Passivierung und Unakkusativität in den romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch
Eine Untersuchung aus synchroner und diachroner Perspektive
0404
2012
978-3-8233-7625-5
978-3-8233-6625-6
Gunter Narr Verlag
Katrin Schmitz
Im vorliegenden Buch werden passivische Konstruktionen der drei romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch in drei Epochen (Mittelalter, frühe Neuzeit, Gegenwart) anhand von Chroniken vergleichend untersucht und deutliche Veränderungen festgestellt. Sprachwandel im syntaktischen Bereich stellt insbesondere für die zugrunde gelegte generative Sprachtheorie seit jeher eine Heraus-forderung dar, da sie eine im normalen Spracherwerbs-verlauf nicht vorherzusehende Variation beinhaltet. Unter Zugrundelegung der Annahme Longobardis, dass syntaktischem Wandel ein semantischer oder phono-logischer Wandel vorausgehen müsse, verfolgt das vorliegende Buch die Option, den semantischen Wandel, genauer die Rolle des Lexikons zu beleuchten. Dabei stehen Bedeutungswandelprozesse bei den beteiligten Verben im Hinblick auf Veränderungen ihrer Transitivität im Mittelpunkt. Als theoretischer Bezugsrahmen wird die Generative Lexikon-Theorie von Pustejovsky verwendet und zu einer Theorie des Bedeutungswandels ausgebaut.
<?page no="0"?> Katrin Schmitz Passivierung und Unakkusativität in den romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch Eine Untersuchung aus synchroner und diachroner Perspektive <?page no="1"?> Passivierung und Unakkusativität in den romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 525 <?page no="3"?> Passivierung und Unakkusativität in den romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch Eine Untersuchung aus synchroner und diachroner Perspektive Katrin Schmitz <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6625-6 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 0 Vorwort .................................................................................................................... 8 1 Einleitung ................................................................................................................ 9 1.1 Zielsetzung ....................................................................................................... 9 1.2 Theoretischer Hintergrund ............................................................................. 13 1.2.1 Grammatik- und Lexikontheorie ............................................................... 13 1.2.2 Die Theorie des Generativen Lexikons nach Pustejovsky (1995)............. 14 1.2.2.1 Die Argumentstruktur ......................................................................... 16 1.2.2.2 Die Ereignisstruktur ............................................................................ 17 1.2.2.3 Die Qualia-Struktur............................................................................. 20 1.2.3 Theorien über Sprachwandel ..................................................................... 24 1.2.3.1 Grammatikalisierungstheorie .............................................................. 24 1.2.3.2 Sprachwandel im generativen Grammatikmodell............................... 37 1.3 Datenbasis ...................................................................................................... 41 2 Unakkusativität .................................................................................................... 44 2.1 Definition des Phänomens und frühe Forschung ........................................... 44 2.2 Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung ............................... 54 2.2.1 Burzios Generalisierung und Kritik daran................................................. 54 2.2.2 Aktuelle Forschung zum Phänomen der Ergativität/ Unakkusativität ....... 56 2.3 Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon ........................... 68 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen ........................... 78 3.1 Forschungsstand ............................................................................................. 78 3.1.1 Passiv in unterschiedlichen theoretischen Perspektiven............................ 78 3.1.1.1 Passiv aus typologischer und pragmatisch-funktionaler Sicht ........... 78 3.1.1.2 Passiv aus Sicht der generativen Grammatiktheorie........................... 85 3.1.2 Passivische Bedeutung und passivische Form........................................... 90 3.1.3 Passivische und andere romanische se/ si-Konstruktionen ........................ 96 3.2 Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen ... 105 3.2.1 Periphrastische Passivkonstruktionen in den drei Sprachen ................... 106 3.2.1.1 Lexemspezifische Restriktionen ....................................................... 106 3.2.1.2 Modal-temporal-aspektuelle Restriktionen....................................... 110 3.2.1.3 Weitere Restriktionen des periphrastischen Passivs ......................... 119 3.2.2 Passivkonstruktionen mit se/ si in den drei romanischen Sprachen ......... 120 3.2.2.1 Lexemspezifische Restriktionen des Passivs mit se/ si ..................... 120 3.2.2.2 Modal-temporal-aspektuelle Restriktionen....................................... 122 3.2.2.3 Weitere Restriktionen ....................................................................... 125 3.2.3 Weitere romanische Konstruktionen mit passivischer Bedeutung .......... 129 3.2.4 Absolute Konstruktionen mit passivischer Bedeutung............................ 129 3.2.5 Zusammenfassender Überblick ............................................................... 135 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 6 3.3 Bisherige synchrone Forschungsarbeiten zum Passiv.................................. 137 3.3.1 Spanische und italienische Passivkonstruktionen im Vergleich ............. 137 3.3.2 Vergleichende Studien zum französischen Passiv................................... 142 3.4 Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen ..... 143 3.4.1 Analyse der spanischen Aufnahmen........................................................ 145 3.4.2 Analyse der italienischen Aufnahmen ..................................................... 148 3.4.3 Analyse der französischen Aufnahmen ................................................... 149 3.4.4 Vergleich der Ergebnisse......................................................................... 151 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung ......................................... 153 4.1 Diathesen im (Spät-)Lateinischen ................................................................ 153 4.2 Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen ............. 157 4.3 Ricós’ Studie zur Entwicklung des spanischen Passivs ............................... 165 4.4 Entwicklung der spanischen Passivauxiliare................................................ 169 5 Empirische diachrone Untersuchung ........................................................... 175 5.1 Festlegung der Arbeitsschritte...................................................................... 175 5.2 Auswahl der Datenbasis und allgemeine Wandelprozesse .......................... 177 5.3 Analyse der spanischen Daten...................................................................... 180 5.3.1 Vorstellung der Datenbasis...................................................................... 180 5.3.2 Die quantitative Analyse der spanischen Chroniken (Teil A) ................. 182 5.3.3 Die qualitative Analyse der spanischen Chroniken (Teil B) ................... 188 5.3.3.1 Die Bewegungsverben ...................................................................... 200 5.3.3.2 Die Zustandsveränderungsverben ..................................................... 207 5.3.3.3 Die Verben der Existenz und Erscheinung ....................................... 211 5.3.3.4 Die psychologischen Verben ............................................................ 216 5.3.3.5 Transitive (passivierbare) Verben: .................................................... 219 5.4 Analyse der italienischen Daten ................................................................... 223 5.4.1 Vorstellung der Datenbasis...................................................................... 223 5.4.2 Die quantitative Analyse der italienischen Chroniken (Teil A) .............. 223 5.4.3 Die qualitative Analyse der italienischen Chroniken (Teil B) ................ 230 5.5 Analyse der französischen Daten ................................................................. 237 5.5.1 Vorstellung der Datenbasis...................................................................... 237 5.5.2 Die quantitative Analyse der französischen Chroniken (Teil A) ............ 238 5.5.3 Die qualitative Analyse der französischen Chroniken (Teil B)............... 244 5.6 Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse ......... 251 5.6.1 Sprachübergreifender Vergleich in den einzelnen Epochen.................... 252 5.6.2 Vergleich der Entwicklung in den drei Sprachen .................................... 257 5.6.3 Vergleich der Ergebnisse dieser Studie mit vorherigen (Kapitel 4) ........ 259 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 6 Diskussion ........................................................................................................... 261 6.1 Erklärung des beobachteten Wandels der Passivauxiliare ........................... 262 6.2 Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben .................................... 267 6.2.1 Lexikoneinträge für die Bewegungsverben ............................................. 269 6.2.2 Lexikoneinträge für die Zustandswechselverben .................................... 275 6.2.3 Lexikoneinträge für die Verben der Existenz und Erscheinung.............. 277 6.2.4 Lexikoneinträge für die psychologischen Verben ................................... 279 6.2.5 Lexikoneinträge für transitive (passivierbare) Verben ............................ 282 6.2.6 Lexikoneinträge für Auxiliare: ser vs. essere und être ........................... 284 6.2.7 Zwischenbilanz ........................................................................................ 287 6.3 Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels........ 287 6.3.1 Reanalyse und Polysemie in der Ereignisstruktur von Verben ............... 288 6.3.2 Ausbreitung und Lexikalisierung ............................................................ 295 6.4 Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax...... 297 6.4.1 Konsequenzen für die syntaktische Derivation in der vP ........................ 299 6.4.2 Konsequenzen eines Wandels im Lexikon .............................................. 302 7 Schlussbetrachtung ........................................................................................... 304 8 Literatur ............................................................................................................... 306 8.1 Vollständige Literaturangaben zu den analysierten Primärtexten: ............... 306 8.2 Linguistische Fachliteratur ........................................................................... 307 8.3 Wörterbücher................................................................................................ 317 9 Anhang ................................................................................................................. 319 <?page no="8"?> 0 Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 2009 vom Fachbereich A (Geistes- und Kulturwissenschaften) der Bergischen Universität Wuppertal als Habilitationsschrift angenommen. Gutachter waren die Professoren Natascha Müller und Joachim Jacobs (beide Bergische Universität Wuppertal), Martin Becker (inzwischen Universität zu Köln) und Guido Mensching (Freie Universität Berlin). Der ursprüngliche Text wurde für die Veröffentlichung in einigen Teilen gründlich überarbeitet. Insbesondere habe ich die Gelegenheit genutzt, zusätzliches spanisches Datenmaterial aus meinem DFGgeförderten Forschungsprojekt „Subjekte und Objekte im Italienischen und Spanischen als heritage languages in Deutschland“ für die Analyse gesprochener Sprache einzuarbeiten und die Überarbeitungshinweise aus den Gutachten umzusetzen, für die ich allen vier Gutachtern herzlich danke. Die Habilitationsschrift ist im Wesentlichen im Zeitraum von 2007 bis 2009 entstanden - zeitweise contra viento y marea. In dieser Zeit haben mich eine Reihe von Personen unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte: An der Universität hat mich Natascha Müller betreut, die mich immer wieder zu theoretisch und empirisch neuen Wegen ermutigt hat. Jeff Richards verdanke ich viele wichtige Hinweise auf relevante ältere historisch-philologische Arbeiten. Unter seinem Vorsitz fand das Habilitationsverfahren im Oktober 2009 einen feierlichen Abschluss. Unser Kollege Peter Scherfer, dem meine Habilitation stets sehr am Herzen lag, hat die Vollendung der Arbeit leider nicht mehr erlebt. Dieser Verlust begleitet mich bis heute. Mein Lebensgefährte, Michael Stolz, hat wiederholt den ganzen Text gründlich korrigiert, wofür ich ihm von Herzen danke. Ferner möchte ich den Mitarbeitern des Narr-Verlages, die am Zustandekommen dieser Publikation beteiligt waren, danken: Herr Freudl, dem ich für die gute Betreuung mehrerer Publikationen über die Jahre hinweg sehr zu Dank verpflichtet bin, hat sich für die Aufnahme der Arbeit in das Programm Tübinger Beiträge zur Linguistik eingesetzt. Die weitere Betreuung der Drucklegung haben Frau Burger und Frau Filbrandt übernommen und mich ebenfalls sehr intensiv unterstützt. Dem Dekan des Fachbereichs A, Herrn Professor Walther, danke ich für das Entgegenkommen, meine Publikationsfrist zu verlängern. Schließlich möchte ich meinen Eltern und meinen Freunden danken, die auch diese Etappe meiner akademischen Qualifikation mit ermutigenden Worten, großem Interesse an meiner Arbeit und unermüdlicher Geduld mit mir durchgestanden haben. Wuppertal, im Februar 2012 Katrin Schmitz <?page no="9"?> 1 Einleitung 1.1 Zielsetzung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Phänomenen Passivierung und Unakkusativität in den drei romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch und ihrer diachronen Entwicklung seit dem Mittelalter. Indem an den in ihren syntaktischen Auswirkungen ähnlichen Phänomene der Passivierung und Unakkusativität untersucht wird, ob und inwieweit diese in den untersuchten Sprachen generell anwendbar oder nur noch idiosynkratisch bzw. residual vorhanden sind, wird gleichzeitig ein Beitrag zur Frage des Verhältnisses von syntaktischen und lexikalischen Mechanismen und damit allgemeiner zu dem von Generalisierung und Idiosynkrasien geleistet. Es stellt sich dabei die grundsätzliche Frage, in welcher Relation residuale Phänomene zu den generell existierenden stehen und welche Folgerungen hieraus für das generelle Verhältnis von Lexikon und Syntax gezogen werden können. Aus syntaktischer Sicht können unakkusative Verben als „lexikalisierte Passive“, also lexikalische Residuen des syntaktischen Passivierungsvorgangs, betrachtet werden (vgl. etwa Burzio 1986, Müller 2000), wobei in dieser Perspektive die Unakkusativität im Mittelpunkt der Betrachtung steht: Während nach allgemeiner Auffassung Passivierung in den romanischen Sprachen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - systematisch auf transitive Verben anwendbar ist, gilt dies nicht für die intransitiven Verben. Es muss für das Phänomen der Unakkusativität, das als zugrundeliegend semantisch determiniert und syntaktisch abgebildet betrachtet wird 1 , untersucht werden, inwieweit es idiosynkratisch ist. Eine in mancher Hinsicht komplementäre Perspektive auf das Verhältnis von Passivierung und Unakkusativität lässt sich in Ansätzen zum Verständnis der Passivierung aus aspektuell/ ereignissemantischer Sicht erkennen. So zeigt Abraham (2006a, b), dass Aspekt/ Aktionsart zentral für die Entwicklung des Passivs im Deutschen und in anderen westgermanischen Sprachen gewesen ist. Noch im Althochdeutschen gab es keine Passivsyntax, wohl aber vollständige perfektive und imperfektive aspektuelle Paradigmen, wobei sich eine passivische Bedeutung allein aus perfektivischen Prädikaten heraus ergab. Diese Hypothese zur Entwicklungsgeschichte des Passivs in den germanischen Sprachen lässt sich freilich nicht ohne weiteres in eine Hypothese über die Entwicklung des Passivs in den romanischen Sprachen übersetzen, da hier die Ausgangslage aufgrund der hochentwickelten passivischen Diathese im Lateinischen eine ganz andere ist. Schwächt man jedoch Abrahams Hypothese dahingehend ab, dass bestimmte aspektuelle Eigenschaften im Laufe der Entwicklung einen grammatischen Status erhielten 2 , ergibt sich eine Fragestellung, im Hinblick auf die man auch die Entwicklung in den romanischen Sprachen sinnvoll untersuchen kann und die zum Slogan „unakkusative Verben sind lexikalische Passive“ komplementär ist. 1 Vgl. u.a. die Diskussion in Levin & Rappaport Hovav (1992, 1995). 2 Abraham (2006a,b) geht explizit von der Grammatikalisierungstheorie aus, die hier jedoch nicht zugrundegelegt werden soll (vgl. weiter unten). Hier wird zunächst nur das Resultat einer Entwicklung beschrieben. <?page no="10"?> 1 Einleitung 10 Um aspektuelle und andere Bedeutungsaspekte, die für die Eigenschaften der romanischen Passive und unakkusativen Verben und ihre Entwicklung relevant sind, genau zu erfassen, werden sowohl semantische als auch syntaktisch relevante Aspekte in der vorliegenden Arbeit im Lexikon behandelt. Dies mag zunächst unzeitgemäß anmuten, insbesondere vor dem Hintergrund der Rolle des Lexikons im Rahmen der Distributed Morphology: Seine eigenständige Existenz wird hier in Frage gestellt und als unökonomisch betrachtet (vgl. etwa Embick und Noyer 2004). In diesem Rahmen werden Lexeme in der Syntax selbst als Merkmalsbündel konzipiert und erst spät, genauer postsyntaktisch („late insertion“), mit konkreten lexikalischen Wurzeln verbunden. Es sprechen jedoch auch wichtige Gründe für die Annahme eines separaten Lexikons: So hält z.B. die Spracherwerbsforschung umfangreiche Evidenz für die Existenz eines eigenständigen Lexikons bereit. Nur einige Aspekte seien genannt: Ohne die Annahme eines von Syntax und Morphologie getrennten Lexikons wären bekannte Phänomene des Spracherwerbsverlaufs gar nicht zu erklären, etwa der bei Kindern typischerweise im Alter von 18 bis 24 Monaten einsetzende Vokabelspurt (deutlich vor ersten syntaktischen Konstruktionen, vgl. u.a. Meibauer und Rothweiler 1999, Kauschke 2000, Schulz 2007). Cantone, Kupisch, Müller und Schmitz (2008) zeigen für den bilingualen Erstspracherwerb, dass anhand der Lexikonentwicklung bilingual deutsch-romanischer Kinder ermittelte (temporäre) Sprachdominanzen sich nicht mit solchen aus syntaktischen Phänomenbereichen decken müssen. Aber nicht nur der Spracherwerb liefert solche Evidenz: Ganz unklar ist es, wie ohne eine artikulierte Lexikontheorie Phänomene wie die Polysemie erklärt werden können, die sowohl synchron als auch diachron für Sprachwandelprozesse relevant ist. Longobardi (2001) legt plausibel dar, dass syntaktischer Wandel nicht ohne vorherigen Wandel phonologischer oder semantischer Eigenschaften erfolgen kann. Es spricht also einiges dafür, eine gesonderte Lexikonkomponente anzunehmen und ihre eigenständige Entwicklung zu betrachten. Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass das Lexikon eigenen Regeln folgt, also außerhalb der grammatischen Derivation, aber mit dieser in Verbindung, steht. Gleichwohl sollte dem von den Kritikern angeführten ökonomischen Aspekt Rechnung getragen werden, indem die Organisation eines solchen Lexikons mehr Aufmerksamkeit erhält als in anderen generativen Arbeiten. Einen richtungweisenden Beitrag hierzu leistet die Theorie des Generativen Lexikons von Pustejovky (1995). Diese erfasst eine Reihe von unterschiedlichen semantischen Informationen (Argumentstruktur, Ereignisstruktur, Qualia) über Lexeme in der Weise, dass Polysemie innerhalb von unterspezifizierten Lexikoneinträgen anstelle von durch Bedeutungsauflistungen für polyseme Lexeme kodiert wird. Mit Hilfe einiger lexikalischer Mechanismen (Ko-Komposition, Typerzwingung, selektive Bindung) werden bestimmte Bedeutungen erzielt. Die Theorie des Generativen Lexikons wurde hier als theoretischer Rahmen gegenüber anderen kompositionalen semantischen Modellen (etwa der von Engelberg 2004 entwickelten Konzeption der Lexikalischen Ereignisstruktur für die Verbsemantik) ausgewählt, weil die Polysemie auch eine wichtige Rolle für die hier behandelten Phänomene spielt: Viele der unakkusativen Verben der behandelten romanischen Sprachen sind logisch polysem und weisen neben der intransitiven (unakkusativen) Variante auch eine transitive auf, die dann passivierbar ist. Um das Verhältnis der Phänomene Unakku- <?page no="11"?> Zielsetzung 11 sativität und Passiv erforschen zu können, müssen die Polysemie dieser Verben und ihre verschiedenen Bedeutungen feinkörnig erfasst werden, wozu die Generative Lexikontheorie sich als sehr geeignet erweist. Im Zuge der Erklärung der gefundenen Bedeutungsveränderungen sowie der Veränderungen im Gebrauch der unterschiedlichen Passivkonstruktionen und Auxiliare in den drei untersuchten romanischen Sprachen wird in der vorliegenden Arbeit auch eine Sprachwandeltheorie auf der Basis der Generativen Lexikontheorie entwickelt, die das besondere Potential der Polysemie für die Ökonomie des gesamten sprachlichen Modells hervorhebt, und somit ein Beitrag zur Diskussion über die Annahmen von Longobardi (2001) geleistet, wobei besonderes Augenmerk auf die Ereignisstruktur und die Qualiastruktur der hier untersuchten Verben gelegt wird. Die vorliegende Studie ist diachron und synchron ausgerichtet: Es werden einerseits frühere Sprachstände der drei Sprachen (anhand von geeigneten Dokumenten, vgl. Abschnitt 1.3), andererseits aber auch die heutigen romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch 3 untersucht und die Entwicklung der Konstruktionen mit passivischer Bedeutung sowie der einschlägig als unakkusativ diagnostizierbaren intransitiven Verben betrachtet. Genauer wird in der empirischen Untersuchung das Spanische im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, während das Italienische und Französische zum Vergleich herangezogen werden. Außerdem werden neben der eigenen empirischen Untersuchung der romanischen Sprachen (ab dem 12./ 13. Jahrhundert) auch vergleichend Studien herangezogen, die sich mit dem (Spät-)Lateinischen und sehr frühen Stadien der romanischen Sprachen hinsichtlich der untersuchten Phänomene beschäftigen (vgl. Kapitel 4). Im Ergebnis zeigt die empirische Untersuchung eine frühe Entwicklung und häufige Verwendung des periphrastischen Passivs, in der zunächst (13. Jh.) fast ausschließlich das Auxiliar ser/ essere/ être verwendet wird. In den untersuchten späteren Sprachzuständen (16. und 20. Jh.) werden auch andere Verben als Auxiliare verwendet. Ferner ist die noch im Altspanischen vorhandene Möglichkeit, das Auxiliar ser für Zustände zu verwenden, verlorengegangen. Die im Spanischen wenig aspektuell restringierten Passivkonstruktionen mit se werden ab dieser Epoche deutlich häufiger verwendet (zu Lasten periphrastischer Passivkonstruktionen), was gegen die obige abgeschwächte Hypothese von Abraham, aber für semantischen und syntaktischen Wandel spricht. Damit unterscheidet sich das Spanische von den anderen beiden untersuchten romanischen Sprachen, in denen sich keine vergleichbaren Änderungen im Gebrauch passivischer Konstruktionen beobachten lassen. Diese quantitativen Ergebnisse sind mit der Annahme „unakkusative Verben sind lexikalisierte Passive“ verträglich, ohne sie jedoch unabhängig zu stützen. Eine genauere Analyse der verwendeten unakkusativen Verben sowie ihrer Bedeutungen zeigt, dass zwar Bedeutungswandel stattfindet, dabei aber keine Tendenz zur Intransitivierung erkennbar ist. Vielmehr ist zu beobachten, dass bereits im Mittelalter bestehende Polysemien und die beteiligten Bedeutungen fort- 3 Mit „Spanisch, Italienisch, Französisch“ sind hier stets die Standardvarietäten gemeint, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Sofern es jedoch möglich und relevant ist, werden auch Belege aus anderen (v.a. spanischen und italienischen) regionalen Varietäten vergleichend miteinbezogen. <?page no="12"?> 1 Einleitung 12 bestehen und überwiegend weiter ausdifferenziert werden. Die meisten der untersuchten Verben lassen sich weiterhin sowohl intransitiv als auch transitiv verwenden. Für die abgeschwächte Hypothese Abrahams sprechen die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung von Larochette (1939), der Medium und Passiv im Spätlateinischen und Altspanischen untersucht (vgl. Kapitel 4), wonach sich bereits im (Spät-) Lateinischen entscheidende aspektuelle Verschiebungen und diathetische Umstellungen anbahnten, die Konsequenzen für die weitere Entwicklung in den romanischen Sprachen hatten. Insgesamt gibt es also keine klare Evidenz für oder gegen eine der beiden untersuchten Annahmen, gleichwohl Evidenz für Bedeutungswandel und ein Wandel im Gebrauch der spanischen Ausdrucksmöglichkeiten von Passivkonstruktionen. Da die vorliegende Studie den Vergleich dreier Sprachen unternimmt, ist notwendigerweise die Anzahl von analysierten Dokumenten pro Sprache und Epoche begrenzt, so dass auch die Ergebnisse eine begrenzte Aussagekraft haben. Das skizzierte Vorhaben erfordert eine Reihe von Vorarbeiten. In der vorliegenden Studie wird die ereignissemantische Perspektive mit der Lexikontheorie von Pustejovsky (1995) kombiniert. Die hierfür benötigten Grundlagen der generativen Lexikontheorie sowie der gängigen Sprachwandeltheorien und Reflexionen zu einer geeigneten Datenbasis bilden den Gegenstand der weiteren Abschnitte von Kapitel 1. Des Weiteren wird der Stand der Forschung zum Phänomen der Unakkusativität allgemein und in den romanischen Sprachen darzustellen sein (Kapitel 2). Das Phänomen Passiv ist bereits aus zahlreichen theoretischen Perspektiven behandelt worden, die im ersten Teil von Kapitel 3 vorgestellt werden. Für die korrekte Analyse der aktuellen und historischen Sprachstände, insbesondere im Hinblick auf (sprachspezifische) Beschränkungen der Passivierbarkeit in den drei romanischen Sprachen, wird in diesem Kapitel außerdem einerseits ein Überblick über die passivischen Konstruktionen in den drei untersuchten romanischen Sprachen auf Basis einschlägiger Grammatiken gegeben, der auch einen Vergleich der Sprachen ermöglicht; andererseits werden Studien herangezogen, die die tatsächliche Verwendung der passivischen Konstruktionen dokumentieren. Im Gegensatz zum synchron orientierten dritten Kapitel stellt Kapitel 4 diachrone Studien zur Entwicklung der romanischen unakkusativen Verben aus lateinischen Deponentien sowie zur Entwicklung des Passivs im (Spät-) Lateinischen und den frühen romanischen Sprachen vor, die die empirische Untersuchung ergänzen, vor allem im Bereich der spätlateinischen und frühromanischen Daten, die hier nicht untersucht werden können. Kapitel 5 widmet sich der empirischen Untersuchung ausgewählter Dokumente, die in diesem Kapitel genauer vorgestellt werden. Sie beleuchtet aus der sprachinternen Entwicklung des Spanischen motivierte entscheidende Momente aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 20. Jahrhundert in den drei romanischen Sprachen. Die Ergebnisse aus Kapitel 5 dienen dem nachfolgenden Kapitel als Diskussionsgrundlage. Im ersten Teil von Kapitel 6 werden die beobachteten, auf die Syntax wirkenden Wandelprozesse bei den Auxiliaren erläutert, im zweiten Teil von Kapitel 6 werden Lexikoneinträge für ausgewählte unakkusative sowie transitive (passivierbare) Verben im Rahmen des Generativen Lexikons entwickelt. Im dritten Teil werden Bedeutungswandelvorgänge veranschaulicht und eine Sprachwandeltheorie auf der Basis der generativen Lexikontheorie skizziert. Der vierte Teil beschäftigt sich mit der Modellierung des Verhältnisses <?page no="13"?> Theoretischer Hintergrund 13 von Lexikon und Syntax in diesem Rahmen, wobei auch die Schnittstelle vom generativen Lexikon zur Syntax, die insbesondere die syntaktisch relevanten Informationen aus der Argument-, Ereignis- und Qualiastruktur des jeweiligen Verbs verarbeiten und in der vP abbilden muss, thematisiert wird. Weitere Aspekte der Diskussion betreffen hierbei unter anderem Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Lexikons und der Syntax. So funktioniert das Lexikon zwar anders als die Syntax - ersteres erlaubt immer neue Veränderungen und Erweiterungen, während letztere in der Sprachentwicklung früh festgelegt wird. Aber es bestehen auch Gemeinsamkeiten: So lassen sich in beiden Bereichen bestimmte Mechanismen und Ökonomiebestrebungen erkennen. Insbesondere wird ein Analogon zur syntaktischen Merge-Operation auf der Ebene des Lexikons vorgeschlagen und überlegt, welchen Ökonomie-Status die einzelnen lexikalischen Mechanismen im generativen Lexikon haben. Eine weitere Frage betrifft das Verhältnis, in dem lexikalische Informationen (v.a. die dort kodierte Argument- und Ereignisstruktur) zu syntaktischen und pragmatischen Informationen stehen. Pragmatische Informationen können ebenfalls im generativen Lexikon eine Rolle spielen, bereits dort in den lexikalischen Mechanismen zu bestimmten Interpretationen führen (v.a. im erwachsenensprachlichen System) und möglicherweise auch für einen Sprachwandelprozess verantwortlich sein, zu dem einige Überlegungen angestellt werden. 1.2 Theoretischer Hintergrund 1.2.1 Grammatik- und Lexikontheorie Theoretischer Rahmen dieser Studie ist generell die generative Grammatiktheorie, wobei die syntaktische Ausrichtung dem Minimalistischen Programm (Chomsky 1993, 1995, 2000, 2001) folgt, sowie speziell die von Pustejovsky (1995) entwickelte Theorie des Generativen Lexikons: Sie bietet nicht nur die Möglichkeit detaillierter Lexikoneinträge, die z.B. für Verben sowohl Argumentstruktur als auch Ereignisstruktur einschließen, sondern erlaubt es auch, das Problem der Polysemie dahingehend zu lösen, dass nicht für jede Wortbedeutung einzelne Einträge erfolgen müssen, sondern lexikalische Einträge semantisch unterspezifiziert sein und durch kontextuelle Informationen vervollständigt werden können. Scheinbar idiosynkratisches Verhalten von Verben 4 lässt sich dahingehend erklären, dass das unterschiedliche Verhalten vom selegierten Ereignistyp (Fokussierung unterschiedlicher Teile der Ereignisstruktur dieser Verben) abhängt. Außerdem löst dieser Ansatz das Problem, dass bestimmte Verbgruppen sich hinsichtlich verschiedener Diagnostika variabel verhalten können. So zeigt etwa Sorace (2004) Variation bei der Auxiliarselektion von italienischen Verben. Diese Variation, wenn nicht als Ausnahme von der Regel betrachtet, führt zu einer Proliferation von Lexikoneinträgen, was sowohl für „projektionistische“ Ansätze (z.B. Levin und Rappaport Hovav 1995) als auch für „konstruktionistische“ Modelle (z.B. van Hout 1996, 2000) gilt. Als „projektionistisch“ lassen sich diejenigen Studien 4 Vgl. Pustejovsky und Bouillon (1996) für die Analyse der aspektuellen Verben begin/ commencer und finish/ finir. <?page no="14"?> 1 Einleitung 14 charakterisieren, die annehmen, dass lexikalische Einträge auf der Basis universaler Abbildungsprinzipien deterministisch auf bestimmte syntaktische Positionen projizieren und dass sich so auch das syntaktische Verhalten von unergativen bzw. unakkusativen Verben erklären lässt. Hingegen betrachten die „konstruktionistischen“ Ansätze Unakkusativität bzw. Unergativität weniger als lexikalische Eigenschaft von Verben, sondern vielmehr als Eigenschaft auf Satzebene, wobei eine engere und unmittelbarere Verbindung zwischen der aspektuellen Interpretation und der syntaktischen Konfiguration der Prädikate hergestellt wird: spezielle aspektuelle Lesarten werden von der Präsenz des Verbarguments in besonderen syntaktischen Konfigurationen bestimmt (vgl. Sorace 2004, Kapitel 2). Erfolgversprechende Ansätze für die Erfassung des variablen Verhaltens von Verben sind dementsprechend gerade solche, die innersprachliche Variation und Ambiguität durch lexikalische Mechanismen erfassen und regeln. Diese Art der Analyse lässt sich nicht nur auf weitere Prädikate und Mechanismen innerhalb einer Sprache übertragen, sondern erlaubt auch einen Vergleich geeigneter polysemer Verben im Hinblick auf generelle Anwendbarkeit bzw. idiosynkratisches Auftreten bestimmter Bedeutungen und auf parallele und unterschiedliche Bedeutungen in den drei romanischen Sprachen. Neben der Möglichkeit, die lexikalischen Aspekte der unakkusativen Verben wie oben skizziert zu erfassen, kann diese Lexikonkonzeption auch die für die kompositionale Derivation des Passivs relevanten ereignissemantischen Informationen enthalten, so dass sich das Modell des Generativen Lexikons für die beiden in 1.1. angesprochenen Herangehensweisen grundsätzlich eignet. Es wird im folgenden Abschnitt vorgestellt. 1.2.2 Die Theorie des Generativen Lexikons nach Pustejovsky (1995) In diesem Abschnitt werden die Grundzüge der Generativen Lexikontheorie von Pustejovsky (1995) vorgestellt. Spezielle Anwendungen auf bestimmte unakkusative Verbtypen und Passivstrukturen, wie sie in Pustejovsky (1995: Kapitel 9) sowie genauer in Pustejovsky und Busa (1995) und weiteren Arbeiten von Pustejovsky und verschiedenen Koautoren diskutiert werden, werden in Kapitel 2.3 im Zusammenhang mit der Unakkusativität sowie in Kapitel 6.1 bei der Erstellung der Lexikoneinträge ausgewählter Verben genauer erörtert. Pustejovskys (1995) Ziel ist eine Organisation des Lexikons, die die Interaktion von Wortbedeutung und Kompositionalität sowie die kreative Verwendung von Wörtern in neuen Kontexten erfasst. Zu diesem Zweck muss sie gleichzeitig formal, aber auch flexibel sein. Pustejovsky lehnt daher die statischen Konzeptionen, in denen die lexikalischen Relationen wie z.B. Synonymie, Homonymie und Polysemie durch Auflistungen erfasst werden, ab und schlägt stattdessen ein Generatives Lexikon als ein Berechnungssystem vor, das mindestens die folgenden vier Repräsentationsebenen beinhaltet (vgl. Pustejovsky 1995: 61 f., 76): <?page no="15"?> Theoretischer Hintergrund 15 1. Die Argumentstruktur spezifiziert Anzahl und Typ der logischen Argumente sowie ihre syntaktische Realisierung. 2. Die Ereignisstruktur definiert den Ereignistyp eines lexikalischen Elements und einer Phrase. Die Typen schließen Zustand, Prozess und Transition ein. Ferner können Ereignisse eine innere Struktur haben. 3. Die Qualia-Struktur erfasst relationale Eigenschaften von lexikalischen Elementen über formale, konstitutive, telische und agentivische Rollen. 4. Die lexikalische Vererbungsstruktur gibt die Beziehung einer lexikalischen Struktur zu anderen Strukturen und ihren Beitrag zur Gesamtorganisation des Lexikons an. Ein Set von generativen Mitteln verbindet diese vier Repräsentationsebenen und sorgt somit für die kompositionale Interpretation von Wörtern im Kontext. Zu diesen generativen Operationen gehören die folgenden semantischen Transformationen, die alle Wohlgeformtheitsbedingungen für Typenkombinationen involvieren: 1. Typ-Erzwingung: hier wird ein lexikalisches Element oder eine lexikalische Phrase von einem regierenden Element in der Phrase zu einer semantischen Interpretation gezwungen, ohne dass hierdurch sein/ ihr syntaktischer Typ geändert wird. 2. Selektive Bindung: hier operiert ein lexikalisches Element oder eine lexikalische Phrase spezifisch auf der Substruktur einer Phrase ohne Änderung des übergreifenden Typs in der Komposition. 3. Ko-Komposition: hier verhalten sich verschiedene Elemente innerhalb einer Phrase als Funktoren, die neue, nicht-lexikalisierte Bedeutungen für Wörter in Komposition generieren. Dies schließt auch Fälle unterspezifizierter semantischer Formen ein, die kontextuell bereichert werden, wie die Ko-Komposition der Art und Weise, Transkription von Merkmalen und die Spezifikation von light verbs. Dabei gilt nach Pustejovsky (1995: 62), dass sich Argumentstruktur, Ereignisstruktur und Qualia-Typen konform zu den Wohlgeformtheitsbedingungen verhalten müssen, die das Typensystem und die lexikalische Vererbungsstruktur definieren, wenn sie Operationen der semantischen Komposition durchlaufen. Die hier erst einmal grob skizzierte Lexikonkonzeption erlaubt es, aufgrund der expressiven Mechanismen, die in der Komposition wirken, verschiedene Wortbedeutungen in einem Meta-Lexikoneintrag zu verschmelzen, wobei Regularitäten des Verhaltens eines Worts im Kontext kodiert werden, und so die Lexikongröße erheblich zu reduzieren. Diese Meta-Einträge bezeichnet Pustejovsky (1995: 62) lexical conceptual paradigms (lcp). Er behauptet, dass eine solche Charakterisierung zusammen mit Wohlgeformtheitsbedingungen ausreicht, die Vielfalt möglicher Wortbedeutungen einzu- <?page no="16"?> 1 Einleitung 16 schränken. Im Folgenden werden nun die wichtigsten Eigenschaften der Repräsentationsebenen 5 vorgestellt und an konkreten Beispielen illustriert. 1.2.2.1 Die Argumentstruktur Für Pustejovsky (1995: 63) ist die Argumentstruktur eines Wortes die minimale Spezifikation seiner lexikalischen Semantik und für sich genommen inadäquat für die Erfassung der semantischen Charakteristika eines lexikalischen Elements, jedoch eine notwendige Komponente davon. Pustejovsky unterscheidet vier Arten von Argumenten, die er anhand der folgenden Beispiele mit Verben erläutert 6 : 1. echte Argumente, d.h. syntaktisch realisierte Parameter des lexikalischen Elements, z.B. in John arrived late. 2. Default-Argumente: Parameter, die Teil der logischen Ausdrücke in den Qualia sind, aber nicht notwendigerweise syntaktisch ausgedrückt werden, z.B. John built the house out of bricks. 3. Schatten-Argumente: Parameter, die semantisch in das lexikalische Element inkorporiert sind. Sie können nur durch Operationen der Untertypisierung oder Diskursspezifikation ausgedrückt werden, z.B. in Mary buttered her toast with an expensive butter. 4. echte Adjunkte: Parameter, die den logischen Ausdruck modifizieren, aber Teil der situationsbezogenen Interpretation sind; sie sind nicht an die semantische Interpretation eines bestimmten lexikalischen Elements gebunden und schließen adjunkte Ausdrücke von zeitlichen oder räumlichen Modifikationen ein, z.B. Mary drove down to New York on Tuesday. Pustejovsky (1995: 64 f.) merkt ferner an, dass die echten Argumente in 1) den Bereich darstellen, der vom Theta-Kriterium und anderen Oberflächenbedingungen abgedeckt wird. Verbale Alternationen zwischen polysemen Formen eines Verbs, die aus der Realisierung echter Argumente resultieren (z.B. die Inchoativ-Kausativ-Alternation), sollten von solchen Alternationen unterschieden werden, die den Ausdruck einer optionalen Phrase bewirken (z.B. die Material-Produkt-Alternation). Diese bezeichnet Pustejovsky als Default-Argumente und betrachtet sie als notwendig für die logische Wohlgeformtheit des Satzes. Die Argumentstruktur (ARGSTR) eines Eintrags kann nach Pustejovsky (1995: 67) wie folgt aussehen, wobei die Argumente in einer Listenstruktur aufgeführt werden und ARG für echte Argumente, D-ARG für Default- Argumente und S-ARG für Schattenargumente steht: 5 Hierbei wird die vierte Ebene der lexikalischen Vererbungsstruktur von Pustejovsky nicht eigenständig behandelt und daher hier auch nicht weiter thematisiert. 6 Die von Pustejovsky (1995: 63) vorgenommenen Hervorhebungen der jeweils betroffenen Argumente werden hier übernommen. <?page no="17"?> Theoretischer Hintergrund 17 (7) α ARG 1 = ... ARGSTR = ARG 2 = ... D-ARG 1 = ... S-ARG 1 = ... Angewandt auf das Verb build würde dieser Teil des Lexikoneintrags wie folgt aussehen: (8) build ARG 1 = animate_individual ARGSTR = ARG 2 = artifact D-ARG 1 = material Auf die Frage der Default- und Schatten-Argumente, die bei Pustejovsky und Busa (1995) für die polysemen unakkusativen Verben eine zentrale Rolle spielen, geht Pustejovsky (2000) mit weiteren Ideen zur lexikalischen und funktionalen Saturation dieser Argumente ein. Diese für das Verhältnis von Lexikon und Syntax wichtigen Überlegungen werden ebenfalls in Kapitel 2.3 vorgestellt. 1.2.2.2 Die Ereignisstruktur Die Erfassung der Ereignisstruktur wird üblicherweise über eine Ereignisvariable des Verbs gelöst: In der ereignisbasierten Semantik wird diese Variable als ein einzelnes Argument zusammen mit dem logischen Parameter aufgeführt, der durch ein bestimmtes Prädikat oder eine Relation definiert wird. Nach Pustejovsky (1995: 68) ist jedoch problematisch, dass dabei eine atomare Sicht auf die Ereignisstruktur zugrundegelegt wird, also die internen Aspekte des Ereignisses, auf das die Variable referiert, nicht zugänglich sind. Im Hinblick auf Phänomene, die Aspekt und Aktionsarten involvieren, sind jedoch feinkörnigere Ereignisbeschreibungen erforder-lich, die sowohl eine Substruktur in Ereignissen, die mit lexikalischen Elementen assoziiert werden, zulassen als auch die notwendige Beziehung zwischen Ereignissen und Verbargumenten ausdrücken. Pustejovsky (1995: 68) unterscheidet zunächst drei Arten von Ereignissen: Prozesse, Zustände und Transitionen, und nimmt eine Ereignis-Binnenstruktur dieser drei Typen an, so dass Prinzipien der Prädikat-Argument-Bindung auf Unterereignisse in der semantischen Repräsentation Bezug nehmen können. Die Binnenstruktur eines Ereignisses besteht typischerweise aus zwei Unterereignissen 7 und einer zwischen diesen bestehenden Relation, die eine Restriktion über das temporale Verhältnis der Unterereignisse zueinander ausdrückt. Pustejovsky (1995: 73) nimmt an, dass es drei mögliche 7 Hierzu ist anzumerken, dass Pustejovskys Theorie grundsätzlich generell formuliert ist und eine beliebige Zahl von Untereignissen erlaubt. Jedoch schränkt er selbst (1995: 73) diese Zahl auf zwei ein, wie weiter unten deutlich wird, wobei er in späteren Kapiteln eine Ausnahme macht (vgl. hierzu Kapitel 6.1). Diese generelle Einschränkung wird hier bereits eingeführt. <?page no="18"?> 1 Einleitung 18 temporale Anordnungsrelationen in der Sprache gibt: a) Teilereignis e 1 geht Teilereignis e 2 voraus (< , z.B. bei kausativen Verben), b) die Teilereignisse e 1 und e 2 finden vollständig zugleich bzw. überlappend statt (◦ , z.B. im Fall des Verbs accompany) und c) Teilereignis e 1 findet teilweise überlappend zu e 2 statt, wobei e 1 vor e 2 beginnt und beide gemeinsam aufhören (<◦ , z.B. im Fall des Verbs walk, wo e 1 und e 2 als Bewegung der Beine zu verstehen sind). Im Lexikon sind demnach zwei Aspekte zu erfassen, zum einen die spezifischen Ereignisse und ihre Typen und zum anderen die Restriktion über die Abfolge der Ereignisse, wie zunächst am folgenden abstrakten Eintragsabschnitt (9) gezeigt wird (vgl. Pustejovsky (1995: (23)): (9) α E 1 = ... EVENTSTR = E 2 = ... RESTR = ... Dies lässt sich laut Pustejovsky (1995: 71) erneut am Beispiel des Verbs build veranschaulichen, das typischerweise einen Entwicklungsprozess und einen resultierenden Zustand involviert, wobei diese beiden Unterereignisse in der obengenannten temporalen Beziehung a) (< ) zueinander stehen. Der relevante Teil wird wie folgt im Lexikon eingetragen: (10) build E 1 = process EVENTSTR= E 2 = state RESTR = < Zu den genannten theoretischen Elementen tritt noch die „Köpfigkeit“ von Ereignissen hinzu. Pustejovsky (1995: 72 f.) führt diese Eigenschaft von Ereignissen als einen Weg ein, mit dem Ereignisargumente in den Vordergrund oder Hintergrund gerückt werden können, da Ereignisse nicht nur, wie oben erklärt, nach zeitlicher Abfolge geordnet sind, sondern auch nach relativer Prominenz. So markiert Pustejovsky (1995: 72) nun die Prominenz eines Ereignisses e mit einem Kopfmarkierer (e*). In der syntaktischen Repräsentation ist es die Rolle eines Kopfes, Prominenz und Distinktion anzuzeigen. Innerhalb der Interpretation von Ereignissen, wenn sie strukturell oder konfigurationell betrachtet werden, besteht hiermit ebenfalls die Möglichkeit, sich auf Köpfe zu beziehen. Informell definiert Pustejovsky daher den Kopf als das prominenteste Subereignis in der Ereignisstruktur eines Prädikats, das zum „Fokus“ der Interpretation beiträgt. Die Köpfigkeit ist eine Eigenschaft aller Sorten von Ereignissen, aber dient zur Unterscheidung innerhalb der Menge von Transitionen, indem sie spezifiziert, welcher Teil des Gesamtereignisses vom jeweiligen lexikalischen Element fokussiert wird. Diese Eigenschaft führt Pustejovsky nun zusätzlich in die in (9) gezeigte abstrakte Repräsentation der Ereignisstruktur ein (vgl. Pustejovsky (1995: 27)): <?page no="19"?> Theoretischer Hintergrund 19 (11) α E 1 = ... EVENTSTR= E 2 = ... RESTR = ... HEAD = E i In der binären Ereignisstruktur ergeben sich aus den drei vorgenannten temporalen Anordnungsrelationen (< , ◦ und <◦ ) entweder sechs verschiedene mögliche Kopfkonfigurationen mit zwei Ereignissen, wenn man einen einzigen Kopf annimmt (wie in der Syntax üblich), oder zwölf mögliche Konfigurationen, wenn solche ohne Kopf (unterspezifiziert) oder mit zwei Köpfen integriert werden. Die zwölf möglichen Konfigurationen veranschaulicht Pustejovsky (1995: 73, (28)) an unterschiedlichen englischen Verben: (12) a. [ eσ e 1 * < e 2 ] build b. [ eσ e 1 < e 2 *] arrive c. [ eσ e 1 * < e 2 *] give d. [ eσ e 1 < e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT e. [ eσ e 1 * ◦ e 2 ] buy f. [ eσ e 1 ◦ e 2 *] sell g. [ eσ e 1 * ◦ e 2 *] marry h. [ eσ e 1 ◦ e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT i. [ eσ e 1 * <◦ e 2 ] walk j. [ eσ e 1 <◦ e 2 *] walk home k. [ eσ e 1 * <◦ e 2 *] - ? ? l. [ eσ e 1 <◦ e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT Nach Pustejovsky (1995: 73) repräsentiert Struktur (12a) accomplishment-Verben, deren erstes Ereignis der Kopf ist und somit die Aktion fokussiert, die den Zustand bewirkt, während (12b) achievement-Verben repräsentiert, deren Interpretationsfokus gerade auf dem finalen Zustand liegt. (12c) illustriert Ereignisse, die ein relationales Prädikat in jedem Unterereignis involvieren, und charakterisiert unilaterale Transitionen mit drei Argumenten, d.h. eine Unterklasse der dreiwertigen Transfer-Verben wie give und take, während (12e,f) Prädikatpaare repräsentieren, in denen zwei simultane Ereignisse in die Transaktion involviert sind, aber nur je eins vom lexikalischen Verb fokussiert wird. Ereignisse mit überlappender Anordnung der Teilereignisse werden mit (12i) dargestellt, in dem ein Ereignis beginnt und einen weiteren Prozess auslöst, der nur solange weiterläuft, wie das erste Ereignis noch andauert. Pustejovsky (1995: 73) erklärt weder (12j) noch (12k) - während (12j) die telische Variante von (12i) ist, bleibt (12k) ganz unbesetzt. Es muss sich hierbei um ein Verb mit zwei Unterereignissen handeln, wovon das eine vor dem anderen beginnt, aber dann beide gleichermaßen fortlaufen und gleichzeitig relevant sind. Hierzu eignen sich vermutlich eher psychologische Verben, wobei eines gefunden werden müsste, das zwei unterschiedliche <?page no="20"?> 1 Einleitung 20 Gefühle bzw. psychologische Zustände gleichzeitig ohne Fokussierung ausdrücken kann, wie etwa sich sorgen um (= lieben + fürchten (um geliebte Person)). 8 Pustejovsky (1995: 73) bemerkt hingegen, dass die unterspezifizierten Konfigurationen (12d,h,l) ohne Kopf auf der Oberflächenstruktur nicht-wohlgeformt sind. Die Unterspezifikation spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Analyse verbaler Polysemie. In den Begriffen der Ereignisstruktur tritt Polysemie auf, wenn ein lexikalischer Ausdruck unspezifiziert für den Kopf, also kopflos ist. Kopflose Ereignisstrukturen erlauben zwei mögliche Interpretationen - genereller noch gilt, dass ein Prädikat in so vielen Weisen ambig sein sollte, wie es potentielle Köpfe gibt. Die hier eingeführte Repräsentation liefert uns, so Pustejovsky (1995: 74), einen Mechanismus für die Erfassung logischer Bedeutungen von polymorphen Verben, wie z.B. kausative/ unakkusative Prädikate wie break und sink (assoziiert mit 12d), Prädikate mit Argumentinversion wie rent (assoziiert mit 12h) und Anhebungs-/ Kontroll-Prädikate wie begin und stop (assoziiert mit (12l)). 1.2.2.3 Die Qualia-Struktur Nach Pustejovsky (1995: 76) ist die Qualia-Struktur für die relationale Kraft eines lexikalischen Elements verantwortlich. Wenn ein generatives Lexikon auch alle lexikalischen Elemente bis zu einem gewissen Grad als relational analysiert, differiert doch die Art und Weise, in der die Relation funktional ausgedrückt wird, von Kategorie zu Kategorie sowie zwischen semantischen Klassen. Die Qualia-Struktur spezifiziert vier Aspekte (oder qualia) der Wortbedeutung, die Pustejovsky (1995: 76) wie folgt charakterisiert: 1. Konstitutiv: hiermit wird die Relation zwischen einem Objekt und seinen konstituierenden Teilen bezeichnet. 2. Formal: entspricht dem, was es (das Objekt) innerhalb eines größeren Bereichs auszeichnet. 3. Telisch: bezeichnet seinen Zweck und seine Funktion. 4. Agentivisch: hier geht es um die Faktoren, die in seinem Ursprung oder in seine Verursachung involviert sind. Bevor diese vier Aspekte am konkreten Beispiel verdeutlicht werden, sei noch auf den Hintergrund für diese Repräsentationsebene eingegangen: Pustejovsky (1995: 76) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Qualia-Struktur Aspekte der Wortbedeutung betont, die in der formalen Behandlung lexikalischer Semantik häufig ignoriert wurden. In den Erklärungsweisen für ein Wort erlauben wir laut Pustejovsky eine viel reichhaltigere Beschreibung von Bedeutung, als es eine einfache dekompositionale Sicht oder ein 8 Vgl. hierzu auch Pustejovsky (1995: 208 ff.), wo Experiencer-Prädikate im Zusammenhang mit Kausativität behandelt werden. Für das psychologische Verb anger nimmt Pustejovsky (1995: 211) als Restriktion die Relation < an. Auf kausative Prädikate wird im Zusammenhang mit Unakkusativität in Kapitel 2 weiter eingegangen. <?page no="21"?> Theoretischer Hintergrund 21 rein relationaler Ansatz für eine Wortbedeutung zulassen würde. Pustejovsky (1995: 76) hält zwei generelle Eigenschaften der Qualia-Struktur fest: 1. Jede Kategorie drückt eine Qualia-Struktur aus. 2. Nicht alle lexikalischen Elemente tragen einen Merkmalswert für jede Qualia-Rolle. Punkt 1) ist wichtig dafür, wie ein generatives Lexikon eine uniforme semantische Repräsentation kompositional aus allen Elementen einer Phrase gewinnen kann, während Punkt 2) erlaubt, Qualia als anwendbar oder spezifizierbar im Hinblick auf besondere semantische Klassen anzusehen. Im Folgenden wird, wie in den vorigen Abschnitten, zunächst der Abschnitt der Qualia-Struktur abstrakt angegeben (vgl. Pustejovsky (1995: (33)): (13) α … CONST = ... QUALIA = FORMAL = ... TELIC = ... AGENT = … Pustejovsky (1995: 78) merkt hierzu an, dass eine Struktur wie (13) noch nichts darüber aussagt, wie ein bestimmtes lexikalisches Element denotiert. Dafür reicht es nicht, einfach die Qualia aufzulisten, sondern sie müssen gebunden werden, damit z.B. ein Nomen wie novel nicht nur allgemein prädiziert, sondern auch so interpretiert werden kann, wie es die lokalen syntaktischen und semantischen Kontextbedingungen sowie die Rekonstruktion der Wortsemantik in Sätzen wie Mary enjoyed the novel lizensieren. Um die nachfolgenden Illustrationen der Qualia-Struktur an konkreten Beispielen nachvollziehen zu können, werden weitere Informationen über die vier Qualia-Rollen eingefügt, die Pustejovsky (1995: 85 f.) erst später, in einem eigens der Qualia-Struktur gewidmetem Kapitel gibt. Unter der Qualia-Rolle Konstitutiv werden Eigenschaften wie Material, Gewicht und Teile bzw. sonstige Komponenten als Werte angegeben. Die formale Qualia-Rolle wird mit Orientierung, Größe, Form, Dimension, Farbe und Position assoziiert. Bei der Qualia-Rolle Telisch geht es zum einen um die Absicht, die ein Agens bei der Durchführung einer Aktion hat, und zum anderen um eingebaute Funktionen oder Ziele, die bestimmte Aktionen spezifizieren. Die Qualia-Rolle Agentivisch schließlich integriert Informationen über den Erschaffer, das Produkt, Natur und kausale Ketten. Für die vorliegende Arbeit ist von besonderem Interesse, wie die Qualia-Struktur von Verben aussieht. Diese veranschaulicht Pustejovsky (1995: 80) am Verb break, einem kausativen Prädikat (aus der Gruppe der Transitionen). Es wird üblicherweise so analysiert, dass es einen initialen Prozess mit einem darauffolgenden Resultat ausdrückt. Diese beiden Phasen werden direkt auf die agentivische und die formale Qualia-Rolle abgebildet. Die relevanten Teile des Lexikoneintrags, d.h. die Ereignis-Struktur und die <?page no="22"?> 1 Einleitung 22 Qualia-Struktur, für die transitive Variante von break sehen wie folgt aus (vgl. Pustejovsky (1995: (39)): (14) break EVENTSTR E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < QUALIA = FORMAL = broken(e 2 , y) AGENTIVE = break_act(e 1 ,x,y) … Pustejovsky (1995: 80) spezifiziert ferner, dass Prädikate, die einen Prozess bezeichnen, danach zu unterscheiden sind, mit welcher Art von Prozess ein Prädikat assoziiert wird. Damit wird zunächst nur die Unterscheidung zwischen formalen und agentivischen Prozessen betrachtet: Viele Sprachen unterscheiden z.B. aktivische und passivische Prozesse 9 , wobei mit Bewegungsverben wie z.B. run und move aktivische Prozesse und mit Verben wie sleep and snore passivische Prozesse assoziiert werden. Pustejovsky betont in diesen Zusammenhang, dass diese Unterscheidung nicht notwendig isomorph zu einer Distinktion zwischen unergativ/ unakkusativ in einer Sprache sein muss. Relevant ist bei dieser Distinktion in der Bindung von Qualia, dass Prozesse in verschiedener Weise quantifizierbar sind, wobei einer in der formalen Rolle explizit mittels Ko-Komposition als resultierender Zustand spezifiziert wird. Dies ist aber nur bei aktivischen Prozessen möglich und lässt sich am Beispiel run to the store/ run home illustrieren. Hingegen erlaubt die Quantifizierung von passivischen Prozessen in der Regel nicht die kognate Konstruktion und ist auf die Modifikation mit durativen Adverben wie in sleep for an hour beschränkt. Im Folgenden wird nun gezeigt, wie die bislang einzeln dargestellten Repräsentationsebenen des Generativen Lexikons zu einer uniformen Sprache für lexikalisch-semantische Repräsentationen zusammengefügt werden. Hierbei nimmt Pustejovsky (1995: 81) ein auf typisierte Merkmalstrukturen basiertes System an, das zwei Teile hat: die Typenhierarchie selbst sowie das System der Bedingungen, das über die Typen bestimmt. Außerdem geht er davon aus, dass die Information über semantische Klassen von Subtypen-Spezifikationen ererbt werden kann, die Bedingungen für die Typen von Argumenten liefern. Für das bereits eingeführte Verb build wird nun ein kompletter Eintrag vorgestellt, wobei Pustejovsky (1995: 81 f.) annimmt, dass build zwei echte Argumente sowie ein Default-Argument hat und es sich bei diesem Verb um ein lexikalisches accomplishment-Verb mit zwei Unterereignissen, einem Prozess und einem resultieren-den Zustand, handelt. Der Prozess wird als agentivischer Akt identifiziert, der sowohl das tiefenstrukturelle Subjekt (ARG 1 ) als auch das Default-Argument (D-ARG 1 ) involviert, 9 Hierbei ist mit „passivisch“ nicht die Diathese gemeint, sondern eine Konzeption von Prozessen. <?page no="23"?> Theoretischer Hintergrund 23 wobei letzteres durch die konstitutive Relation von ARG 2 auf das logische Objekt bezogen wird. Die formale Rolle drückt den resultierenden Zustand aus, wonach es ein solches Objekt ARG 2 gibt. Da dieses Individuum als aus dem Material von D-ARG 1 gemacht definiert wird und doch logisch davon distinkt ist, kann die Ereignisstruktur auf zwei Weisen (John is building a house bzw. John built a house) ausgedrückt werden. Der Eintrag sieht nun nach Pustejovsky (1995: (82)) wie folgt aus: (15) build EVENTSTR= E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < HEAD = e 1 ARGSTR = ARG 1 = animate_ind FORMAL = physobj ARG 2 = artifact CONST = FORMAL = physobj D-ARG 1 = material FORMAL = mass QUALIA = create-lcp FORMAL = exist(e 2 , ) AGENTIVE = build_act(e 1 , , ) … In Kapitel 2.3 wird gezeigt, wie diese komplexe Lexikonstruktur und insbesondere die erweiterte Ereignisstruktur zusammen mit dem Konzept der Köpfigkeit von Unterereignissen für die Erklärung von Kausation (Alternation von kausativen und unakkusativen Verben) relevant wird. Außerdem werden weitere Überlegungen Pustejovskys zu Default-Argumenten und generell zum Verhältnis zwischen generativem Lexikon und Syntax dargestellt. In Kapitel 6 wird einerseits gezeigt, wie solche Lexikoneinträge für ausgewählte spanische unakkusative Verben erstellt werden, wobei die eingangs genannten lexikalischen Mechanismen in diesem Zusammenhang, sofern erforderlich, am konkreten Beispiel genauer erläutert werden. Ferner wird in diesem Kapitel ausgeführt, wie aus der vorgestellten erweiterten Ereignisstruktur mit den unterschiedlichen Köpfen und Kombinationen auch eine Theorie für den Bedeutungswandel und den damit ggf. einhergehenden Wandel der Syntax entwickelt werden kann, die mehr erklären kann als die Grammatikalisierungstheorie, die im Rahmen der Sprachwandeltheorien im folgenden Abschnitt vorgestellt wird. <?page no="24"?> 1 Einleitung 24 1.2.3 Theorien über Sprachwandel Zum theoretischen Hintergrund dieser Arbeit gehören grundsätzliche Annahmen zum Sprachwandel, für den unterschiedliche und grammatiktheorieabhängige Konzepte existieren. Basierend auf Saussure (1916) kann die historische Entwicklung von Sprache(n) als eine diachronische Abfolge synchroner Grammatiken betrachtet werden. Die Herausforderung der diachronischen Syntaxforschung besteht darin zu erklären, wie es zu syntaktischem Sprachwandel, d.h. zu einer diachronischen Variation der syntaktischen Eigenschaften dieser Grammatiken kommen kann. Im Folgenden werden die für die Zwecke der vorliegenden Arbeit wichtigsten Theorien, d.h. einerseits die Grammatikalisierungstheorie und andererseits die Annahmen zum Sprachwandel im generativen Grammatikmodell, mit ihren unterschiedlichen Auffassungen zu Auslösern syntaktischen Wandels vorgestellt und die Arbeitshypothese für diesen Aspekt formuliert. 1.2.3.1 Grammatikalisierungstheorie Die älteste, aber bis heute immer weiter entwickelte Wandeltheorie basiert auf dem Konzept der Grammatikalisierung, welches auch von Abraham zugrundegelegt wird (vgl. Abschnitt 1.1). Der Begriff „Grammatikalisierung“ wurde erstmals von Meillet (1912) im Sinne einer „attribution du caractère grammatical à un mot jadis autonome“ verwendet. Von Kurylowicz (1965) wurde Grammatikalisierung aus diachronischer Sicht auf denjenigen Prozess bezogen, der Lexeme zu grammatischen Formativen (Morpheme, Affixe) macht bzw. die Funktion grammatischer Formative noch stärker grammatikalisiert. Seither wird dieses Konzept in der typologischen und historischen Sprachforschung zur Erklärung von Wandelprozessen verwendet, vgl. v.a. die grundlegenden Arbeiten und Aufsatzsammlungen von Heine und Reh (1984), Lehmann (1985, 1995), Traugott und Heine (1991), Heine, Claudi und Hünnemeyer (1991), Hopper und Traugott (1993), den Sonderband Folia Linguistica Historica 13 (1992/ 93), Bybee, Perkins und Pagliuca (1994), Harris und Campbell (1995) sowie Michaelis und Thiele (1996). Dabei wurde das Konzept selbst aber auch immer wieder intensiv diskutiert. In einer Reihe von jüngeren Arbeiten wird versucht, es genauer zu definieren (auch und gerade unter Bezug auf das Konzept der Reanalyse, vgl. u.a. Abraham 1992/ 93 sowie Detges 1999, Lang und Neumann-Holzschuh 1999, Waltereit 1999) sowie die Frage zu klären, inwieweit die Annahme, dass Grammatikalisierungsprozesse stets unidirektional vom semantisch eigenständigen Lexem zum („semantisch ausgebleichten“) grammatischen Element verlaufen, zutreffend ist bzw. ob nicht auch der gegenläufige Prozess einer „Degrammatikalisierung“ oder „Lexikalisierung“ erfolgen kann (vgl. u.a. Ramat 1992, Moreno Cabrera 1998, van der Auwera 2001). Schließlich werden Grenzen des Konzepts aufgezeigt (vgl. hierzu v.a. Giacalone Ramat 1998). Dieser erste Überblick macht bereits deutlich, dass der Begriff „Grammatikalisierung“ doppeldeutig ist: Er wird sowohl für einen konkreten Wandelprozess als auch für die hierüber entwickelte Theorie verwendet (vgl. auch Marchello-Nizia 2006 für einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand). Im Folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse dieser Diskussion 10 kurz vorgestellt, um den Begriff der Grammatika- 10 Giacalone Ramat und Hopper (1998) beschreiben die Diskussion in den 1990er Jahren als „dritte Phase“ nach der Einführung des Begriffs durch Meillet (1912) und dem wiedererstarkten Interesse am <?page no="25"?> Theoretischer Hintergrund 25 lisierung und seine Verwendbarkeit für die vorliegende Arbeit zu klären. Dabei ist es aufgrund der sehr engen Verflechtung der Termini Grammatikalisierung und Reanalyse untereinander und mit ihrem jeweiligen theoretischen Hintergrund zweckmäßig, zunächst diese beiden Konzepte einzuordnen und voneinander abzugrenzen, bevor auf die definitorischen Eigenschaften des Grammatikalisierungsvorgangs eingegangen wird. Der Begriff der Reanalyse wird überdies auch in spracherwerbs- und sprachwandelbezogenen Arbeiten des generativen Grammatikmodells verwendet (vgl.z.B. Remberger 2006, Roberts 2007). Abraham (1992/ 93) stellt in seinem Vorwort zum Sonderband der Folia Linguistica Historica zunächst fest, dass die Begriffe Reanalyse und Grammatikalisierung verschiedenen Alters und vor allem unterschiedlicher konzeptueller Zugehörigkeit sind. Dabei erklärt er Reanalyse in einem bestimmten Sinne, nämlich als Konzept, das einer „nuancierten, streng geregelten syntaktischen Konstituentenanalyse verpflichtet ist, die sich auf den Grundlagen der Projektionstheorie zum universalgrammatischen Konstituentenaufbau (X-bar Theory) gründet und die die universalgrammatischen Restriktionen zu Elementverschiebungen berücksichtigt“ (Abraham 1992/ 93: 7). Dieser Reanalyse-Begriff ist, wie Abraham selbst festhält, relativ jung und absolut theorieverpflichtet und spricht Elemente und Prozesse (morpho)syntaktischer Natur an. Grammatikalisierung ist für Abraham (1992/ 93: 8) dagegen „der linguistische, diachrone ebenso wie synchrone Prozeß der Kategorienumorganisation und seiner Kodierung. Ganz ausgesprochen, ja programmatisch geht es dabei nicht nur um Kernbereiche der Sprache, um die langue (Syntax, Morphologie), sondern auch um die parole, also Außersystematisches und paradigmatischen Beziehungen Zugängliches wie die Lexik, zum bloßen Ausdrucksbereich Gehöriges, Nichtdiskretes.“ Aufgrund der unterschiedlichen theoretischen Herkunft der Begriffe - so beschreibt Abraham (1992/ 93: 8) die an der Entwicklung des Grammatikalisierungskonzepts maßgeblich beteiligte Forschungsrichtung unter Bezugnahme auf die Interessenschwerpunkte als „typologischen Funktionalismus“ - ergeben sich die unterschiedlichen Anwendungsbereiche der beiden Konzepte: Während der Reanalyseansatz auf solche Phänomene angewiesen ist, die durch grammatische Kategorien oder Morpheme sowie durch darüber formulierte Beschränkungen für komplexere Kategorien erfassbar sind, also bei diachronen Prozessen mit syntaktischen Mitteln erfassbare Anfangsbzw. Enderscheinungen, versucht der Funktionalismus nach Abraham (1992/ 93) innerhalb der in Entwicklung befindlichen Grammatiktheorie nicht nur die Zwischenstufen zu erfassen, sondern widmet sich auch und vor allem der Frage, wie der beobachtete Prozess überhaupt in Gang kommen kann und welche Bedingungen ihn mehr oder wenig telisch leiten. Während Abraham (1992/ 93) die Begriffe in ihrem wissenschaftlichen Entstehungskontext betrachtet und voneinander abgrenzt (schließlich aber nicht in direkter Konfron- Grammatikalisierungskonzept in den 1980er Jahren. Während man in dieser zweiten Phase vorrangig die Manifestationen von Grammatikalisierungsprozessen in vielen verschiedenen Sprachen untersuchte, widmet sich die „dritte Phase“ stärker der theoretischen Integration des Grammatikalisierungskonzepts in die deskriptive und historische Linguistik. <?page no="26"?> 1 Einleitung 26 tation sieht), treten Lang und Neumann-Holzschuh (1999) zunächst einen Schritt zurück zur primärsprachlichen Bedeutung der Verben reanalysieren und grammatikalisieren, um von dort aus die wissenschaftliche Terminologie genauer und neu zu betrachten. So ergeben sich die folgenden unterschiedlichen Bedeutungen der beiden Verben: Das Verb grammatikalisieren sieht für sein Objekt aufgrund seiner Motiviertheit (Grammatik -> grammati(kali)sch -> grammatikalisieren) die Rolle eines ‚affizierten‘ Objekts vor, d.h. eines Objekts, das nach dem Vorgang der Grammatikalisierung nicht mehr dasselbe ist wie zuvor - der Vorgang macht aus dem Objekt ein grammatisch(er)es. Die Autoren setzen dieses Verb mit Verben wie romanisieren oder pulverisieren gleich. Es wird nicht eine Aussage über das Wie des Prozesses, sondern eine Benennung der Veränderung vom Resultat her vorgenommen. Demgegenüber ist für die Autoren das direkte Objekt von (re)analysieren gerade kein affiziertes Objekt, d.h. es ist nach dem Vorgang der (Re)analyse noch dasselbe wie vorher; das Verb wird mit interpretieren, beschreiben etc. gleichgesetzt. Hier geht es um das Wie des Vorgangs, während über das vom Vorgang nicht tangierte Objekt nur gesagt wird, dass es (unterschiedlich) analysierbar ist. Für die Neudefinition der sprachwissenschaftlichen Termini setzen Lang und Neumann- Holzschuh (1999: 4) bei der Annahme an, dass als sprachliche Objekte, die grammatikalisiert werden, v.a. sprachliche Zeichen (langue) in Frage kommen, da nur sie über eine gewisse Konstanz in den Köpfen der Sprecher verfügen, die die Voraussetzung für eine Veränderung bildet. Sie plädieren sodann dafür, Grammatikalisierung als einen Vorgang zu definieren „bei dem ein Zeichen der langue in der Weise verändert wird, daß es zu einem grammatische(re)n Zeichen wird“. Die Kontinuität dieses Zeichens liegt hier auf Seiten des signifiant, die Veränderung auf der Seite des signifié (wobei nicht ausgeschlossen wird, dass die Veränderung auf der Inhaltsseite nicht auch irgendwann zu einem Wandel auf der Ausdrucksseite führen kann). Im Hinblick auf den Reanalyse-Begriff überlegen die Autoren (1999: 5) nun ebenfalls, wie das direkte Objekt von reanalysieren beschaffen sein muss, und kommen zu dem Schluss, dass es wie bei der Grammatikalisierung eine gewisse Konstanz aufweisen muss, um für Reanalysen verfügbar zu bleiben. Es müsse sogar ein im Prinzip unveränderliches Objekt sein, wenn von einer Reanalyse ein und desselben Objekts gesprochen wird. Um zu einem ausreichend engen Begriff zu kommen, muss nach Lang und Neumann- Holzschuh (1999: 6) auch nicht nur die Ausdrucksseite und der Gesamtsinn eines Diskurs-Abschnitts, sondern auch die Gliederung der Rede in aufeinanderfolgende Elemente einbezogen werden, die dem Reanalysierenden aufgrund seiner Kenntnisse der Sprache zugänglich ist. Damit wird die Reanalyse zunächst einmal als eine Reinterpretation des Verhältnisses dieser Einheiten zueinander definiert. Die Autoren konkretisieren den Begriff Reanalyse aber noch weiter: Sie wollen dann von Reanalyse sprechen, wenn „ein Hörer, dem der vom Sprecher intendierte ‚ordre structural‘ zugänglich ist, bei der Interpretation dem entsprechenden ‚ordre structural’ einen anderen ‚ordre structural‘ unterstellt (Lang und Neumann-Holzschuh 1999: 6). Dies kann sich auch auf die Analyse eigener Rede durch den Sprecher beziehen. Zum genannten ‚ordre structural‘ gehören u.a. die Abhängigkeitsrichtung der beteiligten Konstituenten und deren Kategorien. Für die Sprachwandelforschung sind nun - so die <?page no="27"?> Theoretischer Hintergrund 27 Autoren - nur diejenigen Fälle interessant, bei denen die neue Analyse im bisherigen Sprachzustand noch nicht möglich war. Hierfür wollen sie den Begriff der Reanalyse reservieren. Sie unterscheiden verschiedene Analysen eines ambigen Satzes und die Entstehung einer neuen Analysemöglichkeit. Die Ambiguität eines ‚ordre linéaire‘ ist nicht die Voraussetzung für die Reanalyse, sondern deren Folge, nachdem eine neue, bisher nicht dagewesene Analysemöglichkeit hinzugekommen ist. Aus den bisherigen Ausführungen der Autoren zur Reanalyse wird auch deutlich, dass immer eine lineare Abfolge von Elementen und nicht ein einzelnes Element allein reanalysiert wird. Die Autoren weisen ferner darauf hin, dass nicht nur Syntagmen als Syntagmen reanalysiert werden können, sondern auch Syntagmen als komplexe Wörter und komplexe Wörter als einfache Wörter. Es wird weiter deutlich, dass mit Grammatikalisierung und Reanalyse nicht das Gleiche gemeint sein kann. Zum Verhältnis der beiden Termini führen die Autoren weiter aus, dass sie auch nicht unterschiedliche Aspekte ein und desselben Vorgangs sind. Vielmehr vertreten sie die Auffassung, dass in einer Sprache bislang noch nicht dagewesene Möglichkeiten der Analyse nur durch (zumindest tentative) Veränderungen möglich werden, die der Analysierende an seiner Sprache vornimmt. Diese Veränderung in der Sprache kann, muss aber nicht in der Grammatikalisierung eines ihrer Elemente bestehen. Somit gilt, dass jede Grammatikalisierung mit einer Reanalyse einhergeht, aber umgekehrt nicht alle Reanalysen mit einer Grammatikalisierung. Nach dieser Klärung des Verhältnisses der Begriffe Grammatikalisierung und Reanalyse soll im Folgenden nun klargestellt werden, was bei diesen beiden Prozessen eigentlich genau geschieht. Waltereit (1999) argumentiert dafür, dass die Reanalyse kein unmotivierter, zufälliger Prozess, sondern vielmehr semantisch-pragmatisch motiviert ist und morphosyntaktische Veränderungen nur der Reflex eines primär semantischen Vorgangs sind. Ferner beleuchtet er den semantischen Mechanismus genauer und charakterisiert ihn als metonymischen Prozess. Er setzt sich insbesondere kritisch mit zwei in der Forschung verbreiteten Ansichten auseinander, wonach Reanalyse eine syntaktische Ambiguität der Ausgangsstruktur voraussetze und auf „Übertragungsfehler“ beim Spracherwerb zurückgehe. An einem Beispiel aus der Literatur zum Pertinenzdativ im Deutschen verdeutlicht Waltereit (1999: 21, Bsp. (5)), dass die syntaktische Ambiguität durch die Reanalyse erst entsteht und ihr nicht vorausgehen kann: (16) a. Da zerriss NP [dem Jungen] NP [seine Hose] > b. Da zerriss NP [ NP [dem Jungen] seine Hose]. Der Pertinenzdativ in (16a) ist in manchen nähesprachlichen Varietäten des Deutschen als adnominaler Possessionsmarker (16b) reanalysiert worden. Die syntaktische Hierarchiestruktur ist ambig, da beide konstituentiellen Analysen mit der Oberflächenstruktur vereinbar sind. Vor dem diachronen Schritt war jedoch nur die (16a) entsprechende Struktur möglich. Diese Überlegung ist zentral für Waltereits Deutung von Reanalyse als einem Typ von Sprachwandel. Er nimmt an, dass die traditionelle Ansicht, dass Reanalyse syntaktische Ambiguität voraussetze, einer plausiblen Intuition entspringt, wonach in der alten Struktur die neue irgendwie schon enthalten sein muss. Waltereit (1999: 21) setzt nun dagegen, dass nicht die Syntax, sondern die Semantik der neuen <?page no="28"?> 1 Einleitung 28 Struktur in der alten schon angelegt ist und die Bedeutung der neuen Struktur nicht genau die gleiche wie die der alten ist. Die neue Bedeutung entspricht vielmehr einer sehr naheliegenden Inferenz aus der alten Bedeutung - die neue Struktur aktiviert ein in der alten bereits angelegtes Inferenzpotential. Am obigen Beispiel erläutert Waltereit den Unterschied: die Pertinenzkonstruktion in (16a) drückt rein satzsemantisch nur aus, dass der Referent der Dativ-NP von dem Sachverhalt des Hosenrisses betroffen ist. Die Inferenz, dass die Hose des Jungen riss (Bedeutung von 16b) ist sehr naheliegend, aber keine zwingende Schlussfolgerung. In (16a) könnte auch die Hose eines anderen reißen, während in (16b) sich das Possessivpronomen auf das Subjekt beziehen muss. Die Inferenz ist also in der alten Satzbedeutung (16a) angelegt, wurde in (16b) aktualisiert und zu einer neuen Satzbedeutung gemacht. Hierdurch wurde dann die syntaktische Struktur umorganisiert, so dass die NP dem Jungen der NP seiner Hose nicht mehr als Ko-Konstituente gleichrangig angeordnet ist, sondern nun als Modifikator der Kopf-NP fungiert. Im Hinblick auf die Annahme, dass Reanalyse auf „Übertragungsfehler“ im Spracherwerbsprozess zurückgehe, verweist Waltereit (1999: 24) zunächst darauf, dass es hierbei um einen Abduktionsprozess geht, d.h. um eine Schlussfigur, bei der ausgehend von einem bestimmten Oberflächenbefund und einer Regel auf einen zugrundeliegenden Tatbestand geschlossen wird (so ist jede ärztliche Diagnose eine Abduktion). Das Verfahren ist immer dann fehlbar, wenn die regelhafte Zuordnung von zugrundeliegendem und Oberflächenbefund nicht mindestens in der Richtung „Oberfläche > zugrundeliegender Sachverhalt“ eindeutig ist. In Analogie zum Diagnose-Beispiel wird Reanalyse oft als „falscher“, auf mehrdeutigen Oberflächenstrukturen beruhender Abduktionsvorgang auf seiten des Hörers beschrieben. In dieser Perspektive ist die Reanalyse gewissermaßen Folge eines Missverständnisses. Da ein solches Missverständnis etwas mit sprachlicher Kompetenz bzw. einem Mangel daran zu tun hat, führen viele Autoren Reanalyse auf Übertragungsfehler beim kindlichen Erstspracherwerb zurück („misacquisition“). 11 Waltereit (1999: 24) hält es zwar für plausibel, dass der kindliche Spracherwerb in Teilen ein Abduktionsvorgang ist, in dem „das Kind versucht, neue, unbekannte Strukturen anhand bereits gelernter Regeln auf bekannte Strukturen zurückzuführen, wodurch nicht-zielsprachkonforme Äußerungen produziert werden können“ und nennt als Beispiel „prendu“ als Partizip Perfekt von prendre. Aber er weist auf wichtige Einwände gegen die Annahme, dass Fehler beim Spracherwerb Sprachwandel einleiten, hin: 1. Die Kinder machen zwar Fehler im Spracherwerb, korrigieren diese aber bald. Daher ist unklar, ob überhaupt und wie Lernfehler sich verfestigen können. 2. Selbst wenn ein Individuum in seinem Idiolekt einen zufälligen Lernfehler verfestigen würde, so reichte das nicht, um einen Sprachwandel einzuleiten. Es müssten in einer bestimmten Generation so viele Leute denselben Fehler weitertragen, dass er zu einer neuen Norm werden kann. Wie es dazu kommen könnte, ist nach Waltereit völlig unklar. 11 Vgl. auch Roberts (2007: 122 ff.), der im generativen Theorierahmen arbeitend das Konzept des parametrischen Wandels verteidigt. Er sieht Reanalyse als Symptom parametrischen Wandels, der durch Abduktion im kindlichen Spracherwerb verursacht wird. <?page no="29"?> Theoretischer Hintergrund 29 Waltereit hält es aus diesen Gründen aus Sicht der Spracherwerbsforschung für wenig plausibel, dass Reanalyse an Übertragungsfehler im Spracherwerbsprozess geknüpft ist. Er bezieht sich hier implizit (und durch seine Quellenangaben erkennbar) auf die Forschung zum monolingualen Spracherwerb. Aus Sicht des bilingualen Erwerbs kann ebenfalls gezeigt werden, dass Fehler im Erwerbsprozess im Vorschulalter wieder korrigiert werden, wenngleich es hier z.T. längern dauern kann (vgl. Müller, Kupisch, Schmitz und Cantone (2011) zu einer Reihe von grammatischen Bereichen im bilingual deutsch-französischen und deutsch-italienischen Spracherwerb). Hierbei spielt Ambiguität eine größere Rolle: Ein bilinguales Kind geht mit zwei verschiedenen entstehenden Grammatiken an Strukturen heran. Erlauben diese mehr als eine Analyse in Sprache A und unterstützt Sprache B eine davon, so kann es zum Spracheneinfluss kommen und die weniger komplexe Analyse wird auch auf diejenige Sprache angewandt, in der die Analyse der betreffenden Struktur in dieser Form nicht zielsprachlich ist. In einigen grammatischen Bereichen kann ein derartiger Einfluss beschleunigend, in anderen verzögernd wirken. Jedoch ist nicht von einer Verfestigung eines solchen Einflusses auszugehen, vielmehr zeigen Müller et al., dass die Wirkungen des Einflusses nur vorübergehender Natur sind. Aus den vorgenannten Gründen plädiert Waltereit (1999: 25) dafür, den Reanalyseprozess sowohl als singuläre Innovation als auch als Übernahme in die Norm im Sprachgebrauch der Erwachsenen anzusiedeln. Er stimmt der spracherwerbs-orientierten Auffassung nur insoweit zu, als dass Reanalyse eine hörerseitige Innovation ist. Denn Hörer inferieren aus einer gegebenen Äußerung eine vom Sprecher nicht enkodierte und vermutlich auch nicht intendierte, jedoch naheliegende Folgerung. Dies wird manifest, wenn die Hörer ihrerseits als Sprecher die betreffende Struktur im Sinne der neuen Funktion verwenden. Aufgrund der starken Kontiguität zwischen tatsächlicher und inferierter Satzbedeutung hält Waltereit es für plausibel, dass viele Hörer diese Inferenz vornehmen, ihr auch im eigenen Sprechen folgen und damit die Übernahme in die Norm unbeabsichtigt betreiben. Dabei kann die inferierte Satzbedeutung usualisiert werden und zur neuen Norm avancieren. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl Waltereit (1999) als auch Lang und Neumann-Holzschuh (1999) Ambiguität nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis eines Reanalyse-Prozesses sehen, den Waltereit (1999) als semantisch charakterisiert, während Lang und Neumann-Holzschuh (1999) auch die syntaktische Umgebung bei der Reanalyse einbeziehen. Dieser zentrale Zusammenhang zwischen Reanalyse und dem Ergebnis Mehrdeutigkeit wird der Diskussion in Kapitel 6.2 zugrundegelegt. Während die Ausführungen von Waltereit (1999) eine genauere Vorstellung von Reanalyse vermitteln, beleuchtet Detges (1999) die semantischen und kognitiven Vorgänge im Grammatikalisierungsprozess, wobei er als Phänomenbereich die Grammatikalisierung von Tempusmarkern im Französischen untersucht. Er setzt sich kritisch mit der „bleaching“-Hypothese und der Annahme der Grammatikalisierung als metaphorischen Vorgang auseinander und betrachtet die Grammatikalisierung ebenfalls als metonymischen Prozess. Zur „bleaching“-Hypothese, wonach Lexeme, die sich zu grammatischen Einheiten entwickeln, im Zuge dieser Entwicklung „ausbleichen“, stellt <?page no="30"?> 1 Einleitung 30 Detges (1999: 32) eine ganz grundlegende Frage: Wie lässt sich solch ein Bedeutungsverlust aus der Perspektive der Sprecher plausibel erklären? Anders als Lehmann (1995), der das „semantische“ Verschleißen sprachlicher Elemente mit dem lautlichen Verschleißen grammatikalisierter Elemente vergleicht und erklärt, macht Detges deutlich, dass zwar häufiger Gebrauch einer ursprünglich innovativen metaphorischen oder metonymischen Neuprägung deren Expressivität mildert, sich aber dadurch keineswegs die Bedeutung verändert. Im Gegenteil geht die Abnahme von Expressivität infolge häufigen Gebrauchs Hand in Hand mit der Lexikalisierung (d.h. einer Stabilisierung) der neuen Bedeutung. Auch die Annahme einer semantischen Generalisierung von Bybee, Perkins und Pagliuca (1994: 289 ff.), wonach ein „Ausbleichen“ auf semantischer Ebene im Zusammenhang mit einem morphosyntaktischen Prozess steht, in dem das Lexem in einem morphosyntaktischen Verallgemeinerungsprozess notwendigerweise einen Bedeutungsverlust erführe, betrachtet Detges (1999: 33) kritisch. Hier stellt sich für ihn die Frage nach Ursache und Wirkung: Verliert das Element semantische Merkmale, weil es in immer mehr Kontexten verwendet wird, oder ist umgekehrt der Verlust an semantischen Merkmalen die Ursache für morphosyntaktische Generalisierung und muss seinerseits erklärt werden? Nach Detges scheint auch die erste Annahme wenig plausibel, da Sprecher im Allgemeinen nicht die Absicht haben, sprachliche Elemente zu grammatikalisieren (indem sie deren Distribution ausweiten), sondern effizient kommunizieren wollen. Das zentrale Problem von „bleaching“-Modellen sieht Detges darin, dass sie sich nicht überzeugend aus dieser Motivationslage begründen lassen. Im Folgenden werden weitere Punkte der aktuellen Diskussion genannt, die die zentrale, von Giacalone Ramat und Hopper (1998) gestellte Frage danach betreffen, welche Phänomenbereiche angemessen unter der Rubrik Grammatikalisierung erklärt werden können und welche nicht. Zu den identifizierten Phänomen- oder Problembereichen zählen die Autoren: - Das Problem der Lexikalisierung bzw. der Trennlinie zwischen strikt lexikalischen und strikt grammatischen Prozessen - Das konzeptuelle Problem der Kollokationen - Existenz und Art von Sprachwandelphänomenen, die nicht unter Grammatikalisierung fallen (als Beispiele werden phonologische Wandelprozesse, lexikalische Ersetzungen und Konversionen genannt) - „Scheinbare“ Grammatikalisierungsprozesse (Möglichkeit der Rekonstruktion von historischer Evidenz, wo es keine gibt) - Die Unidirektionalität in Wandelprozessen von lexikalischen zu grammatischen Kategorien Von den aufgeführten Problembereichen ist der letzte Punkt der für die vorliegende Arbeit wichtigste im Hinblick auf die Hypothese, unakkusative Verben seien lexikalische Passive, und wird daher hier vorrangig behandelt. Die Unidirektionalität ist lange Zeit nicht kontrovers betrachtet worden. Die bisher vorgestellten Arbeiten sowie die meisten derjenigen, auf denen sie aufbauen, legen die in der Grammatikalisierungsforschung vertretene Auffassung, dass Grammatikalisierung stets vom lexikalischen zum grammatisch(er)en Element verläuft (sog. unidirectionality hypothesis), explizit <?page no="31"?> Theoretischer Hintergrund 31 oder implizit zugrunde. Diese starke Hypothese wird jedoch in einigen neueren Beiträgen durch Gegenevidenz in Frage gestellt, die für die (parallele) Existenz eines umgekehrten Prozesses der Lexikalisierung spricht. Im Folgenden werden Arbeiten, die solche Evidenz aufzeigen und Überlegungen zum Prozess der Lexikalisierung anstellen, kurz vorgestellt. Ramat (1992) führt Belege für einen Degrammatikalisierungsprozess an und erklärt sie mit grundlegenden linguistischen Prinzipien. Beispiele sind u.a. die Suffixe -ism/ -ismus/ -ismo im Englischen, Deutschen und Italienischen (sowie Pendants in weiteren romanischen Sprachen), mit denen nach einer Wortbildungsregel abstrakte Nomina von unterschiedlichen Basen gebildet werden können. Diese diagrammatisch ikonischen und transparenten Elemente können nun zu isms, Ismen und ismi substantiviert werden, mit denen eine, mit leicht pejorativer Nuance versehene abstrakte und evtl. abstruse philosophische oder soziologische Spekulation bezeichnet werden kann. Weitere Beispiele für Ausdehnungen, die aber nicht zu einem alleinigen Gebrauch des Suffixes reichen, nimmt Ramat (1992: 550) als Grundlage für seine Generalisierung, wonach grammatische Formative, die keine grammatische Funktion mehr hatten (also von ihren grammatischen Regeln getrennt sind), konkreten Lexemstatus mit einer eigenen autonomen lexikalischen Bedeutung erworben haben. Lexikalisierung ist nach Ramat ein Aspekt der Degrammatikalisierung, in anderen Worten kann Degrammatikalisierung zu neuen Lexemen führen. Ramat definiert Lexikalisierung weiter als Prozess, in dem lexikalische Zeichen, die von grammatischen Regeln gebildet wurden, nicht länger als solche wahrgenommen werden, sonden einfach als Lexeme. Als ein weiteres Beispiel für Lexikalisierung zitiert Ramat (1992: 551) Komparative, die ihren grammatischen Status verloren haben und nicht mehr in komparativen Strukturen verwendet werden und einen antidiagrammatischen Prozess der „Opakisierung“ durchlaufen haben, u.a. lat. senior(em) > fr. seigneur, it. signore > fr. sire. Ramat (1992: 553) stellt nun die interessante Frage, warum Grammatikalisierung und Degrammatikalisierung in natürlichen Sprachen koexistieren. Seine Antwort darauf lautet, dass es eine spiralförmige Bewegung von Lexikon 1 (via Syntax) zur Grammatik und zurück zu Lexikon 2 gibt. Damit wird Grammatik nicht als finale Phase jeder linguistischen Entwicklung dargestellt und umgekehrt können Lexikalisierungsprozesse grammatische Elemente veranlassen, die Begrenzungen der Grammatik zu überwinden. Als Auslöser der angenommenen Spiralbewegung betrachtet Ramat (1992: 557) die kontrastierenden kognitiven Prinzipien, zum einen das „Least effort“-Prinzip, welches zu phonetisch reduzierten und opaken Bezeichnungen führt, und zum anderen das gegenläufige Transparenzprinzip, das auf eine optimale Eins-zu-eins-Relation zwischen Form und Bedeutung zielt. Als Nächstes werden die Überlegungen von Giacalone Ramat (1998) zur Frage der Unidirektionalität sowie zum Verhältnis Grammatikalisierung/ Lexikalisierung vorgestellt. Letztere sind mit einer Diskussion eines für die vorliegende Arbeit sehr interessanten Beispiels eines Grenzfalls für die Grammatikalisierung verbunden, nämlich der Entwicklung der romanischen Passivauxiliare. Im Hinblick auf die Unidirektionalitätshypothese sieht Giacalone Ramat (1998: 115) zunächst die Konsequenz aus dieser Hypothese, nämlich dass grammatische Elemente nicht ins Lexikon zurückkehren. Sie <?page no="32"?> 1 Einleitung 32 zitiert die von Ramat (1992) sowie Hopper und Traugott (1993: 126 ff.) erwähnten Gegenbeispiele, wobei diese Autoren solche (theoretisch problematischen) Phänomene als „somewhat idiosyncratic cases and infrequent“ abtun. Giacalone Ramat (1998: 116 f.) sieht jedoch neben der Erschaffung neuer Lexeme weitere problematische Fälle, die die Unidirektionaliät der Grammatikalisierung in Frage stellen, in denen eine weitere Erwartung der Grammatikalisierungsforschung nicht erfüllt wird. Für morphologische Marker wird angenommen, dass sie im Laufe weiterer Grammatikalisierungsprozesse irgendwann ganz verschwinden (morphological degeneration). Sie zeigt jedoch einige Fälle auf, in denen Marker in einen anderen grammatischen Bereich „abwandern”“ und dort zu erhöhter morphologischer Komplexität führen (z.B. Personalpronomina, die in den südalemannischen Varietäten des Walser-Tals in Italien zu Flexionsaffixen werden und die vormaligen Paradigmen mit mehr Distinktionen anreichern) sowie bidirektionale Phänomene (z.B. die (erwartete) Entwicklung klitischer Pronomina zu Affixen im Kontrast zum portugiesischen flektierten Infinitiv, dessen Verbendungen synchron eher Subjektklitika als Flexionsaffixen ähneln). Für alle Arten der Gegenevidenz zur Unidirektionalität hält sie jedoch fest, dass sie zwar nicht unterschätzt werden sollten, aber keine wahre Umkehrung des Grammatikalisierungsprozesses darstellten, sondern nur lokale Effekte unter markierten kontextuellen oder soziolinguistischen Bedingungen (informelle Sprache, Kontaktsituationen) seien. Als Testfall für die Grenzen der Grammatikalisierung und das Verhältnis von Grammatikalisierung zu Lexikalisierung behandelt Giacalone Ramat (1998: 118 ff.) die romanischen Auxiliare, deren Entwicklung als prototypischer Fall der Grammatikalisierung gilt (vgl. auch Heine, Claudi und Hünnemeyer 1993). Die Auxiliare illustrieren alle zentralen Annahmen der Grammatikalisierungstheorie: Gradualität, Überlappung, Nicht- Vollendung, Verlust semantischen Gehalts und kategorieller Eigenschaften (vgl. auch Hopper und Traugott 1993, Bybee, Perkins und Pagliuca 1994). Jedoch verweist Giacalone Ramat auf die Tatsache, dass neben den Auxiliaren sein und haben, die vollständig grammatikalisiert zu sein scheinen, aber in den romanischen Sprachen und Dialekten in unterschiedlicher Distribution auftreten, auch eine andere Gruppe weniger grammatikalisierter Formen existiert (vgl. auch Green 1982), die es ermöglichen, ein Kontinuum der Grammatikalisierung zu entwickeln und die Natur der Kategorie Auxiliar zu beleuchten. 12 Innerhalb der romanischen Sprachen tendieren insbesondere das Italienische und Spanische dazu, die Verwendung von Periphrasen mit Auxiliaren auszudehnen und die Anzahl der Mitglieder in der Kategorie zu erweitern, die Bewegungsverben (z.B. kommen, gehen) und Positionsverben (bleiben, stehen) enthält; außerdem erwähnt Giacalone Ramat Konstruktionen mit sog. „Aspektualen“ wie z.B. fortsetzen, beenden. Am Beispiel der beiden italienischen Bewegungsverben venire und andare in ihrer Verwendung als Passivauxiliare verdeutlicht Giacalone Ramat (1999: 119) die unvollständige Grammatikalisierung: In dieser Funktion teilen sie mit allen 12 Vgl. hierzu die im generativen Theorierahmen angesiedelte Arbeit zu den Hilfsverben im Italienischen und Sardischen von Remberger (2006), die die Grammatikalisierungstheorie, insbesondere die von Heine (1993) formulierte „Verb-to-TAM“-Grammatikalisierungskette, verwendet und eine synchrone Analyse der syntaktischen Folgen der Wandelprozesse vorschlägt. Die relevanten Aspekte dieser Analyse für den beobachteten Wandel der Passivauxiliare werden in Kapitel 6.1 vorgestellt. <?page no="33"?> Theoretischer Hintergrund 33 Auxiliaren die spezielle Eigenschaft, dass sie keine eigene Argumentstruktur mehr haben und einer Reihe von morphosyntaktischen und semantisch-lexikalischen Restriktionen unterliegen: venire ist von zusammengesetzten Tempora ausgeschlossen (*questa casa è venuta venduta l’anno scorso), während andare nur mit Verben, die Verschwinden, Zerstörung oder Schaden am Patienten ausdrücken, verwendet wird (z.B. questa casa è andata distrutta durante il terremoto). Das defektive Paradigma von andare und venire in Auxiliarfunktion ist ein essentieller Part in ihrem Grammatikalisierungsprozess, wozu morphosyntaktische Beschränkungen gehören. Hingegen ist die unvollständige Grammatikalisierung auf ihre teilweise Bewahrung eigenen semantischen Gehalts als Bewegungsverben zurückzuführen (sog. semantic retention, Bybee, Perkins und Pagliuca 1994): Die lexikalischen Restriktionen zwischen andare und dem assoziierten Verb scheinen von der Tatsache abzuhängen, dass die prototypische Bedeutung von atelischer Bewegung weg vom Sprecher oder vom deiktischen Zentrum noch besteht. Die zwei Auxiliare sind nicht äquivalent und austauschbar: eines der unterscheidenden Merkmale betrifft die Tatsache, dass andare mit passivischem Wert keinen Ausdruck des Agens erlaubt, was mit venire jedoch möglich ist. Insgesamt kommt Giacalone Ramat (1998: 120) zum Schluss, dass die hier aufgezeigte Entwicklung der Auxiliare von Bewegungsverben her nicht die Annahme der Unidirektionalität in Frage stellt, sondern vielmehr die lange währende Ambiguität in den ersten Phasen der Grammatikalisierung widerspiegele - so referierten im Italienischen dieselben Verben über viele Jahrhunderte auf lexikalische oder grammatische Konzepte. Hieraus schließt sie weiter, dass die Grenze zwischen der lexikalischen und der grammatischen Domäne in solchen Bereichen schwer zu ziehen ist und hebt hervor, dass es wichtig ist zu sehen, dass grammatisches Material durch eine Reihe von Entwicklungen lexikalisch werden kann, welche nicht die anfänglichen Stadien der Grammatikalisierung widerspiegeln. In allen Fällen der von Giacalone Ramat diskutierten Gegenevidenz zur Unidirektionalität sieht sie idiosynkratischen Wandel. Es ist nicht möglich, eine Tendenz des Sprachwandels zu identifizieren, anders als bei unidirektionalen Wandelprozessen. Zu den beiden letzten Punkten nimmt Moreno Cabrera (1998) eine andere Position ein. Er stellt Grammatikalisierung und Lexikalisierung als komplementäre Prozesse dar, die semantisch charakterisiert werden können, wobei nur eine einzige konzeptuelle Hierarchie verwendet wird. Aus semantischer Sicht ist nach Moreno Cabrera Grammatikalisierung ein metaphorischer Prozess (kontra Waltereit 1999 und Detges 1999), während Lexikalisierung ein metonymischer Prozess ist. Dabei legt er die von Heine, Claudi und Hünnemeyer (1991: 157) für Grammatikalisierungsprozesse entwickelte Hierarchie der metaphorischen Abstraktion zugrunde (Moreno Cabrera 1998: 213): (17) Metaphorische Abstraktionshierarchie PERSON > OBJECT > PROCESS > SPACE > TIME > QUALITY Moreno Cabrera interpretiert diese Hierarchie dahingehend, dass lexikalische Elemente, die ihre Denotation im konzeptuellen Bereich PERSON haben, durch metaphorische Abstraktion eine neue Bedeutung in einer der Domänen rechts davon entwickeln könne. Entsprechendes gilt für die anderen konzeptuellen Domänen. Lexikalisierung ist nun nach Moreno Cabrera (1998: 212) der Prozess, mit dem lexikalische Elemente aus <?page no="34"?> 1 Einleitung 34 syntaktischen Einheiten kreiert werden. Die bekanntesten Fälle betreffen Idiome, d.h. syntaktische Konstruktionen, die ihre Kompositionalität verlieren und eine neue, idiosynkratische Bedeutung erhalten. Demnach handelt es sich um eine genaue Umkehrung des Grammatikalisierungsprozesses und sollte nach Moreno Cabrera auch die obengenannte Hierarchie im umgekehrten Weg durchlaufen. Eine entsprechende Lexikalisierungshierarchie wird vorgeschlagen, die (17) genau umdreht (vgl. Moreno Cabrera 1998: 216, (6)): (18) Lexikalisierungshierarchie QUALITY > TIME > SPACE > PROCESS > OBJECT > PERSON Als weitere Evidenz für Lexikalisierungsprozesse und für die Richtigkeit der Annahme dienen spanische Nomina mit der Endung -nte, ungarische Nomina mit der Endung -ó und baskische Nomina mit der Endung -ko. Als Beispiele für die Interaktion von Grammatikalisierung und Lexikalisierung sind die romanischen Präsenspartizipien mit der Endung -ent(e) interessant, die aus den lateinischen Partizipien mit der Endung -ens entstanden sind. Im Lateinischen wurden diese vielfach in adjektivischer Funktion (als Modifikatoren von Nomina) verwendet, z.B. Plato scribens est mortuus ‚Plato starb, während er schrieb‘ (vgl. Moreno Cabrera 1998: 218, (9)) und konnten so aus einer PROZESS-Bedeutung zu einer QUALITÄT-Beschreibung werden, was dem rechten Ende der Grammatikalisierungshierarchie in (17) entspricht. Jedoch macht Moreno Cabrera deutlich, dass dies nicht das Ende der Entwicklung ist: Schon im Lateinischen gab es die Tendenz, Präsenspartizipien als Nomina zu verwenden, die die Agenten der Aktionen, die vormals als Qualitäten gesehen, denotieren. Diese semantische Verschiebung von QUALITÄT zu PERSON ist ein Lexikalisierungsprozess und wird von der Hierarchie in (18) vorhergesagt. Die zu erwartende starke Tendenz zur Bildung von Nomina aus den Partizipien, die schon im Lateinischen erkennbar ist, sieht Moreno Cabrera (1998: 219) in den romanischen Sprachen bestätigt und belegt sie anhand des Spanischen, wo das Suffix -nte zur Bildung von Nomina und Adjektiven verwendet wird, wobei die meisten nur als Nomina verwendet werden können (dibujante, cantante, viajante, conferenciante, navegante, presidente, tripulante) und nur wenige (intermitente, calmante, amante) auch frei als Adjektiv. In letzteren erfolgt eine semantische Verschiebung QUALITÄT > OBJEKT und in ersteren eine QUALITÄT > PERSON- Verschiebung. Moreno Cabrera (1998: 224 f.) diskutiert die Bedeutung seiner Annahme für die Unidirektionalitätshypothese. Die von ihm aufgezeigte Tatsache, dass Grammatikalisierung und Lexikalisierung zwei komplementäre Aspekte eines einzigen Typs evolutionärer Dynamik für grammatische und lexikalische Elemente sind und derselben Hierarchie in umgekehrten Richtungen folgen, ist für die weithin angenommene Unidirektionalität des Grammatikalisierungsprozesses von großer Bedeutung. Anders als Ramat (1992) sowie Hopper und Traugott (1993) argumentiert Moreno Cabrera (1998: 224) jedoch dafür, den Grammatikalisierungsprozess als irreversibel zu betrachten, da die Grammatikalisierung von lexikalischen Elementen irreversibel sei. Jedoch sollte Direktionalität nicht nur im Hinblick auf Grammatikalisierung gesehen werden, sondern in Bezug auf die gesamte sprachliche Evolution, die an sich nicht unidirektional ist, son- <?page no="35"?> Theoretischer Hintergrund 35 dern bidirektional. Nur die Interaktion der beiden Prozesse Grammatikalisierung und Lexikalisierung produzieren nach Moreno Cabrera die beobachteten balancierten Resultate in der Sprachentwicklung. Van der Auwera (2001) stellt, an Ramat (1998) anknüpfend, weitere Überlegungen dazu an, wie sich Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung und Lexikalisierung zueinander verhalten, wobei er Degrammatikalisierung als Prozessumkehr zur Grammatikalisierung betrachtet, die nicht identisch ist mit Lexikalisierung (kontra Moreno Cabrera). Zunächst setzt sich van der Auwera (2001: 19) mit den Begriffen auseinander, die Lehmann (1982) verwendet, um Grammatikalisierung (a) von den Prozessen Renovation (b), Innovation (c), Verstärkung (d) und Degrammatikalisierung abzusetzen, und zeigt für die Prozesse (a)-(d) Beispiele, in denen das Lateinische und Italienische zueinander in einem Verhältnis stehen (vgl. van der Auwera 2001: 19, (1)): (19) a. grammaticalization: e.g. when Latin clara mente „with a clear mind“ turned into Italian chiaramente „in a clear way “ b. renovation: e.g. when Latin clare „in a clear way “ was replaced by Italian chiaramente „in a clear way “ c. innovation: e.g. when Italian developed the definite article, a category that Latin did not have d. reinforcement: e.g. when Latin added unus ‚one‘ to aliquis ‚someone‘ yielding *aliquiuni, the ancestor of Italian alcuno Van der Auwera weist in seinem kurzen Forschungsstand zur Grammatikalisierung darauf hin, dass laut den Vertretern der Theorie (vgl. Hopper und Traugott 1993, Heine und Reh 1984) die Grammatikalisierung u.a. die wichtige Eigenschaft aufweist, dass es „Divergenz“ bzw. „Split“ gibt, d.h. wenn ein lexikalisches Element grammatikalisiert, kann es auch als lexikalisches Element weiter existieren, wie van der Auwera am Beispiel von going to/ go veranschaulicht (van der Auwera 2001: 23, (6)): (20) going to -> ‚go’ [lexical] [lexical] future allows the contraction gonna [grammatical] Van der Auwera fragt nun, ob diese als „very natural outcome of the process of grammaticalization“ (Hopper und Traugott 1993. 117) bezeichnete Eigenschaft auch für die Degrammatikalisierung gelte. Er argumentiert dafür, dass Degrammatikalisierung, die bei Lehmann (1982) nicht konzipiert ist, da ja von Unidirektionalität ausgegangen wird, ein Typ von reinforcement ist. Er zeigt dies am Beispiel von englischen Ausdrücken, in denen die Fortsetzung einer Aktion entweder mit keep und Verlaufsform - ing oder mit keep on und Verlaufsform -ing ausgedrückt werden kann (vgl. van der Auwera 2001: 24, (8)): <?page no="36"?> 1 Einleitung 36 (21) a. Keep smiling. b. Keep on smiling. Hierbei gilt, so van der Auwera, dass die keep-Phrase die ältere ist, während keep on erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Gewicht gewann. Sie drückt mehr die Bedeutung „persevere, carry on“ aus (vgl. van der Auwera 2001, 24 (9)): (22) a. It is important to keep on. b. *It is important to keep. Van der Auwera argumentiert, dass - anders als von Lehmann (1982) dargestellt, der dieses Beispiel auch diskutiert - vor dem Hintergrund inzwischen geläufigen Annahme, dass Degrammatikalisierung existiert, gesehen werden muss, dass die keep on V-ing- Konstruktion länger ist als keep V-ing, erstere mehr Syntax involviert als letztere, ferner durch die Parallelität mit keep V-ing die paradigmatische Variabilität zunimmt und schließlich die Bedeutung von keep on lexikalischer ist als die von keep, so dass dies als Degrammatikalisierungsprozess zu verstehen ist. Ein ähnliches Beispiel ist nach van der Auwera (2001: 25) die spanische Konstruktion mit deber oder auch mit deber de, mit denen beiden Notwendigkeit ausgedrückt wird. Insgesamt schlägt van der Auwera (2001: 21 f.) die folgenden Definitionen für Grammatikalisierung (23), Degrammatikalisierung (24) und Lexikalisierung (25) vor, vgl. van der Auwera (2001: 21, (3)-(5)): (23) Grammaticalization is a. the making of a grammatical formative out of something other than a grammatical formative, or b. the making of a grammatical formative out of a grammatical formative with a weaker degree of grammatical function. (24) Degrammaticalization is a. the undoing of a grammatical formative into something other than a grammatical formative, or b. the undoing of a grammatical formative into a grammatical formative with a weaker degree of grammatical function (25) Lexicalization is the making of a lexical item out of something other than a lexical item. Van der Auwera (2001: Endn. 2) veranschaulicht (24) am englischen Kompositum songwriter, in dem zwar beide Bestandteile, song und writer, lexikalische Elemente sind, aber in der Kombination zusammen sind sie vor der Lexikalisierung beide nicht lexikalisiert. Als Fazit des Literaturüberblicks zur Grammatikalisierung können folgende Punkte festgehalten werden: Grammatikalisierung wird als ein semantischer Prozess angesehen, wobei unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der relevanten kognitiven Grundlage (Similarität, zu metaphorischer Abstraktion führend, oder Kontiguität, zur Metonymie führender Prozess) bestehen; das Gleiche gilt für den davon zu unterscheidenden Prozess der Reanalyse (mit dem Grammatikalisierung einhergehen kann, aber nicht <?page no="37"?> Theoretischer Hintergrund 37 muss). Es gibt auch Belege für den umgekehrten Weg, der ebenfalls semantisch motiviert ist (auch hier ist Kontiguität das zentrale kognitive Prinzip). Die Meinungen über das Verhältnis von Grammatikalisierung und Lexikalisierung sind unterschiedlich im Hinblick auf die Vorhersagbarkeit der Entwicklungsrichtung und die Widerspiegelung von Grammatikalisierungsschritten im Lexikalisierungsprozess, wobei letzterer nach van der Auwera nicht dasselbe wie eine Prozessumkehr (Degrammatikalisierung) ist. Ein Problem stellt die von van der Auwera explizit angesprochene Splitbzw. Divergenz-Eigenschaft des Grammatikalisierungsprozesses dar: Wenn grammatikalisierte Elemente gleichzeitig als lexikalische Elemente weiter existieren, ist die Grammatikalisierungstheorie schwer zu belegen bzw. entsprechend zu falsifizieren. 1.2.3.2 Sprachwandel im generativen Grammatikmodell Im Rahmen der generativen Grammatiktheorie wird eine Erklärung des syntaktischen Sprachwandels mit dem Prozess des Spracherwerbs (vgl. v.a. Lightfoot 1991, 1999) in Verbindung gebracht, wobei davon ausgegangen wird, dass sich die einmal parametrisierten Eigenschaften der erworbenen I-Sprache 13 im Erwachsenenalter nicht mehr verändern 14 . Die zentrale Frage lautet dann, wie es dazu kommen kann, dass Kinder im Spracherwerb andere parametrische Optionen erwerben als die der Grammatik der Elterngeneration. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Spracherwerbsforschung können Annahmen, wonach es im Spracherwerbsprozess Übertragungsfehler oder Tendenzen zur Reduktion von Komplexität geben könnte, ausgeschlossen werden. Demnach ist Sprachwandel in dieser Perspektive nur denkbar, wenn die Kinder auf einen veränderten Input treffen. Diese Veränderungen müssen nach Lightfoot (1999: 149) die spezifischen Strukturen bzw. strukturellen Indizien betreffen, die die sprachspezifische Parametrisierung bestimmen. Diese sind in einfachen syntaktischen Domänen zugänglich (vgl. Lightfoots Annahme der degree 0-learnability). Wenn sie im sprachlichen Input aufgrund von Veränderungen im Sprachgebrauch nicht mehr vorkommen, führt dies zu parametrischem Wandel. Da in dieser Sicht der Parameterwechsel beim Übergang von einer Generation zur nächsten stattfindet, wird ein abrupter Wandel angenommen (vgl. u.a. Roberts 2007). Gleichzeitig ist jedoch davon auszugehen, dass - mit Ausnahme von historischen Extremsituationen - eine gegenseitige Verständlichkeit zwischen Generationen gegeben ist. Daher muss die Untersuchung diachronischer syntaktischer Variation die Frage beantworten, ob es möglich ist, dass über einen bestimmten Zeitraum hinweg gegensätzliche Parametrisierungen koexistieren können. Historische Texte deuten auf eine positive Antwort auf diese Frage hin, da sie typischerweise Variation aufweisen. 13 Dieser Begriff von Chomsky (1986) bezeichnet die „interne, individuelle und intensionale Sprache“ im Gegensatz zur externalisierten E-Sprache. Nach Yang (2000) ist die E-Sprache der Generation n der Input für den Erwerbsprozess der Generation n+1. 14 Diese Annahme wird durch die jüngste Forschung zu sog. Herkunftssprechern inzwischen in Frage gestellt, in der gezeigt wird, dass z.B. monolingual aufgewachsene Sprecher des Spanischen im englischsprachigen Umfeld nach wenigen Jahren eine veränderte Syntax im Bereich der Nullsubjekte (deutlich mehr Realisierungen als bei Kontrollpersonen) in ihrem Spanischen aufweisen. Dieses Phänomen wird mit language attrition bezeichnet (vgl. u.a. Montrul 2004a). <?page no="38"?> 1 Einleitung 38 Es ist gleichzeitig davon auszugehen, dass das sprachliche Wissen der Sprecher früherer Epochen in der gleichen Weise organisiert war wie dasjenige der gegenwärtigen Sprecher. Nimmt man nun in der Perspektive der „traditionellen“ generativen Sichtweise an, dass innerhalb ein- und derselben Grammatik gegensätzliche Parametrisierungen ausgeschlossen sind, so müssen Vorschläge wie der von Kroch (1989), wonach die syntaktische Variation in historischen Texten ein Ausdruck zweier konkurrierender Grammatiken ist, wovon eine im Verlauf der historischen Entwicklung der Sprache obsolet wird, eher als Effekt der Verbreitung der neuen Grammatik denn als Sprachwandel im engeren Sinn (d.h. das Auftreten der neuen Spezifizierung) betrachtet werden (vgl. z.B. Rinke 2007: 33). Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn Roepers (1999) Idee des universalen Bilinguismus zugrundegelegt wird, wonach auch monolinguale Sprecher einer Sprache mehrere Grammatiken haben können, die sich u.a. in unterschiedlichen Sprachregistern äußern. Einen Schritt weiter geht Yang (2000), der ebenfalls die Idee konkurrierender Grammatiken verfolgt und ein Modell des Wettbewerbs von Grammatiken, die unterschiedliche Gewichtung erfahren, ausarbeitet, welches sowohl die Erwerbsschritte als auch Sprachwandeletappen erklären kann. In diesem Modell werden solche im Verlauf des Erwerbsprozesses gebildete Grammatiken, die eine erfolgreiche Analyse des Inputs erlauben, „belohnt“, während die anderen „bestraft“ werden. Je mehr Belohnung eine Grammatik erfährt, desto mehr setzt sie sich in beiden Prozessen durch, während die anderen Grammatiken sukzessive verworfen werden. Beide Vorschläge unterstützen die Auffassung von Kroch (1989) und eröffnen neue Perspektiven für die Erklärung von (syntaktischen) Sprachwandelprozessen. Es ist jedoch festzuhalten, dass es sich bei den Phänomenen der Passivierung und Unakkusativität nicht um ausschließlich syntaktische, sondern auch um semantische und lexikalische Phänomene handelt. Ferner gelten Passivkonstruktionen nicht als parametrisierter Bereich in der generativen Syntax, so dass, wenn überhaupt, eher graduelle Entwicklungen zu erwarten sind. 15 Eine alternative Möglichkeit ist die Annahme sehr kleiner, sog. Mikroparameter, wie von Kayne (2000) vorgeschlagen. Sie wird in Kapitel 6.1 für die beobachteten Wandelprozesse diskutiert. Im Folgenden wird ein Ansatz vorgestellt, der Wandel nicht primär in der Syntax sieht, sondern vom Lexikon ausgehend. Unter dieser Annahme sind graduelle Entwicklungen nicht problematisch. 15 Yang (2000) weist darauf hin, dass auch in solchen Bereichen, die als parametrisiert gelten, die Entwicklung im Spracherwerb eher graduell verläuft. Er argumentiert gegen die Auffassung, dass Parameter „on/ off“ geschaltet werden. Belege für eine graduelle Entwicklung im Bereich von (Nicht-) Nullsubjekten weisen auch Müller, Cantone, Kupisch und Schmitz (2002) sowie Schmitz (2007) bei einem monolingual deutschen Kind nach. Müller et al. (2002) argumentieren im Hinblick auf den bilingualen Spracherwerb vielmehr für das Verständnis von Parametern als Subroutinen der Universalgrammatik. Damit argumentiert Yang (2000) gegensätzlich zu Roberts (2007), der graduellen Wandel ausschließt, da sich immer diskrete Einheiten verändern. Er bezeichnet die Idee vom graduellen Wandel als Scheinphänomen, das durch eine langsame Abfolge diskreter, kleiner parametrischer Wandelprozesse ergibt. Jedoch bleibt unklar, ob Roberts (2007) das Konzept der Mikroparameter von Kayne (2000) mit einschließt oder nicht. Der Parameterbegriff ist hier von zentraler Bedeutung, vgl. auch Kapitel 6.1. <?page no="39"?> Theoretischer Hintergrund 39 Longobardi (2001) entwickelt eine neue diachrone Syntaxtheorie im Generativen Rahmen, die formale Syntax und etymologische Forschung, die meistens getrennt voneinander behandelt werden, in Zusammenhang bringt. Er nimmt an, dass die historisch-komparative Methode der Etymologie und die Ergebnisse von formaler syntaktischer Analyse (unter Anwendung der Prinzipien und Konzeption des Minimalistischen Programms) kombiniert zur erfolgreiche(re)n Rekonstruktion von syntaktischen Mustern führen könnten, wie er es am Beispiel der Entwicklung der heutigen französischen Präposition chez aus dem lateinischen CASA(M) illustriert. In diesem - in der Literatur umfangreich behandelten 16 - Fall haben vier diachronische Veränderungen stattgefunden: der lexikalische Verlust eines, wenn auch selten, im Altfranzösischen belegten Allomorphs, eine irreguläre phonologische Entwicklung, ein Kategoriewechsel und eine semantische Verschiebung, wie Longobardi (2001: 276, (5)) zeigt: (26) a. Lexical = CASA(M)/ CHIESE > Ø b. Phonological = CASA(M)/ *CAS > chies > chez c. Categorial = N > P d. Semantic = ‘home’ > ‘generalized and abstract location' Longobardi (2001) zeigt im Verlauf seiner Arbeit, dass der Kategoriewechsel in (26c) auf eine veränderte Merkmalszusammensetzung im Lexikon zurückgeführt werden kann. Der phonologische und der semantische Wandel werden im Vergleich mit den Äquivalenten in anderen romanischen Sprachen erklärt, wobei für den semantischen Wandel die Parallele zum Konstruktstatus in komplexen nominalen Strukturen in semitischen Sprachen aufgezeigt wird. Auf die Details der Analyse von chez kann hier nicht eingegangen werden, vielmehr werden im Folgenden die wichtigen theoretischen Grundannahmen vorgestellt. Kernstück von Longobardis (2001) Theorie ist eine sehr restriktive Theorie über grammatischen Wandel, die Inertial Theory, wonach Syntax „träge“ ist für Wandelprozesse. Syntaktischer Wandel wird nicht als eigenständig ausgelöster Prozess betrachtet, sondern als eine Folge von Veränderungen in der Phonologie und der Semantik, die möglicherweise durch Druck von den Schnittstellen oder sogar von grammatikexternen (veränderten) Eigenschaften zustande kommen. Die ideale restriktive Theorie von Sprachwandel, so Longobardi (2001: 277), sollte eigentlich behaupten, dass diachronischer Wandel gar nicht existiert (unter Bezug auf Lightfoot 1999), da seine Existenz zu einem Dilemma führt: Entweder muss angenommen werden, dass dann zumindest einige als Primitiva postulierte Wandelprozesse unmotiviert sind, was mit einer idealen Theorie nicht kompatibel ist, oder das Verständnis des synchronischen Zustands vor dem Wandel ist gar nicht möglich. Aus diesen epistemischen Gründen heraus könnte nach Longobardi die Nullhypothese sein, dass Sprache diachron inert (träge) ist, solange bis Gegenevidenz vorliegt. Konkreter sieht er die Idee, dass Sprache eine bestimmte Tendenz dazu aufweist, relativ träge über die Zeit zu bleiben (oder für Wandel in einer begrenzten und regulären Weise), implizit in vielen Erklärungsansätzen 16 Vgl. die Literaturangaben in Longobardi (2001). <?page no="40"?> 1 Einleitung 40 in der historischen Linguistik angenommen. Longobardi (2001: 277) nennt dieses prätheoretische Konzept inertia. Dieses Konzept will er in technischer und empirisch präziserer Hinsicht ausbauen, wobei er die Inertial Theory als Arbeitshypothese annimmt, um zumindest eine realistische, aber dennoch stark restriktive und wünschenswerte Theorie von Sprachwandel zu erreichen - in empirischer Hinsicht wird die am meisten syntaktische Veränderung, d.h. kategoriale Reanalyse in (26c), als ein theoretisch verwirrendes Phänomen betrachtet und gelöst. Syntaktischer Wandel wird in Anlehnung an Borer (1984) und Chomsky (1995) von Longobardi (2001: 278) als ein Wandel in den formalen (nicht-phonetischen und nicht-semantischen) Merkmalen der Elemente im Lexikon, inklusive aller Werte der für die jeweilige Sprache gesetzten Parameterwerte, die in zahlreichen Einträgen kodiert sind, verstanden. Die semantischen und phonologischen Matrizen lexikalischer Elemente sind hingegen nach Longobardi nicht in ähnlicher Weise restringiert, wobei er hier jedoch nicht unbeschränkt oder mangelhaft beschränkt meint: der Wandel von phonologischen Merkmalen ist nach Longobardi (2001: 278, Fn. 4) sicher eine Version der schon von den Neogrammatikern aufgestellten Ausnahmslosigkeitshypothese, und Veränderungen der sowohl phonologischen als auch semantischen Merkmale könnten durch eine Theorie der Markiertheit beschränkt sein. Auf der Basis dieser Annahmen schlägt Longobardi (2001: 278) vor, dass der eigentliche sprachliche Wandel (unter Abstraktion von Interferenzen) nur als Schnittstellenphänomen im Sinne des Minimalistischen Programms entsteht, d.h. syntaktischer Wandel sollte nicht auftreten, außer wenn gezeigt werden kann, dass er eine gut motivierte Konsequenz von anderen Wandelprozessen (phonologische und semantische Veränderungen, inklusive des Auftauchens oder Verschwindens von ganzen lexikalischen Elementen), oder rekursiv von anderen syntaktischen Veränderungen ist, wobei für diese Ideen die Voraussetzung einer plausiblen Theorie der Universalgrammatik und des Spracherwerbs gilt. Syntaktischer Wandel (d.h. kategoriale Reanalyse und Parameter-Umsetzung) würde nur als eine vollständig vorhersagbare Reaktion durch einen deterministischen Kern des language acquisition device (LAD) stattfinden, wenn entweder veränderte primäre Daten vorliegen oder wenn ein Wandel in einer „oberflächlicheren“ Komponente der Grammatik geschehen ist. Hiermit schließt Longobardi (2001: 278) Annahmen explizit aus, wonach etwas wie „imperfektes“ Lernen oder „spontane“ Innovation in der Syntax existieren könnte. Zu weiteren, empirisch testbaren Konsequenzen gehört nach Longobardi daher auch, dass die Inertial Theory Syntax als eine der diachronisch konservativsten Domänen betrachtet und somit für historische Langzeit-Erklärungen geeignet ist. Longobardi (2001: 278 f.), der durchaus die Möglichkeit sieht, dass seine Theorie empirisch falsch oder nur teilweise korrekt sein könnte, betont, dass diese Theorie uns zwingt, für alle syntaktischen Veränderungen Erklärungen zu suchen und zu versuchen, unmotivierte, primitive Wandelprozesse auf das nicht eliminierbare Minimum zurückzuführen, und wo immer möglich, keine ad hoc-Erklärungen für die Residuen zu finden. Um den Wert dieser Theorie zu testen, ist es also notwendig, möglichst solche Fälle von syntaktischem Wandel, die scheinbar Gegenevidenz für das obige restriktive Schema bilden, auf unabhängige Wandelprozesse in der Phonologie bzw. der lexikalischen Semantik der involvierten Sprachen zurückzuführen, die diese syntaktischen Veränderungen ausgelöst haben. <?page no="41"?> Datenbasis 41 Diese Konzeption hat zwei Vorteile, die auch aus Sicht der Spracherwerbstheorie wichtig sind: 1. Es muss kein Parameter umgesetzt werden, 2. graduelle Veränderungen sind durch den eigentlichen Ursprung der Veränderung im Lexikon plausibel. Aus diesem Grund wird die von Longobardi entwickelte Theorie in dieser Arbeit zugrundegelegt, während das Konzept der Grammatikalisierung als problematisch erscheint, wenngleich die neueren Ansätze, die auch die Umkehrung des Grammatikalisierungsprozesses (Degrammatikalisierung) und Lexikalisierung konzipieren. Vielmehr soll in dieser Arbeit gezeigt werden, wie mit Hilfe der in Abschnitt 1.2.2 vorgestellten Generativen Lexikontheorie von Pustejovsky (1995) sowie der Arbeit zu unakkusativen Verben von Pustejovsky und Busa (1994) (vgl. Kapitel 2.3) Bedeutungswandel sowie syntaktisch relevante Änderungen auch anders erklärt werden können, wobei ersterer in Kapitel 5.3 auch nachgewiesen wird. Sie liefert damit einen Beitrag zu dem von Longobardi skizzierten Forschungsprogramm, das neben den vorgestellten restriktiven Annahmen und Theoriebestandteilen auch eine Theorie des Lexikons benötigt, mit deren Hilfe semantischer Wandel (von Merkmalszusammensetzungen lexikalischer Elemente) modelliert werden kann. 1.3 Datenbasis Die Untersuchung beruht auf gesprochenen und geschriebenen Daten der heutigen Standardvarietäten der drei untersuchten Sprachen sowie auf schriftlichen historischen Daten. Für die gesprochenen Daten der heutigen Standardvarietäten, die in Kapitel 3 den bisher vorliegenden Analysen der Verwendung von Passiv in aktueller geschriebener Sprache gegenübergestellt werden, stehen spontansprachliche Interviews aus zwei Forschungsprojekten bereit, die in Kapitel 3.4 genauer vorgestellt werden Da ein Großteil dieser Daten jedoch von romanischen Muttersprachlern stammen, die schon lange Zeit in Deutschland leben und daher als Herkunftssprecher der ersten Generation betrachtet werden können, können diese Daten nicht als repräsentativ betrachtet werden. Ein Vergleich mit Kontrollsprechern aus dem Ursprungsland ist sehr wünschenswert, kann derzeit jedoch nur für das Spanische (in kleinem Umfang) geleistet werden. Die Analyse der spanischen gesprochenen Daten steht daher im Vordergrund der Analyse gesprochener Sprache. Insgesamt kann die Analyse der gesprochenen Sprache aber aufgrund der insgesamt geringen Datenmenge nur als ein Eindruck, keinesfalls aber als repräsentativ angesehen werden. Als heutige Texte werden allgemein historiographische Texte verwendet, die inhaltlich gut zu den mittelalterlichen Chroniken passen (und von den Autoren teilweise sogar selbst als Chronik bezeichnet werden, vgl. Kapitel 5), die für die Analyse historischer Daten verwendet werden, wie im Folgenden genauer erläutert wird. Im Hinblick auf die Auswahl historischer Texte sind folgende Vorüberlegungen wichtig: Es sollte sich um sachliche Prosatexte (z.B. Chroniken, Urkunden, Briefe), sonst aber um literarische Prosatexte handeln. Poetische Texte haben den Nachteil, dass durch die Bindung an Reim und Versmaß syntaktische Einheiten aufgebrochen und <?page no="42"?> 1 Einleitung 42 Wortstellungsmuster verändert worden sein können, was für die Analyse die Gefahr mit sich bringt, falsche Schlüsse auf die damalige Syntax zu ziehen (vgl. Rinke 2007: 16 f. für Über-legungen zur Auswahl historischer portugiesischer Texte). Für den Untersuchungszeitraum werden die entscheidenden Momente der spanischen Sprachgeschichte zugrunde gelegt, wobei die auf der internen Sprachgeschichte basierende Periodisierung in drei Phasen (vgl. z.B. Bollée und Neumann-Holzschuh 2003) gewählt wurde: sie beginnt mit der altspanischen Epoche von 1200-1450, die durch eine relative Stabilität der Strukturen der durch die alfonsinischen Reformen gebildeten Schriftsprache geprägt war. Darauf folgt die mittelspanische Epoche (1450-1650), in der sich phonologische und morphosyntaktische Parameter deutlich merkbar geändert haben, und schließlich von 1650 an die Epoche des neuen oder modernen Spanischen. 17 Für den Vergleich des Spanischen mit dem Italienischen und Französischen muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Epocheneinteilungen nicht ganz genau zusammenpassen (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.2). Für die Analyse von Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben sind von den drei genannten geeigneten Textsorten insbesondere Chroniken geeignet, da sie einen besonders hohen narrativen Teil aufweisen, noch stärker z.B. als in juristischen Texten. Ricós (1995: 54) führt zum Korpus ihrer diachronen Studie zur Passiventwicklung im Spanischen, in der verschiedene juristische Dokumente sowie literarische Texte vom 11. bis 15. Jahrhundert ausgewertet werden, aus, dass sich die juristischen Dokumente hinsichtlich des Stils und narrativen Anteils unterscheiden: So sind insbesondere Prozess-Transkriptionen, in denen die Sprache der am Dialog beteiligten Personen direkt aufgenommen wurde, am nächsten an der gesprochenen Sprache, gefolgt von Urkunden mit Ausstellung von Sonderrechten (fueros), die wiederum weniger formalisiert sind als etwa notarielle Urkunden, die (zunehmend) in einem formellen juristischen Kanzlei-Stil verfasst wurden, in dem der kolloquiale narrative Teil sich auf den zu beschreibenden Vorgang (Beschreibung des Verkaufs/ der Schenkung und des Verkaufs- / Schenkungsobjekts) beschränkt. Ricós (1995) verwendet aus diesem Grund einen Mix verschiedener juristischer Dokumente (sog. fueros und notarielle Urkunden) sowie literarischer Texte, in beiden Kategorien aus verschiedenen Jahrhunderten und spanischen Regionen, wobei letzteres zur Überprüfung dienen soll, ob es diatopische Variation in der Verwendung und Entwicklung der passivischen Formen gibt. Sie kommt zum Schluss, dass eine solche Variation nicht existiert. Diese Studie wird in Kapitel 4.3 vorgestellt und zum Vergleich mit den Analyseergebnissen aus der hier herangezogenen spanischen Chronik, der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Estoria de Espanna, herangezogen. Im Italienischen werden zum Vergleich die Annales Pisani (12. Jahrhundert) von Bernardo Maragone analysiert. Für das Französische wird die Edition der altfranzösischen Chronik La Conqueste de Costentinoble von Josfroi de Vileharduyn (13. Jh.) im Mittelpunkt der Analyse stehen. Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie ist ein Vergleich der ersten Epoche mit dem heutigen Sprachstand. Zusätzlich werden 17 Bollée und Neumann-Holzschuh (2003: 9, Fußnote 3) weisen darauf hin, dass das „Mittelspanische“ mit dem Mittelfranzösischen vergleichbar ist, jedoch zeitlich später liegt, denn das Mittelfranzösische umfasst nach Meinung der meisten Autoren das 14. und 15. Jahrhundert. <?page no="43"?> Datenbasis 43 für das Spanische - hier umfangreicher als für die anderen beiden romanischen Sprachen - Daten aus dem 16. Jahrhundert bzw. Daten des Französischen und Italienischen aus den passenden Epochen ausgewertet, um mögliche zwischenzeitliche Entwicklungen in der Verwendung und Analyse passivischer Konstruktionen und unakkusativer Verben aufzudecken. Eine genauere Beschreibung aller ausgewählten Dokumente, d.h. historiographische Schriften (Chroniken, Annalen, andere allgemein verständliche historische Werke) erfolgt in Kapitel 5. <?page no="44"?> 2 Unakkusativität Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Forschung zum Phänomen der Unakkusativität darzustellen, das insbesondere seit Perlmutters (1978) Arbeit intensiv untersucht wurde und wird, wobei im ersten Schritt die grundlegenden Definitionen und präminimalistische Forschungsarbeiten vorgestellt werden (Kapitel 2.1). Im nächsten Unterkapitel werden die im Rahmen des minimalistischen Programms entstandenen Arbeiten diskutiert, die u.a. zentrale Annahmen hinsichtlich der verbalen Kategorien VP und νP machen (Kapitel 2.2). Danach werden die Arbeiten, die im Rahmen der Generativen Lexikontheorie entstanden sind und sich spezifisch mit unakkusativen Verben beschäftigen, behandelt (Kapitel 2.3). Obwohl dieses Kapitel die Unakkusativität untersucht, wird deutlich werden, dass alle Ansätze auch eine Verbindung zum Passiv, Gegenstand von Kapitel 3, herstellen. 2.1 Definition des Phänomens und frühe Forschung Der in der Sprachtypologie übliche Begriff der Ergativität bezeichnet das Phänomen, dass sogenannte Ergativsprachen wie das Baskische in transitiven Konstruktionen einen nicht-nominativischen Kasus, den Ergativ, für den in anderen Sprachen (z.B. im Deutschen und in den romanischen Sprachen) üblichen Nominativ des Subjekts verwenden. Das „Subjekt“ (Agens) transitiver Verben erscheint im Ergativ und das Objekt dieser Verben steht im Absolutiv (vgl. u.a. Müller 2000, Clancy Clements 2001). Einen Akkusativ gibt es in diesen Sprachen nicht. Bei intransitiven Verben steht das „Subjekt“ im Absolutiv, wird also mit demselben Kasus versehen wie das Objekt einer transitiven Konstruktion. In den Ergativsprachen wird demnach das „Subjekt“ transitiver Verben anders behandelt als das intransitiver Verben. Clancy Clements (2001: 271) veranschaulicht die zentralen Unterschiede zwischen den Systemen in Nominativ-Akkusativ-Sprachen und Ergativ-Absolutiv-Sprachen in der folgenden Tabelle: Nominative Marking Accusative Marking Ergative Marking Absolutive Marking Transitive Clause subject direct object subject direct object Intransitive Clause subject Subject Tabelle 2.1: Vergleich von Nominativ-Akkusativ- und Ergativ-Absolutiv- Systemen (Clancy Clements 2001: 271) Jedoch ist das vorgenannte Phänomen nicht auf die Ergativsprachen beschränkt: Seit Perlmutter (1978) ist bekannt, dass Akkusativsysteme ebenfalls ergative Eigenschaften aufweisen, die sich auch in den romanischen Sprachen nachweisen lassen. Perlmutters (1978) im Rahmen der Relationalen Grammatik formulierte Arbeit führte zur Unakku- <?page no="45"?> Definition des Phänomens und frühe Forschung 45 sativitätshypothese, wonach es zwei Klassen intransitiver Verben gibt, die jeweils mit einer unterschiedlichen zugrundeliegenden syntaktischen Konfiguration assoziiert sind. Dieses Phänomen wurde auch unter dem Namen „split intransitivity“ bekannt. Als ursächlich für diese unterschiedlichen syntaktischen Konfigurationen werden die lexikosemantischen Eigenschaften der von den Verben beschriebenen Ereignisse und die (nicht-)agentivischen Eigenschaften der am Ereignis beteiligten Partizipanten angenommen. 18 So lässt sich etwa im Französischen auf syntaktischer Ebene, d.h. auf der Ebene der grammatischen Funktionen „Subjekt“ und „Objekt“, der Zusammenhang zwischen Sätzen wie Charlotte a cuit le poulet und Le poulet cuit als ergativ bezeichnen (vgl. Müller 2000: 43). Hier wird das Objekt der transitiven Konstruktion zum Subjekt der intransitiven bzw. das Subjekt der intransitiven Konstruktion wird zum Objekt einer entsprechenden transitiven Konstruktion, in die als Agens ein neues ergatives Subjekt eingeführt wird. Burzio (1981, 1986) hat die intransitiven Verben im Italienischen eingehend untersucht und gezeigt, dass es sich bei der Klasse der traditionell als intransitiv bezeichneten Verben nicht um eine homogene Klasse handelt. Er unterscheidet zwischen intransitiven ergativen und intransitiven unergativen Verben, die neben den transitiven Verben bestehen, mithin also die folgenden drei Verbgruppen: transitive Verben wie fr. construire/ it. costruire (zweistellige Prädikate) intransitive unergative Verben wie fr. dormir/ it. dormire (einstellige Prädikate) intransitive ergative Verben wie fr. arriver/ it. arrivare (einstellige Prädikate, auch als unakkusativ bezeichnet) Müller (2000: 43 f.) veranschaulicht die relevanten Partien der Struktur der drei Gruppen wie folgt 19 , wobei die Strukturen hier die in der generativen Grammatik generell angenommene Auffassung reflektieren, wonach das Subjekt als externes Argument auf der Ebene der Argumentstruktur außerhalb des Verb-Objekt-Komplexes syntaktisch abgebildet wird, weil Verben nicht für Subjekte subkategorisiert sind und Subjekte von allgemeinen grammatischen Eigenschaften gefordert werden. Hieraus ergeben sich die folgenden VP-Strukturen in Abbildung (1) und (2) für transitive und unergative intransitive Verben. (1) Transitive Verben (vgl. Müller 2000: 43, Abb. 1) VP 3 Spec V’ | 2 Jean V NP | | construit une maison 18 Inwieweit die Unterscheidung rein semantisch motiviert oder aber auch syntaktisch ist, ist umstritten. Hierauf wird weiter unten genauer eingegangen. 19 Funktionale Kategorien wurden der Einfachheit halber nicht mit dargestellt; es handelt sich um die generative Grammatiktheorie des Prinzipien- und Parametermodells. <?page no="46"?> 2 Unakkusativität 46 (2) Unergative Verben (Müller 2000: 43, Abb .2) VP 3 Spec V’ | | Jean V | dort Bei den ergativen Verben geht man davon aus, dass das einzige Argument auf einer zugrundeliegenden Strukturebene ein direktes Objekt (also ein direktes internes Argument) ist, welches in der kanonischen Objektposition generiert und später in die Subjektposition verschoben wird (vgl. Abbildung (3) und (4)). (3) Ergative Verben: zugrundeliegende Struktur (Müller 2000: 44, Abb. 3) VP 3 Spec V’ 2 V NP | | arrivent trois filles (4) Ergative Verben: Oberflächenstruktur VP 3 Spec V’ | 2 Trois V NP filles i | | arrivent ec i (ec = empty category, vgl. weiter unten) Die Subjekte von ergativen Verben sind also abgeleitete Subjekte und damit vergleichbar mit den Subjekten in Passivsätzen, die ebenfalls zugrundeliegende Objekte darstellen. Müller (2000: 44) zeigt die für die vorliegende Arbeit zentrale Parallele an folgenden Aktiv-Passiv-Satzpaaren genau auf (Müller 2000: 44, (1)): (5) a. Un ami a réparé les tables. b. Les tables ont été réparées (par un ami) c. Un amico ha riparato i tavoli d. I tavoli sono stati riparati (da un amico) <?page no="47"?> Definition des Phänomens und frühe Forschung 47 In diesen Satzpaaren vergibt das Verb réparer bzw. riparare in der Aktivkonstruktion die thematische Rolle THEMA an das interne Argument (les tables/ i tavoli), während die Thetarolle AGENS an das externe Argument (un ami/ un amico) vergeben wird. In den Passivsätzen geschieht nun Folgendes: Das Argument mit der Thetarolle THEMA wird als Subjekt realisiert (es kongruiert mit dem finiten Verb) und das externe Argument der Aktivkonstruktion mit der Thetarolle AGENS wird nicht mehr als NP realisiert - es wird fakultativ und kann als Präpositionalphrase erscheinen, was impliziert, dass es weiterhin mitverstanden und damit auf einer logisch-semantischen Ebene auch vorhanden ist (also nicht getilgt wird). Diejenige Position (SpecVP), die im Fall der Aktivkonstruktion die externe Thetarolle erhält, bleibt in der Passivkonstruktion auf einer zugrundeliegenden Strukturebene leer. Diese leere Position wird in der folgenden Abbildung (sowie oben in (4)) mit „ec“ (empty category) angegeben (vgl. Müller 2000: 45): (6) Passivkonstruktion: zugrundeliegende Struktur (Müller 2000: 45, Abb. 5) VP 3 Spec V’ | 2 ec V NP | | ont été réparées les tables Während im Französischen die lineare Abfolge der Elemente in der Struktur (6) noch nicht der eigentlichen Abfolge entspricht (*a été construite une maison), ist dies im Italienischen bereits der Fall (è stata costruita una casa). In beiden Sprachen ist es aber möglich, das interne Argument der zugrundeliegenden Struktur in die Position vor das finite Verb zu verschieben, wo es wie ein „richtiges Subjekt“ mit dem Verb kongruiert (La maison a été construite rapidement/ La casa è stata costruita velocemente, Müller 2000: 45). Diese Verschiebung des direkten Objekts wird nach Müller (2000: 45) damit erklärt, dass ein Verb mit Passivmorphologie die Fähigkeit verliert, (strukturellen) Kasus, d.h. Akkusativ, an sein Komplement zuzuweisen. Außerdem wird die externe Thetarolle (AGENS) suspendiert. Burzio (1986: 184) hat die Abhängigkeitsbeziehung zwischen diesen beiden Phänomenen wie folgt formuliert: Ein Verb, das keine externe Thetarolle vergibt, weist seinem Komplement keinen (strukturellen) Kasus zu und umgekehrt, ein Verb, das keinen (strukturellen) Kasus (Akkusativ) an sein Komplement zuweisen kann, lässt die externe Argumentposition theta-unmarkiert. Diese Formulierung wurde als Burzios Generalisierung bekannt und in der weiteren Diskussion auch kritisiert (vgl. hierzu Kapitel 2.2.1). Demnach erhält die Komplement-NP im Passivsatz zwar eine Thetarolle, aber keinen Kasus (direkt vom Verb). Um diesen erhalten zu können, muss die NP in eine Position verschoben werden, in der dies möglich ist. Konstruktionen mit ergativen Verben teilen mit Passivkonstruktionen die Eigenschaft, dass ihr „Subjekt“ eigentlich ein verschobenes direktes Objekt darstellt. Ein wichtiger Unterschied ist hingegen, dass im Gegensatz zum Passiv, bei dem die Rückstufung der AGENS-Thetarolle und die Unfähigkeit der Kasuszuweisung an das Komplement eine <?page no="48"?> 2 Unakkusativität 48 über die Passivmorphologie derivierte Eigenschaft ist (vgl. hierzu Kapitel 3.1), ergative Verben aufgrund einer inhärenten lexikalischen Eigenschaft keinen Kasus an ihr Komplement zuweisen und auch keine externe thematische Rolle vergeben können. Aufgrund dieser Eigenschaft werden diese Verben auch häufig (wie in der vorliegenden Arbeit) als unakkusativ bezeichnet: Sie können ihrem Komplement keinen Akkusativkasus zuweisen, und das Komplement muss entsprechend in eine Position (die Subjektposition) verschoben werden, in der es strukturellen Kasus erhalten kann. Diese von Müller (2000) vorgestellte, im präminimalistischen generativen Grammatikmodell übliche Ansicht legt nahe, dass die unakkusativen/ ergativen Verben eine lexikalische Variante dessen sind, was das Passiv syntaktisch ausmacht. Welche Aussagen das minimalistische Modell hierzu macht, wird in Kapitel 2.2.2 erläutert. Im folgenden Abschnitt des Forschungsüberblicks werden zunächst einige der (überwiegend syntaktischen) Tests vorgestellt, die in den romanischen Sprachen Evidenz für die Annahme einer heterogenen Gruppe intransitiver Verben erbracht haben. Aufgrund der Tatsache, dass Burzio (1981, 1986) grundlegende Forschung am Beispiel des Italienischen durchgeführt hat, sind auch grammatische Eigenschaften des Italienischen für seine Unakkusativitätstests bestimmend und hierdurch sehr bekannt geworden, insbesondere die ne-Klitisierung (auch möglich mit dem frz. Klitikon en) und die Auxiliarselektion: 1. Im Italienischen und Französischen besteht die Möglichkeit, das quantifizierte Objekt oder Teile davon mit dem Klitikum ne/ en zu pronominalisieren; diese Möglichkeit besteht auch bei „Subjekten“ intransitiver Verben, allerdings nur von unakkusativen Verben, was ihren derivierten Charakter anzeigt, wie an den folgenden italienischen Beispielen deutlich wird (Müller 2000: 45 f. (2)) 20 : (7) a. Mangio tre mele. b. Ne i mangio tre ec i . c. Tre uomini dormono. d. *Ne i dormono tre ec i / *Tre ec i ne i dormono. 2. Bei der Auxiliarselektion lässt sich ebenfalls ein grundlegender Unterschied erkennen: Im Französischen und Italienischen selegieren transitive Verben für die Bildung der zusammengesetzten Zeiten avoir/ avere, die unergativen Verben ebenfalls, während die ergativen Verben être/ essere selegieren, wie die folgenden italienischen Beispiele zeigen (vgl. Müller 2000: 46 (4)): (8) a. Gianni ha comprato una macchina. b. Gianni ha telefonato. c. Gianni è arrivato. 20 Vgl. aber die Daten von Lonzi (1985), wonach die ne-Klitisierung im Italienischen auch nur in einfachen Tempora möglich ist (unzulässig in zusammengesetzten) und die darauf folgende kritische Darstellung dieses Tests in Levin und Rappaport Hovav (1995: 275). <?page no="49"?> Definition des Phänomens und frühe Forschung 49 Hier muss die Darstellung von Müller (2000) relativiert werden, denn so schematisch funktioniert die Auxiliarselektion nicht 21 . Ganz offensichtlich kommt es auf die jeweilige zu testende Verbgruppe an: So selegieren etwa die italienischen Bewegungs-verben teilweise avere (Gianni ha corso meglio ieri), teilweise essere (Gianni è corso a casa), in Abhängigkeit davon, ob die vom Verb geschilderte Handlung als zielgerichtet oder nicht interpretiert wird. Die italienischen Witterungsverben selegieren systematisch avere und essere in Abhängigkeit von der Interpretation (vgl. Benincà und Cinque 1992, Schmitz 1997, 2004). Im Hinblick auf das Französische lässt sich feststellen, dass überhaupt nur ein Bruchteil der unakkusativen Verben être selegiert (einige der Bewegungsverben wie arriver, venir; vgl. Ruwet 1987). Die Auxiliarselektion kann daher im Italienischen nur bedingt, im Französischen gar nicht als Unakkusativitätstest verwendet werden 22 . Weitere sehr häufig verwendete Tests sind: die absoluten Partizipialkonstruktionen 23 und adjektivisches Partizip (vgl. Perlmutter 1978, Belletti 1982a, Cinque 1990, Müller 2000), die nur mit transitiven und intransitiven ergativen Verben möglich sind. - Passivierung: Ergative Verben sind - anders als unergative - nicht passivierbar (vgl. Fanselow 1992). 24 - Kognate Objekte: Unergative Verben lassen eine Besetzung der Objektposition durch ein deriviertes Nomen zu (z.B. Il vit une vie de chien, vgl. Müller 2000: 47), ergative Verben nicht (*Il arrive une arrivée inattendue, vgl. Müller 2000: 47). - Nominalisierung mit den Suffixen -eur/ -tore: Auch bei einigen morphologischen Prozessen verhalten sich ergative und unergative Verben unterschiedlich: die Nominalisierung mit -eur/ -tore ist nur mit unergativen Verben möglich, nicht mit ergativen: dormeur, dormitore vs. *arriveur, *arrivatore (vgl. Keyser und Roeper 1984, Müller 2000: 47). Diese kleine Auswahl von Unakkusativitätstests 25 , die überwiegend syntaktischer Natur sind, zeigt bereits, dass einige davon nicht unproblematisch sind. Im Spanischen, das im Aktiv nur ein einziges Auxiliar, nämlich haber, aufweist und überdies nicht über ein en/ ne entsprechendes Klitikon verfügt, können zwei der bekanntesten Tests gar nicht angewendet werden. 21 Vgl. u.a. Centineo (1986). 22 Außerdem konnte Sorace (2004) zeigen, dass bei einigen Verben mehr, bei anderen weniger Variation bezüglich der Auxiliarselektion in den muttersprachlichen Urteilen bestand. Vgl. die Ausführungen weiter unten. 23 Vgl. auch Kapitel 3.2.4 zu den absoluten Konstruktionen. 24 Hierbei ist das sogenannte „unpersönliche Passiv“ gemeint: Il a été beaucoup téléphoné pendant les dernières deux heures (in den letzten zwei Stunden wurde viel telefoniert) vs. *Il a été arrivé (*es wurde angekommen); die gleichen Verhältnisse gelten auch für das Italienische: E’ stato telefonato molto durante le ultime due ore vs. *E’ stato arrivato. Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 25 Vgl. für einen Überblick über Unakkusativität in den romanischen Sprachen Müller (2000) und generell sowie sehr aktuell Alexiadou, Anagnostopoulou und Everaert (2004) und die darin zitierte Literatur; eine kritische Diskussion der Anwendbarkeit einiger Tests wird in Schmitz (1997) vorgenommen. <?page no="50"?> 2 Unakkusativität 50 Dafür wurden andere entwickelt, z.B. die Distribution von determinantenlosen Plural- NPen, die nur bei transitiven und intransitiven ergativen Verben möglich ist: Han leído libros. Han pasado camiones vs. *Han dormido animales (vgl. Montrul 2004: 244 f.). Insgesamt ist festzustellen, dass nicht alle der von Burzio verwendeten bzw. in der Literatur vorgestellten Tests sich auf andere Sprachen anwenden lassen bzw. dort nicht zwingend zu den gleichen Ergebnissen führen, was eine Ursache der sogenannten unaccusative mismatches ist. Eine weitere Ursache ist der Umstand, dass nicht alle Tests innerhalb einer Sprache zum selben Ergebnis führen. Eine Reihe von Arbeiten gibt entweder einen (ersten) Überblick über die Präsenz des Phänomens in den hier relevanten romanischen Sprachen oder untersucht bestimmte, semantisch als homogen erscheinende Verbgruppen näher daraufhin, ob sie hinsichtlich der Klassifikation unergativ/ unakkusativ syntaktisch ebenfalls homogen ist. Während Burzio (1981, 1986) - wie bereits erwähnt - grundlegend zur Bekanntheit des Phänomens und zu seiner Implementierung im generativen Grammatikmodell beigetragen hat, untersuchte Belletti (1988) die Möglichkeit, ob unakkusative Verben Partitivkasus erhalten. Zum Französischen haben grundlegend Zribi-Hertz (1982), Zubizarreta (1985), Legendre (1989) und Legendre und Sorace (2003) gearbeitet, wobei letztere eine Modellierung im Rahmen der Optimalitätstheorie unternehmen. Grundlegende Arbeit zum Phänomen der Unakkusativität im Spanischen hat Torrego (1989) geleistet. Im Hinblick auf bestimmte Verbgruppen sind folgende Arbeiten zu nennen: Die italienischen psychologische Verben haben Belletti und Rizzi (1988) mit dem Ergebnis untersucht, dass es drei Klassen, nämlich die temere-Klasse, die preoccupare-Klasse und piacere-Klasse, gibt, von denen die beiden letzteren ergative Charakteristika aufweisen. Labelle (1992) hat französische Verben untersucht, die einen Zustandswechsel ausdrücken, und diese als unergativ analysiert. Vergleichsweise viele Studien entfallen auf die Witterungsverben im Französischen und Italienischen: Zum Französischen hat Ruwet (1985, 1986, 1987, 1988) mit dem Ergebnis gearbeitet, dass diese Verben alle unakkusativ sind, während Schmitz (1997, 2004) anhand von zusätzlichen (syntaktischen, morphologischen und semantischen) Tests feststellt, dass die Gruppe nicht homogen ist und gerade nur diejenigen Witterungsverben des Französischen und Italienischen, die einen Zustandswechsel ausdrücken, unakkusativ sind (kontra Labelle). Benincà und Cinque (1992) analysieren die italienischen Witterungsverben als Bewegungsverben, wobei sich hier in Abhängigkeit von der Interpretation der Bewegung hinsichtlich ihrer Zielgerichtetheit auch Unterschiede im syntaktischen, also (un)ergativen Verhalten ergeben. Weiter oben wurde bereits angedeutet, dass die Auslöser für die Unterschiede zwischen den beiden Verbgruppen (ergative vs. nicht ergative Verben) nicht einheitlich als semantisch betrachtet werden. Nach Van Valin (1990) und Dowty (1991) ist die Aufteilung in die beiden Klassen rein semantisch motiviert und diese Motivation ihrerseits reduzierbar auf die Notionen der Agentivität und Telizität. Letztere leitet sich vom griechischen Wort telos (Ziel, Grenze) ab und bezeichnet die Eigenschaft eines Ereignisses, <?page no="51"?> Definition des Phänomens und frühe Forschung 51 einen inhärenten Endpunkt zu haben 26 . Atelisch sind entsprechend Ereignisse ohne einen solchen Endpunkt. Unergative Verben sind typischerweise agentivisch und bezeichnen einen atelischen Prozess, während unakkusative Verben nicht-agentivisch und telisch sind, wobei sie eine Änderung irgendeiner Art beschreiben. Andere Autoren hingegen, wie z.B. Rosen (1984) und Burzio (1986), betrachten die Distinktion zwischen den beiden Verbgruppen als überwiegend syntaktisch. Rosen (1984) begründet ihre Auffassung mit der Existenz der unaccusative mismatches, andere Autoren damit, dass Bedeutung nicht die Klassenmitgliedschaft vorhersagen könne, da es keine einzige semantische Eigenschaft gebe, die alle unakkusativen Verben aufgrund der Tests in unterschiedlichen Sprachen teilen. Nach Levin und Rappaport Hovav (1995) ist Unakkusativität semantisch determiniert, aber syntaktisch repräsentiert. Diese Autorinnen erarbeiten ein Modell, mit dem sie die Projektion von Argumenten auf syntaktische Positionen (unakkusative vs. unergative Strukturen) über feste linking rules (Verbindungsregeln) vorhersagen. Diese Regeln sind sensitiv für semantische Notionen wie Zustandswechsel, unmittelbare Ursache etc. So ein Modell lässt sich als „projektionistischer“ Ansatz charakterisieren (vgl. Sorace 2004: 245 f.), dem „konstruktionistische“ Ansätze gegenüberstehen (z.B. Borer 1994, 1998 und van Hout 1996, 2000). Diese Ansätze haben nach Sorace (2004: 249) zwei Haupteigenschaften: 1. Unakkusativität und Unergativität werden als eine Eigenschaft von Prädikaten verstanden, die sich auf der Satzebene auswirken (statt eine lexikalische Eigenschaft des Verbs zu sein) 2. Es gibt eine engere und unmittelbarere Verbindung zwischen der aspektuellen Interpretation und der syntaktischen Konfiguration von unergativen und unakkusativen Prädikaten: spezifische aspektuelle Lesarten werden durch das Erscheinen von Verbargumenten in bestimmten syntaktischen Konfigurationen determiniert. So sind in Borers Modell lexikalische Einträge „bar“, d.h. nur ungeordnete Listen von Argumenten. Die (lexikalische) „Kern“-Bedeutung von Verben dient nur als Modifikator und nicht als Determinierer von strukturellen Eigenschaften. Unakkusativität und Unergativität sind hier Konstellationen von Phänomenen, die von der Fähigkeit des Verbs abgeleitet werden, in bestimmten syntaktischen Konfigurationen aufzutreten, die ihrerseits aspektuelle Interpretationen bestimmen 27 . In diesem Modell ist auch nicht vorher festgelegt, ob ein Argument intern oder extern ist - jedes Verb ist frei, in mehr als einer syntaktischen Konfiguration aufzutreten und, konsequenterweise, multiple aspektuelle Interpretationen zu erhalten. Damit wird - nicht unproblematisch für den 26 Tenny (1997) bezeichnet diese Eigenschaft als delimitedness (Delimitiertheit), während die meisten Autoren von telicity (Telizität) sprechen. Für die Ermittlung dieser Eigenschaft gibt es ebenfalls Tests (mithin semantische Unakkusativitätstests), wie z.B. der sogenannte in an hour/ for an hour-Test: Wenn ein Ereignis innerhalb einer Stunde (in an hour) bzw. anderen Zeiteinheit vollständig erfolgt ist, ist das dieses Ereignis beschreibende Verb telisch und damit unakkusativ. 27 Eine telische Interpretation wird von der Präsenz eines Arguments in der Spezifikatorposition einer funktionalen Kategorie namens AspE abgeleitet, eine Aktivitätslesart hingegen von dem Auftreten des Verbs in der Spezifikatorposition von AspP. <?page no="52"?> 2 Unakkusativität 52 Spracherwerb - Optionalität in das System eingebaut: die Klassifikation unakkusativunergativ intransitiver Verben ist inhärent instabil. Der Vorteil der Flexibilität in der syntaktischen Realisation wird laut Sorace (2004: 250) mit dem Preis massiver Übergeneralisierung erkauft. Das Modell von van Hout (1996, 2000) ist etwas restriktiver, indem Telizität überprüft wird, welche vom unakkusativen Verb inkorporiert ist und als interpretierbares Merkmal in die syntaktische Berechnung eingeführt und dort in AgrOP gecheckt wird, wodurch die Bewegung des Objekts nach AgrO ausgelöst wird. Sorace (2004) fordert beide Ansatztypen heraus, indem sie auf eine Reihe von zu erklärenden Fakten hinweist: (a) sprachübergreifend weisen nur einige Verben ein inkonsistentes unakkusativ-unergatives Verhalten auf; (b) innerhalb einer Sprache, sind einige Verben invariabel unakkusativ-unergativ, unabhängig vom Kontext, während andere Variation zeigen. Vor allem weisen von ihr durchgeführte Experimente mit Muttersprachler-Urteilen über die Auxiliarselektion in zahlreichen Sprachen (Niederländisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und die italienische Varietät von Padua, vgl. auch Sorace 2000) deutliche Variation auf: die muttersprachlichen Intuitionen über Auxiliare sind kategorisch und konsistent für bestimmte Verbtypen, aber viel weniger bestimmt für andere. Um diese systematischen Unterschiede innerhalb syntaktischer Klassen von unakkusativen und unergativen Verben zu erfassen, schlägt Sorace (2004: 255 f.) eine Hierarchie vor, in der einwertige „Kern“-Verben von progressiv „peripheren“ Verben unterschieden werden. Diese Hierarchie baut auf grundlegenden semantischen Kategorien auf (vgl. Sorace 2004: 256, (9)): (9) The Auxiliary Selection Hierarchy CHANGE OF LOCATION selects BE (least variation) CHANGE OF STATE CONTINUATION of A PRE-EXISTING STATE EXISTENCE OF STATE UNCONTROLLED PROCESS CONTROLLED PROCESS (MOTIONAL) CONTROLLED PROCESS (NON-MOTIONAL) selects HAVE (least variation) Die Verben an den Extremen der Hierarchie (sogenannte “Kern”-Verben) drücken einen Ortswechsel am SEIN-Ende bzw. einen nicht auf Bewegung gerichtetes Vorgangsverb am HABEN-Ende aus. Sie werden nach Sorace (2004: 256) durch folgende Eigenschaften charakterisiert: sprachübergreifendes kategorisches und konsistentes syntaktisches Verhalten konsistentes Verhalten innerhalb einzelner Sprachen; keine Sensitivität für kompositionelle Eigenschaften des Prädikats - Determiniertheit von Muttersprachler-Intuitionen - Vorrang im Spracherwerb - Diachronische Stabilität Sorace spricht sich mit dieser Hierarchie gegen deterministische, starre Zuordnungen („projektionistische“ Modelle), aber auch für eine semantisch basierte Konzeption (tendenziell gegen „konstruktionistische“ Modelle) aus. Vor allem aber macht sie deutlich, <?page no="53"?> Definition des Phänomens und frühe Forschung 53 dass die Distinktion unakkusativ/ unergativ zwar ein universales Phänomen, aber nicht - wie von Burzio (1981, 1986) suggeriert - rein strukturell ist, denn dann wäre zu erwarten, dass sich alle unakkusativen Verben und alle unergativen untereinander ähnlich verhalten, was bei der Auxiliarselektion offensichtlich nicht zutrifft (und auch durch die vorgenannten, in der Literatur dokumentierten unaccusative mismatches generell widerlegt ist). Soraces Hierarchie wurde in einer Reihe von Arbeiten aufgegriffen, wovon hier kurz zwei zu erwähnen sind, in denen die romanischen Sprachen eine Rolle spielen. Bentley und Eythórsson (2003) legen eine synchrone und diachrone Studie vor, in der sie zahlreiche Standard- und regionale Varietäten (z.B. kanadisches Französisch, Katalanisch, Italienisch, Sizilianisch, Varietäten aus den Abruzzen, den Marken und dem Latium sowie Altitalienisch), in denen es mehr als ein Auxiliar gibt, im Hinblick auf die Auxiliarselektion und Partizipangleichung im Zusammenhang mit den semantischen Eigenschaften der Unakkusativität untersuchen und die jeweilige Zusammenstellung betrachten. Dabei legen sie die Auxiliarselektionshierarchie von Sorace (2000) zugrunde und analysieren die Perfektauxiliare als morphosyntaktische Marker von Tempus und Aspekt, die nach einer für die Semantik der Prädikate sensitiven Regel realisiert werden. Eine deterministische Korrespondenz zwischen dem Auxiliar haben und einem externen Argument wird verneint. Montrul (2004b) beruft sich ebenfalls auf die Auxiliarselektionshierarchie von Sorace (2000), wobei ihr Ziel ist zu zeigen, dass die syntaktische Distinktion von Zweitspracherwerbern des Spanischen mit Englisch als Muttersprache verarbeitet und erworben werden kann. Die mit Hilfe eines visuellen Online-Erkennungstests durchgeführte Studie zeigt, dass L2-Lerner den Unterschied zwischen den Verbgruppen (hier über das Auftreten von bestimmten Wörtern in komplexen Nominalphrasen modelliert, die bei unakkusativen Verben Spuren hinterlassen) wahrnahmen und konsistent antworteten. Ferner findet Montrul Evidenz dafür, dass semantische Eigenschaften, wie Sorace sie angibt, auch eine Rolle gespielt haben: Bei den unakkusativen „Kern-Verben“ waren die Reaktionszeiten der Probanden (sowohl die Zweitspracherwerber als auch die Kontrollgruppe der Muttersprachler) kürzer als bei unergativen „Kern-Verben“, während bei den peripheren Verben keine deutlichen Unterschiede zu erkennen waren bzw. bei nur leicht periphereren Verben sogar ein umgekehrtes Muster entstand. Montrul (2004b: 261) diskutiert dies genauer, deutet diese Ergebnisse aber insgesamt als Bestätigung für die Hierarchie von Sorace. Weitere psycholinguistische Evidenz für die Unterscheidung von unergativen und unakkusativen Verben zeigt die Studie von Friedmann et al. (2008). Mit Hilfe der Technik des cross-modal lexical priming, mit dem die Reaktivierung eines Antezedens an ausgewählten Stellen im Satz online getestet werden kann 28 , weisen die Autoren 28 Hierbei werden Sätze akustisch in normaler Sprechgeschwindigkeit präsentiert und an bestimmten Stellen während jedes Satzes wird eine Buchstabenfolge (existierendes oder künstliches Wort) kurz visuell eingeblendet. Die Probanden werden gebeten, den akustisch präsentierten Satz aufmerksam anzuhören und eine lexikalische Entscheidung (existierendes/ künstliches Wort) über die Buchstabenfolge mittels Drucks auf einen Knopf zu treffen. Der Priming-Effekt dieser lexikalischen <?page no="54"?> 2 Unakkusativität 54 anhand ausgewählter englischer Verben nach, dass bei den einwertigen unakkusativen Verben (d.h. nicht zwischen einer transitiven und einer intransitiven Verwendung alternierenden unakkusativen Verben, z.B. arrive) das Subjekt nach dem Verb noch einmal reaktiviert wird, während dies bei den getesteten unergativen Verben nicht geschieht. Die getesteten alternierenden unakkusativen Verben (z.B. break) wiesen ein gemischtes Verhalten auf, d.h. nur bei einigen konnte die Reaktivierung beobachtet werden. Bei den Probanden handelt es sich um monolingual englischsprachige Erwachsene. Ohne auf die weiteren Details der Studie einzugehen, wird deutlich, dass die Unakkusativitätshypothese und eine lexikalische Unterscheidung zwischen verschiedenen Verben durch diese Studie deutliche psycholinguistische Unterstützung erfährt. 2.2 Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung In diesem Unterkapitel wird die weitere Diskussion, die im Rahmen des Minimalistischen Programms erfolgte, dargestellt. Einerseits geht es um die Kritik an der von Burzio hergestellten Verbindung von Kasus- und Thetarollenzuweisung (Kapitel 2.2.1), andererseits um die modernere Konzeption der verbalen Kategorien für die Abbildung von Unakkusativität und Passiv (häufig beides in Verbindung miteinander, vgl. Kapitel 2.2.2). 2.2.1 Burzios Generalisierung und Kritik daran Burzios Generalisierung (ab hier BG) behauptet, dass ein Verb, das seinem Subjekt keine externe Thetarolle zuweist, einem Objekt keinen strukturellen Akkusativkasus zuweist und umgekehrt. Formal wird dies so dargestellt: -ACC struct <-> -T ext (vgl. Reuland 2000: 1). Damit verbindet BG sprachübergreifende Ähnlichkeiten u.a. zwischen Passiven, ohne Berücksichtigung ihrer morphosyntaktischen Auslöser, und unakkusativen Verben. Dabei werden sehr unterschiedliche Eigenschaften von Prädikaten, d.h. ob sie eine besondere thematische Rolle und ob sie strukturellen Kasus zuweisen, miteinander verbunden. Diese Verbindung ist in den letzten Jahren zunehmend kritisiert worden. Eine Reihe von Arbeiten ist im Sammelband von Reuland (2000) vereint. Er enthält neben Reulands Einleitung sieben Beiträge von Alec Marantz, Hubert Haider, Teun Hoekstra, Anoop Mahajan, Itziar Laka, Werner Abraham und Luigi Burzio. Alle Beiträge stimmen darin überein, dass Entscheidung an der Position der Spur der NP-Bewegung bedeutet, dass die bewegte Konstituente an ihrer Spur reaktiviert wird und als Reiz für das semantisch assoziierte visuell dargebotene Zielwort funktioniert. Es erfolgt eine Messung und ein Vergleich von Reaktionszeiten bezüglich der unterschiedlichen Verben in den Testsätzen. Auf Details dieser Technik kann an dieser Stelle nicht eingangen werden, vgl. Friedmann et al. (2008: 358 f.). Die gleiche Technik wurde von Osterhout und Swinney (1993) auf Passivsätze angewandt, wobei die Autoren ebenfalls eine Reaktivierung der bewegten NP an der Stelle ihrer Spur feststellen konnten, jedoch zu einem zeitlich verzögerten Moment. <?page no="55"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 55 1. Burzios Generalisierung zwei Bereiche (Kasus und Argumentstruktur) verbindet, was konzeptuell nicht zwingend und aus verschiedenen Gründen nicht überzeugend ist (theoretisch und empirisch). Es besteht keine direkte Relation dieser beiden Bereiche. 2. die Generalisierung ein Epiphänomen beschreibt, das auf andere, grundlegendere sprachliche Eigenschaften zurückzuführen ist. Die Beiträge unterscheiden sich dahingehend, welche sprachlichen Phänomene als die entscheidenden, grundlegenden Eigenschaften angesehen werden. Ein Großteil der Analysen beschäftigt sich mit Kasus, genauer mit den strukturellen Relationen, in denen Subjekte und ihre morphologischen Marker stehen können (Verfügbarkeit von Akkusativkasus wird als direkter Reflex dieser Relationen angesehen) der Relation zwischen Kasus und Agreement (als jeweils eigenständige Lizensierungsrelationen betrachtet) dem Verhältnis von strukturellem und inhärentem Kasus Bereits diese Schwerpunktsetzung deutet an, dass die Mehrheit sich aus syntaktischer Sicht kritisch mit BG auseinandersetzt. Dies wird noch deutlicher, wenn man die den in Reulands Band versammelten Arbeiten vorausgehenden Forschungsansätze miteinbezieht, die v.a. für syntaktische Gemeinsamkeiten von Unakkusativität und Passiv von Interesse sind. Reuland stellt überblicksartig die bis dato gängigen Annahmen in der Forschung zur Kasuszuweisung vor und skizziert wichtige Probleme: In der präminimalistischen generativen Theorie wurde angenommen, dass NP-Bewegung durch Kasus ausgelöst wird, wenn Zuweisung des strukturellen Kasus in der Ursprungsposition unmöglich ist. Das Problem sei hier die ungelöste Frage: was triggert die Dethematisierung des Ziels? Die neuere minimalistische Syntaxtheorie postuliert, dass NP-Bewegung nicht durch Kasus, sondern durch das Extended Projection Principle (EPP) ausgelöst wird. Das Problem hierbei ist, dass viel von der Evidenz für (abstrakten) Kasus dann neu betrachtet werden muss. Innerhalb der neuen Theorie ist die neueste Ausrichtung anzunehmen, dass der Effekt des EPP im Hinblick auf die Konditionen für die Zuweisung von Nominativkasus dahin geht: „if nominative is available it must be used“. Die Grundidee ist hier, dass die zwei strukturellen Kasus, die beide von Elementen des verbalen Agreement- Systems zugewiesen/ gecheckt werden, hiermit verbunden werden. C T ist der Kasus, den T checkt, C v der von V überprüfte. Sprachen variieren dahingehend, wie dieses Kasussystem funktioniert. Eines der Elemente im Kasuspaar ist aktiver als das andere und wird zuerst zugewiesen. In Nominativ/ Akkusativsprachen ist der aktive Kasus C T , während in Ergativsprachen C v dies ist. Ökonomie schreibt einen Kasus pro Argument vor, was bedeutet, dass, wenn in einer NOM/ AKK-Sprache nur ein Argument vorhanden ist, diesem C T zuzuweisen ist, was einer Richtung von BG entspricht: -T ext -> -A struct . Wenn es zwei Argumente gibt, nachdem C T zugewiesen wurde, erhält das verbleibende Argument C v . Im Hinblick auf die andere Richtung von BG (-A struct -> -T ext ) wird festgehalten, dass bei einem zweistelligen Prädikat die Notion „-A“ impliziert, dass der Struktur ein Kasus fehlt und dann nicht wohlgeformt ist, sofern nicht ein <?page no="56"?> 2 Unakkusativität 56 Argument unrealisiert bleiben darf. Daher muss ein Prozess, der eine der thematischen Rollen absorbiert, angewandt werden, sofern verfügbar. BG resultiert in dieser Perspektive aus einem Parameter, der ausdrückt, dass der erste Kasus, der in einer Nominativ/ Akkusativ-Sprache unterdrückt wird, Akkusativ ist, in Verbindung mit der generellen Verfügbarkeit von unabhängigen Prozessen, die eine Thetarollen-Absorption bewirken. Ein Problem hierbei ist, dass dies weiterhin offenlässt, ob es eine „kausale“ Relation zwischen „checking accusative“ und „assigning an external theta-role“ gibt: Wenn manche Morpheme Akkusativkasus absorbieren, stellt sich die Frage, ob dies allein reicht, die externe Thetarolle zu unterdrücken oder ob man eher sagen würde, dass die Thetarollen des Prädikats verschmolzen werden, und damit ein Argument als Ergebnis ausreicht. Reuland führt weiter aus, welche Gegenevidenz besteht, wobei er hier auch das Passiv explizit anspricht: Weder ein Ansatz auf Basis des EPP noch einer auf Basis von „nominative first“ implizieren, dass Akkusativ per se in Passiven und unakkusativen Verben abwesend ist. Wenn irgendwie NP-Bewegung zur strukturellen Subjektposition blockiert ist, kann das EPP durch ein Expletivum in dieser Position erfüllt werden und die „nominative first“-Bedingung ist sehr wohl kompatibel mit der Überprüfung des Kasus in der VP (C V ) durch das (einzige) Argument als „last resort“ (wenn die Position für Überprüfung des strukturellen Kasus in der TP (C T ) nicht verfügbar ist). Für diese Möglichkeit gibt es u.a. Evidenz aus Sprachen mit morphologischem Kasus wie dem Russischen, wo Verben unpersönlich mit einem akkusativischen Objekt verwendet werden können. BG wird auch in existentiellen Konstruktionen im Deutschen verletzt und in Middle Dutch sind akkusativische Subjekte in Passivkonstruktionen und unakkusativen Konstruktionen zu beobachten. Während soeben einige syntaktische Probleme mit der von Burzio (1986) eingeführten Generalisierung und Charakterisierung von Unakkusativität aufgeführt wurden, wobei bereits einige minimalistische Syntaxkonzeptionen einflossen, werden im nächsten Abschnitt weitere und neuere Auffassungen des Phänomens Unakkusativität und ihrer syntaktischen Modellierung vorgestellt. Im Unterkapitel 2.3 wird hingegen eine rein semantische Perspektive aufgenommen und die Konzeption von Unakkusativität als Ergebnis von Komposition im Generativen Lexikon vorgestellt. Auch hier werden Annahmen zum Verhältnis von Passiv und Unakkusativität gemacht. 2.2.2 Aktuelle Forschung zum Phänomen der Ergativität/ Unakkusativität In diesem Abschnitt werden Ansätze im Rahmen des Minimalistischen Programms dargestellt, in denen das einzige Argument stets in der VP generiert und dann in den funktionalen Bereich verschoben wird, wobei die in 2.1. behandelte ursprüngliche Unterscheidung zwischen der Generation in der eigentlichen Subjektposition und derjenigen in der Objektposition mit anschließendem Auftreten als Oberflächen-Subjekt nicht mehr besteht, für die es jedoch, wie in Sektion 2.1 dargestellt, psycholinguistische Evidenz gibt. Nunmehr wird der strukturelle Unterschied zwischen Subjekten unergativer und Subjekten unakkusativer Verben durch Asymmetrien bei semifunktionalen Köpfen (z.B. ν, Voice bei Kratzer 1994, Chomsky 1995) abgeleitet. Alexiadou, <?page no="57"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 57 Anagnostopoulou und Everaert (2004: 14) illustrieren die Vorgehensweise in diesem „light-v“-Rahmen, in dem das Subjekt eines unergativen Verbs durch einen semifunktionalen Kopf v eingeführt wird, während das unakkusative Argument zum lexikalischen Verb gehört, mit den folgenden Strukturen (vgl. Alexiadou et al. (2004: 14, (32)): (10) a. unakkusative Struktur b. unergative Struktur vP vP | 2 v’ NP v’ 2 2 v VP v VP 2 | V NP V Die Strukturen in (10) eröffnen, so Alexiadou et al. (2004: 14), den Weg für eine Syntax, die lexikalische Dekomposition direkt reflektiert (vgl. Dowty 1979, Marantz 1993, Kratzer 1994, von Stechow 1995). Detaillierter wird dieser Ansatz in Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) vertreten, während Embick (1998, 2004) explizit und Frigeni (2004) implizit eine Analyse im Rahmen der Distributed Morphology vertreten (was im Hinblick auf das von Embick, aber auch von Alexiadou und Anagnostopoulou untersuchte Moderne Griechische mit seiner nicht-aktivischen Morphologie auch plausibel ist). Die Theorie der Distributed Morphology (vgl. Halle und Marantz 1993, 1994, Embick und Noyer 2004) ist hingegen nicht mit einer lexikalischen Dekomposition vereinbar (vgl. Embick und Noyer 2004: 296) und fokussiert generell die Schnittstelle Syntax/ Morphologie, während semantische Aspekte in den Hintergrund treten. Die im Folgenden vorgestellten Ansätze dieser Autoren stimmen jedoch darin überein, dass sie die Repräsentationen für unergative und unakkusative Verben mit der für transitive Verben im Aktiv und Passiv teilweise auch zusätzlich mit antikausativen Strukturen oder medialen Verben verbinden. Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) zeigen eine gemeinsame Eigenschaft von Antikausativen, Passiven und Reflexiven am Beispiel des Griechischen auf, denen in vielen Sprachen eine detransitivierende Morphologie (in Form von Pronomina, Klitika oder Verbalmorphologie) entspricht, die das Fehlen des externen Arguments reflektiert. Die Autorinnen nehmen den Vorschlag von Chomsky (1995) und von Kratzer (1994) auf, wonach eine funktionale Kategorie Voice (oder Event-Phrase oder little v-Phrase) die transitive bzw. intransitive und die eventive bzw. stative Natur des Prädikats kodiert, wobei v das externe Argument einführt. Dieses v ist in transitiven und unakkusativen Konstruktionen nach neuerer Auffassung stets präsent (vgl. Alexiadou und Anagnostopoulou (2004: 118) und die darin zitierte Literatur) und kann folgende Eigenschaften haben: (11) a. v ist der Ort von Agentivität, d.h. von Merkmalen, die für die Lizensierung und Interpretation externer Argumente relevant sind. b. v hat Kasusmerkmale für das Objekt (BG folgt aus a. und b.). <?page no="58"?> 2 Unakkusativität 58 c. v trägt Merkmale der Eventivität. d. v hat Merkmale, die sich auf die Lizensierung einer Komponente der Art und Weise beziehen (Adverbien). e. v tritt in Form von zwei Typen auf: einem, der ein externes Argument einführt, und einem, der dies nicht tut. 29 In diesem Ansatz werden die Unterschiede zwischen transitiven, passivischen, reflexiven und unakkusativen Strukturen auf die Merkmalsspezifikation von v und auf die Präsenz bzw. Absenz eines externen Arguments zurückgeführt. Sie verbinden also die Unakkusativität nicht mit der Präsenz bzw. Absenz von Voice (kontra Embick), sondern assoziieren die detransitivierende Morphologie des Griechischen v.a. mit der kausativantikausativen Alternation und bieten drei Strukturen für die Muster der griechischen diathetischen Morphologie an, um die Distribution korrekt zu erfassen. Hierbei arbeiten sie auf Basis eines Operators, der das Ergebnis bezeichnet und den die Autorinnen BECOME/ RESULT nennen. Er ist zentral für die Bildung von Antikausativen und ähnlich den Konzeptionen von BECOME von Dowty (1979) und Van Valin (1990) definiert (aber nicht identisch konzipiert). Eine weitere zentrale Annahme ist, dass der vorgenannte Operator v[BECOME/ RESULT], also ein v-Typ, der keinen Spezifikator projiziert, mit allen diskutierten Mustern verbunden ist, während die Voice-Morphologie nicht mit diesem Operator, sondern mit einem eigenen Voice-Kopf assoziiert ist, der Agentivitäts- und Modalitäts-Merkmale trägt. Hieraus ergibt sich dann, dass die detransitivierende Morphologie niemals mit dem „Spezifikatorlosen“ v[BECOME/ RESULT], sondern mit dem eingebetteten Voice verbunden wird. In die Bildung von unakkusativen Verben sind, auf Basis eines intransitiven v mit dem Inhalt BECOME/ RESULT, die folgenden drei Konfigurationen involviert, in denen entweder eine Adjektivphrase (12a), eine Voice-Phrase (12b) oder eine possessive Konstruktion (12c) eingebettet wird (vgl. Alexiadou und Anagnostopoulou 2004: 121, (10)): (12) a. vP b. vP 2 2 v AP RESULT VoiceP BECOME 2 | Voice’ 2 Voice VP 29 Hierzu merken die Autorinnen an, dass derjenige v-Typ, der das externe Argument einführt, einen Spezifikator projiziert. <?page no="59"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 59 (12) c. vP 2 BECOME XP 2 the shirt 2 HAVE a wrinkle In den Strukturen in (12) ist zu erkennen, dass BECOME entweder eine AP oder eine possessive Konstruktion selegiert, sich also mit einem Zustand verbindet, der dadurch entsteht (wie von Dowty (1979) vorgeschlagen). RESULT selegiert hingegen eine VP, verbindet sich also mit einem Ereignis und bewirkt dessen Ziel/ resultierenden Zustand (wie von Kratzer (2000) vorgeschlagen). Diese Analyse berücksichtigt semantische Merkmale, indem der v-Kopf auch für die ereignisbezogenen Lesarten spezifiziert ist. Ein Vorteil der gesonderten Umsetzung der detransitivierenden Morphologie des Griechischen durch die Voice-Phrase ist, dass diese in einer Analyse anderer Sprachen, die nicht über eine solche Morphologie verfügen, wie insbesondere die romanischen Sprachen, nicht projiziert werden muss. Embick (2004) untersucht die syntaktischen Strukturen und syntaktisch-semantischen Merkmale, die in der unakkusativen Syntax eine Rolle spielen, wobei ihm wiederum das moderne Griechisch als Illustrationssprache dient. Mit „unakkusativer Syntax“ bezeichnet Embick (2004: 138) aus struktureller Perspektive diejenigen Fälle, in denen ein externes Argument nicht projiziert wird, wodurch „unakkusative Syntax“ sowohl bei den unakkusativen Verben (übliche Bedeutung) als auch in Passivkonstruktionen vorkommt, die ja durch das Fehlen des externen Arguments syntaktisch intransitiv, wenngleich agentivisch 30 sind. Nach Embick (2004: 138) gibt es einen gemeinsamen Faktor, der diese Kontexte verbindet, nämlich die Abwesenheit des externen Arguments, der dazu führt, dass sprachübergreifende gemeinsame Synkretismen, also Fälle identischer morphologischer Realisierungen in distinkten syntaktisch-semantischen Kontexten, existieren. Diese Synkretismen, in denen disparate syntaktische Konstruktionen „dieselbe“ oder ähnliche Morphologie zeigen, sind nach Embick entscheidend für das Verständnis der Art und Weise, in der Syntax und Morphologie miteinander und mit anderen Teilen der Grammatik interagieren. Embicks Erklärungsansatz basiert - wie weiter oben bereits erwähnt - auf dem Rahmen der Distributed Morphology und nimmt daher an, dass die Syntax Terminalsymbole manipuliert, die abstrakte Merkmalsbündel enthalten, zumindest bei den funktionalen Kategorien, deren phonologische Realisierung erst im Prozess der Vokabelinsertion in der morphologischen Komponente zwischen Spell-out und PF stattfindet. Diese morphophonologischen Objekte (z.B. das englische Plural-Element / -z/ ) können im Hinblick auf den morphosyntaktischen Kontext, in dem sie auftreten, unterspezifiziert sein. Die Elemente der offenen Vokabelkategorien werden als „Wurzeln“ (√ROOT) bezeichnet und sind kategorieneutral. Die nicht vorhersagbaren Informationen lexikalischer Natur (z.B. auch Information über Kollokationen) werden als einzelne Wurzeln gespeichert: √DOG). In Embicks Modell 30 Embick drückt hiermit implizit aus, dass das externe Argument auf semantischer Ebene noch vorhanden ist. <?page no="60"?> 2 Unakkusativität 60 gibt es eine weitere Grammatikkomponente namens Enzyklopädie, in der spezielle Bedeutungen von Idiomen, light verb-Konstruktionen etc. aufgelistet werden. Embick (2004: 140 f.) gibt nun folgende Strukturen für transitive, passivierte und unakkusative Verb-Strukturen (υP) in diesem Rahmen an: (13) Transitive Struktur nach Embick (2004: 140, (2)) υP 3 DP υ 3 υ √P │ AG √DP Case In dieser Implementierung eines transitiven Verbs ist [AG] ein semantisches Merkmal, das die von Kratzer vorgeschlagenen Eigenschaften aufweist, auf die weiter unten im Zusammenhang mit dem Passiv eingegangen wird. Der υ-Kopf 31 hat interpretierbare (und uninterpretierbare) Merkmale. Für Passivkonstruktionen nimmt Embick (2004: 140) die Struktur der υP in (14) an, in der - wie bei den transitiven Strukturen - υ ebenfalls das [AG]-Merkmal trägt, das für die agentivische Interpretation des Passivs verantwortlich ist, wenngleich das externe Argument und das Kasusmerkmal abwesend sind: (14) Passivische Struktur nach Embick (2004: 140, (3)) υP 3 υ √P │ [AG] √DP Für das Passiv äußert Embick (2004: 140, Fußn. 4) die Idee, dass das Agens-Argument, das vom Merkmal [AG] an υ lizensiert wird, nicht erscheint. Kratzer schlägt für AG folgende Semantik vor: AG* = λxλe,[Agent(x) (e)]. Für unakkusative Strukturen sieht Embick (2004: 140) eine weitgehende Parallele zum Passiv, wobei der zentrale Unterschied in der Abwesenheit des Merkmals [AG] liegt, sodass keine agentivische Interpretation zustande kommt. Bevor die unakkusative Syntax vorgestellt wird, ist die Verbindung zu sehen, die Embick zu reflexiven Strukturen zieht, die für die romanischen SE-Klitikkonstruktionen relevant ist. Reflexive, so Embick, unterscheiden sich nur in der genauen Art, wie sie unakkusative Syntax umsetzen. Ein in zahlreichen miteinander unverbundenen Sprachen auftretendes Muster 31 Embick (2004: 140) nimmt das υ aus Chomsky (2000) an (anders als die oben dargestellten Ansätze, weshalb dort ein neutrales kleines v verwendet wurde. Zur Struktur (13) sei angemerkt, dass Embick keine Zwischenebene υ’ verwendet, was hier originalgetreu wiedergegeben ist. Zu √P wird nichts erklärt - es ist anzunehmen, dass Embick hier das generalisierte Prädikat als Wurzel einsetzt. <?page no="61"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 61 involviert das Erscheinen von identischen morphologischen Markierungen an den intransitiven Mitgliedern transitiver Alternationen, bestimmten Reflexivtypen und Passiven. Auf der Basis der Arbeiten zu romanischen SE-Konstruktionen von u.a. Kayne (1988), Pesetsky (1995) und McGinnis (1997) nimmt Embick an, dass die Derivation von reflexiven Konstruktionen die Klitisierung eines anaphorischen externen Arguments beinhaltet, nach der dann das Objekt in eine Position angehoben wird, von der aus es die Anapher binden kann. Daher generiert Embick (2004: 141) das Klitikon (CL) im Spezifikator von υ, wie die folgende Struktur zeigt: (15) Reflexive I (Embick 2004: 141, (4)): υP 3 CL υ 3 υ √P │ AG √DP Case Das externe Argument muss dann an υ klitisieren, um das Kasusmerkmal von υ zu saturieren, so dass das interne Argument Nominativkasus überprüfen kann. Nun muss das interne Argument aber angehoben werden, um die klitisierte Anapher zu binden. Aus diesem Erfordernis leitet Embick (2004: 141) ab, dass Reflexive dieses Typs sich wie unakkusative Strukturen verhalten, in denen es eine solche Anforderung nicht gibt. Für die Frage nach der Natur der Operation, mit der CL mit dem Verb zusammenkommt, gibt Embick die folgende Struktur an: (16) Reflexive II (Embick 2004: 141, (5)): υP 3 DP υ 3 υ 3 υ √P 2 CL AG √t Case Embick skizziert hiermit die „unakkusative Syntax der Reflexive“. In seinem Modell besteht eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen reflexiven und unakkusativen Strukturen darin, dass die volle (d.h. nicht klitisierte) DP als internes Argument basisgeneriert wird. In allen anderen Aspekten unterscheiden sich beide Strukturen: Reflexive sind agentivisch, während unakkusative es nicht sind. Die reflexiven Strukturen sind syntaktisch transitiv, da sie in den ersten Abschnitten der Derivation ein externes Argument <?page no="62"?> 2 Unakkusativität 62 haben. Embick betont, dass im Rahmen dieser unakkusativen Analyse Reflexive und Unakkusative zwar etwas gemeinsam haben, aber nicht identisch sind. Mit dieser Idee im Hintergrund formuliert Embick (2004: 142) die zentrale Eigenschaft der unakkusativen Syntax, die in vielen Sprachen zu morphologischem Synkretismus führt und die er „u-syncretism“ nennt. Die strukturelle Eigenschaft, die hinter dem Synkretismus steckt, stellt Embick wie folgt dar: (17) Unaccusative syntax (Embick 2004. 142, (6)) υP 3 υ VP ...Verb...DP Obwohl Passive, Reflexive und Unakkusative in vielerlei Hinsicht unterschiedlich sind (Merkmalszusammensetzung, diverse Aspekte der Derivation), haben sie den in (17) dargestellten gemeinsamen Teil. In manchen Sprachen, so Embick, ist die morphologische Realisierung nur sensitiv für diese strukturelle Eigenschaft. Wenn diese Situation eintritt, führt sie zum u-syncretism. Insgesamt lässt sich Embicks Ansatz zur Unakkusativität als stark syntaktisch orientiert betrachten, da Unakkusativität nicht mehr als Eigenschaft bestimmter Verben konzipiert wird, die auch bestimmte semantische Eigenschaften wie Telizität besitzen. Unterschiedliche Interpretationen werden über das Merkmal [AG] eingeführt. Ebenfalls im minimalistischen Rahmen arbeitet Frigeni (2004), die verschiedene nichtaktivische Alternationen, v.a. die unterschiedlichen Passivkonstruktionen (unpersönlichpassivische SI-Konstruktionen und „kanonische“ periphrastische Passive sowie Middle- Konstruktionen) im Italienischen miteinander sowie mit dem Phänomen der Unakkusativität in einen direkten Bezug setzt, was diesen Ansatz für die vorliegende Arbeit sehr interessant macht. Unakkusativität ist dabei für Frigeni eine Frage der Konfiguration, die sie sowohl syntaktisch als auch semantisch analysiert und für die sie einen Ansatz vorschlägt, der Teile verschiedener, u.a. auch der oben vorgestellten, Ansätze kombiniert und in dem die parametrisierte Version von Embick (1997, 1998) zentraler Bestandteil ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeit ist eine andere Perspektive auf die Analyse von unpersönlich-passivischen SI-Konstruktionen, die Frigeni (2004) nicht innerhalb der unpersönlichen SI-Konstruktionen (wie etwa Cinque 1988, Dobrovie- Sorin 1998, vgl. Kapitel 3.1.3) untersucht, sondern im Kontrast mit periphrastischen Passivkonstruktionen und medialen Konstruktionen, mit denen die passivischen SI- Konstruktionen im Government und Binding-Modell häufig verglichen bzw. auf die sie sogar reduziert wurden. Nach Frigeni (2004: 48) enthält die nicht-aktivische Diathese im Italienischen die folgenden drei distinkten Konstruktionsklassen: <?page no="63"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 63 (18) a. Unpersönlich-passivisches SI i. Stanotte si scrutinano i voti. ii. I voti si scrutinano stanotte. b. Kanonisches Passiv i. Stanotte vengono/ sono scrutinati i voti. ii. I voti vengono/ sono scrutinati stanotte. c. Mediales SI i. I voti si scrutinano facilmente. ii. Si scrutinano facilmente, i voti. Frigeni (2004: 49) führt zudem Evidenz gegen zwei vorherige Annahmen an, nämlich dass (a) SI der passivischen Morphologie gleicht (Standardansicht im Government- und Binding-Modell) und (b) SI in dieser Konstellation nominativisch ist (womit Frigeni (2004) für den alternativen Ansatz von Dobrovie-Sorin (1998) und gegen Burzio (1986) und Cinque (1988) argumentiert). Eine Unifikation aller si strebt Frigeni hingegen nicht an. Die Autorin zeigt zunächst anhand einer Reihe von Tests (externes Argument durch Präposition eingeführt, agens-orientierte Adverben, thematische Kontrolle), dass alle drei Konstruktionstypen die Präsenz einer externen Argument-Semantik (d.h. eine externe Argument-Thetarolle) implizieren. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch zwischen dem unpersönlich-passivischen SI und dem kanonischen Passiv, indem ersteres die externe Argumentposition für das Subjekt aufweist, letzteres nicht. Durch weitere Tests (Prädikation, Anapher-Bindung, Argument-Kontrolle) zeigt Frigeni (2004: 55 ff.), dass nur die unpersönlich-passivische SI-Konstruktion die externe Argument-Thetarolle in einer Argumentposition verankert aufweist, im Gegensatz zum kanonischen Passiv. Im Hinblick auf semantische Restriktionen zeigt Frigeni (2004: 60 f.), dass nur die unpersönliche Passivkonstruktion mit SI einer Restriktion unterliegt: Das externe Argument muss als [+ human] interpretiert werden. Auf morphosyntaktischer Ebene gilt außerdem die Restriktion, dass das nominativische Objekt dritte Person sein muss. Nach der Datenanalyse erklärt Frigeni (2004: 62 ff.) genauer ihre theoretischen Annahmen, die sich in einen allgemeineren Teil zur Konzeption von Verb-Argumenten und einen hierauf aufbauenden spezifischeren zur unakkusativen Syntax gliedert. Im allgemeineren Teil führt sie im Vergleich zum oben skizzierten theoretischen Rahmen von Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) eine Reihe von zusätzlichen sowie abweichenden Annahmen an und buchstabiert einige gemeinsame Auffassungen genauer aus. Die Ergänzungen und Unterschiede werden hier kurz skizziert. Wie Hale und Keyser (1993) (im Folgenden H&K) betrachtet Frigeni (2004) generell Argumentstruktur als Syntax, wobei diese in der untersten, von H&K als „l(exical)-syntax“ bezeichnete, Domäne lokalisiert ist. Ferner folgt sie H&K in der Annahme, dass ein Argument von einem Kopf eingeführt wird, entweder als sein Komplement oder sein Spezifikator, in Übereinstimmung mit einem kompositionalen Ansatz zur Verbsemantik, in dem Verben Ereignistypen beschreiben (Aktivitäten, Zustände, richtige Ereignisse) und Argumente mit ihren Verben durch sekundäre Prädikate verbunden <?page no="64"?> 2 Unakkusativität 64 werden, die generelle thematische Relationen wie „Agens von“, „Thema von“ etc. denotieren. Es gibt in diesem Ansatz drei Arten von Köpfen, die in die Realisierung der Argumentstruktur involviert sind: a) Köpfe, die Ereignisse einführen; b) Köpfe, die DP- Argumente einführen und c) Wurzeln. Nach u.a. H&K (1993) ist ein Verb semantisch und syntaktisch aus einem lexikalisch-semantischen Kern-Element (Wurzel), die eine Eigenschaft, einen Zustand, eine Art und Weise oder eine Entität bezeichnet, und einem funktionalen Kopf zusammengesetzt, wobei letzterer das eigentliche Ereignis-Argument des Verbs einführt, nämlich υ, das den Typ der Ereignishaftigkeit bezeichnet und als die für Aktionsart zuständige syntaktische Schicht betrachtet werden kann. Das externe Argument wird lizensiert als Spezifikator des Kopfes Voice, der den Komplex υ+Wurzel als Komplement nimmt. Wichtig ist, dass Voice eine Grenze definiert, nach der später kein Partizipant mehr zum vom Verb eingeführten Ereignis hinzugefügt werden darf (vgl. auch u.a. Kratzer 1996 und Pylkkänen 2002). Voice 32 ist in dieser von Frigeni zugrundegelegten Konzeption der Rand der l-Syntax und lässt sich wie folgt darstellen (vgl. Frigeni 2004: 64, (27)): (19) VoiceP 3 external arg 3 Voice υ+root Weiter nimmt Frigeni (2004: 64) verschiedene Typen von υ nach Cuervos (2003) System an, wonach Ereignis-Argumente einfach (einköpfig) oder komplex (doppelköpfig) sein können. Unter den einfachen Typen sind dynamische Ereignisse wie Aktivitäten (instantiiert von υ DO ), Veränderungen (υ GO ) und statische Ereignisse wie Zustände (υ BE ) zu unterscheiden. Kausative und inchoative Ereignisse sind bi-eventive Strukturen, in denen ein υ sich mit einem weiteren kombiniert, so dass sich folgende komplexe Ereignisse ergeben (vgl. Frigeni 2004: 65, (29)) 33 : (20) mögl. Kombinationen mögl. komplexe Ereignisse Beispiele V DO + V DO CAUSATIVES make wash V DO + V GO CAUSATIVES make grow V DO + V BE CAUSATIVES tr. break, burn, lose V GO + V BE INCHOATIVES intr. break, burn, close Wichtig ist, dass diese Typen nicht nur Ereignistypen, sondern auch syntaktischen Typen entsprechen: Während υ DO mit einem externen Argument kompatibel ist und somit sowohl transitiven als auch unergativen Konfigurationen entspricht, sind υ GO und υ BE inhärent unakkusativ. 32 Frigeni (2004: 64) weist daraufhin, dass die von Kratzer (1996), Pylkkänen (2002) und Cuervo (2003) als Voice bezeichnete funktionale Kategorie Chomsky’s (2000) υ entspricht. Sie stellt daher im spezifischen, der unakkusativen Syntax gewidmeten Theorie-Teil die beiden zusammen dar. 33 Frigenis Ansatz ist in diesem Punkt kompatibel mit dem von Pustejovsky (1995), der in dieser Arbeit zugrundegelegt wird, wobei Pustejovsky allerdings alle Ereignisse bi-eventiv konzipiert. <?page no="65"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 65 Anders als Cuervo (2003) schließt sich Frigeni (2004: 66 f.) der Auffassung an, dass auch in unakkusativen Verben υ/ Voice präsent ist, womit in den Teil der spezifischeren Annahmen übergeleitet wird. Dabei wird, Embick (1997, 1998, 2004) folgend, υ/ Voice als defektiver funktionaler Kopf betrachtet, dem die erforderliche Eigenschaft fehlt, um a) das externe Argument als seinen Spezifikator zu lizensieren und b) Akkusativkasus zuzuweisen 34 . In diesem Szenario kann, selbst wenn die externe thematische Rolle (externe Argument-Semantik bei Frigeni) in υ/ Voice präsent ist, wie im Fall der Passive, diese nicht dem externen Argument in Spec υ/ Voice zugewiesen werden, da diese Position nicht projiziert wird. Frigeni (2004: 68, (34)) veranschaulicht die grundlegenden Unterschiede zwischen unakkusativen und transitiven Prädikaten wie folgt, wobei θ extA die externe Argument-Thetarolle darstellt (die in a. optional (in Klammern) präsent in Passiven, aber nicht in anderen unakkusativen Prädikaten auftritt und in transitiven Prädikaten (b.) obligatorisch ist): (21) a. unakkusative b. transitive υ/ VoiceP υ/ VoiceP 3 3 υ/ Voice ... extA 3 (θ extA ) θ extA ... event [Acc] DP obj manner event manner Anders als Embick (2004) und Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) nennt Frigeni (2004: 68) die externe thematische Rolle nicht Agens, sondern neutraler „externe Argument-Thetarolle“ oder „Ereignis-Originator-Thetarolle“, da sie für zwei distinkte externe Argument-Einführer argumentiert, wovon der eine für das Merkmal [+ human] sensitiv ist und der andere nicht. Wenn der Ereignis-Auslöser, d.h. das externe Argument, [+ human] ist, wird ihm seine Thetarolle durch den funktionalen Kopf Voice (alternativ als „υ agent “ zu nennen), den Lokus des Agentivitätsmerkmals, zugewiesen. Wenn das externe Argument [human] ist, wird es von einem anderen Ereignis-einführenden funktionalen Kopf thetamarkiert, den Frigeni υ (oder alternativ „υ manner “) bzw. dem Lokus des Merkmals der Art und Weise nennt. Überdies sind diese beiden Köpfe zueinander hierarchisch organisiert, wobei Voice Skopus über υ hat, da die Präsenz von Voice (durch Agens-sensitive Adverbien ermittelt) die von υ (ermittelt durch manner-sensitive Adverbien) impliziert, aber nicht umgekehrt. Je nachdem, welcher der beiden externen Argument-Einführer im Rahmen dieser von Frigeni (2004: 71) vorgeschlagenen „layered external argument introducing“-Domäne beteiligt ist, ergeben sich die unterschiedlichen Strukturen: Transitive Konstruktionen werden wie in (22) dargestellt (vgl. Frigeni (2004: 71, (43)), wobei das externe Argument in der Spezifikatorposition des für manner-Merkmale zuständigen Kopfes υ eingeführt wird, wenn es vom richtigen syntaktischen Typ ist, d.h. DO, welcher syntaktisch transitiv ist. 34 Dass Frigeni (2004: 67) hier von „zuweisen“ spricht, mag ein Lapsus im Zusammenhang mit der Erwähnung der noch im präminimalistischen Theorierahmen verankerten Generalisierung von Burzio sein, welche in diesem Modell in υ/ Voice lokalisiert wird. <?page no="66"?> 2 Unakkusativität 66 υ kann alle semantischen Typen externer Argumente außer den humanen thetamarkieren (22a). Im letzteren Fall muss Voice auftreten, da υ das Thetamarkierungserfordernis nicht erfüllen kann. Daher muss das externe Argument von Specυ nach SpecVoice bewegt werden, wo es thetamarkiert wird (unter Zurücklassung einer grau schattierten Kopie in (22b)). Der dem Argument die Thetarolle zuweisende Kopf ist auch der Kopf, der den Akkusativkasus an das DP-Objekt unten in der VP-Domäne zuweist. (22) a. nicht-humanes externes Argument b. humanes externes Argument υP VoiceP 3 3 extA 3 extA 3 υ Voice 3 θ extA θ extA extA 3 [manner] [human] υ [Acc] [Acc] [manner] DP obj DP obj Embick (1997, 1998, 2004) folgend nimmt Frigeni nun für unakkusative Prädikate und Konstruktionen (wie Passive) an, dass diesen das externe Argument fehlt, ohne dass aber ihr das externe Argument einführender Kopf fehlt, da dieser anwesend zu sein scheint und semantische Merkmale trägt. Für unakkusative Prädikate schlägt Frigeni (2004: 7, (44)) folgende Struktur vor, in der υ vom unakkusativen syntaktischen Typ GO oder BE ist. (23) a. unakkusatives Prädikat: human b. unakkusatives Prädikat: human υP VoiceP 3 3 υ Voice υP [manner] [human] 3 υ [manner] Frigeni analysiert Passive als unakkusative Konstruktionen, die ihre externe Thetarolle behalten (als „mitverstandenes“ oder „implizites“ externes Argument bekannt) und gibt hierfür die folgenden Strukturen an (vgl. Frigeni 2004: 72 (45)): (24) a. kanonisches Passiv: human b. kanonisches Passiv: human υP VoiceP 3 3 υ Voice υP extA extA 3 [manner] [human] υ [manner] <?page no="67"?> Burzios Generalisierung, Kritik und aktuelle Forschung 67 Frigenis Ansatz wurde hier ausführlicher dargestellt (wobei auf die nach eigenen Angaben „tentative“ Repräsentation für mediale Konstruktionen und zahlreiche Details verzichtet wurde), da es der einzige direkt auf romanische Sprachen (Italienisch) bezogene Ansatz ist. Frigeni verbindet die syntaktischen Aspekte aus Embicks Ansatz mit den semantischen Grundlagen aus Hale und Keyser und verwendet dann das Phasen- und Sonden-Modell von Chomsky (2001). Die beiden letzteren Komponenten sind jedoch mit den Grundannahmen der Distributed Morphology, die Embicks Ansatz prägt, nicht kompatibel, denn in diesem Rahmen wird lexikalische Dekomposition abgelehnt 35 . Frigeni thematisiert dieses konzeptuelle Problem jedoch gar nicht und macht auch keine weiteren Angaben zu den Komponenten, die sie aus dem Ansatz von Embick verwendet. Insgesamt entsteht ein zwar interessanter, aber inkonsistenter Erklärungsansatz, der der strukturellen Polysemie der romanischen Sprachen, die nicht über eine detransitivierende Morphologie wie das Griechische verfügen, weniger gerecht wird als der Ansatz von Alexiadou und Anagnostopoulou (weiter oben). Aus diesem Grund wird hier auf die Darstellung der vollständigen Derivationen der nichtaktivischen Konstruktionsklassen verzichtet. Die Idee der Ereigniskomposition kann mit der im nächsten Unterkapitel dargestellten Sichtweise von Pustejovsky (1995) und Pustejovsky und Busa (1995) in Verbindung gebracht werden, ist aber gleichzeitig bei Frigeni nicht konsequent durchgeführt, da nur einige der Verben bi-eventiv analysiert werden. Wünschenswert wäre ferner eine stärkere Berücksichtigung der Polysemie von SI in Form eines Versuchs der Unifikation, wie sie einige Ansätze syntaktisch und semantisch versuchen (vgl. Kapitel 3.1.3). Für die syntaktischen Aspekte der vorliegenden Arbeit wird daher der mit der Existenz eines generativen Lexikons kompatible Ansatz von Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) weiter verfolgt (vgl. Kapitel 6.3). Betrachtet man die in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze noch einmal zusammenfassend, fällt auf, dass das Passiv wie andere nicht-aktivische Strukturen von der unakkusativen Syntax hergeleitet wird: Unakkusative Syntax und eine dahinter stehende bestimmte Merkmalskomposition werden als Kern aller nicht-aktivischen Strukturen betrachtet, ohne dass diese gleichgesetzt werden. So wurde u.a. deutlich, dass die vorgestellten Ansätze im Minimalistischen Programm davon ausgehen, dass im Passiv das externe Argument nicht auftritt, aber auch nicht vollständig fehlt, sondern auf semantischer Ebene konzipiert ist. Ferner wurde erkennbar, dass Unakkusativität keineswegs rein semantisch betrachtet wird (wie in den in 2.1 vorgestellten früheren Arbeiten), sondern vielmehr mit syntaktischen Eigenschaften assoziiert und bei Embick sogar ganz als syntaktisches Phänomen („unaccusative syntax“) betrachtet wird. 35 Vgl. Embick und Noyer (2004: 296): „Because Roots do not contain or possess any grammatical features our approach does not allow lexical decomposition, by which we mean decomposition of the lexical vocabulary into feature complexes“. Diese scharfe Position wird noch nicht in Embick (1997: 1998) vertreten, so dass Frigeni (2004) diese noch nicht erkennen konnte. Aus heutiger Sicht aber muss sie einbezogen und Frigenis Ansatz als problematisch betrachtet werden. <?page no="68"?> 2 Unakkusativität 68 Inwieweit diesen synchronen Erklärungsansätzen auch eine empirisch nachzuweisende Beziehung der theoretisch miteinander verbundenen Phänomene hinzuzufügen ist, wird in dieser Arbeit durch eine vergleichende Analyse älterer und aktueller Sprachstände des Spanischen, Italienischen und Französischen in Kapitel 5 untersucht. 2.3 Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon Zentral für die Anwendung der in Kapitel 1.2 in Grundzügen vorgestellten Theorie des Generativen Lexikons von Pustejovsky (1995) ist der Aufsatz von Pustejovsky und Busa (1995), in dem der kompositionale Ansatz auf unakkusative Verben bezogen wird und Parallelen zum Passiv aufgezeigt werden. Er wird deshalb hier detailliert vorgestellt. Anhand von englischen und italienischen Daten zeigen die Autoren, wie in beiden Sprachen die kausativ/ inchoative Alternation (I nemici hanno affondato la nave vs. La nave è affondata) als systematische Form der logischen Polysemie analysiert werden kann, indem von einem unterspezifizierten Lexikoneintrag ausgegangen wird und mit dem Konzept der Köpfigkeit von Ereignissen (vgl. Kapitel 1) gearbeitet wird. Pustejovsky und Busa (1995: 160) gehen noch einen Schritt weiter und wollen nicht nur die „kanonische Unakkusativität“ damit erklären, sondern auch phrasale Unakkusativität diskutieren, wobei sie zeigen wollen, dass Unakkusativität am besten als Ergebnis von Komposition behandelt werden sollte und keine nützliche lexikalische Klasse darstellt. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur verbalen Polysemie ist die Annahme von Pustejovsky (1988) und Chierchia (1989), dass unakkusative Verben zugrundeliegend Kausative sind. Auf der Basis der angenommenen engen Entsprechung von Qualia- Struktur und Kausalität soll die zugrundeliegende kausale Semantik, die in den Prädikaten der Klasse von Verben, die zwischen kausativer und unakkusativer Konstruktion alternieren (z.B. rompere ,brechen‘ und affondare ,versenken/ sinken‘), direkt in ihrer Qualia-Struktur erfasst werden. Diese soll aber noch mehr leisten als eine Formulierung wie „If event e 1 happens, then and only then, event e 2 is always produced by it.“ (Pustejovsky und Busa 1995: (7)). Vielmehr formulieren die Autoren eine reichhaltigere Repräsentation der kausalen Relation, in der die zugrundeliegende semantische Motivation der Polysemie in den Prädikaten der kausativ-inchoativen Alternation erfasst werden soll, nämlich das „Default Causative Paradigm“ (DCP, Pustejovsky und Busa (1995: 162, (9)) 36 : (25) Default Causative Paradigm (DCP): [R(e 1 , x, y) P(e 1 , y) P(e 2 , y) e 2 e 1 ] > cause(e 1 , e 2 ) Diese Repräsentation wird als Default Causative Paradigm (DCP) bezeichnet, da die Autoren es für ein Paradigma der kausalen Semantik halten. Im Lexikoneintrag, der dieses konzeptuelle Paradigma enthält, werden alle Argumente sowie die Unterereignistypen (vgl. Kapitel 1.4) jeder Relation in der DCP kohärent in die Qualia der AGENS- 36 Vgl. hierzu auch Pustejovsky (1995) und die Ausführungen weiter unten. <?page no="69"?> Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon 69 Rolle, die die Ursache bezeichnet, oder in die FORMAL-Rolle, die den Effekt bezeichnet, eingebunden. Dies wird mit der folgenden Formel von Pustejovsky und Busa (1995: 164, (10)) zum Ausdruck gebracht: (26) y x e 2 [ : FORMAL =[P(e 2 , y)] AGENTIVE =[R(e 1 , x,y)]] (26) drückt aus, dass ein Prädikat eine Relation zwischen zwei Unterereignissen und zwei Individuen ist, so dass eine Relation zwischen x und y im „Überbringen“ des resultierenden Zustands von y ist. Im Folgenden wird nun argumentiert, dass Unakkusativität das Ergebnis einer Art von Hervorhebung in der Ereignisstruktur ist, die mit dem Prädikat assoziiert ist, in manchen Aspekten vergleichbar mit Argument-verändernden Operationen wie der Passivierung. Für die kompositionale Analyse unakkusativer Verben veranschaulichen die Autoren die möglichen vier unterschiedlichen Kopfkonfigurationen anhand der folgenden Verben noch einmal (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 164, (14)). Davon sind zwei besonders relevant, nämlich arrive (nicht polysem, nur eine unakkusative Konfiguration) und break (polysem, zwei unterschiedliche Konstruktionen): (27) a. [e T e 1* < e 2 ] - build b. [e T e 1 < e 2* ] - arrive c. [e T e 1* < e 2* ] - give d. [e T e 1 < e 2 ] - break Während Struktur (27a) accomplishment-Verben 37 repräsentiert, steht (27b) für achievement-Verben, bei denen die Betonung auf dem Endzustand in der Interpretation überwiegt. (27c) illustriert Ereignisse, die relationale Feststellungen über jedes Unterereignis involvieren, während (27d), die für die Analyse der Autoren wichtigste Repräsentation, nämlich Unakkusativität als logische Polysemie, ausdrückt. Sie kommt in der Konzeption der Ereignisstruktur dadurch zustande, dass der Ausdruck im Hinblick auf die Köpfigkeit der Untereignisse lexikalisch unspezifiziert, m.a.W. kopflos ist. Solche kopflosen Ereignisse sind unterspezifizierte Repräsentationen, die zwei mögliche Interpretationen erlauben bzw. genereller sollen sie in so vielen Weisen ambig sein, wie es potentielle Köpfe gibt. Die Autoren erläutern dies nun am Beispiel von affondare detailliert und geben die folgende lexikalische Kernrepräsentation für dieses Verb an (Pustejovsky und Busa 1995: 166, (18)): (28) y x e S [affondare: FORMAL = [sunk(e S ,y)] AGENTIVE =[act(e P , x,y)]] Aufgrund seiner kopflosen Natur macht der Lexikoneintrag von affondare zwei grammatische Konstruktionen möglich. Die Grammatisierung 38 eines unakkusativen Verbs lässt eine rechtsköpfige Ereignisstruktur entstehen, indem der resultierende Zustand des Boots hervorgehoben und entsprechend die Argumente und Untereignisse im agentiven Teil „in den Schatten“ gestellt werden. Aufgrund der Eigenschaft der 37 Pustejovsky und Busa (1995: 164 f.) verwenden hier die gut etablierten Termini von Vendler (1967). 38 Hier wird bewusst nicht der Begriff „Grammatikalisierung“ verwendet, obwohl Pustejovsky und Busa (1995: 166) von „grammaticalization“ schreiben, da hier nicht die Grammatikalisierungstheorie im Vordergrund steht, sondern es darum geht, wie die lexikalische Struktur in die Ereignisstruktur und von da aus in die Syntax einfließt. <?page no="70"?> 2 Unakkusativität 70 Ereignisköpfigkeit, durch die ein einzelnes Quale der verbsemantischen Repräsentation hervorgehoben oder fokussiert wird, gilt nach Pustejovsky und Busa, dass das abstrahierte Quale, das aus dieser Köpfigkeit entsteht, auf der S-Struktur saturiert werden muss. Während man normalerweise an Projektionen denkt, die die grammatischen Funktionen für die Argumente eines lexikalischen Elements spezifizie-ren, wird hier deutlich, welche die Aufgabe einer Qualia-basierten Repräsentation ist, nämlich aus multiplen semantischen Ausdrücken auf die geeigneten grammatischen Funktionen in der Syntax zu projizieren. Dabei wird die Qualiastruktur als etwas Feinkörnigeres konzipiert als eine Predicate-Argument-Structure, wie im Folgenden für ein Quale Q i dargestellt (vgl. Pustejovsky und Busa (1995: 166, (20)): (29) Q i : R(e 1 ,x,y,) e 1 : Tense, x: Subj, y: Obj Q j : P(e 2 ,y) e 2 : Tense, y: Subj Unter Zugrundelegung von mehr als einer Qualia-Rolle nehmen die Autoren einen Konkurrenzkampf individueller Qualia für die Projektion an, wobei Mechanismen wie die Köpfigkeit als Filter handeln, um das Set der projizierbaren Qualia zu beschränken. Dabei projiziert der Ereigniskopf e* die Konfiguration (oder das Template), das mit dem Prädikat des Ereignisses (d.h. seinem Qualia-Wert) assoziiert ist. Die beschriebene Hervorhebung bzw. Schattierung der Qualiarollen für das Quale Q i werden von Pustejovsky und Busa (1995: 166, (21,22)) wie folgt dargestellt: (30) Q i : R(e * 1 ,x,y) e 1 : Tense, x: Subj, y: Obj Q j : P(e 2 , y) shadowed (31) Q i : R(e 1 ,x,y) shadowed Q j : P(e * 2 , y) e 2 : Tense, y: Subj Eine zentrale Idee von Pustejovsky und Busa (1995: 167) ist in diesem Zusammenhang, dass die Qualia eines lexikalischen Ausdrucks von der Syntax saturiert werden müssen, d.h. die semantischen Variablen in der Qualia-Struktur müssen in der resultierenden Struktur voll interpretiert werden. Für die Saturation einer Qualia-Struktur gilt, dass sie nur dann erfolgt, wenn alle Argumente in den Qualia gedeckt sind. Diese Deckung von Argumenten kann auf mehrere Arten erfolgen (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 167, (24)): (32) Covering: An argument x is covered only if: (i) x is linked to a position in s-structure; or (ii) x is logically dependent on a covered argument y; or (iii) x is skolemizable by virtue of its type. 39 39 Zu dieser Bedingung führen Pustejovsky und Busa (1995: Fn. 6) nur kurz an „This can be interpreted generally as existential closure on the variable.“ Im Text selbst (S. 167) wird darauf hingewiesen, dass ein default argument als Skolem-Funktion desjenigen Arguments betrachtet werden kann, von dem es abhängt, nämlich f(y). Unter Skolemisierung wird in der Linguistik die Entfernung von existentiellen Quantifikatoren aus Prädikaten verstanden (vgl. Winter 2008). Vgl. zu Default-Argumenten auch die Ausführungen weiter unten sowie Pustejovsky (2000). <?page no="71"?> Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon 71 Im Falle eines Verbs wie build ist den Autoren zufolge eine zusätzliche Bedingung im Spiel: Da es ein Default-Argument in der Semantik von build gibt, nämlich das Material z, das x benutzte, um y herzustellen, ist die Bindung anders als im Fall einer „normalen“ kausativen Relation, nämlich wie in (33) (vgl. Pustejovsky und Busa (1995: 167, (25)): (33) Q A : R(e * 1 ,x,f(y)) e 1 : Tense, x: Subj, y: Obj Q F : P(e 2 ,y) shadowed In diesem Zusammenhang betonen die Autoren nochmals, dass die Spezifikation der Köpfigkeit in vielen Aspekten ähnlich zu den logischen argumentändernden Regeln wie z.B. die Passivierung ist. Hierzu erklären sie, dass ein „schattiertes“ Argument nur mit einem speziellen Typ der Adjunktion projizierbar ist, nämlich derjenigen mit einer geeigneten Präposition. So, wie die by-Phrase in Passivkonstruktionen das projizierbare „Agens“-Argument eindeutig identifiziert, kann die from-Phrase das verursachende Ereignis selbst in einer unakkusativen Konstruktion identifizieren, wie Pustejovsky und Busa (1995: 167, (26)) am Englischen veranschaulichen, wobei sie explizit darauf hinweisen, dass das Adjunkt in (34b = ihr Beispiel 26b) nur auf das initale Ereignis und nicht den Agens referieren kann: (34) a. The boat was sunk (by the enemies). b. The boat sank (from the explosion). Die italienische Entsprechung hierzu wird weiter unten beschrieben. Zuvor wird erst einmal dargestellt, wie Pustejovsky und Busa (1995: 167 f.) die Grammatisierung eines unakkusativen Verbs konzipieren: Sie erfolgt über die Hervorhebung des Kopfes des rechten Ereignisses und die Abstraktion des einzigen Arguments in der Relation, die dem rechten Kopf entspricht. Dagegen führt die Projektion des linksköpfigen Ereignisses zu einer transitiven Konstruktion. Die unakkusative Konstruktion veranschaulichen die Autoren wie folgt (vgl. Pustejovsky und Busa (1995: 168, (27)) 40 : (35) IP NP VP lex la nave lex è affondata TYPE ind y e 2 e x F* = sunk(e 2 ,y) A = R(e , x,y) Betrachten wir nun die zu (34) entsprechenden italienischen Daten genauer, die von den Autoren im Hinblick auf den Zugriff auf die Ursache genauer beleuchtet werden. Unter Berufung auf Chierchia (1989) und Roeper (1987, 1993) zeigen sie, welche Bedingungen (unter normaler thematischer Interpretation) bestehen müssen, um Begründungssätze kontrollieren zu können (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 169, (29)): (36) a. Giovanni ha affondato la nave per incassare l’assicurazione. b. *La nave è affondata per incassare l’assicurazione. 40 Auf die Darstellung der transitiven Konstruktion wird aus Platzgründen hier verzichtet. <?page no="72"?> 2 Unakkusativität 72 Chierchia (1989) nimmt an, dass die unakkusative Form von affondare eine Null- Reflexiv-Form des transitiven Pendants ist, wobei die zugrundeliegende kausative Semantik beibehalten wird, aber das verursachende Ereignis stativisch interpretiert wird. Dies wird von Pustejovsky und Busa (1995) unabhängig ähnlich gesehen und im DCP (vgl. weiter oben) formuliert. Im Folgenden soll es darum gehen, welche Adjunkte den Kopf der linksköpfigen Prädikate modifizieren können, wozu die Autoren die folgenden Beispiele anführen (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 169, (30)): (37) a. Il nemico ha affondato la nave dall’aereo. b. La nave è stata affondata dall’aereo. c. *La nave è affondata dall’aereo. In Beispiel (37a) modifiziert dall’aereo ein Ereignis und nicht den Agens, da es den Ort des Ereignisses ausdrückt, welches zum Sinken geführt hat. Die Passivkonstruktion in (37b) lizensiert - wie erwartet - dasselbe Adjunkt, da der Agens im anfänglichen Unterereignis auch zugänglich ist. In (37c) hingegen ist dasselbe Adjunkt ungrammatisch. Im Folgenden führen die Autoren Beispiele an, aus denen hervorgehen soll, dass es nicht die Zugänglichkeit des Agens ist, welche über die Lizensierung des Adjunkts bei unakkusativen Verben entscheidet, sondern vielmehr die Zugänglichkeit eines Ereignisses (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 169, (31)): (38) a. La nave è affondata per l’esplosione. b. ? La nave è affondata per la bomba. c. *La nave è affondata per l’aereo. Hierzu machen die Autoren mehrere Anmerkungen: Zunächst kontrastiert (38a) mit (38c) darin, dass die unterschiedliche per-PP in der Lage ist, auf das initiale Ereignis selbst zu referieren, während die dal-PP auf den Agens in der Einheit referiert. Hierzu nehmen die Autoren Bezug auf Grimshaw (1990), die die Tatsache diskutiert, dass im Passiv der Agens den Status einer speziellen Art von Adjunkt hat, nämlich eines „aadjunct“, das (im Englischen) systematisch durch den präpositionalen Kopf by eingeführt wird. Im Hinblick auf die Ereignisstruktur hat Köpfigkeit den Effekt der Schattierung des Nicht-Kopf-Ereignisses, welche nur durch eine spezielle Art von Adjunkt erreicht werden kann, wobei für unakkusative Verben gilt, dass eine kohärente kausale Kette durch die Auswahl des richtigen Unterereignisses konstruiert werden kann. Dies ist, so Pustejovsky und Busa (1995: 169), was die italienische Präposition per leistet. Im Hinblick auf die Beispiele in (38) erläutern die Autoren, dass es wichtig ist, dass die Adjunkte das DCP erfüllen, wobei es entweder über ein passendes eigenes Quale der beteiligten Nomina oder über metonymische Extension bzw. über coercion zu einer unterschiedlichen Akzeptanz dieser Adjunkte kommen kann. Wenn Nomina, wie aereo in (38c), keinerlei Ereignisinformation tragen, kommt es bei Adjunktion zu einem Typ-Fehler. Abschließend gehen die Autoren auf den Umstand ein, dass ja nicht alle unakkusativen Verben polysem sind wie break/ affondare und durch rechtsköpfige Ereignisse konstruiert werden. Es existieren auch solche wie das (bereits in (30b) aufgeführte) unakkusative Verb arrivare, die als Fälle von „split intransitivity“ bezeichnet werden. <?page no="73"?> Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon 73 Letztere werden nun ersteren gleichgestellt, d.h. ebenfalls als rechtsköpfige Ereignisse betrachtet, um die Asymmetrie in den folgenden Daten erklären zu können (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 172, (40,41)): (39) a. Giovanni è arrivato. b. Giovanni è arrivato a casa. (40) a. *Giovanni è corso. (TRANSITION) b. Giovanni è corso a casa. (TRANSITION) c. Giovanni ha corso. (PROCESS) Die Rechtsköpfigkeit in Bezug auf die Ereignisstruktur wird nun als definierende Eigenschaft von unakkusativen Verben allgemein deklariert, wobei Verben wie arrivare diese Eigenschaft aufgrund lexikalischer Spezifikation haben. Die Ähnlichkeit von englisch arrive und die wird von Pustejovsky und Busa (1995: 172, (42,43)) entsprechend wie folgt dargestellt: (41) x e P e S [arrive: FORMAL= y: location [at(e S* ,x,y)] AGENTIVE =[move(e P ,x)]] (42) x e P e S [die: FORMAL =[dead(e S* ,x)] AGENTIVE= y[R(e P ,y,x)]] Pustejovsky und Busa (1995: 172 f.) erklären nun den Unterschied zwischen (40a) und (40b), wobei sie die logische Relation zwischen (40b) und (40c) betonen und die unakkusative und die unergative Verwendung von correre nicht über unterschiedliche Lexikoneinträge lösen wollen. Wenn sie correre in (40b) als lexikalisch rechtsköpfig analysieren würden, würde die Ungrammatikalität von (40a) unerklärt bleiben. Aus diesem Grund nehmen sie auch nicht-lexikalische Analogien zur lexikalischen unakkusativen Repräsentation an, z.B. auf VP-Ebene. In dieser Sicht kodiert correre unambig einen Prozess, der ein einziges Individuum involviert, womit die zugrunde liegende Ereignisstruktur in (40b) unverändert bleibt, aber es wird nun in eine größere Repräsentation eingebettet, die aufgrund der Funktion der PP rechtsköpfig ist. Damit ist die Alternation in (40b) keine direkte Abbildung aus der lexikalischen Struktur mehr, sondern der unakkusative Effekt ist das Ergebnis der kompositionalen Eigenschaften von Ereignissen, was in der Theorie des Generativen Lexikons als co-composition bezeichnet wird: Dies bedeutet, dass die kompositionalen Eigenschaften von individuellen lexikalischen Elementen, kombiniert mit typverändernden Operationen, Oberflächeneffekte produzieren, die nicht eindeutig mit den lexikalischen Eigenschaften eines isolierten lexikalischen Elements übereinstimmen. Die zugrundeliegende lexikalische Repräsentation für correre entspricht dem kanonischen Template für unergative Verben, v.a. Bewegungsverben, die einen Prozess ausdrücken (vgl. Pustejovsky und Busa 1995: 172, (44)): (43) x e P [correre: FORMAL=[move(e P ,x) fast(e P )]] Für die folgenden Kapitel werden die beiden folgenden Aspekte aus Pustejovsky und Busa (1995) wesentlich sein: <?page no="74"?> 2 Unakkusativität 74 die Relation zwischen unakkusativen und transitiven (passivierbaren) Verben eine Exemplifizierung der Funktionsweise der Theorie, mit der auch Bedeutungswandel durch definitive Umfokussierung bzw. Schattierung von Interpretationen bei polysemen Verben vorstellbar wird, die Intransitivierung einschließen kann (dauerhafte Schattierung, bis einer Sprechergeneration keine Alternation mehr möglich ist) Ferner wird eine Ergänzung aus Pustejovsky (1995) relevant werden, die die kausative Grundstruktur betrifft. Pustejovsky (1995: Kap. 9) zeigt, dass die Annahme grundlegender Kausation für viele Verben eine Rolle spielt, indem die von Pustejovsky und Busa (1995) erarbeiteten, oben vorgestellten Mechanismen an einer Reihe unterschiedlicher Verbgruppen veranschaulicht werden. Dabei stellt sich folgendes Paradigma für die meisten lexikalischen Formen der Kausation in natürlichen Sprachen heraus (vgl. Pustejovsky 1995: 187, (6)): (44) α E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : state RESTR = < α HEAD = ARG 1 ARGSTR = ARG2 default-causative-lcp QUALIA = FORMAL = α_result (e 2 , ) AGENTIVE = α_act (e 1 , , ) Aufgrund der Ereignisköpfigkeit gibt es (mindestens) die drei folgenden lexikalischen semantischen Klassen, die mit dieser Struktur assoziiert sind: (45) a. LINKSKÖPFIGE EREIGNISSE: z.B. direkt kausative accomplishment- Verben wie kill, murder, etc. b. RECHTSKÖPFIGE EREIGNISSE: z.B. direkte kausative achievement- Verben wie die, arrive. c. KOPFLOSE EREIGNISSE: z.B. kausative/ unakkusative Verben wie sink, break, burn. Laut Pustejovsky ist es die semantische Unterspezifikation von lexikalisch kopflosen Verben, die die Polysemie von Prädikaten in der kausativ/ unakkusativen und in der Anhebungs-/ Kontroll-Alternation bewirkt. Diese Konzeption der Kausation wird von Danlos (2001) kritisiert, die auf den Unterschied von direkter und indirekter Verursachung hinweist, den auch Levin und Rappaport Hovav (1995) in ihre Linking-Regeln als externe bzw. interne Verursachung integrieren. Der von Danlos vorgeschlagene Ansatz zur Kausation soll an dieser Stelle nicht vorgestellt werden. Wichtig ist hier jedoch, dass die Autorin versucht, ihren <?page no="75"?> Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon 75 Ansatz, der zunächst ein wichtiges Merkmal von Pustejovsky und Busas Modell in Frage stellt, nämlich die Annahme derselben Repräsentation für transitive und intransitive unakkusative Verben über Köpfigkeit, mit dem Gesamtmodell von Pustejovsky (1995) kompatibel zu machen, dem gegenüber sie positiv eingestellt ist. Sie schlägt daher eine etwas komplexere Ereignisstruktur für kausative Verben vor, in dem dieselbe Repräsentation beibehalten wird, während die Natur des verursachenden Unterereignisses verändert wird. Sie schlägt vor, die komplexe Ereignisstruktur in (49) (vgl. Danlos 2001: 238, (59)) zu verwenden, in der ein transitives Verb so realisiert wird, dass es den Kopf e 1 hat, während das unakkusative Verb den Kopf e 2 bekommt: (46) e 0<α 3 e 1 e 2<α ? -causing-act 3 (e 1 ,x,y) e 3 e 4 ? -intern-process resulting state (e 3 ,y) (e 4 ,y) Eine weitere Ergänzung betrifft das Passiv: Bereits Pustejovsky (1995: 104) macht deutlich, dass er wie die syntaktisch orientierten minimalistischen Ansätze in Kapitel 2.2.2 davon ausgeht, dass der Agens nicht getilgt wird, sondern die Passivierung im Schattieren des Agens besteht: „the passive acts to head an event structure to a rightheaded event. For a lexically left-headed event such as kill, this has the effect of shadowing the agent, and allowing expressions of this argument only by adjunction”. Die Schattierung von Argumenten ist zentrales Thema der späteren Arbeit von Pustejovsky (2000a). Neben dem Passiv wurde in Kapitel 1.2 im Zuge der allgemeinen Einführung in die Generative Lexikontheorie bereits das Default-Argument des Verbs build eingeführt, in diesem Abschnitt dann die Schattenargumente. Pustejovsky (2000a) erarbeitet ein übergreifendes Modell der lexikalischen Schattierung sowie der Beziehung zwischen Argumenten und logischen Strukturen, wobei Schattierung definiert wird als „the relation between an argument and the underlying semantic expression, which blocks its syntactic projection in the syntax“ (Pustejovsky 2000: 68). Er unterscheidet die folgenden drei Typen lexikalischer Schattierung (vgl. Pustejovsky 2000a: 70): 1. ARGUMENT SHADOWING: Expression of an argument is shadowed by: i. the verbal semantics directly, as in the cognate constructions; or ii. the semantics of the phrase, as with the build examples. 41 2. COMPLEMENTARY SHADOWING: Expression of one argument shadows the expression of another in a complementary fashion, as in the risk examples. 42 41 Hier bezieht sich Pustejovsky auf seine hier nicht weiter ausgeführten Beispiele: John built a house of bricks und John built a brick house out of limestone bricks (vgl. Pustejovsky 2000a: 69, (4)). Diese Beispiele für Default-Argumente unterscheidet Pustejovsky (2000a: 74) im Hinblick auf ihr grammatisches Verhalten explizit von Beispielen mit pragmatisch fehlenden Argumenten wie z.B. in Mary ate the dinner quickly vs. Mary ate quickly (vgl. Pustejovsky 2000a: 74, (23)), da letztere zu Polyvalenzphänomenen führen. <?page no="76"?> 2 Unakkusativität 76 3 CO-COMPOSITIONAL SHADOWING: Expression of an argument is made optional by virtue of how the verb interacts with its complement, as with the give a lecture cases. 43 Das hier relevante Element und gleichzeitig Kernstück der Arbeit von Pustejovsky (2000a) ist der Vorschlag, dass es zwei Arten der Abbildung von Argumenten auf logische Strukturen (closure) gibt - eine für die „echten“ Argumente (wie diejenigen transitiver Verben, in Kapitel 1.2 an build veranschaulicht) und eine für Default- und Schattenargumente. Letztere involvieren nach Pustejovsky (2000a: 74) lexical closure, während Polyvalenzphänomene und pragmatisch kontrollierte Tilgung aus functional closure hervorgehen. Aus syntaktischer Sicht fasst Pustejovsky (2000a: 74, (25)) die Distinktion wie folgt zusammen: (47) a. LEXICAL CLOSURE: arguments are only expressible as oblique phrases to the predicate. b. FUNCTIONAL CLOSURE: arguments are typically expressed as direct arguments to the predicate. Pustejovsky (2000a) behandelt das Passiv nicht, jedoch sei angemerkt, dass (50a) genau die Situation des Subjektarguments im Passivsatz beschreibt, wobei lexical closure im Folgenden genauer charakterisiert werden wird, so dass deutlich wird, dass es sich nicht um eine „Rückstufung“ handelt. Aus semantischer Sicht, so Pustejovsky, können die resultierenden Interpretationen für beide Typen der Abbildung gleich oder ähnlich sein, aber die Konsequenzen für kompositionelle Prozesse in der Grammatik sind signifikant. Im Folgenden werden die Prozeduren zur Bestimmung der logischen Abbildung von Default-Argumenten vorgestellt, für die Pustejovsky (2000a: 75) zwei Annahmen zugrundelegt: 1. Arguments introduced by lexical closure are treated as specifications to the variable; 2. Arguments introduced by functional closure are treated as true arguments. Die Default-Argumente für Verben wie build und arrive können nach Pustejovsky (2000a: 75) als existenziell quantifizierte Variablen dargestellt werden, die in der lexikalischen Struktur des Prädikats präsent sind, wie im Folgenden veranschaulicht (vgl. Pustejovsky 2000a: 75, (26)): (48) a. arrive x e x: loc[arrive(e,x,y)] b. build y x e z: material[build(e,x,y,z)] 42 Hierbei geht es um Beispiele wie Mary risked illness und Mary risked her health (vgl. Pustejovsky 2000: 69, (7)), die semantisch zwar fast Paraphrasen zueinander sind, aber in denen dennoch die Präsenz des einen Arguments die des anderen vollständig schattiert. 43 Hier referiert Pustejovsky auf seine Beispiele dreiwertiger Verben - so kann bei give ein normalerweise obligatorisches Komplement schattiert werden (ii.), aber nicht in (iii), was mit der speziellen Semantik von talk zusammenhängt (vgl. Pustejovsky 2000a: 69, (9)): i. John gave a talk to the academy today. ii. John gave a talk today. iii. *John gave a book today. <?page no="77"?> Unakkusative Verben und Passiv im Generativen Lexikon 77 Pustejovsky veranschaulicht die Anwendung von (48) am Beispiel des Verbs arrive, in dem die Lokativphrase at the party das Default-Argument spezifiziert (vgl. Pustejovsky 2000a: 75, (28)): (49) a. John arrived at the party. b. F( x e x: loc[arrive(e,x,y)], at-the-party) c. Condition: Type (at-the-party) = loc c. e [arrive (e, john, (x: loc) [party (x))] Pustejovsky erläutert keine weiteren Beispiele dieses Mechanismus, sondern verweist darauf, dass die Spezifikation weiterer Eigenschaften der Variable durch oblique Phrasen erfolgt. Fasst man das Kapitel zur Unakkusativität kurz zusammen, so lässt sich der Forschungsstand wie folgt charakterisieren: Alle vorgestellten, ob syntaktisch und semantisch orientierten Ansätze zum Phänomen der Unakkusativität stellen eine Beziehung zum Passiv her. Es gibt psycholinguistische Evidenz für die „klassische“ Konzeption der Unakkusativitätshypothese, wie sie im Rahmen der Relationalen Grammatik formuliert und sodann in der präminimalistischen generativen Grammatiktheorie weiter behandelt wurde. Neuere, minimalistische Syntaxmodelle tragen hierzu zwar eine andere Darstellung, aber nicht viel Neues bei. Die psycholinguistische Evidenz stützt ferner die Konzeption der geteilten Unakkusativität in Akkusativsystemen wie dem Englischen, indem nachgewiesen wird, dass es eine verbspezifische, mithin lexikalische Eigenschaft ist. Für ihre weitere semantische Behandlung im Rahmen des Lexikons legen Pustejovsky und Busa (1995) die entscheidende Grundlage. <?page no="78"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen Ein erstes Ziel dieses Kapitels ist es, einen fokussierten Überblick über die Forschung zu geben, die aus verschiedenen Perspektiven und Grammatiktheorien heraus dem Passiv gewidmet worden ist (3.1). Dabei zeigen sich theorieabhängig unterschiedliche Auffassungen: In funktionaler Perspektive handelt es sich um einen stark pragmatisch geprägten Prozess, während in der generativen Grammatiktheorie Passiv als überwiegend syntaktischer Vorgang aufgefasst wird. In Kapitel 3.2 wird, als zweites Ziel und Vorbereitung des empirischen Teils der Arbeit, dieser Phänomenbereich für die aktuellen Sprachstände der drei untersuchten romanischen Sprachen dargestellt, wobei die (ereignis)semantischen und syntaktischen Eigenschaften im Vordergrund stehen. Als Basis dienen vorrangig einschlägige Grammatiken von muttersprachlichen Verfassern, die gleichzeitig den Maßstab für die Analyse der ausgewählten Datenbasis (vgl. Kapitel 1.3 und 5) sowie für den Vergleich mit den diachronen Studien in Kapitel 4 bilden. Ferner werden synchrone Studien zur Verwendung passivischer Strukturen vorgestellt (3.3), um ihre tatsächlicher Gebrauch und Interpretation sowie den Grad an Polysemie hierbei zu ermitteln. Dabei sind insbesondere solche Studien von Interesse, die mehrere romanische Sprachen miteinander vergleichen (wie z.B. Sansò 2003, 2006), da sie sprachspezifische Besonderheiten und die Resultate unterschiedlicher Entwicklungen deutlich machen. Da alle verfügbaren Studien die geschriebene Sprache untersuchen, wird zusätzlich eine kleine eigene Untersuchung der gesprochenen Sprache (Spanisch, Italienisch, Französisch) anhand von Aufnahmen erwachsener Sprecher vorgestellt. 3.1 Forschungsstand Angesichts des Umfangs der Forschungsliteratur zum Passiv soll hier nur ein auf wenige, für das Weitere relevante Aspekte konzentrierter Überblick gegeben werden, in dem jedoch die wichtigsten Sichtweisen auf das Phänomen zur Sprache kommen (einen umfassenden Überblick geben z.B. Karasch 1982, Shibatani 1985, 1988, Polzin 1998 und Abraham 2006a). Im Mittelpunkt des Interesses stehen a) Verknüpfungen zur Ergativität bzw. Unakkusativität, b) Relationen zwischen Konstruktionen mit passivischer Bedeutung und solchen, die passivische Morphologie ohne die zugehörige Bedeutung aufweisen (insbesondere das sogenannte „unpersönliche“ Passiv) sowie c) die Abgrenzung der passivischen Konstruktionen mit se/ si in den romanischen Sprachen von unpersönlichen und medialen Konstruktionen. 3.1.1 Passiv in unterschiedlichen theoretischen Perspektiven 3.1.1.1 Passiv aus typologischer und pragmatisch-funktionaler Sicht Die beiden Perspektiven sind eng miteinander verwoben, da in beiden sprachübergreifend die Funktionen von Passiv und ihre jeweiligen Realisierungen betrachtet werden. Dies wird u.a. in den grundlegenden Arbeiten von Shibatani (1985, 1988) sehr <?page no="79"?> Forschungsstand 79 deutlich. 44 Nach Shibatani (1985) ist der Ausdruck von Passiv in vielen Sprachen verbunden mit Reflexiv- und Reziprok-Konstruktionen. Shibatani argumentiert dafür, auch Pseudo-Passive und unpersönliche Passive einzubeziehen, und liefert einen Prototypen-Ansatz, der passivische Konstruktionen mit anderen Konstruktionen in ein Kontinuum stellt (unter Einbezug der Passiv-Aktiv-Beziehung). Er kritisiert die formal ausgerichteten Modelle der generativen Grammatiktheorie und der Relationalen Grammatik als zu sehr auf den Aspekt der Argument-Promotion/ Demotion reduziert (vgl. Abschnitt 3.1.1.2 zu dieser theoretischen Ausrichtung). Der Ansatz von Shibatani ist im Wesentlichen pragmatisch orientiert: Er zeigt, dass die verschiedenen Konstruktionen (sprachübergreifend) nicht nur morphosyntaktisch oder semantisch, sondern auch im Hinblick auf pragmatische Funktionen in Bezug zueinander gesetzt werden können. So lassen sich nach Shibatani (1985: 827) die meisten sogenannten medialen („middle“) Passive besser als Konstruktionen verstehen, die eine spontane Erscheinung beschreiben, d.h. ein Ereignis, das automatisch geschieht, oder ein Zustand, der spontan eintritt, ohne die Intervention eines Agens. Shibatani (1985: 830) formuliert die folgenden drei großen pragmatischen Funktionen von Passivkonstruktionen wie folgt: 1. Passive involvieren keine Nennung des Agenten aus kontextuellen Gründen. 2. Passive bringen ein topikales nicht-agentivisches Element in die Subjektposition. 3. Passive kreieren ein syntaktisches Pivot, so dass koreferentielle Tilgung wie Coordinate Subject Deletion und Equi-NP-deletion anwendbar ist. Laut Shibatani motivieren zwar alle drei Funktionen Passivsätze, je nach spezifischer Bedingung, aber er stellt die Hypothese auf, dass die primäre Funktion diejenige der Agensdefokussierung ist, und unterscheidet sich damit von anderen funktionalen Ansätzen, in denen die Topikalisierungsfunktion betont wird. Die Agensdefokussierung bildet auch den Ausgangspunkt für die Studien von Sansò (2003, 2006) zum Passiv im Italienischen und Spanischen, die in Kapitel 3.3 vorgestellt werden. Shibatani (1985: 837) charakterisiert den Passiv-Prototypen wie folgt: (1) Characterization of the passive prototype. a. Primary pragmatic function: Defocusing of agent. b. Semantic properties: (i) Semantic valence: Predicate (agent, patient) (ii) Subject is affected. c. Syntactic properties: (i) Syntactic encoding: agent -> Ø (not encoded) patient -> subject (ii) Valence of P(redicate): Active = P/ n Passive = P/ n-1 44 Dies soll nicht die umfangreiche Literatur schmälern: Weitere wichtige Werke sind z.B. Siewierska (1984), Haspelmath (1990), Givón (1994) und die darin zitierte Literatur. <?page no="80"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 80 d. Morphological property: Active = P; Passive = P [+ passive] Da die Defokussierung des Agens als primäre Funktion von Passiv aufgefasst wird, sind nach Shibatani (1985: 837) Passive von Intransitiva, Passive ohne Promotion und andere nur insoweit und in dem Maße Passive, als sie diese Funktion teilen. Davon weichen die sogenannten „middle passives“ in wichtiger Weise ab, die viele Sprachen als Mittel verwenden, um Intransitiva abzuleiten; solche Formen werden häufig mit dem Begriff der Detransitivierung assoziiert. Diese Konstruktion unterscheidet sich jedoch, trotz ihrer gemeinsamen grundlegenden pragmatischen Funktion, vom prototypischen Passiv: Der Grad, zu welchem der Agens defokussiert ist, ist verschieden. Im prototypischen Passiv ist der Agens Teil der semantischen Valenz, d.h. er ist konzeptualisiert und nur auf der Ebene der syntaktischen Kodierung defokussiert. Detransitivierung involviert hingegen eine Reduktion der semantischen Valenz, so dass kein Agens bereitgestellt wird. Shibatani (1985: 838) führt auch die semantischen Aspekte der Defokussierung des Agens aus, die mit spontanen Ereignissen und Zuständen eng verbunden ist. So ist ein von einem Agens prädiziertes Ereignis grundlegend kausativ, d.h. das Ereignis wird durch den Agens bewirkt. Ein vom Agens losgelöstes Ereignis geschieht spontan - ein Satz mit defokussiertem Agens kann verwendet werden, um ein spontanes Ereignis auszudrücken. Wenn eine Sprache intransitive Verben bereitstellt, die Patienten als ihr Thema selegieren (engl. break in These wine glasses break easily), werden diese normalerweise für die Beschreibung von spontanen Ereignissen verwendet. Wenn es diese nicht gibt, dann werden agens-defokussierende Formen benutzt (These boys are/ get discouraged easily). In bestimmten Sprachen werden Kombinationen mit agensdefokussierenden Affixen lexikalisiert und beginnen, als unabhängige intransitive Verben zu fungieren. Eine stärker typologische Perspektive wird in Shibatani (1988) eingenommen. Hier sind die Ergativsprachen eines der Problemfelder, da dort der zugrundeliegende transitive Satz dem Passiv im Englischen und in anderen nicht-ergativen Sprachen ähnelt und der Patiens im unmarkierten Absolutiv (oder Nominativ) steht, während der Agens einen speziellen ergativen Kasusmarker erhält. Während das generelle Fehlen einer unabhängigen Passivkonstruktion in Ergativsprachen prima facie Unterstützung für die Identität Passiv-Ergativ leistet, hat eine Zahl von Sprachen (u.a. Maya-Sprachen) unabhängige Passive. Zusätzlich weist eine gewisse Zahl von Ergativsprachen eine weitere Diathese auf, das sogenannte Antipassiv: So weisen z.B. Maya-Sprachen generell Ergativ, Passiv und Antipassiv-Konstruktionen innerhalb einzelner Sprachen der Gruppe auf. Auch innerhalb von Philippinen-Sprachen gibt es Unterschiede hinsichtlich der Existenz unabhängiger Passive (z.B. im Chamorro). Die diathetische Opposition, die in einer ganzen Anzahl von Ergativsprachen beobachtet wird, involviert einen Unterschied in der Behandlung des Patiens-Nomens. In diesen Sprachen selegiert die grundlegende diathetische Strategie einen Patiens als gramma- <?page no="81"?> Forschungsstand 81 tisch prominente Konstituente 45 . Ob die grammatische Prominenz des Patiens-Nomens so beschaffen ist, dass es als Subjekt benannt werden kann, wird kontrovers diskutiert - Shibatani (1988: 4) nimmt hier an, dass das absolutive Patiens-Nomen eines ergativen Satzes eine grammatisch prominente Konstituente ist, weitgehend vergleichbar mit dem Subjekt-Nomen von Akkusativ-Sprachen wie Englisch. Die ergative Konstruktion kann aus einer Reihe von Gründen nicht mit der Passivkonstruktion gleichgesetzt werden, trotz der Ähnlichkeit hinsichtlich der grammatischen Prominenz des Patiens-Nomens. Shibatani (1988: 5) plädiert hier dafür, dass eine unabhängige Diathese „Ergativ“ anerkannt werden sollte, die mit der Antipassiv-Diathese sowie mit der Aktiv- und Passiv-Diathese kontrastiert. Die Antipassiv-Diathese verweigert dem Patiens-Nomen grammatische Prominenz, indem sie es entweder als oblique Konstituente oder gar nicht syntaktisch kodiert. Eine typische Konsequenz von Antipassivierung ist die Promotion eines Agens in die grammatisch prominenteste Konstituente. Während Shibatani (1988) aus typologischer Sicht rein synchron argumentiert und dabei die Ergativsprachen fokussiert, bezieht die aktuellste Forschungsübersicht von Abraham (2006a) diachrone Faktoren mit ein und geht stärker auf die Passivbildung in den indoeuropäischen Sprachen ein. Grundlegend unterscheiden sich die beiden typologischen Ansätze aber vorrangig in der Bewertung der zentralen Eigenschaft von Passiv: Für Shibatani liegt sie in der pragmatischen Funktion der Agensdefokussierung, während Abraham, wie im Folgenden genauer dargestellt, die Detransitivierung und aspektuelle Verbeigenschaften in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Abraham (2006a) stellt zunächst eine Liste von inzwischen allgemein als Kerncharakteristika von Passivierung anerkannten Eigenschaften vor. 46 Sie umfasst die folgenden formalen und semantischen Identifikationskriterien (vgl. Abraham (2006a: (1), hier leicht gekürzt wiedergegeben), wobei vorab zu bemerken ist, dass in Abrahams Ausführungen nicht immer Konsistenz hinsichtlich des Agens-Arguments besteht - sowohl in den eigenen Überlegungen, wie im Verlauf des Abschnitt gezeigt wird, als auch in den hier zusammengetragenen Auffassungen aus der Literatur. So ist in (2a) und (2h) die Rede von Detransitivierung: 47 (2) a. Passive sind agensdefokussierend, was zur Agens-Unterdrückung und zu einer Orientierung auf das (direkte) Objekt und Valenzreduzierung um eine Valenz, d.h. Detransitivierung, führt. b. Passivierung führt zu statischen Prädikaten (unter einer perfektivischresultativen Perspektive und markierter verbaler Morphologie). c. Passivierung führt zur Subjektivierung eines Nicht-Agens. 45 Shibatani (1988) behandelt hier nur diejenigen Ergativsprachen, in denen die ergative Konstruktion regelmäßig auftritt, nicht solche, in denen das Auftreten der ergativen Konstruktion auf einen bestimmten Bereich beschränkt ist, wie z.B. Vergangenheit oder perfektiver Aspekt. 46 Diese Aufstellung erfolgt unter Bezugnahme auf eine Reihe von Arbeiten: u.a. Siewierska (1984), Shibatani (1985, 1988), Haspelmath (1990), Givón (1994). 47 Die im Folgenden jeweils angezeigten Inkonsistenzen verraten jedoch, dass Abraham - anders als Shibatani und die in Kapitel 2.2 und 2.3 vorgestellten Arbeiten - tatsächlich Passiv als Detransitivierungsprozess betrachtet und die eigentlich als zentral postulierte semantische Perspektive damit nicht berücksichtigt. <?page no="82"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 82 d. Passivierung führt zur Topikalisierung eines Nicht-Agens. e. Passivierung setzt die Affiziertheit des Oberflächen-Subjekts voraus. f. Passivierung kann für perfektivischen Aspekt sensitiv sein. g. Passive treten nie ohne spezielle morphologische Markierung auf: entweder durch ein separates passivisches oder mediales Paradigma mit Auxiliar und verbaler Vorzeitigkeitsform (Partizip) oder durch reflexive Suffigierung, in manchen Sprachen sogar als ungebundenes reflexives Morphem. h. Passive sind Detransitivierer, sowohl als designierte Thetarollen als auch als syntaktische Valenz-Determinierer; mit anderen Worten reduzieren Passive die Valenz eines Prädikats durch das designierte externe oder Subjekt-Argument. Die Tatsache, dass das interne Argument, das als nächstes in der Abfolge steht, im syntaktischen Passiv oder im lexikalischen Dekausativ in die Funktion des Subjekts aufrückt, folgt aus generellen Satzbau-Prinzipien, im generativen Rahmen aus dem Extended Projection Principle. Nach Abraham (2006a: 3) wird in dieser Liste zum einen nicht deutlich, ob diese Eigenschaften nur notwendig oder auch hinreichend für die Identifikation von Passiv sind. Ferner argumentiert er, dass weder Topikalisierung noch Subjektivierung des Agens notwendige Begleiterscheinungen des Passivs sind. Auch berücksichtigen die Eigenschaften unter (2) nach Abraham nicht das Phänomen der „unpersönlichen Passive“ (vgl. hierzu Abschnitt 3.1.2). Überhaupt kritisiert Abraham (2006a: 1), dass „pragmatisch-funktionale Perspektiven“ wenig mit der Form und den derivationellen Mechanismen der Passivierung zu tun haben, wenngleich er auch zugibt, dass diskursfunktionale und feine semantische Komponenten und Auslöser die Verwendung des Passivs in beträchtlichem Umfang beeinflussen. Vielmehr ist die Hauptkomponente des Passivs nach Abraham die Detransitivierung oder Valenzreduktion des höchsten strukturellen Arguments - hier geht Abraham also offensichtlich selbst von der syntaktischen Betrachtungsweise aus, während er in den folgenden weiteren Ausführungen ein lexikalisches externes Argument annimmt. Abraham (2006a) sieht das Passiv als Gegenstand konfligierender Erklärungen aus Syntax, Semantik und Pragmatik. Im Hinblick auf Semantik und Syntax stellt er die Frage der Wahl zwischen einem als „traditionell“ bezeichneten Ansatz der Argumentreduzierung und einer grundlegend aspektuell basierten Erklärung. Dazu argumentiert er typologisch, dass die Derivation dessen, was generell Passiv genannt wird, sprachübergreifend keine uniforme Konstruktion ist - nicht alle Sprachen haben eine Passiv- Morphologie (z.B. Ungarisch, vgl. Siewierska 1984), zudem ist es in einigen Sprachen morphologisch suffixal kodiert, aber periphrastisch in anderen, wie z.B. in vielen indoeuropäischen Sprachen. Außerdem gibt es in manchen Sprachen zwei verschiedene Passivformen (periphrastisches und reflexives Passiv, z.B. im Russischen und skan- <?page no="83"?> Forschungsstand 83 dinavischen Sprachen 48 ) mit leicht unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungen. Manche Sprachen, wie das Deutsche, können nur passivieren, wenn das grundlegende Subjekt ein Agens ist. Auch zeigt nach Abraham, der hier ergänzend zu Shibatani eine diachrone Perspektive einbringt, die Geschichte des Passivs in einigen Sprachen, z.B. in den germanischen, dass frühere Partizipien, die heute ambig zwischen einer aktivischen Vergangenheit und einer passivischen Lesart sind, in früheren Phasen (Gotisch, Althochdeutsch) gar nicht ambig waren. Um ein Prädikat passivieren zu können, verlangen die kontinentalen westgermanischen Sprachen sowie das Lateinische ein lexikalisches externes Argument (das designierte Subjektargument), während Sprachen wie das Englische, Französische und Russische (wobei hier nur das zusammengesetzte Passiv, nicht das reflexive betrachtet wird) ein externes und ein internes Argument (d.h. Subjekt und (direktes) Objekt) fordern. Überkreuz zu diesem Kriterium und zusätzlich dazu unterliegen Passive im Deutschen und Russischen aspektuellen Beschränkungen. Inklusive historischer Schichten müssen nach Abraham Sprachen wie das Deutsche als Kodiersystem betrachtet werden, dessen originales aspektuelles Paradigma manifest und ausnahmslos war wie im Althochdeutschen, seiner letzten Stufe, die ohne jegliche Passivsyntax auskam, und von dem aus sich das moderne Standard-Deutsche mit zusammengesetzem Passiv und ohne paradigmatisch sichtbaren Aspekt entwickelte (aber mit ausreichender lexikalischer Aktionsart-Klassifikation mit Verbalpartikeln und lokaler/ temporaler resultativer Prädikation). Abraham (2006a) interessiert insbesondere, was Aspekt und Aktionsart mit Passivierung zu tun haben und, wenn es tatsächlich Verbindungen zwischen passivischer Diathese und perfektivem Aspekt gibt, was die genauen Verbindungsschritte sind, die von Aspekt zu Genus verbi führen. Diesen Fragen geht der Beitrag von Abraham (2006b) nach. So geht Abraham (2006b: 462 f.) davon aus, dass die deutschen zusammengesetzten Passivkonstruktionen (Auxiliar + Vorzeitigkeitspartizip) an sich noch kein Passiv ausdrücken, sondern zwischen einem aktivischen und einem passivischen Partizip zu unterscheiden ist. Ferner unterscheidet er diese beiden Partizipien auch nach lexikalischen Eigenschaften, wobei das eine aspektuell perfektivisch ist, eine „approach phase“ impliziert, als Antezedens einer Resultativphrase dient und ein agentivisches externes Argument voraussetzt, während das andere imperfektivisch ist und die „approach phase“ nur über pragmatische Implikatur erreicht wird. Besonderes Augenmerk legt Abraham (2006a, b) auch auf die Problematik des „unpersönlichen“ Passivs gegenüber dem „persönlichen“ (vgl. hierzu Abschnitt 3.1.2 in diesem Überblick) sowie des dynamischen Passivs gegenüber dem statischen. Nach Abraham (2006a: 13 f.) ist im Russischen das periphrastische Passiv ausschließlich motiviert vom Aspekt (d.h. Perfektivität des zu passivierenden Prädikats), im Gegensatz zum einfachen, synthetischen Passiv, das durch ein reflexives Suffix ausgedrückt wird - die gleiche Opposition galt in früheren Stadien des Deutschen. Im Deutschen kann (muss aber nicht) das freie Reflexivum die (herabgesetzte) externe Thetarolle (unvermeidlich Agens) binden, wie es auch der Fall für mediale Konstruktionen und 48 Dies gilt auch für die romanischen Sprachen, die Abraham aber nicht systematisch miteinbezieht. Vgl. hierfür den Abschnitt über se/ si in Abschnitt 3.1.3 sowie die einzelsprachlichen Charakterisierungen der Passivkonstruktionen in 3.2. <?page no="84"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 84 mediale Verben ist. In einem aspektuell motivierten Passiv-Szenario wie im Russischen gibt es kein unpersönliches Passiv - ein russisches intransitives Verb kann nicht passiviert werden; im Schwedischen und Russischen wird - im Unterschied zum Deutschen - kein unpersönliches „Passiv“ ausgehend vom analytischen Passiv gebildet. Die Logik ergibt sich nach Abraham bei Betrachtung des originalen inchoativen Status des dynamischen Auxiliars werden als periphrastischem Finitheits-Unterstützer. Als Vollverb hat werden seinen perfektiven Status erhalten, als solches existiert es nur im Deutschen und Niederländischen (worden - geworden), während das russische budet, das Übersetzungsäquivalent von werden, die Futurform der Kopula ist. Zur Argumentreduktion gibt Abraham (2006a: 15) eine Typologie an, die sich jedoch nur auf das Deutsche und Englische bezieht und für beide die verschiedenen Arten der Argumentreduktionen (lexikalisch und syntaktisch) zeigt, wovon hier nur das Deutsche wiedergegeben wird. Dabei ist auffällig, dass in der Typologie die lexikalische Repräsentation von Passiv fehlt und nur die syntaktische Seite mit einer Detransiti-vierung angegeben wird, die nicht zum hier ebenfalls wiedergegebenen Kommentar Abrahams zur Typologie (vgl. weiter unten) passt: (3) Typologie der Argumentreduktion für das Deutsche nach Abraham (2006a: 15) 49 Dt. lexical tV: [Θ 1 , Θ 2 _] => tV (ellipsis) [Θ 1 , (Θ 2 )_] tV: [Θ 1 , Θ 2 _] => mV: [Θ 2, sich_] itV: [Θ 1 , (Θ 2 )_] => mC: [(Θ 2 ) , sich_] syntactic itV: [Θ 1 , (Θ 2 )_] => Passive: [(Θ 2 )_] Abraham (2006a: 16) kommentiert die Typologie für das Deutsche: Wenn ein deutsches transitives Verb (tV) oberflächlich nur das Subjekt realisiert (und nicht das direkte Objekt), ändert sich semantisch nichts. Die unsichtbare VP-interne Thetarolle behält ihre Argumentposition auf LF. Eine Quantifizierung des Referenten des direkten Objekts wird immer impliziert und rekonstruiert, was zentral für die semantische Interpretation ist: das syntaktische Passiv behält den Agens in einer durch-Präpositional-Konstituente. Im lexikalischen Prozess hingegen ist der Agens nur lexikalisch implizit, keine präpositionale Konstituente kann als Agens-Adverbial projiziert werden. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Perspektiven verfolgen das traditionelle dreigliedrige Diathesesystem durch viele Sprachen und Sprachfamilien, wobei Abraham nicht nur diachron und aspektuell arbeitet, sondern auch genauer als Shibatani Fragen der Derivation von Passivierung und der Argumentreduzierung betrachtet, welche in der Generativen Grammatik und Relationalen Grammatik die Hauptrolle spielen, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Problematisch ist Abrahams unklare Position zur Natur des Passivs, da einmal eine (oberflächen-)syntaktische Perspektive eingenommen wird, auf der von Detransitivierung gesprochen wird, ein andermal eine semantische, auf der das externe Argument für Abraham doch vorhanden zu sein scheint. 49 Legende zur Typologie: mV= medial verb; mC = medial construction; itV = intr. V, tV = tr. V; Θ 1 = Thetarolle für externes Argument, Θ 2 = Thetarolle für internes Argument (strukturelles Objekt) <?page no="85"?> Forschungsstand 85 3.1.1.2 Passiv aus Sicht der generativen Grammatiktheorie Wenngleich in diesem Abschnitt der Schwerpunkt auf Analysen von Passivstrukturen im generativen Grammatikmodell liegt (Chomsky 1981, 1986a,b, 1993, 1995), soll nicht unerwähnt bleiben, dass hier zentrale Arbeiten im Rahmen der Relationalen Grammatik (v.a. Perlmutter 1978, Perlmutter und Postal 1984 sowie Postal 1986) eingeflossen sind. In beiden Grammatiktheorien liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung der morphosyntaktischen Eigenschaften der Derivation von passivischen Strukturen im Zusammenspiel der Wohlgeformtheitsbedingungen, vor allem des Projektionsprinzips, des Thetakriteriums und der Bindungstheorie. Ein zentrales Thema dabei ist die Transformation vom Aktivin den Passivsatz 50 , wobei sowohl im Rahmen der generativen Theorie als auch außerhalb diskutiert wurde, inwieweit das Passiv nur eine vom Aktiv abgeleitete Struktur ohne eigenen „Wert“ ist 51 . Wie im Folgenden jeweils anhand ausgewählter grundlegender Arbeiten 52 veranschaulicht wird, muss zwischen den Analysen im Governmentand-Binding-Modell (Chomsky 1981, 1986a,b), die den meisten Anlass zur Kritik aus funktionalistischer und typologischer Perspektive gaben, und neueren, merkmalsbasierten Analysen im minimalistischen Rahmen (ab Chomsky 1993) unterschieden werden. Letztere integrieren ereignissemantische Aspekte, v.a. über die Projektion der sogenannten „light verb phrase“, der die Kodierung bestimmter Bedeutungsmerkmale zugeschrieben wird. Die Präsentation der Ansätze fokussiert Aspekte, die die Argumentstruktur und Interpretation betreffen, und beginnt mit den älteren Analysen. Nach Jaeggli (1986), der Passivkonstruktionen im Englischen untersucht, sind diese das Ergebnis einer Interaktion bestimmter morphologischer und syntaktischer Operationen: Auf der Ebene der Theta-Theorie absorbiert das passivische Verb, genauer die -en- Endung im Englischen, die externe Theta-Rolle des Verbs 53 . Dies ist nach Jaeggli die definierende Eigenschaft von Passiv. Eine weitere wichtige Eigenschaft betrifft die Kasuszuweisung: Auch hier kann ein analoger Absorptionsprozess stattfinden, indem der einzige verfügbare strukturelle Objektivkasus dem Passivmorphem zugewiesen wird, so dass das direkte Objekt diesen nicht mehr erhalten kann und im Passivsatz Nominativkasus nach Bewegung in die dafür spezifizierte Subjektposition erwirbt. Dabei gibt es jedoch sprachspezifische Unterschiede: Die Kasusabsorption kann sowohl im Hinblick auf die Anzahl struktureller Kasus, die ein Verb zuweisen kann, als auch im Hinblick auf den kasuszuweisenden Verbtyp parametrisiert sein. So gilt für das Deutsche, dass auch intransitive (unergative) Verben strukturellen Kasus zuweisen können, was die Passivierung dieser Verben im sogenannten unpersönlichen Passiv ermöglicht. 50 In der Relational Grammar wurde hierzu das 1-Advancement-Exclusiveness-Law formuliert, demzufolge nur Verben mit logischem Subjekt-Argument passiviert werden können. 51 Vgl. die Darstellungen in Rooryck (1997) und Polzin (1998). 52 Über die hier vorgestellten Arbeiten hinaus gibt es eine Reihe von generativen Arbeiten zu romanischen Sprachen, die im Abschnitt 3.1.3 vorgestellt werden, da sie sich intensiv mit se/ si im Passiv und in anderen Konstruktionen beschäftigen. 53 Dabei versteht Jaeggli (1986: 591) Absorption genau als Zuweisung der externen Thetarolle -en. <?page no="86"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 86 In Bezug auf implizite Argumente übernimmt Jaeggli (1986: 611 ff.) die Annahme von Chomsky (1981), wonach Passive ohne by-Phrase dennoch „agentivisch“ sind. Evidenz hierfür liefert die Tatsache, dass das Passiv sogenannte purpose-Phrasen 54 erlaubt, mediale Konstruktionen dagegen nicht. Jaeggli schlägt vor, hieran mediale Konstruktionen und Passive ohne by-Phrase zu unterscheiden: die mediale Konstruktion ist nicht agentivisch aufgrund der Tilgung der externen Thetarolle und der Externalisierung der Thema-Thetarolle, während Passive die ihre behalten und dem Passivsuffix zuweisen. Auf den grundlegenden Annahmen von Jaeggli (1986) bauen Baker, Johnson & Roberts (1989) weiter auf, indem sie zusätzlich (und im Gegensatz zu Jaeggli explizit) annehmen, dass -en ein Argument ist, genauer ein argumentales Affix, das in INFL basisgeneriert wird und die externe Thetarolle erhält. Zum Zweck der Kasuszuweisung nehmen sie an, dass -en zum Verb hin „downgrades“, also eine Bewegung nach unten im Strukturbaum macht, die die Autoren aber selbst als problematisch annehmen, vor allem im Hinblick auf Strukturen mit mehreren Auxiliaren. Zu den referentiellen Eigenschaften des Passivarguments, wenn keine by-Phrase vorhanden ist, nehmen Baker et al. (1989: 228 f.) an, dass sie dem arbiträren PRO ähneln, indem beide eine Art Klitikon mit pronominaler Interpretation sind, wobei es sich um arbiträre Pronomina handelt, die nur andere arbiträre Pronomina binden können. Sie finden aber auch einen wichtigen Unterschied: Das arbiträre PRO kann der ersten Person entsprechen, während das Passivargument immer in der dritten Person stehen muss. Baker et al. (1989: 229) belegen ihre Annahme, dass das arbiträre PRO im Gegensatz zum Passivargument eine Anapher der ersten Person Plural binden kann, mit dem folgenden Beispielpaar (vgl. Baker et al. (1989: 229, (36)): (4) a. PRO to shave ourselves is fun. b. *Love letters were written to ourselves. Die Autoren kontrastieren dann das Passivargument in (5) mit dem italienischen si, das mit der ersten Person Plural koreferent sein kann 55 und geben zu, dass sie keine Erklärung für die Beschränkung des Passivarguments (englisches -en) haben: (5) Si invia spesso lettere a noi stessi (Baker et al. (1989: 229, (37)) Baker et al. (1989: 235 f.) kritisieren Jaegglis Ausführungen zum unpersönlichen Passiv als ad hoc-Lösung, da fundamentale Unterschiede zwischen lexikalischen Eigenschaften des Englischen und Deutschen ohne unabhängige Motivation gezogen würden; ferner 54 Diese werden auch als rationale clauses bezeichnet, vgl. Baker, Johnson und Roberts (1989: 221), die in ihrem Beispiel (7a) This bureaucrat was bribed [PRO to avoid the draft], das mit (7b) *This bureaucrat bribes easily to avoid the draft kontrastiert, unterschiedliche Kontrolleigenschaften von Passivkonstruktionen (7a) und medialen Konstruktionen (7b) belegen. Vgl. auch Kalluli (2006), deren minimalistischer Ansatz weiter unten vorgestellt wird. 55 Dies erfolgt ohne Bezug auf die grundlegende Arbeit von Cinque (1988) und andere Arbeiten zu se/ si (vgl. Abschnitt 3.1.3). In diesen Arbeiten wird deutlich, dass das si passivo (sofern zugrundegelegt) anders als das si impersonale Subjekt-Verb-Kongruenz erfordert, die im Beispiel (5) aus Baker et al. fehlt. Vermutlich kontrastieren sie hier unabsichtlich das englische Passivargument mit dem si impersonale. <?page no="87"?> Forschungsstand 87 mache Jaeggli hiermit die „dubiose“ Vorhersage, dass keine Sprache zwei distinkte Passivkonstruktionen aufweisen kann, wovon eine unpersönliches Passiv erlaubt. Der wichtigste Gegenbeleg von Baker et al. ist die Tatsache, dass es Passivkonstruktionen gibt, in denen der Akkusativkasus noch sichtbar an das Verb-Objekt zugewiesen wird (Ukrainisch, nordrussische Dialekte), was aber gerade nicht im Deutschen erfolgt, wie sie mit dem folgenden Beispiel zeigen (Baker et al. (1989: (53)): (6) *Es wird diesen Roman von vielen Studenten gelesen. Baker et al. schließen eine umfangreiche Diskussion an, aus der sich ergibt, dass man entweder die Bedingungen der Kasusabsorption oder aber die mit der Thetarollenzuweisung verbundene Visibilitätsbedingung ändern muss. Sie entscheiden sich für eine Erweiterung der letzteren dahingehend, dass entweder eine Kasuszuweisung oder eine morphologische Markierung vorliegen muss, damit die zu thetamarkierenden Argumente sichtbar für die Zuweisung auf LF bleiben. Sowohl Jaeggli (1986) als auch Baker et al. (1989) beziehen die Unterscheidung zwischen unergativen und unakkusativen Verben insoweit mit ein, als der Passivierungsvorgang mit der Zuweisung der externen Thetarolle verbunden ist und damit vorausgesetzt wird, dass die betreffenden Verben eine solche zuweisen können. Diejenigen, die es nicht können, also bereits passivierte oder aber unakkusative Verben, sind damit automatisch vom Passivierungsvorgang ausgeschlossen. Beide Ansätze machen ansonsten keine weiteren Aussagen über semantische oder aspektuelle Eigenschaften der beteiligten Verben oder des Passivs und sind rein syntaktisch ausgerichtet. Die Semantik des englischen Passivmorphems -en wird von Baker et al. nicht erläutert und die Belege für die stipulierte Beschränkung auf eine nicht weiter erläuterte „syntactic inertness“ zurückgeführt. Zu den grundlegenden Neuerungen in der minimalistischen generativen Theorie gehört u.a. die von Chomsky (1995) eingeführte „light verb“-Phrase, die auf der ursprünglich von Larson (1988) für Doppelobjektkonstruktionen vorgeschlagenen VP-Schale beruht 56 . Die „light verb“-Phrase stellt eine interpretierbare funktionale Kategorie dar, die die nicht-interpretierbaren Agreement-Kategorien ablösen soll. In der Folge wurden dieser neuen funktionalen Kategorie auch relevante Eigenschaften für unergative und unakkusative Verben sowie für Passivkonstruktionen zugeschrieben, wie z.B. im Ansatz von Alexiadou und Anagnostopoulou (2004), der in Kapitel 2.2.2 bereits vorgestellt wurde. Während die Studie von Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) stärker auf die Unakkusativität im Griechischen fokussiert, ist diejenige von Kallulli (2006) mehr auf das Passiv ausgerichtet und sei daher hier kurz vorgestellt. Kalluli (2006) erklärt in ihrem Paper, das sich primär auf Daten aus dem Albanischen stützt, das zwei distinkte Konjugationsparadigmen (Aktiv vs. Nicht-Aktiv) aufweist, die gemeinsamen Eigenschaften von Passiven und Antikausativen, die vermutlich der Grund für ihren unifor- 56 Vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit sowie Schmitz (2006) für einen kurzen Überblick über diese Entwicklung. <?page no="88"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 88 men formalen Ausdruck sind. Genauer argumentiert sie zugunsten der Annahme, dass Passive und Antikausative formal und uniform deriviert werden können unter der Voraussetzung, dass nicht-aktivische (und/ oder unakkusative oder intransitivierende) Morphologie in einer linearen und daher völlig vorhersagbaren Weise in der Syntax operiert, indem das erste Merkmal in einer Prädikatstruktur unterdrückt wird. Folgende Beobachtung ist für Kalluli entscheidend: Während im (erwachsenen) Englisch Passiva by-Phrasen zulassen und Antikausativa from-Phrasen (aber nicht umgekehrt), unterscheiden diejenigen Sprachen, die (zumindest zeitweise) die morphologische Distinktion zwischen Passiva und Antikausativa verschmelzen bzw. nicht unterscheiden (z.B. Albanisch/ Griechisch/ Latein), typischerweise auch nicht zwischen by- und from-Phrasen (oder ihrer Verteilung). Zentrale Thesen von Kalluli (2006: 442 f.) sind: 1. Passiva und Antikausativa entstehen universal aus der Unterdrückung eines Merkmals in ν, das den ontologischen Ereignistyp der verbalen Wurzel kodiert. 2. by- und from-Phrasen referieren nur auf dieses (ontologisch unterschiedliche) unterdrückte Merkmal. 3. Die Unterschiede zwischen erwachsenem und kindlichem Englisch und Sprachen, die nicht zwischen by- und from-Phrasen unterscheiden, sind Unterschieden im Hinblick auf die aspektuelle Kodierung geschuldet. 4. Rationale Sätze (rationale clauses) in Passiva werden durch belebte Partizipanten kontrolliert, die nicht durch nicht-oblique Argumente (implizite oder syntaktisch präsente Argumente, je nach Theorie), sondern durch by-Phrasen realisiert werden, welche ihrerseits overt oder implizit sein können. Die Analyse basiert auf drei zentralen Ideen: Die erste betrifft eine ontologische Distinktion zwischen Wurzeln, die Aktivitäten bezeichnen, und solchen, die kausative Ereignisse bezeichnen, die zweite betrifft die Distinktion zwischen agentivischen und nicht-agentivischen Prädikationen und die dritte die Definition von nicht-aktivischer Morphologie. Kalluli unterscheidet zunächst die beiden ontologischen Primitiva: [act] vs. [cause], wobei sie annimmt, dass aktivische verbale Wurzeln (z.B. build) sich von kausativen Wurzeln (z.B. break) darin unterscheiden, dass erstere ein [+act]-Merkmal und letztere ein [+ cause]-Merkmal in ν projizieren. Ferner analysiert Kalluli nichtaktivische (und andere unakkusative) Morphologie als eine Operation, die linear in der Syntax appliziert, und gibt folgende Definition (die auf ein stärker syntaktisch orientiertes Morphologie-Verständnis hinweist, vgl. Kalluli 2006: 453): (7) Definition of non-active morphology Non-active and/ or reflexive morphology suppresses the first feature in a predicate structure. Kalluli zufolge werden Antikausativa und Passiva dann abgeleitet, wenn nicht-aktivische Morphologie auf nicht-agentivische Kausativa 57 und nicht-agentivische Aktivität ausdrückende Prädikate appliziert, wie in den Strukturbäumen in (8) und (9) illustriert (vgl. Kalluli (2006: 454, (36, 37)): 57 Diese Konzeption zeigt eine wichtige, in der Literatur relativ neue Trennung von Agentivität und Kausation und damit die Möglichkeit, dass ein Ereignis mit einer Verursachung ohne Agens-Argument vorliegen kann (vgl. hierzu auch den Forschungsüberblick von Tenny und Pustejovsky 2000). <?page no="89"?> Forschungsstand 89 (8) Die Struktur von nicht-agentivischen kausativen Prädikationen νP 3 Spec: Causer ν’ 3 <[+cause]> VP break 3 Spec V’ 3 V Compl (9) Die Struktur von nicht-agentivischen activity-Prädikaten νP 3 Spec: Actor ν’ 3 <[+act]> VP build 3 Spec V’ 3 V Compl In (7) wurde nicht-aktivische Morphologie als Operation definiert, die das erste Merkmal in einer Prädikatstruktur unterdrückt. Dies sind [+cause] in (8) und [+act] in (9). Die Folge ist, dass kein Verursacher- oder Aktor-Argument in SpecvP verkettet werden kann, d.h. die Operation der nicht-aktivischen Morphologie zielt auf grundlegend einstellige Strukturen. Aus der Unterdrückung des Merkmals [+cause] entsteht dann die Antikausativ-Struktur und aus derjenigen von [+act] die Passivstruktur. Wichtig ist hier anzumerken, dass anders als [+cause] das Merkmal [+act] einen Aktor impliziert und damit Belebtheit. Da im Passiv dieses Merkmal durch die passivische Morphologie in der Syntax unterdrückt wird, kann kein Aktor in SpecvP eingefügt werden, wohl aber oblique durch eine (by-)Phrase, wie es der Verursacher im Antikausativ (durch eine from-Phrase) kann. Die beiden Präpositionalphrasen referieren also auf die syntaktisch unterdrückten Aktoren/ Verursacher. Anders als die Passiv-Analysen im Government-and-Binding-Modell integriert der Ansatz von Kalluli (2006) ereignissemantische Aspekte in Form von Merkmalen in der LF-interpretierbaren funktionalen Kategorie vP, unterscheidet sich aber von den in Kapitel 2.2.2 vorgestellten Ansätzen, nicht zuletzt durch die Fokussierung auf das Passiv und die Unterscheidung der Merkmale [cause] und [act] von den dort zugrunde gelegten Annahmen. <?page no="90"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 90 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die in 3.1.1 diskutierten Ansätze trotz unterschiedlicher Fokussierung auf besondere Passiveigenschaften (sprachübergreifende Realisierung, Funktionen, semantische und morphosyntaktische Aspekte) keine Eigenschaft gänzlich auslassen. Was die generative Theorie betrifft, so bietet gerade die neuere Konzeption mehr Möglichkeiten, aspektuelle Eigenschaften über Merkmale (möglicherweise auch als funktionale Kategorien syntaktisch kodiert) zu integrieren. 3.1.2 Passivische Bedeutung und passivische Form Dieser Abschnitt des Forschungsstands widmet sich der Problematik des sogenannten „unpersönlichen Passivs“, das passivische Form besitzt, jedoch - wie in den nachfolgend präsentierten Arbeiten argumentiert wird - keine passivische Bedeutung ausdrückt. Blevins (2003) übt Kritik an der Verwendung des Begriffs „Passiv“ für eine Klasse von unpersönlichen Konstruktionen, in denen das syntaktische Subjekt unterdrückt wird, und nimmt eine neue Klassifikation vor, um den typologischen Kontrast zwischen zwei Typen von verbaler Diathesis zu verdeutlichen und zu einer Klärung des Status von putativen „Passiven von Unakkusativen“ und „transitiven Passiven“ zu gelangen. Dabei bilden Daten aus dem Balto-Finnischen und Balto-Slawischen die empirische Grundlage. Blevins bezieht sich jedoch auch kurz auf das Deutsche und auf romanische Sprachen. Nach Blevins unterscheiden sich unpersönliche Verbformen von Passiven in zwei wichtigen Punkten: a) sie sind nicht sensitiv für die Argumentstruktur eines Verbs und können sowohl von unergativen als auch von unakkusativen Verben gebildet werden, b) außerdem können sie direkte Objekte haben. Genau wie bei anderen subjektlosen Formen von persönlichen Verben gibt es die Tendenz, das unterdrückte Subjekt eines unpersönlichen Verbs als indefiniten humanen Agens zu interpretieren, so dass Unpersönlichkeit häufig nur für solche Verben angemessen ist, die humane Subjekte selegieren. Blevins (2003: 475) sieht den Schlüsselkontrast nicht in lexikalischen vs. syntaktischen Betrachtungen von Valenzalternationen, sondern in valenzreduzierenden gegenüber valenzerhaltenden Prozessen: Während die Passivierung ein Verb durch Tilgung seines logischen Subjekts detransitiviert 58 , bewahrt die Impersonalisierung die Transitivität und blockiert nur die syntaktische Realisierung eines Oberflächensubjekts. Die Argumentstruktur eines passivischen Verbs enthält also ein „term argument“ weniger als die eines aktivischen Verbs, während ein impersonalisiertes Verb die gleiche Anzahl an „terms“ wie die entsprechende persönliche Form behält. Diese Unterscheidung zwischen Tilgung bzw. Unterdrückung eines Oberflächensubjekts wird zu einem gewissen Grad bei intransitiven Verben maskiert, da das Ergebnis in jedem Fall Subjektlosigkeit ist. Bei transitiven Verben hingegen ist der Unterschied zwischen den beiden Operationen ersichtlich: Die Passivierung eines zugrundeliegend transitiven Verbs ergibt ein abgeleitetes intransitives Verb, dessen Oberflächensubjekt dem Objekt des transitiven entspricht. Impersonalisierung dagegen definiert immer eine subjektlose 58 Deutlich expliziter als Abraham vertritt Blevins die Auffassung von Passiv als Detransitivierungsprozess. <?page no="91"?> Forschungsstand 91 Form, unabhängig von der Argumentstruktur des Inputs. Daher behalten unpersönliche Formen von transitiven Verben grammatische Objekte. Der Unterschied zwischen Tilgung und Unterdrückung kommt nach Blevins auch anderweitig zum Vorschein: Das unterdrückte Subjekt einer unpersönlichen Konstruktion kann manchmal als Antezedens eines reflexiven Pronomens dienen, während das getilgte Subjekt eines Passivs das nie kann. Unpersönliche Konstruktionen tendieren auch dazu, eine aktivische Interpretation zu behalten, die mit einem indefiniten, humanen Agens assoziiert ist. Eine ähnliche Interpretation wird häufig mit subjektlosen Passiven sowie mit subjektlosen 3. Person Plural-Formen in vielen Sprachen verbunden. Wo also ein humaner Agens impliziert wird, reflektiert dies nicht ein grammatisches Merkmal von unpersönlichen Konstruktionen, sondern vielmehr eine Default- Interpretation, die einer subjektlosen Form von persönlichen Verben zugewiesen wird. Die Tatsache, dass Passivierung auf logische Subjekte abzielt, hindert sie daran, auf unakkusative Verben anwendbar zu sein, aufgrund der üblichen Annahme, dass das Oberflächensubjekt eines unakkusativen Verbs nicht einem „tiefen“ oder „logischen“ Subjekt entspricht. Blevins’ (2003: 502 f.) Betrachtung von Passivkonstruktionen in den romanischen Sprachen steht im Zusammenhang mit einem Überblick über sogenannte „reflexive passives“, wobei sich wiederum morphosyntaktische Passive und unpersönliche Konstruktionen unterscheiden lassen: In manchen Sprachen sind reflexive Passive genuin passivisch (Russisch), während in anderen die historisch reflexiven Konstruktionen sich zu unpersönlichen Konstruktionen weiterentwickelt haben (z.B. Italienisch): si-Konstruktionen illustrieren nach Blevins klar einen Typ von reflexiven unpersönlichen Konstruktionen, wie sie in romanischen Sprachen vorkommen. Auf die romanischen Konstruktionen mit se/ si wird in Abschnitt 3.1.3 näher eingegangen. Abraham & Leiss (2006) kritisieren die Bezeichnung „unpersönliches Passiv“ ebenfalls, jedoch aus einer eher aspektuellen Perspektive, die nicht den Begriff an sich in Frage stellt, und stellen die folgenden drei Hauptthesen auf, die überwiegend am Deutschen belegt werden: 1. Das unpersönliche Passiv ist eng mit der imperfektiven Aspektualität verbunden. Unpersönliche Passive können nur aus imperfektiven Prädikationen gebildet werden. Hierin stellt das unpersönliche Passiv das Gegenstück zum Zustandspassiv dar, das auf perfektive Verben beschränkt ist. 2. Es gibt keine Bi-Implikation zwischen unpersönlichen Passiven und Imperfek-ten: nicht alle imperfektivischen Passive sind unpersönliche Passive, während alle unpersönlichen Passive imperfektivische Konstruktionen sind. 3. Zweifellos involviert das unpersönliche Passiv nicht passivische Semantik die Bezeichnung „unpersönliches Passiv“ ist eine Fehlbenennung insofern, als es sich nicht um ein echtes Passiv handelt. Es ist nicht „unpersönlich“, sondern „persönlicher“ als das persönliche Passiv: Unpersönliche Passive werden immer von ein- <?page no="92"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 92 stelligen Argumenten gebildet, in denen das degradierte Subjekt 59 dieser Konstruktionen die Merkmale [+Agens], [+human] trägt. Hierin folgt dieser Beitrag direkt Abraham (2006a, b), wobei die Verbindung darin besteht, dass für eine Konstruktion, die ein richtiges Passiv ist, der semantische Transitivitäts-transfer von einem Agens/ Aktor zu einem Patiens/ Undergoer erfolgen muss. Diese Bedingungen schließen das unpersönliche Passiv von richtiger Passivierung aus - dies wird unterstützt durch nicht-passivische Übersetzungsäquivalente in anderen Sprachen (z.B. Englisch). Nach Abraham und Leiss (2006: 503) wurde bislang übersehen, dass unpersönliche Passive ausschließlich von imperfektiven Prädikaten abgeleitet werden. Was durch den Begriff jedoch impliziert wird, ist, dass unpersönliche Passive von intransitiven Verben oder intransitiv verwendeten Prädikaten deriviert werden. Jedoch zeigen die Autoren, dass das Intransitivitätskriterium nicht ausreichend ist, um zu bestimmen, in welchem Ausmaß intransitive Verben die Derivation unpersönlicher Passive erlauben. Die folgenden Beispiele verdeutlichen, dass perfektive Verben (10 a-c) hier vermieden werden (Markierung „? ? “ von Abraham und Leiss (2006: (1-2)) (10) a. ? ? Es wurde ausgetanzt. b. ? ? Es wurde ausgerechnet. c. ? ? Es wurde untergetaucht. d. Es wurde getanzt. e. Es wurde gerechnet. f. Es wurde getaucht. Sofern perfektive Verben möglich sind, gilt eine iterative Interpretation (es wurde immer wieder untergetaucht als mögliche Lesart von 10c), und konstruktionelle Imperfektivität (also unpersönliche Passivierung) überschreibt lexikalische Perfektivität. Hingegen sind die Konstruktionen mit imperfektiven Verben in (10 d-f) akzeptiert; ihre englischen Übersetzungsäquivalente „there was V-ing“ machen die Imperfektivität deutlich. Weitere Belege sind die Inkompatibilität der imperfektiven Qualität mit perfektivischen Adverbien, wie z.B. in *Es wurde in einer Stunde (fertig) gelaufen (vgl. Abraham und Leiss (2006: (3a)). Es wird gezeigt, dass die unpersönliche Passivkonstruktion zwar primär intransitive imperfektivische Verben selegiert, aber auch transitive Verben kompatibel sind wie z.B. in Es wird eifrig Treppen hochgestiegen (vgl. Abraham und Leiss (2006: 5a)). Während also Intransitivität nur eine Tendenz ist, argumentieren die Autoren für die essentielle Notwendigkeit des aspektuellen Kriteriums, die im Deutschen zu einer klaren Distribution führt: Nur das (adjektivische) Zustandspassiv ist auf perfektivische Verben beschränkt, während das (dynamische) Vorgangspassiv hier neutral ist. Die aspektuelle Beschränkung des unpersönlichen Passivs auf imperfektivische Verben macht dieses zum Gegenstück des Zustandspassivs. 59 Vgl. hierzu auch die Kommentare zu Abrahams Ausführungen in Kapitel 3.1.1 - offensichtlich ist Abraham in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass das Subjekt des unpersönlichen Passivs nicht getilgt wird. <?page no="93"?> Forschungsstand 93 Die Autoren (2006: 513) stellen Überlegungen zur sprachübergreifenden Entstehung und Verfügbarkeit einer unpersönlichen Passivkonstruktion an. Sie kommen zu dem Schluss, dass allem Anschein nach die Antwort auf die Frage, ob die periphrastische Passivform die Erweiterung auf die Verlaufseigenschaft im Passiv erlaubt, fundamental von der Verfügbarkeit eines Auxiliars mit einer inchoativen/ fientiven Bedeutung „werden“ abhängt, wobei sie den Begriff „fientiv“ selbst nicht genauer erklären. 60 Sofern eine Sprache keine derartige fientive Form vorsieht, kann kein unpersönliches Passiv gebildet werden. Die Ausführungen zu den Passivkonstruktionen in den synchronen Sprachständen in Kapitel 3.2 zeigen, dass sich die romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch im Hinblick auf die Verfügbarkeit eines solchen inchoativen Auxiliars unterscheiden: Während im Italienischen venire regelmäßig für die Bildung eines unambigen Vorgangspassivs verwendet wird, ist dies im Spanischen mit venir zwar möglich, aber sehr selten belegt und für das Französische nicht belegt. Nach Abraham und Leiss (2006: 513 f.) trägt die Form der Diathese das Merkmal des durativen Vorgangs, die durch zwei Komponenten der periphrastischen Konstruktion eingebracht wird: zum einen durch das fientive Auxiliar werden, zum anderen durch das durative Präteritum-Partizip. Im Hinblick auf unakkusative Verben nehmen Abraham und Leiss (2006: 514, (22d)) an, dass sie intransitive perfektive Verben sind, bei denen das unpersönliche Passiv zu einer Detransitivierungshierarchie führt: (11) Detransitivierungshierarchie nach Abraham und Leiss (2006: (22d)) (i) Detransitivierung von zweiwertigen perfektivischen Verben erzielt einwertige perfektivische Passive; dies ist die identische Derivation auf lexikalischer Ebene zu deutschen unakkusativen Verben; (ii) Es ist keine Detransitivierung von (perfektiven) unakkusativen Verben möglich, da diese bereits durch einen identischen Prozess von Theta-Reduzierung deriviert wurden. Deutsche unakkusative/ ergative Verben bezeichnen die inkrementelle Phase von intransitiven Resultativen und implizieren daher einen resultierenden Zustand; (iii) Das deutsche unpersönliche Passiv ist die Valenzreduktion eines einwertigen intransitiven Verbs und beschränkt auf imperfektive Verben, es erlaubt daher keine Zustands-Passivierung. Die Aussagen in (11), vor allem (11i, iii), machen erneut deutlich, dass Abraham und Leiss Passivierung, unabhängig vom genauen Typ (persönlich/ unpersönlich) doch als Detransitivierung ansehen, was bereits andeutungsweise in den vorangegangenen Darstellungen der Arbeiten von Abraham (2006a,b) deutlich wurde und für die vorliegende Arbeit nicht übernommen wird. Im Folgenden wird nun der Begriff „fientive“ Lesart anhand der Studien von Michaelis (1998) sowie Cennamo (2005, 2006) erläutert und damit auch eine kurze Einführung in 60 Dies wird weiter unten im Zusammenhang mit den diachronisch arbeitenden Studien von Michaelis (1998) und Cennamo (2005, 2006) nachgeholt, die für die vorliegende Arbeit sehr interessant sind, da sie die Entwicklung der romanischen, insbesondere italienischen, Passivauxiliare untersuchen. <?page no="94"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 94 einige diachrone Aspekte der Passivbildung in den romanischen Sprachen gegeben (vgl. hierzu aber mehr in Kapitel 4). Beide Studien sind typologisch orientierte Analysen im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie, wonach Sprachwandelprozesse allmählich und mit Überlappungen (und damit verbundenen Ambiguitäten) ablaufen (vgl. Kapitel 1.2.3). Sie unterscheiden sich in Details der Darstellung des Prozesses. Michaelis (1998) zeigt, wie sich im Italienischen Konstruktionen mit fieri, venire und dem Pronomen se über ein und dieselbe Scharnierstelle, nämlich das sogenannte Antikausativ, zu Passivkonstruktionen entwickelt haben. Im Altitalienischen gab es drei Passivkonstruktionen: (i) mit fieri, (ii) mit venire, (iii) mit se. Typische Beispiele hierfür sind die folgenden (vgl. Michaelis (1998: (1-3)): (12) a. Ki no vol fir enteso, è mato s’el favela. (Patecchio, 13 Jh., Cremona, zit. nach Kontzi 1958: 28; Hervorhebung von Michaelis) ‘Wer nicht gehört werden will, ist närrisch, wenn er spricht’ b. ...Marco Çen, lo qual ven clamao Camano (13. Jh., altvenezianisch, zit. nach Stussi 1956: 10; Hervorhebung von Michaelis) ‚... Marco Çen, der Camano genannt wird’ c. Cavaliere, verrete allo palagio e per me si faràe quello che si potràe fare. (Tav. Rit. L1, 188, zit. nach Kontzi 1958: 71) ‚Ritter, ihr werdet zum Palast kommen, und von mir wird getan werden, was getan werden kann’ Fieri konnte im Vulgärlateinischen die Bedeutungen „entstehen“ und „gemacht werden“ haben. Weiterhin konnte fieri im klassischen Latein in Kombination mit einem Adjektiv „werden“ bedeuten, dies jedoch nur in Bezug auf unbelebte Entitäten. Fieri dynamisiert hier einen Zustand, z.B. rot sein -> rot werden. Nach Michaelis (1998: 73) lassen sich nun Verben, die den Beginn eines Zustands oder vielmehr den Übergang in einen neuen Zustand ausdrücken, als „Fientive“ bezeichnen. Diese werden vor allem von Adjektiven abgeleitet wie z.B. blass -> erblassen und vetus -> veterescere. Das zentrale Konzept bei Michaelis (1998: 71) ist das des Antikausativs. 61 Zur Definition nimmt sie eine Abgrenzung zwischen transitiver (13a) und antikausativer (13b) Struktur vor, zusammen mit einer lexikalischen Dekomposition: (13) a. Cecilia ha rotto lo specchio CAUSE (Cecilia, (BECOME rotto (specchio))) b. Lo specchio si è rotto (BECOME rotto (specchio)) 61 Michaelis selbst bezeichnet diesen Begriff als in der typologischen Literatur häufig verwendet; alternative Begriffe sind „deagentiv“, „dekausativ“ oder „spontan“ (u.a. bei Shibatani 1985); in der traditionellen Grammatik fällt diese Konstruktion in den (vagen) Bereich des Mediums. Vgl. auch die vorigen Abschnitte des Forschungsstands zum Passiv sowie Kapitel 4 zu diachronen Studien, die den Zusammenhang zwischen Passiv und Medium für das Lateinische genauer und als weit enger darstellen als von Michaelis. <?page no="95"?> Forschungsstand 95 In (13b) findet Valenzreduktion statt, indem der Kausator aus der Struktur herausgenommen wurde, wobei Michaelis nicht weiter spezifiziert, auf welcher Ebene dies geschieht. Der Hinweis auf die lexikalische Dekomposition lässt jedoch vermuten, dass dies bereits auf semantischer Ebene erfolgt. Die fientive Lesart von fieri ist nun nach Michaelis (1998: 75) insofern die Voraussetzung für seine Funktion als Antikausativmarker, als von Adjektiven ausgehend auch verbale Elemente mit fieri verbunden werden, nämlich Partizipien. Diese Entwicklung bezog zunächst nur eine bestimmte Gruppe von Verblexemen ein, nämlich solche, die eine transformative Aktionsart ausdrücken, d.h. dass etwas von einem Zustand in einen neuen übergeht, und zusätzlich mussten diese Prozesse als spontan ablaufend vorstellbar sein. Bei der Weiterentwicklung zum Passiv wurde das Muster dann generalisiert, d.h. semantische Beschränkungen aufgehoben. Im Hinblick auf venire gilt nach Michaelis (1998: 76) ebenfalls die Entwicklung über die Zwischenstufe des Antikausativ zum Passivauxiliar. Anders als fieri hatte venire schon im klassischen Latein eine stärkere Affinität zu Auxiliaren und der Lesart als Fientiv-Kopula „werden“, zudem ist es ein Bewegungsverb. Zusammenfassend findet nach Michaelis (1998) die folgende Entwicklung des Passivs im Italienischen statt: (14) Entwicklung der passivischen Auxiliare im Italienischen nach Michaelis (1998) fieri Fientiv Antikausativ Passiv venire Reflexiv Nach Cennamo (2005: 191) erfolgt der Aufstieg der Verbalperiphrasen fieri/ venire/ devenire + pp in 3 Schritten, die teilweise etwas anders beschrieben werden als bei Michaelis: (15) Entwicklung der passivischen Auxiliare im Italienischen nach Cennamo (2005) (a) eine Phase, in der fieri, venire und devenire äquivalent zur Kopula esse werden, (b) ein Wandel in der Natur des Verb-Komplements (NP/ AP/ (PP)) > adjektivisch/ verbales Partizip, mit der nachfolgenden Restrukturierung der Konstruktion, die monoklausal wird, (c) ein Wandel in den aspektuellen Klassen der Verben, die in der partizipialen Form auftreten, von kausativen accomplishments/ achievements zu aktiven accomplishments und activities. Phase (a) wird in den frühen Phasen des Grammatikalisierungsprozesses attestiert, wenn die Verben üblicherweise in ihrer vollen lexikalischen Bedeutung verwendet werden. Tatsächlich kann nach Cennamo die Auxiliarisierung von fieri, venire und devenire als ein Fall von „Kopula-Extension“ betrachtet werden, in der eine neue grammatische Funktion zu einem bereits bestehenden grammatikalischen Element, der Kopula, hin- <?page no="96"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 96 zutritt. Phase (b) repräsentiert mögliche Zwischenstadien. Phase (c) tritt in der finalen Phase des Grammatikalisierungsprozesses auf und kann als Auslöser der Passiv- Auxiliar-Funktion gesehen werden, die diese Verben erworben haben. Sie ist für fieri und venire, aber nicht für devenire attestiert. Cennamo (2005: 192) bestätigt zwar die von Michaelis vorgeschlagene Wandelsequenz für die Grammatikalisierung von fieri, aber nicht für die von venire, dessen fientive Verwendung nicht attestiert sei (während die antikausative Funktion von venire schon im klassischen Latein auftritt). Für das Verb devenire ist nach Cennamo (2005: 192) die fientive und antikausative Funktion in Texten derselben Zeit belegt. Daher gibt es nach Cennamo keine Evidenz dafür, dass sich die antikausative Funktion dieser Muster aus ihrer fientiven Verwendung entwickelte. Nach Cennamo liegt der Startpunkt der Auxiliarisierung dieser Verben vielmehr in ihrer Äquivalenz zur Kopula esse, d.h. ihrer Verwendung als reine Tempus-Aspekt-Marker. Diese Phase ist nach Cennamo für alle drei untersuchten Verben attestiert. Auf die Passivauxiliare wird in Kapitel 4.4 genauer eingegangen. 3.1.3 Passivische und andere romanische se/ si -Konstruktionen Die Abgrenzung passivischer Konstruktionen mit dem klitischen Pronomen se/ si von anderen Konstruktionen mit se/ si in den romanischen Sprachen war und ist ein wichtiger Gegenstand der Forschung. Dabei lassen sich zwei grundlegende Positionen ausmachen: a) unterschiedliche Typen von se/ si (v.a. reflexives/ reziprokes, mediales, passivisches und unpersönliches se/ si) als Primitiva anzunehmen und b) zu versuchen, die unterschiedlichen Typen auf eine geringere Zahl oder gar auf ein einziges Pronomen zurückzuführen. Die erste Position wird u.a. von Campos (1989) und Oesterreicher (1992) für das Spanische und Salvi (1988) und Remberger (2006) 62 für das Italienische eingenommen. Salvi (1988: 101) vertritt die Auffassung, dass die reflexiven Pronomina verschiedene Verwendungen haben, wobei sich eine originale, also reflexive, sowie verschiedene abgeleitete unterscheiden lassen. In der eigentlichen Verwendung kann das reflexive Pronomen eine reflexive oder eine reziproke Interpretation erhalten. In den von Salvi als deriviert bezeichneten Verwendungen repräsentiert das Reflexivpronomen hingegen kein Argument des Verbs und kann nur als klitisches, niemals als freies Pronomen auftreten. Ein Teil dieser Verwendungen ist lexikalisiert, d.h. das reflexive Pronomen tritt obligatorisch mit bestimmten Verben auf. Dies ist laut Salvi der Fall der intransitiven Variante eines Teils der ergativen Verben (z.B. capovolgersi) und aller inhärent reflexiven Verben (z.B. pentirsi). 63 Hier weist Salvi noch darauf hin, dass im Fall der ergativen Verben das reflexive Pronomen ein einfaches Zeichen für die Intransitivität des Verbs gegenüber der transitiven Variante ist; für die inhärent 62 Da Rembergers Arbeit sich vorrangig mit den Hilfsverben des Italienischen und Sardischen beschäftigt, die für eine syntaktische Analyse der beobachteten Wandelprozesse relevant sind, wird diese Arbeit in Kapitel 6.1 vorgestellt. 63 In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Salvi ergative Verben in transitive und intransitive Untergruppen einzuteilen scheint. <?page no="97"?> Forschungsstand 97 reflexiven Verben merkt er an, dass das reflexive Pronomen hier keine besondere Bedeutung beiträgt. Die nicht-lexikalisierten derivierten Verwendungen des reflexiven Pronomens, die somit einer syntaktischen Konstruktion entsprechen, sind die des si impersonale und des si passivo, die Salvi genau betrachtet. Für das si impersonale gilt nach Salvi (1988: 101 f.), dass das Klitikon si als indefinites Subjekt vor jedem Verb, das ein Subjekt zulässt, verwendet werden kann. Hier ist nur die Form der dritten Person Singular möglich. Die Position des Subjekts kann in einem Satz mit si impersonale nicht von einem anderen Subjekt besetzt werden. Das si impersonale (und auch si passivo) ist vom syntaktischen Blickpunkt her eine andere Sache als das reflexive Pronomen - Salvi (1988: 102) führt die folgenden wichtigen Unterschiede auf: 1. Während mit passivischen Verben keine reflexiven oder reziproken Pronomina stehen können, ist dies beim si impersonale möglich, auch als Subjekt eines passivischen Satzes: Si viene spesso dimenticati. (= „uno viene spesso dimenticato”, vgl. Salvi 1988: (578)). 2. Wenn das Objekt-Komplement eines transitiven Verbs von einem klitischen Pronomen dargestellt wird (hier lo), geht dies dem si impersonale voran (lo si), aber folgt dem reflexiven si (se lo): Lo si spia da molto. / Se lo imaggina. (vgl. Salvi 1988: (579-580)) 64 . Das si passivo definiert Salvi im Zusammenhang mit dem si impersonale: Wenn in einer Konstruktion mit si impersonale ein transitives Verb mit seinem Objekt steht (16a), gibt es eine Variante, in der das Objekt Subjekt des Verbs wird und somit mit diesem kongruiert. Das neue Subjekt kann sich vor oder hinter dem Verb befinden (16b), vgl. Salvi (1988: 581-582)): (16) a. Si mangia le mele. (le mele = Objekt) b. Si mangiano le mele. / Le mele si mangiano (le mele = Subjekt) Diese Variante, die Salvi als si passivo bezeichnet, ist in vielen Varietäten des Italienischen obligatorisch, wenn das Objekt kein klitisches Pronomen ist; in anderen Varietäten, insbesondere den toskanischen, ist sie fakultativ - mit anderen Worten ist (16a) nur für einen Teil der Italophonen akzeptabel, während (16b) von allen akzeptiert werden kann. Wenn das Objekt hingegen ein klitisches Pronomen ist, akzeptieren alle Italophonen beide Varianten, d.h. diejenige mit Objekt (17a) und diejenige mit Subjekt (17b), vgl. Salvi 1988: (583-584)): (17) a. Le si mangia. b. Esse/ Ø si mangiano. Salvi (1988: 103) zufolge kann das si impersonale als echtes Subjekt des Satzes, in dem es vorkommt, betrachtet werden, während in der Konstruktion mit si passivo das si als einfaches Zeichen der Passivität des Verbs betrachtet werden muss. 64 Vgl. Lepschy (1984) für einen Vergleich zwischen dem Standard-Italienischen und dem Venezianischen, indem es deutliche Variation hinsichtlich der genannten Abfolgen gibt. <?page no="98"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 98 Da die detaillierte Gegenüberstellung von si impersonale und si passivo für die Beschreibung der Eigenschaften des synthetischen Passivs mit si passivo unerlässlich ist, wird sie in Kapitel 3.2.2 vorgestellt. Auch Campos (1989) charakterisiert und unterscheidet zunächst das unpersönliche und das passivische se. Dabei wird das unpersönliche se als Klitikon analysiert, das das Merkmal [+ definit] in INFL absorbiert. Das passivische se hingegen absorbiert die Subjekt-Thetarolle sowie den Kasus, der dem Objekt zugewiesen wird. Danach wird noch ein weiteres se einführt, das „unpersönlich passivische se“, das in Konstruktionen wie En mi país se trabaja los sabados (Campos (1989: (11)) auftritt und im Präsens ambig zwischen einer aktivischen unpersönlichen und einer passivischen unpersönlichen Lesart ist, während in der Vergangenheit nur die letztere zur Verfügung steht. Aus diesem Grund postuliert Campos (1989) dieses als „se+“ bezeichnete Klitikon als eigenen Typ, der wie das passivische se die Subjekt-Thetarolle absorbiert, was hier aber erst nach der Kasuszuweisung in der Syntax geschieht und nicht schon im Lexikon. Campos unterscheidet ferner das passivische se vom morphologischen (oder periphrastischen) Passiv: Bei letzterem wird die externe Thetarolle im Lexikon von der passivischen Morphologie absorbiert. Oesterreicher (1992) plädiert für die Unterscheidung von drei grundlegenden Funktionen der Konstruktionen mit se im Spanischen: (echte) Reflexivität, lexikalische Pseudoreflexivität und grammatische Pseudoreflexivität. Die letzten beiden Kategorien haben gemeinsam, dass hier kein pronominaler Rückbezug vorliegt. Bei der lexikalischen Pseudoreflexivität hat se dafür semantische Funktionen (u.a. Ausdruck von Intensität, Insistenz, inchoativem und durativem Aspekt), wie z.B. das sogenannte aspektuelle se in marchar - marcharse. 65 Hier ist das se laut Oesterreicher (1992: 246) als Teil eines komplexen Lexems zu verstehen. Bei der grammatischen Pseudoreflexivität kommen das Passiv und damit diathetische Gesichtspunkte ins Spiel, da es hier - anders als bei der lexikalischen Pseudoreflexivität - immer um eine Änderung der Aktantenrollen-Gewichtung 66 geht: Durch die Unterdrückung eines Aktanten mit syntaktischen Mitteln wird die syntaktische Valenz des verwendeten Verbs verändert. In diesen Bereich fallen nach Oesterreicher (1992: 247) a) mediale Konstruktionen (ohne Beteiligung des Agens, z.B. in La cuerda se rompe), b) das Reflexivpassiv (ein vorausgesetzter, auch mitverstandener Agens kann nicht realisiert werden wie z.B. in Se firmó la paz 67 ) und c) das unpersönliche Reflexivum (ein unbestimmter, personenhafter Agens wird mitverstanden, aber kann nicht realisiert werden wie z.B. in Se habla alemán). 65 Vgl. zum aspektuellen se-Typ auch die Studie von Nishida (1994), die die Funktion von se in transitiven Prädikaten als Telizitätsmarker herausarbeitet. Sie beschäftigt sich jedoch nicht mit dem passivischen se und wird nicht ausführlicher vorgestellt. 66 Oesterreicher arbeitet im Rahmen der Valenztheorie. 67 Hierzu führt Oesterreicher (1992: 251) selbst allerdings einige Gegenbelege an, in denen doch ein präpositional eingeführter Agens verwendet werden kann und damit ein Problem für die Annahmen hinsichtlich der Aktantenreduktion auftritt. So ist u.a. folgendes Beispiel möglich: Las pirámides se edificaron por los esclavos. <?page no="99"?> Forschungsstand 99 Fasst man die vorgestellten Arbeiten zur ersten Position zusammen, so fällt auf, dass - anders als in den Arbeiten in Abschnitt 3.1.2 - das Konzept des „unpersönlichen“ Passivs nicht in Frage gestellt wird. Die vorgestellten Arbeiten, obwohl aus unterschiedlichen Perspektiven und theoretischen Ausrichtungen geschrieben, nehmen keine grundlegende Trennung von passivischer Bedeutung und Form vor. Die zweite Position wird für das Spanische von Castaño (1999) und Mendikoetxea (2000b), für das Spanische und Französische von Dobrovie-Sorin (1998) sowie Bruhn de Garavito, Heap und Lamarche (2002), für das Italienische von Manzini (1986) und - sehr eingeschränkt - von Cinque (1988), für das Französische allein von Wehrli (1986) vertreten. Diese Ansätze unterscheiden sich trotz ihrer gemeinsamen grammatiktheoretischen (generativen) Ausrichtung deutlich voneinander im Hinblick auf den Grad der Unifizierung und die zugrundegelegten Annahmen. Manzini (1986) und Wehrli (1986) nehmen an, dass se/ si ein Argument oder den Kasus eines Verbs absorbiert, so dass die syntaktische Realisierung einer NP blockiert wird. Nach Manzini haben alle si im Italienischen gemeinsam, dass sie mit der Subjekt-NP koindiziert und demnach nominativisch sind (so die Kritik von Dobrovie-Sorin (1998), deren Ansatz weiter unten ausgeführt wird). Wehrli (1986) reduziert die Verwendungen von se im Französischen auf eine einzige Regel „Se absorbiert ein Argument“, wobei genauer gilt, dass das reflexive/ reziproke se und das inhärente se ein internes Argument absorbieren, während das mediale se und das ergative se ein externes Argument absorbieren. Wie Manzini (1986) geht auch Cinque (1988) in seinem für die ganze Diskussion zentralen Ansatz davon aus, dass das si impersonale ein nominativisches Pronomen im Italienischen ist. Aufgrund von Verwendungsbeschränkungen in finiten und infiniten Sätzen mit spezifischer Zeitreferenz postuliert Cinque zwei unterschiedliche Verwendungen dieses si-Typs, eine argumentale [+arg] und eine nicht-argumentale [-arg]. Die jeweiligen Lesarten werden im Rahmen einer generelleren Theorie von Arbitrarität verankert. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch festzuhalten, dass auch Cinque (1988) weiterhin mehrere grundlegend verschiedene si-Typen, darunter das passivische si, beibehält und insofern keine vollständige Unifizierung anstrebt 68 . So unterscheidet er die folgenden drei si-Typen und Untertypen (vgl. Cinque (1988: (139)): 68 Cinque (1988: 521) selbst hält fest, dass sein Ansatz lediglich grundsätzlich mit unifizierenden Ansätzen kompatibel sei. <?page no="100"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 100 (18) a. Impersonal si [+ arg] (absorbs external θ-role and nominative) arb [NP, IP] clitic [arg] (identifies an arb pro in conjunction with personal Agr) b. “passivizer si” 69 ([-arg]) clitic (suspends external θ-role and [NP, IP] accusative case) c. Reflexive clitic: [+arg] (absorbs external θ-role and VP-internal [NP, IP] clitic Case) 70 [-arg] (suspends external θ-role and VPinternal case) (marks the absence of external θ-role and VP-internal case) Cinque bezeichnet das in (18a) vorgestellte argumentale si impersonale verwirrenderweise als „impersonal passive si“, während das passivische si als „middle si“ davon unterschieden wird. Insgesamt bezieht sich die Studie vorrangig auf eine Integration der unterschiedlichen Lesarten von si impersonale. Einen deutlichen Schritt weiter hin zu einer Unifizierung aller se/ si geht der Ansatz von Dobrovie-Sorin (1998), die versucht, alle se-Typen in den romanischen Sprachen ausgehend von den Besonderheiten des Rumänischen und Französischen zu integrieren, wobei eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Cinque erfolgt. Während alle romanischen Sprachen über ein anaphorisches reflexiv/ reziprokes und akkusativmarkiertes Klitikon se/ si verfügen, haben nicht alle auch ein nominatives Subjekt-se, z.B. nicht das Rumänische und das Französische (wo se als on übersetzt werden würde). Im Rumänischen muss nach Dobrovie-Sorin (1998: 399) se doarme so ähnlich wie im Deutschen „es schläft sich (gut)“ mit einem medial-passivischen se und nicht wie das italienische si dorme „man schläft“ analysiert werden. Aufgrund der Hypothese für das Rumänische betrachtet Dobrovie-Sorin (1998) das Italienische, das sowohl nominativisches si als auch medial-passivisches si aufweist und somit für die Kombination von si mit unergativen Verben zwei mögliche Analysen, also eine strukturelle Ambiguität aufweist. Diese Vorhersage sowie die Tatsache, dass nominativisches si in italienischen infiniten Sätzen ungrammatisch ist (vgl. Cinque 1988), veranlassen Dobrovie-Sorin (1998) nun anzunehmen, dass Sequenzen von „si + unergatives Verb“ nur als medialpassivisches si zu analysieren sind und das von Cinque postulierte si impersonale [+arg] nur eine Instanz des medial-passivischen si mit Akkusativkasus ist. 69 Dieses si bezeichnet Cinque (1988: 575) gleichzeitig als „middle si“. 70 Diesen Untertyp bezeichnet Cinque (1988: 575) als echt reflexiv, während die beiden [-arg]-Untertypen als ergativ reflexiv bzw. inhärent reflexiv klassifiziert werden. <?page no="101"?> Forschungsstand 101 Dobrovie-Sorin (1998) bezieht hier alle se/ si, auch das passivische, in eine unifizierende Analyse mit ein, in der zunächst als Gemeinsamkeit festgehalten wird, dass alle se Objektklitika mit Akkusativkasus und anaphorisch sind (Dobrovie-Sorin 1998: 400), also kein intrinsisches Merkmal „reflexiv“ oder „passivisch“ haben. Gemeinsamkeiten der se-Typen spiegeln sich in der Syntax wider, genauer in den Bindungseigenschaften, wobei Dobrovie-Sorin hier eine restriktive Version der Bindungstheorie zugrundelegt, in der nur Elemente in A-Positionen von den Bindungsprinzipien erfasst werden. Unterschiede zwischen den se-Typen werden aber auch festgehalten und auf semantische, thetatheoretische Aspekte bezogen (vgl. Dobrovie-Sorin 1998: 401). Zentraler Aspekt ihres Ansatzes ist weiterhin die Annahme, dass se nicht argumental ist, sondern ein morphologischer Reflexivmarker. Hierbei stützt sich die Analyse auf die Theorie der Reflexivität von Reinhart und Reuland (1993) sowie auf eine derivationelle Analyse von medial-passivischen se-Konstruktionen, wonach se in seiner S-strukturellen Position basisgeneriert wird, was impliziert, dass keine Bewegung erfolgt und keine genuine Spur entsteht. Ohne Bindung zu einer Theta-Position kann se daher keine Thetarolle erhalten. Anders als Cinque nimmt Dobrovie-Sorin damit keinen Bezug mehr auf die Argumenteigenschaft von se. Eine weitere, für die Strukturen mit se und unergativen Verben wichtige Grundannahme betrifft die Passivierung, für die üblicherweise Transitivität des Prädikats vorausgesetzt wird. Dobrovie-Sorin (1998: 406) integriert die unergativen Verben (wie z.B. in Si canta/ dorme/ lavora/ mangia), indem sie den transitiven Verben hier gleichgestellt werden, was damit begründet wird, dass sie ja auch Kopula-Passive wie in Es wurde gut gearbeitet oder die medial-passivische Verwendung reflexiver Pronomina wie in Es lebt sich angenehm 71 erlauben. Dobrovie-Sorin nimmt an, dass unergative Verben zugrundeliegend transitiv sind und kognate oder prototypische Nullobjekte selegieren dürfen (aber nicht müssen). Diese Nullobjekte werden in der S-strukturellen Repräsentation von unpersönlichen Passivkonfigurationen projiziert, werden aber von den lexikalischen Eigenschaften dieser Verben nicht verlangt, sondern vielmehr von si selbst. Diese Nullobjekte erhalten dann Quasi-Thetarollen (im Gegensatz zu den voll referentiellen Thetarollen). Für die synchrone Beurteilung des Status von se kommt Mendikoetxea (2000b: 1649 ff.) 72 auf Basis diachroner Evidenz zu dem Schluss, dass se ein Kongruenz-Affix ist und nicht selbst Reflexivität bzw. Unpersönlichkeit ausdrückt, sondern diese Bedeutungen unabhängig von se entstehen. Noch einen Schritt weiter als Dobrovie-Sorin (1998) geht der Vorschlag von Bruhn de Garavito, Heap und Lamarche (2002), die einen Unifizierungsansatz verfolgen, der se als radikal unter-spezifiziert und nicht im Kern als reflexives Element wie in Dobrovie- Sorin (1998) analysiert. Die Autoren argumentieren, dass die Analyse als reflexives 71 Dobrovie-Sorin (1998: (9-10)) zitiert hier deutsche Beispiele, obwohl sie zu den romanischen Sprachen arbeitet, da sie die rumänischen Konstruktionen mit se als dem deutschen sich ähnlich ansieht. 72 Die im Rahmen der spanischen Grammatik von Bosque und Demonte (2000) erfolgten Ausführungen von Mendikoetxea (2000b) zu verschiedenen Typen von se werden hier nur stark zusammengefasst präsentiert, da es sich um keine eigenständige Arbeit zu diesem Thema handelt, Die wichtigsten Eigenschaften des Passivs mit se werden in Kapitel 3.2.2 vorgestellt <?page no="102"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 102 Morphem Probleme in Kontexten aufwirft, in denen auch nicht-reflexive Klitika stehen können (Juan lo/ se afeita bzw. Jean le/ se rase.). Weitere Probleme erkennen sie für die nicht reflexiv zu interpretierenden Verwendungen von se als z.B. unpersönlichem Passiv, wo es kein Antezedens gibt. Umgekehrt besteht das Problem ebenfalls, wenn mit Reinhart und Reuland (1993) angenommen wird, dass das romanische se das Merkmal nicht in seiner Spezifikation hat. Bruhn de Garavito et al. gehen dennoch diesen Weg, bei dem sie zeigen müssen, wie die reflexive Lesart dennoch entstehen kann. Sie nehmen ein se an, das weder für Reflexivität, noch für Genus, Numerus und Person spezifiziert ist. Die reflexive Lesart entsteht direkt durch Opposition zu anderen Pronomina, wobei zunächst die Pronomina me/ te betrachtet werden, die eine ausreichende eigene Spezifikation aufweisen, um kein Antezedens suchen zu müssen. Die Pronomina le/ lo und se unterscheiden sich danach, dass ersteres nach einem Antezedens sucht, das kein Subjekt ist, während letzteres sich genau auf ein Subjekt bezieht. Hieraus lässt sich, so Bruhn de Garavito et al. (2002: 47 f.), die reflexive Lesart ohne reflexive Spezifikation gewinnen und damit auch ein se für die anderen, nicht reflexiven Verwendungen (medial, unpersönlich, inchoativ, aspektuell, passivisch). Hier verweisen die Autoren (2002: 49) auf Vorschläge, wonach se ein multifunktionales Klitikon ist, das als Kopf verschiedener funktionaler Projektionen auftreten kann. Im Fall der unpersönlichen Konstruktionen, die zugrundeliegend ergativ seien, assoziieren sie se mit AgrO. Im Hinblick auf unakkusative Verben führen sie (2002: 50 f.) den aspektuellen Beitrag genauer aus, den se bei transitiven und ergativen intransitiven Verben hat, d.h. die Markierung des Endpunkts der Aktion. Für Verben, die zwischen einer transitiven und einer unakkusativen Verwendung alternieren, lässt sich beobachten, dass sie häufig von einem obligatorischen se begleitet werden, welches den unterdrückten Agens repräsentiert. Diese Verben drücken aber häufig einen Zustandswechsel aus, und es ist, so Bruhn de Garavito et al. (2002: 51), schwierig zu unterscheiden, ob se hier auf den fehlenden Agens oder auf die aspektuellen Eigenschaften dieser Verben zurückzuführen ist, da se auch hier einen aspektuellen Beitrag leisten kann. Die Autoren führen einige Beispiele an, in denen unakkusative Verben ohne se auftreten können, se aber obligatorisch wird, wenn die Aktion notwendig einen Endpunkt erreicht (vgl. Bruhn de Garavito et al. 2002: (25-26)): (19) a. El agua hirvió. (Das Wasser kocht, aber kann weiter kochen) b. El agua se hirvió (Das Wasser verkocht). Insgesamt halten die Autoren (2002: 52) fest, dass se ein Ungleichgewicht herstellt, indem der letzte Zeitpunkt eines Ereignisses als erfüllt interpretiert werden muss. Wenn das Verb kein Objekt hat, wird eines hinzugefügt und ausgemessen (bei intransitiven Verben). Wenn es ein Objekt hat, forciert se eine Interpretation, die den Endpunkt fokussiert (transitive und inchoative Verben). Dieser Ansatz ist innerhalb der bisher vorgestellten Erklärungen der interessanteste, da er aspektuelle Eigenschaften miteinbezieht und eine weitgehende Unifizierung anstrebt. Unabhängig von Dobrovie-Sorin (1998) und als einziger im Rahmen des Generativen Lexikon (vgl. Kapitel 1.2) arbeitend (und daher außerhalb der chronologischen Abfolge präsentiert) vertritt Castaño (1999) die Auffassung, dass die spanischen Klitika dativisch oder akkusativisch, aber nicht nominativisch markierte Elemente sind. Er <?page no="103"?> Forschungsstand 103 entwirft eine Theorie von se als unterspezifiziertem Element, das alle Funktionen einnehmen kann. Dabei nimmt er eine kleine Modifikation von Pustejovskys (1991, 1995) Ereignisstruktur vor, da die Präsenz eines Klitikons eine generelle benefaktive oder affizierte Relation einführt, die im telischen Quale verankert wird und zu zusätzlicher Struktur führt. Diese generalisiert jedoch auch auf die anderen Funktionen von se und ist überdies für die intransitiv-kausative Alternation erforderlich, so dass es sich nicht um eine Ad hoc-Modifikation für eine einzelne se-Funktion handelt. Castaño (1999: 129) verändert die originale Ereignisstruktur eines Ereignisses e 0 (mit den Unterereignissen e 1 und e 2 ) dahingehend, dass ein drittes Unterereignis (e 3 ) aufgrund des zusätzlichen Arguments z eingeführt wird, wie in (20) (wobei die im Original von Castaño (1999: 129, (5)) fehlenden Verbindungslinien hier zur Übersicht gezogen werden): (20) e e 0 2 2 e 0 e 3 e 1 e 2 2 e 1 e 2 Die erweiterte Struktur in (20) besagt, dass das erweiterte Ereignis e nun ein Element (Klitikon) enthält, das nicht von der Argumentstruktur des Verbs verlangt wird. Daher steht es nicht auf derselben Ebene wie die anderen Argumente (e 1 und e 2 ), sondern es wird eine neue Relation zwischen dem Klitikon und dem Ausgangs-Ereignis gebildet, wobei diese Relation zwar ausgehend vom benefaktiven Klitikon vorgeschlagen, aber dann als eine abstrakte unterspezifizierte Relation generalisiert wird, die Castaño (1999: 130) Concern nennt. Sie erhält ihren spezifischen Inhalt durch das jeweilige Ereignis und die darin involvierten Elemente und ist als λclitic λe 3 R(e 3, e 0 , clitic) verallgemeinert. Castaño (1999: 129 f.) sieht nun die drei folgenden Relationen vor, die für jedes Unterereignis mit den Qualia-Rollen assoziiert werden - die neue Relation, wie bereits erwähnt, als telisches Quale (vgl. Castaño 1999: 129 f., (6)): (21) a. λxλe 1 [R 1 (e 1 , x, …)] Agentive Quale b. λyλe 2 [R 2 (e 2 ,y,…)] Formal Quale c. λzλe 0 λe 3 [R 3 (e 3 ,e 0 ,z)] Telic Quale Die Hauptthese von Castaño (1999) ist, dass es nur ein se gibt, welches sich entweder an ein Argument des formalen Quale oder des telischen Quale bindet, aber nicht direkt einem bestimmten Argument zugeordnet ist. Alle anderen Interpretationen sind nach Castaño (1999: 137) Epiphänomene der Interaktionen mit anderen Elementen in der Konstruktion. Das Klitikon se weist nur eine Restriktion auf: es ist anaphorisch, so dass es in jedem Fall auf das agentivische Quale bezogen werden muss. Da das Spanische eine pro drop-Sprache ist, wird das Klitikon dann, wenn das agentivische Quale nicht lexikalisch spezifiziert wird (Nullsubjekt), entsprechend der von der Verbflexion gelieferten Information interpretiert, d.h. beschränkt auf diskursanaphorische Relationen. Als Beispiele für die Funktionen von se bietet Castaño (1999: 137, (19)) folgende, aus dem südamerikanischen Spanisch stammende Beispiele: <?page no="104"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 104 (22) a. El nene se lava. Reflexive. b. Las manzana 73 se digiere rápido. Middle c. Las manzanas se vendieron ayer. Passive d. La comida se calentó. Ergative e. María se acordó de Juan. Inherent f. Se hundió varios barcos. Nominative (impersonal) g. Juan se rompió un brazo. Possessive Dative h. El nene se comió la comida. Benefactive-Ethical Dative i. Jaimito se fue. Inchoative Dative Für die von se ermöglichten Konstruktionen gibt Castaño (1999: 138, (20)-(22)) nun die relevanten Fragmente der Qualia-Struktur an, die die Zuordnung der jeweiligen Argumente zu jeder Qualia-Funktion verdeutlichen. Dabei entspricht (23) den Beispielen (22a-e,i), also den hier am meisten interessierenden Funktionen Reflexivum, Medium, Passiv, Ergativ und außerdem inhärent reflexiven Verben und der inchoativen Dativfunktion. (24) entspricht (22g,h) und (25), eine leichte Variation von (24) ohne explizites Subjekt, dafür mit verbalem Agreement, entspricht (22f): (23) a. Agentive Quale = λxλe 1 [R 1 (e 1 , x, …)] (Agr - Subj i ) b. Formal Quale = λyλe 2 [R 2 (e 2 ,y,…)] (se i ) c. Telic Quale = λzλe 3 [R 3 (e 3 ,e 0 ,z)] 74 underspecified (24) a. Agentive Quale = λxλe 1 [R 1 (e 1 , x, …)] (Agr - Subj i ) b. Formal Quale = λyλe 2 [R 2 (e 2 ,y,…)] (Ac.cl - Object) c. Telic Quale = λzλe 3 [R 3 (e 3 ,e 0 ,z)] (se i ) (25) a. Agentive Quale = λxλe 1 [R 1 (e 1 , x, …)] (Agr i ) b. Formal Quale = λyλe 2 [R 2 (e 2 ,y,…)] (Ac.cl - Object) c. Telic Quale = λzλe 3 [R 3 (e 3 ,e 0 ,z)] (se i ) Castaño (1999: 138) stellt weitere Überlegungen zur Abbildung zwischen Morphosyntax und Qualia-Struktur an, die implizit als direkt angenommen wurde. Für intransitive Verben (hier ohne Unterscheidung nach ergativ/ unergativ) gilt, dass das Subjekt entweder auf das formale oder das agentivische Quale, je nach Verbtyp, abgebildet wird (in den bisherigen Fällen wurde stets das formale Quale zugrundegelegt). Die Wertigkeit kann nach Castaño wie folgt modifiziert werden: Wenn ein Akkusativklitikon mit einem einwertigen Prädikat zusammen auftritt, wird das Subjekt auf das agentivische Quale und das Objekt auf das formale Quale abgebildet, sofern diese Konstruktion mit den Prädikateigenschaften zusammenpasst. Bei transitiven Verben gilt nach Castaño (1999: 139), dass das Subjekt (ebenfalls) auf das agentivische Quale und 73 Hier muss es sich um einen Tippfehler handeln und la manzana (Sg.) heißen, weil Castaño das Beispiel auch The apple SE digest quickly übersetzt, also mit Singular-DP. Im spanischen Beispiel oben ist die Verbform ebenfalls 3. Person Singular, die jedoch mit digests hätte übersetzt werden müssen. 74 Gegenüber (19c) findet das telische Quale hier eine abgekürzte Form, in der das Ereignis e 0 in der Lambda-Notation nicht noch einmal mitaufgeführt wird. <?page no="105"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 105 das Objekt auf das formale Quale abgebildet wird. Die Wertigkeit wird dann wie folgt modifiziert: Der Effekt der Detransitivierung (wenn sie nicht nur Reflexivierung ist) bindet die beiden Argumente in der Qualiastruktur mit einem anaphorischen Klitikon. Wenn ein extra (Dativ-)Klitikon vorhanden ist, wird es auf das telische Quale abgebildet, und wir erhalten den Effekt, dass ein transitives Verb in ein ditransitives konvertiert wird. Castaño (1999: 139) fügt weiter hinzu, dass er - obwohl er Klitika als affixartige syntaktische Objekte betrachtet - keine lexikalische Argument-verändernde Operation annimmt. Vielmehr spezifizieren die Klitika die Information, die von der Qualia-Struktur ermöglicht wird, indem sie mit Funktionen verbunden werden, die in der Qualia- Struktur schon enthalten sind und ansonsten möglicherweise unterspezifiziert bleiben würden. Als Konsequenz kann die Argumentstruktur ko-kompositional durch das Prädikat und die Argumente determiniert werden. Der gesamte Vorschlag kann, so Castaño, als abstrakte Theorie der Thetarollen verstanden werden. Die Interpretation eines Satzes ist hochgradig abhängig von den speziellen involvierten Ausdrücken, die mit der Qualia-Struktur interagieren. Die spanischen Klitika sind nicht notwendig an eine Argumentposition im traditionellen Sinn gebunden, sondern bestimmen ko-kompositionell die Argumentstruktur zusammen mit dem Verb. Castaños (1999) Ansatz ist vielversprechend, da er den höchsten Unifizierungsgrad aufweist, und wird in Kapitel 6 im Rahmen der Diskussion einer Sprachwandeltheorie wieder aufgegriffen und integriert. Zusammenfasssend lässt sich für die zweite Position, die ausschließlich von Arbeiten der generativen Grammatiktheorie (wenn man Castaño, der in der Generativen Lexikontheorie arbeitet, mit einschließen will) vertreten wird, festhalten, dass das Konzept „unpersönliches Passiv“ nicht kritisch betrachtet wird. Hingegen sind die Versuche, eine Unifizierung aller se/ si-Typen zu erreichen, angesichts der terminologischen Verwirrung (und der bei Bruhn de Garavito et al. (2002) auch fehlenden deutlichen Distinktion zwischen unpersönlichen und ergativen Strukturen) sehr positiv zu bewerten. Castaños (1999) Vorschlag weist dabei den höchsten Grad der Unifizierung auf und zeigt, was die Generative Lexikontheorie in diesem Bereich leisten kann. 3.2 Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen Ziel der Darstellung in diesem Unterkapitel ist es, wichtige systematische und sprachspezifische Eigenschaften der Passivkonstruktionen des Spanischen, Italienischen und Französischen herauszuarbeiten, die auch die Grundlage für die Datenanalyse in Kapitel 5 bilden, beginnend mit den periphrastischen Passivkonstruktionen (3.2.1), worauf die synthetischen Passivkonstruktionen mit se/ si (3.2.2) und weitere Passivkonstruktionen (3.2.3) folgen. In jedem dieser Abschnitte werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei romanischen Sprachen in diesem Bereich im Hinblick auf die Restriktionen der Verwendung verschiedener Konstruktionen mit passivischer Interpretierbarkeit vorgestellt, die u.a. lexemspezifisch (bestimmte Verben können gar nicht <?page no="106"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 106 oder nur unter sehr speziellen Bedingungen passiviert werden), modal-temporal-aspektuell (zumeist im Zusammenhang mit bestimmten Auxiliaren) oder auch syntaktischer Natur sein können. Abschnitt 3.2.4 behandelt absolute Konstruktionen in den drei romanischen Sprachen, die ebenfalls eine passivische Interpretation erhalten können. In Abschnitt 3.2.5 werden die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Passivierbarkeit in den drei Sprachen noch einmal tabellarisch zusammengefasst. Vorab ist anzumerken, dass sich die jeweils zugrundegelegten, sprachspezifischen Darstellungen der Passivbildung in ihren theoretischen Grundannahmen und Fokussierungen unterscheiden. Sie seien hier kurz vorgestellt. Die Quelle für die Darstellung der spanischen Passivbildung sind die Beiträge von Mendikoetxea (2000a,b) im Rahmen der einschlägigen Gramática Descriptiva de la lengua española von Bosque und Demonte ( 3 2000). Mendikoetxea (2000a) behandelt das periphrastische Passiv im direkten Zusammenhang mit dem Phänomen der Unakkusativität und arbeitet aspektuelle Eigenschaften detailliert heraus. Auch in der Darstellung der passivischen Konstruktionen mit se, die auf Mendikoetxea (2000b) basiert, spielen semantische Faktoren eine Rolle, im Vordergrund stehen hier jedoch syntaktische und andere formale Kriterien, die zur Abgrenzung passivischer von anderen se-Konstruktionen erforderlich sind. Die Darstellung des Passivs im Italienischen basiert auf Salvis (1988) Beitrag in der von Renzi (1988) herausgegebenen Grande Grammatica italiana di consultazione. Wie Mendikoetxea setzt auch Salvi Passiv und Unakkusativität direkt in Bezug zueinander und stellt semantische Eigenschaften der Verben und verschiedenen Passivkonstruktionen in den Vordergrund, wobei jedoch die verschiedenen Typen von si als Primitiva zugrundegelegt werden. Salvi fokussiert stärker als Mendikoetxea (2000a,b) auf den Einfluss, den die unterschiedlichen Tempora und Modi auf die Interpretation haben. Anders als die Grammatiken des Spanischen und Italienischen stellt die Grammatik Le bon usage von Grevisse ( 13 1993: § 741 ff.) eine traditionellere Grammatikform dar, die vor allem syntaktische Eigenschaften und verbspezifische Ausnahmen im Bereich der französischen Passivkonstruktionen auflistet und aspektuelle Eigenschaften nur in Bezug auf die Passiv-Auxiliare notiert. Grevisse ( 13 1993: § 741) sieht die Idee der Transformation vom Aktivin den Passivsatz (Un chauffard a renversé un piéton -> Un piéton a été renversé par un chauffard) als definierende Eigenschaft des Passivs an. Aus diesem Grund werden hier weitere Arbeiten, insbesondere die von Lamiroy (1993), ergänzend hinzugezogen, um wichtige Aspekte wie die Ausnahmen von der Passivierbarkeit, Passiv-Auxiliare und aspektuelle Eigenschaften, Passivkonstruktionen mit se und weitere passivische Ausdrücke einbeziehen zu können. 3.2.1 Periphrastische Passivkonstruktionen in den drei Sprachen 3.2.1.1 Lexemspezifische Restriktionen Im Hinblick auf Beschränkungen der Bildung periphrastischer Passive im Spanischen gilt nach Mendikoetxea (2000a: 1616 f.) zunächst, dass nicht alle transitiven Verben die Bildung des periphrastischen Passivs zulassen - ausgeschlossen ist es bei Perzeptionsverben: <?page no="107"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 107 (26) a. Veo arder la casa. b. *La casa es vista arder. Des Weiteren gibt es transitive Verben, nämlich obrar und tener, die theoretisch die Passivbildung zulassen, welche jedoch nicht akzeptiert wird: (27) a. La fe obra milagros. b. *Milagros son obrados por la fe. c. Yo tengo pocos libros. d. *Pocos libros son tenidos para mi. Ferner notiert Mendikoetxea (2000a: 1622), dass das periphrastische Passiv ausgeschlossen ist, wenn Verben wie z.B. dar, tener und hacer als sog. „light verbs“ oder „Unterstützungsverben“ in Ausdrücken wie dar patadas, tener cuidado und hacer visitas verwendet werden, worin das Objekt einen größeren semantischen Beitrag leistet als das Verb, vgl. die Beispiele von Mendikoetxea (2000a: (88)): (28) a. ? ? Fueron hechas muchas visitas a los enfermos. b. ? ? Fueron dadas patadas a diestro y siniestro. c. *Cuando es tenido cuidado, las cosas salen bien. In diesen Beispielen können die Nominalphrasen muchas visitas, patadas und cuidado nicht als logische Kulmination des Ereignisses interpretiert werden, da es sich nicht um „externe“ Objekte der Verben handelt, sondern um integrale Teile der lexikalischen Verbbedeutung: hacer visitas bedeutet visitar (besuchen); für die Ausdrücke dar patadas (treten) und tener cuidado (aufpassen) gibt es im Spanischen keine unikalen lexikalischen Formen. Dennoch ist klar, dass die Aktion in diesen Fällen von der Kombination <Verb + Objekt> (dem „Funktionsverbgefüge“ in der deutschen Grammatik entsprechend) ausgedrückt wird und daher diese Objekte nicht Subjekte von periphrastischen Passivkonstruktionen sein können. Ferner erlaubt das Spanische nicht, dass indirekte Objekte (z.B. in hacer visitas a los enfermos, dar patadas a un balón) passiviert werden. Für das Italienische gilt ebenfalls, dass Transitivität eine Voraussetzung ist, aber Ausnahmen von der Passivierbarkeit bestehen. So bemerkt Salvi (1988: 94), dass sie mit allen transitiven Verben 75 möglich ist, d.h. mit allen Verben, die ein direktes Objekt-Komplement regieren, wobei einige wenige Ausnahmen bestehen. Diese betreffen Verben, die keine Aktionen, sondern Relationen ausdrücken, wie z.B. avere, contenere, concernere, riguardare, deren Subjekt generell die Objekt-Rolle hat. Die Unmöglichkeit der Passivierung wird in *Questo liquido è contenuto dalla bottiglia (vgl. Salvi 1988: (526)) deutlich. 76 Weitere Ausnahmen von der Passivierbarkeit betreffen idiomatische Wendungen, die häufig nicht passivierbar sind. Hingegen gilt dies nicht für Komplementsätze: Wenn ein Objekt-Komplement eines Satzes aus einer Komplement-Proposition, die mit lo prono- 75 Es gibt jedoch auch einige intransitive Verben, die ein Passiv zulassen, vgl. weiter unten. 76 Hingegen kann eine Konstruktion <essere + ...> gebildet werden: Questo liquido è contenuto nella bottiglia (vgl. Salvi 1988: (527)). <?page no="108"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 108 minalisierbar ist, gebildet wird, ist die Passivierung generell möglich. Genauer trifft zu, dass, wenn ein Komplementsatz finit ist, das Passiv fast immer möglich ist und der Komplementsatz in der postverbalen Position verbleibt (29a). Jedoch ist auch die präverbale Position möglich (29b), wenn im Satz das Verb oder ein anderes Element nach dem Verb neu ist (vgl. Salvi 1988: (529-530)): (29) a. Hanno annunciato che il treno avrà del ritardo. / Ē stato annunciato che il treno avrà del ritardo. b. Che il treno avrà del ritardo è stato annunciato con l’altoparlante. Im Hinblick auf infinite Komplementsätze gibt es jedoch einige Beschränkungen, die mit der Tatsache verbunden sind, dass die infinite Proposition ein nicht ausgedrücktes Subjekt hat, das in vielen Fällen mit einem Element der übergeordneten Proposition koreferent sein muss. Diejenigen Sätze, die ein infinites Restrukturierungsverb beinhalten, können im Passiv verwendet werden, aber es ist das infinite Verb, das passiviert wird, wie z.B. in Questa parete deve essere ridipinta. / è dovuta ridipingere. (vgl. Salvi 1988: (533)). 77 Salvi merkt allerdings an, dass die Produktivität der Konstruktion, in der das regierende Verb passiviert wird, beschränkt ist und in der Regel nur bei Verben vorkommt, die eine Kreation bezeichnen, wie z.B. comporre, costruire, redigere, stampare, und dies auch nur in den Vergangenheitstempora. Im Altitalienischen, so Salvi (1988: 96), war dies allerdings bei allen Restrukturierungsverben möglich. Immer möglich ist hingegen das Passiv in Konstruktionen mit fare, z.B. in Questi libri erano fatti leggere a tutti (vgl. Salvi (1988: (535)). Schließlich geht Salvi (1988: 96) noch auf die Passivierbarkeit einiger intransitiver Verben ein: Dies sind niemals unakkusative Verben, sondern solche wie im folgenden Beispiel (vgl. Salvi 1988: (536-537)): (30) a. Gli era stato detto del pericolo. b. Fu proceduto al sequestro. In der Standardsprache ist die Konstruktion nach Salvi auf wenige intransitive Verben beschränkt, aber in einigen Varietäten des Zentrums und Süditaliens ist die Datenlage weniger klar, wie auch im Altitalienischen. Salvi (1988) behandelt indessen nicht die Unmöglichkeit der Passivierbarkeit von indirekten Objekten im Italienischen, die Maiden und Robustelli (2000: 280) explizit erwähnen: *Lo studente fu promesso un libro (vs. Il libro fu promesso allo studente/ Allo studente fu promesso il libro). Für das Französische gelten nach Grevisse ( 13 1993: § 742b) die folgenden lexemspezifischen Einschränkungen der Passivierbarkeit: Zunächst sind die Verben avoir, comporter, pouvoir und valoir nur eingeschränkt (vgl. weitere Bemerkungen zu 77 Nur mit den Verben cominciare, iniziare, finire und terminare kann das regierende Verb im literarischen Stil passiviert werden: Questa casa fu cominciata a costruire / cominciò a essere costruita nel 1833 (vgl. Salvi 1988: (534)). <?page no="109"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 109 avoir weiter unten) oder gar nicht passivierbar. Das Gleiche gilt für viele idiomatische Ausdrücke wie z.B. prendre la fuite, faire le fou, garder la tête froide, sowie für die Fälle, in denen das Objekt einen Körperteil des vom Subjekt bezeichneten Individuums darstellt wie z.B. in Jean baisse la tête, lève le bras. Ferner kann nicht passiviert werden, wenn das Objekt ein Infinitiv ist, z.B. je crois me tromper. Ils commencent à rire. Rare, aber nicht unmögliche Passivierungen bestehen in weiteren zahlreichen Fällen wie z.B. J’ai trouvé une montre -> Une montre a été trouvée par moi. Diese Passivkonstruktion wird besser akzeptiert, wenn ein Kontrast ausgedrückt werden soll: La montre a été trouvée par moi, et non par ma soeur. Eine weitere grundsätzliche Einschränkung der Passivierbarkeit betrifft nach Grevisse ( 13 1993: § 742 d) indirekte Objekte, die normalerweise nicht Subjekt im Passivsatz werden können. Auch hier gibt es Ausnahmen, vor allem die regelmäßige Verwendung von Passivformen der Verben obéir (seltener auch désobéir) und pardonner, wie Grevisse in den folgenden Beispielen zeigt, wobei das Verb immer in dritter Person verwendet wird: (31) a. Votre altesse sera obéie. b. Dès la première minute, le roi fut désobéi. c. Roussainville [...] était déjà pardonné par Dieu le Père. Grevisse erklärt diese Passivierungsmöglichkeit damit, dass diese Verben früher transitive Verben waren und pardonner auch aktuell noch häufig so verwendet wird. Zu obéir merkt er an, dass auch se faire obéir verwendet wird wie z.B. Les rois réalisèrent le miracle de se faire accepter et obéir par tous (vgl. Grevisse 13 1993: § 742 d). Ein weiteres Residuum einer früher transitiven Konstruktion, die jedoch in der Umgangssprache weiterhin verwendet wird, ist bien appris/ mal appris wie in z.B. c’est un homme mal appris. In der juristischen Sprache wird schließlich répondre transitiv verwendet wie in z.B. répondre une requête, répondre une lettre. Eine Reihe weiterer Anmerkungen bezieht sich auf die Einschränkung, dass die intransitiven Verben keine Passivierung zulassen, außer wenn sie unpersönlich, d.h. ohne Agens, verwendet werden (vgl. Grévisse 13 1993: § 742 e). Dies ist häufig in der Verwaltungssprache der Fall, wie das folgende Beispiel von Grevisse zeigt: Il sera sursi à toute procédure (zitiert aus dem Code de procéd. Civ., art. 357). In der Passivtransformation bleiben die Komplemente nach Grevisse bestehen: On procédera à l’inauguration -> Il sera procédé à l’inauguration. Ferner merkt er an, dass einige intransitive Verben auch transitiv verwendet und dann passiviert werden können, wie z.B. vivre in Ces heures d’angoisse ont été vécues par d’autres que par vous. Grevisse ( 13 1993: § 742c) geht noch genauer auf die Ausnahmen von der oben genannten Unmöglichkeit der Passivierung einzelner Verben ein, wobei die Ausnahmen meist literarische Verwendungen sind und ihre Relevanz für die aktuelle gesprochene Sprache fraglich ist. Zunächst hält Grevisse fest, dass Schriftsteller durchaus manchmal avoir passivieren, wobei die Bedeutungen „betrügen“ (duper) oder „sexuell besitzen“ erzeugt werden, wie in den folgenden von Grevisse zitierten literarischen Beispielen: <?page no="110"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 110 (32) a. Louason se défendait de tout cela comme une femme qui a été eue. b. L’adjoint, qui travaillait sécrètement à un échelon inférieur, comprit qu’il a été eu. Zur Passivierbarkeit von concerner merkt Grevisse an, dass diese bereits seit dem 18. Jahrhundert von der Académie Française verurteilt wird, jedoch trotzdem verwendet wird, wie das von ihm zitierte Beispiel von Littré zeigt: Votre ami est concerné dans cette affaire. Das dritte betroffene Verb ist moquer, im Passiv être moqué, das in der literarischen Sprache lebendig bleibt. Schließlich nennt Grevisse das von der Académie Française 1986 hinzugefügte intransitive Verb agir im Passiv als „être agi (vielli), subir une action étrangère à sa volonté. L’homme est agi par le destin, par la nécessité”. Hierzu merkt Grevisse an, dass der Zusatz “vielli“ nicht adäquat sei, da diese Verwendung schon immer selten gewesen sei. Zusammenfassend lässt sich bis hier festhalten, dass die stärksten lexemspezifischen Restriktionen im Spanischen bestehen und sich die drei romanischen Sprachen in Details deutlich unterscheiden. 3.2.1.2 Modal-temporal-aspektuelle Restriktionen Für das Spanische unterscheidet Mendikoetxea (2000a: 1617) einleitend zwischen lexikalischem Aspekt (perfektivisch/ imperfektivisch) und syntaktischem Aspekt (verbales Tempus des Auxiliars: Perfekt/ Imperfekt). Es besteht eine Tendenz dahingehend, dass aspektuell perfektivische Verben mit perfektivischen Tempora in der periphrastischen Passivkonstruktion auftreten. Jedoch sind sie auch kompatibel mit imperfektiven Tempora, wenn damit iterative oder habituelle Ereignisse ausgedrückt werden, was nicht nur für das Passiv gilt. Zusammenfassend für den syntaktischen Aspekt hält Mendikoetxea (2000a: 1618) fest, dass es keine Restriktionen gibt, die nicht gleichermaßen für die äquivalenten aktivischen Konstruktionen gelten. Nach Mendikoetxea ist vielmehr der ausgedrückte Ereignistyp relevant dafür, ob ein passivisches Verb in perfektivischen oder imperfektivischen Tempora auftritt. Mithin ist der lexikalische Aspekt entscheidend. Es wird argumentiert, dass imperfektivische Verben tatsächlich keine verbalen periphrastischen Passive bilden können, sondern das mit diesen Verben gebildete Passiv eine andere Natur hat. Laut Mendikoetxea (2000a: 1619) drückt das Morphem des Partizips -do (sowohl für Aktiv als auch für Passiv verwendet) die Perfektivität des vom Verb oder Prädikat ausgedrückten Ereignisses aus. Die als Gegenbeispiele genannten Konstruktionen in (34) (Mendikoetxea 2000a: (79)) sind daher Beispiele für das adjektivische Passiv: (33) a. Antonio es (o era) estimado en aquella comarca. b. La noticia es (o era) muy conocida en todas partes. Das adjektivische Passiv kann mit dem Adverb muy kombiniert werden, was beim periphrastischen Passiv mit perfektivischen Verben nicht möglich ist und den attributiven Charakter des Partizips verdeutlicht (vgl. Mendikoetxea (2000a: (82)): <?page no="111"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 111 (34) a. Juan es muy {conocido/ querido/ admirado…}. b. *Juan fue muy {arrestado/ golpeado/ avisado…}. Somit kann Mendikoetxea die Generalisierung aufrechterhalten, dass nur perfektive Verben ein periphrastisches Passiv bilden können. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass adjek-tivische Passive mit <ser + Partizip> (z.B. ser conocido) in der Lesart <llegar a ser + Partizip> (llegar a ser conocido) als „Erreichen des Höhepunkts des Ereignisses“ anerkannt werden. Es wurde bereits erwähnt, dass nicht alle transitiven Verben die Bildung eines periphrastischen Passivs zulassen. Dennoch ist Transitivität des Verbs eine notwendige Voraussetzung. Mendikoetxea (2000a: 1620 f.) zeigt, dass die Bedingung der Transitivität noch nicht hinreichend ist: Die Tatsache, dass die Verben, die in periphrastischen Passivkonstruktionen auftreten, transitiv sind, folgt aus ihrem lexikalischen Aspekt - es sind Verben, die Ereignisse und Transitionen ausdrücken, d.h. Aktionen, die von einem notionalen (oder logischen) Subjekt zu einem Objekt verlaufen, das extern zur Aktion des Verbs ist. Damit sind kognate Objekte unergativer Verben ausgeschlossen, da sie nur „eine semantische Fortsetzung des Verbs“ und kein zur Aktion „externes Objekt“ darstellen und keine logische Kulmination des Ereignisses ausdrücken (da Perfektivität nicht zur lexikalischen Bedeutung dieser Verben gehört), wie die Beispiele von Mendikoetxea (2000a: (83)) in (35) zeigen: (35) a. Llorar el llanto de un niño. / Reír la risa de un tonto. / Cantar canciones. b. *El llanto de un niño es llorado. / *La risa de un tonto es reída. / *Canciones son cantadas. Eine interessante Rolle spielen hier die Determinanten: Wird ein kognates Objekt durch einen bestimmten Artikel spezifiziert, ist die Bildung des Passivs möglich (vgl. Mendikoetxea (2000a: (84)): (36) a. Los invitados cantaron la canción con mucha emoción. b. La canción fue cantada (por los invitados) con mucha emoción. Das gleiche Phänomen lässt sich auch bei transitiven Verben beobachten - auch hier beeinflusst die An- oder Abwesenheit der Determinante die Möglichkeit, ein grammatisches periphrastisches Passiv zu bilden (Mendikoetxea (2000a: (85)): (37) a. Los albañiles construyen casas. b. *Son construidas casas por los albañiles. Schließlich lässt sich die Rolle der Determinante, hier insbesondere des bestimmten Artikels, auch bei Bewegungsverben wie correr oder nadar beobachten, die mit oder ohne Komplement auftreten können: Allein drücken sie nur eine Aktivität ohne Ziel aus. Mit einem Komplement, das eine Distanz ausdrückt, ändert sich der lexikalische Aspekt noch nicht, und die Passivierung ist ungrammatisch (Mendikoetxea 2000a: (86, 87)): <?page no="112"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 112 (38) a. Los atletas corrieron unos cien metros. b. Juan nadó varios largos. c. *Unos cien metros fueron corridos por los atletas. d. *Varios largos fueron nadados por Juan. Wird jedoch statt „unos cien metros“ nun „los cien metros“ hinzugefügt, so ändert sich die Interpretation dahingehend, dass dieser Distanzausdruck nun als Referent einer spezifischen Straße verstanden wird und das Verb correr ein Ereignis oder eine Transition ausdrückt und damit in einer periphrastischen Passivkonstruktion auftreten darf: Los cien metros lisos fueron corridos a gran velocidad (Mendikoetxea 2000a: 1622). Im Hinblick auf Konstruktionen vom Typ <estar + Partizip> wie z.B. la casa està construida besteht nach Mendikoetxea (2000a: 1623) keine Einigkeit in den spanischen Grammatiken im Hinblick auf den Status als Passivkonstruktion: Sofern überhaupt Position bezogen wird, wird entweder der passivische Charakter aus semantischen und pragmatischen Gründen abgelehnt, da bei den Konstruktionen mit estar, anders als im Passiv, keine Aktion, sondern das Resultat der Aktion beschrieben werde, oder der passivische Charakter wird aufgrund der Ähnlichkeit mit ser-Konstruktionen bestätigt 78 . Mendikoetxea selbst bezieht keine Position (auch nicht im Hinblick auf den verbalen oder adjektivischen Charakter des Partizips in diesen Konstruktionen), sondern hält die folgenden Eigenschaften der Konstruktionen fest: Sie haben einen perfektivischen Charakter, der mit der in einigen Grammatiken angegebenen Charakterisierung als „Passiv des Zustandes“ oder „Resultativ“ übereinstimmt. Mit Verben wie denjenigen, die die Kausativalternation zulassen, d.h. die von ihrem lexikalischen Aspekt her zwei Ereignisse (ein kausatives und ein resultatives) ausdrücken, realisiert die Konstruktion mit estar den resultativen Zustand der vom Verb beschriebenen Aktion, während die Konstruktion mit ser hier sowohl die Aktion als auch das Resultat ausdrückt. Die Beispiele in (39) (vgl. Mendikoetxea 2000a: 1623 f.) zeigen, dass die Konstruktion mit estar den Ausdruck eines Agens nicht zulässt, da dieser mit der Aktion und nicht mit dem Resultat der Aktion des Verbs assoziiert wird, was für die Konstruktion mit ser kein Problem darstellt: (39) a. La ciudad está destruida. b. La ciudad fue destruida. c. *La ciudad està destruida por los romanos. d. La ciudad fue destruida por los romanos. Die Periphrase <estar + Partizip> hat in diesen Kontexten eine zu den Kopulativkonstruktionen <estar + perfektivisches Adjektiv> (z.B. estar seco/ limpio) äquivalente Bedeutung. Mendikoetxea (2000a: 1624) zeigt weiter, dass von denjenigen unakkusativen Verben, die die Kausativalternation zulassen, einige die Periphrase mit estar zulassen (z.B. está crecido, está envejecido), die einen resultierenden Zustand ausdrückt. Diese Verben können hingegen nicht in passivischen Konstruktionen mit ser auftreten: *fue 78 Vgl. den Literaturüberblick in Mendikoetxea (2000a). <?page no="113"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 113 crecido/ *fue envejecido, z.B. in *Juan fue envejecido por el paso de los años. Die Konstruktionen mit ser, die sowohl die Aktion als auch das Resultat ausdrücken, sind den transitiven Verben vorbehalten, während intransitive Verben, die nur den Endzustand ausdrücken, in der Periphrase <estar + Partizip> auftreten können. Die Periphrase <estar + Partizip> schließt wiederum die imperfektivischen Verben wie z.B. amar, conocer, admirar, odiar, temer aus, die ein Subjekt mit der semantischen Funktion des „Experiencer“ haben und keine Aktion, sondern einen permanenten Zustand ausdrücken: z.B. *está amado, *está conocido. Es gibt jedoch eine Klasse von imperfektivischen Verben, die hier eine Ausnahme darstellen: es handelt sich um Verben des Typs rodear, cubrir und cercar, die eine Relation zwischen zwei kontigen Entitäten im Raum ausdrücken wie z.B. in Las montañas rodean la ciudad. La nieve cubre las cumbres. Una valla cerca la finca. (vgl. Mendikoetxea 2000a: 1624). In diesen Konstruktionen stellt das Subjekt ein nicht affiziertes Thema dar (dasjenige Element, über das ein Ort prädiziert wird), während das Objekt eine lokativische Bedeutung hat. In der Periphrase mit estar ist das lokativische Element das Subjekt, und das andere verbale Objekt wird über eine Präpositionalphrase mit por oder de realisiert, wie die Beispiele von Mendikoetxea (2000a: (89)) zeigen: (40) a. La ciudad está rodeada de montañas. b. Las cumbres están cubiertas de nieve. c. La finca está cercada por una valla. Mendikoetxea (2000a: 1625) weist ferner auf eine von vielen Grammatikern notierte Beobachtung hin: Das Passiv mit estar erlaubt keine perfektivischen, d.h. zusammengesetzten Zeiten (*Las casas han estado construidas), auch nicht mit habían estado oder habrán estado, während dies mit ser möglich ist (Las casas han sido construidas). In der einfachen Vergangenheit (gemeint sind hier synthetische Formen) ist der Unterschied zwischen ser und estar etwas neutralisiert, so dass einige Sprecher sowohl las casas fueron construidas als auch las casas estuvieron construidas zulassen. Neben den ausführlich behandelten Auxiliaren ser und estar können auch Perzeptionsverben in reflexiver Form (z.B. verse, sentirse, hallarse, encontrarse) in periphrastischen Passivkonstruktionen verwendet werden (vgl. Mendikoetxea (2000a: (90)): 79 (41) a. Los pisos más bajos se vieron alcanzados por las llamas. b. Los vecinos se sintieron engañados por las autoridades. c. Toda la comarca se halla afectada por la sequía. d. Los edificios se encuentran dañados por la sacudida. Mendikoetxea (2000a: 1625) weist auch auf weitere Verben und Ausdrücke hin: mit quedar/ quedarse und resultar betont die Periphrase des Partizips die Bedingung oder den Zustand von etwas als Resultat der Aktion: Quedó dañado (como resultado de...). Darüber hinaus wird quedar mit einer estar entsprechenden Bedeutung in Ausdrücken wie queda cerrado/ dicho verwendet, genauso wie venir in z.B. viene dicho/ dado. Mit 79 Vgl. hierzu jedoch auch Green (1982), der weitere, weniger häufig beschriebene Semi-Auxiliare im Spanischen behandelt, die Mendikoetxea nicht berücksichtigt (Kap. 4.4). <?page no="114"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 114 permanecer wird schließlich in Konstruktionen wie z.B. Permanecen cerrados los colegios der geltende Zustand ausgedrückt. Für das Italienische geht Salvi (1988: 87 ff.) auf die drei Auxiliare (essere, venire, andare) im periphrastischen Passiv detailliert ein, wobei stärker als im Spanischen - zusätzlich zu aspektuellen Beschränkungen - temporale Beschränkungen vorliegen: 80 Essere kann in allen Tempora und Modi des Verbs mit Ausnahme des trapassato remoto verwendet werden: *Dopo che Piero fu stato picchiato... (vgl. Salvi 1988: 466)) Essere ist, so Salvi, ein einfaches Zeichen der Passivität der Konstruktion und bringt, anders als bei den anderen beiden Auxiliaren, keine eigene Bedeutungs-Nuance ein. Die passivische Konstruktion mit essere kann eine Ambiguität mit der Konstruktion <essere + ...> herstellen, wenn auf essere ein Vergangenheits-Partizip folgt, wie im folgenden Beispiel (vgl. Salvi 1988: (467)): (42) La porta è chiusa. (42) kann theoretisch auf zwei Weisen interpretiert werden: 1) als Passiv des Satzes Chiudono la porta und damit als Beschreibung einer Aktion oder 2) als Beschreibung eines Zustands (La porta si trova in stato di chiusura). Die passivische Interpretation kann nun in den Vordergrund gerückt werden, indem sprachliche Elemente verwendet werden, die mit der Bedeutung der Aktion verbunden werden, wie z.B. Adverbien der Art und Weise, während die Interpretation als Zustand durch die Hinzufügung bestimmter temporaler Adverbien favorisiert werden kann (vgl. Salvi (1988: 468-469): (43) a. La porta è chiusa violentemente. b. La porta è chiusa da due ore. Anders als (42) sind (43a) und (43b) nicht ambig. Salvi (1988: 88) führt hierzu weiter aus, welche Faktoren Einfluss auf die Wahl der beiden Interpretationen haben, wobei er sich zunächst auf das Präsens Indikativ beschränkt. Im zweiten Schritt untersucht er den Einfluss, den das Tempus des Verbs auf die Interpretation dieser Konstruktionen hat. Eine passivische Interpretation liegt laut Salvi vor, wenn a) das Agens-Komplement ausgedrückt wird (z.B. in Maria è amata da Piero). b) ein Adverb präsent ist, das sich nicht auf einen Zustand beziehen kann, wie z.B. gentilmente, soavemente, violentemente. Eine Zustands-Interpretation liegt vor, wenn c) ein Partizip eines perfektivischen Verbs mit resultativer Bedeutung vorliegt wie in Il libro è stampato. (vgl. Salvi 1988: (472)) Auf der Basis der bisherigen Ausführungen merkt Salvi (1988: 88) an, dass (42) nur theoretisch zwei Interpretationen hat; die favorisierte ist die eines Zustands. Weiterhin gilt, dass das Partizip eines perfektivischen Verbs mit nicht-resultativer Bedeutung nicht mit der Zustands-Interpretation verwendet werden kann. Wenn nicht noch ein weiteres Element vorhanden ist, kann es jedoch auch nicht in einer passivischen Konstruktion 80 Es können darüber hinaus auch noch weitere Verben die Funktion eines Auxiliars im Passiv einnehmen, wie weiter unten ergänzend gezeigt wird. <?page no="115"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 115 mit essere verwendet werden (44a). Durch die Hinzufügung eines Agens-Komplements (44b) oder eines Adverbs (44c) wird die Äußerung dann akzeptabel (vgl. Salvi 1988: (473-475)): (44) a. ? ? La mamma è baciata. b. La mamma è baciata dai bambini. c. La mamma è baciata dolcemente. Im Hinblick auf Partizipien von imperfektivischen Verben gilt nach Salvi (1988: 89), dass diese immer Ambiguität herbeiführen, wie in Piero è amato. Während das Partizip perfektivischer Verben stets einen erworbenen Zustand anzeigt, indiziert das Partizip der imperfektivischen Verben einen gegenwärtigen Stand einer Aktion. Der letzte Faktor für die Wahl der Zustandsinterpretation ist d) Ein Adverb, das die Dauer anzeigt, begleitet das Partizip eines perfektivischen Verbs: Lo studente è perseguitato da anni. (vgl. Salvi 1988: 89) Insgesamt gilt, dass die Faktoren a) und b) einerseits und d) andererseits einander ausschließen: Das Partizip eines perfektivischen Verbs kann nicht gleichzeitig von einem Dauer anzeigenden Adverb und von einem Agens-Komplement oder einem Adverb der Art und Weise begleitet werden (vgl. Salvi 1988: (479-480)): (45) a. *La porta è chiusa da Piero da un pezzo. b. *La porta è chiusa violentemente da un pezzo. Der Faktor c) ist hingegen mit a) und b) kompatibel: in diesen Fällen wird die passivische Interpretation gewählt (vgl. Salvi 1988: (481-482)): (46) a. Il libro è stampato dalla premiata tipografia Appelli. b. La porta è chiusa improvvisamente. Im Hinblick auf weitere Tempora gilt nach Salvi (1988: 89), dass sich das Präsens Konjunktiv, Konditional, Infinitiv und Gerundium sowie das Imperfekt Indikativ, Konjunktiv sowie das attributiv verwendete Partizip genauso verhalten wie das Präsens Indikativ in den obigen Beispielen. Salvi ergänzt hierzu noch, dass beide vorgenannten Interpretationen dann möglich sind, wenn einem Verb des Wollens ein Präsens Konjunktiv oder Infinitiv untergeordnet wird. Das passato remoto favorisiert mit allen Verben die passivische Bedeutung; nur die Hinzufügung eines Adverbs der Dauer kann die Zustands-Interpretation herbeiführen (45d) 81 (vgl. Salvi 1988: (488-491)): (47) a. La porta fu chiusa. b. La mamma fu baciata. c. Maria fu amata. d. La porta fu chiusa per molti anni. 81 Allerdings würden hier, so Salvi (1988: 90), statt essere eher die Verben restare oder rimanere verwendet werden. <?page no="116"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 116 Alle zusammengesetzten Zeiten verhalten sich wie das passato remoto, lassen aber leichter die Zustands-Interpretation zu (La porta è/ era stata chiusa per molti anni). 82 Als nächstes Auxiliar behandelt Salvi (1988: 91 f.) venire, das nur in den nichtzusammengesetzten Zeiten des Verbs verwendet werden kann (*Ē venuta baciata.). Seine Verwendung bedeutet immer Aktion, so dass eine Passivkonstruktion mit venire im Gegensatz zu denen mit essere niemals ambig ist. Das Auxiliar venire kann mit allen Verben verwendet werden, die Aktion anzeigen, und seine Verwendung ist besonders häufig in Fällen, in denen essere nicht verwendet werden kann oder die Zustands- Interpretation favorisiert würde wie in den folgenden Beispielen (vgl. Salvi 1988: (500- 501)): (48) a. La mamma viene baciata. b. La porta viene chiusa. Salvi (1988: 91) zeigt weiter, dass das Auxiliar venire mit dem Agens-Komplement und den Adverbien der Art und Weise kompatibel ist (49a), während Adverbien der Dauer nur verwendet werden können, wenn das Verb imperfektivisch ist (49b,c). Nach Salvi kann (49b) nur dann eine mögliche Interpretation haben, wenn das Adverb der Dauer sich auf einen Zeitraum bezieht, in dem die ausgedrückte Aktion systematisch wiederholt wird (49d), also nicht in Bezug auf den Zeitraum, in dem ein bestimmter Zustand gültig ist (vgl. Salvi 1988: (502-505)): (49) a. La porta venne chiusa violentemente da Piero. b. *La porta viene chiusa da un pezzo. c. Lo studente viene perseguitato da anni. d. La porta viene chiusa a un pezzo tutte le sere alle dieci. Abschließend erwähnt Salvi (1988: 92) die Konstruktion <mi venne fatto di + Infinitiv> aus der literarischen Sprache, die eine eher eventive als passivische Bedeutung hat, nämlich „mi accadde di“. Rarer sind die Ausdrücke „mi venne detto/ fatto/ scritto + Subjekt-NP“, z.B. mi vennero scritte le seguenti parole (vgl. Salvi 1988: (506)), ebenfalls eher eventiv intendiert als “mi capitò di scrivere le seguenti parole” als passivisch im Sinne von “da me furono scritte le seguenti parole”. Aus syntaktischer Perspektive ist das Partizip hier ein prädikatives Komplement. Zum Passiv-Auxiliar andare führt Salvi (1988: 92 f.) aus, dass es zwei Interpretationen besitzt: In der einen ist es eine Variante von essere mit einer aspektuellen Nuance, die den Ablauf des Prozesses unterstreicht, in der anderen hat es die Bedeutung der Notwendigkeit. Letztere ist bei allen Verben möglich, aber nur in den nicht-zusammengesetzten Zeiten zulässig (mit Ausnahme des passato remoto), vgl. Salvi (1988: (507- 508)): 82 Vgl. Salvi (1988: 89 ff.) für Details zur Interpretation einzelner Tempora und Modi in Verbindung mit essere und Partizip. <?page no="117"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 117 (50) a. Questo pacco andrà recapitato prima di sera. (= “dovrà essere recapitato”) b. La lettera andava consegnata a Maria, non a Giovanni (= “doveva essere consegnata”) Die aspektuelle Bedeutung ist in allen Tempora und Modi (mit Ausnahme des trapassato remoto im Indikativ) möglich, aber nur mit einer beschränkten Zahl von Verben: distruggere, (dis)perdere, smarrire, spendere, sprecare, versare und andere von gleicher Bedeutung (d.h. Verlust oder Zerstörung) wie z.B. in Molti libri sono andati smarriti durante il trasloco (vgl. Salvi (1988: 509)). Salvi (1988: 92) macht deutlich, dass, während die Passivbildung mit essere und venire einen (expliziten oder mitverstandenen) Agens impliziert, dies bei der aspektuellen Konstruktion mit andare nicht der Fall ist: Der Satz Il libro andò smarrito macht keine Aussage über den/ die Verantwortliche(n) für den Verlust. Das Beispielpaar in (651) (vgl. Salvi 1988: (514-515)) verdeutlicht, dass <andare+Partizip> sich in der aspektuellen Bedeutung wie eine intransitive Konstruktion verhält und wie eine Sequenz <Verb + prädikatives Komplement> analysiert werden sollte: (51) a. *Il libro andò distrutto per compiacere l’Inquisizione. b. Il libru fu distrutto per compiacere l’Inquisizione. Schließlich weist Salvi (1988: 93) darauf hin, dass, wenn <andare + Partizip> in der deontischen Bedeutung verwendet wird, auch wenn nie ein explizites Agens-Komplement präsent sein darf (*Questo libro va letto da tutti), dennoch ein Agens mitverstanden wird und sich diese Konstruktion somit wie passivische Bildungen mit essere und venire verhält (vgl. (67b)). Salvi (1988: 93 f.) zeigt ferner, dass Periphrasen mit passivischer Bedeutung auch mit anderen Verben gebildet werden können. Diese verhalten sich wie andare in der aspektuellen Bedeutung und können alle wie Konstruktionen mit prädikativem Komplement (Subjekt oder Objekt) analysiert werden. Die häufigsten sind restare, rimanere sowie finire (prädikatives Komplement des Subjekts) wie in Il poveretto finì schiacciato sotto un tram (vgl. Salvi 1988: (521)). Auch preferire und desiderare sind möglich (prädikatives Komplement des Objekts: Questa parete la preferirei dipinta di giallo (vgl. Salvi 1988: (522)). Im Hinblick auf die Passiv-Auxiliare und aspektuellen Eigenschaften des Französischen weist Grevisse ( 13 1993: § 741) gleich zu Beginn darauf hin, dass die Präsenz des Auxiliars être allein nicht das Passiv charakterisiert, da es auch Verben gibt, die ihre zusammengesetzten Zeiten mit être bilden (z.B. il est tombé/ venu) 83 . Zu être als dem einzigen Auxiliar des Passivs hält Grevisse ( 13 1993: § 782) fest, dass es in seinen passivischen Formen keine fundamental andere Rolle spielt, als es sie in seiner Funktion als Kopula hat. In diesem Zusammenhang erwähnt Grevisse eine für die vorliegende Studie relevante tempusabhängige Ereignis-Lesart: Wenn es kein Agens-Komplement gibt und das Verb im Indikativ Präsens, Imperfekt oder Futur steht, wird das Partizip als Äquivalent eines einfachen attributiven Adjektivs verstanden. Es wird nur das Resultat gesehen wie 83 Tatsächlich handelt es sich hier, wenn auch nicht als solche bezeichnet, um unakkusative Verben. <?page no="118"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 118 z.B. in Vous entrerez facilement: la porte sera ouverte. Dagegen bewirkt die Präsenz bestimmter Komplemente (außer dem Agens-Komplement) bei dem Verb „ein richtiges Passiv“ wie z.B. La porte est ouverte lentement/ avec précaution. Für die Tempora passé simple und passé composé wird hingegen ein Passiv angenommen, das eine Aktion beschreibt und einen Agens evoziert: La porte fut fermée. La rue a été bloquée. Wie im Italienischen entstehen also auch im Französischen unterschiedliche Lesarten in Kombination mit unterschiedlichen Tempora. Grevisse ( 13 1993: § 742f) führt weiter aus, dass, wenn die Semi-Auxiliare 84 achever oder finir einem Infinitiv vorausgehen, der Ausdruck durch die Passivierung der Semi- Auxiliare eine passivische Bedeutung erhalten kann. Hierzu ist zunächst anzumerken, dass nach Grevisse ( 13 1993: § 740, 744) die Semi-Auxiliare Tempus und Aspekt ausdrücken. Ein Beispiel für diese Verwendung von achever ist: Le château n’était pas achevé de meubler. Grevisse merkt ferner an, dass es sehr selten ist, zugleich das Semi- Auxiliar und den Infinitiv zu passivieren: Il n’était pas achevé d’être bâti. Die Passivierung des Semi-Auxiliars commencer ist nicht sehr häufig, zumindest nicht in der geschriebenen Sprache. Nach Grevisse ist die Passivierung von anderen Verben als den Semi-Auxiliaren, die einen Infinitiv einführen, exzeptionell und wenig empfehlenswert, wie im folgenden Beispiel gezeigt wird: Où sont les limites permises d’atteindre, défendues de dépasser? Auch hierin besteht eine Parallele zum Spanischen und Italienischen. Grevisse ( 13 1993: § 742 f) erwähnt ferner, dass faire savoir in der Verwaltungssprache in ein bislang noch nicht erwähntes „passif impersonnel“ gesetzt wird: Il est fait savoir à la population que... Bei Grevisse wird nicht deutlich, dass das französische periphrastische Passiv <être + PP> (i.d.R. eines transitiven Verbs) das Problem einer systematischen Mehrdeutigkeit hat, da sowohl Vorgangspassiv (dt. werden) als auch Zustandspassiv (dt. sein) ausgedrückt werden, z.B. in La porte est fermée. 85 Lamiroy (1993: 54 f.) zeigt in diesem Zusammenhang die folgenden aspektuellen Gesichtspunkte auf, wobei hier vorrangig Unterschiede zwischen Aktivsätzen und ihren entsprechenden Passivsätzen angesprochen werden. Zunächst gilt, dass in den imperfektiven Tempora das französische 84 Grevisse ( 13 1993: § 789 ff.) versteht hierunter Verben, die, mit einem Infinitiv oder manchmal mit einem Partizip oder Gerundium konstruiert, ihre eigene Bedeutung mehr oder weniger verlieren und dazu dienen, diverse Nuancen des Tempus, Aspekt oder anderer Modalitäten der Aktion auszudrücken. Für die Auxiliare être und avoir hält Grevisse ( 13 1993: § 783) jedoch auch fest, dass sie Aspekt ausdrücken können, nämlich wenn sie mit bestimmten intransitiven oder intransitiv verwendeten Verben (vgl. Liste in § 783) kombiniert werden. Hier wird grundsätzlich avoir verwendet, wenn die Verben die Aktion ausdrücken sollen und être, wenn der aus der Aktion resultierende Zustand intendiert ist. 85 Vgl. hierzu auch die textlinguistisch ausgerichtete Studie von Polzin (1998: 139 ff.), die eine Reihe von Desambiguierungsvorschlägen diskutiert, die jedoch alle umstritten sind, und zum Schluss kommt, dass die Vorschläge zu sehr satzorientiert sind und zu wenig der weitere linguistische Kontext einbezogen wird. Ferner merkt Polzin (1998: 140, Fußnote 8) an, dass das Spanische und Italienische im Gegensatz zum Fran-zösischen nicht ambig seien, was die hier vorangegangenen detaillierten Ausführungen jedoch korrigieren dürften: Es wurde gezeigt, dass trotz des Auxiliars estar im Spanischen in den Konstruktionen mit ser und ähnlich im Italienischen trotz venire in den Konstruktionen mit essere Ambiguitäten vorhanden sind. <?page no="119"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 119 periphrastische Passiv a priori einem imperfektivischen oder einem perfektivischen Aktiv entsprechen kann, wie ihre folgenden Beispiele zeigen (vgl. Lamiroy 1993: (8)): (52) a. Max est battu. b. On (bat + a battu) Max. Lamiroy (1993: 55) zufolge wird häufig festgestellt, dass vor allem dann, wenn das Verb selbst perfektivisch ist, in der neutralsten Lesart eines Satzes die Entsprechung zwischen dem Passiv und dem Aktiv einen Wechsel des Tempus impliziert, der von einem unvollendeten zu einem vollendeten Tempus führt (vgl. Lamiroy 1993: (9)): (53) a. L’intérieur était meublé avec goût. b. On (avait meublé + ? * meublait) l’intérieur avec goût. Die seltenen Fälle, in denen der aspektuelle Wert konstant bleibt, sind nach Lamiroy diejenigen, in denen der Passivsatz eine generische oder iterative Bedeutung hat, d.h. zwei Merkmale, die die aspektuellen Restriktionen, die üblicherweise mit einer determinierten Struktur assoziiert werden, neutralisieren, wie in den folgenden Beispielen illustriert (vgl. Lamiroy 1993: (10-11)): (54) a. Ces soirées étaient détestées par les enfants. b. Les enfants détestaient ces soirées. c. Le cuir est traité par le tanneur. d. Le tanneur traite le cuir. Weitere aspektuelle Eigenschaften stellt Lamiroy (1993: 64 ff.) im Zusammenhang mit einem Vergleich des periphrastischen und des pronominalen Passivs fest. Sie werden im Unterkapitel 3.2.2 Abschnitt im Zusammenhang mit den se-Konstruktionen behandelt. Zusammenfassend lassen sich bezüglich aspektueller Beschränkungen also eine Reihe von Parallelen zwischen den drei romanischen Sprachen feststellen. 3.2.1.3 Weitere Restriktionen des periphrastischen Passivs Für das Italienische gelten nach Salvi (1988: 90 f.) weitere, syntaktische Eigenschaften für die passivische Konstruktion von der Konstruktion <essere + Partizip>. Nur in der letzteren kann ein Partizip mit einem Adjektiv koordiniert werden (vgl. Salvi 1988: (495)): (55) Il libro è stampato con cura, ma molto caro. Das, was im Passiv das Agens-Komplement ist, kann beim adjektivischen Partizip von anderen präpositionalen Komplementen repräsentiert werden (vgl. Salvi 1988: 496- 497)): (56) a. La pianura fu ricoperta dalla neve. (passivisch) b. La pianura è ricoperta di neve. (essere + Partizip) <?page no="120"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 120 3.2.2 Passivkonstruktionen mit se/ si in den drei romanischen Sprachen In den meisten zitierten Darstellungen werden die Eigenschaften der passivischen se- Konstruktion im Vergleich und in Abgrenzung von denen des periphrastischen Passivs (und teilweise, v.a. für das Italienische, in Abgrenzung von der unpersönlichen Konstruktion) dargestellt, die hier notwendigerweise mit übernommen wird, auch wenn dies zu Redundanzen führt. 3.2.2.1 Lexemspezifische Restriktionen des Passivs mit se/ si Für das Spanische zeigt Mendikoetxea (2000b: 1669 ff.), im Gegensatz zu vielen spanischen Grammatiken, die eine semantische Äquivalenz beider Passivkonstruktionen behaupten, dass die passivischen se-Konstruktionen einen weitaus weniger restringierten Charakter aufweisen als die periphrastischen Passivkonstruktionen. Die Evidenz für die weitgehend unrestringierte Natur der se-Konstruktionen schöpft Mendikoetxea (2000b: 1669 ff.) einerseits aus den Verbtypen, die in se-Konstruktionen und dem periphrastischen Passiv auftreten können, andererseits aus dem verbalen Aspekt, genauer dem von Mendikoetxea definierten syntaktischen, d.h. perfektiven oder imperfektiven, Aspekt. Mit dem Verbtyp beginnend hält Mendikoetxea (2000b: 1669) zunächst fest, dass sowohl für das periphrastische als auch für das Passiv mit se eine essentielle (aber, wie in 3.2.1.1 erwähnt, für das peripharastische Passiv noch nicht hinreichende) Bedingung besteht: Das Verb muss transitiv sein. Jedes transitive Verb mit unbelebtem Objekt kann in einer Passivkonstruktion mit se auftreten, wobei keine Restriktionen hinsichtlich der thematischen Rolle des logischen Subjekts bestehen, welches in dieser Konstruktion implizit bleibt, wie die folgenden Beispiele von Mendikoetxea (2000b: (28)) für Verben mit Agens-Subjekt (divulgar), Empfänger-Subjekt (recibir), Experiencer-Subjekt (temer) und Quell-Subjekt (enviar) zeigen: (57) a. Se divulgaron rumores sobre un nuevo encarcelamiento. b. Se han recibido varias quejas de los proprietarios de pisos. c. Se temen las nuevas movilizaciones anunciadas. d. Se están enviando cartas a todos los ayuntamientos. Ferner können auch Verben, die zwischen transitiven und intransitiven Verwendungen alternieren, in der se-Konstruktion auftreten. Damit meint Mendikoetxea (2000b: 1670) sowohl diejenigen Verben, die ein Objekt haben, das die Bedeutung des Verbs ganz oder teilweise wiederholt wie z.B. vivir la vida, llorar el llanto, 86 als auch Bewegungsverben mit lokativischen Objekten wie z.B. correr, cruzar, bajar in den folgenden Beispielen (vgl. Mendikoetxea (2000b: 29)): (58) a. Se vive la vida alegremente./ Se ríe la risa de un tonto./ Se llora el llanto de un niño./ Se cantaron canciones… 86 Damit beschreibt Mendikoetxea (2000a,b) kognate Objekte, die nicht als echte Partizipanten betrachtet werden und in ihrer transitiven Verwendung nicht im periphrastischen Passiv auftreten können, vgl. 3.2.1.1. <?page no="121"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 121 b. Ayer se corrieron unos 100 metros./ A menudo se cruzan las calles sin mirar./ Se bajan las escaleras demasiado deprisa... Auch die Verben wie dar, tomar, tener und hacer, die in mehr oder weniger idiomatisierten Konstruktionen auftreten und hier als „light verbs“ fungieren, also den Objekten der Konstruktionen mehr semantisches Gewicht überlassen, können - anders als im periphrastischen Passiv (vgl. 3.2.1.1) - unbeschränkt in der se-Konstruktion auftreten (vgl. Mendikoetxea (2000b: (31)): (59) a. Se dan los buenos días al cruzarse con un vecino./ Si se tienen ganas, se hace cualquier cosa/ Se hacen visitas a los enfermos… b. *Fueron dadas muchas patadas en el partido de la copa. / *Ha sido tenido cuidado/ ? ? Fueron hechas varias visitas a los hospitales. Mendikoetxea (2000b: 1671) betont, dass die “semantische Natürlichkeit des logischen Objekts des Verbs” eine wichtige Rolle spielt, wie auch die obigen Beispiele schon zeigen: Ist es als “intern”, d.h. eng mit der Verbbedeutung verbunden (wie im Fall von hacer visitas), zu verstehen, kann nur eine passivische se-Konstruktion gebildet werden. Ist es hingegen als „extern“ zur Verbbedeutung zu verstehen, ist auch das periphrastische Passiv möglich, wie die beiden Verwendungsweisen von hacer im Beispiel von Mendikoetxea (2000b: (32)) belegen: (60) a. Ayer se hicieron muchas visitas a los hospitales. b. El año pasado fueron hechas muchas obras de mejora en los hospitales. Für das Italienische gelten - im Gegensatz zum Spanischen nach den obigen Ausführungen - deutlich stärkere und zahlreichere Restriktionen für das si passivo, wie im Folgenden basierend auf Salvi (1998) ausgeführt wird. Da semantische und syntaktische Kriterien untrennbar und im Vergleich mit dem periphrastischen Passiv sowie mit dem unpersönlichen si dargestellt werden, wobei modal-temporal-aspektuelle Restriktionen nur eine geringe Rolle spielen und syntaktische Restriktionen überwiegen, werden diese alle im Abschnitt „Weitere Restriktionen“ präsentiert. Für das Französische geht Grevisse ( 13 1993: § 742 i) auf die passivischen Konstruktionen mit se deutlich kürzer ein als auf das periphrastische Passiv. Zur Möglichkeit, statt des periphrastischen Passivs mit être eine pronominale Konstruktion zu bilden, führt er aus, dass diese Konstruktion die passivische Bedeutung ebenfalls bewahrt und dabei den Agens ausschließt, wie sein Beispiel zeigt: On parle encore cette langue -> Cette langue se parle encore. Dabei kann die pronominale Konstruktion nach Grevisse auch mit den Semi-Auxiliaren faire, laisser und voir kombiniert werden: On l’a battu -> il s’est fait battre/ laissé battre. Ferner kann in dieser Konstruktion auch ein indirektes Objekt zum Subjekt werden, während das direkte Objekt Komplement bleibt, wie das von Grevisse ( 13 1993: § 742 i) zitierte literarische Beispiel zeigt: D’autres [...] se voient imposer une image affligeante d’eux-mêmes. Diese kurzen Ausführungen von Grevisse suggerieren, dass wie im Spanischen die se- Konstruktion weniger Restriktionen unterliegt als das periphrastische Passiv. Dagegen sprechen jedoch die Ausführungen von Lamiroy (1993: 64 ff.), in denen das periphras- <?page no="122"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 122 tische und das pronominale Passiv im Französischen in vier Punkten verglichen werden: Typ des Subjekts, „aktantieller Typ des Verbs“ (d.h. die jeweilige Argumentstruktur der passivierten Verben), Agens-Typ und Aspekt. Zum ersten Punkt, der die hier relevanten lexemspezifischen Restriktionen betrifft, hält sie fest, dass eine der Eigenschaften des pronominalen Passivs, die in allen Grammatiken beschrieben wird und die es vom periphrastischen Passiv unterscheidet, darin besteht, dass die Subjekt-NP sich auf die dritte Person und auf unbelebte Subjekte beschränkt. Ein belebtes Subjekt erscheint nur mit bestimmten Verben und ist außer in generischen oder kollektiven Nomina oder in Werbekontexten generell unakzeptabel, wie die folgenden zulässigen Beispiele illustrieren (vgl. Lamiroy 1993: (55)): (61) a. Max (a été + s’est) tué dans un accident de voiture. b. Les femmes, ça se fouette (zitiert von Ruwet 1972) c. Les ouvriers se payent à la semaine. Weiter ist nach Lamiroy (1993: 65) das pronominale Passiv auch im Hinblick auf die Argumentstruktur der beteiligten Verben eingeschränkter als die periphrastische Struktur: Während das periphrastische Passiv vorrangig von direkten transitiven Verben 87 gebildet wird, findet man im unpersönlichen (periphrastischen) Passiv auch indirekte transitive Verben und rein intransitive Verben. Im Passiv mit se sind hingegen ausschließlich direkte transitive Verben zulässig, wie die folgenden Beispiele von Lamiroy (1993: (56)) belegen 88 : (62) a. *Il s’est procédé à une autopsie. b. *Il se dort bien dans ce lit. Zusammenfassend verdeutlicht dieser Abschnitt grundlegende Unterschiede zwischen dem Spanischen einerseits und dem Italienischen und Französischen andererseits im Hinblick auf die generelle Verwendbarkeit des synthetischen Passivs mit se/ si. 3.2.2.2 Modal-temporal-aspektuelle Restriktionen Für das Spanische führt Mendikoetxea (2000b: 1672) den bezeichneten „marcado carácter intencional“ der periphrastischen Passivkonstruktion genauer aus, d.h. die markierte Absichtlichkeit dieser Konstruktion 89 , die mit der gefühlten Präsenz des impliziten Subjekts assoziiert wird. Vergleicht man das periphrastische Passiv mit anderen Konstruktionen, für die Mendikoetxea (2000b) im gleichen Beitrag eine Graduierung hinsichtlich der gefühlten Präsenz des expliziten logischen Subjekts vornimmt (z.B. inchoative, mediale, passivische und unpersönliche Konstruktionen mit se), so weisen die periphrastischen Passivkonstruktionen die höchste Präsenz des Agens auf, die natür- 87 Lamiroy (1993: 65) spricht hier von „verbes transitifs directs“ und meint vermutlich zweiwertige Verben mit direkten Objekten in Abgrenzung zu zweiwertigen Verben mit indirekten Objekten wie z.B. proceder à X. 88 Nach Zribi-Hertz (1982: 369) ist dies sogar der einzige reelle syntaktische Unterschied zwischen den beiden Passivtypen. 89 Demgegenüber scheint Mendikoetxea die Passivkonstruktionen mit se als unmarkierte Option des Ausdrucks von Passivität zu betrachten. <?page no="123"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 123 lich mit einer Präpositionalphrase (mit por) explizit gemacht werden kann. Mit anderen Worten ist nach Mendikoetxea ein periphrastisches Passiv ohne explizites Subjekt weniger unpersönlich als eine passivische se-Konstruktion mit den gleichen Charakteristika. Mendikoetxea (2000b: 1672) betont, dass sowohl die passivischen se- Konstruktionen (z.B. Se solucionaron los problemas) als auch die periphrastischen Passivkonstruktionen (z.B. Los problemas fueron solucionados) die Präsenz eines Agens voraussetzen. Bei verfeinerter Interpretation lässt sich jedoch beobachten, dass, während in der periphrastischen Konstruktion die Präsenz eines konkreten Agens vorausgesetzt wird, der über ein externes Objekt operiert (los problemas), die Konstruktion mit se eine Tatsache erwähnt, in der der Agens viel unbestimmter bleibt. Aus der oben beschriebenen „Absichtlichkeit“ leitet Mendikoetxea einen „Dynamismus“ der periphrastischen Passivkonstruktion ab, während für habituelle Aktionen mit wenig bestimmten Agenten und für generelle (nicht-dynamische) Äußerungen exklusiv das Passiv mit se verwendet wird. Hiermit ist nach Mendikoetxea auch direkt die Frage nach dem lexikalischen Aspekt verbunden: Die Konstruktionen mit se erscheinen mit allen aspektuellen Verbklassen, ob perfektivisch (z.B. Se vendieron todas las entradas) oder imperfektivisch (z.B. Se oyeron unos ruidos extraños). Das Gleiche gilt für den Satz-Aspekt - auch hier treten sowohl perfektivische Konstruktionen (s.o.) als auch imperfektivische auf (z.B. Siempre se venden todas las entradas para la final de la copa), während die Lage für das periphrastische Passiv komplizierter ist: Mendikoetxea (2000b: 1673) greift hier die allgemeine Annahme auf, dass nur diejenigen Verben, die aspektuell imperfektivisch sind, ohne aspektuelle Begrenzung im periphrastischen Passiv auftreten dürfen, während perfektivische Verben nur in Kontexten von punktuellen Aktionen und in perfektivischen Tempora auftreten dürfen, was die Ungrammatikalität von *La puerta es abierta por el portero gegenüber dem grammatischen Satz La puerta fue abierta por el portero erklärt. Dennoch gibt es nach Mendikoetxea viele Gegenbeispiele für beide Verbklassen. Zusammenfassend hält Mendikoetxea (2000b: 1673) fest, dass das periphrastische Passiv sich auf punktuelle Aktionen mit externen Objekten „spezialisiert“ und einen deutlich „absichtlichen“ Charakter aufweist, der die Existenz eines abgegrenzten impliziten Subjekts anzeigt. Hingegen scheinen sich die passivischen Konstruktionen mit se auf Aktionen mit habituellem oder generellem Charakter, mit internen Objekten und impliziten Subjekten zu „spezialisieren“. Im Gegensatz zum periphrastischen Passiv weisen die passivischen se-Konstruktionen keine Restriktionen hinsichtlich der semantischen Natur der logischen Objekte des Verbs, der logischen Subjekte und der aspektuellen Eigenschaften auf, weshalb sie als flexibler gelten und häufiger verwendet werden. Im diesem Zusammenhang erwähnt Mendikoetxea auch, dass, während die se- Konstruktionen mündlich und schriftlich verwendet werden, das periphrastische Passiv mehr in der geschriebenen Sprache auftritt, auch zunehmend in der Zeitungssprache, v.a. im Spanischen Amerikas (evtl. aufgrund englischen Einflusses). Die in Abschnitt 3.3 vorgestellte Studie von Sansò (2006) zeigt jedoch, dass auch innerhalb der spanischen Schriftsprache eine Aufgabenteilung in Abhängigkeit von diskursiven Situationstypen besteht und insgesamt häufiger se-Konstruktionen (die er aber als mediale Konstruktionen bezeichnet) als periphrastisches Passiv verwendet werden. <?page no="124"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 124 Für das französische pronominale Passiv mit se greift Lamiroy eine Bemerkung von Ruwet (1972) auf, wonach dieses Passiv gewöhnlicherweise mit dem unvollendeten Aspekt assoziiert ist und sich für eine ereignisbezogene Präsentation von Fakten wenig eignet. Diese Bemerkung erklärt nach Lamiroy, warum das se-Passiv häufig eine generische oder deontische Lesart hat wie in den folgenden Beispielen (vgl. Lamiroy 1993: (57)): (63) a. Le homard se mange au crochet. (zitiert nach Ruwet 1972) b. Cela ne se (dit + fait) pas. Lamiroy diskutiert eine Annahme von Zribi-Hertz (1982), wonach beim se-Passiv der Ausdruck eines Prozesses nicht ganz ausgeschlossen ist. Wenn dies wahr ist, so Lamiroy, gilt dennoch, dass das pronominale Passiv nicht in den Tempora der Vollendung akzeptabel ist, außer wenn zusätzliche Bedingungen miteinbezogen werden, die das periphrastische Passiv nicht kennt. Hierzu gehört insbesondere, dass eine iterative Lesart möglich sein und/ oder der im Prozess implizierte Agens ganz undeterminiert bleiben muss. Außerhalb dieser Fälle scheint, so Lamiroy, das pronominale Passiv sich tatsächlich vorzugsweise mit dem unvollendeten Aspekt zu assoziieren, während es eine intrinsische Assoziation zwischen dem periphrastischen Passiv und dem Ausdruck eines Zustands gibt, worin Lamiroy eine natürliche Spezialisierung erkennt. 3.2.2.3 Weitere Restriktionen Mendikoetxea (2000b: 1637) weist für das Spanische auf die Einschränkung hin, wonach im se-Passiv - anders als im periphrastischen Passiv - der Agens gar nicht ausgedrückt werden darf, auch nicht durch eine Präpositionalphrase mit por 90 (vgl. Mendikoetxea 2000b: (3)): (64) a. *Se pasaron los trabajos a ordenador por Sandra. b. Se pasaron los trabajos a ordenador. Los pasó Sandra. Ferner kann das periphrastische Passiv auch mit Verben gebildet werden, die in der aktivischen Konstruktion ein belebtes und mit der Präposition a eingeführtes Objekt haben (Mendikoetxea 2000b: (4)): (65) a. Un futbolista agredió a una periodista de TVE. b. Una periodista de TVE fue agredida (por un futbolista). Hingegen ist es nicht möglich, aus dem aktivischen Satz (65a) ein Passiv mit se zu bilden: Der Satz Una periodista de TVE se agredió müsste reflexiv als Una periodista de TVE agredió a se misma interpretiert werden (vgl. Mendikoetxea 2000b: 1637). Basierend auf Salvi (1988) werden an dieser Stelle nun für das Italienische die vorrangig syntaktischen Distributionsbedingungen des si passivo vorgestellt, beginnend mit den wichtigsten Unterschieden zwischen dem periphrastischen Passiv und dem si passivo (vgl. Salvi 1988: 107 ff.). 90 Vgl. jedoch die Gegenbelege in Abschnitt 3.1.3, die Oesterreicher (1992: 251, Fußnote 5) der einschlägigen Literatur zum Spanischen entnommen hat. <?page no="125"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 125 1. Mit si passivo kann der Agens nicht mit der Präposition da eingeführt werden, es muss stattdessen die Präposition da parte di gewählt werden: *Da noi/ Da parte nostra si vorrebbe un rinnovamento dell’apparato amministrativo. (vgl. Salvi 1988: (621)). 2. Beim si passivo ist das logische Subjekt immer menschlich und steht im Plural, während es für das periphrastische Passiv keine Restriktionen hinsichtlich des Typs des logischen Subjekts gibt. 3. Das si passivo erlaubt nur ein Subjekt der dritten Person. In der ersten oder zweiten Person ist die Verwendung des si impersonale obligatorisch; 4. In Konstruktionen mit si passivo wird die präverbale Position des Subjekts nicht immer akzeptiert, anders als in periphrastischen Passivkonstruktionen (vgl. Salvi 1988: (622-623)): (66) a. In quel giorno si circondarono le postazioni nemiche. / ? ? Le postazioni nemiche si circondarono in quel giorno. b. Furono circondate le postazioni nemiche. / Le postazioni nemiche furono circondate. Generell gilt, dass die postverbale Position nur dann zugelassen wird, wenn der Satz eine generische Bedeutung hat, vgl. die folgenden Beispiele von Salvi (1988: (624- 625)), wobei (67a) mit punktueller Bedeutung im passato prossimo steht und daher nicht perfekt akzeptabel ist, während (67b) im Präsens mit genereller Aussage verbunden ist: (67) a. ? ? Il tè si è servito alle cinque. / Alle cinque si è servito il tè. b. Il tè si serve alle cinque. / Alle cinque si serve il tè. 5. Aus semantischer Sicht nähert sich die Konstruktion mit si passivo in einigen Aspekten derjenigen intransitiver Verben an, während die periphrastische Passivkonstruktion sich der aktivischen nähert, wie die folgenden Beispiele von Salvi (1988: (626-627)) verdeutlichen, wobei sich in (68a) das Adverb auf das Subjekt bezieht und es die Qualität der Bücher bedingt, dass der Verkauf einfach ist, während in (68b) das Adverb Bezug auf den nicht ausgedrückten Agens nimmt und so die Fähigkeit der Verkäufer den Verkauf erleichtern: (68) a. Questi libri si vendono agevolmente. b. Questi libri sono venduti agevolmente. 6. Salvi (1988: 108) merkt hierzu weiter an, dass in jedem Fall in der Konstruktion mit si passivo angenommen werden muss, dass es immer einen (expliziten oder impliziten) Agens gibt, der vom Subjekt verschieden ist. Dies erklärt auch die Ungrammatikalität in (69a), das semantisch inkongruent ist, während (69b) mit einem intransitiven Verb grammatisch ist, weil kein Agens vorausgesetzt wird, der mit dem Ausdruck da sola inkongruent wäre (vgl. Salvi 1988: 628-629)): (69) a. *Si è affondata questa nave da sola. b. Questa nave è affondata da sola. <?page no="126"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 126 Zur Distribution von si passivo und si impersonale zeigt Salvi (1988: 103 f.) zunächst, dass beide mit allen finiten Modi des Verbs (mit Ausnahme des Imperativs, der keine dritte Person besitzt) verwendet werden können, hingegen nicht mit partizipialen Konstruktionen wie z.B. in *Lizentiatasi Maria, ... (in der Bedeutung “dopo che ebbero licenziato M.”, vgl. Salvi 1988: (587)) und generell nicht im Infinitiv, z.B. in *Si è detta quella cosa senza pensarsi (vgl. Salvi 1988: (590)). Ausnahmen von diesen Einschränkungen stellen nach Salvi (1988: 103 f.) jedoch die folgenden Konstruktionen dar: 1. Konstruktionen mit Anhebungsverben erlauben das si passivo (nach Salvi erkennbar an der Pluralform), aber nicht das si impersonale, wie Salvi (1988: (591-592)) zeigt: (70) a. Possono trovarsi nuovi reperti. b. *Può mangiarsi bene. Ferner können beide Konstruktionen mit dem regierenden Verb verwendet werden, wenn das Anhebungsverb gleichzeitig ein Restrukturierungsverb ist (71a,b); wenn das Verb keine Restrukturierung erlaubt, sind beide si ungram-matisch (71 c,d) (vgl. Salvi 1988: (593-596)) (71) a. Si possono trovare nuovi reperti. b. Si può mangiare bene. c. *Si sembrano trovare nuovi reperti. d. *Si sembra dormire troppo. 2. AcI-Konstruktionen wie Ritengo essersi speso troppo. (vgl. Salvi 1988: 597)). Außerdem sind sowohl si impersonale als auch si passivo in Gerundiv-Konstruktionen möglich, jedoch nur in den Fällen, in denen auch ein explizites Subjekt möglich ist (vgl. Salvi 1988: (598)): (72) a. Essendosi provveduto a tutto, ... (vgl. Avendo Giorgio provveduto a tutto,…) b. *Provvedendosi a tutto, … (vgl. *Provvedendo Giorgio a tutto,…) Das si impersonale ist jedoch mit AcI- und Gerundiv-Konstruktionen zulässig, wenn das Verb, für das si das Subjekt ist, nicht unakkusativ ist. Neben der Form des si passivo mit transitiven Verben z.B. in (73a,b) gibt es Formen mit si impersonale nur mit unergativen Verben (73c,d), vgl. Salvi (1988: 599-601): (73) a. Non essendosi scoperto i responsabili… b. Non essendo dormito a sufficienza… c. *Non essendosi arrivati puntuali… d. *Non essendosi stati invitati da nessuno… 3. In Konstruktionen mit da, das von Adjektiven wie facile oder piacevole regiert wird (z.B. un libro piacevole da leggersi, vgl. Salvi 1988: (602)), steht die Form mit si in Alternation mit der Form ohne si. Während in der Konstruktion mit si das Subjekt des Infinitivs nur eine generische Interpretation haben kann, darf das Subjekt in der Konstruktion ohne si auch mit einem Element des Kontextes koreferent sein wie im folgenden Beispiel (vgl. Salvi 1988: (603)): <?page no="127"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 127 (74) a. Per me questa casa è difficile da vendere. (Das Subjekt von vendere kann generisch sein oder io entsprechen) b. Per me questa casa è difficile da vendersi. (Das Subjekt von vendere ist si, also generisch) 4. Die Konstruktion mit si impersonale ist mit allen Kontrollverben möglich, wenn si das Subjekt des regierenden Verbs ist, wie z.B. in Si pretende spesso di avere ragione. (vgl. Salvi 1988: (607)). Dagegen ist si passivo nur möglich mit Restrukturierungsverben: hier steht si mit dem regierendem Verb und das Subjekt vor oder nach der Gruppe ‚regierendes Verb + Infinitiv’ wie in Le case popolari si cominceranno a costruire. / Si cominceranno a costruire le case popolari (vgl. Salvi 1988: (608)). Weitere Distributionsbedingungen betreffen z.B. die Kombination mit anderen klitischen Pronomina. So gilt für die Verwendung des „ne partitivo“, die sowohl mit dem si impersonale unter Korefenz mit dem Objekt (z.B. in Se ne legge molti, vgl. Salvi 1988: (612)) als auch mit dem si passivo möglich ist, wobei für letzteres gilt, dass ne hier mit dem postponierten Subjekt einer unakkusativen Konstruktion verbunden ist: Se ne leggono molti. (vgl. Salvi 1988: (613)). Die Kombination mit reflexiven und reziproken Pronomina sind nur mit dem si impersonale, nicht aber mit dem si passivo (das nach Salvi (1988: 106) eine unakkusative Struktur ist) möglich, wobei aus der Sequenz si rifl. si imp. die Kombination ci si wird, wie im folgenden Beispiel (vgl. Salvi 1988: (615)): 91 (75) a. Ci si compra molte cose inutili. b. *Ci si comprano molte cose inutili. Beide Konstruktionen mit si nehmen häufig eine deontische Bedeutung an, in der das Subjekt als ein Modell präsentiert wird, an das man sich anpassen muss. Dies gilt für das Präsens (Indikativ), vgl. Salvi (1988: (619-620)): (76) a. Non si fa così (= non si deve fare così) b. Si dice Friùli, non Frìuli. Schließlich bestehen nach Salvi (1988: 109) hinsichtlich der Auxiliarselektion Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen si impersonale und si passivo: Wenn das Verb, dem ein si impersonale oder si passivo vorausgeht, das Auxiliar avere wählt, muss dies durch essere ersetzt werden wie z.B. in Uno ha mangiato molto. / Si è mangiato molto (vgl. Salvi 1988: (644)). Ferner gilt, dass das si passivo, aber nicht das si impersonale den Auxiliarwechsel auch dann provoziert, wenn ein zusammengesetzter Infinitiv von einem Anhebungs- und Restrukturierungsverb regiert wird und das si mit dem regierenden Verb zusammensteht (vgl. Salvi 1988: (645-646)): 91 Solche Kombinationsbeschränkungen für Kombinationen von si si, wie Salvi sie hier anführt, behandelt Mendikoetxea nicht, wobei auch im Spanischen die Kombinationen von Klitika beschränkt sind: Fernández Soriano (2000: 1264) weist explizit auf die Unmöglichkeit der Wiederholung eines klitischen Pronomens in einer Kombination hin: *se imp se ref sienta. <?page no="128"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 128 (77) a. A questa età, certe esperienze si devono essere/ *avere fatte. b. A questa età, si deve avere/ *essere fatto certe esperienze. Zur Subjekt-Verb-Kongruenz merkt Salvi (1988: 109 f.) an, dass das si passivo in allen Merkmalen mit dem Subjekt kongruiert (Person, Numerus, Genus), während das Verb mit si impersonale immer in der dritten Person Singular steht. Das Partizip in den zusammengesetzten Zeiten ist Maskulinum Singular, wenn das Auxiliar avere ist, und Maskulinum Plural (Femininum in Ausnahmefällen), wenn das Auxiliar essere ist. Wenn ein von einem klitischen Pronomen repräsentiertes Objekt vorhanden ist, erfolgt die Kongruenz des Partizips mit dem klitischen Pronomen; wenn das Objekt kein klitisches Pronomen ist (in den italienischen Varietäten, die das zulassen), kann in bestimmten Registern die Kongruenz mit dem Objekt erfolgen. Für das Französische ist an dieser Stelle die Nicht-Realisierung des Agens zu erwähnen: Hierzu führt Lamiroy (1993: 66) aus, dass selbst wenn das pronominale Passiv vormals ein Agens-Komplement selegieren konnte, dies im heutigen Französisch ausgeschlossen ist. Dies ist nur im periphrastischen Passiv möglich. Außerdem gilt, so Lamiroy unter Bezug auf Ruwet (1972), dass der Agens im pronominalen Passiv nicht nur implizit, sondern auch arbiträr ist (was die generische Lesart dieser Konstruktionen favorisiert). Auch kann das Agens-Komplement im periphrastischen Passiv ein humanes oder nichthumanes Nomen sein, während der Agens des pronominalen Passivs human sein muss (ob implizit oder generisch), wie in den folgenden Beispielen illustriert (vgl. Lamiroy 1993: (61-62)): (78) a. Ce problème (concerne + affecte) le pays entier. b. Le pays entier est (concerné + affecté). c. *Le pays entier se (concerne + affecte). d. Ceci implique cela. e. Cela est impliqué. f. ? ? Cela s’implique. Lamiroy (1993: 66) merkt ferner an, dass die beiden Eigenschaften des Passivs mit se, die Indetermination des Agens und sein humaner Charakter, es einer Struktur annähern, die deutsche Autoren, wobei sie u.a. die Studie von Karasch (1982) hervorhebt (vgl. Abschnitt 3.3.1.3), ohne Zögern in ihre Passivuntersuchung einbeziehen, nämlich die unpersönliche Struktur, wie man sie im Französischen, Niederländischen oder Deutschen kennt: die Struktur mit indefinitem Subjekt on, men oder man. Tatsächlich haben nach Lamiroy das se-Passiv und der vorgenannte Typ den notwendig humanen Charakter des Agens sowie den Ausschluss der referentiellen Identifikation des Agens gemeinsam, aber Lamiroy weist auch auf einen wichtigen syntaktischen Unterschied hin: Während es im pronominalen Passiv eine Reduktion der Argumente gibt, ist dies in der unpersönlichen Struktur mit on nicht der Fall, und sie sollte daher nicht als Passiv betrachtet werden. <?page no="129"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 129 3.2.3 Weitere romanische Konstruktionen mit passivischer Bedeutung Mendikoetxea (2000a: 1625) führt hierzu Infinitivkonstruktionen mit passivischer Bedeutung an, die besonders interessant sind, da ihnen die morphologische Markierung der passivischen Konstruktionen, nämlich das Partizipmorphem, fehlt. Es gibt drei „passivische“ Infinitivkonstruktionen im Spanischen: Infinitiv als a) Komplement eines kausativen Verbs mit se (dejarse, hacerse), b) Modifikator des Adjektivs (mit Präposition de), c) Modifikator des Nomens (mit Präposition a). Diese Konstruktionen können einen realisierten Agens haben (vgl.Mendikoetxea (2000a: (92)): (79) a. Pedro se dejó engañar por su amigo. b. El orador se hizo por todo el mundo. Außerdem verweist Mendikoetxea (2000a: 1626) auf den passivischen Wert von Infinitivkonstruktionen, in denen der Infinitiv eine beschränkte Gruppe von wertenden Adjektiven (z.B. fácil, dificil, digno, bueno) modifiziert, vgl. die Beispiele von Mendikoetxea (2000a: (93)), wobei hier der Agens nicht ausgedrückt wird und die Konstruktion generisch zu interpretieren ist: (80) a. El problema es fácil de resolver. b. Su comportamiento es digno de notar. Schließlich sind Ausdrücke wie z.B. una idea a considerar, un proyecto a realizar passivisch zu interpretieren, wobei hier auch der Agens ausgedrückt werden kann: una idea a considerar por los compromisarios (Mendikoetxea 2000a: 1626). Im Hinblick auf sonstige passivische Konstruktionen im Französischen seien abschließend noch die beiläufig von Grevisse ( 13 1993: 742 g-i) erwähnten folgenden Ausdrücke angeführt: So nennt er die Wendung dîner prêt à servir und die nur noch als Partizip existierenden älteren Verben wie marri, die ihm zufolge als Adjektive analysiert werden sollten, im Gegensatz zu être censé, das nahe an der verbalen Valenz geblieben sei. Ferner erwähnt Grevisse ( 13 1993: § 742 i), dass einige Grammatiker auch eine passivische Transition in Le soleil jaunit le papier -> Le papier jaunit au soleil sehen, wobei au soleil ein Agens-Komplement sein soll. Außerdem erwähnt Grevisse noch die „kuriose Konstruktion“ se faire moquer de soi, in der moquer gleichzeitig eine transitive Valenz (wie in se faire blâmer mit obligatorischer Auslassung von soi) und eine intransitive Valenz (wie in faire rire de soi, mit obligatorischer Auslassung von se) haben soll. 3.2.4 Absolute Konstruktionen mit passivischer Bedeutung Von den in den vorangegangenen Abschnitten besprochenen Grammatiken geht lediglich die des Spanischen auf die Möglichkeit ein, dass die absolut oder partizipial genannten Konstruktionen passivisch interpretierbar sein können. Tatsächlich weisen aber alle drei romanischen Sprachen dieses Ausdrucksmittel auf, wenngleich in unterschiedlichem Umfang. Im Folgenden wird kurz vorgestellt, was unter absoluten Konstruktionen verstanden wird und welche davon passivisch zu interpretieren sind. <?page no="130"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 130 Für das Spanische führen Hernanz Carbó und Suñer Gratacós (2000: 2527) eine große Bandbreite von absoluten Konstruktionen auf, die gemeinsam haben, dass es sich um „clausúlas periféricas“ handelt, die eine Modifikation von adverbialem Typ beinhalten, welche an einen Satz gebunden sind. Folgende Beispiele zeigen diese Konstruktionen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2527, (2)): (81) a. Terminada la cena, despidió a los criados. b. Así las cosas, no nos conviene quedarnos. c. Después de asadas y envueltas en un pámpano las patatas, se fríen con manteca en una cazuela. d. Con Marta a tu lado, no hace falta que te toque la lotería. e. El hombre solitario prosigue, lupa en mano, su rara suerte discontinua de cosa trunca. f. Alguien estaba ya en el río y llamaba, medio cuerpo escondido bajo el agua naranja. Wie hier deutlich wird, zählen die Autorinnen sowohl Konstruktionen mit Partizipien als auch solche mit Präpositionen zu den absoluten Konstruktionen (anders als Müller- Lancé (1994), vgl. weiter unten). Unter den absoluten Konstruktionen werden jedoch diejenigen mit Partizip als prototypisch angesehen, wie Beispiel (81a) und die folgenden Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2527, (47)): (82) a. Muerto el perro, se acabó la rabia. b. Dicho esto, concluyó la sesión. Die kursiv markierten Sequenzen in beiden Beispielen in (82) lassen sich als binomische Prädikationen beschreiben, denen eine flektierte Verbform fehlt und die syntaktisch und prosodisch vom Hauptsatz getrennt sind. Sie stellen weiterhin eine Modifikation dar, die mit einem untergeordneten Adverbialsatz vergleichbar ist. Den beiden Autorinnen zufolge werden absolute Konstruktionen durch folgende vier grundlegende Eigenschaften ausgezeichnet (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2542): 1. Es handelt sich um Sequenzen, die semantisch nicht selegiert sind, d.h. sie sind unabhängig vom den argumentalen Anforderungen des Hauptprädikats, so dass ihre Tilgung keine Konsequenzen für die Wohlgeformtheit des resultierenden Satzes hat. 2. Sie besitzen ein explizites Subjekt, das dem Prädikat nachgestellt ist (*El perro muerto..., *Esto dicho ..., etc.), welches mit einer NP des Hauptsatzes koreferent sein kann, aber nicht sein muss. Im Gegensatz zu den Fällen in (82), in denen die NPen el perro und esto kein Korrelat im Hauptsatz haben, sind in den folgenden Beispielen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2542, (48)) la estatua und las verduras koreferent mit dem (elliptischen) Subjekt dieser Sätze: (83) a. Restaurada la estatua, volvió a ser ubicada en su emplazamiento original. b. Cortadas las verduras en juliana, se fríen en la sartén. <?page no="131"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 131 3. Die absoluten Konstruktionen sind eine heterogene Klasse von Prädikaten, die, zusätzlich zu den genannten Partizipien, Gerundien und Adjektiven auch Adverbien und Präpositionalphrasen beinhalten kann. 4. Die Natur der Modifikation, die die absoluten Konstruktionen beitragen, dehnt sich, auch wenn sie grundlegend temporal ist (v.a. dann, wenn das Prädikat ein Partizip ist), auch auf andere adverbiale Werte (d.h. kausal, konditional etc.) aus, die normalerweise eine zusätzliche Nuance zu ersteren ist. In enger Verbindung mit ihrem adverbialen Wert muss erwähnt werden, dass eine der wichtigsten Besonderheiten der absoluten Konstruktionen darin liegt, dass ihnen explizite Mittel zum Ausdruck ihrer logisch-semantischen Verbindung zu dem Satz fehlen, den sie modifizieren. Eine ähnliche Restriktion betrifft die üblichen Marker der adverbialen Subordination (wie después de que, cuando, si, porque), die mit absoluten Konstruktionen inkompatibel sind, wie folgende Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2543, (51)): (84) a. *Después de que muerto el perro, se acabó la rabia. b. *Si estando yo presente, no cometerán esta tontería. c. *{Porque/ *Cuando} enfermo el capitán, tomó el mando un oficial. Hingegen sind Adverbien oder Ausdrücke wie una vez, después de, ya, apenas in der Position vor dem Prädikat völlig unproblematisch, wie die nachstehenden Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2543, (52)). Hierbei handelt es sich um Elemente, die keine eigentlichen Konjunktionen darstellen, sondern einfache temporale oder aspektuale Marker: (85) a. Después de muerto el perro... b. Apenas dicho esto... c. Una vez lejos los buques… Wie bereits angesprochen, ist eine substantielle Eigenschaft der absoluten Konstruktionen die Existenz einer nicht-finiten Prädikation. Diese Eigenschaft umfasst die gesamte Bandbreite dieser Konstruktionen, die ansonsten wenig Homogenität aufweisen. Es werden Gerundien und Partizipien als nicht flektierte Verbformen präferiert und treten daher mit höchster Frequenz in diesen Konstruktionen auf. Ihre Präsenz ist jedoch mit einer Reihe von Beschränkungen verbunden - einige betreffen direkt das Thema der vorliegenden Arbeit. So können nach Hernanz Carbó und Suñer Gratacós (2000: 2543) nur die Partizipien transitiver und unakkusativer Verben als absolute Prädikate auftreten. Dabei nimmt die Konstruktion im ersteren Fall einen passivischen Wert an, und ihr Subjekt wird als semantisches Objekt des Verbs interpretiert, wie die folgenden Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2543, (53)): <?page no="132"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 132 (86) a. {Dicho/ Hecho} esto... («una vez esto fue dicho/ hecho...») b. {Restaurada/ Construida/ Rehabilitada} la casa… («una vez la casa fue {restaurada/ construida/ rehabilitada}…») c. {Robadas/ Recuperadas} las joyas… («una vez las joyas fueron {robadas/ recuperadas}… ») Im zweiten Fall hat aufgrund der Eigenschaften der unakkusativen Verben, welche über ein einziges Argument verfügen, die Konstruktion eine agentivische Lesart, wie die folgenden Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós 2000: 2543, (54)): (87) a. Muerto el perro... («una vez el perro {está/ ha} muerto») b. Nacido el bebé… («una vez nació el bebé…») c. Finalizada/ Concluida la sesión… («una vez ha {finalizado/ concluido} la sesión…») Mit den Beispielen in (86) und (87) kontrastiert die Ungrammatikalität von *Tosido Juan..., *Rugido el león..., *Sonreída la abuela..., die sich aus dem rein intransitiven (unergativen) Charakter der Verben toser, rugir und sonreír erklärt. 92 Weniger leicht ist die Tatsache zu erklären, dass trotz des unakkusativen Charakters der Verben faltar und quedar (so die Autorinnen, vgl. S. 2544) unerwarteterweise die absoluten Konstruktionen nicht grammatisch sind, wie folgende Beispiele zeigen (vgl. Hernanz Carbó und Suñer Gratacós (2000: 2544, (55)): (88) a. *Faltado el café en la posguerra, hubo que recurrir a sucedáneos. b. *Quedadas tres preguntas por responder, se dio por concluida la rueda de prensa. Die Autorinnen erklären die Ungrammatikalität dieser Beispiele als Resultat der Inkompatibilität zwischen der Aktionsart der zitierten Verben, die ein permanentes, duratives Ereignis ohne Bezug auf seinen finalen Zustand oder ihr Resultat darstellen und dem inhärent perfektiven Charakter der Partizipien in der absoluten Konstruktion. Dies gilt auch für eine Vielzahl anderer Verben, bei denen je nach Hauptsatz semantische oder aspektuelle Kompatibilität oder Inkompatibilität bestehen kann. Abschließend sei der Hinweis der Autorinnen (S. 2544 f.) aufgegriffen, dass psychologische Verben, sofern sie sich mit dem Ausdruck der Zustandsänderung kombinieren lassen, in absoluten Konstruktionen möglich sind: atemorizado/ emocionado/ preocupado Juan con la noticia..., da hier ein resultativer Wert mit der Perfektivität zusammenpasst. In solchen Fällen erhalten diese Konstruktionen eine aktivische und keine passivische Lesart, d.h. Juan está atemorizado/ irritado...). Außerdem sind hier aspektuelle Marker wie una vez oder después de ausgeschlossen. 92 Hier stellt sich die Frage, ob die Ungrammatikalität nicht auf den Indefinitheitseffekt zurückgehen könnte, also diese Beispiele mit einem indefiniten Artikel grammatisch werden. Eine Befragung mehrerer spanischer Muttersprachlerinnen hat jedoch ergeben, dass auch ein Satz wie Sonreídas unas abuelas, todos se alegraron nicht grammatisch ist. Die Muttersprachlerinnen wiesen explizit darauf hin, dass es an den Verben selbst läge. Im Zusammenhang mit (103a) weist eine der Muttersprachlerinnen jedoch auf die Möglichkeit eines Gerundiums hin: Faltando el café, ...hier scheint die Ungrammatikalität am Partizip Perfekt zu liegen. <?page no="133"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 133 Für das Italienische bestätigt Belletti (1982b), dass auch die italienischen Äquivalente der spanischen absoluten Konstruktionen - von ihr als „frasi ridotte assolute (FRA)“ bezeichnet - nur mit ergativen und transitiven Verben möglich sind, wie folgende Beispiele zeigen (Belletti 1982b: 5, (4)): (89) a. Arrivata alla riunione con troppo ritardo, Maria ha deciso di non entrare neppure nella sala b. *Telefonato a Gianni con troppo ritardo, Maria ha deciso di partire subito c. Una volta partita per le vacanze, Maria dimenticò tutti i suoi problemi d. *Una volta parlato con Gianni, Maria dimenticò tutti i suoi problemi Belletti (1982b) erarbeitet die Eigenschaften der FRA des Italienischen im Zusammenspiel von Ergativität, Theta-Kriterium und Nullsubjekteigenschaft des Italienischen (durch den Vergleich mit dem Französischen). An dieser Stelle sollen nicht die im Prinzipien- und Parametermodell dargestellten Einzelheiten der Analyse aufgeführt werden, sondern lediglich das Ergebnis der synchronen generativen Analyse. Belletti (1982b: 22) gibt die folgende abstrakte Repräsentation für die FRA an: (90) [ [+V’] [+V] -infl i pro i ] Damit wird ausgedrückt, dass es sich um einen Verbalkomplex mit intransitiven ergativen oder transitiven Verben handelt, der einem Nullsubjekt (pro) den Nominativkasus zuweist und von den Flexionsmerkmalen nur Genus und Numerus, nicht aber Person, realisiert. Die Arbeit von Müller-Lancé (1994) enthält relevante Informationen über absolute Konstruktionen im Alt-, Mittel- und Neufranzösischen sowie zur Frage ihrer Herkunft. In ihr untersucht der Autor die ganze Bandbreite möglicher absoluter Konstruktionen (neben Partizipien auch Gerundien, adjektivische und nominale Elemente) in unterschiedlichen Dokumenten vom Altlateinischen bis zum Neufranzösischen. In Parallelität zur Darstellung der Studien zu absoluten Konstruktionen im Spanischen und Italienischen werden nachfolgend jedoch nur die Fakten des Neufranzösischen dargestellt werden. Dabei definiert er, auf der Basis von Arbeiten aus der klassischen und romanischen Philologie, absolute Konstruktionen dahingehend, dass sie die folgenden sechs Eigenschaften aufweisen müssen (Müller-Lancé 1994: 36): 1. Jede AK ist eine eingebettete Prädikation. 2. Die AK muss ein eigenes Subjekt haben und Subjektsverschiedenheit zulassen. 3. Das AK-Prädikat darf keine finite Verbform und kein Infinitiv sein. 4. Das AK-Prädikat kann nicht wegfallen (exozentrische Konzentration). 5. Die Gesamt-AK hat Zirkumstantenstatus und kann daher weggelassen werden. 6. Die AK darf nicht von einer Präposition abhängen. Hinsichtlich der zweiten Eigenschaft ist anzumerken, dass sie der Nichtnullsubjekteigenschaft des modernen Französischen geschuldet ist - die spanischen (und italienischen) absoluten Konstruktionen weisen in der Regel kein eigenes Subjekt auf, vielmehr ist hier auf die Referenz zu achten, d.h. Referenz auf das Hauptsatzsubjekt oder auf ein anderes im weiteren Kontext der Konstruktion. Mit der sechsten Eigenschaft <?page no="134"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 134 unterscheidet sich Müller-Lancés Definition deutlich von derjenigen Hernanz Carbó und Suñer Gratacós (2000). Müller-Lancé (1994) untersucht die absoluten Konstruktionen in den genannten Epochen anhand einer Bandbreite unterschiedlicher Dokumentenarten, um für jede Epoche eine umfangreiche Stichprobe zu nehmen, wobei im Neufranzösischen, dem Schwerpunkt seiner Analyse, auch Transkripte (gesprochene Sprache) sowie fingierte Mündlichkeit (direkte Rede in Texten) miteinbezogen werden. Im Hinblick auf die Entstehung dieser Konstruktionen besteht in der klassischen und der romanische Philologie bis heute Uneinigkeit - Müller-Lancé (1994: 43 ff.) führt unterschiedliche Theorien auf, die sich wesentlich mit der Frage beschäftigen, ob die absoluten Konstruktionen aus dem lateinischen Ablativus Absolutus (Entstehung im klassischen Latein) oder aus dem Accusativus Absolutus (Entstehung im Spätlatein) hervorgegangen sind. Diese Diskussion soll hier nicht in vollem Umfang dargestellt werden. Interessant ist für diese Arbeit die Feststellung, dass die absoluten Konstruktionen mit PPP wohl die ältesten sind und in allen von Müller-Lancé untersuchten Epochen vorkommen (vgl. Müller-Lancé 1994: 40, 64). Das Neufranzösische (nach Müller-Lancé von 1600 bis heute) markiert nach Müller- Lancé einen neuen Höhepunkt in Bezug auf die Verwendung absoluter Konstruktionen gegenüber den von ihm untersuchten früheren Epochen: Sie sind hier zwar nicht häufiger verwendet als im Mittelfranzösischen, aber in allen Punkten vielseitiger und deutlich satzwertiger gebraucht. Nur in dieser Epoche gehören negierte absolute Konstruktionen zum Standard. Insgesamt hat sich der Konstruktionstyp nach Müller-Lancé nun völlig vom lateinischen Vorbild emanzipiert und an die französischen Verhältnisse angepasst, was an der fast ausschließlichen Voranstellung des Subjekts (SV-Abfolge in der AK), dem Einbezug von Partizipialkompositionen in das Spektrum der Prädikatsglieder und der Möglichkeit der Fokussierung personenbeschreibender absoluter Konstruktionen mit Hilfe der Wendung c’est... que zu erkennen ist. Als Beispiele für die Epoche des Neufranzösischen seien eine absolute PPP-Konstruktion mit passivischer Bedeutung (91) (vgl. Müller-Lancé 1994: 59, (54)) und eine Perfekt-Passiv-Periphrase als Prädikatsglied (92) (vgl. Müller-Lancé 1994: 61, (60)) angeführt: (91) Sa mission accomplie, Lucien est pris en chasse par un autre tueur, Lenny. (92) Pour cette 15e édition, le trio gagnant s’appelle, dans l’ordre, Kawasaki, Suzuki et Honda. La ‘Kawa’ ayant été amenée au but par Rymer-Fogarty-Simul. Müller-Lancé (1994: 64 ff.) geht auch kurz auf das Vorkommen von absoluten Konstruktionen in anderen romanischen Sprachen sowie in anderen indoeuropäischen Sprachen ein, wobei er hierzu eine Reihe von linguistischen Studien, aber auch Proben aus Übersetzungen von lateinischen Texten in die romanischen Sprachen heranzieht. Insgesamt kommt er im Vergleich zum Französischen und zum Lateinischen zu den folgenden Schlüssen (Müller-Lancé 1994: 68): 1. Es gibt keine gesamtromanische Standard-Übersetzungstechnik für lateinische Ablativi Absoluti. Die jeweils angewandten Techniken hängen vom Einzelfall ab, d.h. zum Beispiel davon, ob es in der betreffenden Sprache ein passendes und gängiges <?page no="135"?> Beschreibung des Phänomenbereichs in den drei romanischen Sprachen 135 Verbalsubstantiv gibt, mit dem sich ein präpositionaler Ausdruck herstellen ließe (vgl. frz. après la prise). 2. Der syntaktische Einfluss des lateinischen Originals auf seine romanische Übersetzung ist zwar vorhanden, aber keineswegs übermächtig: nur in 14 von 82 Fällen wurde der lateinische Ablativus Absolutus mit einer romanischen absoluten Konstruktion imitiert; 3. In der Stichprobe traten die romanischen absoluten Konstruktionen ausschließlich in den italienischen, spanischen und portugiesischen Übersetzungen auf. Trotz der von Müller-Lancé selbst als klein bezeichneten Stichprobe anderer romanischer Sprachen lässt sich hieraus eindeutig ablesen, dass absolute Konstruktionen in diesen drei Sprachen eine deutlich größere Verbreitung erfahren als im Französischen, Rumänischen und Katalanischen. Zusammenfassend lässt sich - trotz des sehr unterschiedlichen Charakters der drei vorgestellten Studien festhalten, dass die Nullsubjektsprachen Spanisch und Italienisch eine wichtige Eigenschaft teilen: nur unakkusative und transitive Verben können in absoluten Konstruktionen auftreten, wenn sie wohlgeformt sein sollen. Subjekte können realisiert werden, aber müssen es nicht, worin sich beide notwendig vom Französischen unterscheiden, zu dem die ausführlichste und einzige diachrone Studie vorliegt. 3.2.5 Zusammenfassender Überblick Im Folgenden werden die wichtigsten der in den vorigen Abschnitten sprachspezifisch dargestellten Eigenschaften und Beschränkungen der Passivbildung in den drei Sprachen im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede noch einmal zusammengefasst und der besseren Übersichtlichkeit halber tabellarisch dargestellt. Unterschiede werden hellgrau unterlegt. <?page no="136"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 136 Teilaspekte Spanisch Italienisch Französisch Passivierbar Transitive Verben (die Ereignisse/ Transitionen ausdrücken), reflexive Perzeptionsverben, unergative Verben mit definiten kognaten Objekten Transitive Verben Einige intransitive unergative Verben (procedere) Transitive Verben, Akzeptanz der Passivierung unergativer Verben mit kognaten Objekten (z.B. vivre) Nicht passivierbar Idiomatische Ausdrücke, relationale Verben (z.B. tener), indirekte Objekte, unergative Verben mit indefiniten kognaten Objekten, nicht refl. Perzeptions-verben Idiomatische Ausdrücke, relationale Verben (z.B. avere), indirekte Objekte Idiomatische Ausdrücke, relationale Verben (z.B. avoir) Eingeschränkt passivierbar Indirekte Objekte (obéir, pardonner) Existenz weiterer pass.Konstruktionen und Ausdrücke se-Passiv, absolute Konstruktionen, Infinitivkonstruktionen Si-Passiv, absolute Konstruktionen se-Passive, absolute Konstruktionen Passivauxiliare Ambiges ser Aspektuelle Lesarten: Zustandsinterpretation mit estar; Möglichkeit von Semi-Auxiliaren (vgl. hierzu Kap. 4.4) Ambiges essere Aspektuelle Lesarten: Vorgangsinterpretation mit venire; bes. deontische Lesart mit Auxiliar andare (und Passivierung von Verben wie z.B. distruggere mit andare) Ambiges être Keine Verwendung weiterer, unambiger Passivauxiliare mit best. aspektuellen Lesarten, aber Möglichkeit von Semi- Auxiliaren (achever, finir, commencer) Rolle der Tempora Passive mit estar: hier keine zusammengesetzten Tempora möglich, dafür refl. Perzeptionsverben sowie rodear, cubrir, cercar Passive mit venire: hier keine zusammengesetzten Tempora möglich Präferenz für unvollendeten Aspekt bei se-Passiv im Ggs. zu vollendetem Aspekt bei periphrastischem Passiv Agens-Real. Ausgeschlossen bei se- Passiv bei si-Passiv nur einführbar mit da parte di Ausgeschlossen bei se-Passiv Restriktionen gesamt Mehr auf periphrastischem Passiv Mehr auf si-Passiv Mehr auf se-Passiv Tabelle 3.1: Wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei romanischen Sprachen im Bereich der passivischen Konstruktionen <?page no="137"?> Bisherige synchrone Forschungsarbeiten zum Passiv 137 3.3 Bisherige synchrone Forschungsarbeiten zum Passiv Die in diesem Unterkapitel vorgestellten Studien dienen dem Vergleich der drei romanischen Sprachen hinsichtlich der tatsächlichen Verwendung der grammatischen Möglichkeiten für den Ausdruck von Passiv. Dabei steht die Analyse der geschriebenen Sprache im Vordergrund. Abschnitt 3.3.1 stellt Studien zu Passivkonstruktionen im Spanischen und Italienischen vor, während Abschnitt 3.3.2 Studien zum Französischen behandelt. 3.3.1 Spanische und italienische Passivkonstruktionen im Vergleich Für das Spanische und Italienische sind die Arbeiten von Sansò (2003, 2006) 93 einschlägig, in denen er die Passivkonstruktionen im Italienischen und Spanischen kontrastiv (im Spanischen nur Passive mit ser, vgl. Sansò 2003) sowie in weiteren Sprachen (Sansò 2006) untersucht und unterschiedliche Verteilungen und Verwendungsfrequenzen der zur Verfügung stehenden Passivkonstruktionen in den untersuchten Sprachen gezeigt. Sansò (2006) untersucht eine Reihe von unterschiedlichen Konstruktionstypen in insgesamt fünf europäischen Sprachen unter der Perspektive, dass die nachfolgend genannten Konstruktionstypen die grundlegende Komponente der Agensdefokussierung gemeinsam haben und dass sie Teil desselben Systems funk-tionaler Optionen sind. Genauer ist das Ziel, all die spezifischen Diskursbedingungen zu ermitteln, die mit der Verwendung solcher Konstruktionen assoziiert werden, und zu zeigen, wie unterschiedliche Typen von Agensdefokussierung sprachübergreifend ausgedrückt werden. Dabei geht es um die folgenden, in seiner Studie analysierten Konstruktionstypen, die auf der Basis ihrer Frequenz im Korpus ausgesucht wurden, wobei diese Liste nicht als vollständig verstanden werden soll: 1. Periphrastische Passive, in denen die Verbphrase aus einem Auxiliar plus Partizip des Verbs besteht (Italienisch, Spanisch, Dänisch, Polnisch). 2. Eine morphologisch markierte mediale Diathese (mod. Griechisch), die eine Anzahl anderer Interpretationen/ Funktionen als das Passiv hat (v.a. kann sie in Abhängigkeit vom Kontext als ein Aktiv „mit reflexiver Relation des vom Verb bezeichneten Ereignisses zu seinem Subjekt“ oder als ein indirektes Reflexiv verstanden werden). 3. Passivische und unpersönliche Konstruktionen, in denen ein Reflexivmarker verwendet wird (wie im Italienischen, Spanischen und Polnischen) oder in denen es ein gebundenes Morphem gibt, das historisch mit dem Reflexivpronomen verbunden war (wie im Dänischen); diese Konstruktionen behandelt Sansò unter der Rubrik „mediale Konstruktionen“. 4. „Unpersönliche Passive“ 94 , d.h. Konstruktionen, in denen das Prädikat zwar mit passivischer Morphologie assoziiert wird, es aber entweder keinen Patiens gibt (der korrespondierende Aktivsatz ist intransitiv) oder aber der Patiens in derselben Weise markiert ist wie im Aktivsatz (z.B. die -no/ -to-Konstruktion im Polnischen, das 93 Hierbei stellt Sansò (2006) eine Kurzversion seiner Arbeit von (2003) dar, auf deren Basis jedoch die wichtigsten Verwendungsmuster bereits deutlich werden. Sie liegt der Darstellung der Studie in diesem Abschnitt zugrunde. 94 Dieser Begriff wird auch von Sansò (2003) unter Verweis auf die Arbeit von Blevins (2003) kritisiert. <?page no="138"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 138 unpersönliche Passiv im Dänischen, das Parallelen in vielen germanischen Sprachen hat). 5. Unpersönliche Aktivsätze wie die sog. man-Sätze, d.h. Konstruktionen, die ein generelles Nomen als Subjekt haben („man“, „Leute“ etc.; hier Dänisch). 6. Konstruktionen, die die unpersönliche oder vage Verwendung eines Personalpronomens oder die korrespondierende flektierte Form des Verbs (sog. „vague you“ und „vague they“ Konstruktionen) involvieren. Die Diskussion in Sansòs Studie beschränkt sich auf die geschriebene Sprache, in der passivische und unpersönliche Konstruktionen häufiger auftreten, und ist auf ein maximal homogenes Korpus basiert, welches aus einem italienischen Text und seinen dänischen, griechischen, polnischen und spanischen Übersetzungen besteht: Der ausgewählte Text ist der Roman von Umberto Eco „Il nome della rosa“ (NRI; Übersetzungen werden durch den letzten Buchstaben des Kürzels kodiert, z.B. NRS für die spanische). Ein Korpus von ca. 1100 passivischen und unpersönlichen Sätzen wurde anhand der Originalversion gesammelt. Jeder Satz wurde progressiv nummeriert und nach den im Folgenden erläuterten und kodierten Situationstypen kodiert. Die Analyse, wie diese Sätze in die anderen Sprachen des Korpus übersetzt werden, erlaubt es laut Sansò, die Verteilung des Passivs und der unpersönlichen Konstruktionen in jeder dieser Sprachen zu beschreiben und die Faktoren zu identifizieren, die die Verteilung beeinflussen könnten. Generell gilt nach Sansò (2006), dass der semantische Beitrag einer passivischen oder unpersönlichen Konstruktion zum Diskurs, in den es eingebettet ist, entscheidend davon abhängt, wie der Satz das vom Verb beschriebene Ereignis konzeptualisiert. Jede Sprache hat ein großes Inventar an lexiko-grammatischen Mitteln, die es erlauben, eine gegebene Reale-Welt-Situation auf verschiedene Weise zu porträtieren, unter jedem denkbaren Set von Diskursbedingungen. Die in seiner Studie untersuchten Konstruktionen gehören genau zu den lexiko-grammatischen Mitteln, die eine unterschiedliche Konzeptualisierung desselben Sachzustands erlauben, indem sie die Basiskomponente der Agensdefokussierung teilen, aber verschiedene, im Folgenden kurz vorgestellte Situationstypen kodieren. Sansò unterscheidet die folgenden drei typischerweise mit passivischen und unpersönlichen Konstruktionen assoziierten Situationstypen. Der erste Situationstyp ist der „patiens-orientierte Prozess“, den Sansò (2006: 238) unter Bezug auf die Definition des prototypischen transitiven Ereignisses nach Hopper und Thomson (1980) so definiert: „a prototypical patient-oriented process represents a twoparticipant event from the point of view of the patient: in this discourse this kind of conceptualisation is employed to ensure coherence when the text is about a certain entity and this entity is the patient. In a patient-oriented process the agent is typically identifiable from the context, or even syntactically encoded as an oblique, but less discourse-central and individuated than the patient.” In diesem Zusammenhang erfolgt auch ein Bezug auf die Ereignis-Eigenschaft im Hinblick auf den „degree of elaboration“, womit derjenige Grad gemeint ist, zu dem sich ein Ereignis konzeptuell in verschiedene Partizipanten und Unter-Ereignisse untergliedert. Alle Situationstypen involvieren eine Abnahme in der Ereignis-Elaboration, jedoch in unterschiedlichem Grad: <?page no="139"?> Bisherige synchrone Forschungsarbeiten zum Passiv 139 sie sollten als Strategien angesehen werden, mit denen eine Verabschiedung von dem kanonischen transitiven Ereignis in Richtung auf ein weniger distinguiertes oder elaboriertes Ereignis signalisiert wird. Hierbei ist Agensdefokussierung die Hauptkomponente: wenn der Agens defokussiert wird, steht er nicht konzeptuell wie eine gut abgegrenzte und scharf definierte Entität da, und je weniger die Partizipanten distinguiert sind, desto weniger ist das Ereignis elaboriert. In einem Patiens-orientierten Prozess gibt es jedoch einen Partizipanten (Patiens), der fokussiert und individualisiert wird. Da der Grad der Ereigniselaboration in einer direkten, positiven Relation zur Individualisierung von Partizipanten steht, ist der Grad der Ereigniselaboration von patiens-orientierten Prozessen recht hoch im Vergleich mit den anderen, im Folgenden beschriebenen Situationstypen, aber nicht so hoch wie in prototypisch transitiven Sätzen. Der zweite Situationstyp ist das sogenannte „Bare happening“, das Sansò (2006: 240 f.) so definitiert: „the label bare happening is taken to mean a conceptualisation of the event depicted by the verb as a naked fact, at the lowest level of elaboration. The arguments of a prototypical transitive clause represent distinct, clearly individuated participants that are sharply differentiated from one another and from other entities that could virtually participate in the event. When the event is conceptualised as a bare happening, none of the participants is focused: as a result, the event too is characterised by low salience”. Generalisierend hält Sansò (2006: 242) fest, dass im Diskurs passivische und unpersönliche Sätze, die bare happenings kodieren, üblicherweise als Strategie verwendet werden, um Ereignisse zu beschreiben, die nicht zur narrativen Hauptlinie gehören. Der dritte Situationstyp wird „Agensloses generisches Ereignis“ genannt, wobei Sansò (2006: 242) diese so beschreibt: „under the rubric of agentless generic event I will comprise situations in which an agent, usually human, is understood to exist, but is defocused because of its genericity.“ Er beobachtet, dass mediale Konstruktionen sprachübergreifend generell verwendet werden. Dies betrifft u.a. die sog. „facilitative middle“ wie im französischen Beispiel Le livre se vend bien. (Sansò 2006: (6)). Weiterhin gehören hierzu deontische Ausdrücke, z.B. im Französischen: Cela ne se dit pas (Sansò 2006; (8)). Sansò will zeigen, dass auch andere Konstruktionstypen als mediale Konstruktionen diesen Situationstyp kodieren können, und umgekehrt, dass mediale Konstruktionen auch für die Kodierung anderer Situationstypen verwendet werden. Eine wichtige Eigenschaft dieses Situationstyps ist die Generizität des Ereignisses; die vielgestaltige Notion beinhaltet u.a. die folgenden prototypischen Merkmale (Sansò 2006: 243): 1. Die Konstruktion drückt eine „gnomic proposition“ aus (weise, aber manchmal schwer verständlich). 2. Es gibt einen mitverstandenen generischen humanen Agens, der nicht explizit erwähnt wird; er kann nur generisch identifiziert werden (Leute generell, Leute an einem bestimmten Ort etc.). 3. Das Prädikat hat imperfektiven Aspekt und ist atelisch. <?page no="140"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 140 4. Die Aktion ist irrealis (i.S. von Hopper und Thomson 1980), d.h. sie korrespondiert nicht direkt mit einem realen Ereignis. Hier wird irrealis als ein komplexer Begriff verstanden, der futurische, hypothetische, deontische, potentielle und habituelle Prädikationen umfasst. 5. Das Prädikat enthält ein Adverb des Platzes, des Raums oder der Art. Alle drei Situationstypen müssen nach Sansò (2006: 245) als Prototypen verstanden werden: Der patiens-orientierte Prozess und das agenslose generische Ereignis sind in verschiedenen Dimensionen maximal entgegengesetzt, das bare happening ist weniger differenziert und daher weniger prototypisch als die beiden anderen. Die Prototypen- Analyse sagt auch voraus, dass der weniger differenzierte Situationstyp in seinem Ausdruck sprachübergreifend variiert. Dieses Muster wird von der Analyse unterstützt: nur eine der fünf Sprachen hat ein spezielles Kodierungsmuster für das bare happening, während aber in drei der fünf Sprachen das bare happening klar vom patiens-orienten Prozess unterschieden wird. In der nachfolgenden Tabelle von Sansò (2006: 245) werden alle prototypischen Merkmale der drei Situationstypen übersichtlich aufgeführt: Patient-oriented Process Bare happening Agentless generic Event Individuation of the Patient + - - Individuation of the agent ± - - Reason for defocusing Agent Agent is less topical than the patient/ unimportant Agent is irrelevant/ unimportant Agent is generic Mode Realis Realis Irrealis (deontic, potential) Aspect Perfective Perfective Imperfective Contextual salience of the event ± - - Tabelle 3.2 Prototypical features of the three situation types (from Sansò 2006: 245, table 5) Im Folgenden werden nun die Ergebnisse der Analyse von Sansò für das Italienische und Spanische vorgestellt. Anhand der (z.T. intensiver diskutierten) Textbeispiele findet Sansò (2006: 250) zusammenfassend für das Italienische die in Tabelle 3 aufgeführten Assoziationen der passivischen und unpersönlichen Konstruktionen mit den drei Situationstypen: <?page no="141"?> Bisherige synchrone Forschungsarbeiten zum Passiv 141 Patient-oriented Process Bare happening Agentless generic Event Periphrastic passive (mainly with SV order) Periphrastic passive (often with VS order); middle construction Middle construction Tabelle 3.3. Situation types and their associated passive/ impersonal constructions in Italian (from Sansò 2006: 250, table 6) Sansò (2006: 250 f.) zeigt ferner, dass die obige Verteilung auf statistischen Zählungen beruht, wobei für jeden Satz des Korpus einige Eigenschaften der Partizipanten gewertet wurden. Wenn ein Satz einen Patiens-orientierten Prozess enthält, weist er wahrscheinlich die folgenden Eigenschaften auf: 1. Er ist wahrscheinlich diskurs-alt (i.S.v. Givón 1983). 2. Er ist wahrscheinlich persistent, d.h. erscheint in den folgenden Sätzen nach seiner ersten Nennung (Persistenz gemessen anhand der Zahl der Sätze rechts von demjenigen der Analyse, in denen der Referent weiterhin erscheint). 3. Er ist wahrscheinlich individualisiert (i.S.v. Hopper & Thomson 1980). Der Agens ist hingegen wahrscheinlich diskurs-neu, nicht-persistent und weniger individualisiert als der Patiens. In Sätzen, die andere Situationstypen kodieren, ist der Patiens, sofern vorhanden, durch eine geringe Kontinuität und Persistenz gekennzeichnet und ist außerdem generell eine nicht-individualisierte Entität. Tabelle 4 enthält die Verteilung der passivischen Konstruktionen in NRI, wobei die Richtung von Funktion zu Form verläuft. Sie zeigt ferner, in welchem Ausmaß jeder Situationstyp durch jeden Konstruktionstyp kodiert ist. encoded by the middle construction encoded by the periphrastic passive (with SV order) Encoded by the periphrastic passive (with VS order) Patient-oriented process 0.7 % 97.56 % 1.74 % Bare happening 47.92 % 27.78 % 24.3 % Agentless generic event 95.33 % 3.27 % 1.4 % Tabelle 3.4: Situation types and their encoding in NRI; results widely exceed chance (X² = 580,5; d.f. = 4, p < 0.05) from Sansò (2006: table 7) Für das Spanische findet Sansò (2006: 251 f.), dass - anders als im Italienischen - das periphrastische Passiv fast ausschließlich für die Kodierung von patiensorientierten Prozessen verwendet wird. Aus seinen Daten gewinnt Sansò (2006: 254) die Verteilung in Tabelle 5: <?page no="142"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 142 Patient-oriented Process Bare happening Agentless generic Event Periphrastic passive; (middle construction) Middle construction Middle construction Tabelle 3.5. Situation types and associated constructions in Spanish (from Sansò 2006: 254, table 8) Die quantitative Analyse der Verteilung) ergibt für das spanische Korpus die folgende Verteilung (Tabelle 6): encoded by the middle construction encoded by the periphrastic passive 95 Patient-oriented process 25.2 % 74.81 % Bare happening 87.64 % 12.36 % Agentless generic event 97.92 % 2.08 % Tabelle 3.6: Situation types and their encoding in Spanish; results widely exceed chance (X² = 184.99; d.f. = 2, p < 0.05) from Sansò (2006: table 9) Abschließend ist diese deutlich Diskurs- und Funktions-orientierte Studie als interessanter Beleg für die bereits in den beschreibenden Abschnitten für Spanisch und Italienisch angedeuteten Spezialisierungen des periphrastischen Passivs und der Konstruktionen mit si/ se zu bewerten, die im Vergleich auch deutlich unterschiedlich ausfallen: Im Spanischen übernimmt das se-Passiv einen größeren Teil der Funktionen, während es im Italienischen das periphrastische Passiv ist. Ein mögliches Problem dieser Studie ist die Verwendung von Übersetzungen, da hier auf Basis von unter Umständen nicht muttersprachlicher Kompetenz Aussagen über sprachlichen Strukturen gemacht werden. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit keine Übersetzungen verwendet, sondern nur schriftliche (historiographische Schriften) sowie mündliche (spontansprachliche Unterhaltungen) von Muttersprachlern. Ferner fehlen Angaben zur Berechnungsbasis (totale Anzahl der verschiedenen Konstruktionen) und den passivierbaren Kontexten, die in der vorliegenden Arbeit mitangegeben werden). 3.3.2 Vergleichende Studien zum französischen Passiv Hier ist die ausführliche Studie von Karasch (1982) zu erwähnen, die die Passivkonstruktionen und ihre Verwendung im Französischen und Deutschen miteinander vergleicht. Dabei wird das Passiv aus zeichentheoretischer Perspektive behandelt, genauer als „Zeichen eben auf Satzebene“ (Karasch 1982: 54), also in einer primär semiotischen Perspektive, wobei vorrangig syntaktische Konstruktionen betrachtet werden. Die Studie bietet interessante Informationen zur Verteilung unterschiedlicher passivischer 95 In dieser Tabelle unterscheidet Sansò anders als in Tabelle 4 bei den periphrastischen Passiven leider nicht zwischen SV- und VS-Abfolge. <?page no="143"?> Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen 143 Konstruktionen im heutigen Französischen, die auf der Basis eines Korpus von 12 französischen und 14 deutschen Originaltexten mit ihren jeweiligen Übersetzungen ermittelt wurden. Aus diesem Korpus wurden ca. 135.000 Einheiten exzerpiert, aber nur 28.000 ausgewählte in die Untersuchung integriert. Die Texte, allesamt nach 1945 geschrieben, wurden danach ausgesucht, möglichst keine oder aber wenig dialogische Elemente zu enthalten, und umfassen unterschiedliche Textsorten: Autobiographie, Tagebuch, Erzählung, Roman, Bericht, (populär-)wissenschaftliche Texte und Patenttexte. Karasch (1982: 374 f.) gibt für jeden der französischen Texte neben der Zahl der gefundenen Aktivkonstruktionen auch Zahlen für die folgenden Passivkonstruktionen an: être + PP, il + être + PP, Partizipialkonstruktion (z.B. j’ai une vitre brisée), Reflexivkonstruktion, Verbalperiphrasen (se faire/ laisser/ voir/ entendre/ sentir + Infinitiv/ - PP), Konstruktionen mit on sowie schließlich zwei Typen von Adjektiven mit der Endung -able/ -ible. Sie kommt auf einen Durchschnitt von 25,19% Passivkonstruktionen (genauer Passiv- und Partizipialkonstruktionen) bzw. 35,79% für alle passivischen Konstruktionen im Vergleich zu 65,21% Aktiv konstruktionen. Krassin (1994: 70 f.) kritisiert zum einen generell die Verwendung von Übersetzungen als nicht unproblematisch als Basis für Aussagen über Sprachphänomene, zum anderen die Einbeziehung der Adjektivtypen und Partizipialkonstruktionen, und präsentiert eigene Relationen, nachdem sie aus den einzelnen Absolutwerten diese beiden Typen herausgerechnet hat. Danach ergeben sich ca. 14% Passivkonstruktionen mit être + PP und insgesamt 26% Passiv- und Alternativkonstruktionen im Verhältnis zu 74% Aktivkonstruktionen. Krassin (1994: 71) stimmt Karasch darin zu, dass Passivkonstruktionen im eigentlichen Sinne im Französischen nicht als selten bezeichnet werden können. Krassin gibt weitere Zahlenwerte zu den einzelnen Kategorien der Alternativkonstruktionen an: 5,15% Reflexivkonstruktionen, 0,39% Verbalperiphrasen und 6% on-Konstruktionen, alle zusammen machen mit 11,5% noch weniger aus als die periphrastischen Passivkonstruktionen (14%). Krassin (1994: 71) hält als wichtiges Ergebnis fest, dass sich in geschriebenen, vorwiegend nicht-dialogischen Texten keine Tendenz abzuzeichnen scheint, die Passivkonstruktion durch on zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund der vorgestellten Studien ist eine Untersuchung gesprochener Sprache in den drei romanischen Sprachen von Interesse, um zu erkennen, welche Rolle hier das periphrastisches Passiv und die alternativen Ausdrucksmöglichkeiten für Passiv tatsächlich spielen. Diese wird im folgenden Abschnitt 3.4 vorgestellt. 3.4 Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen In diesem Abschnitt werden - zunächst nach Sprachen getrennt, danach im zusammenfassenden Vergleich - die Verteilungen der verschiedenen, in den vorhergehenden Abschnitten vorgestellten passivischen Konstruktionen in gesprochener Sprache vorgestellt. Hierfür stehen folgende Datenbasen bereit: Für das Französische und Italienische und - in geringer Anzahl - auch für das Spanische stehen Elternaufnahmen des von <?page no="144"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 144 Natascha Müller geleiteten Wuppertaler Spracherwerbsprojekts 96 zur Verfügung. Da diese Daten jedoch von romanischen Muttersprachlern stammen, die schon lange Zeit in Deutschland leben und daher als - eventuell vom Deutschen beeinflusste - Herkunftssprecher der ersten Generation betrachtet werden können, können sie nicht als repräsentativ betrachtet werden und ein Vergleich mit Kontrollsprechern aus dem Ursprungsland ist sehr wünschenswert. Dieser kann derzeit jedoch nur für das Spanische (in kleinem Umfang) geleistet werden: Aus dem Forschungsprojekt der Verfasserin zu spanischen und italienischen Herkunftssprechern in Deutschland 97 werden zusätzlich vier Aufnahmen mit spanischen Erasmus-Studierenden ohne deutsche Vorkenntnisse, die zum Aufnahmezeitpunkt noch so wenig Kontakt mit dem Deutschen hatten, dass sie als monolingual spanisch gelten können, und weitere vier spanische Herkunftssprecher der ersten Generation (Einwanderung nach Abschluss des Erstspracherwerbs) herangezogen, so dass insgesamt 6 Herkunftssprecher in insgesamt fünf ca. einstündigen Interviews analysiert werden können 98 . Die Analyse der spanischen gesprochenen Daten steht daher im Vordergrund der Analyse gesprochener Sprache, kann aber aufgrund der geringen Datenmenge ebenfalls nicht als repräsentativ angesehen werden. Insgesamt konnten für diese Analyse für das Spanische 817 (davon 258 in den Aufnahmen der spanischen Kontrollpersonen und 559 in den Aufnahmen der insgesamt 6 spanischen Herkunftssprecher, die seit 15 und mehr Jahren in Deutschland leben), für das Italienische 581 und für das Französische 449 passivierbare Kontexte ausgewertet werden. Das in den vorgestellten Studien in Abschnitt 3.3 nicht behandelte Konzept des passivierbaren Kontextes ist erforderlich, um ihre Frequenz, d.h. die tatsächliche Passivierung in den hierfür geeigneten Kontexten, messen zu können (vgl. auch Kapitel 5 für eine detailliertere Motivation). Grundlage für die Bewertung der Passivierbarkeit bilden die Beschreibungen der Restriktionen in Kapitel 3.2. Zusammenfassend handelt es sich in allen drei Sprachen um die transitiven Verben mit Ausnahme einiger, in den Sprachen teilweise differierender Verben. Da ein Verb, das bereits mit se/ si um ein Argument reduziert auftritt, nicht passiviert werden kann, sind transitive Verben mit se 96 Hierbei handelt es sich um rein erwachsenensprachliche Daten (Kommunikation unter Erwachsenen) monolingualer MuttersprachlerInnen aus dem DFG-geförderte Spracherwerbsprojekt „Die Architektur der frühkindlichen bilingualen Sprachfähigkeit. Italienisch-Deutsch und Französisch-Deutsch in Italien, Deutschland und Frankreich im Vergleich“, das von 2005-2008 an der Bergischen Universität Wuppertal durchgeführt wurde. Ich danke Natascha Müller für die Möglichkeit, damit arbeiten zu dürfen. Bei den erwachsenen Sprechern handelt es sich entweder um die romanischsprachigen Elternteile oder die Interviewer der bilingualen Kinder dieses Forschungsprojekts. Daher wird zwar stets über das Wohl und die Entwicklung der Kinder, aber auch um diverse und recht unterschiedliche weitere Themen. 97 Die genaue Bezeichnung lautet „Subjects and objects in Italian and Spanish as heritage languages in Germany“. Dieses DFG-finanzierte Forschungsprojekt läuft unter der Leitung von Prof Dr. Katrin Schmitz von 2011-2014 an der Bergischen Universität Wuppertal. In diesem Projekt werden italienische und spanische Herkunftssprecher zu verschiedensten Themen, darunter jedoch stets zu ihrer Situation in Deutschland, befragt und ihnen darüberhinaus die Möglichkeit gegeben, von sich aus Themen ihrer Wahl anzusprechen. 98 Da alle SprecherInnen vergleichbar sein sollten, wurden nur solche ausgewählt, die Kastilisch sprechen, wobei der sekundäre Dialekt des Andalusischen nicht als problematisch einzustufen ist. <?page no="145"?> Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen 145 von den passivierbaren Kontexten und von der Analyse genauso ausgeschlossen 99 wie intransitive und nicht passivierbare transitive Verben. Insgesamt hat die Analyse der vorgenannten Aufnahmen in den drei Sprachen die in der Überblickstabelle 3.7 aufgeführten periphrastischen und synthetischen Passivkonstruktionen ergeben, die nachfolgend genauer aufgeschlüsselt und vorgestellt werden, beginnend mit dem Spanischen (3.4.1), dann im Italienischen (3.4.2) und Französischen (3.4.3). In Abschnitt 3.4.4 wird ein Vergleich der Ergebnisse vorgenommen. Sprache Periphrastische Passive Se/ Si-Passive Spanisch 41 14 Italienisch 22 3 Französisch 8 3 Tabelle 3.7: Absolute Zahlen für passivische Konstruktionen in den Daten der erwachsenen MuttersprachlerInnen der drei romanischen Sprachen 3.4.1 Analyse der spanischen Aufnahmen Im ersten Analyseschritt werden die in Tabelle 3.7 aufaddierten Passivkonstruktionen der spanischen Muttersprachler im Hinblick auf ihren Status als Herkunftssprecher (die alle über sehr gute Deutschkenntnisse verfügten) und spanische SprecherInnen ohne Vorkenntnisse als Kontrollpersonen aufgeteilt, um zu vergleichen, inwieweit hier Unterschiede aufgrund eines möglichen Einflusses des Deutschen erkennbar werden. In Tabelle 3.8 werden die Sprecher, ihre passivierbaren Kontexte und die beiden Typen der Passivkonstruktionen in absoluten Zahlen aufgeführt. Der prozentuale Anteil der realisierten Passivkonstruktionen in Bezug auf die passivierbaren Kontexte wird gruppenweise in Klammern aufgeführt. Tabelle 3.8 zeigt ein überraschendes Ergebnis: Anders als nach den Beschreibungen der Restriktionen der verschiedenen Passivkonstruktionen im Spanischen (vgl. 3.2) zu erwarten, werden se-Passive von beiden Gruppen noch seltener verwendet als periphrastische Passivkonstruktionen, obwohl sie als weniger restringiert gelten. Allerdings ist der Unterschied zur Kontrollgruppe gering. Zu erwarten wäre jedoch eine deutlich größere Proportion se-Passive gegenüber den periphrastischen Passiven. Ferner fällt der gleiche Prozentsatz periphrastischer Passivkonstruktionen in beiden Gruppen auf - hier scheinen die Herkunftssprecher nicht durch das Deutsche beeinflusst zu sein. Ein Einfluss könnte aber bewirken, dass die Proportion der se-Passive bei den HerkunftsprecherInnen noch einmal deutlich geringer ist als bei der Kontrollgruppe, da das Deutsche nicht über ein synthetisches Passiv und nicht über mit se vergleichbare Klitika verfügt. Dies muss an dieser Stelle jedoch eine Vermutung bleiben. 99 Die einzige Ausnahme sind solche transitiven Verben, die mit se als zusätzlichem Argument (freier Dativ) auftreten, und natürlich ditransitive Verben mit einem indirekten Objekt-se. <?page no="146"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 146 Spanisch- Sprecher Passivierbare Kontexte Periphrastische Passive Se-Passive HerkunftssprecherInnen HS1 und HS2 100 118 1 0 MCF0411 99 8 2 EHF04111 189 8 0 ACM0411 153 11 0 Herkunftssprecher gesamt 559 28 (5) 2 (0,4) Kontrollgruppe AIHF0111 76 5 3 PCMF01111 54 1 2 NVF0111 28 2 1 PSF0111 100 5 6 Kontrollgruppe gesamt 258 13 (5) 12 (4,7) Tabelle 3.8: Passivische Konstruktionen und passivierbare Kontexte in den Daten der MuttersprachlerInnen des Spanischen Im nächsten Schritt wird eine Analyse der Interpretation im Hinblick auf Vorgang bzw. Zustand unter Betrachtung der hierfür verwendeten Auxiliare unternommen. In einem weiteren Schritt wird versucht, die Passivkonstruktionen im Hinblick auf die von Sansò (vgl. Abschnitt 3.3) definierten Situationstypen einzuteilen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Beide Analysen erfolgen gruppenweise. Insgesamt verwenden die HerkunftsprecherInnen in den periphrastischen Passivkonstruktionen überwiegend das Auxiliar estar (21), deutlich seltener ser (7). In der Kontrollgruppe ist das Verhältnis noch unausgewogener: Von den zwölf periphrastischen Passivkonstruktionen enthalten elf estar und nur eine ser. Dies hat jedoch keinen Effekt auf die Interpretation der periphrastischen Passivkonstruktionen, die in beiden Gruppen ausschließlich Zustände ausdrücken. Im Folgenden sind einige Beispiele aus beiden Gruppen, beginnend mit den HerkunftsprecherInnen (93), mit beiden Auxiliaren aufgeführt (irrelevante Teile der Äußerungen werden mit […] angezeigt, der analysierte Teil wird fett hervorgehoben): (93) a. […] y schalke no està aún preparado para estas - esestestos equipos […]/ (ACM0411) b. era usado pero estaba de buen uso/ (MCF0411) 100 Hierbei handelt es sich um die beiden seit 15 und mehr Jahren in Deutschland lebenden Muttersprachler aus dem Spracherwerbsprojekt, die hier, wie auch die Sprecher aus dem Heritage-Projekt aus Datenschutzgründen anonymisiert werden. Beide wurden in einer Unterhaltung miteinander aufgenommen. <?page no="147"?> Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen 147 c. mi marido era encargado de obras/ (EHF04111) d. pues son unos viajes que están - que están organizados para la tercera edad (EHF04111) (94) a. […] estamos rodeados de gente que habla alemán […]/ (AIHF0111) b. […] que esos están permitidos en cualquier lado […]/ (PSF0111) c. si ya estás perdida ya no - vas a clase […]/ (NVF0111) d. […] pero es como que todo el mundo es mucho más cerrado/ (AIHF0111) Dieses Ergebnis lässt sich mit den Ausführungen Mendikoetxeas (vgl. 3.2) in Übereinstimmung bringen, da sie ja den Charakter des se-Passivs mit der Vorgangsinterpretation assoziiert und periphrastische Passive, besonders diejenigen mit estar, mit der Zustandsinterpretation in Verbindung bringt. Im Folgenden werden noch je zwei Beispiele für se-Passive aus der Herkunftssprechergruppe (95) und der Kontrollgruppe (96) angeführt, die eindeutig eine Vorgangsinterpretation mit sich bringen: (95) a. ehm todas esas cosas que se piensan/ (MCF0411) b. […] hay uno dos hombres más(s)imo que se pierden/ (MCF0411) (96) a. por ejemplo aquí se hacen muchas fiestas en cafeterias/ (AIHF0111) b. […] otros países y lo hacen tan drásticamente que se creen que son mejores/ (PSF0111) Insgesamt bestätigt die Analyse der spanischen Aufnahmen die Existenz der drei Typen von passivischen Konstruktionen, die Sansò (2006) beschreibt (vgl. 3.3): Die Patiensorientierten Prozesse werden als einzige als periphrastische Konstruktionen realisiert, wobei die SprecherInnen ausnahmslos Zustände beschreiben, was nicht zwingend zu erwarten ist. Der Agens wird niemals mit por realisiert, in (94a) gibt es einen einzigen (defokussierten) mit de eingeleiteten Agens (rodeados de gente). Die in den Beispielen (95) und (96) vorgestellten se-Passive fallen in die Kategorie „Agentless generic event“, was auch für die meisten übrigen, nicht angeführten se-Passive gilt. Als ein Beispiel für ein bare happening könnte das folgende Beispiel von einer Sprecherin aus der Kontrollgruppe sein, die im Kontext den Umstand beschreibt, dass sie in bestimmten gewählten Kursen an der Gast-Universität aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse schnell nicht mehr folgen konnte: (97) no es se cogen pues […]/ Referenz: Fächer an der Universität (AIHF0111) Insgesamt ergibt die Analyse der spanischen SprecherInnen, dass die in Tabelle 3.7 angegebene Gesamtzahl von passivischen Konstruktionen, die den beschriebenen Unterschieden zwischen den drei romanischen Sprachen zu entsprechen scheint, im Detail und im Vergleich zweier Gruppen unerwartete Ergebnisse bezüglich der tatsächlich in der gesprochenen Sprache verwendeten Passivkonstruktionen auftreten. Da die Analyse auf einer sehr kleinen Datenbasis beruht, kann sie bestenfalls eine Tendenz beschreiben. <?page no="148"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 148 3.4.2 Analyse der italienischen Aufnahmen Die folgende Analyse umfasst fünf italienische HerkunftssprecherInnen (1. Generation, seit 15 und mehr Jahren in Deutschland zum Aufnahmezeitpunkt) in insgesamt vier aufgenommenen Gesprächen (eine Kontrollgruppe steht hier leider noch nicht zur Verfügung). Wie in der Analyse der spanischen gesprochenen Sprache werden zunächst absolute und prozentuale Angaben zur Verteilung der periphrastischen und si-Passive und ihrer Anteile an den passivierbaren Kontexten (für die gesamte Gruppe) gegeben (Tabelle 3.9), dann ihre Interpretation im Zusammenhang mit den verwendeten Auxiliaren anhand von Beispielen vorgestellt und abschließend eine Einordnung in die Passivtypen von Sansò vorgenommen. Italienisch- Sprecher (ges.) Passivierbare Kontexte Periphrastische Passive Si-Passive 5 581 22 (3,8) 3 (0,5) Tabelle 3.9: Passivische Konstruktionen und passivierbare Kontexte in den Daten der MuttersprachlerInnen des Italienischen Die HerkunftsprecherInnen des Italienischen zeigen ganz ähnliche Proportionen realisierter Passivkonstruktionen im Hinblick auf die passivierbaren Kontexte wie die HerkunftssprecherInnen des Spanischen, wobei hier die größere Anzahl periphrastischer Passive im Vergleich zu den si-Passiven aus der Beschreibung des italienischen Systems zu erwarten ist. Insgesamt wird in der gesprochenen Sprache sehr selten passiviert. In den italienischen periphrastischen Passivkonstruktionen werden die Auxiliare essere (ambig) für beide Interpretationen, außerdem venire (Vorgangsinterpretation) und rimanere (Zustandsinterpretation) verwendet, wie die folgenden Beispiele 101 zeigen. Das Passivauxiliar andare wurde einmal verwendet. Anders als im Spanischen wird das periphrastische Passiv nicht allein zur Beschreibung von Zuständen verwendet. (98) a. Beschreibung eines Zustandes mit essere: [...] che anche le insegnanti di eh tedeschi che ci sono a quella scuola non sono tenuti ad imparare italiano/ b. Beschreibung eines Vorgangs mit essere: evidentemente quello che è stato fatto fin'ora non non è stata la cosa giusta/ c. Beschreibung eines Vorgangs mit venire: la la mamma viene adesso analizzata/ 101 In der Präsentation der Beispiele aus dem Italienischen und Französischen wird ganz auf Angaben der Herkunftssprecher verzichtet, da sie aus dem bereits vorgestellten Spracherwerbsprojekt stammen und keine eindeutige anonymisierte Personenangabe existiert, wie es in dem Projekt der Verfasserin der Fall ist. <?page no="149"?> Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen 149 d. Beschreibung eines Zustands mit rimanere: eeh guarda è rimasto impresso da katja/ e. Beschreibung eines deontischen Vorgangs: [...] va visto anche questo/ Die folgenden Beispiele zeigen die drei si-Passive, wobei zwei davon in einer Äußerung vorkommen und die dritte auffällig im Perfekt steht (eine reflexive Lesart ist jedoch aufgrund des nicht belebten Subjekts ausgeschlossen): (99) a. […] di pensare proprio alle parole come si scrivono come si pronunciano/ b. il degreto si è messo/ Im Hinblick auf Agens-Realisierungen den insgesamt 22 periphrastischen Passivkonstruktionen ist anzumerken, dass es vier Realisierungen mit da-Phrasen in den italienischen Passivkonstruktionen gibt (gegenüber 0 bei den spanischen HerkunftssprecherInnen). Im Hinblick auf die Passivtypen nach Sansò (2006) lassen sich bereits die Beispiele in (98) und (99) als Evidenz für die drei Kategorien betrachten: (98a-d) lassen sich als Patiens-orientierte Passivkonstruktionen einordnen, die deontische Lesart von (98e) legt eine Einstufung als „Agentless generic event“ nahe. Von den insgesamt nur 3 belegten si-Passive in (99) ist (99a) ebenfalls ein „Agentless generic event“, (99b) hingegen ein Beispiel für ein „bare happening“. Insgesamt macht die auf einer sehr kleinen Datenbasis beruhende Analyse der italienischen Aufnahmen keine repräsentative Aussage. Es wird aber deutlich" dass die bereits beschriebenen grundlegenden Unterschiede zwischen dem Italienischen und Spanischen auch bei Herkunftssprechern, die seit langer Zeit in Deutschland leben, noch präsent sind. 3.4.3 Analyse der französischen Aufnahmen In diesem Abschnitt werden die insgesamt nur zwei zur Verfügung stehenden Aufnahmen mit drei beteiligten Französisch-Sprechern, die ebenfalls seit 10 und mehr Jahren in Deutschland leben, vorgestellt, wobei die gleichen Analyseschritte wie in den vorhergegangenen Abschnitten durchgeführt werden. Tabelle 3.10 präsentiert die absolute und prozentuale Verteilung der periphrastischen und se-Passive und ihrer Anteile an den passivierbaren Kontexten (für die gesamte Gruppe). Die Ergebnisse sind mit denen der spanischen und italienischen Herkunftssprecher vergleichbar, wobei dieses Ergebnis für das Französische ebenfalls auf der Basis der grammatischen Eigenschaften vorhersagbar ist. Insgesamt wiederholt sich auch hier die Tendenz, dass sehr wenige Passivkonstruktionen in der gesprochenen Sprache verwendet werden. <?page no="150"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 150 Französisch- Sprecher (ges.) Passivierbare Kontexte Periphrastische Passive Si-Passive 3 448 8 (5,4) 3 (0,7) Tabelle 3.10: Passivische Konstruktionen und passivierbare Kontexte in den Daten der MuttersprachlerInnen des Französischen Trotz der Tatsache, dass das Französische - anders als das Italienische und Spanische - nur das ambige être aufweist, lassen sich die Passivkonstruktionen auch im Französischen aufgrund des Kontexts klar interpretieren, wie folgende Beispiele für periphrastische Passivkonsatruktionen zeigen: (100) Periphrastische Passivkonstruktionen in französischen gesprochenen Daten a. Beschreibung eines vergangenen Zustands: […] j’ [∫]uis pas grand’ chose parc’ que euh j’ai été expatriée pendant longtemps/ b. Beschreibung eines vergangenen, zur Sprechzeit noch in der Zukunft liegenden Vorgangs: [...] qu' je trouve la loi dans internet parc' que j'allais être interrogée là d'ssus aussi/ c. Generisch interpretierbare Beschreibung eines Vorgangs […] alors petite chose qui est servie entre deux bières/ Im Folgenden werden auch Beispiele für se-Passive gegeben, wovon die dritte besonders interessant ist, da sie eine deontische Lesart ausdrückt, die aber nicht durch ein besonderes Auxiliar zustandekommen kann (da ein solches im Französischen nicht existiert), sondern durch eine elaborierte Konstruktion, die einen klar passivisch zu interpretierenden Infinitiv mit se einbettet: (101) a. c’est euh ben ç a va se décider/ b. je doute que ç a s’ fasse partout/ c. […] et cette mise en place auraît dû donc se faire déjà à la maternelle/ Im Hinblick auf die Agens-Realisierung ist anzumerken, dass keine der periphrastischen Passivkonstruktionen einen Agens beinhaltet. Stuft man die französischen Passivkonstruktionen in die Passivtypen nach Sansò ein, lassen sich nur Belege für zwei der drei Typen in den Daten finden: Alle gefundenen Beispiele für se-Passive lassen sich als „Agentless generic events” einstufen. Hinzu kommt (100c). Die Beispiele (100a,b) sowie die hier nicht aufgeführten restlichen periphrastischen Passivkonstruktionen sind als Patiens-orientierte Passivkonstruktionen zu charakterisieren. Es gibt kein Beispiel für ein „bare happening”. Insgesamt macht die auf einer sehr kleinen Datenbasis beruhende Analyse der französischen Aufnahmen keine repräsentative Aussage. Es wird aber deutlich, dass die bereits beschriebenen grundlegenden Eigenschaften der französischen Passivkonstruktionen auch bei französischen Herkunftssprechern, die seit langer Zeit in Deutschland leben, noch präsent sind. <?page no="151"?> Passivkonstruktionen in den gesprochenen drei romanischen Sprachen 151 3.4.4 Vergleich der Ergebnisse Die in diesem Unterkapitel durchgeführte Analyse von spontansprachlichen Interviews mit spanischen, italienischen und französischen Sprechern (die meisten davon HerkunftssprecherInnen der ersten Generation) hat eine insgesamt sehr geringe Anzahl von Passivkonstruktionen ergeben, die möglicherweise für die gesprochene Sprache charakteristisch ist (über die hier angeführte, nicht repräsentative Datenbasis hinaus). Dabei erscheinen die Herkunftssprecher aller drei Sprachen recht ähnlich im Hinblick auf die Verteilung von periphrastischen und se/ si-Passiven zueinander: Während eine größere Anzahl von periphrastischen Passiven gegenüber se/ si-Passiven für das Französische und Italienische zu erwarten ist, gilt dies nicht jedoch für das Spanische, bei dem mehr se-Passive als periphrastische zu erwarten waren, aber ähnliche Verhältnisse wie im Italienischen resultierten. Im Hinblick, auf die prozentuale Realisierung von periphrastischen Passivkonstruktionen an den Kontexten bleibt das Französische hinter den anderen beiden Sprachen etwas zurück, was aber an der besonders kleinen Datenbasis liegen könnte. Die folgende Graphik 3.1 bildet die gefundenen prozentualen Anteile der Passivkonstruktionen an den passivierbaren Kontexten für alle Gruppen (für die spanischen HerkunftssprecherInnen und Kontrollgruppe getrennt) noch einmal vergleichend ab. Abb. 3.1 Prozentuales Vorkommen von periphrastischem und se/ si-Passiv in den untersuchten Gruppen (Anteil an allen passivierbaren Kontexten) Ferner hat der Vergleich zwischen der Verwendung der Auxiliare und der damit verbundenen verschiedenen Lesarten (Vorgangsbzw. Zustandspassiv) ergeben, dass die Möglichkeiten des Französischen und Italienischen intensiver ausgeschöpft wurden als im Spanischen, insgesamt aber die Präferenzen für die Interpretation (vgl. 3.3) auch bei <?page no="152"?> 3 Passiv im Spanischen, Italienischen und Französischen 152 den Herkunftssprechern stabil geblieben sind. Die Typologie von Passivkonstruktionen von Sansò konnte auch auf die belegten Daten angewandt werden. Während in diesem Unterkapitel Studien zur synchronen Verwendung der verschiedenen Passivkonstruktionen vorgestellt wurden, gibt das nachfolgende Kapitel 4 einen Überblick über Studien zur Entwicklung der Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben vom Spätlateinischen an bis in die romanischen Sprachen. <?page no="153"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung Dieses Kapitel stellt zum Vergleich mit der quantitativen und qualitativen Untersuchung der Verhältnisse ab dem 12./ 13. Jahrhundert eine Übersicht über einige überwiegend qualitative Studien vor, die einen größeren, die spätlateinische Entwicklungen umfassenden Zeitraum zum Gegenstand haben. Hierbei sind nicht nur die Entwicklungen im spätlateinischen Passivsystem, sondern auch diejenigen der unterschiedlichen Diathesen einzeln und untereinander relevant (Kapitel 4.1). Hierzu gehört die Entwicklung der Deponentien, also der Verben mit passivischer Morphologie und aktivischer Bedeutung (Kapitel 4.2). Diese wird verfolgt, um zu klären, ob diese möglicherweise den unakkusativischen Verben der romanischen Sprachen entsprechen. Die in diesem Abschnitt detaillierter präsentierte Arbeit von Larochette (1939) deckt eine enge Beziehung zwischen Medium-Verben im Lateinischen und telischen Verben des Altspanischen auf, die für die Arbeitshypothesen der vorliegenden Arbeit von großer Bedeutung ist. Ferner wird die umfassende empirische diachrone Studie zur Passiventwicklung im Spanischen von Ricós (1995) in Kapitel 4.3 und die empirische Arbeit von Green (1982) zu den spanischen Passiv-Semi-Auxiliaren in Kapitel 4.4 mit einbezogen, um hier zu den Ergebnissen der vorliegenden Studie ergänzende Informationen und eine Vergleichsbasis zu gewinnen. 4.1 Diathesen im (Spät-)Lateinischen Väänänen (1981: 127 ff.) beschreibt die Diathesen der traditionellen Grammatik des Lateinischen, d.h. die drei „voix ou aspects du verbe“, im Hinblick auf die Beteiligung des Subjekts an der Aktion aufführt: Aktiv (das Subjekt vollzieht die Aktion), Passiv (das Subjekt erleidet die Aktion) und Medium (das Subjekt ist an der Aktion interessiert). Väänänen (1981: 127 f.) erklärt hierzu: „la voix dite passive est en réalité médiopassive, servant à exprimer à la fois le passif proprement dit et le moyen: cingor signifie ‚on me ceint‘ et ‚je me ceins‘, moveor ‚je suis mû‘ et ‚je me meus‘, vehor ‚je suis transporté‘ et ‚je me fais transporter‘, videor ‚je suis vu‘ et ‚je semble‘ (sens neutre). La voix moyenne était rendue outre par le passif aussi par le réfléchi: se dedere ‚se livrer‘, se exercere ‚s’exercer‘, se vertere ‚se tourner‘etc., avec au départ, une certaine nuance active par rapport au médiopassif. Mais cette différence minime entre les deux moyens s’est proprement effacée”. Väänänen macht hier deutlich, dass aufgrund einer Funktionsüberschneidung von Passiv und Medium die lateinischen synthetischen Passivformen alle polysem sind. Ferner erklärt Väänänen (1981: 129 f.) die zeitliche Verschiebung, die zum Verlust der synthetischen Formen des Passivs führte (vgl. auch Maiden (1995: 146 ff.) aus der Perspektive der Entwicklung im Italienischen). Der Ausgangspunkt war die doppelte Bedeutung der Ausdrücke wie z.B. DOMUS CLAUSA EST: 1) ‚das Haus wurde geschlossen’ („fait passé“) und 2) ‘das Haus ist (aktuell) geschlossen’ („résultat acquis“). Letztere Konzeption stellt also die Tatsache aus Sicht der Gegenwart dar, in <?page no="154"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 154 der das Partizip einen attributiven, d.h. adjektivischen, Wert hat, wie im Beispiel DOMUS PARVA EST. Die beiden Formen des Passivs, die einfache und die zusammengesetzte, treffen sich auch in den Ausdrücken bezüglich des Ortes. Auf dieselbe Weise markieren die anderen Formen des Auxiliars die entsprechenden Tempora des Passivs, wobei das Partizip als „pivot“ fungiert, was bewirkt, dass bestimmte Werte verschwinden wie derjenige der zusammengesetzten Zeit DOMUS CLAUSA FUIT, der zuerst ein erreichtes Resultat nach einer bestimmten Dauer der Aktion in der Vergangenheit oder die Vorzeitigkeit in Bezug auf ein Verb in der Vergangenheit ausdrückte. Die Veränderung (Verschiebung von Zustand I zu Zustand II) im System stellt Väänänen (1981: 130) in der folgenden Übersicht zusammen, die sich auf das heutige Tempus-system des Französischen bezieht: (1) Verschiebung im Tempussystem im Spätlateinischen I II PRÉSENT laudor laudātus sum PARFAIT laudātus sum laudātus fui IMPARFAIT laudābar laudātus eram PLUS-QUE-PARFAIT laudātus eram laudātus fueram Zum Abbau des synthetischen Passivs in spätlateinischer Zeit erklärt Väänänen (1981: 130), dass in der Folge Übergeneralisierungen erfolgten und sich die reflexive Konstruktion in mehreren romanischen Sprachen etabliert hat. Väänänen (1981: 129) unterscheidet auch zwischen unpersönlichem und persönlichem Passiv im Spätlateinischen: Zum unpersönlichen Passiv führt er aus „Le passif impersonnel des verbes transitifs ou intransitifs, c’est-à-dire une simple idée verbale indépendante de tout sujet s’exprime: a) le plus souvent à la 3 e pers. s. du passif: BIBITUR ‚on boit‘ […] b) dans des cas précis, à la 3 e pers. pl. de l’actif: DICUNT, AIUNT, FERUNT, NARRANT ‚on dit‘ ; à comparer esp. dicen, it. dicono […], c) à la 2 e pers. sg. de l’actif, surtout au potentiel : VIDEAS ‚vous pouvez voir‘, DICERES ‚on aurait dit‘ ; d) à la 3 e pers. sg. de l’actif, usage primitif dont persistent des cas isolés : INQUIT (Cic., Sen.) ‚dit-on‘, DICIT, tour répandu surtout en latin ecclésiastique avec le sens ‚il est dit‘ ou ‚il s’agit de‘; de même DEBET ‚on doit‘, POTEST ‚on peut‘ […] e) par le sujet indéterminé HOMO, vaguement amorcé en bas latin, par ex. Peregr. 13, 1 ubi homo desiderium suum compleri videt ‚quand on (ou : l’homme) voit combler son désir‘ […]”. Für das persönliche Passiv führt Väänänen (1981: 129 f.) aus, dass nur die transitiven Verben ein solches haben: LAUDOR ‚je suis loué‘ oder ‚on me loue‘, (discipulus) laudator (a magistro) ‚il (l’élève) est loué (par le maître)‘, wobei diese Konstruktion in der Umgangssprache nicht sehr häufig ist (unter Berufung auf die Verwendung bei Plautus). Herman (2002: 31) kritisiert die stark vereinfachende, rein morphologische Sicht von Väänänen vor dem Hintergrund seiner Untersuchungen: Er versucht, das Verschwinden des synthetischen lateinischen Passivs zeitlich einzuschränken. Anhand einer spätlateinischen Version der von Grégoire von Tours geschriebenen Histoire des Francs, dem Liber Historiae Francorum (Anonym, 727), aus der Zeit der Merowinger, zeigt Herman, dass hier nicht einfach die von Väänänen oben beschriebene morphologische <?page no="155"?> Diathesen im (Spät-)Lateinischen 155 Verschiebung stattfand, sondern in der zweiten Hälfte des 7. und ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts ganze Passivkonstruktionen eher ganz getilgt als „verschoben“ wurden, die noch in kurz vorher verfassten anderen angeführten merovingischen Dokumenten verwendet wurden. Herman folgert aus dem Vergleich der Dokumente, dass zu Beginn des 8. Jahrhunderts das Verständnis von synthetischen Passivkonstruktionen bei den Lesern stark abgenommen haben musste, so dass der anonyme Verfasser des Liber Historiae Francorum andere Konstruktionen wählte, u.a. Passivkonstruktionen durch Aktivkonstruktionen ersetzte. Einen Beitrag zur Frage des Verhältnisses von intransitiven Verben und Diathesen im Lateinischen leistet García Hernandez (1990), der die Prozesse der Intransitivierung im Spätlateinischen untersucht und Diathesen auf verschiedenen Ebenen aufzeigt, wobei diejenige zwischen Aktiv und Passiv und diejenige zwischen Aktiv und Medium zu den grammatischen Diathesen gerechnet werden. Zum Verhältnis von Passiv und Intransitiv erklärt García Hernandez (1990: 133), dass der Begriff des Intransitiven sich mit dem des Passivs assoziiere und die enge Affinität, die zwischen intransitivem Verb und Passiv existiert, in der modernen Linguistik beobachtet werde, und kritisiert, dass zuletzt die „passivierende“ Funktion des Intransitiven betont werde, welches im Spätlatein sehr zur Geltung kam, wo das Passiv des transitiven Verbs häufig durch die intransitive Verwendung desselben Verbs ersetzt wurde. Jedoch betont García Hernandez, dass Passiv und Intransitiv nicht dasselbe sind, sondern konkurrierende Formen. In denjenigen Lexemen, wo die beiden Funktionen koexistieren, ist die passive Funktion mit einer stativen Markierung verbunden, im Gegensatz zur dynamischen Bedeutung des Aktivs: (2) figulus rotam vertit. - rota a figulo vertitur Dagegen ist die intransitive Funktion eine Art neutraler Terminus, der der Polarisierung der beiden Werte indifferent gegenübersteht - sie ist nicht-statisch gegenüber dem Passiv (3a) und nicht-dynamisch gegenüber dem transitiven Aktiv (3b): (3) a. rota vertit/ rota a figulo vertitur b. rota vertit / figulus rotam vertit. Entsprechend argumentiert García-Hernandez (1990: 133), dass fio nicht die passivische Form von facio ist, da diejenigen Verben, die das Passiv ersetzen, nicht wirklich Passive sind, sondern komplementäre Intransitive zu den entsprechenden Transitiven. Im besten Fall, so García Hernandez, könne gesagt werden, dass das intransitive Verb, das als Subjekt das Objekt des entsprechenden transitiven Verbs nimmt, ein Beispiel einer Passivierung ohne passivische Morphologie darstellt. Damit beschreibt García-Hernandez in anderen Worten die unakkusativen Verben und stellt den Bezug zwischen diesen Verben und dem Passiv als „lexikalische Passive“ her. Jedoch bleiben die Konzepte Intransitiv und Passiv für Garciá-Hernandez (1990: 133 f.) getrennt, sofern sie verschiedene Lexeme betreffen (anders als z.B. neufrz. rompre, das transitiv und intransitiv-unakkusativ gebraucht werden kann): „Le passif et l’intransitif ne s’identifient pas, mais ce sont des concepts analogues, du fait que tous sont complémentaires de l’actif transitif“, wie er am folgenden Beispiel zeigt: <?page no="156"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 156 (4) a. magister librum ostendit. - liber ostenditur; b. magister librum ostendit. - liber apparet. Nach García Hernandez lässt die Proportionalität zwischen ostenditur und apparet in Bezug auf ostendit (ostendit.ostenditur: ostendit. - apparet) diese Analogie erscheinen. Jedoch ist die Analogie zwischen apparet und ostenditur nicht der Tatsache geschuldet, dass ersteres Verb intransitiv ist, sondern dem Umstand, dass beide Verben sich in intersubjektivischer Relation mit dem Aktiv ostendit befinden. So kann eine transitive Aktion, die zu einer anderen kausativen komplementär ist, analog zu deren Passiv sein, wie García Hernandez an der intersubjektiven Relation doceo - disco zeigt, in der das transitive Verb disco analog zum Passiv von doceo ist: (5) a. magister discipulos grammaticam docet. - discipuli grammaticam discunt b. magister discipulos grammaticam docet. - discipuli grammaticam docentur genauso wie das intransitive apparet analog zu ostenditur ist. Ein weiterer wichtiger Punkt in García-Hernandez’ Arbeit ist die Annahme, dass im Vulgärlateinischen eine (Zunahme der) Intransitivierung stattfindet, die er als Charakteristikum des Vulgärlateinischen, des christlichen Lateinischen und der Fachsprachen, die im Spätlateinischen auftreten, bezeichnet. Dabei unterscheidet er hier zwei Typen der Intransitivierung: die eine, bei der nur das Objekt weggelassen wird (nauta (navem) soluit > nauta soluit), steht dabei nicht im Interesse der Untersuchung, während eine komplexe Intransitivierung, bei der vorher ein Verlust des Subjekts und in der Folge eine Transformation des Objekts in ein neues Subjekt stattfindet ((nauta) navem soluit > navis soluit) im Vordergrund steht, da es sich hier um eine diathetische Transformation handelt, die der zwischen Aktiv und Passiv ähnelt: (6) a. nauta navem soluit. - navis soluitur b. nauta navem soluit. - navis soluit García Hernandez (1990: 136 f.) führt ferner die Beziehungen zu medialen Konstruktionen auf: „la construction pronominale est une autre forme assez productive“, wobei dem Aktiv also drei komplementäre intransitive Verwendungen als „groupe fonctionnel“ gegenüberstehen: (7) figulus rotam vertit. - rota a figulo vertitur / rota vertit / rota se vertit. Während in García Hernandez (1990) das intransitive Verb in Relation zu den Diathesen und die Zunahme intransitiver Verben im Spätlateinischen behandelt, die nach der Beschreibung in anderer Terminologie den unakkusativen Verben entsprechen, werden die Deponentien nicht weiter erwähnt, die Gegenstand des nächsten Abschnitts sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Lateinische Aktiv und Medium aus dem Indoeuropäischen übernimmt und das Passiv morphologisch ausbaut, wobei die Formen für Medium und Passiv nach Väänänen überwiegend polysem sind; gleichwohl sind die Diathesen voneinander zu unterscheiden. Im Spätlateinischen wird eine <?page no="157"?> Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen 157 Zunahme intransitiver Verben vermutet. Das lateinische synthetische Passiv verschwindet spätestens im Spätlateinischen der Merowingerzeit (8. Jh.). 4.2 Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche Evidenz es für die Herausbildung der unakkusativen intransitiven Verben bereits im Spätlateinischen bzw. in den frühen romanischen Sprachen gibt. Hierbei geht es um die Rolle der sogenannten Deponentien des Lateinischen, die eine von mehreren Folgen der weiteren Entwicklung des Mediums sind. Väänänen (1981: 128) zufolge sind die Deponentien oder Verben mit aktivischer Bedeutung und passivischer Flexion eine gesonderte Gruppe, die ehemalige Medium- Konstruktionen repräsentieren. Als Beispiele nennt er u.a. HORTARI ‚ermahnen’, LOQUI ‚sprechen’, LUCTARI ‚kämpfen’ und SEQUI ‚folgen’. Da diese Kategorie - so Väänänen - keine eigenen semantischen Werte hatte, zögerte die Volkssprache nicht, diese Verben wie aktivische Verben zu behandeln. Während die Deponentien also relativ früh wie aktivische (intransitive) Verben behandelt werden, werden einige transitive Verben medial interpretiert, wie z.B. male res vertunt ‚die Dinge nehmen eine böse Wendung/ entwickeln sich schlecht‘ (Väänänen 1981: 128). Diese Entwicklung, so Väänänen, wurde durch die alte Gewohnheit vorbereitet, das Partizip Präsens im Medio- Passiv genauso wie im Aktiv zu affizieren, z.B. in volventibus annis ‚entsprechend dem Verlauf der Jahre‘. Väänänen (1981: 128) weist ferner auf eine unpersönliche Verwendung von habet ’il y a’ (davon abgeleitet auch span. hay) und continet ‚il est écrit‘ hin, letzteres begleitet von einem direkten Objekt, die sich in einer späteren Epoche herausbildet. Nach Maiden (1995: 147) sind die Deponentien des klassischen Lateins, mit denen er italienische Verben wie è nato ‚er ist geboren worden‘ und è morto ‚er ist gestorben‘ (also strukturell zum Passiv identische Verben, aber funktional Formen des Passato prossimo) in Verbindung bringt, morphologisch identisch und semantisch ähnlich zum Passiv, aber in einem wichtigen Punkt anders: das grammatische Subjekt der Deponentien ist nicht zugrundeliegend das Objekt eines transitiven Verbs. Damit spricht er sich implizit gegen die Gleichsetzung mit unakkusativen Verben nach aktueller Definition (vgl. Kapitel 2.1) aus. Vielmehr argumentiert Maiden (1995: 147) dafür, dass viele Deponentien semantisch Medium sind (wobei er anders als Väänänen diesen Verben eine eigene Bedeutung zuspricht), also anders als normale Passive keine Aktion signalisieren, die ein externer Agens am Subjekt ausübt, sondern eine Aktion, die vom Subjekt ausgeht und an der das grammatische Subjekt teilnimmt, ohne Agens oder Anstifter zu sein. Viele Medium-Deponentien wie NASCITUR ‚er ist geboren‘ (Perfekt NATUS EST), IRASCITUR ‚er wird ärgerlich’ (Perfekt: IRATUS EST), PROGREDITUR ‚er kommt voran‘ (Perfekt: PROGRESSUS EST) und MORITUR ‚er stirbt‘ (Perfekt: MORTUUS EST) haben keine transitiven Pendants. Maiden weist auch auf die Tatsache hin, dass bereits im klassischen Latein „semideponente“ Verben existierten, bei denen allein die perfektivischen Formen passivische Morphologie <?page no="158"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 158 aufwiesen (z.B. GAUDET ‚er freut sich‘, vs. Perfekt GAUISUS EST). Die imperfektivischen Formen von Deponensverben beginnen auch ihre passivische Flexionsmorphologie abzuwerfen, wobei sie jedoch die Struktur ESSE + PARTIZIP in den perfektivischen Tempora beibehalten. Dieser Sachverhalt besteht im Italienischen wieter bei muore vs. è morto und nasce vs. è nato und charakterisiert viele andere semantische Medium-Verben im Alttoskanischen: sono levato ‚Ich stand auf‘, è bagnato ‚er badete‘. Für das Altspanische nimmt Larochette (1939) im Rahmen der strukturellen Linguistik eine sehr detaillierte Klassifikation der Verbalaspekte vor, die auf der rein qualitativen Auswertung (Textbelege, Verbtypen) altspanischer literarischer Werke (u.a. das Poema de mio Cid, Libro de Alixandre, Libro de Apolonio, Auto de los Reyes Magos) sowie der hierzu vorhandenen Vokabulare) basiert. Dabei meint er mit Aspekt (genauer: „aspect endosémantique“) eine dem Verb innewohnende Eigenschaft (vgl. Larochette 1939: 338 f.), im Gegensatz zu einer verbexternen, auf Ebene der Grammatik bestehenden Unterscheidung wie z.B. zwischen manger und avoir mangé (von ihm als „aspect exosémantique“ bezeichnet und in dem Beitrag nicht weiter untersucht). Aspekt ist dementsprechend die Eigenschaft, einen Prozess oder einen Zustand, der aus dem Prozess resultiert, zu beschreiben, wobei er letzteren als statif bezeichnet (Larochette 1939: 341). So ergibt sich für ihn die Unterscheidung zwischen dem realen Aktiv cambiar und dem Stativ des Aktivs haber cambiado (später tener cambiado) einerseits und dem realen Medium cambiarse und dem Stativ des Mediums ser cambiado (später estar cambiado) andererseits. Einleitend zum Komplex der Diathesen hält Larochette (1939: 342) fest, dass ein Verb sich im Medium befindet, wenn es eine Veränderung oder Modifikation ausdrückt, die das Subjekt „überkam“, ohne dass der Ursprung bzw. die Ursache dieser Veränderung angezeigt oder materiell ausgedrückt wurde. Dies, so Larochette, ist die Bedeutung einer großen Zahl von lateinischen Deponentien: z.B. nasci, mori, oriri, reminisci, laetari. Das Medium der Intensität oder des Interesses, das einen Prozess ausdrückt, für den sich das Subjekt besonders interessiert, war eine sekundäre Kreation (Larochette unterscheidet im Weiteren daher zwischen „médium réel“ und „médium d’intérêt ou d’intensité“) und umfasste lateinische Deponentien wie conari, niti, vesci, frui, sequi). Die Schaffung eines Passivs ist nach Larochette (1939: 343) durch die Tatsache provoziert worden, dass man in bestimmten Fällen die Ursache oder den Ursprung der Veränderung, die das Subjekt affizierte, auszudrücken suchte. Larochette vermutet weiter, dass es vermutlich die Existenz dieses Passivs war, die es erlaubte, einigen aktivischen Verben wie videri und modificari eine Medium-Bedeutung zu geben. Larochette geht auch auf den Umstand ein, dass im Lateinischen weder das Medium noch das Passiv eine komplette Konjugation erhielten, sondern auf eine Suppletion per Aspekt zurückgegriffen wurde: So wurden zusammengesetzte Formen aus esse und einem verbalen Adjektiv auf -to in die Konjugation integriert, die nach Larochette ursprünglich eine ganz andere Funktion hatten. Unter Bezug auf Reichenkron (1933), der die Fusion des Mediums und des Passivs im Lateinischen und die weitere Entwicklung dieses Mediopassivs bis zur romanischen Periode untersucht, bemerkt <?page no="159"?> Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen 159 Larochette (1939: 343), dass sich dieses schon im Lateinischen dem Reflexivum annäherte und andererseits das reflexive Pronomen nach und nach die Medium-Flexive als „Morphem des Mediopassivs“ substituierte. Larochette drückt hiermit in Übereinstimmung mit Väänänen aus, dass die Formen für Passiv und Medium alle polysem waren und sowohl eine Medium als auch eine Passivbedeutung erhalten konnten. Im Hinblick auf die Deponentien führt Larochette Folgendes aus: Im Lateinischen umfasste das reale Medium bestimmte Verben mit der Endung -o, aber insbesondere Verben mit den Endungen -sco und -or. Diese Verben, so Larochette (1939: 353), drückten entweder eine physische Veränderung des Subjekts (nasci, oriri, mori, mutari, separari, etc.) oder eine psychische Veränderung (reminisci, pati, laetari, etc.) aus. Darüberhinaus verfügte das Lateinische über eine ganze Serie von Deponentien, die ein Medium des Interesses oder der Intensität ausdrückten (sequi, largiri, niti, conari, tueri, frui, vesci, etc.). Um das wahrhaft Reflexive auszudrücken, musste es schon ein verstärktes Pronomen verwenden (egomet), aufgrund der Vielfalt reflexiver Konstruktionen, in denen das Pronomen keine unabhängige Bedeutung mehr hatte (z.B. consul se Brundisium contulit) und wo es sogar zum Ausdruck des Mediums diente (z.B. se facere). Diejenigen Verben, die eine Ortsveränderung ausdrückten, also die Bewegungsverben, hatten entweder die Deponens-Form (verti, moveri, gradi, vagari, etc.) oder die reflexive Form, wenn sie transitiv sein konnten (se vertere, se movere, se conferre, etc.). Andere bewahrten die aktive Form, die sie seit dem Indoeuropäischen hatten (ire, intrare, venire, etc). Während im Verlauf der Jahrhunderte durch den häufigen Wechsel von Verben von einer Klasse in die andere, vom Medium ins Aktiv und andersherum, der morphematische Wert der Medium-Endungen immer mehr geschwächt wurde, breitete sich die Verwendung von Periphrasen mit fieri, venire, devenire und pervenire 102 , und insbesondere der Gebrauch der pronominalen aktivischen Form aus. Als die Medium-Flexive endgültig verschwunden waren, war es das Reflexivpronomen, das ihre Funktion als Morphem des Mediums erbte. Man machte keinen Unterschied mehr zwischen dem eigentlichen Reflexiv und dem Mediopassiv einerseits und zwischen den Formen, in denen das Reflexivpronomen einen alten Akkusativ repräsentierte, und denen, in denen es einen Dativ des Interesses repräsentierte, andererseits. Es ist damit nach Larochette eine Polysemie des Reflexivpronomens entstanden, das nun neben dieser Funktion auch Mediopassiv und Dativ ausdrückte. Im nächsten Schritt vergleicht Larochette das lateinische Medium mit dem wie hier beschrieben entstandenen spanischen Medium und stellt eine Weiterentwicklung des Mediumsbegriffs fest: Während das lateinische Medium ursprünglich nur intransitive Verben gruppierte, die fast immer „okkulten“ (d.h. nicht mehr morphologisch erkennbaren) determinierten (= telischen) Aspekt hatten, umfasst das spanische Medium transitive und intransitive Verben, sowohl telische als auch atelische. Larochette (1939: 389) fasst seine Einteilung der Verbgruppen innerhalb der medialen Diathese wie folgt zusammen: 102 Vgl. Kapitel 3.1.2 zur Grammatikalisierung von fieri. <?page no="160"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 160 1. Als reale Medium-Verben werden betrachtet: die intransitiven Verben, die einen Abschluss implizieren (also determiniert bzw. telisch sind) und eine Veränderung der Situation des Subjekts (Zustands- oder Positionsveränderung) ausdrücken. Sie werden sehr häufig mit dem Reflexivpronomen in der Funktion als Morphem des Mediums verwendet. Ihnen werden die determinierten Bewegungsverben gleichgestellt, wobei das Reflexivpronomen ihnen häufig eine intensive oder interessierte Nuance verleiht. 2. Folgende Verben können eine Form haben, die reales Medium ausdrückt: a) eine bestimmte Anzahl der intransitiven Verben, die indeterminiert (bzw. atelisch) sind und eine Situation oder eine Bewegung des Subjekts ausdrücken, z.B. adelantarse, levantarse, moverse. Hier hat die mediale Form eine inzeptive Bedeutung und entsprechend den determinierten Aspekt. Sie ist immer pronominal; b) alle transitiven Verben, wobei sich hier das Medium formal mit dem unpersönlichen Passiv und dem Reflexivum überschneidet (vgl. Larochette 1939: 370 ff.). 3. Die folgenden Verben können eine Form haben, die ein Medium des Interesses oder der Intensität ausdrückt: die Mehrheit der Verben, die eine psychische Aktivität ausdrücken oder ihre Manifestation und einige Verben, die eine physische Aktivität bezeichnen. Sie sind fast alle transitiv. Beispiele für diese Gruppe sind u.a. membrar, olvidar, doler, placer und pesar (vgl. Larochette 1939: 385 ff.) Larochettes Arbeit vermittelt in ihrer Akribie und ihrem Detailreichtum einen Eindruck von der Vielfalt der Funktionsüberschneidungen und Polysemien, die ein generatives Lexikon erfassen können muss. Gleichwohl ist es in diesem Rahmen nicht möglich, alle Details der feinen Binnenklassifikation von Larochette vorzustellen. Die nachfolgende Präsentation beschränkt sich daher auf die erste Verbgruppe („reale Medium-Verben“) und die von Larochette beschriebene Weiterentwicklung des Mediums, während Beispiele für die zweite und dritte Gruppe oben jeweils mit aufgeführt wurden. Viele der erwähnten Verben kommen auch in den in dieser Studie untersuchten spanischen Chroniken vor 103 , so dass hier eine gute Bedeutungseinordnung möglich ist. Larochettes Studie ergänzt insofern die empirische Untersuchung in der vorliegenden Arbeit. In der Gruppe des realen Mediums behandelt Larochette (1939: 355 ff.) zunächst die Verben, die einen Zustandswechsel ausdrücken. Für diese hatte das Lateinische ein spezielles Morphem, nämlich das Infix -sc-, das auch Spuren in den romanischen Sprachen hinterlassen hat, speziell im Spanischen, wobei hier jedoch ebenfalls nicht von dem Morphem dahingehend Gebrauch gemacht wird, dass es inchoativen Aspekt autonom markiert. Was heute unter der Bezeichnung „inchoativ“ gruppiert wird, ist laut Larochette eine Gruppe von Verben, die durch die Bedeutung zusammengehalten wird und zum Medium gehört, und als solche empfänglich dafür ist, das Reflexivpronomen als Morphem zu nehmen. Neben einer Serie von intransitiven Verben, die von Adjektiven deriviert wurden (seltener von Nomina, z.B. anochecer, florecer) wie z.B. esclarecer, embermeiecer, amarillecer, engrandecer existiert die Serie von Verben, die Anfang, Entwicklung oder Erreichen eines Zustands ausdrücken: nacer, morir, crecer, 103 Vgl. auch die Liste aller passivierten spanischen Verben im Anhang, die die transitiven Varianten vieler der aufgeführten Verben beinhaltet. <?page no="161"?> Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen 161 descrecer, acrecer, fallecer, perecer, transir und finar. Zum letzten Verb erklärt Larochette (1939: 356), dass es dem transitiven finir gegenübersteht; da aber die Endung -ar vor allem eine Endung transitiver Verben war und für ein rein inchoatives Verb nicht passte, begann man, diesem das Morphem des Mediums zu geben, d.h. finarse zu bilden und dazu noch die Dublette enfenecer zu kreieren. Im Folgenden verdeutlicht Larochette den semantischen Beitrag der Präfixe und Suffixe von Verben, die ihrerseits zur Polysemie führten und Neubildungen provozierten, wenn die Polysemie zu stark wurde: Die Endung -ecer (lat. -escere), die die Mehrheit der oben zitierten Verben aufweist, hatte ihren alten morphematischen Wert verloren, indem sie mit Verben verbunden wurde, die nichts mit der Inchoativ-Bedeutung zu tun hatten, nämlich prinzipiell Verben, die auf -ire endeten (empedir: empedecer, guarir: guarecer etc.); umgekehrt wurde aber auch -ecer häufig durch -ire ersetzt, z.B. engordecer: engordir, aborrecer: aborrir. Verben mit der Endung -ar und -er erhielten eine Dublette auf -ecer, z.B. caer: caecer, lat. fallere: fallecer; acabar: acabecer. Diese häufigen Wechsel von Endungen wurden durch die Übergänge von Verben von einer Klasse zur anderen erleichtert: Viele inchoative Verben wurden gleichermaßen transitiv und reziprok verwendet, wie z.B. enflaquecer, das nicht nur „schwach werden“, sondern auch „schwächen“ bedeutet. Das Verschwinden des morphematischen Werts der Endung -ecer führte zur Notwendigkeit, den Aspekt des Verbs mit Hilfe eines neuen Morphems zu markieren, wozu man laut Larochette das generelle Morphem des Mediums, also das Reflexivpronomen verwendete, wodurch das Inchoative vom Medium nicht mehr zu unterscheiden war, wie z.B. in esclarecerse, escurecerse, obscurecerse, enriquecerse, enmudecerse, die neben esclarecer, escurecer, enriquecer und enmudecer zu finden sind. Bei einigen Verben findet sich auch nur die pronominale Form: amortecerse, ennoblecerse, entristecerse; von den weiter oben genannten Verben hat nur morir eine pronominale Form. Larochette (1939: 357) weist auch auf die Bedeutung der Präfixe dieser Verben hin: aus der obigen Aufzählung von inchoativen Verben weist die Mehrheit die Präfixe en- oder exauf, während das Präfix aeher transitive Verben charakterisiert - so lassen sich interessante Korrespondenzen finden: aclarecer (trans.) vs. esclarecer (inch.), apocar (trans.) vs. empocar (inch.). Das Verb amollecer tritt nur transitiv auf, während amortecer nur in der reflexiven Version zu finden ist, was laut Larochette Anlass zu denken gibt, dass die nicht-pronominale Form als transitiv empfunden wurde, obwohl die Verbbedeutung sich dafür nicht eignete. Zur Opposition von crecer und acrecer merkt Larochette an, dass - nachdem diese durch die Verwendung von acrecer in der inchoativen Bedeutung ausgelöscht worden war - ein drittes Verb entstand: acrecentar, das dreifach aktiv markiert ist: durch das Präfix a-, die Endung -ar, und das Infix -ent-. Larochette (1939: 358) macht hierzu eine wichtige Beobachtung: jedes Mal, wenn das Spanische die Opposition Aktiv/ Medium durch zwei unterschiedliche Formen markierte, ist das Verb der aktiven Form transitiv. Alles erfolgte so, als ob der wirklich aktivische Charakter von Verben nur dann anerkannt wurde, wenn sie eine Aktion ausdrückten, die nicht nur das Subjekt interessierte. <?page no="162"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 162 Eine sehr große Anzahl von Verben mit der Endung -ar (selten mit -er oder -ir), die ursprünglich transitiv waren, wurden für den Ausdruck eines Zustandswechsels eines Subjekts verwendet, konnten also Medium sein, wobei ein Teil in dieser Bedeutung ohne Pronomen auftrat (calentar, escalentar, alumbrar, aquedar, quedar, hinchar, cansar, decambiar, encender, quebrar), während andere nur ein pronominales Medium aufwiesen: avezarse, cambiarse, corromperse, abrirse, conturbarse, entorparse, esquivarse, ermarse, embebdarse, fartarse, librarse, mudarse, perderse, poblarse, secase, quebrantarse, sumirse. Aber es gab auch einige, die in beiden Formen auftraten: amansar/ amansarse, casar/ casarse, criar/ criarse, demudar/ demudarse, despertar/ despertarse, delibrar/ delibrarse, menguar/ menguarse, meiorar/ meiorarse, quitar/ quitarse. Zu dieser Gruppe von Verben müssen auch diejenigen hinzugenommen werden, die - ursprünglich transitiv - den Anfang oder das Erreichen eines Zustands ausdrücken: acabar, empezar, compezar, comenzar, recabdar und cessar, die mit Ausnahme der letzten beiden im Medium mit Pronomen auftreten. Larochette (1939: 359) weist wiederum, im Hinblick auf Präverben, auf wichtige Bedeutungsunterschiede in diesem Zusammenhang hin: quedar ist essentiell Medium, während aquedar ein transitives Verb in medialer Verwendung ist. Weitere interessante Oppositionen bestehen zwischen mudar und cambiar einerseits (transitiv, dann inchoativ) und demudar, decambiar andererseits (inchoativ, dann transitiv). Quebrar ist essentiell medial und gelegentlich transitiv verwendet, während quebrantar kreiert worden sein muss, um (transitives) Aktiv von Medium zu unterscheiden, hierfür musste es dann pronominalisiert werden. Verben von der Art von secarse zeigen laut Larochette, wie nahe die inchoative Lesart im spanischen Verbalsystem dem eigentlichen Reflexiv kommt. Sofern das Subjekt nicht belebt ist, kann secarse keine reflexive Bedeutung haben, sondern muss inchoativ sein, wie die beiden folgenden Beispiele belegen sollen (Larochette 1939: 360): (8) a. Ca (las lagremas) asoman ayna e secan se privado. (Alix., 1599 d.) b. Como la flor del lilio qui se seca privado. (Alix., O. 2366 d.) Hingegen kann das Verb mit einem belebten Subjekt eine wirklich reflexive Aktion ausdrücken. Gleichzeitig zeigt (8b) nach Larochette auch, wie nahe „se seca“ dem Passiv ist, da man ohne Probleme auch ins Französische übersetzen kann „on les sèche“. Die reflexive Konstruktion wurde im Spanischen für den Ausdruck des unpersönlichen Passivs bevorzugt 104 , wie im folgenden Beispiel (Larochette 1939: 360): (9) En estas tierras agenas verán las moradas cómmo se fazen|. Afarto veran por los ojos cómmo se gana el pan. (Cid, 1642-43). Sobald das Subjekt ein belebtes Wesen ist, erlaubt nur der Kontext die Unterscheidung des Reflexivums vom Passiv; neben dem unpersönlichen Passiv wird es auch für das 104 Larochette (1939: 360, Fn. 1) führt insgesamt vier weitere Möglichkeiten des Altspanischen für das unpersönliche Passiv auf: A) mit dem Pronomen ome/ omnes, das dem frz. on entspricht; B) mit der Verbform in der 2. Person Plural (manchmal in den Chansons de geste zu finden, wo dieses Verfahren der Erzählung mehr Betonung verleiht); C) mit der Verbform in der 3. Person; D) mit dem Verb in der 3. Person Plural ohne realisiertes Subjekt. Die Optionen A) und C) sind nicht mehr gebräuchlich. <?page no="163"?> Medium und Deponensverben im Lateinischen und Romanischen 163 persönliche Passiv verwendet, wobei hier der Ausdruck eines Agens über die Präposition con möglich war. Unter den medialen Verben, die eine Veränderung des Subjekts ausdrücken, müssen natürlich auch diejenigen aufgeführt werden, die eine psychische Veränderung des Subjekts ausdrücken, v.a. die „verbes de sentiment“ 105 , die im Altspanischen - mit Ausnahme von envergonzar und adolecer - alle die pronominale Form hatten. Larochette (1939: 362 f.) führt folgende Liste psychologischer („Gefühls“-)Verben auf: agraviarse, airarse, aquitarse, aquexarse, engannarse, encorajarse, espantarse, ensañarse, enojarse, enfestarse, cuitarse, desmayarse, denostarse, confortarse, gabarse, gozarse, pagarse, alabarse, aontarse, gradarse, gradecerse, ondrarse, omillarse, preciarse, viltarse, die zusätzlich eine aktivische transitive Form besitzen, sowie afligirse, arrepentirse, desafiuzarse, desperarse, desconortarse, baldonarse, enamorarse, enfellonarse, irarse, maravillarse, repentirse, segurarse, querellarse, die keine transitive Form haben. Im Zusammenhang mit dieser Gruppe erwähnt Larochette (1939: 363) auch einige semantisch eng verwandte mediale Verben, die jedoch nicht so sehr die Bedeutung des Erreichens eines Zustands, sondern das Befinden in dem jeweiligen Zustand ausdrücken: blanquear (nur belegt in den Formen blanqueado, blanqueante, blanqueando) „weiß sein“, peligrar „in Gefahr sein“, lazdrar „leidend sein“, cegar „blind sein“, quedar „im Frieden sein“, eguar „gleich sein“ und vivir „am Leben sein“. Dabei ist festzuhalten, dass diese Verben keine pronominale Form haben, während andere Verben aus der behandelten Gruppe eine pronominale Form genau dann haben, wenn sie medial verwendet werden, also nicht den Zustand, sondern den Zustandswechsel ausdrücken. So entspricht auch einem aktivischen Verb sennorear „Herr sein/ beherrschen“ einem medialen Verb sennorearse „Herr werden/ sich zum Herrn machen“. Hier liegt nach Larochette (1939: 363 f.) eine verborgene Opposition vor: sennorear weist indeterminierten Aspekt auf, während sennorearse determinierten Aspekt hat. Dass es sich hierbei tatsächlich um die Distinktion atelisch (indeterminiert) vs. telisch (determiniert) handelt, zeigt die nachfolgende Anmerkung: Ein intransitives Verb kann tatsächlich nur dann medial sein, wenn es determiniert ist, „c’est-à-dire si le procès est considéré comme ayant un terme: ce terme est un état ou une situation“ (Larochette 1939: 364). Aus diesem Grund weisen diejenigen Verben, die etymologisch keine Bedeutung eines Abschlusses implizieren, wie z.B. vivir und lazdrar, niemals das Morphem des Mediums auf. Ein paralleles relevantes Faktum ist, dass jedes Verb im Medium, auch wenn es keine nicht-reflexive Form hat, eine statische nichtpronominale Form aufweist, die ihm als Perfekt dient (vgl. Larochette 1939: 364): (10) Medium: se seca statisch und Perfekt: es secado Medium: se libra statisch und Perfekt: es librado Medium: se cerca statisch und Perfekt: es cercado Larochette weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass zu bestimmten Zeiten die Verben, die einen Zustand oder eine Position ausdrücken, eine inzeptive Bedeutung an- 105 Hierfür wird heute eher die Bezeichnung psychologische Verben verwendet. <?page no="164"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 164 nehmen konnten, so dass peligro sowohl „er befand sich in Gefahr“ als auch „er geriet in Gefahr“, quedo „er blieb“ oder auch „er hielt an“ bedeuten konnte. Aber auch in diesem Fall behielt das Verb die Form, die es im Infinitiv hatte, und nimmt keine pronominale Form an - die Sprache hat hier laut Larochette nicht Tempus und Aspekt vertauscht. Hingegen wurde eine Differenzierung be sennorear (s.o.), tardar, acordar, callar und dormir vorgenommen (parallele pronominale Formen), bei letzteren beiden war die semantische Unterscheidung jedoch so gering, dass zusätzlich neue Verben, callantarse und adormirse, für die mediale Bedeutung entstanden. Larochette (1939: 366) betont, dass die Zustandsverben nicht mit Verben wie respandecer, valer, pertenecer etc. vertauscht werden dürften, die eine durable und essentielle Qualität des Subjekts ausdrücken und nicht einen Zustand desselben. Diese Verben haben keine pronominale Form. Zusammenfassend hält Larochette für die Verben, die einen Zustandswechsel ausdrücken, fest, dass viele von ihnen im Medium sowohl eine pronominale Form als auch eine nicht-pronominale aufweisen, wobei die pronominale Form nicht nur das Reflexive, sondern auch das Passiv ausdrückt, also polysem ist. Larochette (1939: 368) geht auch auf die Periphrasen ein, die bereits im Lateinischen zum Ausdruck des Mediums gebraucht wurden, hier insbesondere auf die verwendeten Auxiliare: fieri, venire, devenire, und ab etwa 800, pervenire. Das Spanische hat davon in dieser Funktion nur venire verwendet und auch nur selten, und wenn, dann vor allem als Auxiliar mit statischem Aspekt. Er gibt ein einziges, im Cid gefundenes Beispiel an, in dem venire etwa fieri entspricht: (11) Ricos son venidos todos los sos vasallos (Cid, 1853; Larochette 1939: 368) Die Periphrasen, die aus salir, exir + Adjektiv mit der Endung -do bestehen, sind nach Larochette auch nicht medial, sondern statisch. Sie drücken einen konsekutiven Zustand nach abgeschlossener Aktion aus, wobei psychologisch der Zustand das Evozierte und Wichtige ist und die Aktion nur „accessoire“. Diejenigen Verben, die als Auxiliare medialen Aspekt ausdrücken, sind ponerse, fazerse und tornarse (manchmal tornar). Insgesamt machen die Ausführungen in diesem Abschnitt deutlich, welche entscheidenden Vorgänge sich bereits im (Spät-)Lateinischen für die Entwicklung des Passivs, für aspektuelle Verschiebungen und für diathetische Umstellungen anbahnen, die Auswirkungen in den romanischen Sprachen haben. Diese verharrten nicht auf dem erreichten Stand, sondern entwickelten sich - wie hier besonders im Hinblick auf das Spanische beschrieben - von dort aus weiter. Im Hinblick auf die Hypothese, dass sich die unakkusativen Verben aus dem Passiv (als „lexikalische“ Passive) entwickelt haben, ergibt sich hier eine andere Auffassung: die unakkusativen Verben in ihrer heutigen Beschreibung resultieren mit ihren besonderen, teilweise passivischen Eigenschaften aus dem Medium, in das viele der lateinischen Deponensverben übergegangen waren, mithin resultieren sie aus einer Diathese, aber nicht aus dem Passiv, wobei jedoch eine enge Beziehung zwischen Medium und Passiv beobachtet wird, indem überwiegend eine Polysemie der Formen bestand und Umstrukturierungen erfolgten, wenn die Polysemie zu stark wurde. Umgekehrt lässt sich zugunsten der Hypothese Abrahams - in der in Kapitel 1.1 formulierten abgeschwächten Version - anhand der hier ebenfalls <?page no="165"?> Ricós’ Studie zur Entwicklung des spanischen Passivs 165 ausführlich dargestellten Annahmen über die aspektuellen Eigenschaften aussagen, dass Telizität/ Determiniertheit sicher einen wichtigen Beitrag für die weitere Entwicklung des Verbalsystems der romanischen Sprachen geleistet hat. 4.3 Ricós’ Studie zur Entwicklung des spanischen Passivs Die Monographie von Ricós (1995) untersucht die Verwendung, Funktion und Entwicklung der spanischen passivischen Konstruktionen, d.h. ser + participio (periphrastisches Passiv) und pasiva con se (in der Arbeit auch häufig pasiva refleja genannt) im Spanischen vom 10. bis 15. Jahrhundert und stellt somit die für die vorliegende Arbeit relevante diachrone Entwicklung des von Mendikoetxea (2000 a,b) vorgestellten synchronen Sprachstands dar (vgl. Kapitel 3). Dabei werden sowohl nichtliterarische als auch literarische Quellen unterschiedlichen Typs analysiert: als nichtliterarische Quellen zieht Ricós juristische Dokumente (notarielle Urkunden sowie Privilegien, sog. fueros) heran, als literarische Dokumente sowohl Poesie als auch Prosa, wobei letztere auch Chroniken umfasst, u.a. die auch in der vorliegenden Studie verwendete Primera Chrónica General de Alfonso X. 106 Dabei wird der grundsätzlichen Frage nachgegangen, ob die Beschränkungen, denen die beiden Konstruktionen im heutigen Spanisch unterliegen, schon im mittelalterlichen Spanisch galten oder erst Ergebnis späterer Entwicklung waren. Die Arbeit fokussiert semantische und pragmatische Aspekte: nach Ricós (1995: 217) existiert im Spanischen eine diathetischaktantielle Opposition zwischen unmarkierten „aktivischen“ und markierten „passivischen“ Konstruktionen, so dass all diese Formen als Betonungsverfahren angesehen werden können, die dem Satz einen stilistischen Wert zuweisen, weshalb sie selten in kolloquialen Registern auftreten, sondern in bildungssprachlichen Registern zu verorten sind. Zwei Punkte stehen im Mittelpunkt des Interesses: Ricós möchte die Verwendung und die Funktion zeigen, die die passivischen Strukturen in den Texten realisierten, und die Merkmale ermitteln, die ihre seltene Verwendung im heutigen Spanisch erklären können. Ricós (1995: 19 ff.) stellt die folgenden Hypothesen zur Überprüfung auf: 1. Die Entwicklung der passivischen Konstruktionen unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Typ des Textes. 2. Die Ersetzung von ser + Partizip durch das reflexive Passiv ist den syntaktischsemantischen Beschränkungen dieser Konstruktion im Diskurs geschuldet. 3. Die Konstruktion ser + Partizip als Ausdruck von passivischen Werten wird in den Texten als Ausdrucksmittel eines Satzelements verwendet, das hiermit stilistischen Wert erhält. Zu diesem Zweck nimmt Ricós (1995) nach einer einführenden Beschreibung des lateinischen Systems eine detaillierte Analyse der Passivkonstruktionen in den vorgenannten Texttypen aus den fünf Jahrhunderten vor, in der jeweils die folgenden Merkmale analysiert werden: 106 Vgl. Ricós (1995: Kap. 3 und 4) für die genauere Vorstellung der verwendeten Ausgaben der analysierten Werke. <?page no="166"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 166 verbales Tempus semantische Natürlichkeit des Subjekts (Person oder Sache) - Position des Subjekts (voran- oder nachgestellt, interpoliert oder kontextuell) - Numerus grammatische Person (nur in der periphrastischen Konstruktion) - Genus (nur in der periphrastischen Konstruktion) Insgesamt werden in den nicht-literarischen Texten 268 Konstruktionen vom Typ ser + Partizip und 80 Passiv-Konstruktionen mit se, in den literarischen Texten 6.039 Konstruktionen ser + Partizip und 1.514 Passivkonstruktionen mit se ausgewertet. Auf der Basis der Einzelergebnisse ihrer Untersuchung, die hier nicht im Detail dargestellt werden können, entwickelt Ricós (1995: 218 f.) die folgende Hypothese über die Entwicklung, Verwendung und Funktion der beiden Passivkonstruktionen im mittelalterlichen Spanisch: In der untersuchten Periode muss sich die Charakterisierung der passivischen Konstruktionen zusammen mit denen der reflexiven und intransitiven Verben realisiert haben, da diese noch bis zum 14. Jahrhundert ser + Partizip als Ausdruck unterschiedlicher Bedeutungen verwendeten. Das Merkmal [+ passivisch], das die Periphrase mit ser und die Betonung des ersten Arguments (grammatisches Subjekt) charakterisiert, erlaubte, dass all diese Verben, also reflexive, intransitive und transitive Verben mit passivischer Bedeutung sich mit ser + Partizip konstruierten. Ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts verschärften sich die Unterschiede in den Merkmalen dieser drei Verbtypen, zwei Aktanten für die passivische Konstruktion gegenüber einem der aktivischen, und der Charakter [+ aktivisch, passivisch] der Subjekte der reflexiven und intransitiven Verben dahingehend, dass eine Unterscheidung provoziert wurde: die aktivischen, nicht obliquen Konstruktionen, die eine einfache Form mit se hatten, assoziierten sich mit einem Auxiliarverb, das die Aktivität des Prozesses aufrechterhalten konnte (AVER). Hier, so Ricós, bestand eine aktantiell-diathetische Opposition AVER/ SER, die im 14. Jahrhundert dem Ausdruck von Temporalität unterliegt. Dieser Wandel, der den reflexiven und unpersönlichen Verbtyp betrifft, verursachte eine Veränderung in den Konstruktionen mit passivischer Bedeutung, sowohl hinsichtlich ihrer Form (höhere Präsenz der se-Passive) als auch ihrer Natur. Bis zu den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts steht ser + Partizip der transitiven Verben mit zwei Aktanten und einem [+ passivisch] markierten Subjekt in Opposition zu den reflexiven und intransitiven Verben, die [+ aktivisch, + passivisch] markiert sind und deren Funktion es ist, das primäre Argument zu unterstreichen. In dieser Epoche fungiert das Passiv laut Ricós (1995: 219) ausschließlich als Konstruktion, die Unpersönlichkeit herstellt, indem sie die Konstruktion ohne Spezifizierung des Agens der Aktion lässt. Diese Annahme sieht Ricós zum einen durch die Seltenheit von Agensrealisierungen bestätigt, die nur in den Fällen erfolgen, in denen das grammatische Subjekt persönlich ist. Sie dienen dann dazu, den passivischen Charakter des belebten Agens hervorzuheben. Als weitere Evidenz für die Annahme wertet Ricós den Erhalt der Wortstellung und die fast inexistente Konstruk-tion von se + Verbform mit passivischem Wert in dieser Epoche. <?page no="167"?> Ricós’ Studie zur Entwicklung des spanischen Passivs 167 Diese Situation ändert sich in der Mitte des 13. Jahrhundert in dem Moment, in dem - so Ricós - eine Entscheidung zwischen dem Ausdruck von Aktantialität (wie im Französischen und Italienischen) oder von Temporalität der spanischen Konstruktionen erfolgen musste, wobei sich die zweite Option durchsetzte. Als Folge davon ergab sich eine Änderung in der Funktion der Konstruktion ser + Partizip: Indem das Verb AVER als Auxiliar der perfektivischen Tempora der Konjugation eingeführt wurde, readjustierte sich das aktantielle System, das nun auf die passivischen Konstruktionen beschränkt bleibt. Diese Tatsache kann nach Ricós deren seltene und mit den Jahrhunderten geringer werdende Verwendung erklären sowie auch den Umstand, dass ser + Partizip mit passivischer Bedeutung nicht grammatikalisiert wird und eine den zusammengesetzten Zeiten ähnliche Konjugation erschafft. Auf der anderen Seite, so Ricós, variiert auch die Berechtigung dieser Konstruktion, d.h. ihre Funktion: Die Funktion, die ser + Partizip in der vorhergehenden Periode besaß, d.h. das Objekt zum grammatische Subjekt des Satzes zu machen, war nicht mehr die einzige. Die Konstruktion ser + Partizip verwandelt sich in ein Stilmittel, das in bildungssprachlichen Registern verwendet wurde, v.a. in poetischen, um ein Satzelement hervorzuheben, sowohl den Agens als auch den Patiens. Der Zuwachs in der Präsenz des Agens, sogar wenn dieser der ersten oder zweiten Person angehört, sowie die Dissoziation der Periphrase, die einen der Aktanten des Satzes hervorhebt, wandelt die periphrastische Konstruktion in ein linguistisches Instrument um, das darauf spezialisiert ist, das aus Sicht des Sprechers affizierte Element zu markieren, ohne jedoch die Thematisierung des Objekts aufzugeben. Hier entsteht nun laut Ricós eine neue Opposition: aktivisch (nicht markiert) vs. passivisch (markiert) als Ausdruck der Affiziertheit. Diese Funktion erklärt ihre Verwendung in der humanistischen Epoche und die Vorherrschaft der periphrastischen Passivkonstruktion über die reflexive in bestimmten Textsorten. Dies war jedoch nicht der einzige Wandel, wie Ricós (1995: 220) hervorhebt: Während die Konstruktion ser + Partizip ihre Funktion veränderte und dazu überging, das affizierte Element aus der Sprecherperspektive hervorzuheben, wurde die Konstruktion se + Verbform immer häufiger mit passivischer Bedeutung verwendet, was laut Ricós der Tendenz des Spanischen zum Ausdruck von Aktivität und, möglicherweise, auch den aspektuellen Beschränkungen des Auxiliars ser mit den perfektivischen Verben in den perfektivischen Tempora geschuldet ist. Ebenso wie „se alçan“ gegenüber „son alçados“ gewann, verbannte das reflexive Passiv auf einer zweiten Ebene die Konstruktion mit Partizip, da sich erstere auf den verbalen Prozess ausrichtete, während letztere sich auf den Kern [Prozess + Resultat] konzentrierte. So begann in der Sprache ein Kampf, der - nach den Ricós vorliegenden Daten - bis zum 17. Jahrhundert andauerte, um das Anzeigen von Aktivität + Affiziertheit (se + Verbform) oder Affiziertheit allein (ser + Partizip). Die Situation im aktuellen Spanisch mit der Vorherrschaft des Passivs mit se scheint den Sieg dieser Konstruktion gegenüber dem periphrastischen Passiv zu zeigen. Das Pronomen se zeigt in der Kombination mit Prozess-Prädikaten Aktivität an, betont das erste Argument, ein Objekt oder unbelebten Experiencer, der zum grammatischen Subjekt konvertiert und so markiert bleibt. Die Funktion dieser Passivkonstruktion ist die Herstellung von Unpersönlichkeit, da sie den Agens der Aktion unbestimmt lässt <?page no="168"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 168 und keine aspektuellen Beschränkungen mit irgendeiner Verbklasse aufweist. Se + Verb verwandelte sich, so Ricós, in den idealen Ersatz für die Konstruktion ser + Partizip. Laut Ricós (1995: 220 f.) lässt sich die Wahl dieser Diathese auch pragmatisch erklären: im ersten Moment hat die Funktion von ser + Partizip einen informativen Charakter, der vom Texttyp abhängt, aber linguistische und soziologische Elemente in variierender Verbindung präsentiert, deren Verwendung mit dem Gebrauch eines bestimmten Registers zusammenhängt, das aktuell der primäre und entscheidende Faktor für die Präsenz von ser + Partizip ist. Ricós hebt hervor, dass in ihren Texten, insbesondere in denen des 14. Jahrhunderts, nicht bestätigt werden kann, dass das (formale/ informelle) Register entscheidend ist, oder wenistens das prinzipielle Merkmal ist, welches die Wahl und Verwendung eines Passivtyps favorisiert. Die Bedeutung der diastratischen Varietäten wird erst im 15. Jahrhundert wirksam. So lässt sich nach Ricós in den literarischen Texten eine Reaktion gegen die Verwendung von se + Verbform aufgrund der geltenden latinisierenden Tendenz erkennen, welche die Verwendung der Passivkonstruktion ser + Partizip begünstigt. Jedoch nimmt Ricós aufgrund ihrer Datenanalyse an, dass dies nur eine Bestätigung für eine bereits bestehendes, zwischen den beiden Passivkonstruktionen differenzierendes Verhalten ist und nun das verwendete Register relevant zu werden beginnt, d.h. ein bislang sekundäres Merkmal der Opposition primär wird. Dies gilt zumindest für die untersuchten literarischen Texte, während die Rechtstexte dies nicht aufweisen. Hieraus, so Ricós (1995: 221), hat sich die weitere Entwicklung bis hin zur heutigen Situation ergeben, in der sich se + Verb mit den informalen Registern und ser + Partizip mit den formalen Registern verbindet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Ricós (1995) auf Basis einer großen Datenmenge und -vielfalt eine Analyse der Passivkonstruktionen des mittelalterlichen Spanisch vornimmt, die sich vorrangig als pragmatisch und semantisch bezeichnen lassen kann, aber auch relevante variationslinguistische Aspekte hervorbringt. In ihrer Auswertung zeigt sie einen wichtigen Wandel im Gefüge der mittelalterlichen spanischen Passivkonstruktionen auf, der eine Neuverteilung der Funktionen nach diastratischem Register hervorbringt, nachdem sich Tempus- und Aspekt-Eigenschaften des gesamten Verbalsystems geändert hatten. Interessant für die Hypothesen der vorliegenden Arbeit ist besonders, dass sich im Spanischen die Aspekteigenschaften perfektivischer Verben in den Passivkonstruktionen gerade dahingehend auswirken, dass das periphrastische Passiv sich nicht ausdehnt, sondern mehr Beschränkungen unterliegt als die Passivkonstruktion mit se und damit, verbunden mit einer entstandenen varietätenbedingten Assoziation rückläufig geworden ist. Die Studie von Ricós bildet also einen wichtigen Hintergrund für die vorliegende Arbeit, wobei anzumerken ist, dass, im Hinblick auf die semantische Analyse, in der es hier ja mit den aspektuellen Eigenschaften auch geht, eine genauere Beschreibung der Gruppe der perfektiven Verben interessant und wichtig gewesen wäre. In methodischer Hinsicht ist festzustellen, dass Ricós zwar ihre (hier nicht dargestellten) Einzelergebnisse untereinander statistisch auf signifikante Korrelationen getestet hat, aber nicht untersucht hat, mit welcher Häufigkeit die beiden untersuchten Passivkonstruktionen und <?page no="169"?> Entwicklung der spanischen Passivauxiliare 169 insgesamt in ihrem Korpus in den passivierbaren Kontexten tatsächlich vorkommen. Dies wird in der vorliegenden Arbeit unternommen. 4.4 Entwicklung der spanischen Passivauxiliare Die Studie von Green (1982) bildet eine weitere wichtige Ergänzung zu den Darstellungen von Mendikoetxea (2000a, b) in Kapitel 3, wobei es (1982) genau um die „peripheren“ Passivkonstruktionen in den romanischen Sprachen geht, d.h. solche mit seltener als Auxiliar verwendeten Verben (auch als „Semi-Auxiliare“ bezeichnet). Der Schwerpunkt liegt auf dem Spanischen, und hier also gerade nicht auf den Passivkonstruktionen mit ser und estar 107 . Den theoretischen Hintergrund für Green (1982) bildet die Frage, welche der traditionelleren Konzepte wie Metapher und Grammatikalisierung und welche der neueren, z.B. Reinterpretation und Lernbarkeitstheorie, die Entwicklung der romanischen Passivauxiliare erklären können. Es handelt sich also um eine theoretisch und diachron empirisch orientierte Fragestellung, wenngleich ein größerer Teil der Arbeit auf die Analyse des modernen Spanisch entfällt. Einleitend gibt Green (1982: 97 ff.) einen Überblick über die vorhandenen Informationen zur damals aktuellen Situation im Spanischen, aus dem sich ergibt, dass alle häufig zitierten Arbeiten eine unbestimmte Verbklasse mit bestimmten auxiliarähnlichen Eigenschaften anerkennen, aber die Erfassung ihrer Verwendung im aktuellen Spanisch bestenfalls bruchstückhaft ist. Es gibt, so Green (1982: 101) keine vollständige Liste der involvierten Verben, da über das Ausmaß des Phänomens und die meistverwendeten Verben keine Übereinstimmung besteht. Ein wichtiges Problem dabei ist das der Abgrenzung, da die Semi-Auxiliare genau auf der Grenze von vier Systemen liegen: auf morphosyntaktischer Ebene an der Schnittstelle von Aspekt und Diathese, auf semantisch-syntaktischer Ebene auf der von qualitativen oder appositiven Prädikaten. In der Terminologie lexikalischer Relationen geht es darum, dass der „volle“ lexikalische Wert der Elemente in den Dienst von Auxiliaren „gepresst“ wird (Green 1982: 102). Weiterhin wird die Position dieser Verben im Fall der Konstruktionen, die aus Semiauxiliar + Partizip bestehen (im Kontrast zu Infinitiven und Gerundien) durch den unbestimmten Status der Vergangenheitspartizipien verkompliziert. Vor diesem empirisch problematischen Hintergrund beleuchtet Green (1982) die Verwendung der Auxiliare im aktuellen Spanisch. Zentrale Fragen sind die folgenden: 1. Welche sind die am meisten verbreiteten Verben, die Auxiliarfunktionen ausüben können? 2. Wie sieht die generelle Frequenz dieser Art von Konstruktion aus? 3. Treten die Beispiele frei in verschiedenen Registern auf oder sind sie an bestimmte Register gebunden? 4. Unterstützt die generelle Distribution die Gruppierung dieser Konstruktionen mit Passivkonstruktionen? 5. Welche grammatischen Beschränkungen sind zu beobachten (Subjekttypen, Kongruenz, Tempus/ Aspekt-Konfigurationen)? 107 Vgl. Pountain (1982) zur Entwicklung der Auxiliar- und Kopulafunktionen von ser und estar, die jedoch nicht auf das Passiv genauer eingeht und deshalb hier nicht weiter dargestellt wird. <?page no="170"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 170 6. Welche semantischen Beschränkungen, sofern gegeben, operieren zwischen Semiauxiliar und lexikalischem Element? Green arbeitet mit einem Hauptkorpus von 8 Texten, die seit 1960 verfasst wurden und drei Registertypen (neun Ausgaben einer Zeitung - „reporting register“, drei literarische Prosa-Werke - „creative register“ - sowie vier Sachtexte - „expository register“ (vgl. Green 1982: Fn. 9). Hinzu kommt ein Ergänzungskorpus mit Zeitungsartikeln aus dem Spätsommer 1981, um mehr Beispiele für die Antwort auf Frage 6) zu bekommen. In beiden Korpora werden Konstruktionen mit dem Vergangenheitspartizip + einem Verb (alle außer ser, estar und haber) analysiert. In beiden Korpora zusammen ergeben sich 244 Beispiele und eine nach Häufigkeit sortierte Liste von „Auxiliaren“ (vgl. Green 1982: 103), die die erste Frage beantwortet. Im Folgenden werden diejenigen Auxiliartypen aufgeführt, die eine zweistellige Token-Anzahl erreichen: (12) (Relativ) frequente Auxiliartypen und -token nach Green (1982) quedar 54 tener 33 ir 27 verse 27 hallarse 14 resultar 12 sentirse 11 andar 10 Im Vergleich mit Referenzgrammatiken stellt Green (1982: 104) fest, dass die Bedeutung von quedar in diesen Grammatiken deutlich unterschätzt wird und dass einige Verben mit hoher Frequenz in fast allen Abhandlungen ausgelassen werden, nämlich verse, hallarse, resultar und sentirse. Schließlich tauchen etliche der in den Grammatiken behandelten Verben in seinem Korpus gar nicht auf. Green (1982: 105) hält fest, dass es irreführend ist, die Fragen 2-5 ohne Bezug auf Register zu beantworten, da es interne Variation in dem Korpus gibt, die diesem Faktor zugeschrieben werden können. Greens (1982: 106) Tabelle 1 zeigt die Frequenz der „normalen“ Auxiliare und der hier von Green untersuchten Semiauxiliare in Bezug auf die drei Register an: register occurrence wordlength densities Ser Estar semi-aux ser estar semi-aux reporting 231 59 38 47,000 1: 203 1: 797 1: 1237 creative 64 192 110 104,500 1: 1633 1: 544 1: 950 expository 91 47 55 48,050 1: 528 1: 1022 1: 874 Total 386 298 203 199,550 1: 517 1: 670 1: 983 Tabelle 4.1: Frequenz nach Register (nach Green 1982: 106, Tabelle 1) Wie aus Tabelle 1 zu erkennen ist, ist die „Semiauxiliar“-Klasse im gesamten Korpus zwar die am wenigsten frequente, aber dies führt Green auf den Charakter des Berichts- <?page no="171"?> Entwicklung der spanischen Passivauxiliare 171 Registers zurück; in den beiden anderen Registern fällt diese Klasse in die Mitte der anderen beiden Klassen (ser- und estar-Konstruktionen). Trotz dieser register-determinierten Variation lässt sich festhalten, dass die Semiauxiliar-Klasse stabiler ist als die anderen beiden, so dass die Frage 3 positiv beantwortet werden kann: Beispiele der Semiauxiliar-Klasse treten frei in allen gesammelten Varietäten auf, und jegliche durch das Register auferlegten Beschränkungen sind eng begrenzt. Green (1982: 105 ff.) analysiert ferner die Aspekte Belebtheit des grammatischen Subjekts, Kongruenzmuster und Tempus-Paradigmen, stets in Relation zum Register. Hierbei ergibt sich zunächst, dass bei der Kongruenz-Analyse die Semiauxiliare in zwei Gruppen geteilt werden müssen (Kongruenz mit dem Subjekt vs. Kongruenz mit dem Objekt). Dem Einwand, dass diese Aufteilung, die ein absolut ausnahmsloses Beschreiben jedes Verbs möglich macht, nichts Besonderes sei, da hier nur formal die traditionelle Kategorie der Transitivität festgehalten werde, hält Green (1982: 105) entgegen, dass mehr daran hängt: Erstens wird in den Fällen, in denen das Semiauxiliar reflexiv ist, klar die grammatische Reflexivisierung (oder „Medialisierung“) von einer lexikalischen Eigenschaft des Verbs unterschieden: so repräsentieren encontrar/ encontrarse und ver/ verse unterschiedliche syntaktische Strukturen, während das Paar quedar/ quedarse dies nicht tut. Zweitens können alle transitiven Verben im Spanischen mit haber konjugiert werden, um zusammengesetzte Tempora zu bilden, ohne hierfür Kongruenz zu benötigen, was eine deutliche Veränderung gegenüber der Situation im Altspanischen bedeutet (dort war Kongruenz mit haber zwar frequent, aber nicht obligatorisch), während das aktuelle Muster am besten als effizientes Zwei-Wege- Markierungssystem zu betrachten sei (Green 1982: 110). Die Präsenz von Kongruenz markiert das Partizip systematisch für Passivität, während ihre Abwesenheit die komplette Grammatikalisierung von haber + Partizip markiert, in der das Partizip als [+ perfektiv, passivisch] interpretiert wird; zur selben Zeit ist die obligatorische Kongruenz an den Objekten mancher transitiver Verben (tener, encontrar, etc.) ein offener Hinweis darauf, dass in diesen Konstruktionen die Verben nicht voll grammatikalisiert sind und einen Teil ihrer normalen lexikalischen Bedeutung beibehalten haben. Die (Un-)Belebtheit des grammatischen Subjekts ist für Green (1982: 110) ein besonders klarer Hinweis auf Grammatikalisierung im Fall derjenigen Verben, deren „normale“ lexikalische Bedeutung einen intentionalen Akt oder Prozess denotieren, für den „am Leben sein“ eine logische Voraussetzung ist (wie andar, caminar, ir, venir, ver). Für die Arbeit von Green ist nun besonders relevant, bis zu welchem Punkt die metaphorische Extension der originalen Bedeutung auch frequent (bzw. so stereotyp) wird, dass sukzessive Sprecher-Generationen die metaphorischen Nuancen nicht mehr wahrnehmen und das Verb als reinen Träger grammatischer Information reanalysieren. In diesem Fall gilt nach Green (1982: 110 f.) „Once the grammaticalisation process is under way, and a degree of polysemy is established in the verb, it seems probable that the persistence of animate-subject combinations - indeterminate as between an ‚auxiliary‘ function and the ‚original’ lexical meaning - is the factor which prevents a complete lexical split. Verbs able to maintain this delicate balancy will remain ‚semiauxiliaries‘. Those whose period of lexical split is followed by the atrophy of the <?page no="172"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 172 original lexical value […] will develop into true auxiliaries.“ 108 Für sein Korpus zeigt Green (1982: 111), dass die meisten Verben mit beiden Typen von Subjekten auftreten, unabhängig davon, ob das nicht belebte Subjekt für sie unlogisch ist. Für hallarse und quedar stellt Green eine markierte Vorherrschaft von unbelebten Subjekten fest, die für eine vorangeschrittene Grammatikalisierung sprechen. Im Hinblick auf die Frage nach dem Wirken von Tempus-/ Aspektbeschränkungen fasst Green (1982: 112) die Ergebnisse wie folgt zusammen: 1. Trotz einer hohen Frequenz von imperfektiven Tempora behalten die meisten Semiauxiliare die Freiheit, in perfektivischen Konstruktionen aufzutreten; 2. muss die Theorie von abgeleiteter Stativität zurückgewiesen werden und 3. müssen die beobachteten Konzentrationen (39,9 % Präsens, 30 % Imperfekt, 13,8 % Präteritum und 8,4 % Infinitive) im Hinblick auf semantische und pragmatische Eigenschaften einzelner Verben anstatt auf grammatische Beschränkungen der Konstruktion betrachtet werden. Zur Frage 4, ob die generelle Distribution die Gruppierung von Semiauxiliar-Konstruktionen mit Passivkonstruktionen unterstützt, weist nach Green (1982: 115) die Evidenz auf ähnliche Konklusionen in allen untersuchten Parametern hin: die Semiauxiliarkonstruktionen sind substantiell vergleichbar mit estar-Passiven und teilen einige wichtige Eigenschaften mit ser-Passiven; mit anderen Worten können die Semiauxiliarkonstruktionen nur von der Klasse von Passiven ausgeschlossen werden, wenn aufrechterhalten wird, dass alle Kopula + Vergangenheitspartizip-Kombinationen vergleichbar sind mit prädikativen Adjektiven und dass das Spanische entsprechend kein „analytisches Passiv“ besitzt, was Green für absurd hält. Zu den semantischen Restriktionen, die auf Semiauxiliaren operieren, nennt Green (1982: 115) zunächst zwei Ebenen, auf denen dies interpretiert werden kann: zum einen die Kompatibilität - in rein lexikalischen Termini - von Verb und Partizip, und zum anderen die stärkeren, quasi-syntaktischen Restriktionen, für die manche Verben empfänglich zu sein scheinen. Zu letzteren sieht Green (1982: 116) aspektuelltemporale Gründe für das Ausbleiben von solchen Konstruktionen in perfektivischen Tempora: in diesen müsste es einen Abstand zwischen dem Ereignis und der Zeit seiner Relevanz geben, mit anderen Worten würde sonst das erzählte Ereignis gleichzeitig mit dem Partizip interpretiert werden, was, sofern überhaupt akzeptabel, das Objekt bei tener oder llevar verhindern würde. Zur lexikalischen Kompatibilität von Semiauxiliar und Partizip beobachtet Green (1982: 117) zwei Prozesse: semantische Adaptation und die Bildung von idiomatischen Kombinationen, wovon die häufigsten beiden verse obligado und ir acompañado sind. Außerdem gibt es weitere Kombinationen mit verse und ir sowie mit venir, das Green (1982: 120) als grammatikalisiert betrachtet. In diesem Zusammenhang vergleicht er auch mit anderen romanischen Sprachen, da die beobachteten Kombinationen weder neuere Entwicklungen des Spanischen noch exklusiv für das Spanische sind, sondern vielmehr in den meisten romanischen Sprachen vorkommen. 108 Die Auslassung eines Einschubs zu haber wurde von K.S. vorgenommen. <?page no="173"?> Entwicklung der spanischen Passivauxiliare 173 Zur Entwicklung der spanischen Semiauxiliare präsentiert Green (1982: 121 ff.) seine diachronische Studie, die auf einem 10.000 Wörter umfassenden Korpus von neun historischen Prosa-Texten basiert, beginnend mit der Chronik Alfons’ X. (vgl. Kapitel 5) und endend mit einer Novelle von Baroja (1908) mit in etwa ähnlichen Intervallen zwischen den Werken. Alle Partizipien, die mit einem Auxiliar (außer haber) auftraten, wurden analysiert. Insgesamt zeigt sich, dass die Verwendung von ser als Passivauxiliar seit der altspanischen Periode ständig abnimmt, während die Verwendung von estar und der Semiauxiliare eine bescheidene Zunahme zeigen. In dieser Studie konnte Green die Register nicht kontrollieren, da dies in den früheren Stadien der Sprache nicht möglich war. Green (1982: 123) zeigt, dass kleine Anzahlen der Semiauxiliar-Klasse von der Chronik des 13. Jahrhunderts an ständig präsent waren. Dabei war das Verhältnis von belebten und unbelebten Subjekten fast exklusiv zugunsten der belebten Subjekte konstant bis zum frühen 16. Jahrhundert. Die Mehrheit der lexikalischen Elemente, die am häufigsten Semiauxiliar-Funktionen übernahmen, sind seit den frühesten Texten belegt. Bewegungsverben und Verben der Lokation waren frühe Kandidaten: andar, fincar, ir, llevar, venir in der Chronik, zusammen mit tener-Beispielen und einem einzigen Beleg von verse, das nach Green (1982: 124) klar einen Grammatikalisierungsgrad zu diesem frühen Moment zeigt: (13) E ellos cuando se uieron coytados dexaron se dentro caer, e quisieron ante seer quemados que morir a manos de los romanos Die Vorherrschaft der semantischen Relationen bei der Bestimmung, welche Verben als Semiauxiliare verwendet werden können, muss nach Green die erste und generellste Schlussfolgerung sein. Virtuell fallen alle Verben in zwei große Gruppen: die Mehrheit in Bewegung und Lokation, die Minderheit in Perzeption. Wenn man die Verfügbarkeit von andar, caer, ir, salir und venir kennt, könnte man nach Green (1982: 124) mit gewisser Sicherheit die Akzeptabilität von Kombinationen mit caminar, continuar, pasar und salir vorhersagen. Ähnlich gilt, dass fincar und quedar permanecer und resultar implizieren; hallar impliziert encontrar, llevar und traer implizieren mantener etc. Auf dieser nach Green offensichtlichen Ebene liefert die Geschichte des Kastilischen weitere Bestätigung für die weithin belegte Tendenz für lokativische Ausdrücke, zu temporal/ aspektuellen grammatikalisiert zu werden. Dennoch, so Green (1982: 125) ist das Bemerken einer Verfügbarkeit eines Sets von Verben für die Grammatikalisierung nicht äquivalent mit einer Erklärung, wie dies erfolgt, und - noch wichtiger - auch nicht, warum dies notwendig ist. Nach Green beginnt die Grammatikalisierung der spanischen Semiauxiliare mit einer Phase metaphorischer Extension, in der lexikalische Kollokationen sich ausbreiteten, oder alternativ durch Ausbreitung grammatischer Kolligationen (also die Erlaubnis, nicht nur belebte, sondern auch unbelebte Subjekte zu nehmen). Letztere Möglichkeit sieht Green (1982: 125) auch als Prozess, der Zugang zu jedem intransitiven Verb hat, und als mächtigen Mechanismus für die Maximierung der Funktionalität in der Sprache. Derselbe Prozess war nach Green auch verantwortlich für die Generalisierung der ursprünglich „rein“ reflexiven Konstruktion mit stets belebten Subjekten, via metaphorische Verwendung mit unbelebten Subjekten, zum voll ausgebauten romanischen Mediopassiv. Hier konnte nach Green, wie im Fall der intransitiven Bewegungsverben und Lokationsverben, der <?page no="174"?> 4 Medium, Deponentien und Passiventwicklung 174 Grammatikalisierungsprozess, einmal in Gang gesetzt, sehr schnell und mit wenig Risiko der Ambiguität fortschreiten. Etwas anders ist für Green die Grammatikalisierung einer ganzen Periphrase (im Vergleich zum finiten Verb allein), die er aber nicht vergleichbar detailliert ausführt. Die Studie von Green ergänzt das von den anderen Studien gezeichnete Bild im Bereich der spanischen Auxiliarentwicklung durch interessante quantitative und qualitative Untersuchungen zu den als „Semiauxiliar“ verwendeten Verben, wobei es sich vielfach um intransitive Bewegungsverben handelt. Insgesamt lässt sich für die teilweise sehr genau und detailreich vorgestellten Arbeiten in diesem Kapitel festhalten, dass sie Aspekte abdecken, die die vorliegende Studie im empirischen Teil ergänzen, wobei die Datenerhebung und -analyse sehr unterschiedlich ist: Während Larochette (1939) mit sehr vielen alten spanischen Texten rein qualitativ arbeitet, wendet Ricós (1995) mit einem gemischten Korpus quantitative und qualitative Methoden an (ähnlich Green (1982) in seinen Untersuchungen der spanischen Semiauxiliare). Diese beiden Studien beziehen auch das Spätlateinische mit ein, für das hier zusätzlich historische Grammatiken und Monographien (z.B. Väänänen 1981) herangezogen wurden. Als zentrales Ergebnis kann im Sinne der unterschiedlichen Perspektiven aus Kapitel 1.1 festgehalten werden, dass aspektuelle Eigenschaften durchaus eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der heutigen Systeme gespielt haben, jedoch nicht unbedingt stets in der Abraham erwarteten Richtung. In der frühromanischen Periode, die insbesondere Larochette (1939) beleuchtet, ist viel Fluktuation von Verben zwischen Verbklassen und damit verbundene Polysemien zu beobachten, die einer gradlinigen Entwicklung von aspektuellen zu grammatikalischen Eigenschaften zuwiderlaufen. <?page no="175"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung In diesem Kapitel werden die Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben in älteren und aktuellen Sprachständen des Spanischen, Italienischen und Französischen untersucht. Zentrale Fragen sind: 1) Wie verhalten sich die historischen Entwicklungen von Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben im Fall der romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch zueinander und 2) wie haben sich beide Bereiche generell entwickelt? Zwei durch die bisherige Diskussion wohlmotivierte gegen-läufige Herangehensweisen bzw. Hypothesen stehen zur Auswahl: In der ersten Hypothese, die eine im Hinblick auf die Verhältnisse in den romanischen Sprachen abgeschwächte Annahme Abrahams (2006a,b) darstellt (vgl. Kapitel 1.1), erwarten wir Prozesse, in denen aspektuelle und ereignissemantische Eigenschaften grammatischen Status erhalten haben. In der zweiten Hypothese sind unakkusative Verben für die Verhältnisse in den romanischen Sprachen lexikalisierte Residuen von Passiven. Beide Hypothesen sollen im vorliegenden Kapitel empirisch evaluiert werden, und zwar anhand der Analyse historiographischer Texte im Zeitraum 13. bis 20. Jahrhundert. Für die erste Hypothese würde beispielsweise sprechen, wenn in frühen Phasen weniger periphrastische Passive als in späteren Phasen verwendet wurden und dafür eine höhere Zahl weiterer Möglichkeiten des Ausdrucks von Passivität existierten, u.a. Konstruktionen mit si/ se. Im Hinblick auf die Verwendung von ehemaligen Vollverben als (Semi-) Auxiliare wäre zu erwarten, dass eine Zunahme der Verwendung von anderen Verben als den eingeführten genannten Passivauxiliaren (sp. ser/ estar, it. essere/ venire/ andare, frz. être) erfolgt, u.a. diejenigen, die Green (1982) in Kapitel 4.4 vorstellt. Für die zweite Hypothese würde hingegen eine frühe Entwicklung und häufige Verwendung des periphrastischen Passivs, eine frühe Einschränkung auf wenige Auxiliare und das Ausbleiben einer Grammatikalisierung von Vollverben sprechen. Gleichzeitig wird dokumentiert, inwieweit sich die Verwendung von passivisch interpretierbaren Konstruktionen und intransitiver unakkusativer Verben über die Zeit gewandelt hat und welche syntaktisch relevanten Konsequenzen sich hieraus ergeben haben. Eine Erklärung hierfür wird dann in Kapitel 6 entwickelt. 5.1 Festlegung der Arbeitsschritte Folgende Analyseschritte werden an den Daten jeweils durchzuführen sein: In einer quantitativen Perspektive (Verwendungsanalyse, Teil A) erfolgt eine Feststellung der Anzahl periphrastischer Passivkonstruktionen und ihrer Art (Vorgangs- oder Zustandspassiv) sowie eine Auswertung der Anzahl und Art der verwendeten (Semi-)Auxiliare sowie der Anzahl und Art sonstiger Konstruktionen, die passivische Bedeutung ausdrücken, und schließlich eine Feststellung der Anzahl und Art unakkusativer Verben. <?page no="176"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 176 In qualitativer Perspektive (semantische Analyse, Teil B) erfolgt eine Analyse der verwendeten passivischen Konstruktionen und unakkusativen Verben im Hinblick v.a. auf Polysemie und aspektuelle Eigenschaften. Für die Überprüfung der Hypothesen ist es erforderlich, nicht nur die gefundenen Passivkonstruktionen zu analysieren, sondern auch ihre Frequenz zu messen (vgl. auch Kapitel 3.4). Dies erfolgt anhand einer Auswertung sämtlicher passivierbarer Kontexte. Hierbei werden die in Kapitel 3 beschriebenen zielsprachlichen Systeme, v.a. die passivierbaren Verben zugrundegelegt (die heutige Sprache ist insofern der Ausgangspunkt). Es handelt sich in allen drei Sprachen um die transitiven Verben mit Ausnahme einiger, in den Sprachen teilweise differierender Verben. Außerdem kann ein Verb, das bereits mit se/ si um ein Argument reduziert auftritt, nicht passiviert werden, so dass transitive Verben mit se von den passivierbaren Kontexten und von der Analyse genauso ausgeschlossen wurden 109 wie intransitive und nicht passivierbare transitive Verben. Die passivierbaren Kontexte werden in der diachronen Analyse weiterhin aufgeteilt in finite Kontexte (finite Haupt- und Nebensätze) sowie infinite Kontexte (Infinitive und Gerundien). Diese feinere Aufteilung sowohl finiter und infiniter Kontexte ist durch folgende Überlegungen motiviert: 1. Die Unterscheidung der finiten Kontexte Hauptsatz vs. Nebensatz ist vor dem Hintergrund relevant, als Nebensätze (zumindest in der Funktion von Relativsätzen) häufig dazu genutzt werden könnten, zusätzliche Information zum Hauptgeschehen einzuführen, wobei sie, sofern sie Passivkonstruktionen enthalten, vorzugsweise eine spezifisch Lesart annehmen können, die es herauszuarbeiten gilt. 2. Die Unterscheidung der infiniten Kontexte (Infinitive vs. Gerundien) geschieht aus der Überlegung, dass Gerundien häufig für aspektuell markierte Konstruktionen wie z.B. estar/ stare + Gerundium verwendet werden und hierdurch möglicherweise auch eine Rückwirkung auf die Auxiliarwahl des Hauptsatzes haben könnten. 3. Aus diachroner Perspektive ist es überdies von Interesse zu ermitteln, ob sich in den untersuchten Epochen ein Wandel in der Bildungsweise und Realisierungsmöglichkeit von Passivkonstruktionen ergibt, die mit einer bestimmten finiten oder nichtfiniten syntaktischen Konstruktion assoziiert sind. An dieser Stelle sei vorab angemerkt, dass die meisten periphrastischen Passivkonstruktionen in finiten Kontexten auftreten, nur selten in Infinitiven und ganz selten in Gerundien. Ferner wurden bei der Auswertung stets passivierbare Verbphrasen gewertet, d.h. wenn mehr als eine solche in einem Satz bei Subjektgleichheit enthalten sind, wurden auch mehrere gezählt. Für die Wertung der periphrastischen Passivkonstruktionen wurde jedoch als Konstruktion Passiv-Auxiliar + Verb gezählt. Enthält ein Satz ein Passivauxiliar mit mehreren Partizipien, gilt dies als eine Konstruktion, wie das folgende Beispiel veranschaulicht (aus García de Cortázar und González Vesga, Breve Historia de España 1994: 130): 109 Die einzige Ausnahme sind solche transitiven Verben, die mit se als zusätzlichem Argument (freier Dativ) auftreten, und natürlich ditransitive Verben mit einem indirekten Objekt-se. <?page no="177"?> Auswahl der Datenbasis und allgemeine Wandelprozesse 177 (1) […] la doctrina mantiene su arraigo hasta la época de las invaciones en el noroeste donde vuelve a ser reprimida y anatematizada por los suevos. 5.2 Auswahl der Datenbasis und allgemeine Wandelprozesse Um die vorgenannten Schritte durchführen zu können, müssen geeignete Dokumente analysiert werden, die ausreichend Passivkonstruktionen und eine möglichst breite Vielfalt von Verben beinhalten. Für die synchrone Datenanalyse werden Transkripte von Erwachsenengesprächen verwendet (vgl. Kapitel 1.3 und 5.7 für die Analyse). Es wurde bereits in Kapitel 1.3 ausgeführt, dass der Dokumenttyp Chronik für die Analyse historischer Sprachstände aufgrund seines hohen narrativen Anteils gut geeignet ist. Daher wurden die in den folgenden Abschnitten genauer vorgestellten und analysierten Chroniken ausgewählt. Zuvor sollen jedoch noch die wichtigsten, für die hier untersuchten Phänomene relevanten Wandelprozesse in den drei Sprachen kurz vorgestellt werden, um die für den übersprachlichen Vergleich der Dokumente wichtigen Epocheneinteilungen zu motivieren. Dabei bildet das Spanische den Bezugspunkt, da es in dieser Arbeit im Vordergrund steht. Die Periodisierungsmodelle haben jedoch keinerlei theoretischen Status, so dass die von Eberenz (1991) und Klare (2007) thematisierten Probleme hier zwar nicht ignoriert, aber auch nicht weiter behandelt werden. Für das Spanische wurde bereits in Kapitel 1 die Epocheneinteilung nach Bollée und Neumann- Holzschuh (2003: 9) 110 kurz genannt, die hier mit den relevanten (morpho-)syntaktischen Eigenschaften wieder aufgegriffen wird, um die wichtigsten Wandelprozesse zu erkennen: Altspanisch („época antigua“): 1200-1450 1. Die enklitischen Pronomina me, te, se, le können im Satzzusammenhang ihren Vokal verlieren: nol, quem, ques; einige Laute werden an der Wortgrenze assimiliert oder elidiert, z.B. vedarlo -> vedallo; die Kombination von indirektem und direktem Objektpronomen gela, gelo werden auch im Plural generalisiert; 2. Intransitive und reflexive Formen konnten das Perfekt mit ser bilden: son idos, somos entrados, se era alçado; aber es erscheint oft auch aver: a Valencia an entrado (Cid; vgl. Bollée und Neumann-Holzschuh 2003: 64). Mittelspanisch („época media“): 1450-1650 1. Die mittelalterlichen Formen der Dativpronomina in Verbindung mit den Akkusativpronomina lo und la (ge lo, ge la) werden im 16. Jahrhundert zu se lo und se la in Analogie zu den Reflexivpronomina umgestaltet. 2. Die Stellung der klitischen Objektpronomina fixierte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts auf die noch heute geltenden Regeln: Das Objektpronomen steht vor 110 Die Autorinnen berufen sich auf Eberenz (1991), der ähnliche dreiphasige Periodisierungen nicht nur für das Spanische, sondern auch für das Französische, Englische und Deutsche vorgenommen hat. Er argumentiert für eine mittlere Phase als Übergang, die in vielen älteren Modellen nicht enthalten ist. <?page no="178"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 178 dem finiten Verb (während vor dem 16. Jahrhundert am Satzanfang nur die enklitische Stellung möglich war), aber nach dem Infinitiv, Gerundium oder Imperativ. 3. Leísmo: Bereits im Poema de Mio Cid lassen sich Belege für den leísmo finden, d.h. den Gebrauch von le in der Funktion des direkten Objekts (statt lo). Der leísmo de persona (Le vio [a Juan]) ist sehr verbreitet, mehr als der leísmo de cosa. Hingegen findet man die Verwendung von lo und la anstelle von le (sog. laísmo und loísmo) nur in Texten aus Altkastilien und León. 4. Assimilationen von Verbformen und klitischen Pronomina (z.B. tomallo, hacello) werden zunehmend vermieden. 5. Im Altspanischen wurden sowohl aver als auch ser als Auxiliare für die zusammengesetzten Tempora gebraucht, davon ser für die intransitiven und reflexiven Verben. Ab dem 16. Jahrhundert wird ser von aver verdrängt (han ido zunehmend parallel zu son idos). Im zusammengesetzten Perfekt wird das Partizip invariabel. Im Zuge dieser Grammatikalisierung von aver geht die Bedeutung „haben, besitzen“ verloren, für diese Bedeutung von aver als vormaligem Vollverb steht nun nur noch tener zur Verfügung (im Siglo de Oro waren beide Verben praktisch synonym). Neuspanisch: 1650 bis heute Insgesamt sind in dieser Periode kaum noch grammatische Entwicklungen zu beobachten. Es ergibt sich durch Verschiebungen im Bereich der diasystematischen Markierungen z.B. eine Zunahme der Akzeptanz des Leísmo im Zentrum, dagegen ein Verlust der Akzeptanz des Laísmo in Kastilien. Für das Französische schlägt Klare (2007) eine feinere Einteilung in vier Phasen vor, aus denen hier wiederum für die Arbeit relevante (morpho-)syntaktische Entwicklungen angegeben werden: Altfranzösisch („l’ancien français“): 842-ca. 1300 1. Die Syntax der Rechtssprache wird als „hochgradig lateinisch“ (Klare 2007: 53) angegeben, da die Wortstellungen Subjekt-Objekt-Prädikat (SOP) und Objekt-Subjekt-Prädikat (OSP) beibehalten werden; hingegen dominiert sich in der altfranzösischen Prosa die Abfolge SPO. 2. Bis ca. 1200 hat die altfranzösische Zweikasusflexion, die aber nur die maskulinen Nomina, Adjektive und Pronomina aufweisen, noch Bestand. Mittelfranzösisch („le moyen français“): ca. 130-ca. 1500 1. Generell: Prädeterminierung statt vormaliger Postdeterminierung, die u.a. zu den Subjektpronomina führt. 2. Verlust der Nullsubjekteigenschaft: Die neuen Personalpronomina werden obligatorisch nach dem Verstummen von Verbendungen. 3. Infinitiv und Präpositionen: Im Altfranzösischen bestand die Tendenz, den Infinitiv fast immer mit à einzuleiten (je commence à faire qc., j’aime à faire qc., vgl. Klare 2007: 87). Im Mittelfranzösischen erhält der Infinitiv mit de eine größere Rolle, so dass viele Fälle auftreten, in denen heute nur noch der Anschluss mit de oder beide Möglichkeiten bestehen. <?page no="179"?> Auswahl der Datenbasis und allgemeine Wandelprozesse 179 4. Negation beim Verb: Während im Altfranzösischen die Partikel ne alleinige Negationspartikel war (z.B. (je) ne sais) wird die Negation im Mittelfranzösischen häufig expressiv verstärkt durch sog. mots explétifs wie pas, point, mie und goutte (z.B. (je) ne bois goutte/ (je) ne mange mie/ (je) n’écris point/ (je)ne vais pas, vgl. Klare 2007: 88); in der Folge verlieren diese Wörter ihre konkrete Substantivbedeutung und werden zu reinen Negationswörtern, auf denen dann auch die Negation ruht, so dass ne ausgelassen werden kann: je sais pas, je viens point. 5. Verbalperiphrasen: Neubildung von venir de + Infinitiv und aller + Infinitiv Frühneufranzösisch („le français de la Renaissance“): ca. 1500-ca. 1600 1. Wortstellung: die im Mittelfranzösischen bereits dominante Abfolge SPO setzt sich nur zögernd weiter durch; der Einfluss lateinischer Syntax lässt wieder mehr Stellungsfreiheiten zu. 2. Es besteht durch lateinischen und italienischen Einfluss wieder mehr Flexibilität auch im Bereich der Personalpronomina, die auch ausgelassen werden können. 3. Stellung der Objektpronomina: Im 16. Jahrhundert sind alt- und mittelfranzösische Abfolgemuster noch weit verbreitet: Das direkte Objektpronomen steht vor dem indirekten Objektpronomen, z.B. et le vous conseille statt je vous le conseille; et suis content de la vous enseigner statt je suis content de vous l’enseigner (Klare 2007: 14) 4. Die Veränderlichkeit des participe passé wird eingeführt, so dass der heutige Normtyp gilt: la fenêtre que j’ai ouverte. Neufranzösisch („le français moderne“): ab ca. 1600 Wortstellung: Entscheidung für den Abfolgetyp SPO Im Vergleich mit der Periodisierung des Spanischen fällt eine deutlich frühere Entwicklung des Altfranzösischen gegenüber dem Altspanischen und des Mittelspanischen gegenüber dem Mittelfranzösischen auf, was auf sprachexterne Bedingungen wie die arabische Besetzung zurückzuführen ist. Hingegen besteht nur noch eine kleine Differenz zwischen dem Beginn des Neufranzösischen und Neuspanischen. Für die Auswahl geeigneter Chroniken erscheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, für den Vergleich der altspanischen Periode mit der altfranzösischen eine spanische Chronik aus dem 13. Jahrhundert sowie eine altfranzösische vor 1300 zu verwenden, was mit der Estoria de Espanna von König Alfonso el Sabio (ca. 1270, vgl. Kapitel 5.3) und der Conqueste de Constantinople par les François von Villeharduyn (ca. 1207-1210 verfasst, vgl. Kapitel 5.5) umgesetzt wird. Für die mittlere Periode im Spanischen ist eine Chronik aus dem 15. Jahrhundert geeignet, während die mittelfranzösische Periode deutlich früher liegt und die Verwendung einer Chronik aus dem 14. Jahrhundert nahe legt. Aus diesem Grund werden die Chrónica del rey Guillermo de Inglaterra (ältere Version von 1526, vgl. Kapitel 5.3) für das Spanische und die Chroniken von Froissart aus dem 14. Jahrhundert (Ausschnitt „Les Anglais veulent un roi guerrier“) für die Analyse ausgewählt (vgl. Kapitel 5.5). Für die Neuzeit werden jeweils Darstellungen der spanischen bzw. französischen Geschichte aus dem 20. Jahrhundert verwendet, die in den jeweiligen Unterkapiteln genauer vorgestellt werden. <?page no="180"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 180 Für das Italienische gibt es, anders als für die anderen beiden romanischen Sprachen, keine feste Periodisierung auf der Basis sprachinterner Faktoren, was mit der Problematik der dialektalen Aufsplittung zusammenhängt. Maiden (1995: 10) weist darauf hin, dass „from an ‚internal‘ perspective we are inclined to think that such division is a counterproductive distraction“ und verzichtet weitgehend auf die Periodisierung, obwohl er ihre Bedeutung für eine externe Sicht anerkennt. Er geht in seiner Geschichte der italienischen Sprache daher so vor, dass nur approximative Daten angegeben werden, für die linguistische Phänomene attestiert werden. Da es, so Maiden (1995: 10), aus sprachinterner Sicht keinen historischen Moment mit dramatischen, strukturell entscheidenden Aspekten gibt, schlägt er vor, den Begriff „old Italian“ ganz zu vermeiden und stattdessen vom Italienischen des 15. oder 16. Jahrhunderts zu sprechen, welche die Jahrhunderte sind, in denen eine Form des Toskanischen (v.a. auf dem Florentinischen basierend) generell als die literarische Sprache Italiens akzeptiert zu werden beginnt. Vor dem 15. Jahrhundert ist es nach Maiden (1995: 11) akkurater, von „Alttoskanisch“ als von „Altitalienisch“ zu sprechen, da Toskanisch zu dieser Zeit noch nicht universell als die italienische lingua akzeptiert war. Eine zweite Möglichkeit, nämlich den Einbezug der dialektalen Variation in die Modelle, dokumentiert Michel (1997: 5 ff.), der vier solche Periodisierungsmodelle vorstellt und diskutiert. Aus der Perspektive der italienischen Varietätenvielfalt betrachtet er insbesondere die Modelle von Devoto (1954), Maneca (1968) und Krefeld (1988) als geeignet, die hier jedoch nicht vorgestellt werden, da sie - im Gegensatz zu den oben aufgeführten Modellen für das Spanische und Französische sowie der groben Unterteilung von Maiden (1995) für das Italienische - ausschließlich auf sprachexternen Faktoren (Entwicklung der Literatursprache, historische und soziale Umstände) beruhen und zum Vergleich daher nicht geeignet sind. Für die Auswahl geeigneter Chroniken bedeutet dies, je eine alttoskanische Chronik (vor dem 15. Jahrhundert) sowie eine spätere, ebenfalls toskanische Chronik (ab dem 15. Jahrhundert) zu verwenden. Geeignet sind die Geschichtserzählungen Annales Pisani von Bernardo Maragone (12. Jahrhundert) und für das Toskanische des 15. Jahrhundert die Storia d’Italia von Francesco Guicciardini (1537-1540 verfasst). Für das 20. Jahrhundert wird - wie in den anderen beiden Sprachen - eine Geschichtsdarstellung aus dem 20. Jahrhundert verwendet. 5.3 Analyse der spanischen Daten 5.3.1 Vorstellung der Datenbasis Für die Untersuchung der Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben im Spanischen wurden die nachfolgenden Chroniken aus dem 13., 16. und 20. Jahrhundert herangezogen, von denen jeweils ausgewählte Abschnitte analysiert wurden. Ziel war es, eine vergleichbare Anzahl von passivierbaren Kontexten in den drei Chroniken zu gewinnen. Es wurden jeweils ca. 2000 passivierbare Kontexte analysiert. So konnten jeweils etwa 100 periphrastische Passivkonstruktionen sowie andere passivische Konstruktionen gewonnen werden. <?page no="181"?> Analyse der spanischen Daten 181 Die Estoria de Espanna aus dem 13. Jahrhundert ist eines der beiden historiographischen Werke Alfons’ des Weisen, welche nach Bollée und Neumann-Holzschuh (2003: 73) den wichtigsten Beitrag darstellen, die er zur Entstehung der spanischen Prosa geleistet hat. 111 Die Estoria de Espanna (Originaltitel, den auch die hier verwendete Edition führt) wird seit der Erstausgabe von Menéndez Pidal 1906 112 meist Primera Crónica General genannt. Sie wurde vor 1270 begonnen, aber nicht abgeschlossen, da der König dann ein ehrgeizigeres Projekt, die General e grand Estoria (begonnen etwa 1272) in Angriff nahm. Die Estoria de Espanna wurde 1289 unter Sancho IV. vollendet. Dies impliziert bereits, dass mehrere Verfasser beteiligt sein müssen - tatsächlich weiß man, so Bollée und Neumann-Holzschuh (2003: 74), dass sich Alfons ab 1269 persönlich seinen Chroniken widmete und dabei einen großen Mitarbeiterstab von Übersetzern und Redakteuren um sich hatte. Er hat mit ziemlicher Sicherheit an den Vorarbeiten und an der Endredaktion mitgewirkt. Da die Texte in Etappen redigiert wurden und eben meist zahlreiche Mitarbeiter an der Abfassung beteiligt waren, ist die sprachliche Gestalt der Werke der alfonsinischen Schule nicht ganz einheitlich. In den ersten Kapiteln gibt es einige dialektale Formen und Archaismen sowie überwiegend altspanische Charakteristika, die später selten werden; der jüngere Teil der Crónica dokumentiert eine größere sprachliche Stabilität und steht der heutigen Sprache näher. Für die vorliegende Arbeit wurde die Edition der Estoria de Espanna von Kasten und Nitti (1978) verwendet und davon die erste Hälfte (erste 60 Seiten der Edition) analysiert, um den Sprachstand des Altspanischen zu gewinnen (2008 passivierbare Kontexte, 185 periphrastische Passivkonstruktionen). Für das 16. Jahrhundert wurde die Chrónica del rey Guillermo de Inglaterra in der Edition von Nieves Baranda (1997) ausgewählt, in der die umfangreiche hagiographische Stoffgeschichte und der Weg, den dieser Stoff von Frankreich nach Spanien genommen haben könnte, genau erläutert werden 113 . Baranda weist auf die Unterschiede zwischen den beiden verfügbaren Fassungen von Toledo (1526) und Sevilla (1553) hin, wobei die ältere und weniger fehlerhafte Version von Toledo die Basis der Edition von Baranda bildet. Von dieser Chronik wurden 82 Seiten (die ersten 18 Kapitel) ausgewertet (2070 passivierbare Kontexte, 77 periphrastische Passivkonstruktionen). 111 Die Autorinnen (2003: 73) merken an, dass die Primera Crónica General als Geschichtsquelle nicht sehr wichtig war, wohl aber für die Literaturgeschichte, weil sie verlorene Epen in Prosafassung wiedergibt. 112 Vgl. Bollée und Neumann-Holzschuh (2003), die hierfür selbst keine exakte bibliographische Angabe machen. 113 Es ist unklar, ob es sich hier um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt, deren eigentliche Vorlage aber verlorengegangen ist. Ausgangspunkt der Geschichte ist die Legende des heiligen Eustaquio, welcher ursprünglich ein guter, aber heidnischer Römer namens Plácidas ist, der durch eine Begegnung mit Christus bekehrt wird und nach seiner Taufe zahlreichen Prüfungen, ähnlich wie der biblische Hiob, ausgesetzt wird. Dieser Stoff wurde in zahlreichen Versionen in Europa überliefert und weiter ausgeschmückt (vgl. Baranda 1997, Einleitung). <?page no="182"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 182 Im 20. Jahrhundert kann und will die Breve Historia de España von García de Cortázar und González Vesga (1994) als Chronik gelten 114 , in der die Geschichte Spaniens von den frühesten Anfängen (Vorzeit) bis in die Gegenwart (Nach-Franco-Ära) aus zahlreichen Perspektiven (inkl. Recht, Wirtschaft, Umweltveränderung) dargestellt wird. Aus dieser Chronik wurden die Kapitel 2 bis 10 (ca. 200 Seiten) analysiert (2121 passivierbare Kontexte, 90 periphrastische Passivkonstruktionen). 5.3.2 Die quantitative Analyse der spanischen Chroniken (Teil A) Im ersten Schritt werden die drei im vorigen Abschnitt beschriebenen Chroniken hinsichtlich des Vorkommens periphrastischer Passivkonstruktionen, se-Passive und anderer Konstruktionen mit passivischer Bedeutung betrachtet, wobei hier in einem ersten Überblick (Tabelle 1) die absoluten Zahlen für die unterschiedlichen Konstruktionen und die Anzahl der ausgewerteten passivierbaren Kontexte angegeben werden: Span. Chronik u. Epoche Pass. Kontexte Periphrastische Passive Se-Passive Andere pass. Konstruktionen Estoria de Espanna (13. Jh., Est.Esp.) 2008 177 10 0 Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh., CGuill) 2070 79 24 29 Breve Historia d’España (20. Jh., BHE) 2121 90 44 86 Tabelle 5.1: Absolute Zahlen für passivische Konstruktionen in den drei spanischen Chroniken Die Tabelle macht deutlich, dass se-Passive sowie weitere passivische Konstruktionen im Vergleich der drei Chroniken und Epochen deutlich zunehmen, während periphrastische Passivkonstruktionen im Verhältnis zu den passivierbaren Kontexten stark zurückgehen: Ihr Anteil sinkt von 8,8% (177/ 2008) in der Estoria de Espanna auf 3,8% (79/ 2070) in der Chrónica del Rey Guillermo und vergleichbaren 4,2% (90/ 2121) in der 114 Die Autoren (1994: 8) betonen in ihrem ausführlichen Vorwort „España inacabada“ ihr Anliegen „Destacamos, así mismo, el esfuerzo de los pensadores por hacer de la amalgama peninsular una Nación, lo que hoy justific nuestra crónica. Y, por supuesto, la Breve historia de España no ha de ser sólo la de sus reyes y héroes, sino también la del arado y la oveja, los viajes marítimos y la burocracia, las leyes y los libros, y, sobre todo, un recuerdo de quienes aguantaron los golpes de la esclavitud, la explotación o el dolor, ... que las retóricas patrioteras olvidan.“ <?page no="183"?> Analyse der spanischen Daten 183 Breve Historia d’España. Zu den anderen passivischen Konstruktionen sind einerseits die von Mendikoetxea genannten Konstruktionen zu zählen, andererseits absolute Konstruktionen mit passivischer Bedeutung (vgl. ausführliche Darstellungen in Kapitel 3.2). Für alle Arten passivischer Konstruktionen werden im Folgenden Beispiele aus den drei Chroniken, sofern vorhanden, gegeben 115 : (2) Beispiele für periphrastische Passivkonstruktionen 116 : a. Tod estas tierras sobredichas fueron pobladas assi cuemo uos’ contamos. (Est.Esp., S. 9) b. Y su muerte fue muy sentida por todos los de su ducado […] (CGuill., Kap. I, S. 86 ) c. Gadir fue la mayor metropolis comercial erigida por los fenicios en el Mediterráneo occidental. (BHE, Kap. II, S. 63) (3) Beispiele für passivisches se a. […] q<ue> los saberes se perderien muriendo aquellos que los sabien […] (Est.Esp., S. 2) b. Y para esto se escriven los libros seglares, así de cavallerías como de otras materias […] (CGuill., Prolog, S. 85) c. Los litigios de los godos se resolvían en otras instancias, interveniendo en ocasiones el propio rey. (BHE Kap. VII, S. 138) (4) Beispiele für andere passivische Konstruktionen (Infinitive und absolute Konstruktionen) a. […] y mandóles salir a recebir muy honradamente (CGuill., Kap. III, S. 103) -> Bed.: „und er befahl ihnen auszusteigen um sehr ehrenhaft empfangen zu werden“ b. Y fecho todo y firmado, acordaron de pregonar las pazes por mandado del rey de Escocia en presencia del abad Ensino (CGuill., Kap. VII, S. 113) 115 In den Beispielen werden nur die relevanten Passagen verwendet und alle Schreibweisen, die die jeweiligen Editionen verwenden, genau wiedergegeben. 116 Diese Beispiele suggerieren, dass im Altspanischen ser nur für Vorgangspassive verwendet werden konnte. Dies ist nicht der Fall, wie die folgenden Beispiele zeigen, in denen Zustände von Personen (i) bzw. der Erde (ii) genannt werden: (i) &' por ende somos nos adebdados de amar a aq<ue>llos [...] (Est. Esp. S. 3, Satz 12) (ii) [...] porque la tierra era despoblada [...] (CGuill. Kap. 12, S. 138) <?page no="184"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 184 c. Por contra, los partidarios del bando ganador obtuvieron algunas ventajas al fundarse las primeras colonias de veteranos y concederse la categoria de municipium a algunos poblados indígenas. (BHE, Kap. IV, S. 97) 117 d. Trasladado el eje económico hispano hacia el sur, el Camino de Santiago pierde su afortunada posición […] (BHE, Kap. X, S. 215) Im Folgenden werden die einzelnen Konstruktionen (finite Haupt- und Nebensätze, Infinitive und Gerundien) hinsichtlich der Verteilung der passivierbaren Kontexte und tatsächlich vorkommenden Passivkonstruktionen verglichen (Abb. 1 für passivierbare Kontexte, Abb. 2 für realisierte Passivkonstruktionen). 0 20 40 60 80 100 Est.Esp. (13. Jh.) CGuill. (16. Jh.) BHE (20. Jh.) Anteile der unterschiedl. Konstruktionen an den passivierbaren Kontexten in den drei span. Chroniken HS fin NS fin Infinitive Gerundien Abb. 5.1: Finite und nicht finite Konstruktionen in den passivierbaren Kontexten der drei spanischen Chroniken Abbildung 1 zeigt, dass finite Kontexte in allen drei Chroniken zusammen zwar überwiegen, aber der Anteil passivierbarer Infinitive zur Chronik des 20. Jahrhunderts hin soweit ansteigt, dass er den der finiten Nebensätze übersteigt. Gerundien bleiben mit unter 10% relativ marginal. 117 Mensching (p.K.) weist darauf hin, dass in diesem Beispiel (im Gegensatz zu (4a)) keine infinitivspezifischen Passivmechanismen vorliegen, sondern eine Interpretation wie diejenige von se-Passiven vorzunehmen ist. Dem ist zuzustimmen. In der vorliegenden Arbeit werden beim Aufführen von Passivkonstruktionen in finiten und nicht-finiten Kontexten die jeweiligen konkreten Konstruktionen (Haupt- und Nebensätze, Infinitive und Gerundien) vorgestellt, ohne dass dies implizieren soll, dass die Konstruktion zwingend einen Einfluss auf die Interpretation haben muss. <?page no="185"?> Analyse der spanischen Daten 185 0 20 40 60 80 100 Est.Esp. (13. Jh.) CGuill. (16. Jh.) BHE (20. Jh.) Verteilung der realisierten periphrastischen Passivkonstruktionen auf die Konstruktionstypen in den drei span. Chroniken HS f in NS f in Inf initive Gerundien Abb. 5.2: Periphrastische Passivkonstruktionen in finiten und infiniten Konstruktionen der drei spanischen Chroniken Abbildung 2 zeigt eine interessante Veränderung zwischen den historischen Chroniken, in denen sich die Mehrheit der periphrastischen Passivkonstruktionen auf Nebensätze konzentriert, zur zeitgenössischen Chronik, in der die periphrastischen Passive überwiegend in finiten Hauptsätzen auftreten. Der Anteil passivierter Infinitive ist hingegen in den Chroniken des 16. und 20. Jahrhunderts vergleichbar und zwar deutlich höher als in der des 13. Jahrhunderts. Die passivierten Gerundien kommen ebenfalls - wenn auch ganz marginal - vor, aber nur im 16. und 20. Jahrhundert. Im nächsten Schritt wird ein weiteres Thema der am Anfang des Kapitels noch einmal genannten Hypothesen aufgegriffen, nämlich die Verwendung von Passivauxiliaren in den drei Chroniken. Abbildung 3 zeigt, dass die Verwendung von ser zwar stets dominant ist, aber in den Chroniken des 16. und 20. Jahrhunderts bei Zustandsinterpretation zu Gunsten von estar und anderen Auxiliaren, die diese Interpretation unterstützen (v.a. quedar(se)), deutlich abnimmt. Dies bedeutet, dass im Bereich der Zustandspassive eine Aufteilung des ursprünglich von ser mit abgedeckten Bereichs eintritt, die sich vom 16. zum 20. Jahrhundert noch einmal verstärkt, so dass nun sogar andere Auxiliare estar „übertrumpfen“. <?page no="186"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 186 0 20 40 60 80 100 Est.Esp. (13. Jh.) CGuill. (16. Jh.) BHE (20. Jh.) Verteilung der Verwendung der Passivauxiliare ser, estar u. andere (v.a. quedar) in den drei span. Chroniken ser estar andere Aux. Abb. 5.3: Verwendung der Passivauxiliare in den drei spanischen Chroniken In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, eine eigentlich semantische Analyse bereits an dieser Stelle einzubeziehen, nämlich die Analyse der periphrastischen Passivkonstruktionen hinsichtlich der Verteilung von Vorgangs- und Zustands-Interpretation, die Abbildung 4 verdeutlicht: 0 20 40 60 80 100 Est.Esp. (13. Jh.) CGuill. (16. Jh.) BHE (20. Jh.) Verteilung der Verwendung von periphrast. Passivkonstruktionen in Vorgangs- und Zustandsinterpretation in den drei span. Chroniken Vorgangsint. Zustandsint. Abb. 5.4: Interpretation der periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei spanischen Chroniken <?page no="187"?> Analyse der spanischen Daten 187 Während in der Chronik des 13. Jahrhunderts die Vorgangspassive mit 80% deutlich dominieren, ist das Verhältnis in den beiden späteren Chroniken ausgewogener, es findet eine deutlich erkennbare Zunahme an Zustandspassiven statt, die die veränderte Verteilung der Auxiliare aber nur teilweise erklärt. Vergleicht man Abbildung 4 und 5, erklärt die Zunahme von Zustandspassiven zwar den zunehmenden Gebrauch von estar und anderen Auxiliaren mit vergleichbarer Bedeutung (quedar(se), permanecer), aber der Anteil von ser ist sichtbar immer noch höher als der der Vorgangspassive insgesamt in den beiden späteren Chroniken. Dies bedeutet, dass auch ein Teil der Zustandspassive mit ser gebildet werden, das ja auch als ambig bzw. semantisch nicht festgelegt beschrieben wurde (vgl. Kapitel 3.2 und 4.4). Zum Abschluss der quantitativen Analyse soll auf die absoluten Konstruktionen eingegangen werden, die in beiden Chroniken, in denen sie verwendet werden (Chrónica del Rey Guillermo aus dem 16. Jh. und Breve Historia d’España aus dem 20. Jh.) den größten Anteil der „anderen passivischen Konstruktionen“ ausmachen, nämlich 82,8% (24/ 29) in der Chrónica del Rey Guillermo und 95,3% (82/ 86) in der Breve Historia d’España. Die folgende Übersicht stellt die unterschiedlichen Typen hinsichtlich ihres Bezugs zum Hauptsatz (Referenz auf das Subjekt des Hauptsatzes oder auf ein anderes Subjekt im Kontext) und den Anteil von por-Agensphrasen dar: 0 20 40 60 80 100 Subj. nicht HS m. Obj. Agens-por Passivische absolute Konstruktionen in CGuill (16. Jh.) und BHE (20. Jh.) BHE CGuill Abb. 5.5: Passivische absolute Konstruktionen in den Chroniken des 16. und 20. Jh. Abbildung 5 zeigt, dass in der historischen Chronik der Grad der Eigenständigkeit der passivischen absoluten Konstruktionen groß war: ca. 90% der Konstruktionen nehmen hier Bezug auf ein Subjekt im vorangegangenen Text und nicht auf das Hauptsatz- Subjekt. Auch weisen diese absoluten Konstruktionen in fast allen Fällen eigene Objekte auf. Agens-Angaben mit por-PP sind jedoch sehr selten im Vergleich zur modernen Chronik, wo sie immerhin in 1/ 3 der passivischen absoluten Konstruktionen vorkommen. <?page no="188"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 188 Fasst man die bis hier erzielten Ergebnisse im Hinblick auf die Hypothesen zusammen, so ergibt sich folgende Übersicht: 1. Periphrastische Passivkonstruktionen nehmen zugunsten der Passivkonstruktionen mit se deutlich ab; andere Konstruktionen nehmen ebenfalls deutlich zu, wobei die absoluten Konstruktionen mit passivischer Bedeutung eine zentrale Rolle spielen; 2. Bei den Auxiliaren ergibt sich im Zusammenspiel mit der Zunahme von Zustandspassiven ein Zuwachs von estar und semantisch vergleichbaren anderen Semiauxiliaren (quedar(se) und permanecer sind auch heute noch als Vollverben verwendbar). Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die von der Entwicklung des Althochdeutschen motivierte abgeschwächte Annahme von Abraham (vgl. Kapitel 1.1) für die Verwendung des Passivs im Spanischen nicht bestätigt werden kann. Insbesondere nehmen se- Passive und andere passivische Konstruktionen (mit temporal/ perfektiver Lesart) gerade zu und nicht zugunsten periphrastischer Passivkonstruktionen ab. Somit sprechen die Ergebnisse der quantitativen Analyse eher für die Annahme, dass unakkusative Verben lexikalisierte Passive darstellen. Inwieweit dies durch die qualitative Analyse bestätigt werden kann, muss im folgenden Abschnitt geklärt werden. 5.3.3 Die qualitative Analyse der spanischen Chroniken (Teil B) In diesem Analyseabschnitt werden die realisierten passivischen Konstruktionen im Hinblick auf die an ihnen beteiligten Verben und deren semantische Dekomposition analysiert sowie die in den Chroniken verwendeten unakkusativen Verben (v.a. Bewegungsverben und Zustandswechselverben) untersucht. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: 1. Gibt es deutliche Unterschiede in der Verwendung der beteiligten Verben dahingehend, dass bestimmte Verben nur in einer der Epochen passiviert werden konnten und damit einen Hinweis darauf, dass sich ihre syntaktischen Eigenschaften aufgrund einer veränderten semantischen Interpretation ebenfalls verändert haben? Sind vormals transitive Verben intransitiv (und unakkusativ) geworden? 2. Liefert die semantische Dekomposition systematische Gründe für die (Un-)möglichkeit, bestimmte Verben zu passivieren? 3. Welche der verwendeten und in der Literatur eindeutig als unakkusativ eingestuften Verben werden in den Chroniken verwendet? Welche davon sind polysem? Im Hinblick auf den ersten Fragenkomplex werden in der folgenden Tabelle 2 alle diejenigen Verbentypen (und -token) aufgeführt, die in den drei Chroniken in periphrastischen Passivkonstruktionen mehr als einmal verwendet werden. Dabei lässt sich bereits erkennen, dass in der Chronik des 13. Jh. eine Konzentration auf wenige, häufiger verwendete Verben deutlich wird, während die anderen beiden Chroniken eine viel größere Streuung aufweisen. In der Chronik des 20. Jh. tritt kein Verb mehr als zwei Mal in Passivkonstruktionen auf, und es gibt insgesamt 75 Verbtypen bei 90 Verbtoken (0,83: 1). Hingegen weist die Chronik des 13. Jahrhunderts 64 Verbtypen in 177 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, mithin eine type/ token-Relation von 0,36: 1. <?page no="189"?> Analyse der spanischen Daten 189 In der Chronik des 16. Jahrhunderts treten 49 Verbtypen in 79 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, so dass sich eine type/ token-Relation von 0,62: 1 ergibt. 118 Ferner zeigt Tabelle 2, dass nur wenig Überschneidung zwischen den passivierten Verben der drei Chroniken besteht - nur vier mehr als einmal passivierte Verben treten in zwei oder allen Chroniken auf. 118 Eine vollständige Liste aller passivierten spanischen Verben befindet sich im Anhang. Aus dieser lässt sich auch ersehen, dass es keine Schnittmenge der passivierten Verbtypen in allen 3 untersuchten Epochen gibt. Hingegen lassen sich folgende Schnittmengen feststellen: Schnittmenge 13./ 16. Jh. = 16 pass. V-Typen, Schnittmenge 13./ 20. Jh. = 4 pass. V-Typen, Schnittmenge 16./ 20. Jh. = 2 pass. V- Typen. <?page no="190"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 190 Est. Esp. (13. Jh.) CGuill. (16. Jh.) BHE (20. Jh.) adereçar (2) aparejar (2) apartar (2) aprovechar (2) arrastrar (2) ceder (2) componer (2) condenar (2) conocer (3) conocer (2) considerar (2) decir (3) desbarratar (4) destroyr (16) echar (4) eligir (2) espantar (2) esparzidar (2) fallar (2) fazer (6) fazer (5) ferir (2) juntar (7) llamar (12) librar (3) m (2) obligar (2) perder (3) perder (2) poner (3) prender (10) poblar (27) quebrantar (3) recibir (5) reconocer (2) reprimir (2) requerir (2) respaldar (2) restringir (2) saber (3) saber (2) servir (7) soterrar (2) sustituir (2) traspasar (2) tomar (2) vencer (23) Tabelle 5.2: Vergleich der Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei spanischen Chroniken <?page no="191"?> Analyse der spanischen Daten 191 Im Folgenden werden nun die in Tabelle 2 aufgeführten Verben nach ihren semantischen Komponenten untersucht, um den zweiten Fragekomplex zu beantworten. Dabei werden die Verben nach den Kombinationen ihrer Unterereignisse dargestellt. Es gelten folgende Unterscheidungen: Zustand = neu eingerichteter Zustand vs. Zustandsveränderung = Veränderung eines vorherigen Zustands; Lokation = Ort, an dem das bezeichnete Ereignis stattfindet vs. Ortswechsel des Objekts; Resultat = neu erzieltes Ergebnis (Zustand, Produkt) vs. Zustands- oder Ortswechsel infolge des Gesamt-ereignisses. Um die Verben aus den drei verschiedenen Chroniken unterscheiden zu können, werden diejenigen aus der Chronik des 13. Jahrhunderts fett markiert, diejenigen aus der Chronik des 16. Jahrhunderts kursiv markiert (inklusive conocer). Diejenigen aus der modernen Chronik werden nicht weiter markiert. Kursiv und fett markiert werden die Verben, die in beiden historischen Chroniken mehrfach passiviert werden. Prozess + Resultat (neues Produkt, Zustand) adereçar, aparejar, aprovechar, componer, condenar, decir, desbarratar, destroyr, eligir, esparzidar, fazer, ferir, llamar, mandar, obligar, poblar, reprimir, restringir, vencer Prozess + Zustandswechsel librar, quebrantar Prozess + Ortswechsel apartar, arrastrar, echar, perder Prozess + Lokation fallar, juntar, poner, soterrar Prozess + Transfer ceder, prender, recibir, requerir, sustituir, tomar Prozess + psych. Eigenschaft espantar, respaldar, servir, traspasar Zustand + Perzeption conocer, considerar, reconocer Zustand + Resultat saber Tabelle 5.3: Analyse der passivierten Verben in den drei spanischen Chroniken nach Unterereignissen Tabelle 3 zeigt, dass die meisten Verben auf die Kategorie „Prozess + Resultat“ entfallen und auch insgesamt auf die Gruppen von Verben, die „Prozess“ als ein Unterereignis aufweisen. Dennoch sind Passivierungen nicht auf diese Gruppe beschränkt - auch Verben ohne Prozess-Komponente wie Verben, die einen Zustand und eine weitere Komponente beinhalten, wurden und werden passiviert. Die Hervorhebung der Verbtypen aus den drei Chroniken zeigt ferner, dass in allen einzelnen Kategorien Verben aus mindestens zwei unterschiedlichen Chroniken enthalten sind. Dabei sind nur die Kategorien „Prozess + Zustandswechsel“, „Prozess + Lokation“ sowie „Zustand + Perzeption“ ausschließlich mit Verbtypen aus den historischen Chroniken vertreten, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass die Übersicht nur diejenigen Verben umfasst, die mehr als einmal passiviert wurden. In der Tat decken die passivierten Verben im heutigen Spanisch alle Gruppen von Ereignistypen ab, die auch in früheren Epochen festzustellen sind (vgl. Liste im Anhang). Nach der obigen semantischen Dekomposition der passivierten Verben aus Tabelle 2 soll auf einige Aspekte der analysierten periphrastischen Passivkonstruktionen näher eingegangen werden, die die Tabelle nicht darstellen kann. Sie gibt keine Information <?page no="192"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 192 über Kombinationen von passivierten Verben, die zusammen mit einem Auxiliar passiviert werden, zumal diese meist nur einmal auftreten, z.B.: (5) BHE: reprimir + anatematizar, desposeer + condenar, destronar + sustituir (6) CGuill.: jurar + obedecer, adereçar + concertar (7) Est.Esp.: vencer + perder, vencer + maltrechar, desbarratar + vencer, poblar + cerrar + fazer, onrar + temer Betrachtet man diese Kombinationen genauer, fallen mehrere semantische Relationen zwischen den jeweils beteiligten Verben auf: a) ähnliche Bedeutung (Teilsynonymien oder selbes Wortfeld, z.B. reprimir + anatematizar = „mal tratar“, desposeer + condenar => juristische Aktivitäten), b) Konverse: vencer + perder, c) konsekutiv, d.h. das eine Verb bezeichnet ein Geschehen, das Ursache für das des zweiten Verbs ist, z.B. jurar + obedecer. Im Folgenden soll jedoch auf zwei Kombinationen genauer eingegangen werden, die in der Estoria de Espanna (und nur hier) mehrfach auftreten, nämlich diejenige von prender und morir einerseits (5 Mal) und desbarratar und morir andererseits (2 Mal), wobei prender und desbarratar auch allein passiviert werden, morir nicht. Vor dem Hintergrund, dass im 13. Jahrhundert das Auxiliar des aktivischen Verbs morir, das als intransitiv und unakkusativ gilt, ebenfalls ser ist, stellt sich die Frage, ob morir hier nur „sterben“ oder aber auch „getötet werden“ bedeutet, also eine Ambiguität in den folgenden Beispielen besteht, die darauf hindeutet, das morir zu jener Zeit transitiv verwendet werden konnte, wie heute nur noch matar für das transitive „töten“. Im Folgenden werden alle periphrastischen Passivkonstruktionen mit diesen Kombinationen aufgeführt: (8) a. E todos los otros de su huest fueron muertos e presos. (Est.Esp., S. 28) b. Y esta batalla fue muy sonada por q<ue> fueron y muertos de los Roamos XXV. uezes mil e presos bien .seys mil. e murio y aq<ue>l consul. (Est. Esp., S. 31) c. De cuemo fuero<n> desbaratados los Romanos & muertos amos’ los Scipiones. (Est. Esp., S. 32, Rubriken-Überschrift) d. E fueron y muertos e presos muchos dellos e los otros fuxieron [...] (Est. Esp., S. 39) e. De cuemo fuero<n> desbaratados los romanos & muertos amos los scipiones (Est. Esp., S. 40, Rubriken-Überschrift) f. E lidio con Cipion e fue Anno<n> uençudo e estragada toda su huest de manera que los unos fueron presos e los otros muertos. (Est. Esp., S. 51) g. E alli ouo una grand batalla con los de la tierra en que fue el uençudo e desbaratado tan de mala guisa que todos los suyos fuero<n> presos e muertos. (Est. Esp., S. 58) Das Beispiel (8b) ist hier besonders interessant, da morir einmal in Kombination mit prender auftritt und bedeuten muss, dass in dieser besonderen Schlacht 25.000 Römer getötet und gut 6.000 gefangengenommen wurden, und zum anderen einmal intransitiv als „sterben“ (im Fall des erwähnten Konsuls). Das Verb matar tritt jedoch auch auf, mit 34 token in der analysierten Hälfte der Chronik, jedoch nie passiviert. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass morir auch transitiv verwendet werden konnte, wäre das Auftre- <?page no="193"?> Analyse der spanischen Daten 193 ten von morir mit einem Objekt (morir a alguien). Ein solcher Beleg lässt sich in der Estoria de Espanna nicht finden, hingegen - außerhalb der analysierten Chroniken - in Cervantes’ Don Quijote: Zwei unterschiedliche Editionen dieses literarischen Prosawerks, De Cervantes (1998) und De Cervantes (2005) bezeugen wortgleich die folgenden Konstruktionen noch im 16. Jahrhundert: (9) Mejor estaba con Bernardo del Carpio, porque en Roncesvalles había muerto a Roldán, el encantado, […] (De Cervantes 1998, Primera Parte, cap. I, p. 39, und De Cervantes 2005, Primera Parte, cap. I, p. 72) (10) […] y cuando estaba muy cansado decía que había muerto a cuatro gigantes como cuatro torres, […] (De Cervantes 1998, Primera Parte, cap. V, p. 74, und De Cervantes (2005), Primera Parte, cap. V, p. 103) Dieser Beleg deutet darauf hin, dass morir bis zum 16. Jahrhundert sowohl transitiv als „töten“ (parallel zu matar) als auch intransitiv als „sterben“ verwendet werden konnte. Es entsprach damals also einem polysemen Verb wie engl. break oder ital. affondare (vgl. Kapitel 2.3). Auf diese Polysemie wird im Zuge der Lexikonanalyse weiter unten sowie in Kapitel 6.1 erneut eingegangen. Kommen wir schließlich zur Untersuchung der unakkusativen Verben, die in den drei Chroniken verwendet wurden. Es lassen sich vier Untergruppen nachweisen: Bewegungsverben (Tabelle 4), Zustandswechselverben (Tabelle 5) sowie weitere Verben, bei denen die Verben der Erscheinung und Existenz dominieren (vgl. Tabelle 6a). Es werden aber auch psychologische Verben verwendet (vgl. Tabelle 6b). Als Verbtypen werden alle vorkommenden unakkusativen Verben mit reflexiven Varianten gezählt, da diese eigene Bedeutungen hatten und haben. In Tabelle 4 wird deutlich, dass die type- Zahl in allen drei Chroniken sehr ähnlich, hingegen die Token-Zahl sehr viel höher in der Chronik des 13. Jahrhunderts (3x so hoch wie in BHE) und in der des 16. Jahrhunderts ist (mehr als vier Malso hoch wie in BHE). Dies kann eine Folge des typischen Geschehens in mittelalterlichen Chroniken sein, die v.a. Ereignisse mit viel Bewegung erzählen. Während in der Estoria de Espanna vorrangig die Migration von Stämmen und die Besiedelung beschrieben werden, geht es in der Chrónica del Rey Guillermo, eigentlich eine Heiligenerzählung, um ganz unterschiedliche Schicksalsschläge, die zu meistern sind. Die moderne Chronik analysiert viel stärker als die mittelalterliche die Vorgänge und Lebensbedingungen, die auf dem heutigen spanischen Territorium geherrscht haben. <?page no="194"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 194 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) acceder (4) adelantarse (1) adelantarse (1) adelantarse (1) adentrarse (2) alçarse (6) arribar (9) avanzar (1) caer (7) caer (8) caer (10) correr + PP (2) correr + NP (1) decender (1) departir (1) derramar (1) desamparar (1) desembarcar (2) desterrar (4) echarse (1) entrar (12) entrar (10) entrar (9) fugir (3) huir (2) ir (14) ir (105) ir (1) irse (38) levantarse (6) levantarse (10) llegar (36) llegar (47) llegar (29) llegarse (4) mover (3) partir (3) partir (9) partir (1) partirse (7) partirse (9) pasar (2) pasar (4) passar (19) passar (10) passarse (2) penetrar (2) recaer (2) recorrer (1) recurrir (1) retroceder (1) salir (23) salir (43) salir (7) tornar (10) tornar (4) tornarse (14) traspasarse (1) trasponerse (1) venir (105) venir (94) venir (6) venirse (7) venirse (1) volver (28) volver (11) volverse (8) ∑ Verbtyp/ (token) 23 (291) 24 (442) 20 (96) Tabelle 5.4: Unakkusative (telische) Bewegungsverben <?page no="195"?> Analyse der spanischen Daten 195 Tabelle 5 zeigt, dass die Anzahl der Verbtypen in den mittelalterlichen Chroniken nur sehr gering ist: die BHE weist 12 Mal soviel wie Chronik des 13. Jahrhunderts und 4 Mal soviel wie Chronik des 16. Jahrhunderts auf. Dies kann Folge des stärker analysierenden Charakters der BHE sein, die Veränderungen in der Geschichte Spaniens darstellt. Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) adolecer (2) aflorar (1) agigantarse (1) agrandar (1) agrandarse (2) amarecer (1) anochecer (1) apaciguarse (1) arrecer (1) cambiar (2) ceçer (1) convertirse (14) crecer (1) crecer (2) crecer (12) decaer (1) decrecer (1) desacelerarse (1) deshacerse (1) devenir (1) empobrecer (1) enaltecerse (1) endurecerse (1) engrandecer (2) enriquecer (1) enriquecer (2) enriquecerse (1) esclarescer (1) evolucionar (1) extenderse (1) fenecer (1) florecer (3) guarecer (2) guarecerse (1) hacerse (1) hacerse (9) helenizarse (1) languidecer (1) mejorar (1) modernizarse (1) perecer (3) perecerse (1) obscurecerse (1) recrudecerse (1) reducirse (1) <?page no="196"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 196 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) reverdecer (1) transformarse (7) volverse (1) ∑ Verbtyp (token) 3 (4) 9 (13) 36 (80) Tabelle 5.5: Unakkusative Zustandswechselverben In Tabelle 6a steigt die type-Zahl der weiteren unakkusativen Verben, die eine (plötzliche) Existenz und Erscheinung (bzw. ihre Negation) ausdrücken, kontinuierlich an, während die token-Zahl in allen drei Chroniken sehr ähnlich ist. Dabei findet eine Verschiebung statt: es wird weniger morir und mehr andere Verbtypen verwendet. Aber existentielle Verben spielen zu allen Zeiten eine wichtige Rolle. <?page no="197"?> Analyse der spanischen Daten 197 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) acabar (4) acabar (1) acabar (9) acaescer (1) acontescer (17) aparecer (1) aparescer (1) aparecer (5) asomar (1) avenir (1) caber (1) comencerse (1) culminar (1) cumplirse (1) dejar (de) (1) desaparescer (1) desaparecer (10) emerger (1) existir (5) finar (1) finir (1) finirse (2) hundirse (1) intervenir (2) morir (52) morir (28) morir (5) morirse (1) nacer (5) nacer (12) ocurrir (1) pararse (1) parecer (2) parescer (7) parescerse (1) pervivir (4) reaparecer (1) renacer (2) revivir (1) romper (1) sobrevenir (1) sobrevivir (2) sucumbir (1) surgir (7) subsistir (1) vivir (17) vivir (2) ∑ Verbtyp (token) 10 (69) 15 (81) 22 (75) Tabelle 5.6a: Andere unakkusative Verben, v.a. Verben der (plötzlichen) Existenz und Erscheinung, außerdem andere inhärent perfektive/ telische Verben <?page no="198"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 198 Hinsichtlich der unakkusativen Verben, die psychologische Zustände ausdrücken, zeigt Tabelle 6b, dass die mittelalterlichen Chroniken sehr ähnliche Type- und token-Anzahl aufweisen, während die moderne Chronik sehr wenige psychologische Verbtypen und -token enthält. Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) alegrarse (2) atreguarse (1) atreverse (3) desplazer (1) disgustar (1) encaudarse (1) gustar (1) holgar (2) maravillarse (1) plazer (2) plazer (12) plegar (1) temerse (3) ∑ Verbtyp (token) 6 (11) 5 (18) 2 (2) Tabelle 5.6b: Andere unakkusative Verben - psychologische Verben Insgesamt zeigt die Analyse der unakkusativen Verben deutliche Unterschiede zwischen den Chroniken, die sich jedoch vorrangig durch den unterschiedlichen Charakter der Chroniken erklären lassen und weniger durch einen generellen Sprachwandel. Insgesamt lässt sich zwar eine Zunahme der unakkusativen Verbtypen feststellen, aber die Anzahl der Verbtoken steigt nicht mit an, so dass die Chronik des 20. Jahrhunderts lediglich die größte Bandbreite im Ausdruck aufweist, was wiederum mit der Darstellung des erzählten Geschehens zusammenhängen dürfte. Addiert man die Verbtyp- und -token-Anzahlen aus den vier Tabellen, ergeben sich für die drei Chroniken die folgenden Gesamtergebnisse für die Verwendung unakkusativer Verben: (11) Est.Esp. 42 types, 375 token CGuill 53 types, 554 token BHE 80 types, 253 token An der Verwendung von bestimmten unakkusativen Verbtypen und -token lässt sich also kein eindeutiger, textunabhängiger Zuwachs erkennen. Im nächsten Schritt muss betrachtet werden, inwieweit sich bei den in mehreren Chroniken auftretenden Verben ein Bedeutungswandel bzw. im Übergang eine Polysemie entwickelt hat. Zu diesem Zweck werden im Folgenden ausgewählte unakkusative und transitive (passivierbare) Verben des Spanischen detaillierter untersucht, indem ein Lexikonvergleich vorgenommen wird, in dem das mittelalterliche Spanisch mit dem <?page no="199"?> Analyse der spanischen Daten 199 Spanischen späterer Epochen und dem aktuellen Spanisch verglichen wird. Die Entscheidung für einen Lexikonvergleich anstelle einer Analyse der Kontexte der realen Vorkommen dieser Verben begründet sich damit, dass im Lexikon zumindest alle bekannten, lexikalisierten Bedeutungen festgehalten sind, während in der konkreten Verwendung möglicherweise nur ein Teil dieser Bedeutungen umgesetzt wurden. Hierzu wurden vier Wörterbücher herangezogen: das Diccionario medieval Español (Martín Alonso 1986) und ergänzend das Diccionario Español de Documentos Alfonsíes (María Nieves Sánchez (2002) 119 für das mittelalterliche Spanisch, die erste Ausgabe des Diccionario de la Lengua Española der Real Academia Española von 1780 sowie die Online-Ausgabe der 22. Ausgabe dieses Wörterbuchs (2001) für die späteren untersuchten Chroniken. Der Vergleich erlaubt zu ermitteln, welche Bedeutungen über die Zeit im Wortschatz geblieben sind und welche neu hinzugekommen bzw. in Bezug auf den heutigen dokumentierten Wortschatz als „selten verwendet“ („poco usado“, p.us.) oder „veraltet“ („antiguo“, ant.) markiert sind. Das Diccionario medieval liefert zusätzliche, präzise Informationen über die Bedeutungen eines Lexems in einzelnen Jahrhunderten (10. bis 15. Jahrhundert), die in den späteren Wörterbüchern teilweise nur noch knapp als „antiguo“ angegeben sind. Zwei wichtigen Fragen wird hiermit nachgegangen: 1. In welchem Ausmaß beobachten wir eine Veränderung, durch die die betreffenden Verben unakkusativ bzw. transitiv bzw. strukturell ambig geworden sind? 2. Wie wirkt sich die beobachtete Polysemie bei den ausgewählten Verben aus, d.h. betrifft sie vorrangig Bedeutungskomponenten aspektueller und/ oder semantischer Art oder auch solche, die direkte syntaktische Konsequenzen (z.B. Verlust/ Zugewinn der Transitivität) nach sich ziehen? Insgesamt werden im Folgenden zehn unakkusative sowie zusätzlich zwei passivierbare transitive Verben vorgestellt, davon drei Bewegungsverben, zwei Zustandswechselverben, drei Verben der Existenz und Erscheinung sowie zwei psychologische Verben, womit die Anteile unakkusativer Verben im spanischen Korpus repräsentiert werden. Alle Verben treten im untersuchten Korpus sowohl in mindestens einer der historischen Chroniken (jeweils vermerkt) als auch in der zeitgenössischen Chronik auf. Dabei wurden sowohl Verben mit hoher als auch mit niedriger Token-Zahl ausgesucht, wobei dies vor dem Hintergrund geschieht, dass man annehmen könnte, dass gerade diejenigen Verben, die eine hohe Extension aufweisen, stärker polysem sind und dass damit eine geringere Intension einhergeht. In den folgenden Darstellungen wird jedoch deutlich, dass auch seltener verwendete Lexeme Polysemie aufweisen und kein direkter Zusammenhang des Vorkommens von Polysemie mit der Frequenz der Verwendung 119 Dieses Wörterbuch ist auf die Lexeme in den Schriften von Alfonso El Sabio spezialisiert und führt hierzu jeweils Textstellen als Belege an. Es kann an einigen Stellen die im Diccionario medieval Español aufgeführten Verbbedeutungen um weitere ergänzen und führt jeweils auch die belegten Formen des betreffenden Lexems und die Textquellen auf (für letztere wird hier jeweils nur Zeitspanne der Verwendung in den alfonsinischen Dokumenten angegeben). Jedoch enthält es auch nicht alle ausgewählten Verben, wie weiter unten erkennbar wird. Für die Empfehlung dieses Wörterbuchs danke ich meinen Gutachtern Prof. Dr. Martin Becker und Prof. Dr. Guido Mensching. <?page no="200"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 200 besteht. Ferner wird deutlich werden, dass bei fast allen Verben Polysemie auftritt, häufig sogar in mehreren der untersuchten Epochen. Vorab ist anzumerken, dass die verwendeten Wörterbücher etwas unterschiedlich organisiert sind 120 : Das RAE-Wörterbuch von 1780 weist eigene Einträge für reflexive Varianten bestimmter Lexeme auf, während das moderne RAE-Wörterbuch sowie die Wörterbücher für das mittelalterlichen Spanisch dies systematisch nicht tun und stattdessen im selben Eintrag intransitive, transitive und reflexive Verwendungen aufführen. Ferner nummeriert das RAE-Wörterbuch von 1780 die eingetragenen Bedeutungen nicht, sondern hat einen Haupteintrag (die zu jener Zeit als wichtigste betrachtete Bedeutung) sowie kleiner gedruckte Untereinträge, die hier in Spiegelstrichen wiedergegeben werden. Um die Tabellen den Zeitschnitten entsprechend und übersichtlich ordnen zu können, werden die Angaben aus den beiden Wörterbüchern zum mittelalterlichen Spanisch in einer Spalte, jedoch erkennbar getrennt (Trennzeichen *) dargestellt. Alle vier Wörterbücher listen Bedeutungen in unterschiedlicher Reihenfolge auf, weshalb zu jeder Darstellung in den folgenden Abschnitten eine Umordnung nach den für das Generative Lexikon wichtigen Angaben erfolgt. Auf dieser Basis erfolgen dann Zusammenfassungen im Hinblick auf die Erarbeitung von Einträgen im generativen Lexikon nach Pustejovsky (1995) und Pustejovsky und Busa (1995) (vgl. Kapitel 1.2 und 2.3), welche in Kapitel 6.2 erfolgt. 5.3.3.1 Die Bewegungsverben Hier wurden arribar, decender und llegar ausgewählt. Aus den drei genannten Wörterbüchern werden in den folgenden Tabellen jeweils die Angaben zu den Bedeutungen wortwörtlich (inkl. der jeweils verwendeten Schreibweise) übernommen, wobei auf feststehende Wendungen (Kollokationen, Idiome) verzichtet wird, da es hier um systematische Polysemien geht. Für das erste der Bewegungsverben, arribar, führen die konsultierten Wörterbücher die Bedeutungen in der nachstehenden Tabelle 7 auf: 120 Besonders zu bedauern ist, dass diese beiden Wörterbücher gelegentlich tautologische Erklärungen geben, wie in einigen Tabellen zu sehen sein wird. Außerdem verwendet das Diccionario Medieval Español gelegentlich die Textbelege für die Bedeutungen als Erklärungen, ohne weitere Kommentare zu geben. Da die Belege aus ihrem Kontext gerissen wurden, können sie hier nicht einbezogen werden, sondern sind nur der Vollständigkeit halber mit aufgeführt. <?page no="201"?> Analyse der spanischen Daten 201 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. Lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] arribar (9x in der Estoria de Espanna) 1. intr. s. XI al XV MAR.: llegar la nave al puerto, especialmente al puerto en que termina el viaje 2. s. XV: llegar en la nave forzosamente a un puerto para remediar una necesidad 3. s. XI al XV: llegar por tierra al cualquier parte. Ú.t.c.prnl. 121 * 1. Llegar la nave al puerto. [Beleg aus alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1284] v. n. 122 : propiamente vale lo mismo que llegar el navio al puerto, y viene el verbo adripare de la baxa latinidad, que vale llegar á la orilla. Ya se ha extendido á significar lo mismo que llegar á qualquier parage, aunque sea por tierra, y así se dice: ARRIBAR á tal ciudad, &c. Untereinträge: arribar náut. 123 refugiarse un navio por temporal, ú otro riesgo á algun puerto adonde no iba destinado arribar met.: convalecer, ir cobrando fuerzas en la salud, ó en la hacienda, y así se dice : fulano va poco á poco ARRIBANDO. arribar fam. 124 : se usa algunas veces por llegar á ver el fin de lo que se desea. arribar v.a. 125 ant.: llevar, ó conducir 1. intr. dicho de una nave: llegar a un puerto 2. intr. llegar por tierra a cualquier parte. Ú.t.c.prnl. 3. intr. coloq. convalecer, ir recobrando la salud o reponiendo la hacienda 4. intr. coloq. llegar a conseguir lo que se desea 5. intr. Mar. dejarse ir con el viento 6. intr. Mar. dicho de un buque: girar abriendo el ángulo que forma la dirección de la quilla con la del viento 7. tr. ant. llevar o conducir Tabelle 5.7: arribar 121 Ú.t.c.prnl. = Úsase tambien como pronominal (reflexive Verwendung) 122 V.n. = verbo neutro; im RAE (1780) definiert als „neutro se aplica tambien á los verbos, que ni son activos, ni pasivos; y así no admiten caso de persona que padece; dazu verbo pasivo: el que se conjuga como activo, y tiene la significacion de pasiva“. Demnach können „neutrale“ Verben sowohl Deponentien als auch ergative Verben beschreiben. 123 náut. = náutico 124 fam. = familiar 125 v.a. = verbo activo, das im RAE (1780) als „en la Gramática es el que denota, ó incluye accion y rige acusativo.“ definiert wird, mithin als transitives Verb. <?page no="202"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 202 Aus den Einträgen in den vier Wörterbüchern werden folgende Eigenschaften und Entwicklungen deutlich: Das Verb arribar ist nicht nur intransitiv, sondern es gibt eine, wenn auch als „alt“ markierte Bedeutung, in der es transitiv verwendet wird. Die im Mittelalter angelegten Bedeutungen werden bis auf die „Notlandung“ beibehalten, mit der bereits früh erfolgten Ausdehnung von „im Hafen ankommen“ auf „irgendwo an Land kommen“. Neu im modernen Spanisch sind zwei spezielle maritime Verwendungen. Im RAE von 1780 werden zwei nicht-maritime Verwendungen neu eingeführt: die Erholung von einer Krankheit „convalecer“ (evtl. eine metaphorische Extension von remediar aus der Bedeutung des Einlaufens eines Schiffes in einen Hafen aufgrund eines Notfalls) sowie das Erreichen von etwas Gewünschtem. Ein Wandel von Bedeutungen findet nur im Bereich der Bedeutungen aus dem nautischen Bereich statt: Verlust der „Notlandung“ (zielgerichtet: Einlaufen in einen Hafen, der nicht vorgesehen war) und Zugewinn der Bedeutungen „mit dem Wind gehen“ und „mit dem Schiff eine solche Drehung vornehmen, dass ein größerer Winkel von Kiel und Wind entsteht“ (Ziel und damit Telizität ist hier unklar, möglicherweise besteht der neue Zustand in der anderen Ausrichtung des Schiffes in Relation zum Wind) Für das generative Lexikon können die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen festgehalten werden: 1. llegar la nave al puerto (intr.): Prozess + Zustand (= an Ort angekommen) (inkl. dem Hafen für den Notfall) 2. llegar la nave por tierra (intr.): Prozess + Zustand (= an Ort angekommen) 3. llegar a conseguir lo que se desea (intr.): Prozess + Zustand (= Erfüllung erreicht) 4. convalecer (intr.): Prozess + Zustand 5. llevar/ conducir (tr., alt): Prozess + Transfer 6. „sich nach dem Wind richten“ (inkl. Ausrichtung des Schiffes): Prozess + Zustand Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass alle aktuellen Bedeutungen „llegar“ mit einem neuen Zustand ausdrücken, der meistens „Angekommensein an einem Ort“ ist, wobei der Ort metonymisch auf gesundheitliche und sonstige Zustände erweitert wird. Im Mittelpunkt des GL-Eintrags (vgl. Kapitel 6.2.1) wird daher die Ereignisstruktur „process + state“ stehen, wobei jedoch auch Überlegungen zu der als „alt“ markierten fünften Bedeutung angestellt werden. Als nächstes wird das Bewegungsverb decender genauer betrachtet, für das die konsultierten Wörterbücher die in der nachfolgenden Tabelle 8 zusammengestellten Bedeutungen angeben: <?page no="203"?> Analyse der spanischen Daten 203 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. Lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] decender (1x in der Chrónica del Rey Guill.) intr. s. XI al XIII: descender, bajar * 1. Bajar, pasando de un lugar alto a otro bajo. Ú.t.c.prnl. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] 2. Bajar, minorarse o disminuir algo [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1281] 3. Tener una persona su origen por generaciones suecesivas en un antepasado, u linaje o un país. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1281] eingetr. Als v. n. descender -> Eintrag descender: v.n.: baxar, pasando de algun lugar alto á otro baxo. Untereinträge: descender: caer alguna cosa descender: se usa tambien como verbo activo; y así se dice de Christo nuestro Bien, que le DESCEN- DIERON de la cruz. descender met.: caer, ó perder parte de la estimacion, autoridad y veneracion en que ántes se hallaba algun sugeto descender: provenir, ó proceder por natural propagacion de algun principio, ó padre comun, que es la cabeza de la familia. descender met.: provenir, ó proceder de ora qualquiera cosa descender: ir encaminando la plática, ó el discurso poco á poco al intento principal; como baxando á él desde lo que se está diciendo, ó se ha dicho A. Eintrag für decender: 1. intr. desus. descender B. Eintrag für descender: 1. tr. bajar (poner bajo) 2. intr. bajar (ir desde un lugar a otro más bajo) 3. intr. dicho de una cosa líquida: caer, fluir, correr 4. intr. proceder, por natural propagación, de un mismo principio o persona común, que es la cabeza de la familia 5. intr. dicho de una persona o de una cosa: disminuir en calidad o cantidad 6. intr. dicho de una cosa: derivarse, proceder de otra Tabelle 5.8: decender Aus den Einträgen in Tabelle 8 werden folgende Eigenschaften und Entwicklungen von decender deutlich: Auch hier liegen nicht nur intransitive oder transitive Verwendungen vor, sondern decender kann transitiv und intransitiv verwendet werden (bajar-Bedeutung: „etwas herunternehmen“). Hier lassen sich insgesamt sechs Bedeutungen ausmachen, von denen drei neue bis 1780 hinzugekommen sind und eine seit dem 11. Jahrhundert besteht. <?page no="204"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 204 Die Bedeutung: „ir encaminando la plática...“ (das Vorangehen einer Unterhaltung zum eigentlichen Ziel hin, interpretiert als ein Abstieg vom Gesagten auf den Grund zum intendierten Ziel des Gesprächs hin) geht verloren. Für das generative Lexikon können die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen festgehalten werden: 1. bajar (intr.): von einem Ort zu einem anderen, niedriger gelegenen gehen, Prozess + Zustand (= an Ort weiter unten) 2. bajar (tr.): etwas herunternehmen: Prozess und Zustand (= Gegenstand ist unten) 3. provenir, proceder (intr.): a) (genetische) Herkunft von einer Person ausgehend (gemeinsame Vorfahren), b) von einer Sache ausgehend (abstrakte oder konkrete Entität), c) vom selben Prinzip ausgehend (kausal-abstrakt), Prozess + Zustand (default: Ursprung) 4. caer (intr.): a) Sache/ Flüssigkeit (fallen und auslaufen), b) quantitative oder qualitative Abnahme einer abstrakten Entität (wie z.B. Ansehen), Prozess und Zustand Mithin lassen sich alle Bedeutungen auf bajar + weitere Komponente (räumlich konkret und abstrakt, zugrundeliegende zeitliche oder kausale Herkunft) zurückführen. Das Verb ist ereignisstrukturell polysem: da der Eintrag sowohl die transitive als auch die intransitive Variante berücksichtigen muss, wird einmal das transitiv-kausative, linksköpfige Ereignis abgebildet und dabei das Resultat schattiert und einmal das unakkusative, rechtsköpfige Ereignis abgebildet und dabei der Prozess schattiert (vgl. Kapitel 6.2.1). Hier ist eine unterspezifizierte Ereignisstruktur anzunehmen, also keine Festlegung des Kopfes wie bei arribar. Als nächstes wird das Bewegungsverb llegar genauer betrachtet, für das die Wörterbücher die in Tabelle 9 dargestellten Bedeutungen ausweisen: <?page no="205"?> Analyse der spanischen Daten 205 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. Lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] llegar (36x in der Estoria Espanna, 47 in der Chrónica del Rey Guill.) 1. intr. s. XII al XV: venir, alcanzar el término de una traslación o camino 2. s. XIV y XV: venir por su orden o turno una cosa 3. s. XIII: «El esto diziendo a ellos, llego a el un capdiello e aorol» (Evangelio San Mateo, según el ms. escuria-lense 116 (c. 1254-70), ed. Th. Montgomery, Madrid, 1962, c. 9, v. 18) 4. tr. s. XIV y XV: allegar, juntar 5. s. XIV y XV: arrimar, acercar una cosa hacia otra 6. s. XIV y XV: llevar 7. intr. s. XIII: llegar, venir 8. r. s. XIII: acercarse * 1. Alcanzar el término parcial o total de un camino o proceso. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] 2. Ascender, importar, subir. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1284] 9. v.n.: venir de otra parte á algun sitio, ó parage determinado. Untereinträge: llegar: arrimar, ó acercar alguna cosa hácia otra llegar: durar hasta determinado tiempo llegar: alcanzar, ó tocar al término, ó blanco señalado física, ó moralmente llegar: seguirse en órden, ó tocarle algo por turno conseguir y lograr algun fin, grado, ó prerogativa llegar: bastar, ó ser suficiente alguna cosa llegar: junto con romance de otro verbo, se toma por percebir, ó executar la primera vez lo que el verbo significa; como: llegar á oir, á entender, &c. llegar: tocar física, ó moralmente llegar. Lo mismo que ALLEGAR 1. intr. alcanzar el fin o término de un desplazamiento 2. intr. durar hasta época o tiempo determinados 3. intr. dicho de una cosa o de una acción: venir por su orden o tocar por su turno a alguien 4. intr. alcanzar una situación, una categoría, un grado, etc. 5. intr. alcanzar o producir una determinada acción 6. intr. tocar, alcanzar algo 7. intr. venir, verificarse, empezar a correr un cierto y determinado tiempo 8. intr. venir el tiempo de ser o hacerse algo 9. intr. ascender 10. intr. en las carreras deportivas, alcanzar la línea de meta 11. intr. dicho de una cantidad : ser suficiente 12. tr. arrimar (= acercar) 13. tr. p.us. allegar 14. prnl. dicho de una persona o de una cosa: acercarse a otra 15. prnl. ir a un sitio determinado que esté cercano 16. prnl. p.us. unirse, adherirse Tabelle 5.9: llegar <?page no="206"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 206 Aus Tabelle 9 werden folgende Eigenschaften und Entwicklungen von llegar deutlich: Die Bedeutungen von llegar nehmen über die Zeit deutlich zu, wobei die ersten fünf aus dem 12. bis 15. Jahrhundert beibehalten werden. Die Zunahme in den weiteren Jahrhunderten bis zum aktuellen Stand lässt sich insbesondere auf die Ausdifferenzierung von alcanzar (erreichen, seit 1249 dokumentiert) mit unterschiedlich konkreten und abstrakten Zielen in verschiedenen Bereichen zurückführen; wesentlich trägt auch die Übertragung von venir auf die zeitliche Dimension bei (durar, correr un determinado tiempo). Es gibt transitive, intransitive und reflexive Verwendungen in allen drei dokumentierten Epochen. Für den Eintrag im generativen Lexikon können die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen festgehalten werden: 1. venir (intr.) a) zu einem Ort (von einem anderen): räumliche Interpretation des Ankommens, mithin die Konstellation Prozess + Zustand (angekommen sein; Default-Argument: Zielort), welche auch die räumliche Nähe-Interpretation „ir a un sitio que esté cercano“ (in der allgemeinen Version spielt die Entfernung keine Rolle) subsumieren würde. Für diese Bedeutung allein wäre ein Eintrag wie für arribar möglich. b) venir (intr.) el tiempo de hacerse algo (zeitliche Dimension), wobei sich die zeitliche Interpretation in mehrere Aspekte aufteilen lässt: aa) eine inchoative Version (verificarse, empezar a correr un determinado tiempo), bb) eine auf den Schluss gerichtete Version (durar hasta un determinado tiempo = Eintreffen nach einer bestimmten Zeit, + durativ), wozu sich auch die Bedeutung „ser suficiente“ (ausreichen) im Hinblick auf die Quantität der verstrichenen Zeit bis zum Erreichen hinzuzählen lässt, und cc) venir por su orden/ turno (Eintreffen zu seiner Zeit, -durativ). Hieraus ergeben sich zwei unterschiedliche Ereignisstrukturen: Prozess + Ereignis (aa) bzw. Prozess + Zustand (bb, cc). 2. allegar, juntar, acercar (tr.): Interpretation des Zusammenführens als Ereignis „Prozess + Zustand (via Transfer)“, welche llevar impliziert, das die erforderliche Transfer-Komponente ausdrückt. Dabei ist die Interpretation von acercar eine mögliche Zwischenstufe (annähern, nicht völlig zusammenführen) von juntar; die refl. Variante unirse/ adherirse beschreibt den gleichen Prozess des Zusammenkommens aus der Perspektive der einzelnen Entität. 3. alcanzar (intr.): Hier werden unterschiedliche konkrete und abstrakte Aspekte eines mehr oder weniger gesteuerten, willentlichen Erreichens subsumiert: a) tocar: llegar a + konkrete Entität (z.B. Körperteil), b) lograr/ conseguir: llegar a un fin, una situación, un grado etc. (abstrakte Entität), c) die erstmalige Durchführung bzw. Wahrnehmung einer von einem weiteren Verb ausgedrückten Tätigkeit (z. B. llegar a oír). Die zugrundegelegte Ereignisstruktur könnte „Prozess + Zustand (lok./ psychisch/ perzeptiv)“ lauten. <?page no="207"?> Analyse der spanischen Daten 207 Vergleicht man nun llegar mit arribar, so wird deutlich, dass die bei arribar bereits vom rein lokativischen Erreichen (mit dem Schiff) im Laufe der Zeit angelegte Erweiterung (allgemein Land erreichen, einen neuen Zustand erreichen) bei llegar noch wesentlich weitergeführt wird, indem auch eine Erweiterung in die zeitliche Dimension und ein Ausbau der abstrakten Interpretation des Erreichens des Gewünschten auf unterschiedliche Ziele hin ausdifferenziert wird. Jedoch ist eine zu arribar analoge Darstellung hier nicht möglich, da llegar auch transitiv verwendet wird und bei den intransitiven Verwendungen die inchoative Interpretation möglich ist. Es muss also in Kapitel 6.2.1 ein Eintrag erarbeitet werden, der so unterspezifiziert ist, dass auch diese Interpretationen berücksichtigt werden. 5.3.3.2 Die Zustandsveränderungsverben Hier wurden crecer und perecer ausgewählt, die in ihrer geringen Häufigkeit des Auftretens die gesamte Gruppe in den historischen Korpora angemessen repräsentieren (perecer ist mit drei Vorkommen sogar das am häufigsten verwendete Zustandsveränderungsverb). Die Präsentation beginnt mit dem Zustandswechselverb crecer, dessen Bedeutungen die Wörterbücher wie in Tabelle 10 aufgeführt angeben: <?page no="208"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 208 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. Lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] crecer (1x in der Estoria Espanna, 2x in der Chrónica del Rey Guill.) 1. intr. s. XII al XV: adquirir insensiblemente aumento los cuerpos naturales 2. s. XV: medrar 3. s. XII al XV: ir en aumento alguna persona o cosa 4. s. XV: tomar una cosa mayor consistencia 5. s. XV: extenderse por abajo como las raíces de la planta 6. s. XII al XIV : aventajar 7. s. XIV y XV: tomar una mayor autoridad, importancia o atrevimiento 8. s. XV: fluctuar, oscilar un cuerpo sobre las aguas * 1. Aumentar, acrecentar. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1284] 2. mejorar a alguien en riquezas, honores o estado. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1282] 3. Compensar [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1243-1283] v. n.: tomar aumento insensiblemente los cuerpos naturales Untereinträge: crecer: tomar aumento alguna cosa por añadirsele exteriormente nueva materia, como quando decimos que crecen los rios y los arroyos crecer met.: se dice de varias cosas que toman algun aumento v.a. ant.: lo mismo que aventajar 1. intr. dicho de un ser orgánico: tomar aumento natural. Apl. a pers., se dice principalmente de la estatura 2. intr. dicho de una cosa: recibir aumento por añadirsele nueva materia. 3. intr. adquirir aumento (ej.: crecer el tumulto) 4. intr. en las labores de punto, ir añadiendo puntos regularmente a los que están prendidos en la aguja, para que resulte aumentado su número en la vuelta siguiente. Ú.m.c.tr. 126 5. intr. dicho de la Luna: aumentar la parte iluminada del astro visible desde la Tierra. 6. intr. dicho del valor de una moneda: aumentar 7. tr. ant. aventajar. 8. prnl. Dicho de una persona: tomar mayor autoridad, importancia o atrevimiento Tabelle 5.10: crecer 126 Ú.m.c.tr. = Úsase más como transitivo. <?page no="209"?> Analyse der spanischen Daten 209 Aus Tabelle 10 gehen folgende Eigenschaften und Entwicklungen von crecer hervor: Das Verb wird überwiegend intransitiv verwendet; die transitive Verwendung aventajar (überholen, übertreffen, bevorzugen) gilt bereits 1780 als veraltet, wird aber noch mitgeführt, während die Bedeutung fluctuar/ oscilar un cuerpo sobre las aguas „ein Körper schwimmt auf dem Wasser“ (15. Jahrhundert) später vollständig entfällt. Im 20. Jahrhundert kommt eine neue intransitive Verwendung aus dem Bereich der Handarbeiten hinzu (labores de punto), bei der jedoch auf eine häufigere transitive Verwendung hingewiesen wird. Insgesamt lassen sich die aufgeführten Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon wie folgt zusammenfassen: 1. Zuwachs an Größe (d.h. quantitativer Zuwachs) von a) organischen Wesen (Tiere, Pflanzen), b) von Sachen (inkl. Gestirnen), Prozess + Zustand 2. Zuwachs an Konsistenz, Bedeutung (qualitativ) von a) Personen (Autoritätszugewinn), b) Sachen (Währung), Prozess + Zustand 3. Die veraltete Bedeutung aventajar lässt sich im Sinne der Produktion eines Zugewinns von Qualität durch Bevorzugung (= neuer Zustand) interpretieren: -> Prozess + Zustand Mithin lassen sich alle heutigen Bedeutungen mit der Ereignisstruktur „Prozess + Zustand“ erfassen (vgl. Lexikoneintrag in Kapitel 6.2.2). Das nächste untersuchte Zustandswechselverb ist perecer, für das die konsultierten Wörterbücher die in Tabelle 11 dargestellten Bedeutungen aufführen. Das Diccionario Español de Documentos Alfonsíes führt das Verb perecer jedoch nicht auf, was bedeutet, dass es in den alfonsinischen Schriften offenbar noch gar nicht verwendet wird. <?page no="210"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 210 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] perecer (3x in der Chrónica del Rey Guill.) 1. intr. s. XIII al XV : acabar, fenecer o dejar de ser 2. r. fig. s. XV: desear o apetecer con ansia una cosa. Ú. Construida con la prep. por. 3. intr. s. XV: perecer * Kein Eintrag. 4. v. n.: acabar, fenecer, dexar de ser Untereinträge: perecer: padecer algun daño, trabajo, fatiga ó molestia de alguna pasion, que reduce al ultimo extremo perecer: en el sentido moral vale padecer alguna ruina espiritual, especialmente la extrema de la eterna condenacion perecer: se toma tambien por apetecer, desear alguna cosa con anhelo, amarla con vehemencia perecer: tener suma pobreza, carecer de lo necesario para la manutencion de la vida 1. intr. acabar, fenecer o dejar de ser 2. intr. padecer un gran daño, trabajo, fatiga o molestia de una pasión 3. intr. padecer una ruina espiritual, especialmente la extrema de la eterna Condenación 4. intr. tener suma pobreza, carecer de lo necesario para la manutención de la vida 5. prnl. desear o apetecer con ansia algo 6. prnl. padecer con violencia un afecto o pasión Tabelle 5.11: perecer Tabelle 11 verdeutlicht folgende Eigenschaften und Entwicklungen von perecer: Alle mittelalterlichen Bedeutungen sind auch im 20. Jahrhundert noch existent. Dieses Verb hat nur intransitive, teils pronominale Verwendungen. Die aufgeführten Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. morir (intr.): aufhören zu leben, Verlust der Existenz, Prozess + Zustand 2. padecer (intr.): Erleiden verschiedener Ereignisse, die nicht direkt der Tod sind: a. Mangel an nötigen materiellen Voraussetzungen für das Leben, b. extremer spiritueller Schaden, c. extremer emotionaler/ psychischer Schaden, Prozess + Zustand (aufgrund materieller/ spiritueller/ psychischer Verlustereignisse) Mithin lassen sich die Bedeutungen in einer einzigen Ereignisstruktur „Prozess + Zustand“ erfassen, wobei hier alle Subjekte als [+ human] zu konzipieren sind. Es liegt hier keine logische Polysemie vor. Der entsprechende Lexikoneintrag wird in Kapitel 6.2.2 vorgestellt. <?page no="211"?> Analyse der spanischen Daten 211 5.3.3.3 Die Verben der Existenz und Erscheinung Hier wurden morir, nacer, und parecer ausgesucht, wodurch diese Gruppe sowohl durch häufiger als auch weniger häufig verwendete Verben repräsentiert wird. Die Bedeutungen von morir werden von den Wörterbüchern wie in Tabelle 12 dargestellt aufgeführt. Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] morir (52x in der Estoria Espanna, 28x in der Chrónica del Rey Guill.) 1. intr. s. X al XV: fenecer o perder la vida 2. s. XIII: Morían: Sta. María Egipciaca (c. 220), R., 57 3. s. XIII: estar deseoso, impaciente * 1. Acabar la vida. Ú.t.c.prnl. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] 2. Ser condenado a muerte. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1282] v. n.: acabar y fenecer la vida, desatándose la unio del alma y el cuerpo del viviente Untereinträge: morir met.: fenecer, ó acabar del todo qualquier cosa, aunque no sea viviente morir met.: desear con tal ansia alguna cosa, que parece que se ha de acabar la vida si no se consigue morir met.: padecer violentamente algun afecto, pasion, ú otra cosa. Y en este sentido se dice: MORIR de frio, de hambre, de sed, de risa, &c. morir met.: Hablando del fuego, ó cosa que le pertenece, como la luz, ó la llama, vale apagarse, ó dexar de arder, ó lucir morir met.: en algunos juegos se dice de los lances, ó manos, que por no saberse quien la gana, se da por no executada morir met.: en el juego de la oca es dar con los puntos del dado á la casilla donde está pintada la muerte, lo que precisa á volver á empezar el juego aquel 1. intr. llegar al término de la vida. Ú .t.c.prnl. 2. intr. dicho de una cosa: llegar a su término. Ú .t.c.prnl. 3. intr. sentir muy inten-samente algún deseo, afecto, pasión, etc. Ú. m.c.prnl. 4. intr. dicho del fuego, de la luz, de la llama, etc.: apagarse o dejar de arder o lucir. Ú.t.c.prnl. 5. intr. dicho de una cosa: cesar en su curso, movimiento o acción 6. intr. dicho de una persona: amar a otra en extremo. Ú. t.c.prnl. 7. intr. dicho de una persona: ser muy aficionada a algo o desearlo vehemente-mente. Ú.t.c.prnl. 8. intr. dicho de un lance o de una mano: en algunos juegos, darlo por no ejecutado al no saber quién los gana 9. intr. dicho de un jugador en el juego <?page no="212"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 212 que muere morir met.: cesar alguna cosa en el curso, movivimiento, ó accion; y así se dice: qque MUEREN los rios y la saeta de la oca: ir a parar a la casilla donde está representada la muerte, lo que le obliga a volver a empezar el juego 10. tr. p.us. matar. MORF. Ú . solo en los tiempos compuestos (ej.: he muerto una liebre) 11. prnl. dicho de un miembro del cuerpo: entorpecerse o quedarse insensible, como si estuviera muerto Tabelle 5.12: morir Tabelle 12 zeigt die folgenden Eigenschaften und Entwicklungen von morir, wobei weiter unten auch das Verhältnis zum Zustandswechselverb perecer thematisiert werden wird: Die beiden zentralen Bedeutungen 127 aus dem Mittelalter werden beibehalten, im Wörterbuch von 1780 kommen fünf neue, in dem von 2001 sogar acht neue (gegenüber dem Mittelalter, zwei gegenüber 1780) hinzu. Es tritt kein Verlust von früheren Bedeutungen ein. Ganz überwiegend werden intransitive und reflexive Varianten verwendet; in der aktuellen RAE-Version wird jedoch auch die selten verwendete transitive Bedeutung (haber muerto a X) erwähnt, die sich schon bei Don Quijote findet und somit eine Bestätigung dieser Option darstellt. Sie hätte eigentlich auch im Wörterbuch von 1780 aufgeführt werden müssen. Die aufgeführten Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. perder la vida: a) Verlust des Lebens (von Personen), Prozess + Zustand, metaphorische Übertragung auf Spieler und eingeschlafene Körperteile (als Lebewesen konzipiert) 2. llegar a su término: Ende der Existenz: Dinge, auch Naturphänomene wie Feuer, Licht, etc.), Prozess + Zustand 3. desear, padecer: Prozess + Zustand (psychische Eigenschaften pasión, sentimiento) als Ursache 4. matar (tr.): jemanden/ etwas töten (nur zusammengesetzte Zeiten) Im Vergleich zu perecer lässt sich festhalten, dass - anders als bei perecer - das Verb morir nicht nur mit belebten Subjekten (Personen), sondern auch für bestimmte (als 127 Damit sind „perder la vida“ und „estar deseoso“ gemeint. Die Interpretation im Diccionario Espa ñ ol de Documentos Alfonsíes, in der bereits das Todesurteil als Tod aufgeführt wird, scheint speziell für den von Alfonso El Sabio formulierten Rechtsgrundsätze, die als Beispiel aufgeführt werden, zu gelten. <?page no="213"?> Analyse der spanischen Daten 213 belebt konzipierte) Gegenstände bzw. Phänomene verwendet werden kann. Aufgrund der logischen Polysemie, die wegen der nicht völlig aufgegebenen Bedeutung matar weiterbesteht, ist das kausative Grund-Schema wie bei decender anzuwenden, das nach Pustejovsky auch das grundlegende Modell für das englische to die ist (vgl. Kapitel 6.2.3). Als nächstes Verb der Existenz und Erscheinung wird nacer genauer untersucht, für das die konsultierten Wörterbücher die in der nachstehenden Tabelle 13 aufgeführten Bedeutungen angeben. Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] nacer (5x in der Estoria Espanna) 1. intr. s. XII al XV: salir el animal del vientre materno 2. s. XIV y XV: salir del huevo un animal ovíparo 3. aparecer 4. empezar a dejarse ver un astro en el horizonte 5. fig. s. XIV y XV: tomar principio una cosa de otra; originarse en lo físico o en lo moral 6. fig. s. XIV y XV: prorrumpir o brotar 7. s. XIV: empezar su curso un río * 1. Salir una persona o un animal del vientre materno. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1249-1284] 2. Brotar una planta. [Beleg aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1243-1283] 3. Tomar principio una cosa de otra, originarse en v. n.: salir á la comun luz del vientre materno, ó inmediatamente ó por medio de huevos, como en los animales ovíparos. En lo antiguo se decia nascer. Untereinträge: nacer: por extension se dice de todos los frutos que producen las plantas, y de las mismas plantas y yerbas que produce la tierra, quando empiezan á salir de ella, como comun madre nacer met. : empezar á dexarse ver sobre el propio horizonte ; y así se dice de los astros y planetas, del dia ; &c. nacer met. : tomar principio una cosa de otra, originarse, ó causarse de ella, en lo físico, ó en lo moral nacer met.: prorumpir, ó brotar ; y así se dice : NACEN las fuentes, ó rios nacer met. : empezar una cosa desde otra, como insistiendo, ó saliendo de ella nacer met.: inferirse una cosa de otra 1. intr. dicho de un animal vivíparo: salir del vientre materno 2. intr. dicho de un animal ovíparo: salir del huevo 3. intr. dicho de un vegetal: empezar a salir de su semilla 4. intr. aparecer o salir del interior 5. intr. dicho de un astro: empezar a dejarse ver en el horizonte 6. intr. dicho de una cosa: tomar principio de otra, originarse en lo físico o en lo moral 7. intr. prorrumpir o brotar 8. intr. dicho de una cosa: empezar desde otra, como saliendo de ella 9. intr. dicho de una cosa: inferirse de otra 10. intr. dicho de una cosa oculta, o que se ignoraba o no se esperaba: dejarse ver o sobrevenir de repente 11. intr. tener <?page no="214"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 214 lo físico o en lo moral. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1282] nacer met.: dexarse ver, ó sobrevenir de repente alguna cosa que estaba oculta, se ignoraba, ó no se esperaba nacer: junto con la preposicion A, ó PARA, significa la determina-cion á alguna cosa, como por la naturaleza, ó calidad intrínseca propensión natural o estar destinado para un fin (ej. nacido para violinista) 12. intr. iniciarse en una actividad 13. prnl. dicho de una raíz o de una semilla: entallecer al aire libre 14. prnl. dicho de la costura hecha muy al borde de la tela, en la ropa cosida: abrirse desprendiéndose los hilos de la orilla Tabelle 5.13: nacer Tabelle 13 veranschaulicht folgende Eigenschaften und Entwicklungen von nacer: Alle mittelalterlichen Bedeutungen werden übernommen und teilweise ausdifferenziert. Neu ab 1780 sind die Bedeutungen „Auffinden/ Erscheinen einer vorher okkulten Sache“ und „geboren sein für X“; im 20. Jahrhundert kommt die fachsprachliche Bedeutung aus dem Bereich der Schneiderei (14.: sich öffnen einer zu nah am Stoffrand gesetzten Naht) hinzu. Alle Verwendungen sind intransitiv, teilweise pronominal (reflexive Variante). Grundsätzlich setzt nacer einen Prozess voraus, der zu den folgenden für das generative Lexikon relevanten Ereignistypen führt: 1. salir/ brotar (intr.) von Tieren und Pflanzen bzw. prorrumpir (Naturphänomene wie Flüsse), Prozess + Zustand (Quelle/ Ursprung als Default-Argument denkbar) 2. empezar a dejarse ver: Erreichen des Zustands der Sichtbarkeit für Sachen (inkl. Gestirne), +/ abstrakt: Prozess + Zustand 3. tener propensión/ existir con determinaciòn: für etwas geboren sein, Prozess + Zustand (Zustand hier als prädeterminiert konzipiert) Man könnte sagen, dass nacer der Inbegriff des Prozesses ist, der etwas hervorbringt, was vorher nicht da war. Da keine transitive Verwendung gegeben ist, kann das Schema von arribar verwendet werden, wie in Kapitel 6.2.3 zu sehen sein wird. <?page no="215"?> Analyse der spanischen Daten 215 Als letztes Verb der Erscheinung und Existenz wird parecer genauer untersucht, für das Tabelle 14 die in den Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen zusammenstellt: Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] parecer (2x in der Estoria Espanna; in der Chrónica del Rey Guill. als parescer (7x) und als parescerse (1x) verwendet) A. Eintrag für parecer: 1. intr. s. XII al XV: aparecer, mostrarse o dejarse ver alguna cosa 2. s. XII al XV: tener determinada apariencia o aspecto 3. s. XV: aparece "Así que en este milagro parece cómo la constancia en propósito limpio hace mansas » (M. de Córdoba: Jard. de Nobl. Donc. (1469), ed. 1956, p. 232) B. Eintrag für parescer (kein extra Eintrag für refl. Form): 1. intr. s. XIII y XIV: aparecer, dejarse ver 2. s. XIII: semejar 3. s. XIV: opinar 4. prn. r.s. XIV: descubrirse * 1. Tener determinada apariencia o aspecto. [Beleg aus dem Zeitraum 1242-1282] 2. Dar la impresión de, aparentar. [Beleg aus dem Zeitraum 1242-1282] Eingetragen als parecer/ parecerse, Untereinträge zum N parecer: parecer: v. n.: aparecer, ó dexarse ver alguna cosa parece: hacer juicio, ó dictámen acerca de alguna cosa. Úsase mas comunmente como pasivo, è impersonal. parecer: hallarse, ó encontrarse lo que se tenia por perdido parecer: dar alguna cosa muestras, ó señales de lo que es, ó incluye parece: aprobar, ó desaprobar alguna cosa parecer: tener las cosas buena disposicion, simetría, adorno y hermosura, de modo que ocasione gusto el mirarlas, ó al contrario parecer: hallarse en alguna parte, ó dexarse ver alguno en ella; y así se dice: no ha PARECIDO Vm. por acá tanto tiempo ha. parecer ó parecerse: asemejarse una cosa á otra, ó ser conforme segun lo que se ve parecerse: dexarse ver, ú ofrecerse á la vista Eingetragen als parecer 1. intr. dicho de una cosa: aparecer o dejarse ver 2. intr. opinar, creer. U.m.c.impers. 3. intr. Hallarse o encontrarse lo que se tenía por perdido 4. intr. tener determinada apariencia o aspecto 5. prnl. asemejarse (mostrarse semejante) Tabelle 5.14: parecer <?page no="216"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 216 Tabelle 14 verdeutlicht die folgenden Aspekte der Entwicklung von pare(s)cer: Das Verb wurde zu allen Zeiten nur intransitiv/ pronominal verwendet. Die fünf mittelalterlichen Bedeutungen haben noch immer Bestand, und es ist keine neue hinzugekommen. Für den Eintrag im generativen Lexikon werden die Bedeutungen wie folgt zusammengefasst: 1. aparecer, mostrarse, dejarse ver (intr.): Prozess + Zustand (des Gesehen-werden- Könnens) 2. tener determinado aspecto (inkl. buena disposición, simetría, etc., die wertend 1780 eingetragen werden) (intr.): Zustand 3. semejar, mostrarse semejante (intr., refl.): Prozess + Zustand (des ähnlich Seins mit weiterem default-Argument) 4. opinar, creer, hacer juicio (intr. unpers.): Prozess 5. hallarse, descubrirse (en un lugar) (intr.): Prozess + Zustand (wiedergefunden/ entdeckt, Default-Argument Ort) Zusammenfassend lässt sich die Grundkonfiguration „Prozess + Zustand“ ermitteln, wobei auch eine Schattierung zugunsten von „nur Zustand“ oder „nur Prozess“ möglich ist, so dass eine logische Polysemie auftritt. Bei „dejarse ver“ ist eine interne Verursachung bei reflexiven Varianten anzunehmen. Der in Kapitel 6.2.3 dargestellte Lexikoneintrag muss das Default-Muster eines kausativen, kopflosen Verbs mit Anpassungen hinsichtlich der Argumente verwenden. 5.3.3.4 Die psychologischen Verben Als Repräsentanten dieser Gruppe wurden holgar und alegrarse ausgesucht, die die insgesamt geringe Verwendung dieser Verben reflektieren und überdies in einem interessanten Verhältnis zueinander stehen, das den weiter unten stehenden Vergleich hinsichtlich der Konzeption der Einträge ermöglicht. Für alegrar(se) stellt Tabelle 15 die in den konsultierten Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen zusammen. Das Diccionario Español de Documentos Alfonsíes führt das Verb alegrar(se) jedoch nicht auf, was bedeutet, dass es in den alfonsinischen Schriften offenbar noch gar nicht verwendet wird. <?page no="217"?> Analyse der spanischen Daten 217 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] alegrarse (2x in der Chrónica del Rey Guill.) Kein Eintrag der refl. Form -> vgl. Eintrag von alegrar: 1. tr. s. XIII al XV: causar alegría 2. prnl. s. XII al XV: recibir o sentir alegría * Kein Eintrag. v. r.: recibir ó sentir alegría Untereinträge: alegrarse fam.: ponerse alegre alguno por el exceso en beber vino, aunque sin llegar á embriagarse alegrarse for. ant.: gozar Kein Eintrag der refl. Form -> vgl. Eintrag von alegrar: 1. tr. causar alegría 2. tr. avivar, hermosear, dar nuevo esplendor y más grato aspecto a las cosa 3. tr. Mar. Aflojar un cabo para disminuir su trabajo 4. tr. Mar. alijar o aliviar una embarcación para que no trabaje mucho por causa de la mar 5. tr. Taurom. Dicho de un diestro: excitar al toro para que acometa 6. tr. p.u.s. avivar la luz o el fuego 7. prnl. recibir o sentir alegría 8. prnl. coloq. Dicho de una persona. Ponerse alegre por haber bebido vino u otros licores con algún exceso Tabelle 5.15: alegrarse Tabelle 15 verdeutlicht die folgenden Eigenschaften und Entwicklungen von alegrar(se): Die zwei ursprünglich vorhandenen Bedeutungen (eine kausativ, die andere unakkusativ) werden im Wörterbuch des 20. Jahrhunderts wieder so aufgegriffen, nachdem die kausative Variante im Wörterbuch von 1780 nicht genannt wurde. Neu kommt hier die Bedeutung ponerse alegre (durch Alkoholgenuss) hinzu, die ebenfalls bis heute weiterbesteht. Im 20. Jahrhundert kommen weitere, transitive Verwendungen hinzu, teilweise fachsprachlicher Art (aus dem Bereich des Stierkampfs und der Seefahrt), teilweise auch allgemein (avivar la luz, allg. avivar/ hermosear) hinzu; die logische Polysemie dieses kausativ/ unakkusativen Verbs besteht also weiter. Für den <?page no="218"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 218 Eintrag im generativen Lexikon lassen sich die folgenden Bedeutungen zusammenfassen: 1. causar alegría (tr.): Prozess + (psych.) Zustand 2. causar (tr.) a) alivio, b) excitación (tauro), c) más grato aspecto (Gegenstände) -> alle Prozess + Zustand 3. sentir, recibir alegría (intr.): Prozess + (psych.) Zustand; hier ist auch ponerse alegre (m. Alkohol als mögl. default-Argument = Instrument) subsumierbar. Im Kapitel 6.2.4 werden entsprechende Lexikoneinträge (einmal allgemein kausativ für die zweite Bedeutung und einmal als kausatives psychologisches Verb wegen der anderen Bedeutungen) vorgestellt und gegeneinander abgewogen. Als zweites psychologisches Verb wird holgar näher untersucht. Tabelle 16 stellt die in den konsultierten Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen zusammen. Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] holgar (2x in der Chrónica del Rey Guill.) 1. intr. s. XV: descansar, tomar aliento después de una fatiga 2. s. XIII al XV: estar ocioso, no trabajar; en los s. XII y XIII se dijo folgar 3. s. XIII: unirse carnalmente 4. s. XV: prnl. recrearse, gozarse * Descansar, reposar. [Beleg aus dem Zeitraum 1249-1284] 5. v. n.: cesar en el trabajo suspender la labor, ó no tener que hacer Untereinträge: holgar : celebrar, tener gusto, contento y placer de alguna cosa, alegrarse de ella holgar: divertirse, recrearse en algun festin, ó paseo holgar: se dice tambien de las cosas inanimadas, que estan sin exercicio, ó sin uso 1. intr. estar ocioso, no trabajar 2. intr. descansar, tomar aliento después de una fatiga 3. intr. alegrarse (recibir o sentir alegría) U.m.c.prnl. 4. intr. dicho de una cosa inanimada: estar sin ejercicio o sin uso 5. intr. sobrar, ser inútil 6. intr. ant. yacer, estar, parar 7. prnl. divertirse, entretenerse con gusto Tabelle 5.16: holgar Tabelle 16 zeigt folgende Eigenschaften und Entwicklungen von holgar: Von den vier mittelalterlichen Bedeutungen überleben explizit drei, jedoch wurde die körperliche Vereinigung (unirse carnalmente) häufig mit yacer con alguna mujer umschrieben und findet sich so in der aktuellen RAE-Fassung implizit wieder. Neu kommen 1780 die Bedeutungen hinzu, in denen eine Übertragung auf unbelebte Sachen erfolgt. Alle aktuellen Verwendungen sind intransitiv, teilweise auch pronominal (reflexive Variante). Die Bedeutungen lassen sich für den Eintrag im generativen Lexikon wie folgt zusammenfassen: <?page no="219"?> Analyse der spanischen Daten 219 1. parar/ cesar de trabajar, estar ocioso, descansar : (intr.): nicht arbeiten, ausruhen (Personen), (privativer) Zustand 2. celebrar, divertirse, alegrarse: Prozess + (psych.) Zustand 3. estar sín uso, ejercicio (intr.): Gegenstände ohne Funktion, Sinn, außer Gebrauch: (privativer) Zustand Insgesamt wird hier deutlich, dass die drei Bedeutungen eine logische Polysemie aufweisen: einerseits wird ein Zustand (des Nichtstuns bzw. des Nicht-nützlich-Seins) ausgedrückt, auf der anderen Seite (2.) ein Prozess, der zu einem neuen (psychischen) Zustand führt. Da dieser neue Zustand im Vordergrund steht und überdies holgar auch nicht transitiv verwendet wird, wird in Kapitel 6.2.4 für eine Anwendung des Eintrags des englischen Verbs anger argumentiert und ein entsprechender Eintrag für holgar entwickelt. 5.3.3.5 Transitive (passivierbare) Verben: Hier wurden conocer und poblar ausgesucht, die je ein selten und ein häufig verwendetes Verb in den historischen Chroniken darstellen. Für conocer stellt Tabelle 17 die in den konsultierten Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen zusammen. <?page no="220"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 220 Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] conocer (3x in der Chrónica del rey Guill.) 1. tr. s. XIV y XV: averiguar por el ejercicio de las facultades intelectuales la naturaleza, cualidades y relaciones de las cosas 2. s. XIV y XV : confesar, reconocer 3. fig. s. XIV : tener el hombre acto carnal con la mujer * 1. Saber, tener noticia. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] 2. Reconocer, admitir. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] 4. v.a. percibir el entendimiento, tener idea de alguna cosa Untereinträge: conocer: tener idea clara de la fisonomía, ó figura de alguna persona, ó cosa. Usase tambien como recíproco. conocer: A veces significa saber, entender, advertir. conocer: experimentar, echar de ver conocer: presumir, ó conjeturar lo que pueda suceder, como conocer que ha de llover presto por la disposicion del ayre conocer met.: tener el hombre acto carnal con alguna mujer conocer: valia tambien confesar absolutamente, fuese pecado, ó deuda, etc. 1. tr. averiguar por el ejercicio de las facultades intelectuales la naturaleza, cualidades y relaciones de las cosas 2. tr.entender, advertir, saber, echar de ver 3. tr. percibir el objeto como distinto de todo lo que no es él 4. tr. tener trato y comunicación con alguien. U.t.c.prnl. 5. tr. experimentar, sentir 6. tr. tener relaciones sexuales con alguien 7. tr. desus. confesar los delitos o pecados 8. tr. desus. mostrar agradecimiento 9. intr. Der. entender en un asunto con facultad legítima para ello (ej.: el juez conoce del pleito) 10. prnl. juzgarse justamente Tabelle 5.17: conocer Tabelle 17 verdeutlicht die folgenden Eigenschaften und Entwicklungen von conocer: Die Verwendungen sind überwiegend transitiv, daneben existieren im 20. Jahrhundert auch intransitive und pronominale Verwendungen, v.a. diejenigen, die mit moralischjuristischen Aspekten assoziiert sind (ganz neu im 20. Jh.). Früh angelegt (ab dem Mittelalter) die Bedeutungen „wissen, erkennen, verstehen“ (saber, entender, echar de ver). Neuer (ab 1780 belegt) sind die Bedeutungen „fühlen, experimentieren“ (experimentar, sentir), die die ursprüngliche Hauptbedeutung „aufgrund der Ausübung von intellektuellen Fähigkeiten die Eigenschaften der Dinge/ Objekte erkennen (und sie voneinander unterscheiden)“ ergänzen. Die nur im Wörterbuch von 1780 vorkommende <?page no="221"?> Analyse der spanischen Daten 221 Konzeption des Vorausschauens von Ereignissen (presumir, conjeturar) wird in der aktuellen Fassung nicht mehr aufgeführt. Zwei Verwendungen sind als nicht mehr gebräuchlich („desusado“, desus.) markiert und betreffen moralisch-religiöse Bedeutungsaspekte, die bis 1780 noch ohne diese Markierung mitgeführt werden. Alle im Mittelalter angelegten Bedeutungen leben jedoch, wenngleich mit den vorgenannten Einschränkungen fort. Für den Eintrag im generativen Lexikon lassen sich die Bedeutungen wie folgt zusammenfassen: 1. averiguar, tener idea clara de un objeto (a base de facultades intelectuales, tr.): Prozess + Zustand 2. percibir, experimentar, echar de ver, sentir un objeto (tr.): Prozess (Perzeption) + Zustand, 3. confesar, reconocer, mostrar agradecimiento (tr.): Prozess + (psych.) Zustand 4. tener trato. comunicación, acto carnal (tr.): Prozess (Transfer) + Zustand Diese vier Bedeutungen machen deutlich, dass conocer nicht als reines Zustandsverb konzipiert werden kann. Insbesondere die Bedeutung 2. fokussiert stärker auf den Erkenntnisprozess über die Perzeption als die anderen Bedeutungen. Es muss ein unterspezifizierter Lexikoneintrag erstellt werden, in dem Prozess bzw. Zustand schattiert werden können (vgl. Kapitel 6.2.5 für weitere Überlegungen und den genauen Eintrag). Wenden wir uns nun dem insbesondere in der Chronik des 13. Jahrhunderts häufig verwendeten transitiven Verb poblar zu. Tabelle 18 stellt die in den konsultierten Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen zusammen. Verb Bed. lt. Diccionario Medieval Español * Dicc. Esp. Doc. Alfonsíes Bed. lt. RAE 1780 Bed. lt. RAE heute [online-Version 22. ed., 2001] poblar (27x in der Estoria Espanna) 1. tr. s. XII al XV: ocupar con gente un sitio para que habite o trabaje en él 2. 2 s. XIV: establecer gente en un lugar 3. s. XI: establecerse en una localidad * Ocupar con gente un lugar para que habite o trabaje en él. [Belege aus verschiedenen alfonsinischen Dokumenten aus dem Zeitraum 1242-1284] v.a. erigir, ó fundar alguna poblacion, avecindándose en ella y haciéndola habitable. Muchas veces se usa como verbo neutro. Untereinträge: poblar: llenar, ú ocupar poblar: se toma por procrear mucho poblar: hablando de los árboles se dice quando van echando la hoja por la primavera. 1. tr. fundar uno o más pueblos 2. tr. ocupar con gente un sitio para que habite o trabaje en él 3. tr. ocupar un sitio con animales o cosas 4. tr. procrear mucho 5. prnl. Recibir un gran aumento de árboles u otras cosas Tabelle 5.18: poblar <?page no="222"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 222 Tabelle 18 macht folgende Eigenschaften und Entwicklungen von poblar deutlich: Das Verb wird überwiegend transitiv verwendet, jedoch gibt es auch pronominale Verwendungen. Die „establecerse“-Bedeutung könnte sogar die älteste sein und besteht nur bis 1780. Hier suggeriert die reflexive Form (11. Jh.), dass die jeweilige Gruppe aus sich heraus die neue Siedlung aufbaut, während die transitive Form auch bedeuten kann, dass ein Herrscher eine Siedlungsgründung anordnet, ohne selbst mitzuwirken oder gar dort mit zu wohnen, vgl. Verwendungen ab dem 12. Jh.). Eine neuere, später reflexive Verwendung bezieht sich auf die Züchtung von Bäumen (ab 1780) sowie die Bedeutung procrear mucho (viel zeugen). Neu im 20. Jahrhundert ist die Übertragung auf eine Besiedelung durch Tiere oder Gegenstände. Für den Eintrag im generativen Lexikon sind folgende Bedeutungen relevant: 1. erigir, fundar una poblacion/ un pueblo (tr.): Aufbau der Siedlung, Prozess + Zustand (neue Siedlung = resultierender Zustand) 2. ocupar un sitio, establecer gente en un lugar (tr.): einen Platz besetzen (für Siedlungszwecke), Prozess + Zustand (Ort besetzt, durch Menschen: erweitert um Tiere und Gegenstände) 3. procrear mucho (tr.): Prozess + Zustand (sowohl Menschen als auch Bäume) Diese drei Bedeutungen (alle „Prozess + Zustand“) könnten sogar noch weiter abstrahiert und zusammengefasst werden als „eine Siedlung/ Bevölkerung aufbauen“. Dies führt zur Darstellung eines kreativen Prozesses (ähnlich wie das logisch polyseme Verb build, vgl. Kapitel 1.2). Der in Kapitel 6.2.5 vorgeschlagene Eintrag orientiert sich weitgehend an diesem Muster. Die Ergebnisse des Lexikonvergleichs lassen sich wie folgt zusammenfassen: Alle untersuchten Verben weisen eine Reihe von Bedeutungen und häufig noch weiter differenzierte Verwendungsweisen auf, wobei die mittelalterlichen Bedeutungen in den meisten Fällen beibehalten und ausgedehnt wurden. Logische Polysemien wurden ebenfalls meistens beibehalten, ebenso wie die syntaktische Einstufung als transitives, intransitives und/ oder pronominales Verb (in der Terminologie der Wörterbücher). Ein genereller Trend zur Intransitivierung als Wandelprozess (von transitiven passivierbaren Verben zu intransitiven unakkusativen Verben) ist nicht erkennbar, was die Annahme, dass unakkusative Verben lexikalisierte Passive sind, aus dieser qualitativen Perspektive in Frage stellt. In diesem Abschnitt wurden zu jedem der vorgestellten Verben bereits Generalisierungen der aufgelisteten Bedeutungen und zugehörige Ereignistypen vorbereitend für die in Kapitel 6.1 zu erarbeitenden Lexikoneinträge im generativen Lexikon vorgenommen. Diese Analyse wird nur für das in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehende Spanische unternommen. In den folgenden Unterkapiteln wird nun die Entwicklung des Passivs und des Vorkommens unakkusativer Verben im Italienischen (5.4) und Französischen (5.5) zum Vergleich untersucht, um die in diesem Unterkapitel erarbeiteten Ergebnisse für das Spanische in einem größeren Zusammenhang romanischer Entwicklungen sehen zu können. <?page no="223"?> Analyse der italienischen Daten 223 5.4 Analyse der italienischen Daten 5.4.1 Vorstellung der Datenbasis Für die Untersuchung der Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben im Italienischen wurden ausgewählte Abschnitte aus drei Chroniken des 12., 16. und 20. Jahrhunderts analysiert. Ziel war es, eine vergleichbare Anzahl von passivierbaren Kontexten in den drei Chroniken zu gewinnen. In den beiden jüngeren Chroniken wurden jeweils um 1.000 passivierbare Kontexte analysiert, im Falle der Annalen aus dem 12. Jahrhundert der gesamte verfügbare Textumfang. So konnten insgesamt 50 (Annales Pisani) bzw. gut 100 periphrastische Passivkonstruktionen sowie andere passivische Konstruktionen gewonnen werden. Als zeitlich früheste historiographische Schrift wurden die Annales di Pisa (12.-13. Jh.) von Bernardo Maragone verwendet, in der das auf die Stadt und ihre damaligen zentralen Persönlichkeiten bezogene Geschehen in den Jahren 1175-1192 geschildert wird. Dabei werden - wie es typisch für Annalen ist - die Ereignisse vorrangig aufgelistet und wenig miteinander in Beziehung gesetzt. Insgesamt stand hier für die „volgare“-Fortsetzung der in ihren ersten Teilen lateinisch verfassten Annalen nur der vorgenannte Abschnitt zur Verfügung, der insgesamt 9 Druckseiten umfasst, aus dere Analyse sich 413 passivierbare Kontexte und 45 periphrastische Passivkonstruktionen ergaben. Als zweite mittelalterliche historiographische Schrift wurden acht Kapitel der Storia d’Italia (15./ 16. Jh.) von Francesco Guicciardini analysiert, die in den Jahren 1537-1540 verfasst wurde. Guicciardini beschreibt hier Ereignisse der seiner Chronik unmittelbar vorausgegangenen Jahre, wobei es vorrangig um Konflikte, ihre beteiligten Charaktere und ihre Folgen geht, so dass eine starke analytische Komponente enthalten ist, die sich in hoher syntaktischer und stilistischer Komplexität widerspiegelt. Es wurden 983 passivierbare Kontexte und 127 periphrastische Passivkonstruktionen erfasst und analysiert. Für das Italienische des 20. Jahrhunderts wurde die Cronaca del Regno d’Italia von Giovanni Artieri (1978) verwendet, genauer ein Ausschnitt aus Vol. II „Dalla vittoria alla Repubblica“, in der die Zeit von 1900-1946, die sog. „Età Emanuelina“ beschrieben wird. Die analysierten vier (längeren) Kapitel behandeln die Verhandlungen und Hintergründe für den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, so dass hier ebenfalls ein analysierender Charakter vorliegt. Es wurden 934 passivierbare Kontexte und 91 periphrastische Passivkonstruktionen erfasst und analysiert. 5.4.2 Die quantitative Analyse der italienischen Chroniken (Teil A) Im ersten Schritt werden die drei im vorigen Abschnitt beschriebenen italienischen Chroniken - analog zu der Präsentation der spanischen Chroniken - hinsichtlich des Vorkommens periphrastischer Passivkonstruktionen, von si-Passiven und anderen Konstruktionen mit passivischer Bedeutung betrachtet, wobei hier in einem ersten Überblick <?page no="224"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 224 (Tabelle 19) die absoluten Zahlen für die unterschiedlichen Konstruktionen sowie die passivierbaren Kontexte angegeben werden: Ital. Chronik u. Epoche Pass. Kontexte Periphrastische Passive si-Passive Andere pass. Konstruktionen Annales Pisani (12. Jh., An.Pis.) 413 45 5 8 Storia d’Italia (16. Jh., Storia d’It.) 983 127 20 9 Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh., C.R.I.) 934 91 9 1 Tabelle 5.19: Absolute Zahlen für passivische Konstruktionen in den drei italienischen Chroniken Tabelle 19 zeigt, dass im Italienischen kein deutlicher Anstieg von si-Passiven sowie weiteren passivischen Konstruktionen im Vergleich der drei Chroniken und Epochen vorliegt. Der Anteil der periphrastischen Passivkonstruktionen bleibt in allen drei Chroniken relativ ähnlich zwischen 9 und 13%: In den Annales Pisani beträgt der Anteil 10,9% (45/ 413), in der Storia d’Italia 12,9% (127/ 983) und in der Cronaca del Regno d’Italia 9,7% (91/ 934). Die Konstruktionen mit passivischem si lassen sich nur in der Storia d’Italia in zweistelliger Höhe finden, was möglicherweise mit dem oben beschriebenen Charakter der Schrift und einem individuellen Stil zusammenhängt. Andere passivische Konstruktionen (Infinitivkonstruktionen und absolute Konstruktionen) finden sich in beiden mittelalterlichen Chroniken in vergleichbarer Anzahl, in der modernen Chronik sehr selten. Für alle Arten der verwendeten passivischen Konstruktionen werden im Folgenden Beispiele aus den drei italienischen Chroniken, sofern vorhanden, gegeben 128 : 128 In den Beispielen werden nur die relevanten Passagen verwendet und alle Schreibweisen, die die jeweiligen Editionen verwenden, genau wiedergegeben. <?page no="225"?> Analyse der italienischen Daten 225 (12) Beispiele für periphrastische Passivkonstruktionen: a. Etiam giurar dovevano tutti li altri Principi dello Impera., i quali in nella predicta carta, che infra loro era stata concordata , erano scritti. (An. Pis.. S. 2, Bezug auf Jahr 1178) b. [...] e in questo tempo fusse molto stimolato da Alfonso duca di Calavria suo primogenito [...] (Storia d’It. Kap. 1, S. 2) c. Verso la fine di dicembre Bülow fu ricevuto dal Re Vittorio Emanuele III al Quirinale, per la presentazione delle credenziali. (C.R.I. Kap. 1, S. 14) (13) Beispiele für passivisches si: a. Et tutto quello che infra loro, per consiglio et concordia de loro Principi sarà disposto et ordinato et scripto e in carta sarà fermo stabile, et sempre si manterrà. (An. Pis. S. 2, Bezug auf Jahr 1178) b. Ma in questo tempo si gittavano in Francia sollecitamente i fondamenti della nuova espedizione [...] (Storia d’It. Kap. 5, S. 19) c. [...] nell’autunno del 1914 si importarono dieci milioni di tonnellate di grano dall'Argentina e dagli Stati Uniti. (C.R.I. Kap. 2, S. 30) (14) Beispiele für andere passivische Konstruktionen (Infinitive und absolute Konstruktionen): a. Et per questo patientemente odite quelle cose che si ànno da far qui diligentemente attendete. (An. Pis. S. 2, Ansprache aus dem Jahr 1178) b. Fatto questo giuramento, di continuo nove homini lombardi nobili et electi giurorno [...] (An. Pis. S. 2, 1178) c. [...] per stabilire tutto quello che fusse da fare per la salute comune [...] (Storia d’It., Kap. 7, S. 30) d. Le quali cose espedite, si partirono. (Storia d’It., Kap. 5, S. 19) e. Richiamato alle armi, il Serra analizza [...] (C.R.I. Kap. 3, S. 48) Im Folgenden werden die einzelnen Konstruktionen (finite Haupt- und Nebensätze, Infinitive und Gerundien) hinsichtlich der Verteilung der passivierbaren Kontexte und tatsächlich vorkommenden Passivkonstruktionen sowie der verwendeten Auxiliare und ihrer jeweiligen Interpretation verglichen (Abb. 6 für passivierbare Kontexte, Abb. 7 für realisierte Passivkonstruktionen): <?page no="226"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 226 0 20 40 60 80 100 An. Pis. (12. Jh.) Storia d'It. (16. Jh.) C.R.I. (20. Jh.) Anteile der unterschiedl. Konstruktionen an den passivierbaren Kontexten in den drei ital. Chroniken HS f in NS f in Inf initive Gerundien Abb. 5.6: Finite und nicht finite Konstruktionen in den passivierbaren Kontexten der drei italienischen Chroniken In Abbildung 6 wird deutlich, dass die Chroniken des 12. und 20. Jahrhunderts eine recht ähnliche Verteilung der passivierbaren Kontexte vorliegt: die meisten sind Hauptsätze, ähnliche Anteile von Nebensätzen und Gerundien. In der modernen Chronik werden lediglich mehr Infinitive passiviert als in den Annales Pisani. Die Storia d’Italia fällt hier mit einer ganz anderen Verteilung, in der die meisten passivierbaren Verben Infinitive sind, auf. Auch gibt es mehr passivierbare Gerundien und dafür deutlich weniger passivierbare Hauptsätze als in den anderen beiden Chroniken. <?page no="227"?> Analyse der italienischen Daten 227 0 20 40 60 80 100 An. Pis. (12. Jh.) Storia d'It. (16. Jh.) C.R.I. (20. Jh.) Verteilung der realisierten periphrastischen Passivkonstruktionen auf die Konstruktionstypen in den drei ital. Chroniken HS fin NS fin Infinitive Gerundien Abb. 5.7: Periphrastische Passivkonstruktionen in finiten und infiniten Konstruktionen der drei italienischen Chroniken Abbildung 7 zeigt, wie Abbildung 6, eine deutliche Parallelität zwischen den Chroniken des 12. und des 20. Jahrhunderts: In beiden werden am häufigsten (55-60%) Verben in Hauptsätzen passiviert, gefolgt von einer wiederum ähnlichen Quote von Verben in Nebensätzen. Infinitive werden auch mit knapp 10% ähnlich realisiert, während Gerundien nicht passiviert werden. Auch hier fällt die Chronik des 16. Jahrhunderts aus dem Rahmen, in der v.a. Nebensätze (etwa so häufig wie Hauptsätze in den beiden anderen Chroniken) passiviert werden, Infinitive und Hauptsätze zu ähnlichem Anteil (um 20%) und sogar Gerundien (um 5%). Beide Abbildungen machen also eine Sonderstellung der Storia d’Italia deutlich, die mit dem Stil des Verfassers und den oben genannten Eigenschaften dieser Chronik zusammenhängen könnten. Im nächsten Schritt wird die Verwendung von Passivauxiliaren in den drei italienischen Chroniken untersucht. Abbildung 8 zeigt, dass in dieser Hinsicht tatsächlich ein Wandel in der Verwendung der italienischen Passivauxiliare eingetreten sein könnte: Während in der Chronik des 12. Jahrhunderts ausschließlich das ambige essere verwendet wird, kommt in der Chronik des 16. Jahrhunderts in geringem Umfang die Verwendung von Verben hinzu, die die Zustandsinterpretation unterstützen (restare, rimanere). Erst in der modernen Chronik werden venire für eine rein vorgangsbezogene Interpretation und andare (nur einmal vorhanden) in deontischer Interpretation verwendet. Dies bedeutet, dass im Bereich der Zustandspassive eine Aufteilung des ursprünglich von essere mit abgedeckten Bereichs eintritt, die sich jedoch in der Chronik des 16. Jahrhunderts deutlicher zeigt als in der des 20. Jahrhunderts. Auch erhält die Interpretation als Vorgangspassiv mit venire hier einen deutlichen Ausdruck. <?page no="228"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 228 0 20 40 60 80 100 An. Pis. (12. Jh.) Storia d'It. (16. Jh.) C.R.I. (20. Jh.) Verteilung der Passivauxiliare essere, venire, andare und sonstige (v.a. restare ) in den drei ital. Chroniken essere venire andare sonstige Abb. 5.8: Verwendung der Passivauxiliare in den drei italienischen Chroniken Schließlich wird hier - wie auch bei der Darstellung der spanischen Passivkonstruktionen - die Interpretationsverteilung selbst vorgestellt, die von Abbildung 9 illustriert wird: 0 20 40 60 80 100 An. Pis. (12. Jh.) Storia d'It. (16. Jh.) C.R.I. (20. Jh.) Verteilung der Verwendung von periphrast. Passivkonstruktionen in Vorgangs- und Zustandsinterpretation Vorgangsint. Zustandsint. Abb. 5.9: Interpretation der periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei italienischen Chroniken <?page no="229"?> Analyse der italienischen Daten 229 Abbildung 9 zeigt nun - anders als die vorhergehenden Diagramme - eine praktisch identische Verteilung der Interpretationen in den Chroniken des 16. und 20. Jahrhunderts, in der zu 2/ 3 Vorgangs- und zu 1/ 3 Zustandsinterpretation vorliegt. In der frühesten Chronik beträgt der Anteil ca. 4/ 5 Vorgangs- und 1/ 5 Zustandsinterpretation, was mit dem Typ der Erzählung erklärt werden kann (vorrangig Aufzählung von Aktivitäten), während die anderen beiden Chroniken stärker analysieren und dabei Zustände thematisieren. Es handelt sich also nicht um Belege für einen Sprachwandel. Fasst man die bisherigen Ergebnisse für das Italienische zusammen, so lässt sich im Hinblick auf die Hypothesen (vgl. Kapitel 1 und 5.1) Folgendes feststellen: 1. Der prozentuale Anteil von periphrastischen Passivkonstruktionen bleibt in den Chroniken der drei Epochen nahezu gleich (um 10%), während andere passivische Konstruktionen (si-Passive, Infinitive und absolute Konstruktionen) in allen drei Chroniken nur eine kleine Rolle spielen. 2. In den einzelnen Untersuchungen erweist sich z.T. die Storia d’Italia (16. Jahrhundert) als „auffällig“, während zwischen 12. und 20. Jahrhundert wenig Unterschied besteht, so dass kein Wandel deutlich wird, sondern vielmehr die Eigenschaften der jeweiligen Chronik und der Stil des Schreibers vorherrschend zu sein scheinen. Erstere reflektieren sich besonders deutlich im Hinblick auf die Verwendung der unterschiedlichen Passivauxiliare und die Verteilung der Interpretationen: das in beiden Interpretationen verwendbare essere bleibt das wichtigste Auxiliar. Es gibt aber in der Chronik des 16. Jahrhunderts einen Teil der Zustandspassive an andere Auxiliare mit passender Bedeutung (restare, rimanere) ab, in der Chronik des 20. Jahrhunderts dann auch einen Anteil der Vorgangspassive an das entsprechende Auxiliar venire. Die Ergebnisse sprechen also insgesamt gegen einen Wandel in den Passivkonstruktionen des Italienischen. Es wird vielmehr deutlich, dass die italienischen Passivkonstruktionen bereits früh auf wenige Auxiliare eingeschränkt waren - sogenannte „Semiauxiliare“ treten später hinzu, was als beobachtbarer Sprachwandel betrachtet werden kann. Dabei können die Verben venire, andare, restare und rimanere auch weiterhin als Vollverben verwendet werden. Im Folgenden wird auf die sonstigen Konstruktionen, die im Italienischen eine viel geringere Rolle spielen als im Spanischen, nicht weiter eingegangen, sondern es folgt unmittelbar die qualitative Analyse der verwendeten passivierten und unakkusativen italienischen Verben. <?page no="230"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 230 5.4.3 Die qualitative Analyse der italienischen Chroniken (Teil B) In der folgenden Tabelle 20 werden für das Italienische alle diejenigen Verbentypen (und -token) aufgeführt, die in den drei Chroniken in periphrastischen Passivkonstruktionen mehr als einmal verwendet wurden. Dabei lässt sich bereits erkennen, dass die Chronik des 12. Jh. eine Konzentration auf weniger, häufiger verwendete Verben aufweist, während in den anderen beiden Chroniken eine viel größere Streuung vorliegt. In der Chronik des 20. Jahrhunderts gibt es insgesamt 75 Verbtypen bei 91 Verbtoken (0,82: 1). Hingegen weist die Chronik des 12. Jahrhunderts 18 Verbtypen in 45 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, mithin eine type/ token-Relation von 0,4: 1. In der Chronik des 16. Jahrhunderts treten 89 Verbtypen in 127 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, so dass sich eine type/ token-Relation von 0,7: 1 ergibt. 129 Ferner zeigt Tabelle 20, dass nur wenig Überschneidung zwischen den passivierten Verben der drei Chroniken besteht - insgesamt vier Verben werden in zwei der drei Chroniken häufiger als einmal passiviert, die relativ häufige Passivierung von fare ist allen drei Chroniken gemeinsam. 129 Eine vollständige Liste aller passivierten italienischen Verben befindet sich im Anhang. <?page no="231"?> Analyse der italienischen Daten 231 An.Pis. (12. Jh.) Storia d’It. (16. Jh.) C.R.I. (20. Jh.) accompagnare (2) battere (2) chiamare (4) chiamare (3) colmare (2) cominciare (3) cominciare (2) condurre (2) congiungere (2) costringere (2) credere (4) definire (2) determinare (2) dispregiare (2) disprezzare (3) divulgare (2) esprimere (2) fare (10) fare (9) fare (4) indicare (2) informare (2) inviare (2) mancare (2) mettere (2) necessitare (4) neutralizzare (2) obbligare (2) ordinare (3) ordinare (2) perdere (2) provedere (3) ricevere (5) ricevere (2) riconoscere (2) rigettare (2) scrivere (5) temere (4) trattare (2) vedere (7) Tabelle 5.20: Vergleich der Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei italienischen Chroniken Im Folgenden werden - wieder analog zur Analyse des Spanischen nun die in der Tabelle 20 aufgeführten Verben nach ihren semantischen Komponenten untersucht. Dabei werden die Verben nach den Kombinationen ihrer Unterereignisse dargestellt. Der Einfachheit halber werden hier die für das Spanische etablierten Unterscheidungen wiederholt: Zustand = neu eingerichteter Zustand vs. Zustandsveränderung = Veränderung eines vorherigen Zustands; Lokation = Ort, an dem ein Ereignis stattfindet vs. Ortswechsel des Objekts; Resultat = neu erzieltes Ergebnis (Zustand, Produkt) vs. Zustands- oder Ortswechsel infolge des Gesamtereignisses. Um die Verben aus den drei <?page no="232"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 232 verschiedenen Chroniken unterscheiden zu können, werden diejenigen aus der Chronik des 12. Jahrhunderts fett markiert, diejenigen aus der Chronik des 16. Jahrhunderts kursiv markiert und diejenigen aus der modernen Chronik nicht weiter markiert. Kursiv und fett markiert werden die Verben, die in beiden mittelalterlichen Chroniken mehrfach passiviert werden, kursiv markiert (vgl. chiamare, 16. und 20. Jh.): Prozess + Resultat (neues Produkt, Zustand) chiamare, costringere, definire, determinare, esprimere, fare, obbligare, scrivere, trattare Prozess + Beginn cominciare Prozess + Zustandswechsel colmare, neutralizzare, ordinare Prozess + Ortswechsel condurre, inviare, rigettare Prozess + Lokation accompagnare, congiungere, perdere Prozess + Transfer battere, ricevere Prozess + Perzeption provedere, riconoscere, vedere Prozess + psych. Eigenschaft dispregiare, disprezzare, temere Zustand + Perzeption credere, divulgare, indicare, informare Zustand + Resultat mancare, necessitare Tabelle 5.21: Analyse der passivierten Verben in den drei italienischen Chroniken nach Unterereignissen Tabelle 21 zeigt, dass auch im Italienischen die meisten Verben auf die Kategorie „Prozess + Resultat“ entfallen und auch insgesamt auf die Verben, die „Prozess“ als ein Unterereignis aufweisen. Dennoch sind Passivierungen nicht auf diese Gruppe beschränkt - auch Verben ohne Prozess-Komponente wie Verben, die einen Zustand und eine weitere Komponente beinhalten, wurden und werden passiviert. Die Hervorhebung der Verbtypen aus den drei Chroniken zeigt ferner, dass in allen einzelnen Kategorien Verben aus mindestens zwei unterschiedlichen Chroniken enthalten sind. Dabei sind nur die Kategorien „Prozess + Perzeption“, „Prozess + psych. Eigenschaft“ sowie „Zustand + Resultat“ ausschließlich mit Verbtypen aus den historischen Chroniken vertreten, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass die Übersicht nur diejenigen Verben umfasst, die mehr als einmal passiviert wurden. In der Tat decken die passivierten Verben im <?page no="233"?> Analyse der italienischen Daten 233 modernen Italienisch alle Gruppen von Ereignistypen ab, die auch in früheren Epochen festzustellen sind (vgl. Liste im Anhang). Nach der obigen semantischen Dekomposition der passivierten Verben aus Tabelle 19 soll auf einige Aspekte der analysierten periphrastischen Passivkonstruktionen näher eingegangen werden, die die Tabelle nicht darstellen kann. Sie gibt keine Information über Kombinationen von passivierten Verben, die zusammen mit einem Auxiliar passiviert werden, zumal diese meist nur einmal auftreten, z.B.: (15) C.R.I.: dichiarare + iniziare, colmare + superare, sognare + disegnare, concepire + studiare (16) Storia d’It.: deprimere + soffocare, trattare + stabilire, ordinare + stabilire, sposare + condurre, vedere + carezzare, ammazzare + finire, sbattere + diminuire (17) An.Pis.: fare + drissare, fare + finire, disponere + ordinare + scrivere, vedere + udire Auch hier lassen sich - wie in den spanischen Daten - wieder semantische Beziehungen zwischen den Verben in diesen Kombinationen erkennen: a) ähnliche Bedeutung. (Teilsynonymie, z.B. ammazzare + finire), b) konsekutiv: ordinare + stabilire, sognare + disegnare sowie eine bei den spanischen Passivkkonstruktionen mit zwei Verben nicht vorkommende Relation: c) Ergänzung/ genauere Beschreibung: fare + drissare, vedere + udire. Schließlich wird die Verwendung von unakkusativen Verben in den drei italienischen Chroniken untersucht. Dabei lassen sich vier Untergruppen nachweisen: Bewegungserben (Tabelle 22), Zustandswechselverben (Tabelle 23) sowie weitere Verben, bei denen die Verben der Erscheinung und Existenz dominieren (vgl. Tabelle 24a). Es werden aber auch, wenngleich sehr selten, psychologische Verben verwendet (vgl. Tabelle 24b). Als Verbtypen werden alle vorkommenden unakkusativen Verben mit reflexiven Varianten gezählt. <?page no="234"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 234 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) andare (15) andare a (11) andare a (13) arrivare (4) arrivare (6) avvicinarsi (1) cadere (2) conlare (3) 130 entrare (9) entrare (14) entrare (12) ire (1) 131 levarsi (2) montare (1) partire (1) partire (10) partire (3) partirsi (1) partirsi (2) passare (16) passare (4) pervenire (3) pervenire (6) pervenire (2) procedere (13) recarsi (15) ricadere (1) ricorrere (1) rientrare (2) ripartire (1) risalire (3) ritornare (16) ritornare (4) ritornare (2) ritornarsene (2) ritornarsi (2) salire (1) scendere (1) sopravvenire (2) subentrare (1) tornare (1) tornarsene (1) trascorrere (1) trasferirsi (1) uscire (2) 132 uscire (3) uscire (5) venire (9) venire (5) venire (6) volgersi (1) ∑ Verbtyp (token) 16 (69) 15 (93) 20 (82) Tabelle 5.22: Unakkusative (telische) Bewegungsverben 130 conlare evtl. teilsynonym mit mod. collare; nicht mehr existent; Bedeutung im Kontext der Chronik „mit dem Schiff auslaufen“ 131 S. 6: „era ito“ 132 Realisiert als escire. <?page no="235"?> Analyse der italienischen Daten 235 In Tabelle 22 ist die type- und token-Zahl in allen drei Chroniken relativ ähnlich, wobei die höchste token-Zahl in der Chronik des 16. Jahrhunderts auftritt. Hier reflektiert sich der unterschiedliche Charakter der drei historiographischen Schriften kaum (anders als im Spanischen), vielmehr lassen sich ähnliche Ausdrucksweisen über alle drei Epochen erkennen, was darauf hindeutet, dass sich das verwendete verbale Inventar nicht mehr verändert und inhalts- und stilunabhängig ist. Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) accrescere (4) crescere (1) crescere (2) crescere (3) invecchiare (1) mutarsi (1) riducirsi (1) ∑ Verbtyp (token) 2 (2) 3 (7) 2 (4) Tabelle 5.23: Unakkusative Zustandswechselverben Die für die Bewegungsverben festgehaltene Ähnlichkeit lässt sich auch bei den unakkusativen Zustandswechselverben in Tabelle 23 wiederfinden. Dabei ist die Anzahl der Zustandswechselverben insgesamt gering in allen drei Chroniken, wobei die Storia d’Italia noch die meisten Verbtypen und -token aufweist. <?page no="236"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 236 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) accadere (1) accadere (6) apparire (1) apparire (4) apparire (9) avvenire (5) divenire (1) divenire (1) diventare (6) diventare (3) emergere (1) finire (1) finire (1) incominciare (3) incominciare (1) mancare (1) 133 morire (7) morire (15) morire (2) nascere (2) nascere (10) perire (2) provenire (2) riemergere (1) scomparire (2) sopravivere (1) sorgere (2) succedere (7) vivere (2) Vivere (1) ∑ Verbtyp (token) 7 (18) 12 (49) 11 (34) Tabelle 5.24a: Andere unakkusative Verben, v.a. Verben der (plötzlichen) Existenz und Erscheinung, außerdem andere inhärent perfektive/ telische Verben Hinsichtlich der weiteren unakkusativen Verben, die eine (plötzliche) Existenz und Erscheinung (bzw. deren Negation) ausdrücken, zeigt Tabelle 12a, dass die type-Zahl in Richtung 16. und 20. Jahrhundert zwar ansteigt, aber die höchste token-Zahl wieder in der Storia d’Italia auftritt. In allen drei Chroniken werden überwiegend ähnliche Verben verwendet, da existentielle Verben zu allen Zeiten vorhanden und erforderlich sind. Für diejenigen unakkusativen Verben, die psychologische Zustände ausdrücken, zeigt Tabelle 12b, dass nur die mittelalterlichen Chroniken, insbesondere diejenige des 16. Jahrhunderts, solche Verben aufweist, was mit dem erzählten Inhalt begründet werden kann. Der analysierte Ausschnitt der modernen Chronik betrachtet überwiegend politische und wirtschaftliche Gegebenheiten im Italien der Zeit vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg. 133 Mancare wird in der Bedeutung von morire „wegsterben/ verscheiden“ verwendet. <?page no="237"?> Analyse der französischen Daten 237 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) compiacere (1) dispiacere (1) piacere (2) rallegrarsi (1) ∑ Verbtyp (token) 1 (1) 3 (4) 0 (0) Tabelle 5.24b: Andere unakkusative Verben - psychologische Verben Addiert man die Verbtyp- und -token-Anzahlen aus den vier Tabellen, ergeben sich für die drei italienischen Chroniken die folgenden Gesamtergebnisse für die Verwendung unakkusativer Verben: (18) An.Pis. 26 types, 90 token Storia d’It. 33 types, 153 token C.R.I. 33 types, 120 token Insgesamt zeigt die Analyse der unakkusativen Verben in den italienischen Chroniken viel weniger deutliche Unterschiede als zwischen den spanischen Chroniken. Dabei fällt - wie schon in der quantitativen Analyse der Passivkonstruktionen - die Chronik des 16. Jahrhunderts immer ein wenig heraus, indem sich die Ausdruckskomplexität nicht nur durch die meisten periphastischen Passivkonstruktionen, sondern auch qualitativ durch eine ausgewogenen type/ token-Relation in der Verwendung transitiver (passivierter) sowie unakkusativer Verben widerspiegelt. Insgesamt lässt sich keine Evidenz für einen generellen Sprachwandel finden. Vielmehr scheinen viele Ausdrucksweisen in allen drei Epochen zur Verfügung zu stehen und trotz des beschriebenen unterschiedlichen Inhalts der drei untersuchten Chroniken auch verwendet zu werden. 5.5 Analyse der französischen Daten 5.5.1 Vorstellung der Datenbasis Für die Untersuchung der Passivkonstruktionen und unakkusativen Verben im Französischen wurden die nachfolgenden historiographischen Arbeiten (je eine Chronik aus dem 13. und 14. Jahrhundert sowie eine Darstellung der Geschichte Frankreichs des 20. Jahrhunderts) zugrundegelegt, von denen jeweils ausgewählte Abschnitte analysiert wurden. Ziel war es, auch für das Französische jeweils ca. 100 periphrastische Passivkonstruktionen sowie andere passivische Konstruktionen zu gewinnen, um mit den anderen beiden Sprachen und den entsprechenden Chronikauswertungen vergleichen zu können. Hierfür wurden die ersten 150 Abschnitte der Conquête de Constantinoble von Joffroi de Villehardouin ausgewertet (13. Jahrhundert, 729 passivierbare Kontexte) sowie der Abschnitt „Les Anglais veulent un roi guerrier“ aus den Chroniken von Froissart (14. Jahrhundert, 574 passivierbare Kontexte) für die diachrone Analyse <?page no="238"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 238 ausgewählt. Diese beiden mittelalterlichen Chroniken und ihre Chroniqueure sind sehr bekannt (vgl. auch Debidour 1888/ 1980 für weitere Informationen über die Autoren, ihr Leben, Werk und Intentionen). Villehardouin, Offizier und Diplomat, nahm an dem von ihm in der Conquête de Constantinoble beschriebenen vierten Kreuzzug (1202-1204) selbst teil und verfasste in den Jahren 1207-1213 seine Mémoiren, deren Herzstück eben der Bericht über den Kreuzzug ist. Er gilt als der erste der französischen Chroniqueure, gefolgt von Jean Froissart, der, im 14. Jahrhundert geboren und wie Villehardouin von Beruf nicht Schriftsteller, in seinen vier Bücher umfassenden Chroniken seinem Hauptziel gemäß „honorables emprises, nobles aventures et faits d’armes“ (vgl. Debidour 1888/ 1990: 2. Serie, S. 46) beschreibt. Hierbei stehen die Kämpfe zwischen England und Frankreich vom Beginn der Herrschaft von Edward III. und Philippe de Valois bis zum Tode Richards II. im Mittelpunkt. Für die Analyse des zeitgenössischen schriftlichen Französisch wurde das Werk „Notre siècle“ des französischen Zeithistorikers René Rémond (1991) verwendet, das die französische Geschichte von 1919-1991 allgemein verständlich erzählen, sich aber nicht als Chronik verstanden sehen will 134 . Hieraus wurden die ersten drei Kapitel (ca. 50 Seiten, 1195 passivierbare Kontexte) ausgewertet. 5.5.2 Die quantitative Analyse der französischen Chroniken (Teil A) Im ersten Schritt werden die drei im vorigen Abschnitt beschriebenen französischen Chroniken - analog zu der Präsentation der spanischen und italienischen Chroniken - hinsichtlich des Vorkommens periphrastischer Passivkonstruktionen, von se-Passiven und anderen Konstruktionen mit passivischer Bedeutung betrachtet, wobei hier in einem ersten Überblick (Tabelle 25) die absoluten Zahlen für die unterschiedlichen Konstruktionen und die passivierbaren Kontexte angegeben werden: 134 Nur der Einfachheit halber wird dennoch im Folgenden von den drei französischen Chroniken gesprochen, ohne dass aber der unterschiedliche Charakter der Schriften ignoriert wird. Aufgrund der teils langen Titel der Chroniken werden in diesem Abschnitt in den Graphiken stets die Namen der Autoren (Villehardouin, Froissart und Rémond) verwendet. <?page no="239"?> Analyse der französischen Daten 239 Frz. Chronik u. Epoche Pass. Kontexte Periphrastische Passive Se-Passive Andere pass. Konstruktionen Conquête de Constantinoble (13. Jh., Villehardouin) 729 101 0 0 Chroniques (14. Jh., Froissart) 574 94 0 3 Notre siècle (20. Jh., Rémond) 1195 125 0 6 Tabelle 5.25: Absolute Zahlen für passivische Konstruktionen in den drei französischen Chroniken Tabelle 25 zeigt, dass im Französischen gar keine Konstruktionen mit passivischem se verwendet werden (natürlich unter der Einschränkung der Schriftsprache im verwendeten Texttyp). Weitere passivische Konstruktionen sind mit wenigen absoluten Konstruktionen ab der Chronik des 14. Jahrhunderts sehr selten. Das Verhältnis der periphrastischen Passivkonstruktionen zu den passivierbaren Kontexten bleibt in allen drei Chroniken relativ ähnlich zwischen 10 und 16%: In Villehardouin beträgt der Anteil 13,8% (101/ 729), in Froissart 16% (94/ 574) und in Rémond 10,5% (125/ 1195). Eine klare Tendenz in eine Richtung lässt sich nicht ausmachen. Für alle Arten der verwendeten passivischen Konstruktionen werden im Folgenden Beispiele aus den drei französischen Chroniken, sofern vorhanden, gegeben 135 : (19) Beispiele für periphrastische Passivkonstruktionen: a. Toutes les paroles qui furent dites et retraites ne vous puis je pas raconter. (Villehardouin S. 5, Abschnitt 020) b. En ce consel, furent les lettres escriptes et seelees, et chil esleu, qui feroient le message, et convenoit bien que tout ce fust tenu en secré; il le fu. (Froissart, Abschnitt VI „Les Londoniens rappellent Isabelle et son fils“) c. […] l’état de siège, instauré aux premiers jours de la guerre, sera maintenu presque une année entière, jusqu’au 12 octobre 1919. (Rémond, Kap. 1, S. 41) 135 In den Beispielen werden nur die relevanten Passagen verwendet und alle Schreibweisen, die die jeweiligen Editionen verwenden, genau wiedergegeben. <?page no="240"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 240 (20) Beispiele für andere passivische Konstruktionen (Infinitive und absolute Konstruktionen): a. Ces lettres escriptes et seelees, messires Hues li Espensiers, qui avoit escript ensi comme il voloit, [...] (Froissart Abschnitt III „Faveur de Spencer auprès d’Edouard II. Fuite d’Isabelle“) b. […] placée sous mandat de la Société des Nations, la Sarre choisirait en 1935 par plébiscite entre trois solutions […] (Rémond, Kap. 1, S. 43) c. S’il est sans ambiguïté, sa signification n’est pas aisée à déchiffrer. (Rémond, Kap. 1, S. 53) Im Folgenden werden nun - wie für die anderen beiden Sprachen - die einzelnen Konstruktionen (finite Haupt- und Nebensätze, Infinitive und Gerundien) hinsichtlich der Verteilung der passivierbaren Kontexte und tatsächlich vorkommenden Passiv-konstruktionen sowie der verwendeten Auxiliare und ihrer jeweiligen Interpretation verglichen (Abb. 10 für passivierbare Kontexte, Abb. 11 für realisierte Passivkonstruktionen): 0 20 40 60 80 100 Villehard. (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) Anteile der unterschiedl. Konstruktionen an den passivierbaren Kontexten in den drei frz. Chroniken HS fin NS fin Infinitive Gerundien Abb. 5.10: Finite und nicht finite Konstruktionen in den passivierbaren Kontexten der drei französischen Chroniken Abbildung 10 zeigt, dass im Vergleich der drei Chroniken die Anzahl der passivierbaren finiten Hauptsätze gleich bleibt (bei 40%), während passivierbare Nebensätze abnehmen und passivierbare Infinitive zunehmen. Gerundien werden überhaupt erst in den beiden jüngeren Chroniken verwendet, und die passivierbaren hierunter bilden mit ca. 1 und 5% nur einen sehr geringen Anteil der passivierbaren Kontexte. <?page no="241"?> Analyse der französischen Daten 241 0 20 40 60 80 100 Villehard. (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) Verteilung der realisierten periphrastischen Passivkonstruktionen auf die Konstruktionstypen in den drei frz. Chroniken HS fin NS fin Infinitive Gerundien Abb. 5.11: Periphrastische Passivkonstruktionen in finiten und infiniten Konstruktionen der drei französischen Chroniken Bei den realisierten periphrastischen Passivkonstruktionen nehmen die finiten Hauptsätze erkennbar um fast 20% von Villehardouin zu Rémond zu, während die passivierten Nebensätze um die gleiche Rate abnehmen - letztere Tendenz zeigte sich bereits bei den passivierbaren Kontexten. Infinitive werden in den beiden mittelalterlichen Chroniken mit unter 5% deutlich seltener passiviert als in Rémond (knapp 10%), was die oben geschilderte generelle Zunahme von passivierbaren Infinitiven reflektiert. Neu in Rémond ist der - wenn auch geringe - Anteil passivierter Gerundien. Im nächsten Schritt wird die Verwendung von Passivauxiliaren in den drei französischen Chroniken untersucht. Abbildung 12 zeigt, dass être in den mittelalterlichen Chroniken als einziges Passivauxiliar verwendet wird und auch in Rémond mit knapp 97% das Standardpassivauxiliar zu sein scheint. Die wenigen „anderen“ Verben, die als Auxiliare in Rémond verwendet werden, sind rester, demeurer und sortir, mithin Verben, die auch heute noch als Vollverben fungieren. <?page no="242"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 242 0 20 40 60 80 100 Villehard. (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) Verteilung der Verwendung der Passivauxiliare être u. a. in den drei frz. Chroniken être andere Aux. Abb. 5.12: Verwendung der Passivauxiliare in den drei französischen Chroniken Schließlich wird hier - wie bei der Darstellung der spanischen und italienischen Passivkonstruktionen - die Interpretationsverteilung selbst vorgestellt, die von Abbildung 13 illustriert wird: 0 20 40 60 80 100 Villehard. (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) Verteilung der Verwendung von periphrast. Passivkonstruktionen in Vorgangs- und Zustandsinterpretation in den drei frz. Chroniken Vorgangsint. Zustandsint. Abb. 5.13: Interpretation der periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei französischen Chroniken <?page no="243"?> Analyse der französischen Daten 243 Aus Abbildung 13 lässt sich keine deutliche Tendenz ablesen, vielmehr weisen die drei historiographischen Schriften sehr unterschiedliche Verwendungsverteilungen auf, die eher mit dem erzählten Inhalt zusammenhängen dürften: So werden in der Conquête de Constantinoble (Villehardouin) vorrangig Vorgänge geschildert, während in den beiden anderen Werken mehr Hintergrundinformationen und damit auch Zustände einfließen. Fasst man die bisherigen Ergebnisse für das Französische zusammen, so lässt sich im Hinblick auf die Hypothesen (vgl. Kapitel 1.1 und 5.1) Folgendes feststellen: 1. Der prozentuale Anteil von periphrastischen Passivkonstruktionen bleibt in den Chroniken der drei Epochen sehr ähnlich (10-16%), während andere passivische Konstruktionen (d.h. hier keine passivischen se, sondern nur eine Infinitivkonstruktion und wenige absolute Konstruktionen) eine marginale Rolle spielen. 2. In den untersuchten Chronikenlässt sich eine Verschiebung bei den passivier-aren Kontexten und den tatsächlich passivierten Kontexten dahingehend fest-stellen, dass finite Nebensätze abnehmen und Infinitive zunehmen. Passivierte Gerundien finden sich nur im zeitgenössischen Werk von Rémond. Bei den verwendeten Passivauxiliaren lässt sich nur eine marginale Veränderung dahingehend feststellen, dass être bei Rémond nicht mehr ausschließlich, aber mit 97% doch in den meisten Kontexten verwendet wird. Die anderen als Auxiliare verwendete Verben werden v.a. bei Zustandspassiven verwendet (demeurer und rester), so dass sich auch hier - wie in den anderen beiden Sprachen - eine Aufteilung dieser Interpretation von Passivkonstruktionen ergibt, während être (mit der Ausnahme einer einzigen Konstruktion mit sortir) praktisch allein die Vorgangspassive und den größten Teil der Zustandspassive abdeckt. Die Ergebnisse sprechen also insgesamt gegen einen Wandel in den Passivkonstruktionen des Französischen im Sinne der abgeschwächten Hypothese von Abraham (vgl. Kapitel 1.1). Es wird vielmehr deutlich, dass die französischen Passivkonstruktionen bereits früh auf wenige Auxiliare eingeschränkt waren - sogenannte „Semiauxiliare“ treten sehr spät und in sehr kleiner Anzahl hinzu, wobei die Verben rester, demeurer und sortir auch weiterhin als Vollverben verwendet werden. Die Ergebnisse unterstützen somit tendenziell, aber auch nicht zwingend, die für die Datenlage im Spanischen getroffene Feststellung, dass unakkusative Verben eher „lexikalisierte Passive“ sein dürften. Auf die sonstigen Konstruktionen, die im Französischen eine geringere Rolle spielen als im Spanischen, wird nicht weiter eingegangen, sondern es folgt unmittelbar die qualitative Analyse der verwendeten passivierten und unakkusativen französischen Verben. <?page no="244"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 244 5.5.3 Die qualitative Analyse der französischen Chroniken (Teil B) In der folgenden Tabelle 26 werden für das Französische alle diejenigen Verbtypen (und -token) aufgeführt, die in den drei Chroniken in periphrastischen Passivkonstruktionen mehr als einmal verwendet wurden. In der Chronik des 20. Jahrhunderts gibt es insgesamt 98 Verbtypen bei 125 Verbtoken (0,78: 1). Hingegen weist die Chronik des 13. Jahrhunderts 59 Verbtypen in 101 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, mithin eine type/ token-Relation von 0,58: 1. In der Chronik des 14. Jahrhunderts treten 60 Verbtypen in 94 periphrastischen Passivkonstruktionen auf, so dass sich eine type/ token-Relation von 0,64: 1 ergibt. 136 . Es lässt sich hier festhalten, dass die mittelalterlichen Chroniken hinsichtlich der passivierten Verben eine geringere Bandbreite aufweisen als die des 20. Jahrhunderts, was sich jedoch auch auf die Inhalte zurückführen lässt. Ferner zeigt Tabelle 26, dass nur wenig Überschneidung zwischen den passivierten Verben der drei Chroniken besteht - insgesamt 9 Verben (also etwa die doppelte Menge im Vergleich zum Spanischen und Italienischen, wo es jeweils vier Verben sind) werden in zwei der drei Chroniken häufiger als einmal passiviert, die relativ häufige Passivierung von faire ist allen drei Chroniken gemeinsam. Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) acorder (2) admettre (2) apeler (3) appeller (2) apporter (2) arracher (2) arrêter (2) asambler (2) 137 attacher (2) atorner (2) blasmer (4) chargier (2) carger (2) commander (2) confier (2) considérer (2) croisier (2) 138 descomfire (2) deviser (5) dire (3) dire (4) donner (2) escrire (3) écrire (2) 136 Eine vollständige Liste aller passivierten französischen Verben befindet sich im Anhang. 137 Heute assembler 138 Bedeutung = „bekreuzen“, d.h. das Kreuz erhalten/ nehmen (Kreuzzugsbeginn) <?page no="245"?> Analyse der französischen Daten 245 Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) élire (2) enfo(u)rmer (4) enterrer (2) envoier (3) envoier (3) fere (11) faire (3) faire (2) garder (3) hébergier (2) honorer (2) laisser (2) logier (2) maintenir (3) marier (4) mettre (2) modifier (2) négliger (2) nonmer (2) ordonner (3) otroier (2) paier (2) perdre (2) préparer (2) prolonger (2) prendre (3) prendre (3) prendre (3) recevoir (2) réduire (2) rendre (2) rendre (2) représenter (4) rétablir (3) savoir (4) tenir (3) tenir (3) tuer (2) voir (2) Tabelle 5.26: Vergleich der Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei französischen Chroniken Im Folgenden werden nun die in der Tabelle 26 aufgeführten Verben nach ihren semantischen Komponenten untersucht. Dabei werden die Verben nach den Kombinationen ihrer Unterereignisse dargestellt. Es gelten folgende Unterscheidungen: Zustand = neu eingerichteter Zustand vs. Zustandsveränderung = Veränderung eines vorherigen Zustands; Lokation = Ort, an dem ein Ereignis stattfindet vs. Ortswechsel des Objekts; Resultat = neu erzieltes Ergebnis (Zustand, Produkt) vs. Zustands- oder Ortswechsel infolge des Gesamtereignisses. Um die Verben aus den drei unterschiedlichen Chroniken unterscheiden zu können, werden diejenigen aus der Chronik des 13. Jahrhunderts <?page no="246"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 246 fett markiert, diejenigen aus der Chronik des 14. Jahrhunderts kursiv markiert und diejenigen aus der modernen Chronik nicht weiter markiert. Kursiv und fett markiert werden die Verben, die in beiden mittelalterlichen Chroniken mehrfach passiviert werden, kursiv markiert. In der Aufstellung wird - sofern bekannt - die moderne französische Schreibweise verwendet: Prozess + Resultat (neues Produkt, Zustand) atorner, croisier, descomfir, deviser, dire, enfo(u)rmer, enterrer, écrire, élire, faire, honorer, laisser, marier, nommer, préparer, rétablir, tenir, tuer Prozess + Zustandswechsel charger, modifier, prolonger, réduire Prozess + Ortswechsel apporter, perdre, prendre Prozess + Lokation assembler, garder, héberger, loger, mettre Prozess + Transfer acorder, arracher, confier, donner, envoyer, otroyer, payer, recevoir, rendre Prozess + Perzeption appeler, commander, ordonner Zustand + Perzeption blâmer, considérer, négliger Zustand + Resultat savoir, admettre, représenter Zustand + psych. Eigenschaft Attacher Tabelle 5.27: Analyse der passivierten Verben in den drei französischen Chroniken nach Unterereignissen Tabelle 27 zeigt zwei Kategorien, in denen ausschließlich passivierte Verben der mittelalterlichen Chroniken vorkommen (Prozess + Perzeption sowie Prozess + Lokation). Eine Konzentration der passivierten Verben dieser Chroniken findet sich ebenfalls in der Prozess + Resultat-Kategorie, die jedoch in allen drei Sprachen die meisten Verbtypen umfasst. Deutlich wird ferner, dass im Französischen sehr viele dreiwertige Verben passiviert wurden. Insgesamt wird deutlich, dass auch in den mittelalterlichen Chroniken, wenngleich deutlich weniger, Verben mit einer Zustands-Komponente (anstelle der Prozess-Komponente) passiviert wurden. Ein deutlicher Wandel ist hier nicht zu erkennen. Im Folgenden soll auf wiederum auf Aspekte eingegangen werden, die die Tabellen 26 und 27 nicht zeigen können, nämlich die Kombinationen von zwei passivierten Verben mit einem Auxiliar, die im Französischen relativ häufig und vielfältiger als in den spanischen und italienischen Chroniken vorkommen. In den Kombinationen passivierter Verben lassen sich folgende Muster ausmachen, die auch zeigen, dass solche Konstruktionen wesentlich häufiger in den mittelalterlichen Chroniken vorkommen als in Rémond 139 und auch wesentlich häufiger als in den spanischen und italienischen mittelalterlichen Chroniken: 139 Hier wird die originale Schreibweise der jeweiligen Chronik verwendet. Erläuterungen dazu finden sich bei der vollständigen Tabelle aller passivierten Verben im Anhang der Arbeit. <?page no="247"?> Analyse der französischen Daten 247 (21) Villehardouin: dire + retraire, fere + diviser, fere + seeller, escrire + eslire, honorer + servir, haucier + abessir, fere + otroier, baillir + mettre, otroier + jurer, mourir + descomfir (22) Froissart: descomfire + mettre, briser + rompre, mener + gouverner, écrire + seeleer, adréchier + conforter + conseiller, faire + nourrir, carger + ensonnier, segnefier + ordonner, conforter + adréchier, commander + ordonner, arester + tenir, prendre + perdre, dire + compter, écrire + mander (23) Rémond: rétablir + sauver Hierbei zeigen sich wieder systematische semantische Beziehungen zwischen den in einer derartigen Konstruktion kombinierten Verben, wobei sich alle für das Spanische und/ oder Italienische festgestellten Relationen hier gemeinsam wiederfinden: a) ähnliche Bedeutung (gegenseitige Verstärkung): z.B. conforter + adréchier (+ conseiller), commander + ordonner, briser + rompre, arester + tenir, mener + gouverner b) konsekutiv: z.B. écrire + seller, écrire + mander, otroier + jurer, prendre + perdre c) Ergänzung/ Spezifikation: z.B. faire + diviser/ seller/ nourrir/ otroier d) Gegensatz/ Konverse: haucier + abessir Schließlich wird die Verwendung von unakkusativen Verben in den drei französischen Chroniken untersucht. Dabei lassen sich wieder die vier Untergruppen nachweisen: Bewegungsverben (Tabelle 28), Zustandswechselverben (Tabelle 29) sowie weitere Verben, bei denen die Verben der Erscheinung und Existenz dominieren (vgl. Tabelle 30a). Es werden aber auch, wenngleich sehr selten, psychologische Verben verwendet (vgl. Tabelle 30b). Als Verbtypen werden alle vorkommenden unakkusativen Verben mit reflexiven Varianten gezählt. Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) accéder (2) accourir (1) aler (39) aler (5) aller (4) aprocher (1) approcher (1) ariver (3) ariver (5) arriver (1) atteindre (1) dépasser (3) descendre (8) descendre (6) descendre (1) en aller (1) entrer (6) entrer (9) entrer (7) glisser (vers) (3) issir (3) 140 issir (10) monter (1) monter (3) partir (8) partir (2) partir (2) passer (4) passer (1) passer (11) 140 Heute = sortir (in der Bewegungsinterpretation; ansonsten résulter) <?page no="248"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 248 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) procéder (2) rebondir (5) réceler (1) recourir (3) reculer (1) remonter (1) rentrer (1) rentrer (3) rentrer (1) repartir (1) répérer (2) 141 ressortir (1) retourner (1) retourner (5) revenir (4) revenir (2) revenir (11) S’approcher (1) s’en aler (17) s’en aler (2) s’en revenir (1) se departir (12) se departir (15) se déplacer (1) se lever (1) se lever (1) se partir (2) se tourner (3) sortir (11) tomber (2) to(u)rner (2) tourner (1) venir (43) venir (76) venir (24) ∑ Verbtyp (token) 21 (162) 15 (145) 29 (105) Tabelle 5.28: Unakkusative (telische) Bewegungsverben Tabelle 28 weist die höchste Type-Anzahl für Rémond aus, aber die meisten Typen von Bewegungsverben für Villehardouin. Beide mittelalterlichen Chroniken weisen mit Typ-Token-Ratios von 0,13: 1 bzw. 0,10: 1 eine große Ähnlichkeit auf, während diejenige von Rémond mit 0,28: 1 ein deutlich besseres Verhältniso und damit eine größere Bandbreite von unakkusativen Ausdrücken für Bewegung (sowohl physisch als auch metaphorisch zu verstehen) zeigt. Dabei verwendet Rémond aber auch einen Großteil der in den mittelalterlichen Chroniken üblichen Bewegungsverben, so dass hinsichtlich der Verbtypen eine deutliche Ähnlichkeit der drei französischen Chroniken besteht. 141 Bedeutet revenir. <?page no="249"?> Analyse der französischen Daten 249 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) accroître (1) acquiescer (1) croitre (1) évoluer (1) garir (1) 142 grandir (1) s’alourdir (1) s’améliorer (2) s’amplifier (1) s’effondrer (1) se rafresquir (3) s’éterniser (1) ∑ Verbtyp (token) 2 (2) 1 (1) 9 (10) Tabelle 5.29: Unakkusative Zustandswechselverben Verben, die einen Zustandswechsel ausdrücken, sind in den mittelalterlichen Chroniken marginal und mit neun Verbtypen in dem modernen Geschichtswerk von Rémond auch vergleichsweise selten, was sich mit dem jeweils erzählten Inhalt erklären lässt. Letzteres gilt auch für die unakkusativen Verben, die eine (plötzliche) Erscheinung und Existenz ausdrücken, wie die nachfolgende Tabelle 30a zeigt. Sie spielen in den mittelalterlichen Chroniken eine marginale Rolle, werden hingegen in Rémond recht häufig und vielseitig verwendet (Type-token-Ratio: 0,52: 1), der in den analysierten Kapiteln die Neuorganisation des politischen und wirtschaftlichen Lebens in Frankreich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schildert. 142 Heute guérir <?page no="250"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 250 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) aboutir (1) achever (1) apparaître (4) avenir (8) avenir (4) advenir (1) cesser (1) comencer (2) commencer (4) commencer (1) culminer (2) déboucher (1) débuter (2) découler (1) devenir (1) devenir (8) démarrer (1) émerger (1) exister (1) finir (3) finir (1) morir (9) mourir (5) mourir (4) naître (2) paraître (1) redevenir (1) résulter (1) resurgir (2) revivre (1) S’achever (1) se succéder (1) subir (4) subvenir (1) succéder (5) succomber (2) surgir (1) survivre (2) trespasser (1) vivre (3) vivre (3) vivre (3) ∑ Verbtyp (token) 5 (25) 7 (19) 30 (58) Tabelle 5.30a: Andere unakkusative Verben, v.a. Verben der (plötzlichen) Existenz und Erscheinung, außerdem andere inhärent perfektive/ telische Verben <?page no="251"?> Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse 251 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) esbahir (1) esmerveiller (1) plaire (1) plaire (1) resjouir (6) s’en éjouir (1) 143 s’esmaier (1) 144 s’esmerveiller (1) souffrir (2) ∑ Verbtyp (token) 4 (4) 4 (9) 1 (2) Tabelle 5.30b: Andere unakkusative Verben - psychologische Verben Psychologische unakkusative Verben werden in allen drei französischen Chroniken nur sehr selten verwendet, am meisten noch bei Froissart, wobei dies erneut mit dem erzählten Inhalt erklärt werden kann (es werden nicht nur die Ränke und Waffengänge geschildert, sondern auch die Gemütszustände der beteiligten Personen, v.a. der Königin Isabelle im französischen Exil, erwähnt). Addiert man die Verbtyp- und -token-Anzahlen aus den vier Tabellen, ergeben sich für die drei französischen Chroniken die folgenden Gesamtergebnisse für die Verwendung unakkusativer Verben: (24) Villehardouin: 32 types, 193 token Froissart: 27 types, 174 token Rémond: 69 types, 175 token Insgesamt zeigt die Analyse der unakkusativen Verben in den französischen Chroniken einen leichten Rückgang der Tokenanzahl von der ersten Chronik (13. Jahrhundert) zu den späteren. Dafür verdoppelt sich die Anzahl der verwendeten Verbtypen insgesamt, was jedoch nicht zwingend auf einen Sprachwandel zurückzuführen ist, sondern auch mit dem Stil und der umfangreicheren und detailgenaueren Analyse der erzählten Ereignisse und ihrer politischen und sonstigen Hintergründe erklärt werden kann. 5.6 Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse Dieser Abschnitt dient der Zusammenfassung der Ergebnisse der Analysen der Chroniken in den drei Sprachen. 143 Heute se réjouir. 144 Heute s’effrayer. <?page no="252"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 252 Bevor dies geschieht, ist ein Vergleich über die einzelne Sprache hinaus von Interesse, so dass im folgenden Abschnitt (5.6.1) ein Vergleich nach Epochen vorgenommen wird, und diese Ergebnisse dann in das Gesamtergebnis in 5.6.2 einfließen. In Abschnitt 5.6.3 werden die Ergebnisse dieser Untersuchung in einigen Punkten mit denen der in Kapitel 4 vorgestellten diachronen Untersuchungen verglichen. 5.6.1 Sprachübergreifender Vergleich in den einzelnen Epochen In den drei Epochen-Vergleichen (12./ 13. Jahrhundert, 14./ 16. Jahrhundert, 20. Jahrhundert) werden jeweils diejenigen Merkmale verglichen, die relevant für die in 5.1 aufgeführten Hypothesen sind, d.h. die Verwendung von periphrastischen und anderen Passivkonstruktionen in Relation zu den passivierbaren Kontexten (Gesamtzahl) sowie die Verwendung des allen Sprachen gemeinsamen Passivauxiliars ser/ essere/ être im Verhältnis zu allen anderen Auxiliaren. Im ersten Schritt werden nun die insgesamt vorkommenden passivisch zu interpretierenden Konstruktionen einander gegenübergestellt. Die Abbildungen 14, 15 und 16 veranschaulichen den prozentual basierten Vergleich der Verwendung von periphrastischen, absoluten und infinitiven Passivkonstruktionen sowie passivischem se/ se in den drei Epochen. 0 20 40 60 80 100 Est. Esp. An. Pis. Villehardouin Vorkommen passivischer Konstruktionen in den Chroniken des 12./ 13. Jh. (%) (sp.: Est.Esp./ it.: An.Pis./ frz.: Villehard.) per. Pass. se/ si pass. absol. Konstr. Inf .-Konstr. Abb. 5.14: Passivische Konstruktionen in den Chroniken des 12./ 13.Jh. <?page no="253"?> Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse 253 0 20 40 60 80 100 CGuill. Storia d.'It. Froissart Vorkommen pass. Konstruktionen in den Chroniken des 14./ 16. Jh. (%) (sp.: CGuill/ it. Storia d'It./ frz.: Froissart) per. Pass. se/ si pass. absol. Konstr. Inf.-Konstr. Abb. 5.15: Passivische Konstruktionen in den Chroniken des 14./ 16.Jh. 0 20 40 60 80 100 BHE C.R.I. Rémond Vorkommen pass. Konstruktionen in den Chroniken des 20. Jh. (%) (sp.: BHE/ it.: C.R.I./ frz.: Rémond) per. Pass. se/ si pass. absol. Konstr. Inf.-Konstr. Abb. 5.16: Passivische Konstruktionen in den Chroniken des 20. Jh. Die Abbildungen 14 bis 16 zeigen deutlich, wie sich die passivisch zu interpretierenden Konstruktionen im Spanischen über die drei Epochen ausdifferenzieren und dabei die periphrastischen Konstruktionen um etwa die Hälfte von ca. 90% auf ca. 40% abnehmen. Hingegen bleiben die Verhältnisse im Italienischen praktisch völlig und im Französischen weitgehend konstant. Im nächsten Schritt werden die prozentualen Anteile der jeweils realisierten periphrastischen Passivkonstruktionen an den passivierbaren Kontexten in den drei Epochen verglichen, wie von den Abbildungen 17 bis 19 veranschaulicht. <?page no="254"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 254 0 10 20 30 40 50 Est. Esp. An. Pis. Villehardouin Vergleich des proz. Anteils periphr. Passive an den pass. Kontexten in den Chroniken des 12./ 13. Jh. (sp.: Est.Esp./ it.: An.Pis./ frz.: Villehard.) % Anteil Pass./ Kontexte Abb. 5.17: Periphrastische Passive in den passivierbaren Kontexten der Chroniken des 12./ 13. Jh. 0 10 20 30 40 50 CGuill Storia d'It. Froissart Vergleich des proz. Anteils periphr. Passive an den pass. Kontexten in den Chroniken des 14./ 16. Jh. (sp.: CGuill/ it.: Storia d'it./ frz.: Froissart) % Anteil Pass./ Kontexte Abb. 5.18: Periphrastische Passive in den passivierbaren Kontexten der Chroniken des 14./ 16. Jh. <?page no="255"?> Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse 255 0 10 20 30 40 50 BHE C.R.I. Rémond Vergleich des proz. Anteils periphr. Passive an den pass. Kontexten in den Chroniken des 20. Jh. (sp.: BHE/ it.: C.R.I./ frz.: Rémond) % Anteil Pass./ Kontexte Abb. 5.19: Periphrastische Passive in den passivierbaren Kontexten der Chroniken des 20. Jh. In den Abbildungen 17 bis 19 wird erneut deutlich, dass die beschriebene Abnahme im Spanischen und die Konstanz im Französischen und Italienischen nur für die periphrastischen Passivkonstruktionen (von den insgesamt vier Arten passivischer Konstruktionen in den Abbildungen davor) gilt. Im dritten und letzten Teil des Epochenvergleichs wird die Verwendung des wichtigsten Passivauxiliars, d.h. span. ser/ ital. essere und frz. être, im Verhältnis zu den anderen verwendeten Auxiliaren in den drei Epochen verglichen (Abbildungen 20 bis 22). 0 20 40 60 80 100 Est. Esp. An. Pis. Villehardouin Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 12./ 13. Jh. (%) (sp.: Est.Esp./ it.: An.Pis./ frz.: Villehard.) ser/ essere/ être and. Pass.-Aux. Abb. 5.20: Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 12./ 13. Jh. <?page no="256"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 256 0 20 40 60 80 100 CGuill Storia d'It. Froissart Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 14./ 16. Jh. (sp.: CGuill/ it.: Storia d'it./ frz.: Froissart) ser/ essere/ être and. Pass.-Aux. Abb. 5.21: Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 14./ 16. Jh. 0 20 40 60 80 100 BHE C.R.I. Rémond Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 20. Jh. (sp.: BHE/ it.: C.R.I./ frz.: Rémond) ser/ essere/ être and. Pass.-Aux. Abb. 5.22: Verwendung des Passivauxiliars ser/ essere/ être in den Chroniken des 20. Jh. Die Abbildungen 20 bis 22 veranschaulichen einen in den drei Sprachen zeitversetzten Prozess, in dem das für die Passivierung wichtigste Auxiliar stückweise Anteile an andere (Semi-)Auxiliare abzugeben scheint. Dabei ist zu betonen, dass die als sogenannte Semi-Auxiliare verwendeten Verben (im Span. z.B. estar, quedar; im Ital. venire, andare und restare; im Frz. rester und demeurer) stets auch selbständig in anderen Funktionen verwendet wurden und werden und daher nicht so stark Auxiliar-Charakter haben wie ser/ essere/ être. Während im 12./ 13. Jahrhundert nur im Spanischen eine solche Aufteilung beginnt, ergibt sich das gleiche Bild für das Italienische eine Epoche später und für das Französische sogar erst in dem historiographischen Werk von <?page no="257"?> Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse 257 Rémond im 20. Jahrhundert. Die Aufteilung der spanischen Passivauxiliare des 16. Jahrhunderts reflektiert sich in der italienischen Chronik des 20. Jahrhunderts. In den Abschnitten 5.3 bis 5.5 wurde für jede Sprache einzeln herausgearbeitet, inwieweit bestimmte Ergebnisse auf Sprachwandel oder auf den jeweils erzählten Inhalt und den Stil des einzelnen Werks zurückzuführen sind. Die Wahl der Auxiliare kann hier sicher nicht als Erzähl- oder Stilmerkmal abgetan werden und ist insofern ein deutliches Anzeichen für Sprachwandel. 5.6.2 Vergleich der Entwicklung in den drei Sprachen In diesem Abschnitt werden noch einmal die wesentlichen Ergebnisse im Hinblick auf die Hypothesen am Anfang des Kapitels zusammengefasst, die für die drei Sprachen und die drei Epochen anhand von ausgewählten Ausschnitten aus historiographischen Werken ermittelt wurden. Als deutliche Veränderungen in der Sprachverwendung über die Zeit konnten folgende Veränderungen ermittelt werden: 1. Es erfolgt eine zeitversetzte Hinzunahme anderer Verben (als ser und estar) als (Semi-)Passivauxiliare in allen drei Sprachen, beginnend im Spanischen spätestens des 13. Jahrhunderts (vs. Beginn im Italienischen spätestens des 16. und Französischen spätestens des 20. Jahrhunderts). 2. Im Spanischen lässt sich eine Veränderung bei der Verwendung verschiedener passivischer Konstruktionen, eine deutliche Abnahme von periphrastischen Passivkonstruktionen zugunsten von se-Passiven und sogar noch stärker absoluten Konstruktionen (20. Jh.) erkennen, während Italienisch in dieser Hinsicht ganz bzw. Französisch weitgehend konstant bleiben 3. Die qualitative Analyse der an den periphrastischen Passivkonstruktionen beteiligten Verben ergibt keinen Hinweis auf Sprachwandel: In allen Epochen lassen sich in den drei Sprachen Verben mit und ohne Prozess-Unterereignis passivieren. Die type/ token-Relationen geben keinen Hinweis auf eine Verengung, sondern eher auf eine Erweiterung des Repertoires, das aber nur teilweise (v.a. im Italienischen) von den erzählten Inhalten gelöst werden kann; das Gleiche gilt für die Analyse der verwendeten unakkusativen Verben. Insgesamt finden sich keine Belege für die abgeschwächte Hypothese von Abraham (vgl. Kapitel 1.1): Die romanischen Sprachen in den untersuchten Epochen weisen keine aspektuell bedingten Wandelprozesse im Bereich des Passivs auf. Die angenommene Entwicklung hin zur Grammatikalisierung, wie er sie für das Althochdeutsche skizziert (vgl. Kapitel 1), ist nach den Studien in Kapitel 4 teilweise schon in spätlateinischer Zeit erfolgt. Gleichzeitig sehen einige Autoren aber auch eine Tendenz zur Intransitivierung ehemals transitiver lateinischer Verben, die für die Annahme „unakkusative Verben sind lexikalisierte Passive“ sprechen würde. Für diese Entwicklungsrichtung (vom Passiv hin zu unakkusativen Verben) konnten in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls keine eindeutigen Belege gefunden: Die Analyse der spanischen intransitiven Verben und ihrer unterschiedlichen Bedeutungen (Polysemien) in <?page no="258"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 258 Kapitel 5.3 ergab, dass die meisten Polysemien, die im Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit bereits bestanden, auch in späteren Epochen bis hin zur Gegenwart bestehen blieben. Eine klare Tendenz zu weiterer Intransitivierung von transitiven Verwendungen logisch polysemer Verben ist in den untersuchten Epochen nicht erkennbar. Der dort beobachtete Bedeutungswandel spiegelt vor allem eine Ausdehnung von Bedeutungen wider, die in Kapitel 6 im Modell des Generativen Lexikons modelliert werden wird. Bedeutungserweiterung (um aspektuelle Lesarten, s.u.) hat auch dazu geführt, dass zunehmend weitere Verben als die ursprünglichen Passivauxiliare ser/ essere/ être sukzessiv in den späteren Epochen hinzugenommen wurden: Diese Verben, die heute noch als Vollverben verwendbar sind, wurden ebenfalls polysem. Auf die semantischen und syntaktischen Konsequenzen dieses beobachteten Wandels wird in Kapitel 6 genauer eingegangen. Bevor im nächsten Abschnitt einige Ergebnisse dieser Studie mit denen der Studien aus Kapitel 4 verglichen werden, sei noch auf die Tatsache eingegangen, dass sich das Spanische offensichtlich deutlich anders entwickelt hat als das Italienische und Französische. Vor dem Hintergrund, dass alle drei Sprachen nicht nur die spätlateinische Basis teilen, sondern auch jeweils periphrastische Passivkonstruktionen und u.a. passivische Konstruktionen mit einem mehr oder weniger stark polysemen Pronomen si/ se entwickelt haben, ist dies zunächst unerwartet und fordert eine zumindest tentative Erklärung gleich an dieser Stelle heraus. In der Darstellung der grammatischen Eigenschaften der spanischen Passivkonstruktionen in Kapitel 3 wurde bereits deutlich, dass das Spanische die periphrastischen Passivkonstruktionen stärker mit aspektuellen Restriktionen belegt hat als das se-Passiv, genau andersherum als die beiden anderen Sprachen (vgl. die Tabelle in Kapitel 3.2.5). Dies muss mit der Entwicklung des Auxiliarsystems im Spanischen, das sich mit der Reduktion der diathetischen Eigenschaft auf ser und dem Ausdruck von Temporalität im Aktiv ausschließlich durch aver, später haber (nach Ricós (1995) in Kapitel 4.3) zusammenhängen - also mit den Eigenschaften des Auxiliarsystems insgesamt, in denen sich das Spanische von den anderen beiden Sprachen grundlegend unterscheidet. Paradoxerweise hat die Herausbildung der zwei Passivauxiliare ser (ambig) und estar (eindeutige Zustands-/ Resultat-Lesart), mit denen im Spanischen periphrastische Vorgangs- und Zustandspassive sogar wesentlich klarer als im Französischen (nur être) unterschieden werden können, nicht dazu beigetragen, die Präferenz für se-Passive einzugrenzen, obwohl hiermit ein ohnehin schon polysemes Element weiter „belastet“ wird. Denkbar wäre auch, dass die spanische se-Passiv-Konstruktion deswegen bevorzugt wird, weil sie eindeutig verbales Passiv bezeichnet, während Konstruktionen mit ser und estar u.a. auch Kopula-Konstruktionen sowie adjektivisches Passiv ausdrücken, also ihrerseits ambig sind. Doch gilt dies prinzipiell auch für französische Konstruktionen mit être bzw. italienische mit essere. Es müssen also im Spanischen andere Merkmale der einzelnen Auxiliare den Ausschlag geben als in den beiden anderen Sprachen. Dabei ist estar mit seiner klaren aspektuellen Interpretation eine bevorzugte Option im Erstspracherwerb des Spanischen, wie erste Ergebnisse von Arnaus Gil (in Vorb.) <?page no="259"?> Zusammenfassung und Vergleich der einzelsprachlichen Ergebnisse 259 zeigen: monolingual spanische wie bilingual deutsch-spanische Kinder lassen estar in obligatorischen Kontexten deutlich weniger aus als ser in den jeweiligen Kontexten. Eine detailliertere Untersuchung des Italienischen, das ja mit dem ambigen essere und der Möglichkeit, durch die Verwendung von venire als Passivauxiliar auch unambig Vorgangspassive auszudrücken, über ähnliche Optionen wie das Spanische verfügt, und dennoch offensichtlich im Bereich des Passivs nicht die gleichen Präferenzen wie das Spanische aufweist, wäre hier aufschlussreich. Inbesondere der von Arnaus Gil geplante Vergleich des Erwerbs beider Auxiliarsysteme im Erwerbsprozess könnte hier weiteren Aufschluss bringen. 5.6.3 Vergleich der Ergebnisse dieser Studie mit vorherigen (Kapitel 4) Die Ergebnisse des vorliegenden Kapitels können nur in einigen Aspekten mit den in Kapitel 4.3 (Ricós (1995) zu Passivkonstruktionen) und 4.4 (Green (1982) zu spanischen Passiv-Semiauxiliaren) diskutierten Arbeiten verglichen werden, da alle Arbeiten leicht unterschiedliche Aspekte beleuchten und verschiedene Daten verwenden. Gemeinsam ist allen Arbeiten allerdings die Untersuchung der Estoria de Espanna/ Primera Chrónica General von Alfonso X für das 13. Jahrhundert. Ein Vergleich mit der rein qualitativ arbeitenden Studie von Larochette (1939) ist sehr schwierig, jedoch wurde eine Reihe von Verben, die er behandelt, im qualitativen Teil dieses Kapitels ebenfalls thematisiert. Ausgewählte Verben wurden im Hinblick auf ihr Bedeutungsspektrum genauer analysiert, wobei die seit langem bestehenden Polysemien zwischen Prozess- und Resultatsbedeutung ins Auge fallen. Die von Larochette für das Altspanische herausgearbeiteten Polysemien sind weitgehend bestehen geblieben, wenngleich der inchoative Aspekt dabei seltener ist als von Larochette dargestellt. Ricós (1995) untersucht für das Spanische u.a. die Häufigkeit der Agensrealisierungen mit por und stellt fest, dass diese bis zum 14. Jahrhundert sehr selten sind, da in dieser Epoche die Passivkonstruktion gerade dazu verwendet werde, den Urheber ungenannt zu lassen. Dies kann insoweit bestätigt werden, als dass in den hier untersuchten (und von Ricós gar nicht thematisierten) passivischen absoluten Konstruktionen die Realisierungen von por-Phrasen erst ab der Chronik des 16. Jahrhunderts (in Abhängigkeit vom Vorkommen der absoluten Konstruktionen) auftreten und ihre Frequenz erst im 20. Jahrhundert deutlich ansteigt. Eine Auswertung aller Agens-Realisierungen wurde hier nicht explizit vorgenommen, aber hier seien ergänzend zum Vergleich folgende Relationen angegeben, die den Zuwachs insgesamt bestätigen: Im hier ausgewerteten Teil der Chronik des 13. Jahrhunderts finden sich 12 por-Phrasen in 177 periphrastischen Passivkonstruktionen (6,8%), in den analysierten Teilen der Chronik des 16. Jahrhunderts ebenfalls 12 in 79 Passivkonstruktionen (15,2%) und in den untersuchten Abschnitten der Chronik des 20. Jahrhunderts 24 in 90 Konstruktionen (26,7%). Im übrigen kann die von Ricós festgestellte Zunahme der se-Passive ebenfalls bestätigt werden, wobei in der vorliegenden Arbeit die passivierbaren Kontexte zugrundegelegt wurden, während Ricós nur die Verhältnisse der beiden Passivkonstruktionen zueinander untersucht hat. <?page no="260"?> 5 Empirische diachrone Untersuchung 260 Im Hinblick auf den Vergleich mit Greens (1982) Studie zu den Semi-Auxiliaren kann eine Zunahme ihrer Verwendung bestätigt werden, wobei besonders solche verwendet wurden, die den Zustand ausdrücken (quedar(se), permanecer). Sie nehmen in den drei Chroniken so stark zu, dass in der Chronik des 20. Jahrhunderts sogar mehr Semiauxiliare als estar-Realisierungen vorkommen. <?page no="261"?> 6 Diskussion Die in Kapitel 5.6 zusammengefassten Ergebnisse der empirischen Untersuchung der aktuellen und historischen Chroniken haben bezüglich der Beziehung zwischen Passiv und Unakkusativität gezeigt, dass keine der beiden Herangehensweisen an die Daten zwingende Vorzüge gegenüber der anderen hat. Die beobachteten unterschiedlichen Frequenzen der Verwendung von periphrastischen Passivkonstruktionen und se/ si-Passiven in den untersuchten Epochen und Sprachen weisen gleichwohl Entwicklungen auf, die erklärungsbedürftig sind. Dabei ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass die Datenbasis mit je drei Zeitschnitten, zu denen je eine Chronik pro Sprache genauer untersucht wurde, natürlich nur begrenzte Aussagen erlauben. Ferner dürfen die Einflüsse von Inhalt und Schreibstil der untersuchten historiographischen Schriften nicht unterschätzt werden. In der Untersuchung der spanischen unakkusativen und transitiven Verben konnte ein Bedeutungswandel nachgewiesen werden, der jedoch nicht zu (weiterer) Intransitivierung von Verben geführt hat. Vielmehr wurden bestehende Polysemien ganz überwiegend beibehalten. Es fand bei den genauer untersuchten spanischen Verben vorrangig eine Ausdehnung der Bedeutungen und Verwendungen seit dem Mittelalter statt, die ihren grundlegenden syntaktischen Typ nicht verändert hat. Die auffälligsten Wandelprozesse haben sich in der Verwendung der Passivauxiliare gezeigt: Zum sehr früh als Passivauxiliar verwendeten ser/ essere/ être treten in den drei romanischen Sprachen sukzessive und zu verschiedenen Beobachtungszeitpunkten weitere, meist in ihrer Verwendung als Passivauxiliar auf eine bestimmte aspektuelle Lesart fokussierende Verben hinzu, die in der Literatur als Semi-Auxiliare bezeichnet werden, da sie auch weiterhin als Vollverben verwendet werden, somit nicht als vollständig grammatikalisiert gelten können. Mit den syntaktischen Folgen des beobachteten Bedeutungswandels der Auxiliare, auch für die Verwendung der verschiedenen passivischen Konstruktionen, beschäftigt sich Kapitel 6.1, das auch eine explizit auf die Syntax der Auxiliare bezogene minimalistische Analyse (Remberger 2006) vorstellt und auf die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bezieht. Ferner werden eine Reihe interessanter Fragen und Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Lexikon und Syntax erörtert und eine eine Sprachwandeltheorie erarbeitet, die den Bedeutungswandel modellieren kann. Hierfür wird die Generative Lexikontheorie fruchtbar gemacht. Im ersten Schritt werden die Einträge im generativen Lexikon für die spanischen Verben erarbeitet, für die in Kapitel 5.3 bereits Bedeutungen vorbereitend extrahiert wurden (Kapitel 6.2). Im dritten Unterkapitel wird dargestellt, wie eine Theorie des semantischen Wandels (im Sinne Longobardis einer der möglichen Auslöser für syntaktischen Wandel) auf Basis der Generativen Lexikontheorie aussehen könnte (Kapitel 6.3), wobei auch Überlegungen zur Ökonomie verschiedener lexikalischer Mechanismen angestellt werden. Im letzten Unterkapitel (6.4) werden die syntaktischen Konsequenzen der Vorschläge aus 6.3 näher betrachtet, da es hier darum geht darzustellen, wie die Schnittstelle von generativem Lexikon und generativer Syntax aussehen und wie ein syntaktisch relevanter Wandel vom Lexikon ausgehen könnte. <?page no="262"?> 6 Diskussion 262 6.1 Erklärung des beobachteten Wandels der Passivauxiliare Als Ausgangspunkt für die Erklärung des syntaktisch relevanten beobachteten Wandels der als Passivauxiliare (mit-)verwendeten Verben wird die bisher einzige im minimalistischen Theorierahmen erfolgte Analyse von Hilfsverben im Italienischen und Sardischen von Remberger (2006) herangezogen. Die zentrale Idee der (überwiegend) synchron angelegten Arbeit von Remberger ist, dass ein Grammatikalisierungsprozess stattgefunden hat, bei dem die Hilfsverben unterschiedlich viel von ihrer ursprünglichen Merkmalszusammensetzung als Vollverb beibehalten haben (vgl. die Ausführungen zur Hilfsverbhaftigkeit weiter unten). Die unterschiedlichen Merkmalszusammensetzungen werden synchron beschrieben und syntaktisch dahingehend modelliert, dass die betreffenden Verben je nach ihrer - als minimalistischer Lexikoneintrag dargestellten - Merkmalszusammensetzung in Übereinstimmung mit den Eigenschaften der funktionalen Kategorien vP 145 , TP und CP 146 an verschiedenen Kopfpositionen im Strukturbaum eingesetzt werden. Am Ende der syntaktischen Derivation (Spell-Out) stehen jedoch alle Hilfsverben in T°. Eine Basisgenerierung als Vollverb wird angenommen, wenn das entsprechende Hilfsverb (z.B. die Modalverben) nicht nur rein funktionale, sondern auch lexikalisch-semantische Merkmale trägt und eine eigene Argumentstruktur mit erkennbaren thematischen Rollen bzw. einen eigenen Subkategorisierungsrahmen besitzt (Remberger 2006: 291). Remberger (2006: 264) untersucht in den beiden romanischen Sprachen die folgenden Verben: das kopulative Hilfsverb SEIN 147 , das in Konstruktionen mit nicht-verbalem Prädikat auftritt die temporalen Hilfsverben HABEN und SEIN, wie sie zur Bildung der zusammengesetzen Zeiten benutzt werden die passivischen Hilfsverben die modalen Hilfsverben, die Restrukturierungsphänomene aufweisen aspektuelle Hilfsverben, wie sie in Gerundialkonstruktionen auftreten Ferner behandelt Remberger unterschiedliche Typen von si-Konstruktionen, insofern sie mit Hilfsverben zusammen auftreten. Dabei erfolgt keine Unifizierung (vgl. Kapitel 3.1.3). Im Folgenden werden die Typen nach dem Kriterium des Einfügungsortes in der syntaktischen Derivation vorgestellt, wobei kein Bezug auf ausschließlich für das Sardische relevante Hilfsverben genommen wird, da das Italienische für die vorliegende Arbeit im Vordergrund steht (vgl. Remberger 2006: 264): 145 Bei Remberger wird die vP als PrädikationsP (PrP) dargestellt, vgl. weiter unten. 146 Für Hilfsverben sind aber v.a. °v/ Pr° und T° relevant. 147 SEIN und HABEN dienen Remberger als Oberbegriff für die sprachspezifischen Äquivalente. <?page no="263"?> Erklärung des beobachteten Wandels der Passivauxiliare 263 1. Als V-Kopf innerhalb einer VP erscheinen die italienischen Restrukturierungsverben 2. Unter Pr° erscheinen die Hilfsverben HABEN und SEIN des Italienischen (und Sardischen gleichermaßen). Ferner kann die nicht echt passivische, aber unakkusativische Konstruktion gradueller Interpretation 148 mit andare + Partizip des Italienischen laut Remberger hier verortet werden. In den Gerundialkonstruktionen gelangt das italienische stare unter Pr° in die Konstruktion, wenn das Klitikum proklitisch vor der finiten Form des Hilfsverbs steht. 149 3. Unter T° erscheinen die Kopula SEIN des Italienischen und Sardischen sowie alle Hilfsverben in echt passivischen Hilfsverbkonstruktionen. In den Gerundialkonstruktionen gelangt im Italienischen stare unter T° in die Derivation, wenn das Klitikum enklitisch am Gerundium steht. 4. Es gibt in den behandelten beiden Sprachen kein Hilfsverb, das unter C° in die Derivation eingefügt wird. Bevor auf die diachrone Herleitung dieser Klassifikation durch Remberger sowie eine Reinterpretation im Rahmen der vorliegenden Arbeit genauer eingegangen wird, muss die zentrale Rolle, die Remberger (2006) der Pr(ädikations)P(hrase) zuschreibt, weiter ausgeführt werden, denn auch in der vorliegenden Arbeit wird dafür argumentiert, dass vP/ PrP diejenige funktionale Kategorie und Domäne ist, in der die syntaktischen Konsequenzen von Veränderungen der Lexikoneinträge erfolgen (vgl. 6.3 und 6.4). Nach Remberger (2006: 287 f.) ist die PrP eine der wichtigsten funktionalen Kategorien, die nicht nur die Argumentstruktur des syntaktischen Prädikats mitbestimmt, sondern auch eine implizite Ereignisposition für die durch das Prädikat kodierte Situation beinhaltet. Sie bildet insofern die Schnittstelle zwischen dem lexikalischen und dem funktionalen Komplex einer Derivation und ist nach Remberger prädestiniert für Hilfsverben, die sich auf einer Zwischenstufe zwischen lexikalischer und funktionaler Kategorie befinden. Remberger übernimmt die PrP von Bowers (1993, 2001), um auch unakkusative Prädikate integrieren zu können, wobei dies in den hier integrierten minimalistischen Ansätzen ohnehin schon für die vP angenommen wurde (vgl. Kapitel 2). Auf dieser Basis geht Remberger aber noch einen Schritt weiter: Aus einem allgemeinen Pr-Kopf leitet sie einzelsprachliche idiosynkratische spezialisierte Pr- Köpfe für verschiedene (z.B. intransitive, transitive, passivische, unakkusative) Prädikate ab und gibt eine Klassenhierarchie (mit Pr° als universale Mutterklasse, vgl. Remberger 2006: 288) an. So gibt Remberger für die hier besonders interessierenden unakkusativischen und passivischen Prädikate folgende Pr-Kopf-Spezifikationen an: 148 Hiermit ist die nicht-deontische Lesart intendiert: I risparmi andarono spesi per la casa (Remberger 2006: 187, Bsp. 6-19). 149 Remberger (2006: 218, 6-112) gibt folgendes Beispiel: Maria la sta mangiando (im Gegensatz zu Maria sta mangiandola) <?page no="264"?> 6 Diskussion 264 Unakusativische Prädikate haben einen Pr-Kopf mit einem T-Merkmal 150 , einem starken V- und einem starken D-Merkmal. Passivische Prädikate haben diese Merkmale sowie zusätzlich ein Nullmerkmal für Kasus. Remberger (2006: 180 f.) erklärt ihre Analyse der Hilfsverbkonstruktionen im Italienischen in Bezug auf die Merkmale wie folgt (wobei eine Fokussierung auf die für die vorliegende Arbeit relevanten Konstruktionen erfolgt): In den zusammengesetzten Zeiten des Italienischen gibt es Phänomene der Hilfsverbselektion, wobei diese von der Argumentstruktur der verbalen PrP abhängig sind. Nur ein starkes T-Merkmal in Pr° bewirkt das Erscheinen eines temporalen Hilfsverbs, das unter Pr° adjungiert wird. Hierbei muss ein mit der Merkmalsstruktur des jeweiligen Pr-Kopfes kompatibles Hilfsverb gewählt werden: Ein Pr° mit starkem D-Merkmal 151 führt zur Hilfsverbselektion von essere, ein Pr° mit einfachem D-Merkmal und Akkusativ bzw. ohne ein solches Merkmal führt zur Selektion von avere. Das hier besonders interessierende passivische Pr° ist wie das unakkusativische Pr° leer und zeichnet sich durch ein starkes D-Merkmal und ein nicht-vorhandenes Akkusativmerkmal aus. Remberger trennt aber passivisches und unakkusativisches Pr° deutlich: Passivkonstruktionen unterscheiden sich von unakkusativischen Verbkonstruktionen dadurch, dass sie ein implizites Subjekt haben, welches in einem arbiträren PRO besteht, das bei Bedarf durch Adjunktion einer PP kontrolliert und dadurch reaktiviert werden kann. Das passivische Pr° trägt daher im Gegensatz zum unakkusativischen ein mit PRO abzugleichendes Nullkasusmerkmal. Für die Hilfsverbselektion bei den Konstruktionen mit si stellt Remberger eine automatische Selektion fest, die sich aus der Merkmalszusammensetzung des klitischen Pronomens ergibt: Reflexivkonstruktionen beinhalten immer ein starkes D-Merkmal, woraus die Hilfsverbselektion von essere resultieren muss. Das passivisch-mediale si bringt ebenfalls ein starkes D-Merkmal in die Derivation, so dass essere gewählt wird. Beim unpersönlichen si erklärt Remberger die Selektion von si in Analogie zu transitiven und unakkusativen Verben. Schließlich erläutert Remberger die Suppletivform stato, die als Sonderform im Zusammenhang mit Passiv- und Kopulakonstruktionen in Erscheinung tritt: Stato kann als einziges Partizip gelten, das nicht T-los ist (obwohl es nicht finit ist). Außerdem ist stato (möglicherweise wegen einer agentivischen Theta- Rolle) inkompatibel mit dem unakkusativen Pr°. Es muss genau dann in die Derivation eingefügt werden, wenn ein passivisches oder nicht-verbales Pr° ein starkes T-Merkmal trägt. Daher wird stato genau wie die temporalen Hilfsverben essere und avere durch Merge in Pr° in die Derivation gebracht. Bevor auf diachrone Aspekte von Rembergers Arbeit eingegangen wird, sei diese synchrone syntaktische Analyse auf das spanische ser bezogen: Nach den vorstehenden Ausführungen kann das heutige spanische Auxiliarsystem dahingehend beschrieben 150 Die T-Merkmale stehen bei Remberger in Bezug zu Tempusrelationen wie Vor-/ Gleich-/ Nachzeitigkeit zwischen Sprech- und Referenzzeit sowie Ereignis- und Referenzzeit. Somit ist das T-Merkmal ein wichtiges interpretierbares Merkmal. Ein starkes T-Merkmal ist nur der Vorzeitigkeitsrelation zwischen Ereignis- und Referenzzeit zugeordnet. 151 Das uninterpretierbare starke D-Merkmal führt zu einer Bewegung einer DP in die Spezifikatorposition der funktionalen Kategorie und wird nach dem Merkmalsabgleich gelöscht. <?page no="265"?> Erklärung des beobachteten Wandels der Passivauxiliare 265 werden, dass es bei der im 16. Jahrhundert erfolgten starken Veränderung des Auxiliarsystems (vgl. Kapitel 5) zu einer Schwächung des D-Merkmals gekommen ist: Die meisten Pr° weisen im Spanischen nur noch ein einfaches D-Merkmal auf, so dass es in se-Passiven, Reflexivkonstruktionen, Kopulakonstruktionen und transitiven Konstruktionen stets zur Selektion von haber kommt. Allein der passivische Pr-Kopf weist noch ein starkes D-Merkmal auf, wobei hier bereits eine aspektuelle Einschränkung auftritt, nämlich der Verlust der Verwendbarkeit mit Zustandsverben. Möglicherweise kam es dann infolge der durch das einfache D-Merkmal in den meisten Pr-Köpfen ausgelösten Selektion von haber zu der beobachteten Zunahme der se-Passive gegenüber periphrastischen Passivkonstruktionen mit ser, die einen zunehmend markierten Status erhielten (der sich in den in Kapitel 3 dargelegten Selektionsrestriktionen reflektiert). Im Folgenden steht die Frage im Vordergrund, wie sich das von Remberger vorgeschlagene System entwickelt haben könnte. Dabei stützt sich die Autorin auf die Grammatikalisierungstheorie, wobei zunächst die durch Grammatikalisierung zunehmende Hilfsverbhaftigkeit beschrieben werden muss. Remberger (2006: 12 f., 291 f.) definiert anhand der Kriterien Desemantisierung, syntaktische Distribution, morphologische Dekategorisierung und phonologischer Erosion die graduell abgestufte, durch verschieden intensive Grammatikalisierung entstandene Hilfsverbhaftigkeit der untersuchten Verben in ihrem merkmalsbasierten Ansatz wie folgt (leicht gekürzt): 1. Desemantisierung: Ein hilfsverbartiges Element ist durch reduzierte oder fehlende semantische Merkmale gekennzeichnet. Dafür verfügt es über erweiterte funktionale Merkmale aus dem Tempus-Aspekt-Modus-Bereich (kurz TAM-Bereich), die sich aus seinen semantischen Merkmalen entwickelt haben können. Beispiele hierfür sind SEIN und HABEN. 2. Verschiebung in der syntaktischen Distribution: Hilfsverbartige Elemente haben keine eigene oder nur eine von lexikalischen Idiosynkrasien abstrahierte Argumentstruktur (indem sie funktionale Projektionen subkategorisieren). Weiter fortgeschrittene Hilfsverbhaftigkeit manifestiert sich darin, dass das betroffene Element selbst erst unter einer funktionalen Kategorie als Hilfselement in die Derivation gelangt, weshalb die syntaktischen Kontexte, in denen Hilfsverben und Vollverben erscheinen, nicht die gleichen sein können. Beispiel: Während Modalverben die funktionalen Kategorien CP und TP subkategorisieren, werden HABEN und SEIN erst unter Pr°, das kopulative und passivische SEIN erst unter T° in die Derivation eingefügt. 3. Dekategorisierung: Die Reduzierung der möglichen syntaktischen Kontexte hat zur Folge, dass die Flexionsparadigmen der hilfsverbhaftigen Elemente Lücken aufweisen, womit sich auch die Anzahl der möglichen Vollformen für ein solche Element reduziert. Minimalistisch bedeutet dies, dass auch die entsprechenden formalen Merkmale des Elements reduziert sind. Dadurch sind hilfsverbhafte Elemente nur noch mit den formalen Elementen bestimmter funktionaler Kategorien kompatibel. <?page no="266"?> 6 Diskussion 266 4. Erosion: In einer weiteren Stufe sind hilfsverbartige Elemente durch eine Reduzierung ihrer phonologischen Merkmale gekennzeichnet. Die Veränderung der semantischen und formalen Merkmale führt also auch zu einer Veränderung in der phonologischen Merkmalszusammensetzung. Remberger (2006: 292) macht deutlich, dass die beschriebenen Veränderungsprozesse in den Zusammensetzungen der semantischen, formalen und phonologischen Merkmale immer mit Veränderungen in den Parametrisierungen der funktionalen Kategorien einhergeht, wobei sie auf eine wichtige Grundannahme des Minimalistischen Programms eingeht, das die einzelsprachliche Parametrisierung in den Eigenschaften der funktionalen Kategorien, d.h. ihren Merkmalszusammensetzungen, verortet. Wichtig ist nun, dass in diesem Programm im Zuge diachroner Entwicklungen Um-Parametrisierungen innerhalb der lexikalischen und funktionalen Kategorien angenommen werden, wobei immer Zwischenstufen mit zweideutigen Strukturen angenommen werden müssen. Hierfür greift Remberger (2006: 292 f.) auf die V-to-TAM-chain von Heine (1993) zurück, die vier Grammatikalisierungsstufen vorsieht: Der Beginn der Grammatikalisierungskette tritt ein, wenn ein Vollverb V° dafür prädestiniert ist, am Zyklus der Hilfsverbhaftigkeit teilzunehmen. Dies ist der Fall, wenn es semantische Merkmale trägt, die als formale Merkmale uminterpretiert werden können. Auch Vollverben, die funktionale Kategorien anstelle lexikalischer Argumente subkategorisieren, erweisen sich als tendenziell hilfsverbhaft. Ein weiterer Schritt der Grammatikalisierung ist dann vollzogen, wenn das Verb nicht mehr eine eigene VP projiziert, sondern unter einer funktionalen Kategorie, zunächst der VP-nahen Pr°-Kategorie, als expletives Element in die Derivation gelangt, um ansonsten nicht überprüfbare Merkmale abzugleichen. Noch stärker auxiliarisiert sind Verben, die erst unter T° erscheinen. Der Zyklus vom Vollverb zum Hilfsverb ist vollzogen, wenn sich das Hilfsverb nicht mehr als verbales Element erkennen lässt und seinen Status als eigener Lexikoneintrag verliert: Es wird zu einem reinen Flexionsmorphem (Remberger gibt hier als Beispiel das italienische Futur an), das nun selbst als Merkmal innerhalb der Merkmalsbündel lexikalischer Verben zu finden ist. Von hier aus kann der Zyklus, so Remberger unter Berufung auf die Grammatikalisierungstheorie, erneut beginnen. Nach dieser Definition einer beginnenden bis vollständigen Grammatikalisierung könnten die Passivauxiliare aller drei romanischen Sprachen in der vorliegenden Arbeit als teilweise, aber nicht vollständig grammatikalisiert gelten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Merkmale wirklich verlorengehen müssen, d.h. tatsächlich eine Desemantisierung stattfindet, oder aber eher eine „Umsemantisierung“: Die Veränderung des spanischen ser (Verlust der Option, als Passivauxiliar Zustände auszudrücken) wird durch das Aufkommen von u.a. estar als Passivauxiliar kompensiert, das diese Funktion übernimmt. Es muss modelliert werden, wie es zu so einem Übergang kommen kann (vgl. die Überlegungen in Kapitel 6.3). Das Modell von Remberger impliziert ferner, dass durch fortschreitende Grammatikalisierung ein hilfsverbhaftes Verb von einer funktionalen Kategorie (Pr°) zu einer anderen (T°) im Hinblick auf das syntaktische Merge gelangen kann. Hier stellt sich die Frage nach den Übergangsstadien. Da es sich um Parametrisierungen von kategorialen Merkmalen handelt, müssen im Übergang für <?page no="267"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 267 ein und dasselbe Hilfsverb unterschiedliche Parameterwerte gegolten haben, die zu gleichzeitiger Möglichkeit der Einfügung unter Pr° und T° geführt haben. Remberger merkt selbst an, dass es zu Ambiguitäten gekommen sein muss. Gerade diese müssen mit sehr feinen semantischen Veränderungen einhergehen, die sich auf die Konzeption des Ereignisses niederschlagen und sich im Rahmen des Generativen Lexikon-Modells darstellen lassen. Aus dem Lexikon heraus, so auch Remberger, ergeben sich dann neue Parametrisierungen mit syntaktischen Folgen, wie sie in dieser Arbeit vorrangig bei ser und estar zu erkennen sind. Aus der bisherigen Kurzvorstellung der zentralen Ideen wird ferner deutlich, dass Remberger (2006) eine andere Konzeption der Lexikoneinträge für die verschiedenen Hilfsverben zugrundelegt, die formale Merkmale fokussiert. Beschränkt auf die für die vorliegende Arbeit relevanten Verben gibt es in der Auflistung der Einträge von Remberger (2006: 285) u.a. zwei essere (einmal als Kopula und passivisches Hilfsverb, einmal als temporales Hilfsverb für unakkusative Prädikate), zweimal das infinite stato (einmal als temporales Hilfsverb der Kopula, einmal als temporales Hilfsverb des Passivs). Venire tritt nur als passivisches Hilfsverb auf. Andare tritt ebenfalls zweimal in der Liste auf, einmal als deontisch-passivisches Hilfsverb und einmal als graduelles Hilfsverb. Hinzuzuzählen sind natürlich die Bedeutungen von andare, essere und venire als Vollverben, die außerhalb der von Remberger untersuchten Funktionen stehen. Damit ergibt sich ein Bild, das sich aus der Perspektive des Generativen Lexikons und der Notwendigkeit einer graduellen Bedeutungsänderung anders zeichnen lässt, wie im weiteren Verlauf des Kapitels gezeigt wird. Bevor Lexikoneinträge für das heutige essere und être einerseits und ser andererseits entwickelt werden (vgl. Kapitel 6.2.6), werden im folgenden Abschnitt zunächst die Lexikoneinträge und Überlegungen für die Verben aus der Analyse in Kapitel 5.3 vorgestellt, um diese für die Auxiliare zugrunde legen zu können. 6.2 Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben In diesem Abschnitt werden auf der Basis der in Kapitel 5.3 vorbereiteten Grundlage für insgesamt zwölf spanische unakkusative und transitive Verben sowie das Auxiliar ser im Vergleich zu seinem italienischen und französischen Äquivalent die Lexikoneinträge im Generativen Lexikon-Modell von Pustejovsky (vgl. Kapitel 1.2 und 2.3) erarbeitet. Sofern hierbei auch Gebrauch von den lexikalischen Mechanismen Typerzwingung (type coercion), Ko-Komposition (co-composition) und selektive Bindung (selective binding) gemacht wird, werden hierzu weitere, detailliertere Erklärungen und analoge Beispiele gegeben. Allgemein handelt es sich hierbei um folgende Vorgänge, die an dieser Stelle aus Kapitel 1.2 wiederholt seien: 1. Typerzwingung: hier wird ein lexikalisches Element oder eine lexikalische Phrase von einem regierenden Element in der Phrase zu einer semantischen Interpretation gezwungen, ohne dass hierdurch sein/ ihr syntaktischer Typ geändert wird. 152 152 Pustejovsky (1995: 111 ff.) sieht hier mehrere Untertypen vor, die in Abschnitt 6.2.1. im Zusammenhang und am Beispiel der Bewegungsverben genauer eingeführt werden. <?page no="268"?> 6 Diskussion 268 2. Selektive Bindung: hier operiert ein lexikalisches Element oder eine lexikalische Phrase spezifisch auf der Substruktur einer Phrase ohne Änderung des übergreifenden Typs in der Komposition. 3. Ko-Komposition: hier verhalten sich verschiedene Elemente innerhalb einer Phrase als Funktoren, die neue, nicht-lexikalisierte Bedeutungen für Wörter in Komposition generieren. Dies schließt auch Fälle unterspezifizierter semantischer Formen ein, die kontextuell bereichert werden, wie die Ko-Komposition der Art und Weise, Transkription von Merkmalen und die Spezifikation von light verbs. Man könnte einwenden, dass Ko-Komposition zu der folgenden Analyse nichts beizutragen habe, da hier ja nur mit bereits lexikalisierten Bedeutungen gearbeitet wird. Für eine Theorie, die auch versucht zu erklären, wie es zu den neuen Bedeutungen kam und wie sie lexikalisiert wurden, ist Ko-Komposition jedoch ein wichtiger Bestandteil. Es kann so erklärt werden, wie eine zunächst nicht lexikalisierte, aber im Kontext mögliche Bedeutung hierdurch angelegt wird, späteren Sprechern somit möglicherweise schon systematisch zur Verfügung steht, so dass sie dann auch zu einem gegebenen Zeitpunkt lexikalisiert wird. Auf Ko-Komposition wird in Kapitel 6.2.3 genauer eingegangen. Ein für die hier behandelten unakkusativen, teilweise auch logisch polysemen Verben (da gleichzeitig auch Kausation und transitive Verwendungen dokumentiert sind) ist das allgemeine Schema der Kausation von Pustejovsky (1995: 187). Es sei hier noch einmal wiederholt, da es sich laut Pustejovsky als ein gültiges Paradigma für die meisten lexikalischen Formen der Kausation in natürlichen Sprachen herausgestellt hat (vgl. Pustejovsky 1995: 187, (6)): (1) α E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : state RESTR = < α HEAD = ARG 1 = ARGSTR = ARG2 = default-causative-lcp QUALIA = FORMAL = α_result (e 2 , ) AGENTIVE = α_act (e 1 , , ) Aufgrund der Ereignisköpfigkeit gibt es (mindestens) die drei folgenden lexikalischen semantischen Klassen, die mit dieser Struktur assoziiert sind: (2) a. LINKSKÖPFIGE EREIGNISSE: z.B. direkt kausative accomplishment- Verben wie kill, murder, etc. b. RECHTSKÖPFIGE EREIGNISSE: z.B. direkte kausative achievement-- Verben wie die, arrive. <?page no="269"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 269 c. KOPFLOSE EREIGNISSE: z.B. kausative/ unakkusative Verben wie sink, break, burn. Pustejovsky (1995: 210) unterscheidet ferner verschiedene Typen von Verursachung: direkte Verursachung (direct causation) und erfahrene Verursachung (experienced causation), wobei letztere für die psychologischen Verben eine zentrale Rolle spielt. Die Qualia-Muster der beiden Typen werden im Folgenden abstrakt angegeben, bei der Erarbeitung der Einträge der psychologischen Verben dann genauer ausgeführt: (3) DIREKTE VERURSACHUNG FORMAL = α_result (e 2 , y) QUALIA = AGENTIVE = α_act (e 1 , x,y) (4) ERFAHRENE VERURSACHUNG FORMAL = α_result (e 2 , x) QUALIA = AGENTIVE = α_act (e 1 , x,…) In den nächsten Abschnitten werden nun die Lexikoneinträge für die Verben nach Gruppen erstellt, wobei zum Vergleich mit der Theorie die grundlegenden Elemente des Lexikoneintrags auf Englisch formuliert werden und lediglich die genauen, das einzelne spanische Verb betreffenden, Angaben auf Spanisch eingetragen werden. 6.2.1 Lexikoneinträge für die Bewegungsverben Bevor auf die Einträge für die ausgewählten Bewegungsverben arribar, decender und llegar genauer eingegangen wird, bei denen der lexikalische Mechanismus der Typerzwingung eine Rolle spielt, soll dieses Verfahren kurz näher erläutert werden. Pustejovsky (1995: 111 ff.) unterscheidet zwei Arten der Typerzwingung. Die erste, Untertyperzwingung (subtype coercion), folgt Inferenzen, die innerhalb eines einzigen lexikalischen Typs bereits verfügbar sind. Dabei werden Relationen metonymischer Art geschaffen wie z.B. Honda car vehicle. Der zweite Typ, die echte Komplement- Erzwingung (true type coercion) bezieht sich hingegen auf mehrere lexikalische Typen und bewirkt das eigentliche, strikte Umsetzen eines Typs auf einen anderen, wobei dies durch lexikalische Kontrolle lizensiert wird. Hierfür ist das Beispiel des Verbs begin anschaulich: begin verlangt nach einem Element vom Typ Ereignis. Ist dieser nicht im Kontext vorhanden, kann auf andere Typen wie z.B. Nominalphrasen zurückgegriffen werden, die von ihrer Bedeutung her dazu geeignet sind. Diese werden dann zu rekonstruierten Ereignissen uminterpretiert (erzwungene Interpretation): Aus dem erwarteten begin to read a book wird dann z.B. -> begin (reading) a book. Bei der Frage, welche Typen sich eignen, spielen neben lexikalischen Informationen auch Inferenzen eine Rolle. Im Folgenden werden nun die Lexikoneinträge für die erste Gruppe der spanischen unakkusativen Verben entwickelt und dabei auf die Typerzwingung, sofern erforderlich, und den jeweiligen Typ eingegangen. <?page no="270"?> 6 Diskussion 270 Für das Bewegungsverb arribar wurden in Kapitel 5.3 die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen festgehalten: 1. llegar la nave al puerto (intr.): Prozess + Zustand (= an Ort angekommen) (inkl. dem Hafen für den Notfall) 2. llegar la nave por tierra (intr.): Prozess + Zustand (= an Ort angekommen) 3. llegar a conseguir lo que se desea (intr.): Prozess + Zustand (= Erfüllung erreicht) 4. convalecer (intr.): Prozess + Zustand 5. llevar/ conducir (tr., alt): Prozess + Transfer 6. „sich nach dem Wind richten“ (inkl. Ausrichtung des Schiffes): Prozess + Zustand Zusammenfassend wurde bereits festgehalten, dass alle Bedeutungen „llegar“ mit einem neuen Zustand ausdrücken, der meistens „Angekommensein an einem Ort“ ist, erweitert auf gesundheitliche und sonstige Zustände. Im Mittelpunkt des GL-Eintrags steht für die Ereignisstruktur „process + state“, wie im folgenden Eintrag für die synchronen Bedeutungen von arribar in Anlehnung an den arrivare-Eintrag von Pustejovsky (1995: 190) gezeigt wird: (5) arribar ARGSTR = ARG 1 = x: ind D-ARG 1 = y: location EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = e 2 QUALIA = FORMAL = at (e 2 , x, y) AGENTIVE = arrive_act (e 1 , x) Im Hinblick auf die obengenannte Erweiterung, mit der arribar auch auf einen (verbesserten) Gesundheitszustand (convalecer) und das Erreichen von etwas Gewünschtem referieren kann, lässt sich die oben beschriebene Untertyperzwingung anwenden, indem metonymisch die Relation „konkreter Ort abstrakter Ort Zustand“ gebildet wird, so dass dann auch Zustände geeignete Typen sind, die von arribar selegiert werden können. Nun verzeichnet selbst das aktuellste Wörterbuch (vgl. Kapitel 5.3.3) noch die als „alt“ markierte transitive Verwendung von arribar als llevar/ conducir, die in dem synchron ausgerichteten obigen Eintrag nicht integriert wurde (da sie nicht mehr aktiv ist, anders als die transitive Verwendung von decender, wie weiter unten beschrieben). Sie ist gleichzeitig ein Zeuge dafür, dass das von arribar beschriebene Ereignis zu einem früheren Zeitpunkt offensichtlich strukturell polysem war. Offenbar hat eine Fixierung auf den aus der Bewegung resultierenden Zustand am neuen Ort stattgefunden, bei dem der Prozess der Bewegung dorthin (und möglicher Verursacher dieses Bewegungs- <?page no="271"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 271 prozesses) letztlich ganz ausgeblendet und der Kopf auf den Zustand (e 2 ) festgelegt wurde. Für das zweite untersuchte Bewegungsverb, decender, wurden für den Eintrag im generativen Lexikon die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen festgehalten: 1. bajar (intr.): von einem Ort zu einem anderen, niedriger gelegenen gehen, Prozess + Zustand (= an Ort weiter unten) 2. bajar (tr.): etwas herunternehmen: Prozess und Zustand (= Gegenstand ist unten) 3. provenir, proceder (intr.): a) (genetische) Herkunft von einer Person ausgehend (gemeinsame Vorfahren), b) von einer Sache ausgehend (abstrakte oder konkrete Entität), c) vom selben Prinzip ausgehend (kausal-abstrakt), Prozess + Zustand (Default: Ursprung) 4. caer (intr.): a) Sache/ Flüssigkeit (fallen und auslaufen), b) quantitative oder qualitative Abnahme einer abstrakten Entität (wie z.B. Ansehen), Prozess und Zustand Mithin lassen sich alle Bedeutungen auf bajar + weitere Komponente (räumlich konkret und abstrakt, zugrundeliegende zeitliche oder kausale Herkunft) zurückführen. Das Verb ist ereignisstrukturell polysem: da der Eintrag sowohl die transitive als auch die intransitive Variante berücksichtigen muss, wird einmal das transitiv-kausative, linksköpfige Ereignis abgebildet (dabei das Resultat schattiert, agentivisches Quale im Vordergrund) und einmal das unakkusative, rechtsköpfige Ereignis abgebildet (dabei der Prozess schattiert, formales Ergebnis-Quale im Vordergrund). Hier ist eine unterspezifizierte Ereignisstruktur anzunehmen, also keine Festlegung des Kopfes wie bei arribar. Der GL-Eintrag für die synchron vorhandenen Bedeutungen von decender erfolgt auf Grundlage des affondare-Beispiels (vgl. Pustejovsky 1995: 192), das wie decender sowohl transitiv-kausativ als auch unakkusativ verwendet werden kann: (6) decender ARGSTR = ARG 1 = physobj FORMAL = entity ARG 2 = physobj FORMAL = entity D-ARG 1 = y: location D-ARG 2 = z: source EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = e 2 QUALIA = default-causative-lcp FORMAL = decender_result (e 2 , , y) AGENTIVE = decender_act (e 1 , , , z) <?page no="272"?> 6 Diskussion 272 Für das dritte Bewegungsverb, llegar, wurden für den GL-Eintrag die folgenden Bedeutungen und Ereignisstrukturen mit Unterereignissen erarbeitet: 1. venir (intr.) a) zu einem Ort (von einem anderen): räumliche Interpretation des Ankommens, mithin die Konstellation Prozess + Zustand (angekommen sein; default-Argument: Zielort), welche auch die räumliche Nähe-Interpretation „ir a un sitio que esté cercano“ (in der allgemeinen Version spielt die Entfernung keine Rolle) subsumieren würde. Für diese Bedeutung allein wäre ein Eintrag wie für arribar möglich. b) venir (intr.) el tiempo de hacerse algo (zeitliche Dimension), wobei sich die zeitliche Interpretation in mehrere Aspekte aufteilen lässt: aa) eine inchoative Version (verificarse, empezar a correr un determinado tiempo), bb) eine auf den Schluss gerichtete Version (durar hasta un determinado tiempo = Eintreffen nach einer bestimmten Zeit, + durativ), wozu sich auch die Bedeutung „ser suficiente“ (ausreichen) im Hinblick auf die Quantität der verstrichenen Zeit bis zum Erreichen hinzuzählen lässt, und cc) venir por su orden/ turno (Eintreffen zu seiner Zeit, durativ). Hieraus ergeben sich zwei unterschiedliche Ereignisstrukturen: Prozess + Ereignis (aa) bzw. Prozess + Zustand (bb, cc). 2. allegar, juntar, acercar (tr.): Interpretation des Zusammenführens als Ereignis „Prozess + Zustand (via Transfer)“, welche llevar impliziert, das die erforderliche Transfer-Komponente ausdrückt. Dabei ist die Interpretation von acercar eine mögliche Zwischenstufe von juntar (annähern, nicht völlig zusammenführen); die reflexive Variante unirse/ adherirse beschreibt den gleichen Prozess des Zusammenkommens aus der Perspektive der einzelnen Entität. 3. alcanzar (intr.): Hier werden unterschiedliche konkrete und abstrakte Aspekte eines mehr oder weniger gesteuerten, willentlichen Erreichens subsumiert: a) tocar: llegar a + konkrete Entität (z.B. Körperteil), b) lograr/ conseguir: llegar a un fin, una situación, un grado etc. (abstrakte Entität), c) die erstmalige Durchführung bzw. Wahrnehmung einer von einem weiteren Verb ausgedrückten Tätigkeit (z. B. llegar a oír). Die zugrundegelegte Ereignisstruktur könnte „Prozess + Zustand (lok./ psychisch/ perzeptiv)“ lauten. Vergleicht man nun llegar mit arribar, so wird deutlich, dass die bei arribar bereits vom rein lokativischen Erreichen (mit dem Schiff) im Laufe der Zeit angelegte Erweiterung (allgemein Land erreichen, einen neuen Zustand erreichen) bei llegar noch wesentlich weitergeführt wird, indem auch eine Erweiterung in die zeitliche Dimension und ein Ausbau der abstrakten Interpretation des Erreichens des Gewünschten auf unterschiedliche Ziele hin ausdifferenziert wird. Jedoch ist eine zu arribar analoge Darstellung hier nicht möglich, da llegar auch transitiv verwendet wird und bei den intransitiven Verwendungen überdies die inchoative Verwendung möglich ist. Es muss ein Eintrag erarbeitet werden, der so unterspezifiziert ist, dass auch diese Interpretationen berücksichtigt werden; mithin liegt hier auch eine strukturelle Ambiguität vor. Hier ergibt sich nun das folgende Problem: Pustejovsky (1995: 203) sieht für das Verb begin eine Ereignisstruktur mit e 1 = Prozess und e 2 = Ereignis vor; demgegenüber haben die <?page no="273"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 273 anderen Verwendungen von llegar e 1 = Prozess und e 2 = Zustand. Es ergeben sich nun die folgenden zwei Möglichkeiten: 1) den Versuch eines Eintrags mit drei Unterereignissen, d.h. eine Integration des Eintrags der Ereignisstruktur von begin (= empezar) in den GL-Eintrag von llegar vorzunehmen, und 2) einen Eintrag für die Hauptereignisstruktur Prozess + Zustand zu erarbeiten (in Analogie zu dem Eintrag für decender) und durch type coercion (von llegar aus) die spezifische inchoative Interpretation zu erzielen. Beide Möglichkeiten werden im Folgenden ausprobiert und gegeneinander abgewogen. Für die erste Option gilt zunächst, dass eine Ereignisstruktur mit drei Unterereignissen in dem Modell zwar als theoretische Möglichkeit angegeben ist, es aber bislang nur einen einzigen ausgearbeiteten Eintrag hierfür gibt, nämlich denjenigen für „float into the cave“ (vgl. Pustejovsky 1995. 126, (58)), in dem der Prozess der Ko-Komposition eine zentrale Rolle spielt. Dort ergibt sich diese Bedeutung aus der Verschmelzung des Verbs „float“ und der Präpositionalphrase „into the cave“ auf phrasaler Ebene. Für die Umsetzung der „empezar“-Bedeutung ist es hingegen sinnvoller, mit dem begin-Beispiel zu arbeiten, da es um den inchoativen Aspekt geht. Für engl. begin/ fr. commencer haben Pustejovsky und Bouillon (1995) eine umfangreiche Analyse vorgelegt, die Pustejovsky (1995: 201 ff.) so zusammenfasst: Das Verb begin weist eine logische Polysemie dahingehend auf, dass es unakkusativ als Anhebungsverb (Köpfigkeit auf das finale Ereignis gelegt) und transitiv-kausativ als Kontroll-Prädikat (Köpfigkeit auf das initiale Ereignis gelegt) auftreten kann. Nur in letzterer Eigenschaft erlaubt es type coercion und diese wiederum nur mit Komplementen, die eine Transition darstellen. Letzteres ist im Fall von llegar gegeben. Bevor versucht wird, die multiple Ereignisstruktur für llegar mit allen obigen Bedeutungen zu erstellen (vgl. (8)), wird zunächst die von Pustejovsky (1995: 203, (45)) dargestellte Semantik von begin vorgestellt (7) 153 , wobei gleich verwundern mag, dass Pustejovsky das erste Argument als Menschen angibt. Er bezieht sich hier bereits auf die Beispiele für die Kontroll-Variante wie Mary began to read the book. (7) begin E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : event RESTR = <°α ARGSTR = ARG 1 = x: human ARG 2 = ef 1 = <x, <e 2 , t>>: event function QUALIA = FORMAL = P(e 2 ,x) AGENTIVE = begin_act (e 1 , x, ef 1 ) 153 Hierbei handelt es sich um die konkretere Version des von Pustejovsky (1995: 116) skizzierten und selbst als reduzierten Entwurf bezeichneten Eintrags, in dem begin mit zwei jeweils als Transition bezeichneten Unterereignissen auftritt. Die Forderung nach einem Ereignistyp Transition bleibt jedoch bestehen. <?page no="274"?> 6 Diskussion 274 Es folgen nun die Vorschläge für GL-Einträge für llegar, in denen unterschiedliche Möglichkeiten für die Argumente berücksichtigt werden: ARG 1 kann ein belebtes Individuum, ein physisches Objekt oder eine abstrakte Entität sein, ARG 2 ein physisches Objekt oder eine abstrakte Entität, beide werden daher als „obj“ zusammengefasst. Dies schließt auch die (zeitliche) empezar-Bedeutung ein, für die am ehesten eine abstrakte Entität in Frage kommt. (8a) Option 1) multiple Ereignisstruktur llegar ARGSTR = ARG 1 = obj FORMAL = (abstract) entity ARG 2 = obj FORMAL = (abstract) entity D-ARG 1 = y: location EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : event E 3 = e 3 : state RESTR = <α (e 1 , e 3 ), <°α (e 1 ,e 2 ) QUALIA = FORMAL = at (e 3 , ,y), P(e 2 , ), llegar_result (e 3 , , ) AGENTIVE = llegar_act (e 1 , , y) Man könnte hiergegen einwenden, dass es sich um eine Verlagerung der Auflistung in den Bereich der formalen Rollen handele. Andererseits ist dies noch immer deutlich ökonomischer als die getrennte Auflistung und Verarbeitung vollständiger Lexikoneinträge. (8b) Option 2) binäre Ereignisstruktur für Prozess + Zustand llegar ARGSTR = ARG 1 = obj FORMAL = entity ARG 2 = obj FORMAL = entity D-ARG 1 = y: location EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α QUALIA = default-causative-lcp FORMAL = llegar_result (e 2 , , y) AGENTIVE = llegar_act (e 1 , , ) <?page no="275"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 275 Bei dieser Option stellt sich die Frage, wie der Vorgang funktioniert, mit dem llegar auch die inchoative venir-Lesart ausdrücken kann. Von Pustejovsky (1995: 203) und Pustejovsky und Busa (1995) wird Typerzwingung nahegelegt, wobei die Autoren die echte Komplement-Erzwingung detailliert behandeln, die für begin a book auch erforderlich ist. Im vorliegenden Fall fordert empezar (wie begin) als „canonical syntactic form“ ein Ereignis und erhält dieses mit „verificarse/ correr un determinado tiempo“ auch, so dass die umfangreiche Typerzwingung (eine NP als ein Ereignis umdeuten) nicht erforderlich ist, sondern Untertyp-Erzwingung ausreicht. So ist nur zu überlegen, welche metonymische Relation erstellt werden muss, um das Ereignis „Laufen einer Zeitspanne“ zu integrieren. Sie könnte so lauten: „Bewegung eines belebten Individuums (Menschen, Tiere) Bewegung einer unbelebten Entität (Maschinen, Planeten) Bewegung einer abstrakten Entität (Zeit)“. Die hier vorgenommene Untertyp-Erzwingung im binären Ereignis stellt im Sinne einer Ökonomie des Lexikons die weniger aufwändige Variante gegenüber einem ternären Ereignis dar und ist daher vorzuziehen. Eine genauere Diskussion der unterschiedlichen Mechanismen im Hinblick auf ein „optimales“ Lexikon, das aktuelle und veraltete (nicht mehr verwendete, aber noch bekannte) Bedeutungen erfassen können muss, wird in Kapitel 6.3 geführt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die bereits in Kapitel 5.3.3 herausgearbeiteten zentralen Bedeutungskomponenten sich mit Hilfe dieser Lexikontheorie in einem einzigen Eintrag erfassen lassen. Die hier bislang angestellten Abwägungen zugunsten des „besten“ Eintrags geben auch bereits Hinweise darauf, dass mehrere Möglichkeiten bestehen und daher schon eine Rolle in Wandelprozessen gespielt haben können, wenn frühere Sprecher ebenfalls abgewogen haben. 6.2.2 Lexikoneinträge für die Zustandswechselverben Für das Zustandswechselverb crecer wurden die folgenden Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon wie folgt zusammengetragen: 1. Zuwachs an Größe (d.h. quantitativer Zuwachs) von a) organischen Wesen (Tiere, Pflanzen), b) von Sachen (inkl. Gestirnen), Prozess + Zustand 2. Zuwachs an Konsistenz, Bedeutung (qualitativ) von a) Personen (Autoritätszugewinn), b) Sachen (Währung), Prozess + Zustand 3. Die veraltete Bedeutung aventajar lässt sich im Sinne der Produktion eines Zugewinns von Qualität durch Bevorzugung (= neuer Zustand) interpretieren: -> Prozess + Zustand Mithin lassen sich alle heutigen Bedeutungen mit der Ereignisstruktur „Prozess + Zustand“ erfassen. Es besteht keine strukturelle Ambiguität bzw. logische Polysemie mehr. Der nachfolgende Eintrag ähnelt dem Muster für arribar, einem direkten kausativen achievement-Verb (vgl. Pustejovsky 1995: 187 und obige Ausführungen). Pustejovsky (1995: 186) betrachtet die Gruppe von „change of state“-Verben als eine Gruppe (Beispiel-Vertreter: bake, kill, drop, move, die, arrive etc.), die sowohl linksköpfige <?page no="276"?> 6 Diskussion 276 transitive als auch rechtsköpfige intransitive Verben umfasst - kurz, alle Verben, die zwei Unterereignisse aufweisen; a) einen Prozess, b) den resultierenden Zustand, der vorher nicht bestand. In diesem Sinne lassen sich auch die hier aufgeführten Zustandswechselverben verstehen: bei crecer entsteht durch Wachsen ein neuer Zustand. Dem trägt der folgende Eintrag Rechnung, bei dem der Kopf das Unterereignis Zustand ist: (9) crecer ARGSTR = ARG 1 = x: obj FORMAL = entity EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = e 2 QUALIA = FORMAL = (e 2 ) AGENTIVE = crecer_act (e 1 ) Für das zweite Zustandswechselverb, perecer, wurden bereits die nachfolgenden Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon erarbeitet: 1. morir (intr.): aufhören zu leben, Verlust der Existenz, Prozess + Zustand 2. padecer (intr.): Erleiden verschiedener Ereignisse, die nicht direkt der Tod sind: a. Mangel an nötigen materiellen Voraussetzungen für das Leben, b. extremer spiritueller Schaden, c. extremer emotionaler/ psychischer Schaden, Prozess + Zustand (aufgrund materieller/ spiritueller/ psychischer Verlustereignisse) Mithin lassen sich die Bedeutungen in einer einzigen Ereignisstruktur „Prozess + Zustand“ erfassen, wobei hier alle Subjekte als [+ human] zu konzipieren sind. Es liegt hier keine logische Polysemie vor. Für den Lexikoneintrag kann das kausative Schema mit einem rechtsköpfigen Ereignis verwendet werden: (10) perecer ARGSTR = ARG 1 = x: human individual FORMAL = entity EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = e 2 QUALIA = FORMAL = (e 2 ) AGENTIVE = perecer_act (e 1 ) <?page no="277"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 277 Da Zustandswechselverben typisch für Transitionen sind, stellten sich die Einträge in diesem Abschnitt relativ problemlos dar. Im nächsten Abschnitt werden Lexikoneinträge für die Verben der Existenz und Erscheinung vorgestellt, die semantisch nahe am hier vorgestellten Verb perecer liegen und doch eine deutlich andere Konzeption erfahren. 6.2.3 Lexikoneinträge für die Verben der Existenz und Erscheinung Für das Verb der (endenden) Existenz, morir, wurden bereits die folgenden Bedeutungen für den Eintrag im generativen Lexikon erarbeitet: 1. perder la vida: a) Verlust des Lebens (von Personen), Prozess + Zustand, metaphorische Übertragung auf Spieler und eingeschlafene Körperteile (als Lebewesen konzipiert) 2. llegar a su término: Ende der Existenz: Dinge, auch Naturphänomene wie Feuer, Licht, etc.), Prozess + Zustand 3. desear, padecer: Prozess + Zustand (psychische Eigenschaften pasión, sentimiento) als Ursache 4. matar (tr.): jemanden/ etwas töten (nur zusammengesetzte Zeiten) Im Vergleich zu perecer lässt sich festhalten, dass - anders als bei perecer - morir nicht nur mit belebten Subjekten (Personen), sondern auch für bestimmte (als belebt konzipierte) Gegenstände bzw. Phänomene verwendet werden kann. Aufgrund der logischen Polysemie, die wegen der nicht völlig aufgegebenen Bedeutung matar weiterbesteht, ist das kausative Grund-Schema wie bei decender anzuwenden, das nach Pustejovsky auch das grundlegende Modell für das englische to die ist. Im Gegensatz zum Eintrag von perecer liegt hier jedoch keine Festlegung des Kopfes vor, sondern es kann wie bei decender eine Schattierung des Results (matar-Variante) oder des Prozesses (alle andere Bedeutungen) vorgenommen werden: (11) morir ARGSTR = ARG 1 = animate ind FORMAL = entity ARG 2 = physobj FORMAL = entity EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = QUALIA = default-causative-lcp FORMAL = morir_result (e 2 , ) AGENTIVE = morir_act (e 1 , , ) <?page no="278"?> 6 Diskussion 278 Das zweite Verb der Existenz und Erscheinung, nacer, kann als Inbegriff des Erscheinens und der beginnenden Existenz sowie generell des Prozesses, der etwas hervorbringt, was vorher nicht da war, betrachtet werden. Für dieses Verb wurden bereits die folgenden für das generative Lexikon relevanten Ereignistypen erarbeitet: 1. salir/ brotar (intr.) von Tieren und Pflanzen bzw. prorrumpir (Naturphänomene wie Flüsse), Prozess + Zustand (Quelle/ Ursprung als Default-Argument denkbar) 2. empezar a dejarse ver: Erreichen des Zustands der Sichtbarkeit für Sachen (inkl. Gestirne), +/ abstrakt: Prozess + Zustand 3. tener propensión/ existir con determinación: für etwas geboren sein, Prozess + Zustand (Zustand hier konzipiert als prädeterminiert) Anders als bei llegar kann hier in (2) der Beginn der Sichtbarkeit (eine Art von Ereignis) auch als Zustand und Ergebnis eines vorherigen Entstehungsprozesses (bzw. im Fall der Gestirne eines Bewegungsprozesses) konzipiert werden, so dass keine gesonderte Darstellung einer inchoativen Lesart erforderlich ist. Da keine transitive Verwendung und damit auch keine logische Polysemie gegeben sind, kann das Schema von arribar verwendet werden, wie im Folgenden zu sehen ist, mit der Modifikation, dass neben belebten Individuen auch unbelebte (Planeten) als ARG 1 zugelassen und daher als „physobj“ angegeben werden 154 : (12) nacer ARGSTR = ARG 1 = x: physobj D-ARG 1 = y: source EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = e 2 QUALIA = FORMAL = (e 2 ) AGENTIVE = nacer_act (e 1, y) Für das dritte Verb der Existenz und Erscheinung, parecer, wurden die nachstehenden Bedeutungen für den Lexikoneintrag wie folgt zusammengefasst: 1. aparecer, mostrarse, dejarse ver (intr.): Prozess + Zustand (des Gesehen-werden- Könnens) 2. tener determinado aspecto (inkl. buena disposición, simetría, etc., die wertend 1780 eingetragen werden) (intr.): Zustand 3. semejar, mostrarse semejante (intr., refl.): Prozess + Zustand (des ähnlich Seins mit weiterem default-Argument) 154 Da in der mittelalterlichen Welt Gestirne auch häufig als etwas Belebtes konzipiert wurden, könnte man hier alternativ auch “animate individual” notieren. Hier wird jedoch von einem aktuellen Wissensstand ausgegangen. <?page no="279"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 279 4. opinar, creer, hacer juicio (intr. unpers.): Prozess 5. hallarse, descubrirse (en un lugar) (intr.): Prozess + Zustand (wiedergefunden/ entdeckt, default-Argument Ort) Zusammenfassend lässt sich die Grundkonfiguration „Prozess + Zustand“ ermitteln, wobei auch eine Schattierung zugunsten entweder nur des (durch einen früher abgelaufenen Prozess erreichten) Zustands oder nur des gerade beschriebenen Prozesses möglich ist, so dass eine logische Polysemie auftritt. Bei „dejarse ver“ ist eine interne Verursachung bei reflexiven Varianten anzunehmen. Der generative Lexikoneintrag muss das Default-Muster eines kausativen, kopflosen Verbs mit Anpassungen hinsichtlich der Argumente verwenden, wie im folgenden Vorschlag dargestellt: (13) parecer ARGSTR = ARG 1 = x: physobj FORMAL = entity D-ARG 1 = y: location D-ARG 2 = z: physobj EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = QUALIA = default-causative-lcp FORMAL = parecer_result (e 2 , x) AGENTIVE = parecer_act (e 1 , x, y) Auch in dieser Gruppe ließen sich alle Bedeutungen relativ einfach im generativen Lexikoneintrag festhalten. Interessant ist, dass es hier sehr unterschiedliche Einträge sind (nur bei nacer ist der Kopf festgelegt, die anderen beiden Verben sind hierin unterspezifiziert), also offenbar diese Verbgruppe keineswegs so homogen ist wie häufig dargestellt (wie auch bei den Bewegungsverben in 6.1.1). Daher ist es plausibel, Verbgruppen nicht als Primitiva zugrundezulegen. 6.2.4 Lexikoneinträge für die psychologischen Verben Bevor auf die einzelnen Einträge eingegangen werden kann, sind einige Ausführungen zu psychologischen Prädikaten im Rahmen der generativen Lexikontheorie erforderlich. Pustejovsky (1995: 211) schlägt für psychologische Verben wie to anger vor, dass es sich hier nicht um das default causative paradigm handelt, sondern um einen kausativen Akt, der einen bestimmten Zustand der Person, die eine Erfahrung macht, prädiziert. Hier ist auch die temporale Restriktion anders, da bei anger nicht erst der ganze Prozess ablaufen muss, bevor das Resultat da ist, sondern eine Überlappung besteht. Schließlich besteht nach Pustejovsky eine Kontrollrelation zwischen dem coerced predicate <?page no="280"?> 6 Diskussion 280 (Ereignis) in der Subjektposition und dem Individuum in der Objektposition (gilt auch für engl. enjoy). Psychologische Prädikate selegieren nach Pustejovsky Ereignisfunktionen in der Subjektposition. Im Folgenden wird der Eintrag für anger vorgestellt (vgl. Pustejovsky 1995: 211, (66)), wobei aus Pustejovskys Ausführungen nicht hervorgeht, warum der Kopf auf den Prozess festgelegt wird statt auf den Zustand 155 oder warum eine Festlegung nicht ganz vermieden wird (wie bei dem allgemeinen Muster für kausative Verben): (14) anger ARG 1 = [< , <e 1 , t>>] ARGSTR = ARG 2 = animate_ind FORMAL = physobj E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : state RESTR = <° α HEAD = e 1 experiencer_lcp QUALIA = FORMAL = angry (e 2 , ) AGENTIVE = exp_act (e 1 , ) Im Folgenden werden nun die in Kapitel 5.3 vorgestellten spanischen psychologischen Verben wieder aufgegriffen, um zu überlegen, wie der generative Lexikoneintrag aussehen müsste. Für das Verb alegrar(se) wurden die folgenden Bedeutungen für den GL-Eintrag erarbeitet: 1. causar alegría (tr.): Prozess + (psych.) Zustand 2. causar (tr.) a) alivio, b) excitación (tauro), c) más grato aspecto (Gegenstände) -> alle Prozess + Zustand 3. sentir, recibir alegría (intr.): Prozess + (psych.) Zustand; hier ist auch ponerse alegre (m. Alkohol als mögliches Default-Argument = Instrument) subsumierbar; es handelt sich um ein typisches psychologisches Prädikat. Es zeigt sich, dass 2) eine Ausweitung des ursprünglich auf psychologische Prozesse und Zustände orientierten Bedeutungsspektrums darstellt: Das Verb könnte nach dem Verständnis von Pustejovsky von change of state-Verben auch unter das allgemeine Muster kausativer Verben fallen, da der resultierende Zustand nicht mehr unbedingt psychologisch zu sein braucht. Daher werden im Folgenden zwei Vorschläge für den generativen Lexikoneintrag gemacht und gegeneinander abgewogen: a) nach dem 155 Nach Pustejovsky (1995: 210) gilt sogar für die komplette semantische Form eines psychologischen Verbs: „rather is a causative act which predicates a certain state of the person performing the act, hence, the experience“. <?page no="281"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 281 experienced causation-Modell (15a) und b) nach dem default causative-Modell (angewandt wie bei decender und morir, 15b). (15a) GL-Eintrag für alegrarse als psychologisches Verb alegrarse ARG 1 = [< , <e 1 , t>>] ARGSTR = ARG 2 = animate_ind FORMAL = physobj E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : state RESTR = <° α HEAD = e 1 experiencer_lcp QUALIA = FORMAL = alegre (e 2 , ) AGENTIVE = exp_act (e 1 , ) (15b) GL-Eintrag alegrar(se) als allg. kausativ/ unakkusatives Verb alegrar(se) ARGSTR = ARG 1 = animate ind FORMAL = entity ARG2 = physobj FORMAL = entity EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = <α HEAD = QUALIA = default-causative-lcp FORMAL = alegre_result (e 2 , ) AGENTIVE = alegrar_act (e 1 , , ) Auch hier ist nun wieder abzuwägen, welcher der bessere Eintrag (im Sinne von lexikalischer Ökonomie und Sprachwandelprozessen) ist, was bereits zeigt, dass eine Reanalyse möglich ist und möglicherweise schon einmal stattgefunden hat. Während alegrarse als psychologisches Verb inhärent reflexiv ist und damit am ehesten die dritte Bedeutung im Eintrag (15a) erfasst wird, drückt Eintrag (15b) eine Möglichkeit für die Abbildung aller Bedeutungen aus, in denen se außerdem nicht als echtes Argument zu <?page no="282"?> 6 Diskussion 282 konzipieren ist. Der stärker unterspezifizierte Eintrag erweist sich damit als die ökonomischere Variante. Für das zweite psychologische Verb, holgar, wurden bereits die folgenden, für den Eintrag im generativen Lexikon relevanten Bedeutungen erarbeitet: 1. parar/ cesar de trabajar, estar ocioso, descansar : (intr.): nicht arbeiten, ausruhen (Personen), (privativer) Zustand 2. celebrar, divertirse, alegrarse: Prozess + (psych.) Zustand 3. estar sín uso, ejercicio (intr.): Gegenstände ohne Funktion, Sinn, außer Gebrauch: privativer: Zustand Insgesamt wird hier deutlich, dass die drei Bedeutungen eine logische Polysemie aufweisen: einerseits wird ein Zustand (des Nichtstuns bzw. des Nicht-nützlich-Seins) ausgedrückt, auf der anderen Seite (2.) ein Prozess, der zu einem neuen (psychischen) Zustand führt, der jedoch im Vordergrund steht. Für eine Anwendung des anger- Modells spricht, a) dass holgar nicht transitiv verwendet wird und b) dass bei holgar wie bei anger nicht erst der ganze Prozess ablaufen muss, bevor das Resultat erreicht wird. Entsprechend wird das Modell der experienced causation angewandt: (16) holgar ARG 1 = [< , <e 1 , t>>] ARGSTR = ARG 2 = animate_ind FORMAL = physobj E 1 = e 1 : process EVENTSTR = E 2 = e 2 : state RESTR = <° α HEAD = e 2 experiencer_lcp QUALIA = FORMAL = holgado (e 2 , ) AGENTIVE = exp_act (e 1 , ) Auch die Gruppe der psychologischen Verben lässt sich also mit unterschiedlichen Typen von Einträgen erfassen. 6.2.5 Lexikoneinträge für transitive (passivierbare) Verben Für das transitive Verb conocer wurden für den Eintrag im generativen Lexikon die folgenden Bedeutungen erarbeitet: 1. averiguar, tener idea clara de un objeto (a base de facultades intelectuales, tr.): Prozess + Zustand 2. percibir, experimentar, echar de ver, sentir un objeto (tr.): Prozess (Perzeption) + Zustand, hier steht der Prozess im Vordergrund <?page no="283"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 283 3. confesar, reconocer, mostrar agradecimiento (tr.): Prozess + (psych.) Zustand 4. tener trato. comunicación, acto carnal (tr.): Prozess (Transfer) + Zustand Diese Bedeutungen deuten darauf hin, dass conocer kein einfaches Zustandsverb (wie etwa von Vendler (1967) suggeriert) sein kann. Bei den Bedeutungen percibir, experimentar etc. steht der Perzeptionsprozess mehr im Vordergrund als bei den anderen Bedeutungen und muss entsprechend integriert werden, so dass sich hier die Notwendigkeit eines Lexikoneintrags ergibt, bei dem entweder der Prozess oder der Zustand schattiert werden kann. Es besteht insofern eine Analogie zum transitiven Verb build (vgl. Kapitel 1.2), als die Prozesse hier zu neuem Wissen führen und das „create-lcp“ angewandt werden kann, das auch der Eintrag von build beinhaltet. Als ebenfalls transitives (und einen neuen Wissenszustand bewirkendes, also kausatives) Verb muss conocer eine linksköpfige Ereignisstruktur haben; dies würde bei Analogie zum Eintrag für build jedoch den Prozess als Kopf festlegen und der Intuition, dass es sich vorwiegend um ein (Wissens-) Zustände bezeichnendes Verb handelt, zuwiderlaufen. Daher werden im nachstehenden Eintrag die Unterereignisse vertauscht (e 1 = Zustand, e 2 = Prozess), um ausdrücken zu können, dass es sich um ein transitives Zustandsverb handelt, und die Möglichkeit, den Prozess auszudrücken, beizubehalten. Im Unterschied zu build ist hier kein default- Argument gegeben. (17) conocer ARGSTR = ARG 1 = animate_ind FORMAL = physobj ARG 2 = artifact FORMAL = obj EVENTSTR = E 1 = e 1 : state E 2 = e 2 : process RESTR = < HEAD = e 1 QUALIA = create-lcp FORMAL = exist(e 1 , ) AGENTIVE = conocer_act(e 2 , ) Für den Eintrag von poblar im generativen Lexikon wurden die folgenden Bedeutungen als relevant erarbeitet: 1. erigir, fundar una población/ un pueblo (tr.): Aufbau der Siedlung, Prozess + Zustand (neue Siedlung = resultierender Zustand) <?page no="284"?> 6 Diskussion 284 2. ocupar un sitio, establecer gente en un lugar (tr.): einen Platz besetzen (für Siedlungszwecke), Prozess + Zustand (Ort besetzt, durch Menschen: erweitert um Tiere und Gegenstände) 3. procrear mucho (tr.): Prozess + Zustand (sowohl Menschen als auch Bäume) Diese Bedeutungen, die alle auf der Ereignisstruktur „Prozess + (resultierender) Zustand“ aufbauen, sind homogen und zeigen überdies, dass poblar sich im Grunde noch weiter abstrahieren lässt wie etwa „eine Siedlung/ Bevölkerung aufbauen“, und damit dem Verb build stark ähnelt. Dessen Lexikoneintrag kann weitgehend übernommen und an poblar angepasst werden, wie im Folgenden gezeigt wird, wobei als Default-Argument die belebten Individuen als Ortsbesetzer eingetragen werden: (18) poblar ARGSTR = ARG 1 = animate_ind FORMAL = physobj ARG 2 = artifact CONST = FORMAL = physobj D-ARG 1 = pobladores FORMAL = animate_ind EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < HEAD = e 1 QUALIA = create-lcp FORMAL = exist(e 2 , ) AGENTIVE = poblar_act(e 1 , , ) 6.2.6 Lexikoneinträge für Auxiliare: ser vs. essere und être In diesem Abschnitt werden auf der Basis der bisher vorgestellten Lexikoneinträge und Diskussionen vergleichend am Beispiel des heutigen essere und être einerseits und ser andererseits gezeigt, wie die aktuellen sprachspezifischen Eigenschaften (Mikro-Parametrisierungen im Sinne von Remberger 2006 und Kayne 2000) erfasst werden können. Alle drei Verben sind polysem, aber es liegt keine logische Polysemie vor (keine transitive Verwendung), weshalb die verschiedenen lcp hier keine Anwendung finden. Die Unterschiede liegen vielmehr in der (Nicht-)Festlegung des Kopfes zwischen Prozess- und Zustands-Lesart. Die Präsentation der GL-Einträge beginnt mit dem <?page no="285"?> Lexikoneinträge für ausgewählte spanische Verben 285 italienischen essere, von dem aus die Ähnlichkeit des französischen être und die Unterschiedlichkeit des spanischen ser besonders deutlich werden. Der generative Lexikoneintrag für essere muss folgende Bedeutungen abbilden können: 1. Vollverb: a. Ausdruck einer Existenz oder Essenz: Dio è/ Dio non è (vgl. Lo Zingarelli) b. Ausdruck eines Geschehens: che sarà di me? (vgl. Lo Zingarelli) 2. Kopula = Aussage: essere buono, operaio etc. (Lo Zingarelli) 3. Unpersönliches Prädikat: è caldo, è Pasqua (Lo Zingarelli) 4. Ausdruck weiterer Relationen, z. B. Herkunft, Richtung, Zweck, Präferenz, Notwendigkeit, Möglichkeit (jeweils mit Präpositionalphrase, z.B. è in cattivo stato, è d’oro, è di mia nonna, è da Firenze, è per te, vgl. Lo Zingarelli) = div. Relationen 5. Auxiliar (in allen Modi und Tempora m. Ausnahme des trapassato remoto): a. unakkusativer und reflexiver Verben: Ausdruck einer Zustandsveränderung bzw. eines neuen Zustands: è arrivato, è imbianchito, è accaduto, si è rotto transitiver b. perfektiver Verben: La porta è chiusa c. zwei Lesarten für Passivauxiliare (vgl. Kapitel 3): i. passivische Interpretation und damit Beschreibung einer Aktion (favorisiert, wenn Agens-Komplement oder ein nicht-resultatives Adverb hinzugefügt wird zur Disambiguierung, außerdem tempusabhängig): La porta è chiusa (da Piero/ da due ore/ violentemente)/ La porta fu chiusa ii. Zustands-Interpretation (Resultat einer vorherigen Aktion): il libro è stampato (generell favorisierte Lesart) Um beide Lesarten der Auxiliare zu erfassen, erfolgt keine Festlegung des Kopfes im folgenden Eintrag, wenngleich die meisten Bedeutungen als Kopf „Zustand“ favorisieren. Der Lexikoneintrag legt eine binäre Ereignisstruktur Prozess/ Zustand zugrunde: (19) essere ARGSTR = ARG 1 = [x: object] FORMAL = (abstract) entity D-ARG 1 = [y: relation (possessive, local, …] EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < ° QUALIA = FORMAL = exist (e 2 ) KONST = predicate (x, y) Für être gelten im Wesentlichen die gleichen abzubildenden Bedeutungen, so dass der Lexikoneintrag in (19) auch für das französische Äquivalent von essere gelten kann: <?page no="286"?> 6 Diskussion 286 1. Vollverb: a. Ausdruck einer Existenz oder Essenz: Cela n‘est pas et ne sera pas (vgl. Petit Robert) b. Ausdruck eines Geschehens: être à la préparation d’une présentation scientifique 2. Kopula = Aussage: La terre est ronde. Je suis jeune etc. (Petit Robert) 3. Unpersönliches Prädikat: Nous sommes le 2 mars (Petit Robert) 4. Ausdruck weiterer Relationen, z.B. Ort, Herkunft, Besitz, Notwendigkeit (z.B. être bien/ mal, ceci est à moi, je suis à l’hôtel de la gare, il est à admirer, vgl. Petit Robert) = div. Relationen 5. Auxiliar: a. aller reflexiven, aber nur einiger unakkusativer Verben: je me suis trompé, je suis arrivé/ venu/ tombé b. Zwei (tempusabhängige) Lesarten für être als Passivauxiliar (vgl. Kapitel 3): i. La porte est fermée (ohne Agens-Angabe, Tempora Präsens, Futur, Imperfekt): nur Resultat-Lesart La porte est ouverte lentement/ avec precaution: Vorgangs-Lesart präferiert ii. La porte fut fermée. La rue a été bloquée. (In den Tempora passé simple und passé composé wird eine Vorgangs-Lesart präferiert und ein Agens evoziert) Demgegenüber weist nun das heutige spanische ser eine reduzierte Liste von Bedeutungen auf, die im GL-Eintrag erfasst werden müssen. Davon sind 1) und 5) klar Vorgangs-bezogen, während die anderen drei Bedeutungen Aussagen und Relationen ermöglichen, die temporäre Gültigkeit haben, nicht im engeren Sinne Zustände ausdrücken (und hierin Ähnlichkeit zu den italienischen und französischen Äquivalenten aufweisen): 1. Vollverb: Ausdruck eines Geschehens: La sesión es en la sala 102. 2. Kopula = Aussage: Juan es joven/ abogado etc. 3. Unpersönliches Prädikat: Hoy es el 15 de mayo. 4. Ausdruck weiterer Relationen, z. B. Herkunft, Besitz, Schicksal, Preis (z.B. Soy de Salamanca/ esta moto es de Pablo/ ¿ Qué será de mi hija? / La diferencia es de 100 euros) = div. Relationen 5. Auxiliar: nur Passivauxiliar mit der Prozess-Lesart: El pueblo fue destruido por un terremoto (vgl. Kapitel 3) Aus diesen Bedeutungen ergibt sich, dass im Eintrag für ser in (20) eine Festlegung des Kopfes auf Prozess (Unterereignis e 1 ) vorgenommen werden kann. Damit ist aus diachroner Perspektive die offene Interpretation des Altspanischen nicht mehr verfügbar. <?page no="287"?> Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels 287 (20) ser ARGSTR = ARG 1 = [x: object] FORMAL = (abstract) entity D-ARG 1 = [y: relation (possessive, local, …] EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < ° HEAD = e 1 QUALIA = FORMAL = exist (e 2 ) KONST = predicate (x, y) 6.2.7 Zwischenbilanz Die Abbildungen der Kernbedeutungen der ausgewählten spanischen Verben in den vorigen Abschnitten zeigen, dass Polysemien mit der Generativen Lexikontheorie erfasst werden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Verbgruppen, aus denen die ausgewählten Verben als Vertreter behandelt wurden, gar nicht so homogen sind wie erwartet und daher nicht als Primitiva gelten sollten. Besonders interessant ist jedoch, dass bei einigen Verben mehrere lcp-Konzeptionen möglich sind, die damit einen Raum für Reanalysen eröffnen, die in Bedeutungswandelprozessen eine Rolle spielen können und wahrscheinlich gespielt haben. Im nächsten Unterkapitel werden die hier bereits angedeuteten Überlegungen zu Wandelprozessen und zu einer Ökonomie des Lexikons weiter ausgeführt. 6.3 Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels Während in Kapitel 6.2 generative Lexikoneinträge für bereits lexikalisierte Bedeutungen erstellt und diskutiert wurden, geht es in diesem Abschnitt um mögliche neue Bedeutungen oder Innovationen, wobei längst nicht jede auch Verbreitung oder gar den höchsten Grad, nämlich Lexikalisierung und Eintrag in einem als nationaler Standard anerkannten Wörterbuch wie dem RAE findet (vgl. sinngemäß auch Blank 1997: 124). Auch Zwischenstufen wie eine Innovation in einer kleinen Sprechergruppe oder in einer Varietät, die nicht Standardvarietät ist und nicht über den gleichen Ausbau verfügt wie die Standardvarietät, sind denkbar, sowie natürlich das Absterben der Innovation zu jedem Zeitpunkt. Auch muss unterschieden werden zwischen den mehr oder weniger bewusst geschaffenen Innovationen, mit denen ein neues Konzept versprachlicht werden soll, und den eher unbewussten hörerseitigen Reanalysen, die zumeist auch mehr als ein Wort invol- <?page no="288"?> 6 Diskussion 288 vieren (vgl. unten) und eher unabsichtlich einen Bedeutungswandel (sowie evtl. auch in Folge dessen einen syntaktischen Wandel) evozieren wie z.B. im Fall der Auxiliare (vgl. Kapitel 6.1). Die von Blank (1997) entwickelte Theorie des Bedeutungswandels mit kognitiven Verfahren und Motiven behandelt vorrangig erstere. Für beide gilt jedoch, dass eine Theorie des Bedeutungswandels drei Phasen erklären können muss: 1) Entstehung einer neuen Bedeutung bei einzelnen Sprechern, 2) ihre Ausbreitung und 3) ihre Lexikalisierung 156 . 6.3.1 Reanalyse und Polysemie in der Ereignisstruktur von Verben In Kapitel 1.2.3 wurde im Rahmen der Begriffsklärung zu Reanalyse und Grammatikalisierung festgehalten, dass die Reanalyse gerade nicht Ambiguität voraussetzt, sondern erschafft, wobei aber natürlich auch bereits Ambiges immer wieder aufs Neue reanalysiert werden kann. Gerade die von Pustejovsky ins Zentrum gerückte Unterspezifikation gibt Anlass zur Annahme, dass permanent neue Ambiguität erschaffen wird. Folgt man Waltereit (1999), ist der Reanalyseprozess eine hörerseitige Innovation, bei der durch Inferenz eine neue, metonymisch mit dem Gesagten verbundene Interpretation entsteht, die dann zur neuen Norm werden und lexikalisiert werden kann. Lang und Neumann-Holzschuh (1999) beziehen auch die größere Diskurseinheit ein, auf jeden Fall aber den direkten syntaktischen Zusammenhang, in dem eine Reanalyse erfolgt, und sehen die Reanalyse nicht als Vorgang, der nur auf ein Wort bezogen ist. Dies schließt einander jedoch nicht aus: Es ist plausibel anzunehmen, dass zumindest ein ganzer Satz in einem größeren Äußerungszusammenhang reanalysiert wird, und zwar genauer die in diesem Satz gegebene Beschreibung eines Ereignisses. Damit rückt dann auch die Struktur des Ereignisses und der an ihm beteiligten Partizipanten (bewusst nicht: Aktanten oder Argumente, sondern auch weitere Elemente, die nicht zwingend der Argumentstruktur des beteiligten Verbs angehören müssen, aber für eine bestimmte temporale Verankerung und aspektuelle Interpretation sorgen können) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Bevor im Folgenden weiter überlegt wird, wie es zu einer Reanalyse kommen kann und welche Mechanismen des generativen Lexikons hieran beteiligt sind bzw. an der Ausbreitung und Lexikalisierung neuer Strukturen mitwirken (6.3.2), wird hier das Konzept der Unterspezifikation noch einmal ausführlicher aufgegriffen, wobei deutlich wird, dass Unterspezifikation im Lexikon der Normalfall ist. Anders als Blank (1997), der Polysemie als ein (überwiegend temporäres) Phänomen im Bedeutungswandelprozess 156 In diesem Sinne ist Lexikalisierung also die Fixierung der Innovation im Lexikon. In Kapitel 1.2.3 wurde hingegen Lexikalisierung im Zusammenhang mit Grammatikalisierung und Degrammatikalisierung erörtert,wobei Lexikalisierung ein Prozess ist, in dem lexikalische Zeichen, die von grammatischen Regeln gebildet wurden, nicht länger auf diese Weise wahrgenommen werden, sondern einfach als Lexeme (Ramat 1992) bzw. die Bildung eines lexikalischen Elements aus einem nichtlexikalischen Element (van der Auwera 2001). Es geht dabei um die nicht genau beschriebene Entstehung der Innovation, wobei van der Auwera festhält, dass Lexikalisierung nicht einfach die Umkehrung der Grammatikalisierung ist, die er als Degrammatikalisierung bezeichnet. Im Unterkapitel 6.3.2 wird überlegt, was Lexikalisierung unter den Bedingungen des Generativen Lexikons bedeutet und wie dieser Prozess abläuft. <?page no="289"?> Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels 289 (synchrone Erscheinung als Überlappung von Bedeutungen eines Lexems) konzipiert, ist Unterspezifikation von lexikalischen Elementen bei Pustejovsky eine Voraussetzung. Die Unterspezifikation (mit ihren verschiedenen Ausprägungen) spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Analyse von Polysemie. In den Begriffen der generativen Lexikontheorie tritt Polysemie auf, wenn ein lexikalischer Ausdruck unspezifiziert für den Kopf, also kopflos, ist. Kopflose Ereignisstrukturen erlauben zwei mögliche Interpretationen oder aber, genereller, so viele, wie es potentielle Köpfe gibt. Um den Aspekt der Ambiguität in der Köpfigkeit zu diskutieren, sei die Idee noch einmal kurz rekapituliert (vgl. Kapitel 1.2). Laut Pustejovsky (1995) ergeben sich aus der Kombination einer binären Ereignisstruktur mit den drei vorgenannten temporalen Anordnungsrelationen (< , ◦ und <◦ ) entweder sechs verschiedene mögliche Kopfkonfigurationen mit zwei Ereignissen, wenn man einen einzigen Kopf annimmt (wie in der Syntax üblich 157 ), oder zwölf mögliche Konfigurationen, wenn solche ohne Kopf (unterspezifiziert) oder mit zwei Köpfen integriert werden. Die zwölf möglichen Konfigurationen veranschaulicht Pustejovsky (1995: 73, (28)) an unterschiedlichen englischen Verben (Beispiel (12) aus Kapitel 1 wird hier wieder aufgegriffen): (21) a. [ eσ e 1 * < e 2 ] build b. [ eσ e 1 < e 2 *] arrive c. [ eσ e 1 * < e 2 *] give d. [ eσ e 1 < e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT e. [ eσ e 1 * ◦ e 2 ] buy f. [ eσ e 1 ◦ e 2 *] sell g. [ eσ e 1 * ◦ e 2 *] marry h. [ eσ e 1 ◦ e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT i. [ eσ e 1 * <◦ e 2 ] walk j. [ eσ e 1 <◦ e 2 *] walk home k. [ eσ e 1 * <◦ e 2 *] - ? ? l. [ eσ e 1 <◦ e 2 ] - UNTERSPEZIFIZIERT Wie aus den bisherigen Ausführungen und Anwendungen hervorgeht, arbeitet Pustejovsky intensiv mit den unterspezifizierten Konfigurationen und kaum mit denjenigen, die zwei Köpfe aufweisen. Gleichzeitig ist noch einmal auf seine Aussage (Pustejovsky 1995: 73) hinzuweisen, dass die unterspezifizierten Konfigurationen ohne Kopf auf der Oberflächenstruktur nicht-wohlgeformt sind, während doppelköpfige Ereignisse offensichtlich kein Problem darstellen. Weitere Informationen zur Unterspezifikation, soweit sie Verben betreffen, können aus einer weiteren Arbeit von Pustejovsky (1998) ergänzt werden, in der er drei Typen von Unterspezifikation unterscheidet (vgl. Pustejovsky 1998: 2, Unterstreichung wie im Original): 157 Vgl. aber Remberger (2006) zu Strukturen mit multiplen Spezifikatoren, die mehrköpfige Ereignisse syntaktisch abbilden können. <?page no="290"?> 6 Diskussion 290 A Weak Structural Underspecification: Underspecification of an interpretation that comes about through composition in the sentence. B. Weak Lexical Underspecification: Underspecification due to accidental ambiguity of a lexical sign. C. Strong Lexical Underspecification: Underspecification is present initially in a representation and is resolved through compositionality. Die erste Kategorie, so Pustejovsky, umfasst logische Formen, die multiple Interpretationen eines Satzes erlauben und wird von ihm nicht weiter behandelt. Ähnliches gilt für die Kategorie B, die zufällige lexikalische Ambiguität (Homonymie) betrifft. Pustejovsky (1998) untersucht vorrangig Kategorie C, die die entscheidende Aussage über die Unterspezifikation trifft: sie ist der Normallfall in einer Ausgangsrepräsentation. In dieser Kategorie identifiziert Pustejovsky die folgenden vier grundlegenden Phänomene lexikalisch unterspezifizierter Elemente (vgl. Pustejovsky 1998: 2 f.): i. Deep semantic typing: Single argument polymorphism ii. Syntactic alternations: Multiple argument polymorphism iii. Terms of Generalization: light verbs and general predicates iv. Complex typing: objects which are contextually specified Bezüglich des Typs i. gibt Pustejovsky Beispiele für zwei Untertypen: einerseits geht es um Beispiele des begin-Typs (to begin to read the novel vs. to begin the novel), in dem Typerzwingung operiert; andererseits kann es sich um verschiedene Interpretationen von Adjektiven handeln, die Nomina modifizieren (z.B. a good book, a dangerous car). Im Gegensatz zu diesen Fällen von „single argument polymorphism“ klassifiziert Pustejovsky (1998: 3) die in der vorliegenden Arbeit besonders interessierenden Phänomene syntaktischer Alternationen (mit explizitem Hinweis auf Diathesen) als Typen des Polymorphismus über mehrere Parameter, auch als „multiple argument polymorphism“ bezeichnet. Als Beispiele hierfür nennt Pustejovsky (1998: 4, (5-7), Übernahme der Unterstreichungen im Original): (22) a. The window opened suddenly. b. Mary opened the window suddenly. (23) a. Bill began his lecture late. b. The class began on time. (24) a. Mary risked death to save her son. b. Mary risked her life to save her son. In diesen Beispielen verhält sich das Verb polymorph, indem es in multiplen syntaktischen Kontexten und in regelmäßigen Alternationen auftrittt. Um die zugrundeliegenden semantischen Ähnlichkeiten dieser Paare zu erfassen, hält es Pustejovsky für möglich, die Verben als unterspezifiziert zu betrachten, durch eine semantische Unterspezifikation des Verbtyps und der Weise, wie der Typ mit syntaktischen Projektionen assoziiert wird. Eine weitere Art von Unterspezifikation sieht Pustejovsky (1998: 4) im syntaktischen und semantischen Verhalten von light verbs (vgl. das Beispiel von Pustejovsky 1998: 4, (9)): <?page no="291"?> Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels 291 (25) a. Jane gave an interesting talk yesterday. b. John gave me his cold. c. John gave an exam last night. In solchen Fällen gilt nach Pustejovsky die typische Strategie, dass die Verben lexikalisch markiert sind als solche, denen Eigenschaften der Thetarollen-Zuweisung fehlen (wie z.B. die Auxiliare). Alternativ werden sie mit einer unmarkierten Rolle spezifiziert. Die meisten Verben weisen einen bestimmten Grad von Interpretationsflexibilität im Hinblick auf die selegierten Komplemente auf. In diesem Zusammenhang weist Pustejovsky (1998: 5) jedoch die Versuchung, diese Phänomene als Aspekte einer gemeinsamen Operation zu betrachten, zurück: Eine solche Unifikation sei nicht möglich, wenn einige Verben lexikalisch so spezifiziert sind, dass ihnen für bestimmte Argumente semantischer Gehalt fehlt (wie have und give), während andere lediglich ihre Bedeutung in verschiedenen Kontexten „modulieren“ (wie z.B. open und close sowie in der vorliegenden Arbeit die sogenannten Semiauxiliare). Er schlägt vor, dass die Operation der Ko-Komposition uns befähigt, alle Verben und Präpositionen zu einem bestimmten Grad als „light“ zu analysieren. Diese grundlegenden Annahmen zeigen, dass die zentrale Frage nicht lauten kann „Wie wird nun eine Ereignisstruktur kopflos und damit mehrdeutig? “. Vielmehr muss umgekehrt danach gefragt werden, wie die Köpfigkeit festgelegt wird und damit bestehende Ambiguitäten beseitigt werden. Es wird im Weiteren davon ausgegangen, dass logische Polysemie die Norm ist und die Festlegung eine Abweichung, die aufgrund bestimmter Eigenschaften und Notwendigkeiten erfolgt. Dies führt zum nächsten Gesichtspunkt: So wie im Minimalistischen Programm für die Syntax angestrebt 158 , sollte auch das Lexikon möglichst „optimal“ im ökonomischen Sinne sein. Ein von vornherein auf Polysemie (in Form von Unterspezifikation) aufbauendes Lexikon nimmt weniger kognitive Ressourcen in Anspruch. Es erlegt den Sprechern und Spracherwerbern dafür auf, sich (in jeder Generation) neu zu orientieren und bestimmte Festlegungen zu treffen, schafft dafür aber auch sehr viel Raum für Kreativität. Bei den Festlegungen im Bereich der Verben, insbesondere der ereignisstrukturellen Eigenschaften, die ein Kind im Spracherwerbsprozess zu treffen hat, spielt Telizität eine zentrale Rolle, wie Schulz, Wymann und Penner (2001) in ihrer Studie zeigen, die im Rahmen der generativen Lexikontheorie steht: Die deutschen Verben „aufmachen“ und „zumachen“ sind aufgrund ihrer eindeutigen Telizität optimal geeignet für den Einstieg in den Erwerb von Ereignisstrukturen („event structural bootstrapping“ nach Schulz et al. 2001: 407): Der Kopf von Transitionen ausdrückenden Verben wird von deutsch monolingualen Kindern sehr früh erworben (kurz nach dem ersten Geburtstag), allerdings nur von normal entwickelten Kindern, nicht von den ebenfalls untersuchten Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung (vgl. weiter unten). Die Autoren zeigen, dass erstere sehr früh nach dem perfekt telischen Verb suchen, um den Ereigniskopf zu finden, der bei diesen beiden Verben problemlos auf den Endzustand fällt und daran eine initiale Repräsentation der Ereignisstruktur ausrichten, die ihnen im weiteren 158 Besonders explizit wird dieser Anspruch in Chomsky (2001: 1) formuliert. <?page no="292"?> 6 Diskussion 292 Erwerbsprozess hilft. So realisieren fünf untersuchte normal entwickelte Kinder von diesen Verben zunächst die Partikel „auf“ und „zu“ für „aufmachen“ und „zumachen“ im Alter von 1; 2,18 bis 1; 6,1, während Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung nicht mit „auf“ und „zu“, sondern mit deiktischen Verbpräfixen wie „rauf“ und „runter“ einsteigen und dies auch deutlich später (zwischen 2; 0 und 2; 4), wobei sie mit diesem Einstieg nicht die initiale grundlegende Ereignisstruktur von Transitionen erwerben können. Die von Schulz et al. (2001) unternommene Studie ermittelt das Ausmaß der Auswirkungen dieser unterschiedlichen Strategien in einem Experiment, das hier nicht im Detail dargestellt werden kann. Zentral für die weiteren Überlegungen ist, dass Telizität von Prädikaten offensichtlich ein ganz wichtiger und - anders als andere, z.B. pragmatische und enzyklopädische, Informationen - ein sehr früh zugänglicher Baustein der Orientierung bei polysemen Verben ist. Es ist denkbar, dass eine Uminterpretation (Reanalyse) zunächst auch nur auf der Ebene des verbalen Aspekts stattfindet, also im ersten Schritt nur der Zustand erkannt wird, dann erst der Prozess und in einem weiteren Schritt polysem telisch/ atelische Verben in beiden Funktionen verwendbar werden, in Abhängigkeit von jeweiligen Satz (Ko-Komposition mit anderen Elementen, die u.a. die Art und Weise einer Bewegung anzeigen). Diese Vermutung wird auch von den Entwicklungen der spanischen Verben unterstützt, die Larochette (1939) dokumentiert (vgl. Kapitel 4.2). Pustejovsky (1995: 122) definiert Ko-Komposition wie folgt „Co-composition describes a structure which allows, superficially, more than one function application“. Er veranschaulicht diese am englischen Beispiel bake, das zwei Bedeutungen hat, eine Zustandsveränderung (John baked the potato) und eine Kreation (John baked a cake). Er argumentiert nun dafür, dass es nur eine Bedeutung für bake gibt und die andere, die der VP bake a cake, durch bestimmte Operationen entsteht (vgl. Pustejovsky 1995: 124): Zuerst bindet eine konventionelle Funktionenanwendung das Objekt cake in die Argumentstruktur von bake ein. Zweitens findet ein Typ von Merkmals-Unifikation statt, welche durch die Identität von Qualia-Werten für AGENTIVE im Verb und seinem Komplement lizensiert wird 159 , so dass Folgendes gilt: Q A (bake) = Q A (the cake). Insgesamt resultiert aus dieser Operation der Ko-Komposition eine Qualia-Struktur des Verbs, die Aspekte beider Konstituenten reflektiert, wobei diese nach Pustejovsky (1995: 124) folgende einschließen: 1. Das regierende Verb bake wendet sich seinem Komplement zu. 2. Das Komplement ko-spezifiziert das Verb. 3. Die Komposition der Qualiastruktur ergibt eine derivierte Bedeutung des Verbs, in der die verbale und die Komplement-eigene AGENTIVE-Rolle zusammenpassen, und das formale Quale des Komplements wird zur formalen Rolle der ganzen VP. Nach Pustejovsky erfolgt hier also eine Vereinigung der Qualia von Verb und Komplement, deren Anwendungsbedingungen er wie folgt formalisiert (vgl. Pustejovsky 1995: 124, (52)): 159 Pustejovsky (1995: 123, (50, 51)) zeigt in seinen Einträgen beider Elemente AGENTIVE = bake_act an. <?page no="293"?> Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels 293 (26) FUNCTION APPLICATION WITH QUALIA UNIFICATION: For two expressions, α, of type <a,b>, and β, of type a, with qualia structures QS α and QS β , respectively, then, if there is a quale value shared by α and β, [ QSα … [Q i = γ]] and [ QSβ … [Q i = γ]], then we can define the qualia unification of QS α and QS β , QS α ∏QS β , as the unique greatest lower bound of these two qualia structures. Further, α (β) is of type b with QS α(β) = QS α ∏QS β. Hiermit wird bei der Derivation von Wortbedeutungen wie bei bake ein Teil der semantischen „Last“ auf die NP velegt und damit suggeriert, dass das Verb selbst nicht polysem ist. Es wirkt nur so, da bestimmte Komplemente (nämlich diejenigen, die das Verb ko-spezifizieren), durch Ko-Komposition etwas zur Basisbedeutung des Verbs hinzufügen. Insgesamt entsteht in diesem Beispiel eine semantische Repräsentation auf VP-Ebene, die strukturell identisch zur lexikalischen Form eines Kreationsverbs wie build ist. Pustejovsky (1995: 125) argumentiert ferner, dass die Kreations-Bedeutung von bake die Zustandsveränderungs-Lesart bereits beinhaltet, was aufgrund systematischer Regeln der Komposition erfolgt, also über generative Operationen in der Semantik und eben nicht über lexikalische Auflistungen. Pustejovsky (1995: 253, Fn. 17) beschreibt weitere Anwendungen des Verfahrens: So ist die light verb specification das Verfahren, in dem ein spezifischer „Sinn im Kontext“ bestimmter Verben durch das Komplement bestimmt wird. In vielen solchen Fällen agiert das Verb nur als generelle Funktion über qualiabasierte Informationen des Komplements, wobei Pustejovsky hierzu die Verben open, close, break und fix zählt. Weitere Anwendungen sind manner co-composition und feature transcription. Bei manner co-composition geht es darum, wie ein Argument des Verbs selbst die Art und Weise spezifiziert, in der das Verb auf das Objekt einwirkt, wobei hier zwei Untertypen unterschieden werden: a) das Objekt spezifiziert die Art und Weise (Beispiele sind hier die englischen Verben try und sample) und b) das Subjekt spezifiziert die Art und Weise, wobei hier kausative (wiederum break) und psychologische Verben als Beispiele angegeben werden. Feature transcription involviert solche Konstruktionen, in denen ein Modifikator in einem Ausdruck Information beisteuert, welche ein semantisches Merkmal dieses Ausdrucks, das unspezifiziert war, nun weiter spezifiziert. Pustejovsky hebt in seiner Fußnote hervor, dass er die genannten Operationen nicht als typverändernde Operationen betrachtet (obwohl er die Ähnlichkeit zu Typerzwingungen anmerkt). Er erklärt, dass sie qualiabasierte Informationen verwenden, um die Bedeutung des Verbs „im Kontext“ weiter zu spezifizieren. Abschließend sei angemerkt, dass es sich hierbei nach Pustejovsky (2000b), der die gegenseitige semantische Spezifizierung als „Solidarität“ bezeichnet, die er als einen Ausdruck der Ökonomie von Ausdrücken ansieht, der auch die kreative Verwendung von Wörtern in neuen Kontexten veranschaulicht. Demnach spielt der Ökonomie- Gedanke auch in Pustejovskys Konzeptionen eine Rolle, und Ko-Komposition ist ein kognitiv ökonomischer Vorgang. Die Ökonomie-Überlegungen seien hier noch etwas weitergesponnen. Sie spielen auch bei Ramats (1992: 553) Anwort auf die Frage, warum Grammatikalisierung und <?page no="294"?> 6 Diskussion 294 Degrammatikalisierung in natürlichen Sprachen koexistieren, eine Rolle: Laut Ramat gibt es eine spiralförmige Bewegung von Lexikon 1 (via Syntax) zur Grammatik und zurück zu Lexikon 2 (vgl. auch Kapitel 1.2.3). Damit wird Grammatik nicht als finale Phase jeder linguistischen Entwicklung dargestellt, und umgekehrt können Lexikalisierungsprozesse grammatische Elemente veranlassen, die Begrenzungen der Grammatik zu überwinden. Als Auslöser der angenommenen Spiralbewegung betrachtet Ramat (1992: 557) die kontrastierenden kognitiven Prinzipien, zum einen das „Least effort“- Prinzip, welches zu phonetisch reduzierten und opaken Bezeichnungen führt, und zum anderen das gegenläufige Transparenzprinzip, das auf eine optimale Eins-zu-eins- Relation zwischen Form und Bedeutung zielt. Ramats Antwort kann einen Schritt weitergedacht werden: Die genannten Prinzipien lassen sich als Ausprägungen von Ökonomie-Bestrebungen deuten, die in die Idee eines „optimalen“ Lexikons und in eine Sprachwandeltheorie einfließen sollten und in letzterer die Frage der Reanalyse betreffen würden. Larochette (1939) betont in seiner Studie über die intransitiven Verben im Altspanischen die Rolle von se als ursprüngliches „Morphem des Mediopassivs“, welches bereits im Spätlateinischen polysem war. Danach nimmt dieses Element immer weitere Funktionen an, wie Larochette bereits für das Altspanische und Castaño (1999) für das aktuelle Spanisch zeigen. Die Tatsache, dass viele der Verben im Altspanischen mit oder ohne se auftreten konnten (und auch heute noch können), zeigt, dass es sich nicht um ein Argument handelt. Castaño kodiert diesen Umstand in seinem Vorschlag daher so, dass se auf der Ebene des ursprünglichen Ereignisses e 0 (im Gegensatz zu den Unterereignissen e 1 und e 2 , die mit Verbargumenten korrespondieren) in die Ereignisstruktur eingebunden wird und zusätzliche Struktur generiert, d.h. eine neue, zunächst unterspezifizierte Relation, die je nach spezifischem Ereignis und Inhalt dann konkretisiert wird (vgl. Kapitel 3.1.3). Dies ist natürlich ein deutlich größerer Schritt als die Integration einer weiteren, über Untertyp-Erzwingung metonymisch entwickelten Relation. Er lässt sich grob mit Merge im syntaktischen Bereich vergleichen. Larochette deutet in seiner Studie aber auch einen Desambiguierungsbedarf an: Funktionen von Verbmorphemen (bestimmte zunächst umambige Präfixe und Suffixe) gingen auf andere Elemente und auf se über, und bestimmte Unterscheidungen mussten neu getroffen werden, wenn eine zu starke Form-/ Funktionsüberschneidung entstanden war, so dass sich neue Verbformen bildeten. Es fanden also mehrfach Reanalysen der beteiligten Morpheme statt. Reanalyse kann demnach zu neuen Inferenzen und letztlich Bedeutungen führen, die ein generatives Lexikon integrieren können muss. Andererseits kann Reanalyse aber auch den Wunsch umsetzen, bestimmte (bereits ambige) Strukturen anders und möglicherweise wieder eindeutiger zu interpretieren. Der „optimale“ Lexikoneintrag darf demnach nicht zu stark unterspezifiziert sein (in diesem Fall könnte es dann zur Bildung neuer Formen für bereits eingeführte Bedeutungen kommen), aber auch nicht zu stark spezifiziert, um neue Bedeutungen zunächst in enger Beziehung zu bestehenden erzeugen (vor allem durch Verfahren auf Basis von Metonymie und Metapher, vgl. hierzu Blank 1997) und in bestehende Einträge integrieren zu können. Hierfür scheint das <?page no="295"?> Generative Lexikontheorie und Modellierung semantischen Wandels 295 bereits im vorigen Unterkapitel verwendete Verfahren der Typerzwingung geeignet zu sein, mit dem entweder im selben logischen Typ (subtype coercion) oder über mehrere hinweg (true type coercion) eine neue Lesart kreiert werden kann, ohne sie separat einzutragen. Aus den bisherigen Überlegungen resultieren mehrere „Ökonomie-Stufen“: Die erste beinhaltet das Verfahren der Ko-Komposition, das nicht typverändernd wirkt, sondern in dem sich die Bedeutungen in einer Konstruktion gegenseitig beeinflussen. Dies kann eine Grundlage für (mehr oder weniger bewusste) Reanalysen sein, in denen die Bedeutungsanteile der beteiligten Elemente neu gewichtet werden. Die zweite, nächsthöhere Stufe stellt die Typerzwingung mit ihren Untertypen dar, wobei Untertyp- Erzwingung innerhalb desselben lexikalischen Typs als kleinerer Schritt erscheint, während die umfassendere Typerzwingung von Argumenten aufwändiger ist. Besonders stellt sich jedoch die Frage des Aufwands, wenn weitere Ereignisstruktur hinzugefügt wird, wie Castaño es für den Eintrag von se vorschlägt. Auch Danlos (2001) kritisiert die Konzeption von Kausation bei Pustejovsky (vgl. 2.3) und schlägt ebenfalls mehrere ereignisstrukturelle Ebenen vor. Die Hinzufügung einer solchen zusätzlichen Ebene ist ein Vorgang, der wie Merge im syntaktischen Bereich aussieht. Dort wird Merge (gegenüber der Operation Move) als „kostenneutral“ betrachtet. Nun kann, aber muss im Lexikon, das durchaus eigenen Regeln folgt (vgl. auch die Annahmen in Kapitel 1.1), nicht notwendig dieselbe Konzeption von „kognitiven Kosten“ bestehen. Hier soll einmal von einer Parallelität ausgegangen werden, für die es auch Argumente gibt: Die Einfügung einer weiteren ereignisstrukturellen Komponente für se, die mit entsprechenden Einträgen in der Qualiastruktur der Verben korreliert, kann kognitiv weniger aufwändig sein, als immer wieder und für jeden Verbtyp, der mit se zusammen auftreten kann, ein eigenes se (reflexives, inhärentes, mediales se etc.) zu konzipieren, wobei auf Ko-Komposition von Verb + se zurückgegriffen würde. Aus einer solchen Perspektive erscheint die Einführung zusätzlicher Ereignisstruktur insgesamt ökonomischer als immer wieder bestimmte Operationen wie Ko-Komposition oder sogar Typerzwingung durchzuführen. Diese Operationen sind dann mit der kostenintensiveren syntaktischen Operation Move vergleichbar (Verschiebungen zwischen Bedeutungsanteilen in der Ko-Komposition bzw. eine Art von Bedeutungsverschiebung bei der Typerzwingung). Nach diesen Überlegungen zur kognitiven „Ökonomie“ verschiedener Reanalyse- und Innovationsverfahren muss nun im nächsten Abschnitt überlegt werden, wie solche, zunächst individuell vorgenommenen, Interpretationen sich ausbreiten können, um eine neue Verwendungsweise bereits lexikalisierter Elemente fest zu etablieren. 6.3.2 Ausbreitung und Lexikalisierung Die Ausbreitung von Inferenzen (Reanalysen) erscheint im Sprachwandelprozess als der am schwersten erklärbare Schritt: Individuell vorgenommene Inferenzen müssen eine grössere Gruppe von Menschen erreichen. In dieser Arbeit geht es im Schwerpunkt um Reanalysen von Verbbedeutungen, die generell weniger konkret als Nomina für neue Ideen und Umstände sind - letztere können leichter innerhalb einer Generation viele <?page no="296"?> 6 Diskussion 296 Menschen erreichen (nicht zuletzt durch bewusste Wortschöpfungen in Werbung und Medien). Hier geht es aber nun die Weitergabe von Reanalysen nicht nur einzelner Wörter, sondern ganzer Diskurse und dahinterstehender Ereignisse, die einzelne Sprecher vornehmen. Welcher Bedingungen und Umstände bedarf es in diesem Fall, damit auf diesem Wege neue Bedeutungen sich ausbreiten und lexikalisiert werden? Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden, es sollen jedoch Überlegungen und Forschungsdesiderate formuliert werden. Zunächst ist es plausibel anzunehmen, dass in diesem Fall mehrere Generationen von Sprechern hierzu erforderlich sind, in deren Abfolge den involvierten Sprechern die neue Interpretation weitergegeben wird. Das Hinzukommen der neuen Analyse verändert dabei den Input, den die jeweils nächste Generation erhält. Die Analyse der Lexikoneinträge in Kapitel 5.3.3 und ihre Darstellung im generativen Lexikon (6.2) haben außerdem gezeigt, dass die Anzahl der den aufgelisteten Verwendungen tatsächlich zugrundeliegenden Bedeutungen bei den analysierten polysemen Verben gar nicht sehr groß ist. Mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit treffen also Sprecher mit der gleichen Reanalyse aus einer gegebenen Menge möglicher Interpretationen aufeinander und stellen eine Übereinstimmung fest. Eine solche Bestätigung könnte dann Anlass zu einer weiteren Ausbreitung, spätestens in der folgenden Generation, werden, in deren weiterem Verlauf Verwendungen der neuen Analyse, die zunächst markiert (evtl. sehr emphatisch/ expressiv) und selten sind, nach einer oder mehreren Generationen als nicht mehr markierte und häufige Verwendungen resultieren. In diesem Zusammenhang ist die Analyse der Verwendung bestimmter Konstruktionen (die auch die der beteiligten lexikalischen Elemente und ihre jeweilige Interpretation im Kontext beinhaltet) relevant, da sie den jeweiligen Input der jeweils nächsten Generation erfasst. Auf diesen Prozess können weiterhin Situationen der Mehrsprachigkeit (und Mehrkulturalität), u.U. beschleunigend, einwirken, in denen durch Sprachkontakt neue Analysen entstehen bzw. neue Interpretationen aus der ersten Sprache durch eine bestehende Interpretation in der zweiten Sprache bestätigt werden. Dies könnte als Spracheneinfluss interpretiert werden, wie ihn Müller et al. (2007) für den bilingualen Erstspracherwerb konzipieren. Dazu muss aber gesagt werden, dass bilingual aufwachsende Kinder keine dauerhaften Spracheneinflüsse aufweisen. Das hier angedachte Szenario basiert auf der sukzessiven Mehrsprachigkeit bei jungen und älteren Sprechern, die bereits eine Erstsprache erworben haben, aus der sie für die als zweite erworbene Sprache bereits bestimmte Interpretationen in eine neue Analyse einbringen. Nach diesen Überlegungen zur Ausbreitung neuer Analysen ist zu überlegen, wie eine Lexikalisierung ablaufen könnte. Aufgrund der Grunddisposition unseres Lexikons können bereits bestehende Polysemien erweitert oder aber auch abgebaut werden, wenn sie - wie Larochette (1939) und Ramat (1992) argumentieren - dem Bedürfnis nach Transparenz zu stark zuwiderlaufen. Ein Abbau muss dann durch die Lexikalisierung eines geeigneten Ausdrucks bzw. einer geeigneten Struktur erfolgen, was aber möglichst ökonomisch ablaufen sollte, also nicht als Auflistung. Diese wäre auch wenig plausibel, da die Sprecher die alte Analyse auch noch lange für die Interpretation älterer verfügbarer Sprachstände verwenden und die neue hierzu in Relation bringen müssen, <?page no="297"?> Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax 297 so dass bestehende Einträge erst einmal erweitert werden, ehe möglicherweise ein neuer Eintrag geschaffen wird. Wenn in einer Sprechergeneration sehr ähnliche Ko-Kompositionsprozesse immer wiederkehren, um ein neues Konzept mit Hilfe bereits lexikalisierter Verben in neuen Kontexten ausdrücken zu können, ist ein „harter“ Eintrag der neuen Bedeutung möglicherweise ökonomischer. Dabei kann „hart“ implizieren, dass in einem gegebenen Eintrag eine vormalige Festlegung eines Kopfes aufgegeben werden könnte, um das neue Konzept zu integrieren, oder die Anfügung weiterer ereignisstruktureller Ebenen bei Einträgen von Verben. Ein Abbau der Polysemie von lexikalischen Elementen, hier vorzugsweise Verben, ist aber auch in der Form denkbar, dass - sofern die neue Bedeutung lexikalisch „untergebracht“ ist (mithin in einen bestehenden Lexikoneintrag durch Modifikation von dessen Ereignis- und Qualia-Struktur) - die Köpfigkeit einer Ereignisstruktur festgelegt wird, weil inzwischen eine ausreichend große Gruppe von Sprechern ein bestimmtes Ereignis immer präferiert als bestimmten Typ (Prozess, Zustand etc.) interpretiert. Der „harte“ Eintrag wäre in dieser Version dann die Aufhebung einer bestehenden Polysemie. Dieser Vorgang könnte beim Übergang der Bedeutungskomponente Zustand im Passiv von ser auf estar erfolgt sein, bei dem ser „entlastet“ und estar diese Bedeutungskomponente übernommen hat. 6.4 Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax Die Analyse der spanischen unakkusativen Verben zeigt einen hohen Grad an verbaler logischer Polysemie - die meisten Verben ließen und lassen sich noch heute sowohl transitiv (kausativ) als auch unakkusativ (telisch) verwenden. Hinzu kommen reflexive Verwendungen. Dies deutet auf eine dauerhafte Polysemie hin, in der die beteiligten Verben neben ihren transitiven bzw. intransitiven häufigsten Verwendungen zusätzlich residual intransitiv bzw. transitiv und teilweise reflexiv verwendbar sind. Diese Beobachtung bestätigt die obige Annahme, dass der polyseme Grundzustand des Lexikons nicht unökonomisch zu sein scheint, zumindest aber ökonomischer als neue Kreationen von Lexemen mit eigenem Eintrag, die die metonymischen Beziehungen der Bedeutungen untereinander verschleiern können. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass das unakkusative Verhalten eine Systematik aufweist, die in mehreren syntaktischen Konfigurationen, in denen externe Argumente nicht syntaktisch abgebildet werden können, eine zentrale Rolle spielt (daher spricht Embick (2004) sogar von „unaccusative syntax“, vgl. Kapitel 2.3). Dennoch sollte auch deutlich geworden sein, dass Unakkusativität keineswegs rein syntaktisch zu konzipieren ist, sondern auf lexikalischer Ebene besonders Telizität eine zentrale Rolle spielt. Es ist daher nicht angemessen, Unakkusativität in einer modernen Grammatikkonzeption wie der minimalistischen Theorie ausschließlich syntaktisch oder ausschließlich lexikalisch zu konzipieren. Es handelt sich um ein über viele Verbgruppen verteiltes, systematisches Phänomen von Verben, das eine semantische Grundlage hat, die in dieser Arbeit als mit einer bestimmten Köpfigkeit bzw. bei polysemen Verben mit Kopflosigkeit im Lexikon kodiert angenommen wird. Nun muss so ein System mit den <?page no="298"?> 6 Diskussion 298 verschiedenen Interpretationen und systematischen verbalen Alternationen erworben werden können, wobei dies für Kinder offenbar gar nicht so problematisch ist, da sie früh den Einstieg gerade über die Telizität von Ereignissen finden. Für das periphrastische Passiv haben die herangezogenen synchronen Studien sowie die hier vorgelegte Untersuchung diachroner Aspekte ergeben, dass es eine Reihe von z.T. verbspezifischen Ausnahmen hinsichtlich der Passivierbarkeit gibt. Überdies ist insbesondere im Spanischen das periphrastische Passiv gegenüber den passivischen se- Konstruktionen in der Verwendung rückläufig und kommt in der gesprochenen Sprache sehr selten im Input vor (vgl. Kapitel 3.4). Es wurde von den Autoren verschiedener Studien auch der Einfluss temporaler und aspektueller Informationen auf die Interpretation passivischer Konstruktionen nachgewiesen, so dass auch hier nicht gesagt werden kann, dass Passiv ein völlig regelhafter und rein syntaktischer Vorgang ist. Hinzu kommt, dass es sich nicht um eine einzelne Konstruktion in den romanischen Sprachen handelt: Wenngleich die Verwendung des periphrastischen Passivs bei der Untersuchung im Vordergrund stand, wurden doch auch die anderen Konstruktionen mit passivischer Bedeutung einbezogen - die Existenz letzterer (von manchen Autoren eher als pragmatisch analysiert) deutet ebenfalls darauf hin, dass Passiv mehr als eine rein syntaktische Transformation ist. Vielmehr scheint es plausibel, Passiv wie Unakkusativität als ein semantisch gesteuertes und syntaktisches umgesetztes Phänomen zu behandeln, sie einander also anzunähern. Beide Phänomene weisen offensichtlich systematische und idiosynkratische Eigenschaften auf, die von beiden Seiten (Syntax und Lexikon) her modelliert werden müssen, wobei die Konzeption der vP im Mittelpunkt steht. Remberger (2006) nimmt diese Annäherung aus syntaktischer Perspektive vor, indem mehrere miteinander über Klassenzugehörigkeit verbundene spezifische vP/ PrP-Versionen eingeführt werden (vgl. Kapitel 6.1). Pustejovsky (1995) hingegen nimmt eine Annäherung beider Phänomene dadurch vor, dass er Passiv als Verschiebung der Köpfigkeit von transitiv-kausativ (linksköpfig) zu intransitivunakkusativ (rechtsköpfig) betrachtet (vgl. Kapitel 2.3). Damit ließe sich auch erklären, warum relationale Verben nicht passiviert werden können (alle drei untersuchten romanischen Sprachen schließen dies aus (vgl. Kapitel 3.2), aber auch im Deutschen: *er wurde gehabt, *dies wurde beinhaltet etc.): Sie können im generativen Lexikon als zweiköpfig konzipiert werden, ähnlich wie marry mit der Ereignisstruktur [ eσ e 1 * ◦ e 2 *], da sich hier Ereignisse bzw. Relationen (etwa: e 1 = x besitzt/ beinhaltet y und e 2 = y gehört zu/ in x) gegenseitig bedingen und gleichzeitig stattfinden. Eine Verschiebung der Köpfigkeit ist dann nicht möglich. Dies zeigt, dass Idiosynkrasien im generativen Lexikon auflösbar sind. Eine Annäherung der entsprechenden syntaktischen Strukturen von unakkusativen und passivierten Verben ist im Rahmen der Entwicklung der vP in der aktuellen minimalistischen Syntaxtheorie bereits erfolgt und dient als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen zu einer genaueren Modellierung der Art und Weise, wie die im Rahmen der Generativen Lexikon-Theorie erarbeiteten unterspezifizierten Einträge mit der weiteren syntaktischen Derivation zusammenwirken (vgl. 6.4.1). Hierbei geht es darum zu klären, in welchem Verhältnis lexikalische Informationen (v.a. die dort kodierte Argument- und Ereignisstruktur) zu anderen semantischen sowie zu syntaktischen und <?page no="299"?> Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax 299 pragmatischen Informationen stehen, welche Informationen ein generatives Lexikon zum Derivationsprozess beisteuert und wie sie dort umgesetzt werden. Nur wenn das Zusammenspiel in einer synchronen Konzeption geklärt ist, kann auch ein Bedeutungswandelprozess mit syntaktischen Folgen dargestellt werden. Eine tentative Antwort wird in Kapitel 6.4.2 gegeben. 6.4.1 Konsequenzen für die syntaktische Derivation in der vP Die Informationen aus dem generativen Lexikoneintrag eines Verbs werden in vP als Phase der syntaktischen Argumentsaturation verarbeitet und spielen beim Aufbau der Derivation eine Rolle, wobei hier vom Phasen-Sonden-Modell (Chomsky 2001) ausgegangen wird. Wenn die Verkettung der „echten“ Argumente sowie eventueller Default- Argumente und damit die Phase vP abgeschlossen ist, werden in der darauf folgenden Phase die nicht LF-interpretierbaren Merkmale überprüft und dabei getilgt, wozu in vielen Fällen Bewegungsprozesse erforderlich sind. Spätere Phasen können nicht mehr auf den Inhalt der vP zugreifen, sondern nur noch auf den Rand der Phase. Es stellt sich nun die entscheidende Frage, was innerhalb der vP passiert, wenn Verben mit stark unterspezifizierten Merkmalen, insbesondere mit der postulierten Kopflosigkeit bei logischer Polysemie, eingesetzt werden. Da diese Kopflosigkeit sich auf die Ereignisstruktur bezieht, die wiederum Auswirkungen auf die syntaktische Repräsentation als kausativ-transitives (passivierbares) oder unakkusativ-intransitives Verb hat, muss die Polysemie des Verbs innerhalb der ganzen vP „bearbeitet“ werden, d.h. die auf die konkrete Argumentstruktur-Konfiguration bezogenen semantischen und syntaktischen Informationen, die mit Ko-Kompositions-Effekten (auch unter Einbezug des Subjekts) einhergehen können, müssen innerhalb der gesamten vP allen Positionen für echte und Default-Argumente zur Verfügung stehen, bis die funktionale Schließung erfolgt ist. Diese grundsätzliche Überlegung sowie das ganze Lexikonmodell von Pustejovsky setzen voraus, dass - anders als bei Embick (1998, 2004) und Frigeni (2004) - nicht nur eine verbale Wurzel mit semantischen und syntaktischen Merkmalen in die der syntaktischen Derivation zugrundeliegende Numeration eingesetzt wird, sondern das konkrete lexikalische Element (also keine late insertion erfolgt, vgl. Kapitel 2.2). Hinzu kommt, dass in der generativen Syntaxtheorie mit Merkmalen gearbeitet wird, nicht aber im Generativen Lexikon nach Pustejovsky (1995) und auch nicht auf der Ebene der Logischen Form. Wie können diese erforderlichen Komponenten nun in eine Verbindung gebracht werden, die die wesentlichen Eigenschaften und Vorteile beider Systeme bewahrt? Hierzu bedarf es entweder eines „Übersetzungsmechanismus“ an den Schnittstellen oder einer direkten zusätzlichen Merkmalsausstattung der generativen Lexikoneinträge bzw. der relevanten funktionalen Kategorien, deren Kompatibilität mit den Lexikoneinträgen gewährleistet werden muss. Hierzu wird im Folgenden noch einmal das Modell von Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) aus Kapitel 2.2.2 in Erinnerung gerufen und mit dem Ansatz von Remberger (2006) (vgl. Kapitel 6.1) verglichen. Beide Ansätze sehen eine zentrale Rolle verschiedener vP/ PrP-Versionen für die Erfassung unterschiedlicher Verbtypen (inklusive Hilfsverben bei Remberger) vor. Während Remberger den verschiedenen <?page no="300"?> 6 Diskussion 300 Ausprägungen der PrP direkt syntaktisch relevante formale Merkmale wie u.a. D- und T-Merkmale zuschreibt, arbeiten Alexiadou und Anagnostopoulou (2004) zusätzlich mit Operatoren. In ihrem Ansatz werden die Unterschiede zwischen transitiven, passivischen, reflexiven und unakkusativen Strukturen auf die (jedoch nicht näher beschriebene) Merkmalsspezifikation von v und auf die Präsenz bzw. Absenz eines externen Arguments zurückgeführt. Die Autorinnen bieten drei Strukturen für die Muster der von ihnen untersuchten griechischen diathetischen Morphologie an, um die Distribution korrekt zu erfassen. Hierbei arbeiten sie auf der Basis eines sogenannten Operators, der das Ergebnis bezeichnet und den die Autorinnen BECOME/ RESULT nennen. Eine weitere zentrale Annahme ist, dass der vorgenannte Operator v[BECOME/ RESULT], also ein v-Typ, der keinen Spezifikator projiziert, mit allen diskutierten Mustern verbunden ist, während die Voice-Morphologie nicht mit diesem Operator, sondern mit einem eigenen Voice-Kopf assoziiert ist, der Agentivitäts- und Modalitäts-Merkmale trägt. Unklar ist in dem Ansatz von Alexiadou und Anagnostopoulou auch der theoretische Status des verwendeten Operator-Begriffs. In der formalen Semantik werden hierunter z.B. der Existenzoperator x aus der Satzsemantik oder der -Operator aus der Prädikatenlogik verstanden (vgl. z.B. Lohnstein 2011). In Kapitel 2.3 wurde gezeigt, wie Pustejovsky und Busa unakkusative Prädikate mit Hilfe der -Konversion logisch übersetzen und so direkt an die Logische Form anbinden. Möglicherweise fassen Alexiadou und Anagnostopoulou den Operatorbegriff im Sinne einer semantischen Konstante auf, mit deren Hilfe Bedeutungen kompositional zusammengesetzt werden sollen, wobei in der Arbeit die Kompositionalität nicht klar wird (anders als im generativen Lexikon von Pustejovsky). Deutlich wird auf jeden Fall ein Bezug zur Syntax, der anders als bei Remberger aber nicht merkmalsbasiert ist, so dass hier zunächst ein scheinbarer Vorteil in Form eines leichteren Anschlusses an das Generative Lexikon entsteht, der im weiteren Verlauf der Diskussion jedoch relativiert werden muss. Ferner werden die verschiedenen v-Typen nicht unifiziert und haben - anders als das generelle PrP von Remberger - keine „Mutterklasse“. Im Folgenden wird skizziert, wie eine Modellierung des Anschlusses auf Basis von Alexiadou und Anagnostopoulou aussehen müsste und welche Vor- und Nachteile hier bestehen. Die drei vorgeschlagenen Strukturen, in denen BECOME entweder eine AP oder eine possessive Konstruktion (= Zustand) selegiert, während RESULT eine VP (d.h. ein Ereignis) selegiert, lassen sich grundsätzlich mit der Lexikonkonzeption von Pustejovsky verbinden, indem die Idee der Operatoren (bzw. Konstanten) ausgebaut wird, die die Qualia in syntaktisch relevante interpretierbare LF-Merkmale „übersetzen“. Pustejovsky unterscheidet die wichtigen Qualia AGENTIVE, FORMAL und TELIC (ähnlich auch Castaño (1999), hier als Relationen verwendet, vgl. Kapitel 3.1.3). Der von Alexiadou und Anagnostopoulou vorgeschlagene Operator v[BECOME/ RESULT] findet Entsprechungen in den Qualia von Pustejovsky, wobei der Operator aufgetrennt werden müsste: das Quale FORMAL wird vom Operator v[BECOME] (z.B. BECOME alegre im Lexikoneintrag von alegrarse in Kapitel 6.2) und das Quale TELIC vom Operator v[RESULT] interpretiert. Entsprechend gibt es bei transitiv verwendbaren Verben, für deren Agentivität die Autorinnen ebenfalls v als Lokus dieser Eigenschaft angeben, einen Operator für das Quale AGENTIVE, nämlich v[AGEN- TIVE]. Dieser projiziert im Unterschied zu den anderen beiden Operatoren einen <?page no="301"?> Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax 301 Spezifikator in der vP. Auch die Ebenen, auf denen die lexikalischen Mechanismen wirken, lassen sich im Prinzip zuordnen: Pustejovsky selbst gibt an, dass die VP-Ebene der Ort der Ko-Komposition von Verb und seinem Objekt bzw. seinen Objekten ist. Sofern jedoch auch das Subjekt Einfluss auf die Art und Weise nimmt, wie das Verb und sein Objekt interagieren, muss die Ebene der vP miteinbezogen werden. Die Ereignisstruktur beeinflusst mithin die ganze vP und liefert, je nach Köpfigkeit des Ereignisses, die der entsprechenden Konstante zugehörige Struktur, die wiederum Einfluss auf die LF-Interpretation nimmt. In dieser Konzeption entstehen bei Verben LF-interpretierbare Merkmale auf VP- und vP-Ebene, während sie bei den anderen Kategorien, v.a. den Nomina, sowohl direkt im Lexikoneintrag (z.B. Genus, Belebtheit) und durch Ko-Komposition mit Verben als ihre Objekte auch auf VP- und vP-Ebene eingetragen werden. Ein Einfügen von Merkmalen erst im Laufe der syntaktischen Derivation verstößt jedoch gegen das Prinzip der vollständigen Interpretation (Chomsky 1995). Hinzu kommen folgende offene Fragen bzw. Probleme dieser Lösung: Bei dieser Lösung bleiben folgende Fragen jedoch offen: Wie funktioniert die Übersetzung genau? Welchen Status hat der Operator/ die Konstante? Wie findet nun ein Anschluss an die merkmalsbasierte Syntax statt (da ja keine konkreten semantischen oder syntaktischen Merkmale der drei Strukturen genannt wurden)? Offenkundig beziehen die bisher diskutierten Lexikoneinträge und die gesamte Theorie von Pustejovsky nicht die weiteren für die Syntax relevanten Merkmale, z.B. kategoriale Merkmale (Wortart), LFinterpretierbare Eigenschaften wie Genus (im Falle der Nomina) sowie die konkreten, nicht-interpretierbaren φ-Merkmale bei Eintritt in die Numeration ein. Dass diese bereits hier und nicht zu einem späteren Zeitpunkt (etwa in der funktionalen Tempus- Phrase) verfügbar sein müssen, ist durch die Tatsache gegeben, dass sonst keine Verbbewegung von V° über v° nach T° (oder weiter nach C°) motiviert werden kann. Sie wird üblicherweise mit der Operation Attract durch syntaktische Köpfe funktionaler Kategorien mit der entsprechenden Merkmalskonfiguration für die Überprüfung erklärt. Bislang wurden lediglich die Bedeutungen anhand von infiniten Zitierformen von Verben besprochen, während es eine konkrete Verbform mit allen genannten Merkmalen ist, die der syntaktischen Derivation zugrunde liegt und von der Operation Select für die Numeration ausgewählt wird. Jede einzelne Verbform trägt dabei natürlich auch die gesamte im generativen Lexikon kodierte Argument-, Ereignis- und Qualiastruktur des jeweiligen Verbs in sich. Noch innerhalb des Lexikons muss daher die konkrete Verbform neben den interpretationsrelevanten Eigenschaften auch die weiteren syntaktisch erforderlichen, nicht-interpretierbaren Merkmale erhalten. Vor diesem Hintergrund wird der zweiten Option, nämlich eines direkten Eintrags von syntaktisch relevanten Merkmalen in eine zusätzliche Lexikonschicht, der Vorzug gegeben und dabei die Analyse von Remberger (2006) herangezogen. Dies impliziert eine Erweiterung der bisher geschilderten Einträge um zusätzliche äußere Schichten für kategoriale, phonologische und syntaktische Merkmale. Dies soll am folgenden erweiterten Lexikoneintrag für eine konkrete Verwendung von ser, nämlich die Form der 3. Person Singular Präsens es, als Passivauxiliar in einem Passivsatz veranschaulicht werden: Juan es pegado (por Pedro). Die Merkmalskonfiguration wird ausgehend von der des Passivauxiliars è in Remberger (2006: 185) entwickelt. <?page no="302"?> 6 Diskussion 302 (26) es CAT = V PHON = / εs/ SYN= agr-φ: 3rd pers. Sing., + finite, D T [S,R] ser ARGSTR = ARG 1 = [x: object] FORMAL = (abstract) entity D-ARG 1 = [y: relation (possessive, local, …] EVENTSTR = E 1 = e 1 : process E 2 = e 2 : state RESTR = < ° HEAD = e 1 QUALIA = FORMAL = exist (e 2 ) KONST = predicate (x, y) Jede konkrete Verwendung von ser trägt in dieser Überlegung eine äußere Schicht mit den Merkmalen der verwendeten Form und als inneren „Kern“ den Bedeutungskomplex des Generativen Lexikons, damit die verschiedenen Bedeutungen und Polysemien für die Produktion und (Re-)Interpretation zur Verfügung stehen. Diese Kombination gewährleistet eine syntaktische Derivation bei vollem Bedeutungserhalt sowie Flexibilität in Bezug auf unterschiedliche Verwendungskontexte von konkreten Verbformen. 6.4.2 Konsequenzen eines Wandels im Lexikon Aus der Sprachwandel-Perspektive ist zunächst festzuhalten, dass eine mögliche syntaktische Konsequenz aus dem Entstehen neuer Bedeutungen auch die (rein) transitive Verwendung eines bisher intransitiv verwendeten Verbs oder umgekehrt sein kann. Wendet man hierauf die Vorschläge von Pustejovsky (2000a) zur existentiellen Bindung von Argumenten an (vgl. Kapitel 2.3), würde dies bedeuten, dass bei einer transitiven Verwendung eines bislang intransitiven Verbs nun ein Default-Argument zum richtigen Argument wird und damit auf funktionaler Ebene gebunden wird. Umgekehrt würde bei einer intransitiven Verwendung eines zuvor transitiv gebrauchten Verbs ein echtes Argument zum Default-Argument (bei ausschließlich intransitiver neuer Verwendung) bzw. zum Schattenargument (in einer eher plausiblen Alternation, zumindest in einer Übergangsphase) werden und nun auf lexikalischer Ebene gebunden und damit nicht mehr syntaktisch auftreten. Letzteres gilt auch für passivierte Verben: <?page no="303"?> Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax 303 hier wird das vormalige Subjekt des Aktivsatzes syntaktisch blockiert und darf nur noch als Default-Argument in Form einer fakultativen Präpositionalphrase auftreten. Diese Konsequenzen sind jedoch nur syntaktische Folgen für einzelne Verben, die nicht das ganze System betreffen. Konzipiert man syntaktischen Wandel als einen Vorgang, der ein sprachliches System nachhaltig verändert, erwartet man etwas „Größeres“, d.h. eine fundamentale, nicht ohne weiteres reversible Veränderung des gesamten Systems, wie sie z.B. im spanischen Auxiliarsystem sichtbar ist. Gleichwohl machen die in dieser Arbeit beobachteten Wandelprozesse bezüglich der Verwendung unterschiedlicher passivischer Strukturen in den untersuchten drei Sprachen und der verschiedenen Auxiliare deutlich, dass syntaktischer Wandel im Kleinen beginnt, nämlich mit subtilen Änderungen in der Semantik einzelner Verben, die sich im Generativen Lexikon- Modell darstellen lässt und auch in der Parametertheorie als Mikroparameter konzipiert werden kann. Geht man, wie weiter oben vorgeschlagen, konsequent davon aus, dass in jeder Generation neue Festlegungen für die unterspezifizierten Einträge vorgenommen werden können, ergeben sich einige interessante Überlegungen für diejenigen semantischen und weiteren Faktoren, die hierauf Einfluss nehmen können. Hier sei nun wieder auf das im vorigen Abschnitt skizzierte Modell eines Anschlusses des generativen Lexikons an die syntaktische Derivation eingegangen und ein Szenario entwickelt, in dem - bedingt durch den intensiven Kontakt zu einer Sprache, die gänzlich andere Werte, z.B. pragmatische Eigenschaften, in der verbalen Domäne kodiert - eine Reanalyse dahingehend erfolgt, dass die von Remberger entwickelten PrP-Unterklassen zu einer einzigen zusammenfallen. Dies muss nicht bedeuten, dass keine Qualia mehr vorhanden sind - es ist plausibel anzunehmen, dass die beteiligten Verben diese in ihrem Lexikoneintrag behalten - aber es hat sich nur eine einzige gemeinsame Struktur für alle Prädikate durchgesetzt, die bestimmte Merkmalsausprägungen (z.B. starkes/ schwaches D oder T) nicht mehr differenziert. Die Folge wäre ein völliger Zusammenbruch des aspektuellen Systems der betroffenen Sprache in seiner bisherigen Form - es entschieden nicht mehr Merkmale wie Telizität über bestimmte syntaktische Derivationen, sondern eben pragmatische, die auf vP-Ebene oder eventuell auch auf CP-Ebene agieren. In so einem Fall wären z.B. Argumentauslassungen mit allen Verben möglich und immer zielsprachlich. Dieses Szenario, wenngleich hier als Gedankenexperiment angelegt und möglicherweise überzeichnet, ist nicht gänzlich aus der Luft gegriffen: In der Arbeit von Wiese (2006) „Ich mach dich Messer“ wird gezeigt, wie in der Berliner Kiezsprache, einer Kontaktvarietät des Deutschen mit Stil-Elementen der Jugendsprache und Verbindung zu Varietäten des ungesteuerten Zweitspracherwerbs des Deutschen, die lexikalisierten deutschen Funktionsverbgefüge aufgelöst und produktiv für neue Konstruktionen unter Einfluss pragmatischer Mechanismen verwendet werden. Sprachkontakt in der sukzessiven Mehrsprachigkeit zu Sprachen mit einer gänzlich anderen Syntax und größeren Bedeutung pragmatischer Informationen gegenüber semantischen könnte zu einer derartigen Entwicklung führen. <?page no="304"?> 7 Schlussbetrachtung Die vorliegende Arbeit geht von einer eigenständigen und unverzichtbaren Rolle des Lexikons im Rahmen des minimalistischen Gesamtmodells aus und motiviert diese weiter, indem sie nachweist, dass Polysemie eine zentrale Rolle nicht nur für Bedeutungswandelprozesse spielt, sondern auch ein wichtiges Element ist, das - vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Existenz residualer und aktueller Bedeutungen von Lexemen - die Ökonomie des gesamten sprachlichen Systems aufrechterhält. Als theoretische Grundlage wurde für diese Arbeit die Theorie des Generativen Lexikons von Pustejovsky gewählt, die explizit dafür entwickelt wurde, Polysemie innerhalb von unterspezifizierten Lexikoneinträgen zu erfassen. Dabei werden eine lexikalische Dekomposition und eine genaue Konzeption von Argument-, Ereignis- und Qualiastruktur jedes lexikalischen Elements vorgenommen. Eine entscheidende Frage ist die nach dem Verhältnis von Lexikon und Syntax. Wenngleich in der minimalistischen Syntaxtheorie dem Lexikon als Ort der (merkmalsbasierten) Parametrisierung bereits eine größere Rolle beigemessen wird als in früheren Versionen der generativen Grammatiktheorie, ist das Verhältnis weiterhin zu spezifizieren, insbesondere im Hinblick auf eine Schnittstelle, die der aktuellen merkmalsbezogenen Syntax genauso gerecht wird wie der nicht merkmalsbezogenen Konzeption des Lexikons. Hierzu wurde ein Modelleintrag auf der Basis der von Remberger (2006) vorgeschlagenen unterschiedlichen Pr-Köpfe und Merkmale skizziert, der relevante formale Merkmale in Kombination mit den semantischen Informationen im GL-Format beinhaltet. Die Bedeutung des Lexikons erweist sich in seiner strategischen Position im Spannungsfeld zwischen Generalisierung und Idiosynkrasie. Dieses wurde am Beispiel von zwei Phänomenen studiert, die ähnliche syntaktische Auswirkungen haben, denen aber bislang sehr unterschiedlicher Charakter bescheinigt wird, nämlich die Passivierung als generelles, syntaktisches Phänomen und die Unakkusativität als lexikalisches, aspektuell determiniertes Phänomen. Es stellte sich hier die Frage, ob nicht letzteres ein lexikalisches Residuum zu ersterem ist oder aber umgekehrt aus dem lexikalischen Phänomen ein grammatisches abgeleitet wurde. Diese Frage wurde an verschiedenen - historischen und aktuellen, geschriebenen und gesprochenen - Sprachständen der drei romanischen Sprachen Spanisch, Italienisch und Französisch vergleichend untersucht. Das Ergebnis lautet, dass eine derartige Beziehung zwischen den beiden Phänomenen aus beiden Richtungen nicht eindeutig belegt werden kann. Hingegen konnte Evidenz für den Bedeutungswandel einzelner Verben und Auxiliare gewonnen sowie eine Veränderung der Verwendungen verschiedener passivischer Konstruktionen seit dem Mittelalter beobachtet werden, insbesondere im Spanischen, das im Mittelpunkt der empirischen Untersuchung stand. Folgt man Longobardi (2001), so ist Bedeutungswandel eine notwendige Voraussetzung für syntaktischen Wandel. Daher wurden Überlegungen zu einer Bedeutungswandeltheorie unter Einbeziehung des generativen Lexikons angestellt (Kapitel 6.3) sowie zu <?page no="305"?> Polysemie und Residualität im generativen Lexikon und in der Syntax 305 syntaktischen Wandelprozessen aus einem Bedeutungswandel heraus (Kapitel 6.4). Die intensive Beschäftigung mit der generativen Lexikontheorie zeigte, dass sie - jenseits der generellen Ökonomie-Diskussion - auch für eine Bedeutungswandeltheorie fruchtbar gemacht werden kann. Mithin ist die Dynamisierung dieser Lexikontheorie für Sprachwandelprozesse ein wichtiges weiteres Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Die Dynamik zeigt sich für jede Sprechergeneration neu durch eine veränderte Input- Situation mit neuen Polysemien (Aufhebung der Köpfigkeit in einem Lexikoneintrag) einerseits und Aufhebung von Polysemien (Festlegung der Köpfigkeit) andererseits. Aus diesen resultieren dann wieder neue Reanalyse-Potentiale für die nächste Sprechergeneration. Wie diese im Spracherwerb genutzt bzw. sich das Wechselspiel zwischen Schaffung und Aufhebung von Polysemien im Lexikonerwerb der Erstbzw. Zweitsprache(n) vollzieht, muss Gegenstand künftiger Forschung bleiben, wenngleich in dieser Arbeit die wichtige Rolle des Lexikons für den Sprachwandel zu aktuellen Ergebnissen der Spracherwerbforschung gesetzt wurde. <?page no="306"?> 8 Literatur 8.1 Vollständige Literaturangaben zu den analysierten Primärtexten: Spanisch: Kasten, L. & J. Nitti (1978). 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Wiesbaden: Franz Steiner Verlag. <?page no="319"?> 9 Anhang Dieser Anhang enthält drei Tabellen, die sich jeweils über mehrere Seiten erstrecken und die einzelnen passivierten Verbtypen und -token in den jeweils verglichenen Chroniken aufführen. Tabelle 1: Vergleich aller Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei spanischen Chroniken Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) abandonar (1) acabdellar (1) 160 adebdar (1) 161 adereçar (2) aducir (1) afianzar (1) aficionar (1) alabar (1) alçar (1) alegartar (1) allanar (1) amar (1) amar (1) aniquilar (1) aparejar (2) apartar (1) apartar (2) apercibir (1) apercebir (1) aprender (1) aprovechar (2) arrancar (1) arrastrar (2) cambiar (1) casar (1) ceder (2) cercar (1) circunscribir (1) coger (1) compensar (1) componer (2) congojar (1) condenar (2) confinar (1) 160 Entspricht acabdillar, später acaudillar mit der Bedeutung „anführen“ (conducir, gobernar y mandar la gente de guerra, laut Diccionario RAE, 1. Ausgabe, 1780). 161 Entspricht adeudar mit der Bedeutung „schulden/ belasten“ (hacer y contraer deudo, laut Diccionario RAE, 1. Ausgabe, 1780). <?page no="320"?> 9 Anhang 320 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) connombrar (1) conocer (3) conocer (2) considerar (2) consolar (1) consumir (1) connombrar (1) contar (1) coytar (1) 162 criar (1) cubrir (1) cumplir (1) cumplir (1) dar (1) decir (1) definir (1) delimitar (1) demandar (1) departir (1) derrotar (1) desamparar (1) desbaratar (1) descabezar (1) desconortar (1) 163 descubrir (1) desocupar (1) desplazar (1) despoblar (1) desposar (1) destroyr (16) diezmar (1) dispensar (1) disponer (1) disputar (1) dividir (1) echar (4) eligir (2) endereçar (1) enderezar (1) enganar (1) enhastiar (1) 164 entender (1) 162 Entspricht vermutlich coitar in der mittelalterlichen Bedeutung apurar, afligir (vgl. Alonso (1986), 1. Bedeutung, 13. Jh., wie der gesamte Satz (Verwendungskontext) nahelegt: E tanto fueron los romanos coytados desta batalla. 163 Entspricht desconhortar mit der Bedeutung „desanimar, quitar ó enervar el vigor y fuerzas, impedir el consuelo“ laut Diccionario RAE, 1. Ausgabe, 1780). Laut RAE 22. Ausgabe ist desconhortar nicht mehr gebräuchlich, entspricht desanimar oder desalentar. 164 Entspricht heutigem enfadar „ärgern“ (Bedeutung laut Diccionario RAE, 1. Ausgabe, 1780 „causar hastío, enfado y desazon“). <?page no="321"?> Anhang 321 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) enterrar (1) enviar (1) erigir (1) escandalizar (1) escoger (1) esconder (1) escribir (1) escribir (1) espantar (1) espantar (2) esparzidar (2) estipular (1) exigir (1) fallar (2) fallar (2) fazer (6) fazer (5) ferir (2) herir (1) firmar (1) frenar (1) fundar (1) ganar (1) guardar (1) guisar (1) hundir (1) inaugurar (1) informar (1) introducir (1) islamizar (1) jerarquizar (1) juntar (7) jurar (1) levantar (1) librar (1) librar (3) liquidar (1) llagar (1) llamar (12) llanir (1) mandar (1) mandar (2) maravillar (1) marginar (1) mencionar (1) molestar (1) mudar (1) nombrar (1) obligar (1) obligar (2) onrar (1) honrar (1) perder (3) perder (2) poblar (27) poner (3) poner (1) prender (10) prefigurar (1) <?page no="322"?> 9 Anhang 322 Chronik (Epoche) Estoria de Espanna (13. Jh.) Chrónica del Rey Guillermo (16. Jh.) Breve historia d’España (20. Jh.) prestar (1) prohibir (1) proteger (1) proveer (1) quebrantar (3) quebrar (1) querir (1) querir (1) recebir (5) recibir (2) recluir (1) recoger (1) recompensar (1) reconocer (2) redescubrir (1) reflejar (1) reforzar (1) relegar (1) remunerar (1) reprimir (2) requerir (2) respaldar (2) responder (1) restaurar (1) restringir (1) robar (1) saber (3) saber (2) sacar (1) sennalar (1) sentir (1) servir (7) sesegar (1) situar (1) sofocar (1) someter (1) sosegar (1) soterrar (2) suavizar (1) sustituir () tener (1) tener (1) tomar (2) tomar (1) transportar (1) traspasar (2) unir (1) vedar (1) vencer (23) vestir (1) visitar (1) ∑ Verbtyp (token) 64 (177) 49 (79) 75 (90) <?page no="323"?> Anhang 323 Tabelle 2: Vergleich der Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei italienischen Chroniken Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) accettare (1) accompagnare (2) accreditare (1) aggiungere (1) aggredire (1) agiaciare (1) ammazzare (1) amministrare (1) annunciare (1) applicare (1) ascrivere (1) assaltare (1) attribuire (1) avanzare (1) battere (2) bollare (1) cacciare (1) cacciare (1) cambiare (1) catturare (1) chiamare (4) chiamare (3) chiedere (1) celebrare (1) colmare (2) colpire (1) combattere (1) cominciare (3) cominciare (2) commettere (1) componere (1) comportare (1) concedere (1) concedere (1) concepire (1) concordare (1) conculcare (1) condurre (2) conferire (1) confirmare (1) confortare (1) congiungere (2) congregare (1) conoscere (1) conoscere (1) consegnare (1) controbattere (1) corrispondere (1) costituire (1) <?page no="324"?> 9 Anhang 324 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) costringere (2) creare (1) credere (4) dare (1) decidere (1) definire (2) deliberare (1) denunciare (1) deprimere (1) determinare (2) devolvere (1) devolvere (1) dichiarare (1) dichiarare (1) diminuire (1) dimostrare (1) dire (1) disegnare (1) disponere (1) disponere (1) dispregiare (2) disprezzare (3) divulgare (2) dominare (1) eligere (1) esaminare (1) escludere (1) esercitare (1) espedire (1) esporre (1) esprimere (2) esprimere (1) fabricare (1) fare (10) fare (9) fare (4) finire (1) fissare (1) formare (1) gittare (1) 165 gettare (1) giudicare (1) gridare (1) impedire (1) incentrare (1) indicare (2) indicare (1) informare (2) ingannare (1) inviare (2) invitare (1) laudare (1) mancare (2) 165 gittare = gettare. <?page no="325"?> Anhang 325 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) mandare (1) mandare (1) mettere (2) modificare (1) mutare (1) necessitare (4) neutralizzare (2) obbligare (2) occultare (1) occupare (1) offendere (1) ordinare (3) ordinare (2) osservare (1) parare (1) permettere (1) perdere (2) precisare (1) pregare (1) presidiare (1) prestare (1) prevenire (1) prevenire (1) promettere (1) proporre (1) provare (1) provedere (3) rappresentare (1) rassegnare (1) reformare (1) rendere (1) riaffermare (1) ricevere (5) ricevere (1) ricevere (2) richiamare (1) riconoscere (2) rigettare (2) rilegare (1) rimuovere (1) rinnovare (1) riprendere (1) rispondere (1) ritenere (1) rompere (1) sbarrare (1) sbarratare (1) sbattere (1) sconfessare (1) sconoscere (1) scoprire (1) scrivere (5) scrivere (1) seguitare (1) seguitare (1) <?page no="326"?> 9 Anhang 326 Chronik (Epoche) Annales Pisani (12. Jh.) Storia d’Italia (16. Jh.) Cronaca del Regno d’Italia (20. Jh.) separare (1) signoreggiare (1) soddisfare (1) sognare (1) sopragiungere (1) sottoporre (1) specificare (1) sposare (1) stimolare (1) stipulare (1) temere (4) tracciare (1) tradire (1) trasferire (1) trasmettere (1) trasportare (1) trattare (2) trattenere (1) udire (1) vacare (1) vedere (7) vedere (1) vessare (1) vincere (1) volere (1) ∑ Verbtyp (token) 18 (45) 89 (127) 75 (91) Tabelle 3: Vergleich der Verbtypen und -token in den periphrastischen Passivkonstruktionen in den drei französischen Chroniken Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) accompagner (1) acorder (2) accorder (1) acheminer (1) acquérir (1) acqueuillir (1) admettre (2) adréchier (1) 166 aider (1) amener (1) 166 Nach Rouquier (1992) adrecier mit vielen Bedeutungen: 1. redresser, tenir droit, relever; 2. mettre dans le droit chemin; 3. diriger guider; 4. ramener à la raison, à l’ordre; 5. réparer, corriger, rectifier; 6. lancer, viser, pointer. Die Bedeutungen 2-4 passen in den Verwendungskontext dieses Verbs, das in Kombination mit conforter und conseiller auftritt. <?page no="327"?> Anhang 327 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) amer (1) 167 amnistier (1) amplifier (1) aourner (1) apareillier (1) apeler (3) appeller (2) appeler (1) aporter (1) apporter (2) approuver (1) arracher (2) arester (1) arrêter (2) asigier (1) 168 asigner (1) assegurer (1) 169 asambler (2) 170 assimiler (1) associer (1) attacher (2) atorner (2) avaler (1) avancer (1) blasmer (4) 171 briser (1) chargier (2) 172 carger (2) 173 chômer (1) commander (2) concéder (1) conduire (1) soi faire/ rendre confés(1) 174 confier (2) conforter (1) considérer (2) consulter (1) conter (1) contralier (1) contraindre (1) convaincre (1) couronner (1) couvrir (1) 167 Heute aimer. 168 Heute assiéger. 169 Heute assecurer. 170 Heute assembler. 171 Heute blâmer. 172 Heute charger. 173 Heute charger. 174 Heute confesser. <?page no="328"?> 9 Anhang 328 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) croisier (2) 175 décharger (1) décoler (1) déhétier (1) 176 délaisser (1) démuchier (1) 177 demander (1) désavouer (1) descomfire (2) descomfir (1) déshériter (1) détenir (1) deviser (5) devoir (1) dire (3) dire (4) dissimuler (1) diversifier (1) donner (2) drecier (1) 178 écarter (1) écraser (1) escrire (3) écrire (2) édifier (1) eslever (1) élever (1) eslire (1) élire (2) emplier (1) emprendre (1) 179 enfo(u)rmer (4) ensevelir (1) enseller (1) enterrer (2) entraîner (1) envoier (3) 180 envoier (3) esgarder (1) 181 espargner (1) estorer (1) 182 faciliter (1) fere (11) faire (3) faire (2) 175 Bedeutung = „bekreuzen“, d.h. das Kreuz erhalten/ nehmen (Kreuzzugsbeginn). 176 Möglicherweise eine Ableitung vom Nomen dehet/ dehait = Gottes Hass, Fluch (vgl. Tobler- Lommatzsch 1954), demnach müsste es etwa verfluchen bedeuten. 177 Tritt nach Tobler-Lommatzsch (1954) eher als demucier mit der Bedeutung verbergen (tr.) bzw. sich verbergen (refl.) auf. 178 Heute dresser. 179 Heute entreprendre. 180 Heute envoyer. 181 Heute regarder. 182 Heute créer. <?page no="329"?> Anhang 329 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) fleurir (1) garder (3) garnir (1) geter (1) 183 gonfler (1) guérir (1) guider (1) guider (1) habiter (1) haïr (1) haucier (1) hébergier (2) 184 heurter (1) honorer (2) humilier (1) implanter (1) impregner (1) installer (1) interpréter (1) isoler (1) laisser (2) laisser (1) licencier (1) lier (1) lire (1) logier (1) 185 logier (2) maintenir (3) majorer (1) mander (1) marier (4) marquer (1) mener (1) mettre (2) mettre (1) mobiliser (1) modifier (2) moissonner (1) moustrer (1) 186 mouvementer (1) négliger (2) nomner (1) nonmer (2) nommer (1) ocire (1) 187 offrir (1) oïr (1) 188 183 Heute jeter. 184 Heute héberger. 185 Heute loger. 186 Heute montrer. 187 Heute tuer. 188 Heute entendre. <?page no="330"?> 9 Anhang 330 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) orienter (1) ordonner (3) otroier (2) 189 paier (2) pensionner (1) perdre (2) plébisciter (1) plorer (1) porter (1) préparer (2) présider (1) prolonger (2) prononcer (1) proroger (1) pourchacier (1) pourtendre (1) pourvoir (1) prendre (3) prendre (3) prendre (3) pugnir (1) 190 ramen(t)er (1) ramener (1) rassembler (1) recarger (1) 191 recevoir (2) reconnaître (1) recorder (1) recouvrir (1) redouter (1) réduire (2) reguler (1) rejeter (1) rejouir (1) rembourser (1) remettre (1) rendre (2) rendre (2) renforcer (1) renforcer (1) renouveler (1) renverser (1) reprendre (1) représenter (4) réprimer (1) requerir (1) requeller (1) 192 rétablir (3) 189 Heute octroyer. 190 Heute punir. 191 Heute recharger. 192 Bedeutung aus Kontext recueillir „empfangen“, heute recevoir. <?page no="331"?> Anhang 331 Chronik (Epoche) Villehardouin (13. Jh.) Froissart (14. Jh.) Rémond (20. Jh.) retarder (1) retenir (1) retrere (1) 193 réviser (1) sanctionner (1) savoir (4) segnefier (1) 194 séparer (1) servir (1) signer (1) supplanter (1) supprimer (1) tolir/ toudre 195 tenir (1) tenir (3) tenir (3) toucher (1) tourner (1) travailler (1) trere (1) 196 treter (1) 197 troubler (1) trouver (1) tuer (2) voir (2) ∑ Verbtyp (token) 59 (101) 60 (94) 98 (125) 193 Heute retraire. 194 Heute signifier, allerdings Bedeutung in Froissart aus Kontext „bedeuten“ i.S.v. „es wurde ihr bedeutet/ sie erhielt Bescheid“. 195 NachTobler-Lommatzsch (1954) sind zwei Infinitive möglich; Bedeutung und Verwendung sind vielfältig: tr. wegnehmen, rauben (passt zum Verwendungskontext); Schmerzen vertreiben, Ader lassen; entziehen, vorenthalten; rauben, für sich gewinnen; refl./ intr. sich hinwegheben. 196 Heute traire. 197 Heute traiter. <?page no="332"?>