 5. Prozeß in Rom Mit fränkischem Geleit kam Leo nach Rom. Warum wollte oder sollte er ohne Karl nach Rom zurückkehren? Ging es darum, zwar durch Franken geschützt, zunächst selbst ehrenvoll in Rom einzuziehen? Der Leovita zufolge empfingen ihn die Scholen der Fremden, daran schloß sich ein feierliches Amt in St. Peter an. Schon am Andreastag, am 30. November, nahm Leo den Lateran wieder ein, Hildebald von Köln und Arn von Salzburg verhörten die Aufständischen, die - so das Papstbuch - nichts gegen Leo vorbringen konnten. War dies so, oder ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens? Die Untersuchungsrichter scheinen eher noch weitere gravierende Fehler Leos festgestellt zu haben. Alkuin verbrannte, wie er selbst schreibt, einen Brief Arns von Salzburg, der zu den Untersuchungsrichtern in Rom gehörte, weil er bei seiner Achtung vor dem Papsttum die Vowürfe nicht für wahr halten wollte und um etwaige Ärgernisse durch nachlässige Aufbewahrung des Briefes auszuschließen 28 . Vielleicht gab es deshalb in den Wochen vor Karls Kaiserkrönung nochmals eine rechtliche Klärung im Beisein des Karolingers. Warum dauerte es so lange, bis Karl die Angelegenheit nochmals untersuchen ließ? Die Leovita des Liber Pontificalis ist bemüht, die Zeit zu verkürzen, post modicum tempus, nach kurzer Zeit, sei Karl nach Rom gekommen - es war fast ein Jahr später! Eine Versammlung sei zu dem Schluß gekommen, daß die prima sedes, der erste Sitz, nicht gerichtet werden könne. Leo III. erwiderte nur: me purificare paratus sum. Die Bereitschaft zu einem Reinigungseid setzte er am 23. Dezember 800 um. Vom Ambo der Peterskirche aus hielt er die Evangelien hoch und erklärte: (Beihefte der Francia 48, Stuttgart 2002)]. 26 Vgl. die verschiedenen Briefe in MG Epist. IV (wie Anm. 7). 27 B E C H E R , Karl der Große (wie Anm. 20) S. 28; hierzu Z I M M E R M A N N , Papstabsetzungen (wie Anm. 18) S. 29ff. und S A L VA T O R E V A C C A , Prima sedes a nemine iudicatur: genesi e sviluppo storico dell’assioma fino al decreto di Graziano (Miscellanea historiae pontificiae 61, Rom 1993). 28 Vgl. MG Epist. IV. (wie Anm. 7) S. 309f. <?page no="304"?> 304 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit „Ich habe keine Kenntnis von den falschen Anklagen, die jene Römer gegen mich vorgebracht haben, die mich ungerechtfertigterweise verfolgt haben, und ich weiß, daß ich derartiges nicht begangen habe“ 29 . [9/ 10] Damit reinigte der Papst sich durch einen Eid von seiner Schuld. Vielleicht hatte Arn von Salzburg die Formel entworfen. Die verschiedenen, auch verfälschten Fassungen dieses Eides hat Max Kerner gesichtet. Sie zeigen, wie schwer die rechtliche Immunität des Papstes und die Anklagen in Einklang zu bringen waren 30 . Die anderen Quellen, so etwa die Reichsannalen, bleiben knapper und zielen schon stark auf das dann am Weihnachtstag 800 Wirklichkeit werdende Kaisertum, wenn sie z. B. den schon kaisermäßigen Empfang Karls in Rom hervorheben. Die Zeiträume der Beratungen bis zum 23. Dezember deuten jedoch an, wie hart die Verhandlungen gewesen sein müssen. Die Situation war für Leo bis zu diesem Zeitpunkt keinesfalls geklärt. 6. Die Kaiserkrönung Verhandelte Karl schon in Paderborn über das Kaisertum? Wohl kaum, denn erst ein restituierter Papst konnte Verhandlungspartner sein. Aber im Reich dachte man an das Kaisertum. Hier in Aachen ist schon oft über das Kaisertum Karls gesprochen worden, sind sicher häufig die verschiedenen Vorstellungen über dieses weltgeschichtliche Ereignis ausgebreitet und feinsinnig interpretiert worden. Deshalb will ich heute nicht über die sogenannte Aachener Kaiseridee sprechen, will auch nicht über die verschiedenen weiteren Konzeptionen eines Kaisertums reden, sondern möchte nur noch einmal auf die sogenannte Kölner Königsnotiz verweisen, wonach man Karl sogar das Kaisertum von byzantinischer Seite angeboten habe 31 . Das römische Kaisertum lag damals de jure noch in Byzanz. Dort hatte sich Irene mit Gewalt gegen den eigenen Sohn seit 797 der kaiserlichen Herrschaft bemächtigt. Verschiedene Notizen der fränkischen Annalen verweisen auf Gesandtschaften aus Konstantinopel. Boten kamen ins Karolingerreich, um über Frieden zu beraten. Karl verhandelte, nachdem er die Sachsen unterworfen hatte, vielleicht mit Byzanz. Bot Irene ihm sogar das Kaisertum an? In der Kölner Notiz von 798 oder 799 heißt es: Missi venerunt de Grecia, ut traderent ei imperium. Dieser Hinweis steht in einer komputistischen Sammelhandschrift 32 , sie ist vielleicht verläßlicher als oft angenommen. Könnte Irene, wie zuletz Ralph Lilie 29 Vgl. Lib. pont (ed. D U C H E S N E II) (wie Anm. 2). Die Übersetzung nach B E C H E R (wie Anm. 20) S. 31. 30 M A X K E R N E R , Der Reinigungseid Leos III. vom Dezember 800. Die Frage seiner Echtheit und frühen kanonistischen Überlieferung. Eine Studie zum Problem der päpstlichen Immunität im früheren Mittelalter, Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 84/ 85, 1977-1978, S. 131-160. 31 Seit der Interpretation von H E I N Z L Ö W E , Eine Kölner Notiz zum Kaisertum Karls des Großen, Rheinische Vierteljahrsblätter 14/ 1949, S. 7-34. 32 Vgl. ebenda. <?page no="305"?> Papst Leo III. 305 vermutet hat, Karl eine Kaiserkrone des Westens angeboten haben 33 ? Deutet der komputistische [10/ 11] Kontext vielleicht sogar darauf hin, daß man das Kaisertum Karls in den Zusammenhang mit dem Warten auf einen Endkaiser brachte, wie dies Johannes Fried in Paderborn vorschlug? Wie immer man die Kölner Königsnotiz bewertet, sicher wurde die Frage eines karolingischen Kaisertums vor dem Weihnachtstag 800 diskutiert. Eine Zeit der Vorbereitung, die vielleicht erklärt, warum Karl ein Jahr später als Leo nach Rom geht. Er hat erst noch zu tun, er muß regieren, diesen Eindruck lassen die Annales regni Francorum entstehen. Karl empfängt Gesandtschaften aus dem weiten Umkreis seines Reiches, in diesem Jahr aus Jerusalem mit Reliquien, aus dem muslimischen Huesca, aus der Bretagne. Auch empfing er abbasidische Gesandte oder Gaben des Königs von Asturien etwa in dieser Zeit 34 . Die Annalen zeichnen das Bild eines universalen Herrschers, dem nur noch das nomen, der Kaisertitel, fehlte. Die politisch-theologische Vorstellung, daß Diskrepanzen zwischen Macht und Titulatur den göttlichen ordo störten, ging auf Augustinus und andere Kirchenväter zurück und war schon für die Legitimierung der Königserhebung Pippins 751 wichtig gewesen 35 . Als Karl dann im November 800 nach Rom kam, ließ er sich nach den Reichsannalen - wie ein Kaiser empfangen, der Annalist beschreibt die Zeremonien detailliert, die Leovita weiß nur, Karl sei cum magno honore empfangen worden. Nicht nur im Umkreis Karls gab es Vorstellungen über ein westliches Kaisertum, auch Leo III. hatte seine Sicht über das Verhältnis beider Gewalten zum Beispiel in den schon genannten bildlichen Darstellungen aus dieser Zeit dokumentiert 36 . Wessen Vorstellungen setzten sich schließlich durch, als Leo III. am Weihnachtstag Karl, nachdem dieser sich vom Gebet erhoben hatte, die Krone aufsetzte 37 ? Die Frage ist in dieser Gegenüberstellung aufgrund der Quellenlage keinesfalls endgültig zu beantworten. Die bekannte Bemerkung Einhards in seiner Vita Karls, der Herrscher hätte die Peterskirche an diesem Tag nicht betreten, wenn er von den päpstlichen Absichten gewußt hätte, deutet vielleicht an, daß Form und Ausrichtung der Zeremonie eher der päpstlichen „Regie“ und byzantinischen Traditionen verpflichtet waren. Die Vorstellungen 33 L I L I E , Byzanz (wie Anm. 14) S. 206f. 34 Zu diesen verdichteten Kontakten vgl. M I C H A E L B O R G O L T E , Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und mit den Patriarchen von Jerusalem (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 25, München 1976). 35 Vgl. klassisch H E I N R I C H B Ü T T N E R , Aus den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens. Die Königserhebung Pippins, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. Mainauvorträge 1954 (Vorträge und Forschungen 3, Konstanz 1954) S. 155-167; vgl. mit neuen Akzenten W E R N E R A F F E L D T , Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, FMSt 14/ 1980, S. 95-187. 36 Vgl. oben Anm. 11. 37 Zur Einbettung in den liturgischen Ablauf vgl. K A R L J O S E F B E N Z , „Cum ab oratione surgeret“. Überlegungen zur Kaiserkrönung Karls des Großen, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 31/ 1975, S. 337-369. <?page no="306"?> 306 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Karls und seiner Umgebung von einem erneuerten Kaisertum dürften von denen des Papstes abgewichen sein. Somit war die Kaiserkrönung nach den klassischen Worten Peter [11/ 12] Classens ein „Knoten aus bunten Fäden . . . , die aus verschiedenen Richtungen zusammenlaufen, bald danach aber wieder auseinanderstreben . . . . In Formen, die Konstantinopel im einzelnen geprägt, aber Papst Leo in neuer Weise kombiniert hatte, wurde Karl durch päpstliche Krönung und Akklamation der Römer zum Kaiser erhoben, . . . aber ohne daß die Franken zurücktreten durften“ 38 . Leo, um den es in diesem Beitrag geht, war an diesem Tag entscheidend, war Regisseur. Nach dem Liber pontificalis „macht“ der Papst den Kaiser, er krönt, salbt und leistet nicht - wie die fränkischen Annalen anders berichten - den Kniefall, die Proskynese. Obwohl bis zum 23. Dezember 800 noch von Karl ausgesprochen abhängig, konnte der Papst offensichtlich zumindest den Ablauf der Kaiserkrönung stark beeinflussen und somit auch den päpstlichen Anteil unterstreichen. Ob Leo sogar einen neuen Kaiser brauchte, um seine Widersacher wirkungsvoll bestrafen zu können, hängt davon ab, wie verbindlich in Rom das Gesetz galt, das um 740 der oströmische Kaiser Leon III. und sein Sohn Konstantin V. erlassen hatten 39 : Hochverräter dürfe demnach nur der Kaiser richten. Für Leo war die Hilfe eines Kaisers jedenfalls vorteilhaft. Dies könnte Leos Entscheidung mit beeinflußt haben, seinen Patricius mit der Kaiserwürde zu bekleiden. Die erste Amtshandlung des neuen Kaisers war dementsprechend der Prozeß gegen die Majestätsverbrecher, die zum Tode verurteilt, aber auf päpstliche Fürsprache hin begnadigt wurden 40 . 7. Leos Entscheidungen in theologischen und disziplinarischen Angelegenheiten Leo III. unterlag auch nach 800 weiterhin zweifellos einem verstärkten karolingischen Einfluß. Die Verhandlungen über das Kaisertum mit Byzanz führten weitgehend die Karolinger; auch ließ Karl seinen Sohn Ludwig 813 ohne päpstliche Beteiligung zum Mitkaiser erheben. 804 reiste Leo erneut ins Frankenreich. Gemäß den Reichsannalen habe der Papst gewünscht, mit Karl das Weihnachtsfest zu feiern. Karl soll Leo gebeten haben nachzuprüfen, was es mit dem Blut des Erlösers auf sich habe, das man in Mantua entdeckt habe. War dies ein willkommener Anlaß für Leo, die Ewige Stadt zu verlassen? Karl schickte seinen Sohn zum Empfang nach St-Maurice im Wallis. Es [12/ 13] folgte ein Treffen in Quierzy, nördlich von Paris, an der Oise, und nach den Festtagen geleitete Karl den Papst nach Aachen. 38 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 9) S. 79. 39 S C H I M M E L P F E N N I G , Papsttum (wie Anm. 2) S. 103. 40 O T M A R H A G E N E D E R , Das „crimen maiestatis“, der Prozeß gegen die Attentäter Papst Leos III. und die Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Aus Kirche und Reich. Festschrift für Friedrich Kempf, hg. von H U B E R T M O R D E K , Sigmaringen 1983, S. 131-160. <?page no="307"?> Papst Leo III. 307 Daß Karl den Papst Weihnachten nicht in Aachen traf, hat vor allem Peter Classen dahingehend interpretiert, daß dieser Ort, wo man eine eigene Tradition, auch Vorstellungen über ein Kaisertum Karls entwickelt hatte, vielleicht den Kaiser unangenehm an die Ereignisse von Weihnachten 800 hätte erinnern können. „Nicht Aachen“ sei implizit aus den Quellen „herauszuhören“ 41 . Leo reiste zweimal ins Frankenreich, einmal nach Paderborn, einmal nach Quierzy. Für Aachener sollte es versöhnlich stimmen, daß Leo wenigstens bei seinem zweiten Besuch nach Weihnachten Aachen besucht haben soll. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch eine spätere, zeitgenössisch nicht belegte Notiz: Erstmals in einer Urkunde Hadrians IV. von 1158 wird erwähnt, der Papst habe die Aachener Marienkirche geweiht. Dieser späte Hinweis auf eine päpstliche Kirchweihe, nicht die Krönung Karls, verschaffte Leo III. wohl seinen Platz auf dem Karlsschrein, denn in seiner Hand hält er in der Linken das Aspergil 42 . Die von mir eingangs unterstrichene Darstellung eines fast untergeordneten Papstes auf der Stirnseite des Karlsschreines erklärt sich mithin eher aus diesen Zusammenhängen. Konnte Leo aber eigene Akzente in kirchlichen Fragen entwickeln? Bedingt. Schon seit den Auseinandersetzungen um den Adoptianismus, die noch in seinen Pontifikat hineinreichten, gab es eine gewisse Dominanz der Franken. Dieser Streit wurde zunächst gegen Ende des 8. Jahrhunderts innerspanisch, später aber auch im Karolingerreich und in Rom ausgetragen 43 . Die Diskussion um die Qualität von Gottsohn, der, wie einige prominente Bischöfe im muslimischen Spanien vertraten, vom Vater nur adoptiert sein sollte, betraf direkt die traditionelle trinitarische Lehre. Sollte es eine Kompromißformel der Christen sein, die unter der Herrschaft der streng monotheistischen Muslime lebten? Der Streit, in dem zunächst Beatus von Liébana in Asturien und Elipandus von Toledo, aber auch Felix von Urgell rangen, gewann in der Folge europäischen Charakter. Die Suche nach Bundesgenossen führte Elipandus von Toledo sogar dazu, Karl als neuen Konstantin zu bezeichnen, der sich von einem neuen Arius, nämlich Alkuin, irreführen lasse 44 . Die theologischen Berater Karls setzten sich durch und unterstützten damit die Anhänger der klassi-[13/ 14]schen Trinitätslehre auf der Iberischen Halbinsel. Rom und der Papst stimmten dieser Entscheidung zu, Leo III. sprach 798 das Anathem gegen Felix von Urgell aus 45 , folgte dabei jedoch weitgehend theologischen Vorgaben aus dem Karolingerreich. 41 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 9) S. 88. 42 Karl der Große und sein Schrein (wie Anm. 3) S. 128. Zu den Erwähnungen bei Hadrian und in den Ann. Tileenses vgl. JE I p. 312. 43 Vor allem auf dem Konzil in Frankfurt 794, vgl. hierzu die Beiträge in dem Sammelband: Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, 1-2, hg. von R A I N E R B E R N D T (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 80, Mainz 1997). 44 MG Epist. IV (wie Anm. 7) S. 303 und 306f. 45 MG Conc. II,1 (Hannover-Leipzig 1906) S. 111-130 (zu 794) und S. 203f. (zu 798). Vgl. zum Hintergund außer dem Sammelband Das Frankfurter Konzil (wie Anm. 43) auch <?page no="308"?> 308 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Karl blieb auch in der Entscheidung um das sogenannte filioque, also über die Frage, ob der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn hervorgehe, bestimmend. Nach einem Streit zwischen fränkischen Mönchen des Ölbergklosters bei Jerusalem und griechischen Mönchen beim Sabakloster, ob man das filioque im Glaubensbekenntnis singen müsse, wandten sich die fränkischen Mönche zur Belehrung an Leo III. Der Papst hielt an der traditionellen Form fest, das filioque im Glaubensbekenntnis wegzulassen. Für ihn war dies weniger wichtig, weil das Credo in Rom nur während der Taufliturgie gesungen wurde, während es im Frankenreich zur Liturgie einer jeden Sonntagsmesse gehörte. Karl der Große ließ jedoch von seinen Theologen auf einer Synode 809 die Verwendung des filioque als rechtmäßig bestätigen. Leo III. billigte zwar das dogmatische Ergebnis, sprach sich aber gegen eine Einfügung des Wortes in das Glaubensbekenntnis aus. Für die Praxis im Frankenreich konnte Leo III. sich nicht durchsetzten: Er machte seine Posititon anders deutlich, denn schon vorher (wohl 807) hatte er das althergebrachte nicaeano-konstantinopolitanische Symbolum auf zwei Silbertafeln in Griechisch und Lateinisch in der Peterskirche anbringen lassen, wie seine Vita des Liber pontificalis zu berichten weiß. Als gegen Ende des 9. Jahrhunderts der gelehrte Patriarch Photios von Konstantinopel in seiner Schrift „Mystagogia“ auf die Haltung der Päpste zum Symbolum und zum Problem des filioque zu sprechen kam, rühmte er dieses Verhalten Leos. Langfristig setzte sich jedoch die fränkische Entscheidung auch in Rom durch: Karolingische, nicht römische Festlegungen prägten somit die späteren Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westkirche 46 , bei denen ja das filioque ein Streitpunkt war. Im Karolingerreich hatte sich inzwischen mithin großer theologischer Sachverstand um Karl herum geschart: Eigenständiges päpstliches Handeln blieb da schwierig. Am ehesten gelang dies, wenn Streitfälle direkt an den Papst und keinen anderen herangetragen wurden. So konnte Leo zumindest einen Konflikt zwischen dem Mönche des Studitenklosters und dem Patriarchen von Konstantinopel schlichten, weil der Studitenmönch Theodor Leos Urteil gesucht hatte 47 . Inwie-[14/ 15]weit die Sarazenenbedrohung auch zu eigener J O H N C . C AVA D I N I , The last Christology of the West. Adoptionism in Spain and Gaul (785-820) (The Middle Ages series, Philadelphia 1993) und zusammenfassend K L A U S H E R B E R S , Felix von Urgell, in: RGG (im Druck) [K L A U S H E R B E R S , Art. ‚Felix von Urgell‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3 (2000) Sp. 65]. Allgemein zu diesen Entscheidungen W I L F R I E D H A R T M A N N , Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen, Paderborn 1989) S. 105-115 und 120. Vgl. auch die Einleitung von A N N F R E E M A N in: Opus Caroli Regis contra synodum (Libri Carolini), ed. A N N F R E E M A N unter Mitwirkung von P A U L M E Y VA E R T (MG Conc. II Suppl. 1, Hannover 1998) bes. S. 1-12. 46 So das Urteil von C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 9) S. 99. Vgl. zur römischen Entscheidung JE I p. 313 und die Texte von Aachen (809) und Rom (810): MG Conc. II,1 (wie Anm. 45) 235-244, vgl. H A R T M A N N , Synoden (wie Anm. 45) S. 126f. 47 Vgl. V E N A N C E G R U M E L , J E A N D A R R O U Z È S , Les regestes des actes du Patriarcat de Constantinople I,2: Regestes de 715 à 1043 (Le partriarcat Byzantin, Série 1, Paris 1936, 2. Aufl. von J E A N D A R R O U Z È S , Paris 1979) Nr. 382 (1. Aufl.). <?page no="309"?> Papst Leo III. 309 päpstlicher Politik führte, wäre nochmals einer genaueren Revision zu unterziehen 48 . 8. Leo in Rom und im Patrimonium Petri Über alle diese Entscheidungen wissen wir jedoch kaum aus römischen Quellen, die Leovita des Liber pontificalis interessierte dies weniger. Offensichtlich gab es in Rom andere Vorstellungen darüber, was einen guten Papst auszeichne. Ein Papst war damals vor allem noch Bischof von Rom, und hier zeigte sich, ob er für das ihm anvertraute Bistum am richtigen Platz war. Konnte Leo hier neue Akzente setzen? Als Leo 799 aus Paderborn zurückkehrte und in Rom einzog, empfingen ihn unter anderem die scholae peregrinorum, die Scholen von Franken, Friesen, Sachsen und Langobarden. Unter schola verstand man in Byzanz eher militärische Verbände, in Rom neben dem Ort des Unterrichtes auch Versammlungsorte und schließlich die zugehörigen Personengruppen. Diese sogenannten scholae waren zunächst vor allem zur Betreuung und Versorgung der eigenen Landsleute in Rom zuständig. Die zitierte Stelle aus der Vita Leos III. ist der erste Beleg dieser neuen Institutionen 49 . Wo hatten die scholae, die man auch als Verbindungsglieder zwischen dem orbis christianus und der Ewigen Stadt bezeichnet hat, ihre Bezugspunkte? Sie besaßen ihre Kirchen und ihre Zentren rechts des Tibers, in der Nähe von St. Peter. Dieses Gebiet befestigte erstmals Leo III. mit Mauern. Es war der Versuch, diesen Teil außerhalb der alten Stadt Rom aufzuwerten und als eine Zone päpstlichen Einflusses in das Ensemble der Stadt einzubeziehen. Das Bauprogramm setzte nach Leo III. vor allem Leo IV. erfolgreich fort, nachdem die Sarazenen diese Gegend verwüstet hatten. Möglicherweise bezieht sich allerdings sogar der Name dieser dann 852 eingeweihten civitas Leoniana oder Leonina auf Leo III. und nicht auf Leo IV. (847-855); zumindest wird Leo III. auch in den Quellen aus der Mitte des 9. Jahrhunderts mehrfach als Begründer der civitas auf dem rechten Tiberufer hervorgehoben 50 . Damit begann Leo III. aber eine stadtrömische Politik, bei der er neue Personengruppen, wie die Scholen institutionell und geographisch neu verortete. Dies war geeignet, die alten Strukturen des römischen Stadtadels wenigstens teilweise aufzubrechen. [15/ 16] Von den Scholen der Fremden verweist die schola Saxonum auf Beziehungen zu den Britischen Inseln, deren Romorientierung schon lange unterstrichen 48 Vgl. z. B. den Brief Leos III. (JE 2524, ed. MG Epist. V S. 96f.) an Karl den Großen. Zu den Päpsten und den Sarazenen im 9. Jh. bereite ich eine Abhandlung vor. 49 H E R B E R S , Leo (wie Anm. 6) S. 255-259 und R U D O L F S C H I E F F E R , Karl der Große, die „schola Francorum“ und die Kirchen der Fremden in Rom, Römische Quartalschrift für christliche Alterthumskunde und Kirchengeschichte 93/ 1998, S. 20-37. 50 Auch einige Chronisten, die über den Sarazeneneinfall 846 berichten, setzen bereits vor dem Pontifikat Leos IV. die Existenz einer civitas Leoniana voraus, vgl. H E R B E R S , Leo (wie Anm. 6) S. 146f. <?page no="310"?> 310 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit wurde. Außer mehreren Urkunden unterstreicht der sogenannte Peterspfennig diese Bindung. 797 soll Papst Leo III. König Offa II. von Mercien als Stifter der Jahresabgabe von 365 Mankusen an den Nachfolger Petri bezeichnet haben 51 . Leo III. war Bischof von Rom und Herr des Patrimonium Petri. Wie alle anderen Päpste dieser Zeit beanspruchten ihn deshalb vor allem römische Belange und Angelegenheiten. Urbi et orbi bedeutete eben meist noch „urbi“, die Sorge für die Stadt. Von den Bemühungen um die Kirchen Roms berichtet die Leovita fast ausschließlich. Neuere Forschungen haben das System dieser Schenkungen genauer erfaßt und sogar die beschriebenen Bildprogramme auf den Textilien herausgearbeitet 52 . Mit den kostbaren Tüchern und Bildzyklen wurden vielleicht im einzelnen auch theologisch-dogmatische Akzente gesetzt und besonders wirksam visualisiert. Mit Geschenken und Reisen versuchten die Päpste Rom und das Patrimonium Petri enger an sich zu binden; sie handelten wie viele andere lokale Machthaber in Italien, zum Beispiel in Neapel. Aber der Papst war reicher, dies belegen die vielen Gaben, Kelche, liturgische Bücher, wertvolle Stoffe, mit denen er seinerseits Kirchen und Orte an sich band. Daß Leo III. besser als andere Päpste schenken konnte, hing wohl auch mit Karls wertvollen Gaben anläßlich der Kaiserkrönung zusammen, die im Papstbuch aufgeführt werden und denen vielleicht auch Teile des von Karl erbeuteten Awarenschatzes zuzurechnen sind 53 . Die vom Papst über mehr als zwanzig Jahre kontinuierlich ausgegebenen Geschenke zeigen, wie in einer Gesellschaft, bei der die Gabe gleichzeitig ein ganzes Ensemble sozialer Beziehungen bestimmte, der Papst als wichtigster Schenker gleichzeitig eminent politisch wirkte; Marcel Mauss bezeichnet ja die Gabe in archaischen Gesellschaften als ein „fait social total“ 54 . 9. Schluß Konnte dieser oberste Schenker aber neben einem Karl unabhängig bleiben? Wie sehr der fränkische Einfluß in Rom von der Person Karls des Großen abhing, zeigen die Entwicklungen nach Karls Tod am 28. Januar 814. Leo gewann an Bewegungsfreiheit. Als sich neue [16/ 17] Adelsverschwörer gegen ihn ver- 51 Vgl. JE 2511, die Edition des Briefes Leos in MG Epist. IV (wie Anm. 7) S. 187-189; vgl. allgemein O L E J E N S E N , Der englische Peterspfennig und die Lehenssteuer aus England und Irland an den Papststuhl im Mittelalter (Heidelberg 1903). 52 G E E R T M A N , More (wie Anm. 12); L . E D W A R D P H I L I P P S , A Note on the Gifts of Leo III to the Churches of Rome: „Vestes cum storiis“, Ephemerides Liturgicae 102/ 1988, S. 72-78. 53 Vgl. zur Erbeutung 791 bzw. 795/ 96 B Ö H M E R - M Ü H L B A C H E R (wie Anm. 2) 314b und 333f. Der Verbleib dieser Reichtümer läßt sich nur teilweise verfolgen, so muß auch die Einrichtung einer Schatzkammer im Aachener Palast hiermit zusammenhängen. Bezüglich der Päpste scheinen jedenfalls Karls Gaben nach der Kaiserkrönung besonders erwähnenswert, vgl. Lib. pont. (D U C H E S N E II) (wie Anm. 2) S. 7-8. 54 Deutsch: M A R C E L M A U S S , Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archai- <?page no="311"?> Papst Leo III. 311 banden, wurden diese 815 als Majestätsverbrecher verurteilt 55 . Den neuen, nicht von ihm gekrönten Kaiser fragte Leo III. nicht. Kein Karolinger, sondern der Papst selbst stand nun dem Prozeß vor. Dies hätte er zu Lebzeiten Karls wohl kaum gewagt. Zwar untersuchte Karls Enkel Bernhard († 818), dem 812 die Königsherrschaft über Italien übertragen worden war, die Angelegenheit, und der Papst schickte Erklärungen an Kaiser Ludwig den Frommen (814-840), aber dabei blieb es. Persönlichkeiten, auch päpstliche, können in sich widersprüchlich sein, können 815 anders als 800 handeln, entziehen sich bei der fragmentarischen Quellenlage nur zu schnell einer wirklichen Beurteilung. Die letzte Episode zeigt Leos Selbstbewußtsein, deutet allerdings auch an, daß der am 12. Juni 816 gestorbene Papst am Ende seines Pontifikates immer noch nicht unangefochten in Rom regierte. Jedoch war dies eher ein strukturelles Problem. Wie es heißt, soll sein Nachfolger Stephan IV. (816-817), der wie die späteren Päpste Sergius II. (844-847) und Hadrian II. (867-872) aus einer sehr vornehmen römischer Familie stammte, die Gegner Leos III. begnadigt haben. Der Streit des römischen Adels um die Cathedra Petri, die immer nur punktuelle Einflußnahme eines mächtigen oder profilierten Patricius oder Kaisers deuten an, daß es noch lange dauern sollte, bis das päpstliche Amt sich aus diesen regionalen Bezügen lösen sollte, die ja im übrigen nie ganz zurücktraten. Gleichzeitig ordnet sich aber auch die Kaiserkrönung Karls in einen größeren Prozeß ein: Den der Lösung des Papsttums aus byzantinischen Bindungen und der Hinwendung zu den Franken. Diese Neuorientierung macht das Papsttum dieser Zeit unter weltgeschichtlicher Perspektive so interessant. Das Rom Leos III. verdeutlicht dies, etwa die byzantinischen Traditionen bei den Bauten, im Zeremoniell, aber auch bei möglichen Gegnern Leos. Absetzungsriten, Reinigungseid, Majestätsverbrecherprozeß basieren ebenso auf diesem Fundus. Karolingische Formen ersetzen diese Prägungen nicht nahtlos, nicht ohne Widerstand oder ohne Brechungen; sie greifen eher manches auf oder verändern es. Vor diesem Hintergrund ist Rom ein in dieser Zeit besonders wichtiger Raum für kulturelle Transferprozesse 56 . schen Gesellschaften, in: D E R S . , Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, hg. von W O L F L E P E N I E S / H E N N I N G R I T T E R (Frankfurt-Berlin-Wien 1978) S. 11-148. 55 JE I p. 315. 56 In dieser Hinsicht ist das Rom des 8. und 9. Jahrhunderts ein vorzügliches Beispiel für Kulturtransfer und Akkulturation. Zu Möglichkeiten, diese Konzepte auch für das Mittelalter nutzbar zu machen, vgl. die Hinweise zum Erlanger Graduiertenkolleg bei K L A U S H E R B E R S , Kulturtransfer durch Reisende? Schlesische und andere Westeuropa-Reisende im 15. Jahrhundert, in: Die Bedeutung der Jagiellonen für Kunst und Kultur Mitteleuropas (1450-1550) (im Druck, erscheint 2000) [K L A U S H E R B E R S , Kulturtransfer durch Reisende? Schlesische und andere Westeuropa-Reisende im 15. Jahrhundert, in: Die Jagiellonen. Kunst und Kultur einer europäischen Dynastie an der Wende zur Neuzeit, hg. von D I E T M A R P O P P / R O B E R T S U C K A L E (Nürnberg 2002) S. 337-346, wiederabgedruckt in: Peregrinatio ad Veritatem, hg. von U R S Z U L A B O R O W S K A O S U / C Z E S Ł A W D E P - T U Ł A / ks. R Y S Z A R D K N A P I ´ N S K I / Z B I G N I E W P I Ł A T / E U G E N I U S Z W I ´ S N I O W - S K I (Lublin 2004) S. 97-116]. <?page no="312"?> 312 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Vor diesem Hintergrund ist es spannend, die schon in den Quellen zu 799/ 800 kontrovers gedeuteten Ereignisse und die weiteren Brechun- [17/ 18]gen dieser Interpretationen zur Kenntnis zu nehmen und zu beobachten, wie die für uns deutlichen, langfristigen Neuorientierungen der Päpste sich teilweise schon in den verschieden gefärbten Berichten unterschiedlich spiegeln. Leos langer Pontifikat hat außer der Intensivierung der Beziehungen zum Frankenreich gerade auch in Rom eigene Akzente gesetzt, ich verweise auf die scholae peregrinorum, die vielleicht eine mangelnde Einwurzelung Leos in der römischen Aristokratie ausgleichen sollten. Freilich wird sein Vorgänger Hadrian I. meist positiver beurteilt, der für die bauliche Entwicklung Roms (zum Beispiel durch die Erneuerung der Aquädukte nach der Langobardenbedrohung und die Neuorganisation des päpstlichen Landbesitzes im Patrimonium Petri) Wesentliches beitrug. Die Abhängigkeit von den Franken hatte Hadrian I. jedoch schon in ähnlicher Form wie Leo III. in kirchlichen Entscheidungen 792 und 794 zu spüren bekommen. Daß die Nachfolger Leos III., Stephan IV., Paschalis I. (817-24), Eugen II. (824-27), Valentinus (827) und Gregor IV. (827-844) die Rombeziehungen der Karolinger wieder stärker nach eigenen Vorstellungen gestalten konnten, lag auch daran, daß sie nicht mehr Karl den Großen, sondern Ludwig den Frommen oder Lothar I. zum Partner hatten. Vor dem Hintergrund all dieser Voraussetzungen sollte die Bilanz für den Pontifikat Leos III. - trotz verschiedener Rückschläge - nicht ganz negativ ausfallen. Er überstand eine schwierige Situation 799-800 - was nicht allen Päpsten dieser Zeit in vergleichbaren Situationen gelang -, und dürfte im Rahmen des Möglichen sogar noch bei der Kaiserkrönung päpstliche Akzente durchgesetzt haben. Allen Bemühungen, den Pontifikat Leos nicht nur von den Ereignissen 799-800 zu bewerten, zum Trotz lenken uns die Quellen freilich immer wieder auf diese Zeit. Eine ganze Reihe später gefälschter Urkunden und Fiktionen, welche die Autorität Leos III. bemühen, basieren auf der Vorstellung, daß päpstliche Legitimation besonders gut dem Coronator Karls zukomme 57 . Auch der Liber Pontificalis und andere Quellen hatten hier den Rezeptionsrahmen für die Nachwirkung Leos vorgegeben. Deshalb sehen wir noch heute den Reinigungseid und die Kaiserkrönung in den Stanzen des Raffael, die Papst Leo X. (1513-1521), der bedeutendste Gönner Raffaels und seiner Schule, mit Bildnissen seiner Namensvorgänger ausmalen ließ, von denen auch die karolingerzeitlichen Päpste Leo III. und Leo IV. (847-855) berücksichtigt wurden. Vor allem die Kaiserkrönung schließlich bewirkte wohl im 17. Jahrhundert, daß man Leo III. in den Katalog der Heiligen aufnahm. Sein Fest wird am 12. Juni gefeiert. Zwar hat Leo nicht den Aachener Dom geweiht, zwar geht es heute und morgen in Aachen um Karl, aber ohne Leo auch kein Kaiser Karl. Oder wäre es den Aachenern lieber gewesen, wenn bei den Turbulenzen 799 und 800 schließlich ein anderer römischer Adeliger die Cathedra Petri erlangt hätte? 57 Diese gefälschten oder fiktiven Aktionen Leos III. müßten einmal vergleichend gesichtet werden, um Fragen zu erörtern, was aus seiner Pontifikatszeit in das „kulturelle Gedächtnis“ einging. Eine Neubearbeitung der Papstregesten wäre für diese Zeit ein dringendes Desiderat. <?page no="313"?> „Päpstliche Autorität“ und päpstliche Entscheidungen an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert Harald Zimmermann zur Vollendung des 80. Lebensjahres I. Einleitung „In Rom war nämlich der Bischof des apostolischen Stuhles verschieden, Johannes mit Namen; dieser hatte schon früher von seinem Verwandten Gift erhalten, jetzt aber wurde er von demselben und zugleich anderen Genossen seiner Freveltat, da er ihrer Meinung nach noch länger leben würde, als daß ihre Begierde hätte gestillt werden können, da sie sowohl seinen Schatz wie die Leitung des Bistums an sich zu reißen dürsteten, so lange mit einem Hammer geschlagen, bis dieser im Gehirn stecken blieb“ 1 . So berichtet eine Fassung der ‚Annales Fuldenses‘ über den Tod des Papstes Johannes 882. Begann damit das dunkle Jahrhundert der Papstgeschichte 2 ? Waren dies die Schandtaten, von denen man vorher nichts gehört hatte? Bis heute sehen viele Darstellungen hierin zumindest eine „Schlüsselfabel“, die auf die schwierigen folgenden Zeiten verweise 3 . Die kommenden römi-[7/ 8]schen Jahre sollten noch weitaus Erschienen in: Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 69), hg. v. Wilfried H A R T M A N N , © 2007 Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, 7-30. 1 Ann. Fuldenses, Cont. Ratisbonensis, ad. a. 883, ed. Friedrich Kurze (MG SS rer. G. 7, Hannover 1891) 109. Ich folge im deutschen Text der Ausgabe Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3, hrsg. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 7, Darmstadt 1960) 135. - Der Text meines Beitrages folgt in der hier vorgelegten Fassung weitgehend der mündlichen Form des Werkstattberichtes, wie er auf der Tagung vorgetragen wurde. Für Hilfe bei der Vorbereitung der Druckfassung danke ich Claudia Kramer, Erlangen. 2 Vgl. zu diesen Einschätzungen seit Baronius zum Beispiel: Harald Zimmermann, Das dunkle Jahrhundert. Ein historisches Porträt (Graz, Wien, Köln 1971), bes. 15-21; ders., Valentin Ernst Löscher, das dunkle Mittelalter und sein „saeculum obscurum“, in: Gesellschaft, Kultur, Literatur. Rezeption und Originalität im Wachsen einer europäischen Geistigkeit, Fs. Luitpold Wallach, hrsg. von Karl Bosl (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 11, Stuttgart 1975) 259-277, bes. 259-262, Ndr.: Harald Zimmermann, Im Bann des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Rechtsgeschichte. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, hrsg. von Immo Eberl und Hans-Henning Kortüm (Sigmaringen 1986) 200-218, bes. 200-203. 3 Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen von ihrem <?page no="314"?> 314 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit spektakulärere Ereignisse bereithalten. Allein die Wirren um Formosus und den postumen Prozeß, bei dem man sogar die Leiche des Papstes noch einmal ausgrub und diese in Pontifikalgewändern auf einen Thron setzte, bieten reichhaltigen Stoff 4 . Auch wenn man nicht auf Skandale aus ist: Im Gegensatz zu den drei „großen Päpsten“ Nikolaus I., Hadrian II. und Johannes VIII., welche die Zeit von 858-882 sicherlich über Rom hinaus prägten, scheinen deren Nachfolger mit ihren kurzen Pontifikaten sowie ihren auf den ersten Blick wenig spektakulären Aktionen die Einschätzung eines schwachen, vielleicht sogar verkommenen Papsttums auf den ersten Blick zu bestätigen. Bedeuteten sie für geistlichen und weltlichen Gewalten überhaupt noch Hilfe und Orientierung? Fast mit Häme berichten die ‚Annales Fuldenses‘, wie die Reise Hadrians III. ins Frankenreich 885, um die Nachfolge Karls III. zu stabilisieren, scheiterte: [Karl beschloß, dies] „vermittelst des römischen Papstes gleichsam durch apostolisches Ansehen (quasi apostolica auctoritate) zu vollenden. Seine hinterlistigen Pläne wurden durch Gottes Eingreifen vernichtet. Denn der römische Papst, der bereits Rom verlassen . . . hatte, endete das gegenwärtige Leben und wurde in dem Kloster Nonantula beigesetzt“ 5 . Eine einzelne Meinung, die aus der politischen Situation zu verstehen ist? In Bezug auf das Rahmenthema scheint es sinnvoll, eher Praxis und Praktiken als Normen in den Blick zu nehmen und dabei nach den gegebenenfalls herangezogenen oder dahinter stehenden Normen zu fragen, denn eine Synodaltätigkeit in Rom, die auch zu neuen Kanones geführt hätte, ist nicht in größerem Maße belegt 6 . Eher boten Fälle wie die schon erwähnte Leichensynode des Formosus Anlässe, die zur Diskussion verschiedener normativer Traditionen führten. Wo und von wem aber wurde hierüber vorrangig gestritten? Inwieweit war überhaupt das Ansehen des Papsttums nördlich der Alpen davon betroffen, und wie sehr bestimmten weltliche Interessen, zum Beispiel des stadtrömischen Adels, päpstliches Handeln? Diese Problematik Auftauchen bis in die neuere Zeit, 3 Bde. (Schriften der MGH 24, Stuttgart 1972-1974) Bd. 2, 289. 4 Vgl. zu den Ereignissen um Formosus Klaus Herbers, Formosus, in: Lex.MA 4 (1989) 655f.; ders., Formose, in: Dictionnaire historique de la papauté (Paris 1994) 691-693 mit der wichtigsten Literatur; Klaus Herbers, Formosus, in: LThK 3 ( 3 1995) 1357f.; Jean-Marie Sansterre, Formoso, in: Enciclopedia dei papi 2 (2000) 41-47. 5 Ann. Fuld., Continuatio Mogontiacensis ad. a. 883 (ed. Kurze, wie Anm. 1) 103. Ich folge im Text der deutschen Übersetzung in: Rau, Quellen 3 (wie Anm. 1) 125 und 127. Zum späteren Kult um Hadrian III. in Nonantula - in Verwechslung mit Hadrian I. vgl. Klaus Herbers, Zu Mirakeln im Liber pontificalis des 9. Jahrhunderts, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, hrsg. von Martin Heinzelmann, Klaus Herbers und Dieter R. Bauer (Stuttgart 2002) 114-135, 131 mit Anm. 89 (dort weitere einschlägige Quellen- und Literaturangaben). 6 Die wichtigsten Quellen zu den Versammlungen in Rom und Ravenna 896-898 sind zusammengestellt bei Wilfried Hartmann, Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte A: Darstellungen, Paderborn u. a. 1989) 388-395. Zu eventuellen vorherigen und späteren römischen Versammlungen 364 mit Anm. 10 und 395f. <?page no="315"?> „Päpstliche Autorität“ 315 will ich für die Jahre 882-911, also von Marinus I. bis Sergius III., verfolgen. Zur Diskussion stelle ich zunächst Einschätzun-[8/ 9]gen zu Quantitäten und Schwerpunkten der Überlieferung (II), woraus sich die Frage nach dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Institution ergibt (III); am Beispiel von Marinus und Formosus wird die Bedeutung des Translationsverbotes und seiner Folgen kurz vergleichend erörtert (IV). Danach geht es um die dem Papsttum zugebilligte Autorität (V), schließlich in einem zusammenfassenden Résumé auch um die grundsätzlichen Möglichkeiten päpstlicher Herrschaft sowie die Frage nach Krise und Neuanfang zu Beginn des 10. Jahrhunderts (VI). II. Quantitäten - Qualitäten Zunächst darf für alle weiteren Bemerkungen nicht vergessen werden, wie sehr das skizzierte Bild des Niedergangs auch durch die Überlieferung geprägt ist, und zwar in doppelter Weise: Zum einen gibt es - außer von Stephan V. - keine Papstbriefe mehr, die zumindest indirekt auf eine Registerführung verweisen 7 . Zum zweiten wird die Überlieferung in ganz Mitteleuropa insgesamt seit dieser Zeit dünner und sollte erst im 11./ 12. Jahrhundert wieder ein ähnliches Ausmaß wie in der Karolingerzeit erreichen. Wie steht es mit den Quantitäten? Blickt man auf die päpstliche Korrespondenz, oder genauer gesagt auf die in den verschiedensten Quellen belegten Kontaktnahmen der Päpste mit anderen Personen und Institutionen von Marinus I. bis zu Sergius III., so ist für die anstehenden Papstregesten mit etwa 300-350 Nummern zu rechnen. Davon basiert ein großer Teil auf historiographischer Überlieferung, wo päpstliche Aktionen oder Papstkontakte oft nur knapp erwähnt werden. An Briefen und Urkunden verbleiben insgesamt etwa 100 Nummern. Aufschlußreich ist aber das Verhältnis von Pontifikaten bzw. Regierungsjahren und den zugehörigen Briefen bzw. Regesten. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Sedenzzeiten bietet sich eine Dreiteilung des Untersuchungszeitraums an: von Marinus I. bis hin zu Formosus, sodann die oft nur sehr kurz amtierenden Päpste bis hin zu Sergius III. und schließlich dessen Pontifikat. Gewisse Ungleichmäßigkeiten der tabellarischen Übersicht springen sofort ins Auge. Einschätzungen hängen aber auch von den gewählten Einschnitten ab. Teilte man den gesamten Zeitraum von 29 Jahren nicht in drei, sondern in vier Abschnitte von etwa sieben Jahren ein, so böten die ersten beiden Blöcke (882-896) jeweils etwa einhundert Regestennummern, danach folgen 896-903/ 4 gut sechzig und 904-911 noch vierzig Nummern, was auf einen gewissen Rückgang der Überlieferung verweist. Allerdings wäre eine größere Gleichmäßigkeit gegeben, wenn man in Rechnung stellt, daß ein Gutteil der 7 Die Brieffragmente Stephans V. sind vor allem in der ‚Collectio Britannica‘ überliefert. Vgl. zur Interpretation der Fragmente Leos IV. Klaus Herbers, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts - Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27, Stuttgart 1996) 49-91. Zu den Briefen Stephans V. vgl. Tabelle 1 und 3, unten 10 und 30 [316 und 337]. <?page no="316"?> 316 Papst- und Rombezüge der Karolingerzeit Tabelle 1: Päpstliche Briefe und Urkunden Pontifikatszeit Regestenanzahl (ca.) davon ca. (ohne Dep.) Briefe Urkunden I. Marinus I. (882-884) ca. 30 3 Hadrian III. (884-885) ca. 20 4 Stephan V. (885-891) ca. 120 37 22 Formosus (891-896) ca. 47 7 II. Bonifaz VI. (896) 4 Stephan VI. (896-897) 13 3 Romanus (897) 6 2 Theodor II. (897) 3 Johannes IX. (898-900) 14 6 Benedikt IV. (900-903) 13 5 Leo V. (903) 6 Christoph (903) 4 1 III. Sergius III. (897; 904-911) 40 16 Äußerungen von Stephan V. nur der [9/ 10] Aufnahme in die ‚Collectio Britannica‘ und andere kanonistische Sammlungen zu verdanken ist, was gleichzeitig den „Durchschnitt“ dieser Anfangsphase in die Höhe treibt. Würde man nur die Urkunden heranziehen, so änderte sich der Befund. Pro Pontifikatsjahr ergäbe sich im Durchschnitt ein Ausstoß von etwa 2,3 Urkunden, Stephan V. und Johannes IX. ziehen den Durchschnitt in ihren Zeiten nach oben. Diese Zahl liegt aber nicht so wesentlich unter der Urkundenanzahl der bei Zimmermann edierten Papsturkunden, die über den Zeitraum von 896-996 gerechnet mit 326 Stücken nur auf etwa 3,2 pro Jahr steigt 8 . Der eigentliche Anstieg überlieferter Papsturkunden erfolgte erst 996-1046 mit ca. 300 Urkunden in 50 Jahren, das bedeutet jährlich 6,0 9 . Das beginnende 10. Jahrhundert ist zunächst sogar urkundenärmer, denn von 896-946 sind nur 110 Nummern zu verzeichnen, ein Jahresdurchschnitt von 2,2. Vor 882 lag die Privilegienausstellung von 855-882 mit etwa 2,8 Urkunden pro Jahr sogar etwas höher; hier aber schlugen die Privilegien - einschließlich der späteren Fälschungen 8 Dies entspricht dem ersten Band der edierten Urkunden von 896 an: Harald Zimmermann, Papsturkunden 896-1046, Bd. 1: 896-996 (Wien 2 1988), Bd. 2: 996-1046 (Wien 2 1989). Zur Aktualisierung vgl. auch die Neuauflage von Harald Zimmermann, Papstregesten 911-1024 (Johann Friedrich Böhmer, Reg. Imp. II, 5, Wien, Köln, Graz 1969, Wien, Köln, Weimar 2 1998). 9 Zimmermann, Papsturkunden (wie vorige Anm.) Bd. 2. <?page no="3