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Was Texte zusammenhält

Zu einer Pragmatik des Textverstehens

0406
2011
978-3-8233-7642-2
978-3-8233-6642-3
Gunter Narr Verlag 
Jakob Wüest

Was macht aus einer Abfolge von Sätzen einen Text? Diese grundlegende Frage der Textlinguistik lässt sich nicht auf einer rein linguistischen Grundlage lösen. Das liegt daran, dass das Verstehen von Texten eine aktive Tätigkeit ist, die mehr als nur sprachliche Kenntnisse voraussetzt. An einen Text gehen wir dabei mit einer gewissen Erwartungshaltung heran, die das Verstehen steuert, aber auch im Verlauf der Lektüre modifiziert werden kann. Unsere grundsätzliche Annahme ist dabei, dass einem Text nicht nur eine bestimmte Kommunikationsabsicht zugrunde liegt, sondern dass auch dessen Sätze beziehungsweise dessen Sprechakte irgendwie untereinander zu einem Ganzen verbunden sind. Diese Verbindungen, die wir Konnektive nennen, werden aber häufig nicht sprachlich markiert. Aufgrund der Untersuchung zahlreicher Textsorten komme wir zum Schluss, dass das Inventar der Konnektive durchaus begrenzt ist. Zudem ist ihre Verwendung auf bestimmte Textsorten beschränkt, so dass die Kenntnis der Textsorte es erlaubt, den Aufbau eines Textes ohne Mühe zu erkennen. Die vorliegende Studie beruht auf einer Synthese von Ansätzen, die vor allem aus der germanistischen Textlinguistik, der französischen analyse du discours und der Psycholinguistik stammen.

<?page no="0"?> Was Texte zusammenhält Zu einer Pragmatik des Textverstehens Jakob Wüest <?page no="1"?> Was Texte zusammenhält <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 12 <?page no="3"?> Jakob Wüest Was Texte zusammenhält Zu einer Pragmatik des Textverstehens <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6642-3 <?page no="5"?> V Inhaltsverzeichnis Vorwort...........................................................................................IX 1 Was ist Textlinguistik? .................................................................. 1 1.1 Transphrastische Grammatik 1 — 1.2 Textsorten 2 — 1.3 Texttypologien 3 — 1.4 Der psycholinguistische Ansatz 7 — 1.5 Lektüretheorien 8 — 1.6 Ausblick 9 2 Vorstellungen und Bedeutungen .............................................. 11 2.1 Zeichentheorien 11 — 2.2 Das Sprachzeichen 13 — 2.3 Kategorisierungen 14 — 2.4 Prototypen 15 — 2.5 Mentale Bilder und logische Propositionen 16 — 2.6 Die Grenzen der Semantik 18 — 2.7 Die Notwendigkeit einer Pragmatik 19 3 Texte verstehen und produzieren ............................................. 21 3.1 Vom Wort zum Satz 21 — 3.2 Texte verstehen 22 — 3.3 Texte produzieren 24 — 3.4 Prädikat-Argument-Strukturen 27 — 3.5 Propositionen und Sätze 28 4 Mit der Sprache etwas bewirken............................................... 31 4.1 John Austin 31 — 4.2 John Searle 32 — 4.3 Zur Definition der Sprechakte 35 5 Die Sprache der Sprechsituation anpassen ............................. 41 5.1 Indirekte Sprechakte 41 — 5.2 Direkte Sprechakte? 42 — 5.3 Höflichkeit 43 — 5.4 Anpassung an die Kommunikationssituation 45 — 5.5 Weitere Formen der Abschwächung und Verstärkung 46 — 5.6 Distanz und Nähe 47 — 5.7. Hochsprache und Schriftlichkeit 48 — 5.8 Von der Literaturzur Fachsprache 49 6 Sätze zerlegen................................................................................ 51 6.1 Prädikate und Argumente 51 — 6.2 Der Referenzakt 52 — 6.3 Die Koreferenz 53 — 6.4 Die dynamische Semantik 54 — 6.5 Adverbien und Adverbiale 55 — 6.6 Komplexe Sätze 57 — 6.7 Appositionen 58 7 Sprache und Denken ................................................................... 61 7.1 Die Theorie der mentalen Räume 61 — 7.2 Hypothetische und fiktionale Räume 62 — 7.3 Verneinungen und Fragen 64 — 7.4 Fremde mentale Räume 65 — 7.5 Präsuppositionen 65 — 7.6 Die Natur der Präsuppositionen 68 — 7.7 Präsuppositionen „erben“ 69 <?page no="6"?> VI 8 Schlüsse ziehen............................................................................. 71 8.1 Unausgesprochenes 71 — 8.2 Linguistische Implikationen 72 — 8.3 Implikationen aus dem Weltwissen 73 — 8.4 Implikaturen 74 — 8.5 Metaphern 76 — 8.6 Konnotationen 79 — 8.7 Implizite Satzverknüpfungen 79 9 Was ist ein Text? ........................................................................... 81 9.1 Text und Kommunikationsabsicht 81 — 9.2 Stufenmodelle 83 — 9.3 Die Kommunikationssituation 84 — 9.4 Die Textthematik 85 —9.5 Die Kommunikationsabsicht 88 — 9.6 Der Texttyp 88 10 Die Verknüpfung der Sprechakte im Text.............................. 91 10.1 Von der hierarchischen Struktur des Sprechakts .... 91 — 10.2 ... zur hierarchischen Struktur der Texte 92 — 10.3 Konnektive 93 — 10.4 Ein Urteil des schweizerischen Bundesgerichts 94 — 10.5 Sequenzen 96 — 10.6 Teiltexte 97 — 10.7 Ausblick 98 11 Der dominierende Sprechakt................................................... 101 11.1 Den dominierenden Sprechakt finden 101 — 11.2 Werbung 102 — 11.3 Politische Reden 104 — 11.4 Gesetzestexte 105 — 11.5 Anweisungstexte 106 — 11.6 Zeitungsmeldungen 108 12 Texte über Texte ......................................................................... 110 12.1 Paratexte 110 — 12.2 Der Titel 111 — 12.3 Das Vorwort 115 — 12.4 Abstract und résumé 115 — 12.5 Metatexte 117 — 12.6 Fußnoten 118 13 Argumentation und Kausalität ................................................ 119 13.1 Syllogismus und Enthymem 119 — 13.2 Tatsachen und Meinungen 121 — 13.3 Weitere Illokutionen 122 — 13.4 „Kausale“ Konnektoren 124 14 Argumentieren ............................................................................ 129 14.1 Stephen Toulmin 129 — 14.2 Van Eemerens Pragma-Dialektik 130 — 14.3 Eddo Rigotti 131 — 14.4 Induktives Schließen 132 — 14.5 Exemplifizieren 133 — 14.6 Analogie ohne Induktion 134 — 14.7 Die Gerechtigkeitsregel 135 — 14.8 Hypothesen bilden: die abduktive Argumentation 136 — 14.9 Thesen widerlegen 138 15 Überzeugen oder verführen? ................................................... 141 15.1 Fehlschlüsse 141 — 15.2 Axiologische Argumente 143 — 15.3 Ratgeber 145 — 15.4 Rezensionen 145 — 15.5 Die Gefahr der Manipulation 147 <?page no="7"?> VII 16 Spezifizieren ............................................................................... 149 16.1 Einleitung 149 — 16.2 Direktive Sprechakte spezifizieren 150 — 16.3 Zusammenfassend einleiten 151 — 16.4 Spezifizierungen und thematische Progression 152 — 16.5 Der Zeitungsartikel als Spezifizierung der Titelei 153 — 16.6 Zweifelsfälle 155 — 16.7 Unterordnen oder gleichsetzen? 155 17 Aufzählen und erzählen ........................................................... 159 17.1 Enumerative Sequenzen 159 — 17.2 Enumerative Texte 160 — 17.3 Zeitungsmeldungen 161 — 17.4 Erzählung und temporale Sequenz 162 — 17.5 Ein Experiment von Michel Fayol 164 — 17.6 Chronologie und Kausalität 165 — 17.7 Abweichungen von der Chronologie 166 18 Dichtung und Wahrheit ............................................................ 169 18.1 Der fiktive Erzähler 169 — 18.2 Das epische Präteritum 170 — 18.3 Die Erzählperspektive 171 — 18.4 Das fiktionale Erzählen 173 — 18.5 Das historische Erzählen 174 — 18.6 Grenzfälle 176 — 18.7 Das autobiographische Erzählen 177 19 Wer spricht? ................................................................................. 178 19.1 Formen der Redewiedergabe 178 — 19.2 Redewiedergabe in wissenschaftlichen und journalistischen Texten 180 — 19.3 Rede- und Gedankenwiedergabe in fiktionalen Texten 182 20 Exkurs zur Gesprächslinguistik .............................................. 185 20.1 Nachbarschaftspaare 185 — 20.2 Mehrstufige Gespräche 189 — 20.3 Perlokutive Konnektive 190 — 20.4 Das Modell der Ränge 191 — 20.5 Eingeschobene Expansionen 193 — 20.6 Vorankündigungen 194 — 20.7 Sequenz oder Hierarchie? 195 21 Ergänzende Informationen....................................................... 197 21.1 Komplementäre Sprechakte 197 — 21.2 Sachverhalte klären 198 — 21.3 Sachverhalte manipulieren? 199 — 21.4 Goebbels’ Sportpalastrede 200 — 21.5 Ergänzende Informationen in Erzähltexten 202 — 21.6 Klärende Ergänzungen 203 — 21.7 Die zeitliche Struktur von Erzählungen 204 22 Beschreiben und Bewerten....................................................... 207 22.1 Die Struktur der Beschreibungen 207 — 22.2 Literarische Beschreibungen 209 — 22.3 Charakterisierungen 212 — 22.4 Reiseführer 214 <?page no="8"?> VIII 23 Gefühle und Werte vermitteln ................................................ 217 23.1 Ethos und Pathos 217 — 23.2 Adressierungen 219 — 23.3 Kompensatorische Sprechakte 220 — 23.4 Die polemische Rede 221 — 23.5 Beschimpfungen 223 — 23.6 Zeitungskommentare als axiologische Textsorte 223 — 23.7 Die epidiktische Rede 224 24 Sprache und Bild ........................................................................ 227 24.1 Einleitung 227 — 24.2 Bild und Sprache 228 — 24.3 Die Bildsemiotik 230 — 24.4 Die Sprache-Bild-Beziehung 232 — 24.5 Die Bild- Bild-Beziehung 234 25 Textsorten..................................................................................... 237 25.1 Texttypen und Textsorten 237 — 25.2 Die Makrostruktur 238 — 25.3 Die Argumentationsstruktur von Revisionsurteilen 239 — 25.4 Die Mikrostruktur 244 — 25.5 Die Globalisierung von Textsorten 244 Bibliographie............................................................................... 247 Register......................................................................................... 265 <?page no="9"?> IX Vorwort Der Weg zu diesem Buch war lang. In den Jahren 1985/ 86 und 1988/ 89 habe ich zweimal eine zweisemestrige Vorlesung unter dem Titel „Du signe au sens“ gehalten. Obwohl ich glaubte, in der zweiten Fassung das Konzept erheblich verbessert zu haben, hatte ich beide Male den Eindruck, dass es mir nicht gelang, mit meiner Analyse der Sprachzeichen bis zum Sinn eines Textes vorzustoßen, sondern dass ich beide Male irgendwo an eine unsichtbare Wand prallte. Die Erklärung dafür war mir damals noch nicht bewusst. In Wirklichkeit ergibt sich der Sinn eines Textes nicht einfach aus dem Inhalt der Sprachzeichen, aus denen er sich zusammensetzt. Das Verstehen eines Textes ist ein aktiver Vorgang, zu dem Leserinnen und Leser selber ihren Teil beitragen müssen. Wer einen Text verfasst, verlässt sich darauf, Vieles als bekannt voraussetzen zu können. Im Wintersemester 1992/ 93 hielt ich dann zum ersten Mal eine Vorlesung über Textlinguistik. Mein Konzept baute damals auf der Sprechakttheorie auf und versuchte die Textsorten aufgrund des dominierenden Sprechakts zu klassifizieren. Erst während der Vorbereitung zu dieser Vorlesung erfuhr ich, dass Eckard Rolf ein Buch ankündigte, das auf einer ganz ähnlichen Konzeption aufbaute. Erst durch das Buch von Rolf habe ich dann auch die Theorie der Illokutionshierarchie von Margareta Brandt und Inger Rosengren kennengelernt, die mir bis heute als Vorbild dient. Der theoretische Teil meiner Vorlesung hat damals als fotokopiertes Skript unter Studierenden und Kollegen zirkuliert. Es sollte ursprünglich die Grundlage einer Buchpublikation werden. Diese Publikation unterblieb allerdings in der Folge. Tatsächlich wurde meine Arbeitszeit in den folgenden Jahren immer mehr von anderen Aufgaben in Anspruch genommen. Ich wurde Dekan der Philosophischen Fakultät und Projektleiter eines neuen Lehrwerks für den Französichunterricht an den Sekundarschulen und später auch an den Gymnasien der deutschsprachigen Schweiz. Während meiner Zeit als Dekan lernte ich meinen Dekanskollegen Eddo Rigotti von der Università della Svizzera italiana kennen. Wir stellten dabei fest, dass wir auf dem Gebiete der Textlinguistik gemeinsame Interessen hatten. Daraus ergab sich die Möglichkeit, eine erste Fassung der Theorie, die diesem Buch zugrunde liegt, im Rahmen eines von der Luganeser Universität betreuten Projekts im Bereich des E-Learning mit dem Titel Swissling. A Swiss Courseware in Linguistics zu verfassen. Mit dem entsprechenden Modul haben in der Zwischenzeit Studierende an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und in Italien gearbeitet. Nach meiner Emeritierung im Jahre 2006 wurde dann das Projekt einer Buchpublikation wieder aktuell. Ich habe mich mit einigem Zögern an die Arbeit gemacht, da ich in der Zwischenzeit durch meinen Unterricht der Mängel meiner Theorie bewusst geworden war. Wer eine der beiden früheren Fassungen gekannt hat, wird hoffentlich feststellen, dass die jetzige Darstel- <?page no="10"?> X lung als Folge der langen Zeit, während der ich mich immer wieder mit diesem Thema beschäftigt habe, nicht unerhebliche Fortschritte gemacht hat. Hatte ich die beiden früheren Texte auf Französisch verfasst, so liegt nun dieser in deutscher Sprache vor. Das hat mich gezwungen, mich vermehrt mit der deutschsprachigen Textlinguistik auseinanderzusetzen, der ich vom Ansatz her näher stehe als der französischsprachigen analyse du discours, deren Ergebnisse aber immer wieder in diese Darstellung einfließen werden. Kommunizieren heißt auf jemand Anderen einwirken. Wir gehen deshalb davon aus, dass nicht nur jeder Sprechakt, so wie es die Sprechakttheorie will, sondern dass auch jeder Text einer Kommunikationsabsicht unterstellt ist. Nun kann freilich ein Sprecher oder eine Sprecherin auch etwas kommunizieren, was nicht der Wahrheit entspricht. Ferner kann die Adressatin oder der Adressat etwas verstehen, was gar nicht kommuniziert werden sollte. Dies sind für uns allerdings nur Störfaktoren. Zuvorderst interessiert uns die gelungene Kommunikation. Die Umsetzung der Gedanken in Sprache erweist sich als komplex. Vor allem hat die Sprache den Nachteil, dass sie einen rein linearen, eindimensionalen Aufbau kennt: Wort folgt auf Wort, Satz auf Satz. Zwar gibt es auch so genannte Nebensätze, doch auch diese müssen sich in die lineare Ordnung der Sprache einfügen. Dabei ist es aber ganz unwahrscheinlich, dass unser Denken eine rein lineare Form hat. Es dürfte vielmehr eine räumliche Ordnung kennen, so wie unsere Gehirnzellen, die Neuronen, ebenfalls räumlich miteinander verbunden sind. Das bedeutet aber, dass in der Kommunikation die mentalen Vorstellungen zunächst in die lineare Struktur der Sprache übersetzt und dann in mentale Vorstellungen rückübersetzt werden müssen. Ausgangspunkt unserer Darstellung ist die Sprechakttheorie und unser Ziel ist es zu zeigen, wie die Sprechakte in einem Text miteinander verknüpft sind. Dazu wird es nötig sein, in den ersten acht Kapiteln unsere Theorie zunächst in einen allgemeinlinguistischen Zusammenhang zu stellen und insbesondere zu erläutern, wie man Sätze in Sprechakte auflösen kann. Was unsere eigentliche Theorie betrifft, so gehen wir davon aus, dass die mentale Ordnung der Sprechakte sowohl sequentiell wie auch hierarchisch sein kann. Hierarchisch dem dominierenden Sprechakt untergeordnet sind kausale und argumentative Begründungen. Dabei darf man Kausalität und Argumentation nicht miteinander verwechseln, so wie dies leider häufig geschieht. Hierarchisch sind auch jene Ergänzungen, die wir als Spezifizierungen bezeichnen. Dabei wird ein Sachverhalt zunächst knapp zusammengefasst und dann erst im Einzelnen dargestellt. Sequentiell ist die Ordnung dann, wenn es sich um eine Anreihung von gleichartigen Sprechakten handelt. Die einfachsten Sequenzen sind enumerativ. In temporalen Sequenzen werden Vorfälle in eine chronologische Abfolge gebracht. Solche Hierarchien und Sequenzen bilden den Kern des Textes, zu dem ergänzende Informationen hinzukommen können, die für sein Verständnis notwendig oder zumindest nützlich sind. Eine weitere Art von Sprechakten dient ferner dazu, Gefühle zu vermitteln. Diese Konzeption wird von Kapitel 9 an aufgrund zahlreicher Beispiele aus verschiedenen Textsorten entwickelt. <?page no="11"?> XI Die vorliegende Darstellung hat ganz erheblich von den Seminar- und Lizentiatsarbeiten meiner Zürcher Studierenden profitiert. Ich kann sie hier nicht alle aufzählen, es seien aber zumindest jene Studierenden erwähnt, deren Lizentiatsarbeiten ich wichtige Hinweise verdanke: Nathalie Huber, Dorothea Hugentobler-Sommer, Philipp Kämpf, Nuria Notter, Gabriela Milicevic Decker, Jürg Schüpbach und André da Silva. Mein Dank gilt aber auch all denjenigen Studierenden, welche Lizentiatsarbeiten auf angrenzenden Gebieten verfasst haben und/ oder in meinen Seminaren zur Textlinguistik Arbeiten geschrieben haben. Besonders erwähnen möchte ich ferner meinen früheren Assistenten Giuseppe Manno, jetzt Professor an der Pädagogischen Hochschule der Nordwestschweiz, der auch mein Mitarbeiter bei Swissling war und mit dem ich viele wertvolle Diskussionen hatte. Dies gilt auch für meine Kollegen an der Università della Svizzera italiana, Eddo Rigotti und Andrea Rocci, die mich immer wieder zu Vorlesungen eingeladen haben und denen ich vor allem viele Anregungen auf dem Gebiete der Argumentationstheorie zu verdanken habe. Dank meiner Genfer Kollegin Kirsten Adamzik wurde diese Arbeit in die Reihe der Europäischen Studien zur Textlinguistik aufgenommen. Sie wie auch die Verlagslektorin Kathrin Heyng haben sich die Mühe gemacht, den gesamten Text korrigierend durchzulesen. Auch ihnen möchte ich hier meinen herzlichsten Dank aussprechen. Zürich, im Januar 2011. <?page no="13"?> 1 1 Was ist Textlinguistik? Der Text wurde erst recht spät zum Gegenstand der Linguistik. Dabei entstand auf der einen Seite ein transphrastischer Ansatz, der einen Versuch darstellt, die traditionellen Grenzen einer Satzlinguistik zu sprengen. Auf der anderen Seite entwickelte sich ein texttypologischer Ansatz, der auf der Tatsache beruht, dass sich verschiedene Textsorten verschiedener Ausdrucksmittel bedienen. Aus dieser Erkenntnis heraus entstanden wiederum einerseits empirische Studien zu einzelnen Textsorten und andererseits Versuche, die Textsorten in ihrer Gesamtheit zu klassifizieren. Auch hat die Produktion und das Verarbeiten von Texten zu zahlreichen psycholinguistischen Untersuchungen Anlass gegeben. Man betrachtet heute das Textverstehen als einen interaktiven Vorgang zwischen dem, was uns der Text mitteilt, und dem, was die Empfängerin oder der Empfänger selber zu ihrem/ seinem Verständnis beitragen muss. Dies gilt insbesondere auch für das Problem der textlichen Kohärenz, das den eigentlichen Gegenstand dieses Buches bildet. 1.1 Transphrastische Grammatik Die Textlinguistik befasst sich mit geschriebenen (und in der Germanistik vorwiegend nicht-literarischen) Texten. Der Begriff taucht allerdings erst in den 1960er Jahren auf (cf. Schoenke 2000, 123). Zwar hatte damals gerade der Generativismus den Satz zur größten analysierbaren sprachlichen Einheit erklärt. Trotzdem waren es vielfach Generativisten, die zuerst versuchten, eine Textgrammatik zu schaffen. Ihr Ansatz war grammatikorientiert. Er befasste sich mit grammatischen Formen wie zum Beispiel den Konnektoren, die Sätze untereinander verbinden, oder den Anaphern, die auf bereits erwähnte Referenten zurückverweisen. Man nennt grammatische Funktionen, die über die Satzgrenze hinausweisen, transphrastisch und entsprechend kann man diesen Ansatz der Textlinguistik als transphrastisch bezeichnen. Dieser Ansatz war aber nicht wirklich neu, denn er kommt eigentlich schon bei Junggrammatikern wie Hermann Paul vor (cf. Adamzik 2004, 18ss.). Außerdem erwies sich dieser Ansatz sehr bald als enttäuschend, denn es gibt nur wenige grammatische Formen, die eine ausschließlich textuelle Funktion haben. Die Versuche, eine generative Textgrammatik zu verfassen, gehören denn auch definitiv der Vergangenheit an. Im Modell von Beaugrande und Dressler (1981), das in der Germanistik sehr einflussreich war, erscheint zwar noch die grammatische Kohäsion an erster Stelle; sie ist aber gerade noch eine von sechs Komponenten. Die anderen Komponenten sind: • die semantische Kohärenz, die sich aus der Bedeutungswelt des Textes ergibt, <?page no="14"?> 2 • die Intentionalität, welche der Textproduzent dem Text zugrunde legt, beziehungsweise die Akzeptabilität, die als Einstellung des Textrezipienten zum Text verstanden wird, • die Informativität als Mitteilungsgehalt des Textes, • die Situationalität als Beitrag der Kommunikationssituation zum Textverständnis und • die Intertextualität, welche das Textverstehen von der Kenntnis anderer Texte abhängig macht. In diesem Modell finden auch schon Ansätze aus der Pragmatik ihren Eingang. Diese Disziplin, die sich parallel zur Textlinguistik entwickelt hat und die sich mit dem Sprachgebrauch und nicht mit dem Sprachsystem beschäftigt, hat sich insgesamt für eine transphrastisch orientierte Textlinguistik als sehr fruchtbar erwiesen. Noch mehr als die deutsche Textlinguistik hat sie die französische analyse du discours beeinflusst (cf. beispielsweise Maingueneau 1990, 1991, 1998, Adam 2005 und am systematischsten Roulet et al. 2001 1 ). Die analyse du discours hat sich in ihren Anfängen nach 1968 vor allem mit dem politischen Diskurs beschäftigt, was damals einer ideologischen Wahl entsprach. Die dabei verwendeten grammatischen und vor allem lexikostatistischen Analyseverfahren (cf. Maingueneau 1991) erwiesen sich aber bald als zu formalistisch, um ideologiekritische Aussagen zu erlauben. Ideologiekritisch ausgerichtet ist heute die kritische Diskursanalyse von Autoren wie Norman Fairclough, Teun van Dijk oder Ruth Wodak. Einer vorwiegend lexikostatistischen und grammatischen Methodik ist dagegen die Korpuslinguistik treu geblieben, die aus dem amerikanischen Deskriptivismus hervorgegangen ist und eine computergestützte Textanalyse betreibt (cf. Lüdeling/ Kytö 2008-2009). Auch eine pragmatisch orientierte Textlinguistik stößt allerdings sehr rasch an Grenzen, denn das Problem der Pragmatik besteht darin, dass diese noch junge Disziplin sehr verschiedene Ansätze vereint. Bei Roulet et al. (2001) sind diese die Grundlage von verschiedenen Modulen, die zwar als interaktiv gelten, aus denen sich aber kein Gesamtbild eines Textes entwickeln lässt. 1.2 Textsorten Neben dem transphrastischen gibt es den texttypologischen Ansatz. Er gründet auf dem Begriff der Textsorte, der offensichtlich von Max Bense (1962, cf. Krause 2000, 12) geprägt wurde. Noch älter ist der Begriff des Redegenres, der von Michail M. Bachtin (cf. Krause 2000, 17-22) in die sowjetische Linguistik eingeführt wurde. Die diesbezügliche Forschung beruht auf der empirischen 1 Unverständlich ist die Polemik von Reboul/ Moeschler (1998) gegen die analyse de discours, die sie bezichtigen, einer immanentistischen Sprachauffassung verhaftet geblieben zu sein, ohne aber konkrete Beispiele zu nennen. <?page no="15"?> 3 Tatsache, dass verschiedene Textsorten verschiedene Ausdrucksmittel verwenden. Sie leidet allerdings unter der Tatsache, dass der Begriff nie verbindlich definiert wurde. Außerdem präsentiert sich die Forschung zu den Textsorten unter zwei Formen, die nie ganz zueinander gefunden haben. Auf der einen Seite gibt es eine große Anzahl von empirischen Studien zu einzelnen Textsorten, nicht selten auf kontrastiver Basis (cf. die Bibliographie von Adamzik 1995). Auf der anderen Seite hat es aber auch eine Reihe von Versuchen gegeben, eine Typologie der Gesamtheit der Texte zu entwerfen. Die empirischen Untersuchungen sind meist verhältnismäßig kurzen, hochgradig standardisierten Textsorten wie den Kochrezepten, den Gebrauchsanweisungen oder den Wetterprognosen gewidmet. Solche Textsorten verwenden eine oft sehr beschränkte Zahl von sprachlichen Ausdrucksmitteln. Hervorstechende Besonderheit des Kochrezepts sind beispielsweise die vielen Quantitätsangaben, die in einer Liste zu Beginn des Rezepts zusammengefasst werden. Für die einzelnen Anweisungen wird dagegen im heutigen Deutschen eigentlich nur noch der Infinitiv gebraucht. Es ist dies ein besonderer Infinitiv, dem eine imperativische Funktion zukommt („Die Äpfel schälen, entkernen und in Stücke schneiden“). Die Tatsache, dass verschiedene Textsorten verschiedene sprachliche Ausdrucksmittel verwenden, hat auch im so genannten funktionalen Sprachunterricht ihren Niederschlag gefunden, wie er etwa in einem Projekt des Europarats für die europäischen Sprachen empfohlen wurde, dessen deutsche Version unter dem Titel Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache (Baldegger et al. 1982) erschienen ist. Erwachsene, die eine Sprache für einen bestimmten Zweck erlernen, müssen nicht über die Gesamtheit der sprachlichen Ausdrucksmittel verfügen und nicht deshalb zunächst den gesamten Inhalt einer Elementargrammatik erwerben. Leider ist dieses Prinzip für den Schulunterricht nicht anwendbar, denn, wie Porcher et al. (1986, 57) bemerken, ist es nicht vorauszusehen, welche Art von Erwachsenen die verschiedenen Schüler einmal sein werden. In modernen Fremdsprachlehrwerken wird die Progression allerdings nicht mehr allein von der Grammatik bestimmt, sondern von einer Dreiheit aus thematischer, pragmatischer und grammatischer Progression. Im Falle des Französischlehrwerks envol, dessen Projektleiter ich war, haben wir uns deshalb die Erkenntnis der Textlinguistik zunutzen gemacht, dass verschiedene Textsorten verschiedene Ausdrucksmittel verwenden, um die inhaltliche mit der grammatischen Progression zu koordinieren (cf. Wüest 2001a, 42-44; Wüest 2005a, 91-93 = 2008, 93). 1.3 Texttypologien Während der praktische Nutzen von Studien zu einzelnen Textsorten unbestreitbar ist, so möchte man doch auch über eine allgemeine Typologie der Textsorten verfügen. An entsprechenden Versuchen hat es nicht gefehlt. (Ei- <?page no="16"?> 4 nen Überblick gibt Kron 2002 und vor allem Heinemann 2000.) Leider hat sich dieses Unterfangen als sehr problematisch herausgestellt. Auffällig ist insbesondere, wie selten in solchen Studien konkrete Beispiele untersucht werden oder auch nur auf Studien zu einzelnen Textsorten verwiesen wird. Es klafft deshalb eine Lücke zwischen den Studien zu einzelnen Textsorten und den generellen Texttypologien. Diese beruhten übrigens auf verschiedenen Kriterien. 1.3.1 Sprachimmanente Typologien Die älteren Typologien gründen zumeist auf grammatischen Kriterien. Obwohl er nur zwei Texttypen unterscheidet, ist Emile Benvenistes (1959) Dichotomie von discours und histoire (oder récit) besonders bekannt geworden. Gleiches gilt für die nur unwesentlich verschiedene Dichotomie Harald Weinrichs (1964) zwischen der besprochenen und erzählten Welt. Benveniste war von der Frage ausgegangen, wieso das Französische zwei verschiedene Tempora, das passé simple und das passé composé, verwendet, wo das Lateinische nur ein Tempus, das Perfekt, kennt. Er kam zum Schluss, dass diese Unterscheidung derjenigen zwischen zwei Texttypen entspricht. Benveniste zeigt mit Hilfe von drei kurzen Textabschnitten, dass man im Texttyp, den er histoire nennt, nur eine beschränkte Anzahl von Tempora verwendet, darunter das passé simple. Dass umgekehrt im discours alle Tempora mit Ausnahme des passé simple vorkommen, wird zwar nicht belegt, entspricht aber den Tatsachen. Das Problem liegt anderswo. Von den Texten, die Benveniste untersuchte, stammte einer von Balzac und zwei weitere vom Althistoriker Georges Glotz. Hätte er nämlich einen anderen Historiker berücksichtigt, so hätte er sehr leicht auf einen Text stoßen können, in dem das passé simple gar nicht vorkommt und dafür das historische Präsens dominiert. Im klassischen Französischen mag einmal das passé simple das charakteristische Erzähltempus gewesen sein. Heute ist sein Gebrauch vorwiegend literarisch. Im heutigen Französischen kann man nicht nur im passé simple / imparfait, sondern auch im passé composé / imparfait erzählen und sehr häufig tut man dies ganz einfach im présent historique oder verwendet sogar Mischformen (cf. Wüest 1993a). Es macht deshalb schlicht keinen Sinn, nur diejenigen Erzählungen, in denen das passé simple vorkommt, als solche anzuerkennen. Jean-Paul Bronckart et al. (1985) haben die Typologie von Benveniste erweitert und gleichzeitig versucht, sie durch statistische Daten zu untermauern. Sie unterscheiden dabei zusätzlich zwischen dem discours en situation, in dem die Pronomen der ersten und zweiten Person häufig sind, und dem discours théorique, wo sie so selten wie in erzählenden Texten vorkommen. Ihr Korpus des discours théorique besteht dabei aus wissenschaftlichen Texten vorwiegend sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Eine kontrastive Untersuchung von Jeanne Heslot (1983) zeigt nun aber bemerkenswerte Unterschiede im Tempusgebrauch zwischen französisch und englisch verfassten Artikeln empirischer Richtung. In den französischsprachi- <?page no="17"?> 5 gen Artikeln dominiert tatsächlich das Präsens zu 73,73%. In den englischsprachigen Artikeln überwiegt dagegen das simple past mit 67,56%. Es wird dort verwendet, wo von den Methoden und Resultaten der durchgeführten Experimente berichtet wird. Im französischen Texten steht an dieser Stelle wiederum das présent historique 2 . Die statistische Häufigkeit des Präsens sagt somit rein gar nichts aus, solange wir nicht wissen, mit welchen der verschiedenen Funktionen des Präsens wir es zu tun haben. Tatsächlich sind fast alle sprachlichen Formen polysem, d.h. sie haben mehrere Funktionen oder Bedeutungen. Deshalb ist es erst sinnvoll, einen Text statistisch auszuwerten, wenn er vorher interpretiert wurde. Die Korpuslinguistik tut dies, wenn auch meines Erachtens in unzureichendem Masse, indem sie mit indexierten Korpora arbeitet. Bevor sie die Texte computergestützten statistischen Auswertungen unterzieht, wird die grammatische Funktion der Formen zunächst von Linguisten „manuell“ festgelegt. Dazu kommt noch, dass nicht nur die Sprache, sondern auch die Textsorten dem historischen Wandel unterworfen sind. Es ist zwar wichtig zu untersuchen, welche Ausdrucksmittel in welchen Texten verwendet werden. Zur Typologisierung der Textsorten eignen sich diese rein formellen Kriterien aber nicht. 1.3.2 Sequentielle Typologien Texte bestehen aus einer Abfolge oder Sequenz von Sprechakten. Egon Werlich (1975, 34-37) hat deshalb eine Typologie vorgeschlagen, welche fünf Texttypen nach ihren Sequenzformen unterscheidet. Narrative Texte temporale Sequenzformen Deskriptive Texte lokale Sequenzformen Expositorische Texte explikatorische Sequenzformen Argumentative Texte dialektische Sequenzformen Instruktive Texte enumerative Sequenzformen Dieses Modell wurde von Jean-Michel Adam (1997) weiterentwickelt. Dass Adam die enumerative Sequenzform durch den Dialog ersetzt, sei dabei nur am Rande erwähnt. Entscheidend ist seine Erkenntnis, dass höchstens sehr kurze Texte aus einer einzigen Sequenz bestehen; längere Texte verwenden verschiedene Arten von Sequenzen. So enthält eine literarische Erzählung so gut wie immer auch Dialoge und Beschreibungen. An und für sich ist der Ansatz von Werlich durchaus interessant. Klaus Brinker ( 6 2005, 61-87) hat eine ähnliche Typologie vorgeschlagen. Bei ihm ist jedoch von einer thematischen Entfaltung die Rede und die sequentielle Abfolge der Sätze ist für ihn nicht entscheidend. Problematisch ist insbesondere 2 Nach Rolf Tatje (1995, 82-85) findet man die Vergangenheitszeiten in den vorwiegend berichtend-beschreibenden Teiltexten mineralogischer Zeitschriftenaufsätze sowohl im Französischen wie im Deutschen. <?page no="18"?> 6 Werlichs Unterscheidung zwischen explikatorischen und dialektischen Sequenzformen, die eigentlich beide argumentativ sind und sich nur in der Stellung der Folgerung am Anfang oder am Schluss unterscheiden. 1.3.3 Situative Typologien Man hat auch versucht, die Textsorten nach externen Kriterien zu definieren. Dazu lässt sich beispielsweise der Rahmen der Funktionalstilistik verwenden, welche zwischen literarischen, wissenschaftlichen, journalistischen usw. Texten unterscheidet (cf. Adamzik 2004, 68ss.). Das reicht jedoch nicht zur Bestimmung von eigentlichen Textsorten. Für wissenschaftliche Texte hat man deshalb noch eine zusätzliche vertikale Gliederung vorgeschlagen, die davon abhängt, an welche Art von Publikum sich ein Text wendet (cf. Gläser 1990, 8- 14). Auch wir werden die Kommunikationssituation als ein Kritierium zur Bestimmung der Textsorten verwenden (cf. Kap. 9). Noch wichtiger sind für uns jedoch die funktionellen Kriterien. 1.3.4 Funktionelle Typologien Das Vorbild für eine funktionelle Typologie fand Ernst Ulrich Große (1974, 1976) im Funktionsmodell von Jakobson und Klaus Brinker (1985) in Searles Sprechaktklassifikation. Noch stärker als Brinker lehnt sich Eckard Rolf (1993) an Searle an. Er beruft sich dabei einerseits auf Brinker, andererseits auf das Konzept der Illokutionshierarchie (Brandt / Rosengren 1992), nach dem ein Text aus einem dominierenden und diesem untergeordneten Sprechakten besteht. Rolf interessiert sich allerdings nur für den dominierenden Sprechakt. Er nennt seine eigene Typologie „präanalytisch“ (1993, 135). Seine Klassifikation beruht denn auch nicht auf einer Analyse der Textsorten, was bei einer Zahl von über 2000 auch nicht zu leisten gewesen wäre, sondern auf Vermutungen über den dominierenden Akt. Dabei ist dieser in etlichen Textsorten gar nicht leicht zu bestimmen. Man würde beispielsweise annehmen, dass in der Neujahrsansprache des Staatsoberhauptes die Glückwünsche zum neuen Jahr der dominierende Sprechakt wären. Entsprechend erscheinen sie bei Eckard Rolf (1993, 279s.) als kontaktbezogene expressive Textsorte. Analysiert man aber eine Anzahl von Neujahrsansprachen, so sieht man bald, dass der Rest des Textes mit den Glückwünschen, die ihn umrahmen oder mit denen er endet, gar nichts zu tun hat (cf. Wüest 2010a). Der Kern der Rede ist vielmehr eine typische politische Rede, deren Absicht darin besteht, das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierenden zu stärken. Oft gliedert sich dieser Kern in zwei Teile, eine Bilanz des vergangenen Jahres und einen Ausblick in die Zukunft, die immer als glänzend dargestellt wird. Somit ist das neue Jahr, zu dem die Glückwünsche überbracht werden, bloß die Gelegenheit — um nicht zu sagen der Vorwand — für diese politische Rede und nicht ihr eigentlicher Zweck. <?page no="19"?> 7 1.4 Der psycholinguistische Ansatz Neben der Linguistik hat sich auch die kognitive Psychologie sehr intensiv mit der Produktion und der Verarbeitung von Texten befasst 3 . Was die vielen Modelle betrifft, welche Psychologen und Neurologen in diesem Zusammenhang entwickelt haben, so muss man sich freilich immer bewusst sein, dass sich die neurologischen Vorgänge, die sich beim Produzieren und Verarbeiten von Texten abspielen, nicht direkt beobachten, sondern lediglich aus Indizien erschließen lassen. Deshalb sind die vorgeschlagenen Modelle hypothetischer Natur und können immer wieder durch neue Experimente widerlegt werden. Immerhin besteht heute eine weitgehende Einigkeit darüber, dass die der Sprache zugrunde liegenden Denkstrukturen die Form von Prädikat- Argument-Strukturen in der Art von logischen Propositionen haben. Dafür gibt es zumindest starke Indizien (cf. Kap. 3). Das heißt, dass bei der Produktion von Texten die räumlichen Strukturen des Denkens in lineare Strukturen der Sprache umgewandelt werden müssen und dass die umgekehrte Umwandlung beim Verstehen eines Textes stattfindet. Tatsächlich hatte schon Saussure (1976, 103) den linearen Charakter des sprachlichen Ausdrucks als ein Grundprinzip der Sprache anerkannt: Wir können Laute oder Schriftzeichen nur in einer linearen Abfolge produzieren. Dagegen sind die Neuronen des Gehirns räumlich miteinander verknüpft und nichts spricht für eine lineare Form des Denkens. Einigkeit herrscht ebenfalls darüber, dass das Textverstehen kein rein passiver Vorgang des Dekodierens sein kann, so wie man das früher annahm. Vieles von dem, was zum Verstehen von Texten notwendig ist, steht nämlich nicht im Text, sondern wird als bekannt vorausgesetzt. Schon Hans Hörmann (1976, 206) hat darauf hingewiesen, dass das Verstehen eines Textes zunächst einmal eine Sinnsuche ist. Diese Sinnsuche stützt sich auf die Grundannahme, dass eine Satzabfolge einen Sinn ergibt. Hans Magnus Enzensberger hat dies recht drastisch ausgedrückt: Der Leser, jeder Leser, hat nämlich den fatalen Hang, Zusammenhänge herzustellen und noch in der trübsten Buchstabensuppe nach so etwas wie einem Sinn herumzustochern. (Enzensberger 1991, zit. bei Schmidhauser 1995, 225) Verfügten wir aber nur über diese Grundannahme, würde sich die Sinnsuche sehr schwierig gestalten. Deshalb gibt Hörmann (1976, 472) gleich noch eine zweite Antwort: „... ein Netz von Annahmen, von Möglichkeiten, muss immer bereit stehen, damit das einzelne sprachliche Ereignis sinnvoll ist“. Es sind im Wesentlichen zwei Arten von Kenntnissen, die zusätzlich zur Sprachbeherrschung, notwendig sind. Patricia L. Carrell (1989, cf. auch Cicurel 1991, 12-13) spricht in diesem Zusammenhang von inhaltlichen und formalen Schemen. 3 Synthesen dieser Forschungen findet man bei Coirier et al. (1996) und Rickheit/ Strohner (1993), für das Textverstehen ferner bei Christmann/ Groeben (1996), sowie für die Textproduktion bei Fayol (2002). <?page no="20"?> 8 Die inhaltlichen Schemen bilden das, was man im Englischen als den common ground bezeichnet, wofür der deutsche Begriff „gemeinsames Wissen“ eine eher blasse Übersetzung ist. Die Existenz des common ground ist auch schon in Frage gestellt worden, doch zeigte Herbert H. Clark (1996, 92-121), dass diese Kritik nur auf bestimmte Definitionsversuche zutrifft. Der common ground braucht nicht ein eindeutiges Wissen zu sein, er kann auch aus Vermutungen darüber bestehen, was mein Gegenüber weiß: „When he and I act ‘on the basis of our common ground,’ we are in fact acting on our individual beliefs or assumptions about what is in our common ground“ (96). Wenn ich ein Buch schreibe, so weiß ich nicht, wer es lesen wird; ich kann höchstens Vermutungen darüber anstellen. Setze ich zu viel voraus, so wird man mich nicht verstehen. Setze ich zu wenig voraus, so riskiere ich, meine Leserschaft zu langweilen. Es ist deshalb nicht möglich, den common ground mit all seinen individuellen Varianten ein für alle Male festzulegen. Man kann höchstens feststellen, welches Wissen ein bestimmter Text voraussetzt. Das Problem formaler Schemen hat mit den Textsorten zu tun. In seiner klassischen Studie benutzte Sir Frederic Charles Bartlett (1932) eine amerindische Erzählung, die ein anderes Erzählschema als dasjenige der westlichen Kultur verwendet. Als seine Versuchspersonen dann diese Geschichte nacherzählen sollten, übersprangen sie Episoden, die nicht in das westliche Erzählschema passten, oder glichen sie diesem an. Textsorten sind Vertextungsmuster, die helfen, einen Text zu verfassen, die aber auch das Verstehen von Texten erleichtern, wenn diese einem bekannten Muster entsprechen. Diese Muster verändern sich nicht nur im Laufe der Zeit, sondern sie sind, wie das zitierte Beispiel zeigt, auch kulturell bedingt. Die Kenntnis der Textsorten gehört deshalb ebenfalls zu jenen Kenntnissen, die der Sprecher oder die Sprecherin üblicherweise bei den Adressatinnen und Adressaten voraussetzt. 1.5 Lektüretheorien Die psycholinguistische Forschung befasst sich auch mit der Frage, was vorgeht, wenn wir einen Text lesen. In den heutigen Handbüchern zur Lesedidaktik wird das Konzept einer interaktiven Lektüre favorisiert (cf. Wüest 2001a, 63ss.), so wie dieses von James L. McClelland und David E. Rumelhart in den 1980er Jahren propagiert worden war (cf. McClelland/ Rumelhart 1981, Rumelhart/ McClelland 1982). Das bedeutet, dass man die Lektüre nicht einfach als so genannten bottom-up-Prozess verstehen kann, bei dem man von den kleinsten Einheiten des Textes, den Graphemen oder Phonemen, ausgeht, um sie zu immer größeren Einheiten zusammenzusetzen. Da in einem Text Vieles nicht explizit gesagt wird, können rein formale Ansätze der Textlinguistik wie der transphrastische Ansatz oder die sprachimmanenten Typologien nicht zum vollen Erfolg führen. Diese Perspektive ist jedoch nicht überflüssig, denn die Lektüre kann auch kein reiner top-down-Prozess sein, bei dem man von der größten Einheit, dem <?page no="21"?> 9 Text, ausgeht und diesen dann in seine Bestandteile zerlegt. Das würde voraussetzen, dass wir alle Texte bereits kennen. Vielmehr beginnen wir bei der Lektüre einerseits den Text aus seinen kleinsten Einheiten zusammenzusetzen, andererseits stellen wir von Anfang an auch Vermutungen darüber an, was der Text als Ganzes bedeuten könnte. Diese Vermutungen können sich bei der weiteren Lektüre bestätigen oder müssen revidiert werden. Hier kommen die Konzepte der situationellen und funktionellen Texttypologie zum Tragen. Unsere ersten Vermutungen über den Text werden sich schon vor Beginn der Lektüre gestützt auf die Kommunikationssituation oder auch gestützt auf die äußere Form eines geschriebenen Textes bilden. Sie werden vorerst vor allem die globale Funktion des Textes betreffen. Meistens weiß ich bei der Lektüre einer Zeitung oder einer Zeitschrift sehr rasch, ob ich es mit einem Artikel oder einer Reklame zu tun habe. Damit erkenne ich auch die Funktion des Textes: Ein Artikel will informieren, eine Reklame rät mir dagegen zu einem Kauf. Um einen Text zu verstehen, ist es aber nicht nur nötig, die globale Kommunikationsabsicht zu erkennen, sondern auch zu verstehen, in welcher Beziehung die einzelnen Sätze oder Sprechakte zur globalen Kommunikationsabsicht stehen und was sie untereinander verbindet. Diese Verbindungen können durch Konnektoren, d.h. durch Konjunktionen oder konjunktiv gebrauchte Adverbien, angezeigt werden. Das gehört zum Thema der textlichen Kohäsion. Sehr häufig wird die Verbindung jedoch durch keine sprachlichen Zeichen angezeigt, obwohl davon auszugehen ist, dass die Sätze in einem Text in irgendeiner Form miteinander verbunden sein müssen. Dieses Problem zu erforschen, ist weit schwieriger. Es ist die Aufgabe einer Theorie der textlichen Kohärenz. Dies wird die Aufgabe dieses Buches sein. 1.6 Ausblick Bevor wir uns aber dem eigentlichen Thema dieses Buches, der Kohärenz von Texten, zuwenden können, werden wir uns bis Kapitel 8 mit einigen Grundfragen des Textverstehens beschäftigen müssen. Wer auf den entsprechenden Gebieten hinreichend linguistisch bewandert ist, kann diese Kapitel auch überspringen, wobei die Zusammenfassungen zu Beginn jedes Kapitels ihm die Orientierung erleichtern sollen. Nur kurz werden wir uns zunächst mit der Semantik (Kap. 2) und der Syntax (Kap. 3) befassen, bevor wir uns der pragmatischen Textanalyse zuwenden. Da unsere Theorie auf der Sprechakttheorie aufbaut, wird diese zunächst in Kapitel 4 vorgestellt. In Kapitel 5 geht es dann um das Problem, dass eine gegebene Sprechintention mit verschiedenen Ausdrucksmitteln dargestellt werden kann, und in Kapitel 6 um die Tatsache, dass ein grammatischer Satz aus mehreren Sprechakten bestehen kann. Kapitel 7 ist dem Verhältnis zwischen sprachlichen und mentalen Strukturen gewidmet. Zunächst anhand der Präsupposition, dann in Kapitel 8 anhand verschiedener Formen <?page no="22"?> 10 der Implikation wird gezeigt, wie die mentale Repräsentation eines Textes gegenüber ihrer sprachlichen Form angereichert wird. Kapitel 9 wird sodann der zentralen Frage gewidmet sein, was ein Text ist. In Kapitel 10 wird das Modell, auf das wir uns stützen, zunächst einmal im Zusammenhang vorgestellt, bevor wir uns mit seinen einzelnen Teilen befassen. Der Aufbau der weiteren Kapitel wird deshalb erst am Ende von Kapitel 10 skizziert. <?page no="23"?> 11 2 Vorstellungen und Bedeutungen Bevor wir uns unserem eigentlichen Thema zuwenden können, sind einige Vorabklärungen notwendig. Zunächst wollen wir wissen, was die sprachlichen Zeichen zum Verständnis eines Textes beitragen. Diese sind die eigentlichen Bedeutungsträger, bezeichnen aber nicht konkrete Gegenstände, Handlungen usw., sondern bloß Vorstellungen davon. Das semantische Wissen setzt somit die Fähigkeit voraus, Kategorien zu bilden. Dabei scheint es sich herauszustellen, dass dieses Wissen zwei Formen annehmen kann. Es gibt einerseits ein prozedurales Wissen in Form von mentalen Bildern und anderseits ein deklaratives Wissen logisch-linguistischer Natur. Die Auffassung, die Bedeutung der Wörter lasse sich in klar abgegrenzte, eindeutig definierte Kategorien fassen, erweist sich dabei als fragwürdig. Auch ist die Bedeutung eines Textes kein rein semantisches Problem. Wir brauchen zusätzlich eine Disziplin, die sich mit der Verwendung der Sprache in ihrer Umgebung befasst. Diese Disziplin heißt Pragmatik. 2.1 Zeichentheorien Eigennamen bezeichnen Individuen. Sie sind irgendwie den Namensschildchen vergleichbar, mit denen man an Kongressen herumläuft. Andere Wortarten bezeichnen dagegen immer ganze Kategorien von Individuen, Handlungen, Eigenschaften usw. Sie können deshalb nicht als Etiketten, die man auf Individuen klebt, verstanden werden. Dieser Tatsache trägt schon das Zeichenmodell Rechnung, das Philosophen der Stoa vor über zweitausend Jahren entwickelt haben. Es wird von Sextus Empiricus (Adversus mathematicos VIII, 1) überliefert und hatte über Jahrhunderte Bestand. Nach diesem Modell gehören drei Dinge zu einem Sprachzeichen: das Bezeichnende ( μ ) , das Bezeichnete ( μ μ ) und das Bezugsobjekt ( ). Das Bezeichnende besteht aus einer Kette von Lauten oder Buchstaben, das Bezeichnete aus Vorstellungen, die man damit in einer gegebenen Sprache verbindet. Das Bezugsobjekt ist dagegen dasjenige, worauf das Zeichen verweist. Dagegen wäre einzuwenden, dass das Bezugsobjekt eigentlich nicht mehr zum Zeichen selber gehört, denn ein Zeichen ist immer ein Zeichen für etwas und dieses Etwas ist in unserem Fall das Bezugsobjekt. Schon im 17. Jahrhundert schränkte die Grammaire de Port-Royal (Arnauld/ Lancelot 1660) das Sprachzeichen auf das Bezeichnende und das Bezeichnete ein, nur nennt sie dafür keine Gründe. Es ist deshalb unklar, aus welcher Absicht dies ihre Autoren taten und ob sie es überhaupt aus Absicht taten. Bei Ferdinand de Saussure ist dagegen jeder Irrtum ausgeschlossen. Die in neuerer Zeit aufgefundenen und publizierten persönlichen Notizen lassen seine Auffassungen als noch radikaler erscheinen, als sie sich im postumen, nach den Notizen seiner Studierenden verfassten Cours de linguistique générale von 1916 präsentieren. <?page no="24"?> 12 Saussure geht soweit, dass er jede Beziehung des Zeichens zu Gegenständen der Umwelt als Zufall bezeichnet: „C’est un accident quand le signe linguistique se trouve correspondre à un objet défini pour les sens comme un cheval, le feu, le soleil…“ (Saussure 1967-1974, 148 [N 12]). Die Zeichen stützen sich nicht auf etwas Externes ab; es genügt, dass sie sich gegenseitig abgrenzen: „Il y a dans la langue ni signes, ni significations, mais des différences de signes et des différences de significations...“ (Saussure 2002, 70). Zu beachten ist, dass Saussure in diesem Text noch das Bezeichnende, das er später signifiant nennt, als signe bezeichnet. Hier wird das Zeichen also noch als Zeichen für etwas verstanden, nämlich für das, was er hier signification nennt und später signifié nennen wird. Indem Saussure später jedoch die Verbindung von signifiant und signifié als Zeichen verstand, machte er aus diesem eine Erscheinung, die nicht mehr auf etwas Anderes Bezug nimmt, sondern sich selbst genügt. Saussure war offensichtlich vor allem daran interessiert, die Linguistik als autonome Wissenschaft zu begründen. Dies zeigt sich auch in seinem „Kommunikationsmodell“ (Saussure 1976, 27), das man gelegentlich heute noch in Lehrbüchern wiederfindet. Es zeigt zwei sprechende Köpfe, die körperlos in einem leeren Raum miteinander Sprachzeichen austauschen. Man fühlt sich an das „brain-in-the-vat“-Gedankenexperiment von Hilary Putnam (1981) erinnert. Die Kommunikation ist hier zum klinisch reinen Selbstzweck geworden. Dass die Sprache dazu dienen könnte, über die Umwelt zu berichten oder gar auf diese einzuwirken, bleibt dabei völlig unberücksichtigt. Man könnte Saussures Vorstellungen als völlig irrational abtun, wenn sie nicht lange Zeit den so genannten Strukturalismus dominiert hätten. Der linguistische Strukturalismus konnte denn auch gewisse Erfolge feiern. Diese Erfolge betrafen allerdings alle die Ausdrucksebene, vor allem die Phonologie, wo die bei Saussure ungelöste Frage der Beziehung der Sprache zur außersprachlichen Wirklichkeit keine Rolle spielt. Sobald wir uns allerdings mit der Inhaltsebene befassen, wird diese Frage zentral. <?page no="25"?> 13 2.2 Das Sprachzeichen Schon vor der strukturalistischen Linguistik hatte sich die historische Linguistik des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich mit der Laut- und Formenlehre, d.h. mit der Ausdrucksseite der Sprache beschäftigt. Da wir hier in erster Linie die Textlinguistik als eine „Linguistik des Sinns“ (Coseriu 1980, 4 2007) betreiben wollen, brauchen wir uns hier um die Ausdrucksseite der Sprache eigentlich nicht zu kümmern. Wir müssen aber wissen, was wir als Sprachzeichen verstehen wollen. Schon Saussure (1976, 148) hatte angemerkt, dass man das Sprachzeichen nicht einfach mit dem Wort gleichsetzen darf. Einen Sonderfall bilden die Idiome wie Lug und Trug, Maulaffen feilhalten oder Das geht auf keine Kuhhaut, denen insofern ein Zeichenstatus zukommt, als dass sie nur als Gesamtes einen Sinn ergeben. Trotzdem bleiben sie aber lexikalisch zerlegbar. 1921 führte sodann Joseph Vendryès die Unterscheidung zwischen Semantem und Morphem ein. Gemeint war dabei in erster Linie die Unterscheidung zwischen Stamm (Semantem) und Endung (Morphem), wie sie bei den Infinitiven sing-en, lat. it. cant-are, fr. chant-er usw. vorliegt. Allerdings kann zum Beispiel die grammatische Funktion eines Substantivs auch durch einen Artikel oder einfach durch die Wortstellung angezeigt werden. Zudem ist die Grenze zwischen Semantemen und Morphemen nicht immer eindeutig. Nach der Theorie der Grammatikalisierung (cf. Hopper/ Traugott 1993, Heine/ Kuteva 2002), die in der historischen Sprachwissenschaft viel Anklang gefunden hat, wären die Morpheme durch einen Prozess der Grammatikalisierung, der zugleich ein solcher der „Desemantisierung“ ist, aus ehemaligen Semantemen entstanden. Während die generative Grammatik wieder das Wort als minimale syntaktische Einheit betrachtete, reduzierte das logische Prädikatenkalkül die Sprachzeichen auf ihren semantischen Kern. Für einen Linguisten ist die Vernachlässigung der grammatischen Eigenschaften eines Semantems dagegen schwer akzeptabel. Für uns besteht ein Sprachzeichen deshalb aus einem Semantem und seinen grammatischen Eigenschaften, wie auch immer diese sprachlich angezeigt werden. Ein Sonderfall sind jene Zeichen, für die Otto Jespersen (1922, 123s.) den Begriff des Shifters geprägt hat. Ihre Bedeutung erhalten diese Zeichen erst durch die Interpretation in ihrem Umfeld. In diesem Zusammenhang ist es heute in der Linguistik üblich, zwischen Kontext und Kotext zu unterscheiden. Das heißt, dass es sowohl um die Beziehungen der Zeichen zur Sprechsituation (Kontext) wie auch um ihre gegenseitigen Beziehungen innerhalb eines Text (Kotext) geht. Erfolgt die Interpretation aufgrund des situationellen Kontexts, so sprechen wir von einer Deixis und die Zeichen heißen Deiktika. Ich bezeichnet so die sprechende Person und du (oder Sie) die angesprochene Person. Wer das aber ist, hängt völlig von der jeweiligen Sprechsituation ab. <?page no="26"?> 14 Erfolgt die Interpretation aufgrund des (vorangehenden) sprachlichen Kotextes, so haben wir es mit einer Anapher zu tun 4 . Im Gegensatz zu den ersten beiden Personen werden die Personalpronomen der dritten Person üblicherweise anaphorisch gebraucht: (2.1) Hans fuhr gegen einen Baum. Er war betrunken Anaphern sind dabei ein wesentliches Mittel der Textkohäsion (cf. auch Kap. 6.3). 2.3 Kategorisierungen Die meisten anderen Zeichen bezeichnen Kategorien von Lebewesen, Gegenständen, Handlungen usw. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie solche semantische Kategorien, aber auch so ganz abstrakte grammatische Kategorien wie Subjekt, Prädikat oder Objekt zu erklären sind. Diese letztere Frage wurde in den 1960er Jahren dringend, als sich die Generativisten vor allem mit der bislang eher stiefmütterlich behandelten Syntax zu beschäftigen begannen. Die Generativisten glaubten dieses Problem dadurch lösen zu können, dass sie die grammatischen und zum Teil auch die semantischen Kategorien als angeboren verstanden (cf. vor allem Chomsky 1966). Diese nativistische Lösung drängt sich eigentlich auf, wenn man nicht glauben will, dass die Sprache im sensualistischen Sinne auf dem beruht, was unsere Sinne wahrnehmen. Es ist umso merkwürdiger, dass der Nativismus von den Strukturalisten immer verworfen wurde. Wenn man freilich nicht die Sprache als etwas völlig Autonomes betrachtet, so drängt sich diese Lösung keineswegs auf. Gewiss muss der Mensch über angeborene Fähigkeiten verfügen, ohne die er keine Sprache erwerben könnte. Michael Tomasello (2003) nimmt so die Existenz von zwei grundlegenden menschlichen Fähigkeiten an: • „Intention-reading“, die Fähigkeit, die Absichten eines Anderen zu erkennen, und • „Pattern-finding“, die Fähigkeit, Kategorien zu bilden, so wie sie für die Semantik und Syntax von größter Bedeutung ist. Diesen beiden Fähigkeiten könnte man noch das „Blending“ (Fauconnier/ Turner 2002) hinzufügen, d.h. die Fähigkeit, Bedeutungsfelder miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise analoge Bedeutungsfelder zu schaffen, die sich nicht mehr mittelbar auf das beziehen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen. Zu Beginn der 1970er Jahre glaubte man nach dem Durchbruch in der Syntax würde sich sehr bald auch ein solcher in der Semantik ereignen. Man nahm dabei an, die Kategorien von Personen, Gegenständen, Handlungen 4 Wird auf den folgenden sprachlichen Kotext verwiesen, was seltener ist, so spricht man von einer Katapher. <?page no="27"?> 15 usw., welche die Wörter bezeichnen, durch eine Anzahl von notwendigen und hinreichenden Merkmalen definieren zu können. Dieser Ansatz war eigentlich nicht neu; er geht letztlich auf Aristoteles zurück. Neu waren allenfalls die damals verwendeten Formalisierungen. Nun setzt diese Form der Kategorisierung allerdings voraus, dass es möglich ist, die Kategorien eindeutig zu begrenzen. Dies ist aber beinahe aussichtslos, wenn man in Übereinstimmung mit Saussure keine Art von Polysemie oder übertragener Bedeutung akzeptieren will: „Il n’y a pas de différence entre le sens propre et le sens figuré des mots (ou: les mots n’ont pas plus de sens figuré que de sens propre), parce que leur sens est éminemment négatif“ (Saussure 2002, 72). Im Gegensatz zu den amerikanischen Semantikern blieben die europäischen tatsächlich dieser Ansicht treu (cf. Hilty 1978). 2.4 Prototypen Die eigentliche Wende führten jedoch die psycholinguistischen Forschungen von Eleanor Rosch (1975, 1977) herbei, hatte diese doch in einer Reihe von Experimenten nachgewiesen, dass es innerhalb einer Kategorie durchaus so etwas wie gute und weniger gute Vertreter gibt. So ist ein Spatz oder eine Taube ein typischerer Vertreter der Kategorie Vogel als ein Pinguin oder ein Strauß, denen nur schon das für Vögel essentielle Merkmal, fliegen zu können, abgeht. Damit kann es keine klar begrenzte Kategorie von Vögeln geben. Etliche Linguisten glaubten nun allerdings, auf diese Weise auch eine Lösung für das Problem der Polysemie gefunden zu haben: Nebenbedeutungen wären demnach einfach weniger prototypische Bedeutungen. Man schrieb so Rosch die Erfindung einer neuen semantischen Theorie, der Prototypentheorie, zu, die alsbald zu neuen Enttäuschungen führte (cf. vor allem Kleiber 1990/ 1993). Dabei bestreitet Rosch in ihrem grundlegenden Artikel von 1975 ausdrücklich, die Absicht zu haben, eine neue semantische Theorie zu begründen: „... it should be noted that the research reported in this article was not intended either as a model of semantic memory or as a verification or refutation of any particular theory of semantic memory“ (Rosch 1975, 225). Sie fügt dann allerdings hinzu: „Nonetheless, the findings of the present research are more compatible with some classes of semantic memory than with others. It is relatively difficult to integrate the present findings with models of semantic memory which depend on criterial features and clear-cut category boundaries“ (ib.). Schon vor Rosch hatte Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen (1953, § 66/ 67) die Kategorisierung durch notwendige und hinreichende Merkmale im Fall der Spiele in Frage gestellt: Sind sie [scl. die Spiele] alle ‘unterhaltend’? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Ver- <?page no="28"?> 16 lieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Was übrig bleibt, ist ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten“, so wie die Mitglieder einer Familie untereinander Ähnlichkeiten, aber kaum ein allen gemeinsames Merkmal aufweisen. Wittgenstein spricht deshalb von einer Familienähnlichkeit, ein Begriff, den Rosch erst 1977 aufgenommen hat. Tatsächlich ist es längst nicht immer so, dass sich die Glieder einer Kategorie um einen Prototypen gruppieren, so wie das etwa bei den Vögeln der Fall ist (cf. auch Lakoff 1987). Folgende Spielzeuge galten beispielsweise bei Roschs Untersuchungen als prototypische Vertreter ihrer Kategorie: Puppe, Kreisel, Schachtelmännchen (jack-in-the-box), Zinnsoldat und Jo-Jo. Es fällt schwer, hier eine Gemeinsamkeit auszumachen. 2.5 Mentale Bilder und logische Propositionen Damit lösen die Untersuchungen Roschs die Frage nicht, welcher Art unsere semantischen Vorstellungen sind. Auf diesem Gebiete werden seit den 1970er Jahren zwei konträre Lehrmeinungen vertreten, die Theorie der mentalen Bilder, für die in der Neuropsychologie vor allem der Name Stephen Kosslyn steht, und die Theorie der logischen Propositionen, deren wichtigster Verfechter Zenon Pylyshyn ist. Dabei wird von den Verfechtern mentaler Bilder nicht bestritten, dass das semantische Wissen auch propositional gespeichert sein kann. Der Streit geht vielmehr darum, ob alles semantische Wissen eine propositionale Form hat oder ob zusätzlich auch bildhafte Vorstellungen eine Rolle spielen: In fact, each point in the depiction may be accompanied by a set of propositions that code additional information […]. Rather, the issue is whether only propositional representations are used in imagery, or whether depictive representations also play a role (Kosslyn et al. 2006, 19). Nach der propositionalen Theorie hätten alle semantischen Informationen die Form von logischen Propositionen, d.h. die Form von Prädikat-Argument- Strukturen. In der Wortsemantik stellt sich diese Theorie als eine Fortsetzung der Merkmalstheorie dar, wobei ein Begriff durch eine Vielzahl von Propositionen repräsentiert wird, die jedoch keinen notwendigen und hinreichenden Charakter mehr haben müssen. Es sind damit auch Propositionen wie „Vögel können fliegen“ erlaubt, obwohl dies bekanntlich auf einzelne Arten nicht zutrifft. Es ist dies trotzdem eine wesentliche Eigenschaft von Vögeln. Im Falle von (2.2) Der Hund sah den Vogel. Er flog davon wird jedermann annehmen, dass der Vogel und nicht der Hund davongeflogen ist, obwohl beides grammatisch möglich wäre, denn „Vögel können flie- <?page no="29"?> 17 gen“, Hunde aber nicht. Dieses Beispiel zeigt, dass dieses propositionale Wissen beim Verstehen von Texten eine unverzichtbare Rolle spielt. Dadurch werden jedoch nicht die den Wortbedeutungen zugrunde liegenden neuronalen Vorgänge erklärt. Die Logik arbeitet mit Symbolen, welche die Wirklichkeit repräsentieren. Wie es dazu gekommen ist, dass diese Symbole die Wirklichkeit repräsentieren können, interessiert sie nicht. Die Annahme einer dem Menschen angeborenen, universellen Logiksprache wird so unvermeidlich. Die sprachlichen Bedeutungen wären also Etiketten, die jemand vor undenklicher Zeit auf alle Objekte geklebt hätte. Mehr noch. Zentral ist in der elementaren Logik der Wahrheitswert einer Aussage und auch höhere Formen der Logik bauen immer wieder auf diesem Kriterium auf. Das bedeutet mit anderen Worten, dass es letztlich nur darauf ankommt, ob die richtige oder die falsche Etikette auf einem Objekt klebt. Die Theorie der mentalen Bilder hat den Vorteil, dass sie einen solchen Bezug zwischen Sprache und Umwelt herstellt. Zudem wurde die Existenz mentaler Bilder in psychologischen Experimenten nachgewiesen. Man arbeitete dabei insbesondere mit zwei identischen geometrischen oder stereometrischen Objekten, die aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt wurden. Dabei hatte die Versuchspersonen die Aufgabe zu entscheiden, ob es sich um das gleiche Objekt handelt oder nicht. Es ergab sich so, dass die Zeit, welche zur Lösung der Aufgabe benötigt wurde, sich proportional zum Winkel verhielt, um den das Objekt gedreht wurde. Das heißt, dass diese Experimente so verlaufen, als ob die Versuchsperson ein mentales Bild des ersten Objekts im Kopf umdrehen müsste, um dessen Identität mit dem zweiten Objekt feststellen zu können (cf. Richard 1995, 85-95). Man mag nun allerdings den Fall der abstrakten Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Energie als Argument gegen eine bildhafte Codierung der Bedeutung anführen. Diese abstrakten Begriffe waren denn auch immer das wichtigste Argument für die Existenz von angeborenen Ideen. George Lakoff und Mark Johnson (1980/ 1998, Lakoff 1987, Johnson 1987) haben versucht, dieses Argument zu entkräften, indem sie die abstrakten Begriffe als Metaphern für primär körperliche Vorstellungen deuteten. Die Idee, dass sich Abstraktionen aus ganz konkreten Empfindungen ableiten, ist an und für sich nahe liegend 5 ; sie findet sich auch schon bei C.G. Jung: Wenn wir zum Beispiel von «warm» und «kalt» reden, so reden wir von «warmen» und von «kalten» Dingen, zu denen «warm» und «kalt» als Attribute respektive als Prädikate oder Aussagen gehören. Die Aussage bezieht sich auf etwas Wahrgenommenes und wirklich Existierendes, nämlich auf einen warmen oder kalten Körper. Aus einer Mehrheit ähnlicher Fälle abstrahieren wir den Begriff der Wärme und der Kälte […]. Wenn wir nunmehr auf den nächsthöheren Gattungsbegriff «Temperatur» übergehen, so fühlen wir auch hier noch ohne Schwierigkeiten das Dinghafte, welches zwar seine sinnliche Bestimmtheit eingebüßt hat. Aber auch die Vorstellbarkeit haftet eng an der sinnlichen Wahrnehmung. […] Wenn wir zu ei- 5 Diese Auffassung vertritt auch der Neurologe Anto nio R. Damásio (2003/ 2005), wenn er meint, dass „Gefühle weitgehend aus der Wahrnehmung eines bestimmten Körperzustands bestehen“ (2005, 107). <?page no="30"?> 18 nem noch viel höheren Gattungsbegriff aufsteigen, nämlich zu dem der Energie, so schwindet zwar der Charakter des Dinghaften und ebenso in gewissem Grade die Qualität der Vorstellbarkeit. […] So ist nun die Idee der «Energie» zwar eingestandenermaßen ein bloßer Wortbegriff, aber doch so außerordentlich real, dass die Aktiengesellschaft eines Elektrizitätswerks Dividende daraus bezahlt (Jung 17 1994, 28s., 33). Die Auffassung, wonach es eine doppelte Codierung — bildhaft und propositional — der semantischen Bedeutungen gäbe, scheint mir somit einleuchtend. Walter Kintsch (1998, 19-29) weist zudem darauf hin, dass Forscher verschiedener Disziplinen zur Annahme von zwei Ebenen der semantischen Repräsentation gelangt sind, einer Ebene des Habitus, die sich unserem Bewusstsein entzieht, und einer kognitiven Ebene. Kognitiv ist die propositionale Codierung, von der wir annehmen möchten, dass sie auf der Sprache selber beruht. Tatsächlich kennen wir ja nicht nur Dinge, die wir mit unseren eigenen Sinnen erfahren haben. Dass die Schlacht von Waterloo im Jahre 1815 geschlagen und von Napoleon verloren wurde, haben wir im Geschichtsunterricht gelernt; keiner von uns Heutigen ist ja dabei gewesen. Die sprachliche Vermittlung von Wissen ist deshalb nicht zu unterschätzen. 2.6 Die Grenzen der Semantik Was eine erschöpfende Erfassung der sprachlichen Inhalte jedoch fast unmöglich macht, das ist nicht nur die Ausdehnung des Wortschatzes, sondern auch ein Problem, auf das Philipp Wegener schon vor über einem Jahrhundert hingewiesen hat. Nachdem er die Bedeutung der Wörter als „die Summe aller Vorstellungen, welche mit ihrer Lautreihe […] verbunden werden“ (Wegener 1885, 47) definiert hatte, stellte er sogleich die Frage, ob „wirklich der Zoologe und das Kind, dem man ein Bild [eines Löwen] zeigt“, die gleichen Vorstellungen von diesem Tier haben. Diese Frage kann eigentlich nur rhetorisch gemeint sein. Die Vorstellungen, die sich mit einem Wort verbinden, sind letztlich immer individuell, auch wenn sie sich zum Teil überschneiden. Sonst wäre eine sprachliche Verständigung gar nicht mehr möglich. Wenn das Bedeutete des Wortes Löwe die Vorstellungen sind, die wir von diesem Tier haben, so gibt es gleichwohl die Möglichkeit, dieses Wort im Text sowohl generalisierend wie auch individualisierend zu gebrauchen. Wenn ich sage (2.3) Ein Löwe ist ein majestätisches Tier so brauche ich das Wort generalisierend, d.h. ich beziehe mich auf die Vorstellungen, welche meine Gesprächspartnerinnen und -partner von den Löwen im Allgemeinen haben. Sage ich dagegen (2.4) Ein Löwe hat seinen Wärter aufgefressen so ist der Gebrauch individualisierend, denn ich meine einen ganz bestimmten Löwen. Dieser existiert entweder in der Realität oder auch nur in der Vorstellung des Autors oder der Autorin, wenn es sich um einen fiktionalen Text <?page no="31"?> 19 handelt. Da nicht explizit gesagt wird, um welchen Löwen es sich handelt, ist der zweite Satz so oder so als Aufforderung an die Empfängerinnen und Empfänger zu verstehen, sich die Szene vorzustellen. Ich kann auch noch einen Schritt weiter gehen und die Informationen zum Löwen so präzisieren, dass man ihn identifizieren kann. Wenn wir gesagt haben, dass die Shifters ihren eigentlichen Sinn erst in ihrem Umfeld erhalten, so gilt das eigentlich auch für die anderen Sprachzeichen, sofern sie nicht generalisierend gebraucht werden. 2.7 Die Notwendigkeit einer Pragmatik Wir benötigen demnach eine linguistische Disziplin, die sich mit der Verwendung der Sprache in ihrem Umfeld befasst. Diese Disziplin heißt Pragmatik. Der Begriff der Pragmatik geht auf Charles Morris (1938) zurück, der die Pragmatik als „relation of signs to their interpreter“ definiert hat. Diese Definition ist freilich kaum zu gebrauchen, denn Morris verwendet den Begriff des interpreter anstelle des interpretant bei Charles Sanders Peirce, womit dieser eigentlich das Bezeichnete, le signifié, meint. Was man heute unter Pragmatik versteht, scheint uns am besten durch die gegebene Definition (Verwendung der Sprache in ihrem Umfeld) abgedeckt zu sein. Im Fall von (2.5) Eine Jacht verlässt den Hafen. Das Boot ist beflaggt darf man so annehmen, dass Jacht und Boot sich auf das gleiche Schiff beziehen. Der bestimmte Artikel das vor Boot ist dabei ein Indiz dafür, dass der Sprecher oder die Sprecherin voraussetzt, dass die Empfängerin oder der Empfänger weiß, von welchem Boot die Rede ist. Es kann auch vorkommen, dass der Kotext nicht ausreicht, um zu einer eindeutigen Interpretation zu gelangen. In (2.6) Ein Löwe hat seinen Wärter aufgefressen. Er war noch jung ist nicht eindeutig auszumachen, ob er sich auf den Löwen oder den Wärter bezieht. Zur Lösung von Zweifelsfällen muss oft ein zusätzliches Wissen beigezogen werden. In (2.6’) Ein Löwe hat seinen Wärter aufgefressen. Er war erst zwei Jahre alt wird niemand daran zweifeln, dass er sich dieses Mal auf den Löwen bezieht, denn kein Zoo stellt Zweijährige als Wärter an. In diesem Fall wird zur Interpretation noch jenes gemeinsame Wissen beigezogen, von dem schon in Kapitel 1.4 die Rede war. Man wird aus der Vergangenheitsform war sogar schließen dürfen, dass der Löwe wegen seiner Gefährlichkeit im Anschluss an die Tat ebenfalls getötet wurde, was allerdings nicht zwingend ist. Es zeigt sich deshalb erneut, dass das Verstehen eines Textes nicht einfach ein Vorgang des Dekodierens ist, sondern eine beträchtliche interpretatorische Leistung der Empfängerin oder des Empfängers voraussetzt. Damit befasst sich die Pragmatik und damit wird sich auch der größte Teil dieses Bu- <?page no="32"?> 20 ches befassen. Dass sich die linguistische Pragmatik erst spät entwickelt hat, erklärt sich daraus, dass die semantischen Vorstellungen fest mit gewissen Zeichen verbunden sind, während die Beziehung der Zeichen zu Kontext und Kotext meist aus Indizien erschlossen werden muss oder gänzlich auf einem gemeinsamen Vorwissen der Kommunikationspartnerinnen und -partner aufbaut. <?page no="33"?> 21 3 Texte verstehen und produzieren Bevor wir uns mit der Pragmatik befassen, wenden wir uns aber dem Problem zu, wie aus einzelnen Wörtern ganze Sätze geformt und dabei aus abstrakteren Vorstellungen konkretere entwickelt werden können. Dabei schließen wir uns der in der psycholinguistischen Forschung dominierenden Meinung an, dass auf einer inhaltlich-funktionalen Ebene der Satz aus Prädikat-Argument-Strukturen in der Art von logischen Propositionen besteht. Das bedeutet, dass bei der Produktion diese in ihrem Wesen hierarchische Gedankenstruktur zunächst in eine lineare linguistische Struktur umgewandelt werden muss und dass beim Verstehen die umgekehrte Umwandlung stattfindet. Dabei steht immer wieder einer einzigen Prädikat- Argument-Struktur eine Mehrzahl von grammatischen Sätzen gegenüber. Wir werden zeigen, dass dies etwas mit der thematischen Struktur des Textes zu tun hat. 3.1 Vom Wort zum Satz Üblicherweise verwenden wir nicht einzelne Wörter, sondern ganze Sätze, um unsere Gedanken auszudrücken. Indem wir aus Wörtern Sätze bilden, können wir statt der sehr allgemeinen Vorstellungen, die sich üblicherweise mit den Wörtern verbinden, weit konkretere Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Ronald W. Langacker (1987-1991, 1990) hat gezeigt, wie dies auf der Ebene der bildlichen Vorstellungen funktionieren könnte: <?page no="34"?> 22 Das Schema liest sich von unten nach oben. Die bildliche Darstellung von über besteht nach Langacker aus einem fokussierten Objekt (trajector, tr) und einem Bezugsobjekt (landmark, lm). Zunächst wird dann für das Bezugsobjekt das Bild eines Tisches eingesetzt, woraus die Vorstellung „über-(dem)-Tisch“ entsteht. Anschließend wird das fokussierte Objekt durch das Bild einer Lampe ersetzt, so dass wir die Vorstellung „Lampe-über-(dem)-Tisch“ erhalten. Freilich lässt sich der entsprechende Satz „Die Lampe ist über dem Tisch“ auch als Prädikat-Argument-Struktur beschreiben, wenn man die Präposition über als Prädikat betrachtet, was die französische im Gegensatz zur deutschen Grammatik tut. Lampe und Tisch sind dann die beiden Argumente. Dies ergäbe in einem vereinfachten prädikatenlogischen Kalkül: ÜBER (Lampe, Tisch) 6 , wobei Lampe und Tisch als Funktionen von ÜBER dargestellt werden. Die weitaus überwiegende Anzahl von psycholinguistischen Studien zum Verarbeiten und Produzieren von Texten geht denn auch davon aus, dass den Sätzen eine semantische Repräsentation in der Form von Prädikat-Argument- Strukturen zugrunde liegt. 3.2 Texte verstehen 3.2.1 Vom Satz zur Proposition Von den psycholinguistischen Modellen, die das Verstehen von Texten zu beschreiben versuchen, hat dasjenige von Teun A. Van Dijk und Walter Kintsch (1983) weitaus am meisten Erfolg gehabt. Die beiden Autoren nehmen an, dass in einer ersten Etappe die Oberflächenstruktur der Sätze in eine Art von logischen Propositionen übersetzt wird. Diese Annahme stützt sich auf die berühmte Untersuchung von Kintsch/ Keenan (1973). Kintsch/ Keenan arbeiteten mit einer Reihe von mehr oder weniger gleich langen Sätzen, die sich nur durch die Zahl der darin enthaltenen Propositionen unterschieden. Im Falle von (3.1) Romulus, the legendary founder of Rome, took the women of Sabine by force haben wir es so mit vier Propositionen zu tun, die auch als eine einfache hierarchische Form dargestellt werden können: 6 Orthodoxer wäre die folgende Darstellung, die auch die Existenzpräsuppositionen der beiden Argumente berücksichtigt: x y (LAMPE(x) & TISCH(y) & ÜBER(x, y)), d.h. „Es gibt ein x und es gibt ein y, so dass x eine Lampe und y ein Tisch ist und x sich über y befindet“. <?page no="35"?> 23 1 (TOOK, ROMULUS, WOMEN, BY FORCE) 2 (FOUND, ROMULUS, ROME) 1 3 (LEGENDARY, ROMULUS) 4 (SABINE, WOMEN) 2 3 4 Im Falle von (3.2) Cleopatra’s downfall lay in her foolish trust in the fickle political figures of the Roman world sind es dagegen nicht weniger als acht Propositionen mit vier Hierarchiestufen: 1 (BECAUSE, , ) 1 2 (FELL DOWN, CLEOPTRA) = 3 (TRUST, CLEOPATRA, FIGURES) = 2 3 4 (FOOLISH, TRUST) 5 (FICKLE, FIGURES) 4 5 7 6 (POLITICAL, FIGURES) 7 (PART OF, FIGURES, WORLD) 6 8 8 (WORLD, ROMAN) Im Test von Kintsch und Keenan wurde nun nachgewiesen, dass die Zeit, die eine Versuchsperson aufwendet, um solche Sätze zu verstehen, nicht von der Länge der Sätze abhängt, sondern von der Zahl der Propositionen, die sie enthalten. Wir werden freilich in Kapitel 6.7 sehen, dass diese Zerlegung der Sätze in Propositionen zum Teil anfechtbar ist 7 . Das Experiment wurde aber mehrfach wiederholt, wobei die Auflösung der Sätze in Prädikat-Argument- Strukturen nicht immer nach den gleichen Prinzipien erfolgte, aber im Wesentlichen immer zum gleichen Ergebnis führte (cf. Kintsch 1998, 69-73). 3.2.2 Das CI-Modell Die Übersetzung der sprachlichen Strukturen in eine Logiksprache genügt allerdings noch nicht, um zu erklären, wie ein Text memorisiert wird, auch wenn man annimmt, dass bereits bei diesem Vorgang Vereinfachungen vorgenommen werden. Wird beispielsweise ausführlich geschildert, wie der Held der Geschichte gespeist hat, so kann es genügen festzuhalten, dass er gespeist hat. Schon die klassischen Untersuchungen von Sir Frederic Bartlett (1932) haben jedoch gezeigt, dass bei der Wiedergabe eines gehörten Textes mit zunehmender zeitlicher Distanz nicht nur Details ausgelassen werden, sondern dass auch dem Text nicht vorhandene Einzelheiten zugefügt werden. 7 Man wird sich beispielsweise fragen müssen, ob der zweite Beispielsatz wirklich die Propositionen (in natürliche Sprache übersetzt) „the figures are political“ (6) und „the world is roman“ (8) enthält. <?page no="36"?> 24 Auch wenn Bartletts Methode nicht mehr heutigen Ansprüchen genügt, so sind seine Ergebnisse im Wesentlichen durch neuere Experimente bestätigt worden (cf. Coirier et al. 1996, 103ss., Kintsch 1998, 189-193, Rickheit et al. 2002, 103-105). Außer wenn die Versuchspersonen aufgefordert werden, einen Text möglichst wörtlich wiederzugeben, memorisieren sie oft eher ihre Interpretation des Textes als den Text selber. So kann in der Wiedergabe aus dem Satz (3.3) Der Professor hatte die Schlüssel nicht sehr leicht der Satz „Der Professor hatte die Schlüssel vergessen“ entstehen, da Professoren nun mal als vergesslich gelten. Oder aus dem Satz (3.4) Sie rutschte auf dem feuchten Boden aus und ließ die Kristallkaraffe fallen wird abgeleitet, dass die Kristallkaraffe in Scherben ging, obwohl davon gar nicht die Rede ist. Deshalb nehmen Van Dijk und Kintsch (1983) an, dass das Textverstehen zwei Etappen durchläuft. In einer ersten Etappe werden, wie bereits gesagt, die Sätze des Textes in (logische) Propositionen „übersetzt“. Auf diese Weise entsteht die Textbasis (text base). Diese Textbasis muss nun aber auch noch durch das Wissen ergänzt werden, das die Adressatin oder der Adressat selber zum Textverständnis beiträgt. Dadurch entsteht in einer weiteren Etappe ein mentales Modell des Textes, das hier Situationsmodell (situation model) genannt wird. Walter Kintsch (1998) nennt den Vorgang, der in der ersten Etappe zur Textbasis führt, Konstruktion und den Vorgang, der in der zweiten Etappe von der Textbasis zum Situationsmodell führt, Integration. Das ganze Modell heisst deshalb construction-integration-model oder abgekürzt CI-model. 3.3 Texte produzieren 3.3.1 Merrill Garrett Die Produktion von Texten ist schwieriger zu untersuchen als deren Rezeption, da am Anfang der Produktion jene mentalen Vorstellungen stehen, die wir nicht direkt erfassen können. Der entscheidende Anstoß kam denn auch von einem Linguisten, Merrill Garrett, der eigentlich Spezialist für ganz etwas anderes ist, nämlich für spoonerisms. Für diese kennt man im Deutschen die Bezeichnung Schüttelreim, doch sind damit wie mit dem französischen contrepèterie absichtliche Umstellungen gemeint, während es sich bei den spoonerisms um spontane Versprecher handelt, für die Reverend Archibald Spooner besonders bekannt war. Garrett (1980; cf. auch Leuwers 2002) unterscheidet davon drei Arten: (3.5) YOU’re too good for THAT (statt: THAT’s too good for YOU) In diesem Fall werden zwei Wörter der gleichen Wortart vertauscht und die grammatische Struktur des Satzes wird angepasst (are statt is). <?page no="37"?> 25 (3.6) I thought the PARK was TRUCKed (statt: I thought the TRUCK was PARKed) Hier sind zwei verschiedene Wortarten betroffen und die grammatikalische Struktur wird nicht angepasst, d.h. truck wird als Verb, to park als Substantiv behandelt. (3.7) Wave the sails (statt: Save the whales) Dieser Fall ist rein phonetisch: Es werden zwei Anfangsbuchstaben ausgetauscht. Aufgrund dieser Typologie entwickelt Garrett ein Produktionsmodell, das vier Stufen vorsieht: eine konzeptuelle Stufe, zwei grammatische und eine phonetische Stufe, wobei die drei Arten von Versprechern auf den letzten drei Stufen angesiedelt werden. Bemerkenswert ist vor allem die Unterscheidung zwischen zwei grammatischen Niveaus, die funktionell und positionell heißen. Auf dem funktionellen Niveau werden die Wörter ausgewählt und ihre grammatischen Funktionen bestimmt. Wir haben es hier also mit einer Art von logischen Propositionen zu tun, die grammatisch angereichert ist, so wie wir dies in Kapitel 3.2.2 gefordert haben. Auf dieser Ebene können dann Argumente wie in (3.5) miteinander vertauscht werden, nicht aber beispielsweise ein Argument gegen ein Prädikat. Auf dem positionellen Niveau wird dagegen ein Satzbauplan festgelegt und dieser mit den Wörtern und den entsprechenden morphologischen Formen gefüllt. Hier entstehen die eigentlichen Sätze. Verwechslungen zwischen Argument und Prädikat wie im Beispiel (3.6) sind nur auf dieser Stufe möglich, wo die hierarchische Prädikat-Argument-Struktur linearisiert und durch die morphologischen Formen ersetzt worden ist. Deshalb kann auch die Morphologie nicht mehr angepasst werden. Versprecher in der Art von (3.7) ereignen sich dann natürlich auf der phonetischen Ebene. 3.3.2 Willem Levelt Im Anschluss an Garrett sind verschiedene Produktionsmodelle entstanden, die alle annehmen, dass es eine Abfolge von Prozessen braucht, um einen Satz zu erzeugen. Das bekannteste Modell ist dasjenige von Willem J.M. Levelt (1989), das zwischen einem Konzeptualisierer, der die logischen Strukturen erstellt, einem Formulierer, der diesen eine grammatische Form gibt, und einem Artikulator, der für die phonetische Produktion zuständig ist, unterscheidet. Der Fomulierer umfasst zwei Stufen und hat Zugriff auf das mentale Lexikon, das ebenfalls zweistufig aufgebaut ist. Levelt unterscheidet zwischen dem Lemma auf der einen und der Form (oder dem Lexem) auf der anderen Seite. Die Lemmata umfassen dabei die semantischen und syntaktischen Informationen, die Lexeme dagegen die morphologischen und phonologischen: <?page no="38"?> 26 Levelt (1989, 24-27) postuliert einen gemäßigten Modularismus 8 , den er inkrementell nennt. Dies bedeutet, dass alle Komponenten gleichzeitig funktionieren können, sofern sie verschiedene Sprachfragmente behandeln. Bestimmte Module können aber nur von einem bestimmten anderen Modul aus angesteuert werden. Insbesondere wären beispielsweise die Lexeme nur von den entsprechenden Lemmata aus zugänglich. Es wäre mithin unmöglich, etwas über die morphologischen und phonologischen Eigenschaften eines Lexems zu erfahren, wenn man nicht schon die semantischen und syntaktischen Eigenschaften des entsprechenden Lemmas kennt. Diese Meinung wurde einerseits durch Beobachtungen bei anomischen Patienten, d.h. solchen mit Wortfindungsproblemen, andererseits durch psycholinguistische Versuchsreihen gestützt, bei denen es um das „tip-of-the-tongue“(TOT)- Phänomen ging. Gemeint ist damit der Fall, wo man den Eindruck hat, das Wort liege einem auf der Zungenspitze, es aber nicht gelingt, es auszusprechen. Es kann tatsächlich gezeigt werden, dass es in diesen Fällen oft trotzdem möglich ist, richtige Angaben zur Syntax des gesuchten Wortes zu machen, woraus geschlossen wurde, dass der Zugang zu den phonetischen Form die Kenntnis der syntaktischen Funktionen voraussetzt: „... the TOT phenomenon 8 Als Modularismus bezeichnet man die Theorie von Jerry Fodor (1983), wonach die Sprachprozesse sich in abgekapselten Modulen autonom abspielen. Die Gegner dieser Theorie, die Konnektionisten, nehmen dagegen an, dass diese Prozesse interaktiv verlaufen. Konzeptualisierer Formulierer Grammatische Kodierung Phonologische Kodierung Artikulator Semantik Syntax Morphologie Phonologie Lemma Lexem <?page no="39"?> 27 is a failure to access the lexem from the lemma. The speaker knows the meaning to be expressed (i.e. the concept) and the word’s syntax (that is plural noun, a transitive verb of whatsoever, ie. the lemma). Only the word form is blocked“ (Bock/ Levelt 1994, 953). Schon 1986 hatte allerdings Gary S. Dell ein konnektivistisches Modell der Sprachproduktion vorgeschlagen, in dem alle Prozesse auch umkehrbar sind. Diese Art von Modellen wird heute bevorzugt, da neuere Untersuchungen ergeben haben, dass gewisse Voraussagen des Modells von Levelt nicht zutreffen (cf. auch Ferrand 2001, 36ss.). Miozzo/ Caramazza (1997) berichten so von zwei italienischsprachigen Patienten, von denen der eine noch das Hilfsverb von Verben nennen konnte, die er nicht mehr auszusprechen vermochte, von denen der andere aber noch die Wörter aussprechen konnte, sich aber nicht mehr an ihre syntaktischen Eigenschaften erinnerte, was nach Levelts Modell nicht möglich wäre. Caramazza/ Miozzo (1997) war außerdem aufgefallen, dass man in den früheren Untersuchungen nie fragte, ob in der „tip-of-the-tongue“-Situation nicht wenigstens phonetische Teilkenntnisse vorhanden waren, z.B. im Bezug auf das erste Phonem des gesuchten Wortes. Sie fanden dann allerdings heraus, dass solche Teilkenntnisse in einem Maße, das man nicht dem Zufall zuschreiben kann, vorhanden sind, und das selbst dann, wenn keine richtigen Antworten zur Syntax gegeben wurden. Solche Auseinandersetzungen sind charakteristisch für den Streit zwischen den klassischen Kognitivisten mit ihrer Modularitätsthese und den Konnektivisten, die an ein offenes System glauben. Dieser Streit hat am Ende des vorangehenden Jahrhunderts die kognitiven Wissenschaften dominiert. Seither haben sich die Positionen allerdings angenähert. 3.4 Prädikat-Argument-Strukturen Beiden Schulen ist die Annahme gemeinsam, die mentalen Strukturen hätten genau die Form von logischen Propositionen. Ein Problem ergibt sich allerdings daraus, dass die Logiker selber zum Teil verschiedene Notationen verwenden. Van Dijk und Kintsch (1983) brauchen so gleich zwei Arten von logischen Notationen nebeneinander, die sie atomistisch und komplex nennen. Die erstere entspricht weitgehend der Tradition der Logiker und besteht aus reinen Prädikat-Argument-Strukturen, während die letztere so ausgebaut wurde, dass sie ganze grammatische Sätze darstellen kann, die man sonst in mehrere logische Strukturen auflösen müsste. Trotzdem möchte auch ich annehmen, dass den Sätzen so etwas wie Prädikat-Argument-Strukturen zugrunde liegen. Für diese Annahme sprechen auch gewisse Beobachtungen, die man beim Spracherwerbsprozess machen kann. Dass in der Erstsprache der Erwerb der Morphologie derjenigen des Vokabulars deutlich hinterherhinkt, kann wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Ein gleichartiges Phänomen ist aber auch von den Autoren des European Science Foundation project on adult language acquisition beim Zweitsprach- <?page no="40"?> 28 erwerb in natürlicher Umgebung nachgewiesen worden. Es ist in diesem Zusammenhang von einer basic variety (cf. Perdue 1993, 30-32) die Rede, die sich im Lernprozess unabhängig von der Ausgangs- und Zielsprache einstellt. Die Basisvarietät wird einerseits dadurch charakterisiert, dass sie keine Morphologie aufweist: „The basic variety lacks morphology, hence, there is no finiteness, no overt case marking, no agreement“ (Perdue 1993, 30). Andererseits verwendet sie nur wenige, einfache Satzbaupläne. Es kommt sogar vor, dass diese Basisvarietät fossilisiert, d.h., dass sich die Grammatik der Zielsprache nicht mehr weiterentwickelt. Offensichtlich sind auch die Pidgins und die Kreolsprachen 9 , die über keine Flexionsmorphologie verfügen und die Wortstellung Subjekt - Prädikat - Objekt bevorzugen, aus einer solchen Basisvarietät hervorgegangen. 3.5 Propositionen und Sätze Prädikat-Argument-Strukturen sind hierarchisch, da die Argumente dem Prädikat untergeordnet sind. Da ein Satz aber notwendigerweise aus einer linearen Abfolge von Wörtern besteht, stellt sich der Übergang von der Prädikat-Argument-Struktur zur Oberflächenstruktur des Satzes als ein Linearisierungsprozess dar. Dabei kann eine Proposition in verschiedene Satzmuster gegossen werden. So entsprechen beispielsweise die folgenden Sätze allesamt der einzigen Proposition REINIGEN (Kellner, Gläser): (3.8) a. Der Kellner reinigt die Gläser b. Die Gläser reinigt der Kellner c. Die Gläser werden vom Kellner gereinigt d. Der Kellner, der reinigt die Gläser e. Die Gläser, die reinigt der Kellner f. Es ist der Kellner, der die Gläser reinigt g. Es sind die Gläser, die der Kellner reinigt Die Wahl der verschiedenen Satzbaumodelle hängt vom Textzusammenhang ab. Es geht dabei in erster Linie um die Unterscheidung zwischen Thema und Rhema (oder topic und comment). Diese Unterscheidung geht auf Henri Weil (1844) zurück. Georg von der Gabelentz führte dann später den Begriff des logischen Subjekts ein. Nach der traditionellen Definition wäre das grammatikalische Subjekt das, wovon man spricht; das trifft aber nicht immer zu: In dem Sprichworte: „Mit Speck fängt man Mäuse“ ist das grammatikalische Subject „man“. Ganz gewiss ist dies aber nicht das psychologische Subject, nicht Dasje- 9 Pidgins sind Zweitsprachen, die der Kommunikation zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften dienen. Die meisten Kreolsprachen sind dagegen in Kolonien entstanden, in denen Sklaven die Sprache ihrer Herren unter ungünstigen Umständen übernehmen mussten. Beide sind flexionslos und vor allem die Pidgins verfügen nur über ein beschränktes Vokabular. <?page no="41"?> 29 nige, wovon die Rede ist. Vielmehr ist die Rede vom Mittel, und der Sinn ist: Lockungen und Schmeicheleien sind das Mittel um Leichtsinnige zu fangen. Hieße es umgekehrt: „Mäuse fängt man mit Speck“, so handelte der Satz von leichtsinnigen Leuten und sagte von ihnen aus, wie sie zu fangen sind (1891, 354s.). Wenn wir vom Thema eines Satzes sprechen, so meinen wir damit das, wovon man spricht. Allerdings ist das Thema in den europäischen Sprachen keine grammatische Kategorie. Dagegen wird auf das Japanische und das Koreanische verwiesen, wo das Thema explizit markiert wird. Talmy Givón (1979, 210) meint allerdings, dass nur in 10-20% der Fälle das Subjekt nicht auch zugleich Thema sei. Das mag auf Sprachen wie das Englische oder das Französische zutreffen, wo dem Subjekt zumeist die Erststellung im Satz zukommt. Dagegen kommt Ulrich Engel (1972, nach Welke 1992, 56) bloß auf 60% Übereinstimmung im Deutschen, wo nicht nur das Subjekt vor dem Verb stehen kann. Das ist insofern von Belang, als dass nach der Funktionalen Satzperspektive, wie sie von der Prager Schule entwickelt wurde (cf. auch Eroms 1986, Schmitt 2004), thematische Elemente nach links und rhematische Elemente nach rechts im Satz tendieren. Die Sätze (3.8b) Die Gläser reinigt der Kellner (3.8c) Die Gläser werden vom Kellner gereinigt werden deshalb vorzugsweise in einem Kontext gebraucht, wo die Gläser und nicht der Kellner das Thema sind, beispielsweise als Antwort auf die Frage: (3.9) Und wer reinigt denn die Gläser? Allerdings handelt es sich hier nur um eine Tendenz; (3.8a) wäre als Antwort auf (3.9) nicht ausgeschlossen. Dagegen scheint die Linksverschiebung eines Nominalsyntagmas wie in (3.8d) Der Kellner, der reinigt die Gläser (3.8e) Die Gläser, die reinigt der Kellner immer dem Thema des Satzes zu gelten (cf. Furukawa 1996, 20s., Stark 1997, De Cat 2009). (3.8e) könnte deshalb ebenfalls die Antwort auf (3.9) sein, während (3.8d) vielmehr die Antwort auf folgende Frage wäre: (3.10) Und was macht denn der Kellner? Rechtsverschiebungen wie in Er reinigt die Gläser, der Kellner scheint dagegen keine spezifische Funktion zuzukommen. Es handelt sich wohl eher um eine nachträgliche Präzisierung, wie sie für die gesprochene Sprache charakteristisch ist. Was schließlich die so genannten Spaltsätze (cleft sentences) in (3.8f) Es ist der Kellner, der die Gläser reinigt (3.8g) Es sind die Gläser, die der Kellner reinigt betrifft, so bestehen sie aus einer unpersönlichen Konstruktion (es + sein + Nominalsyntagma), die von einem Relativsatz gefolgt ist, in dem das voran- <?page no="42"?> 30 gehende Nominalsyntagma als Thema dient. Wir haben es somit mit der Struktur zu tun, für die mein Kollege Eddo Rigotti die Bezeichung Rhema- Thema vorgeschlagen hat, d.h. ein bislang unbekanntes Argument wird zunächst als Rhema eingeführt, um gleich darauf als Thema eingesetzt zu werden (cf. auch Welke 1992, 33ss.). Allgemein werden unpersönliche Konstruktionen sehr gern eingesetzt, um neue Themen im Text einzuführen. Man denke nur an den konventionellen Beginn der Märchen (Es war einmal...) oder an die erste Szene von Schillers Wilhelm Tell: (3.11) Es lächelt der See, er ladet zum Bade. ..................... Es donnern die Höhen, es zittert der Steg, Nicht grauet dem Schützen auf schwindligtem Weg. Im Deutschen werden im Gegensatz zum Französischen, das diese Möglichkeit nicht kennt, neue, noch unbekannte Themen allerdings eher durch die Betonung als durch Spaltsätze eingeführt: (3.12) Und wer reinigt denn die Gläser? — Der KELLNER reinigt sie. (3.12’) Und was reinigt denn der Kellner? — Er reinigt die GLÄSER. So liegt den verschiedenen Satzmustern in (3.8) letztlich immer wieder die gleiche Subjekt-Prädikat-Struktur zugrunde. Ihre spezifische Funktion erhalten diese Satzmuster erst innerhalb eines Textes. <?page no="43"?> 31 4 Mit der Sprache etwas bewirken Der Rückgriff auf logische Propositionen hat freilich seine Grenzen. Logische Propositionen haben Wahrheitswerte; Befehle, Fragen oder Gefühlsäußerungen haben jedoch keine solchen. Im Sinne der Sprechakttheorie von John R. Searle unterscheiden wir deshalb zwischen dem propositionalen Gehalt eines Sprechaktes, der rein mental ist, und seiner illokutionären Kraft, welche den Bezug des propositionalen Gehalts zur Wirklichkeit ausgedrückt. Searles Klassifikation der Sprechakte in fünf Kategorien (assertiv, direktiv, expressiv, kommissiv und deklarativ) hat sich bewährt, auch wenn wir glauben, dass es eine zusätzliche Kategorie für die axiologischen, d.h. die bewertenden Akte braucht. Auch die Art und Weise, wie die einzelnen Kategorien von Searle und Vanderveken definiert werden, ist diskutabel. Deshalb schlagen wir zum Teil abweichende Definitionen vor. All dies wird von grundlegender Bedeutung für unsere Theorie der textlichen Kohäsion sein. 4.1 John Austin Der Rückgriff auf die logischen Propositionen wird nun allerdings durch die Sprechakttheorie in Frage gestellt, denn Propositionen haben in der Logik Wahrheitswerte. Es geht letztlich immer darum, ob der dargestellte Sachverhalt richtig oder falsch ist. In der Sprache sind jedoch höchstens Aussagesätze im Indikativ wahr oder falsch. Befehle, Wünsche, Fragen, Vorschläge usw. haben keine Wahrheitswerte. Deshalb hatte der Oxforder Philosoph John L. Austin (1962) zunächst eine Unterscheidung zwischen konstativen Äusserungen, die einen Wahrheitswert haben, und performativen, die weder wahr noch falsch sind, eingeführt. In einem zweiten Schritt hat er sich dann allerdings dazu entschieden, dass alle Sätze performativ sind, d.h., dass sie alle etwas bewirken wollen (to perform). Das waren die Anfänge der Sprechakttheorie. Für Austin hatte ein Sprechakt eine komplexe Form. Er umfasste • einen lokutiven Akt, der darin besteht, die entsprechenden Wörter zu produzieren und der sich wiederum in einen phonetischen, phatischen und rhetischen Akt unterteilt. Diese entsprechen im Wesentlichen den drei Komponenten des Sprachzeichens, dem Bezeichnenden, dem Bezeichneten und dem Bezugsobjekt; • einen illokutiven Akt, der darin besteht, dass ich eine bestimmte Absicht verfolge, wenn ich einen lokutiven Akt vollziehe, und • einen perlokutive Akt, der darin besteht, dass eine gewisse Wirkung auf die angesprochene Person ausgeübt wird. <?page no="44"?> 32 4.2 John Searle 4.2.1 Illokutive Kraft und propositionaler Gehalt Austins Buch wurde erst postum veröffentlicht und seine Theorie wurde deshalb in erster Linie von seinem amerikanischen Schüler John R. Searle weiterentwickelt. In der Fassung von 1979 behält Searle nur den zweiten, den illokutiven (oder illokutionären) Akt bei. Der perlokutive Akt, den auch Austin als fakultativ betrachtete, spielt bei Searle so gut wie keine Rolle mehr, während der lokutive Akt durch den Begriff des propositionalen Gehalts (P) abgelöst wird. Dieser wird als eine Funktion der illokutiven Kraft (illocutionary force, F) aufgefasst gemäß der Formel F (P). Die illokutive Kraft (auch illokutiver Zweck oder Witz genannt) erhält damit den Status eines pragmatischen Prädikats, das den propositionalen Gehalt zum Argument hat. Mit der Bezeichnung propositionaler Gehalt soll angedeutet werden, dass dieser nicht für sich allein bestehen kann, sondern sich erst mit einer illokutiven Kraft zu einem Sprechakt verbindet. Der propositionale Gehalt hat damit auch keinen Wahrheitswert mehr. Er besteht einzig aus den Vorstellungen, die sich mit der entsprechenden Wortkette verbinden. Man betrachte die folgenden Sätze, deren illokutive Kraft sehr verschieden ist: (4.1) a. Der Hund wird mir die Zeitung bringen b. Wird mir der Hund die Zeitung bringen? c. Hund, bring mir die Zeitung! Allen gemeinsam ist der propositionale Gehalt, d.h. die Vorstellung eines die Zeitung bringenden Hundes. Der propositionale Gehalt besteht einzig aus Vorstellungen und es ist die Aufgabe der Semantik, diese Vorstellungen zu beschreiben. Die illokutive Kraft gehört dagegen zur Pragmatik, insofern sie eine Beziehung zwischen diesen Vorstellungen und der Wirklichkeit herstellt. Dass die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit für die Sprechakttheorie zentral ist, zeigt sich schon daran, dass Searles Klassifikation der Sprechakte (1979/ 1982, Kap. I) die Ausrichtung (fit) zwischen Wort und Welt als entscheidendes Kriterium verwendet. Aussagen, Behauptungen, Beteuerungen, Berichte usw. gehören zu den assertiven Sprechakten. In diesen ist das Wort auf die Welt ausgerichtet, d.h. die Aufgabe dieser Art von Sprechakten ist es darzustellen, was in der Welt vorgeht. Das ist aber nicht die einzig mögliche Ausrichtung. Anordnungen, Befehle oder — mit abgeschwächter illokutiver Kraft — Bitten und Empfehlungen bilden die direktiven Sprechakte. Sie sind „Versuche des Sprechers […], den Hörer dazu zu bekommen, dass er etwas tut“ (Searle 1982, 32). In diesem Fall geht das Wort dem Akt in der realen Welt voraus. Es geht also darum, eine <?page no="45"?> 33 Ausrichtung der Welt auf das Wort zu erreichen. Mit der gleichen Ausrichtung der Welt auf das Wort haben wir es bei kommissiven Sprechakten wie Versprechen, Garantien, Angeboten usw. zu tun (nach englisch to commit im Sinne von ‚verpflichten’), nur verpflichtet sich in diesem Fall der/ die Sprechende selber, etwas zu tun. Den Idealfall stellen allerdings die deklarativen Sprechakte dar, bei denen Wort und Welt zusammenfällt. Gemeint sind dabei Akte wie Taufen, Ernennungen, Entlassungen, Verurteilungen usw., die durch die entsprechenden sprachlichen Formeln vollzogen werden. Bei den expressiven Sprechakten, durch die man seine Gefühle ausdrückt, spricht Searle dagegen von einer Nullbeziehung zwischen Welt und Wort, da in einem Beispiel wie Ich gratuliere Ihnen, den ersten Preis gewonnen zu haben, der Preisgewinn nicht als Aussage, sondern als Präsupposition (cf. Kap. 7.5) erscheint, d.h. als bekannt vorausgesetzt wird. 4.2.2 Der Ausdruck der illokutiven Kraft Die illokutive Kraft wird zumeist nicht explizit ausgedrückt, was wohl der Grund dafür ist, dass die traditionelle Grammatik keinen entsprechenden Begriff kannte. Immerhin kannte sie den Begriff der Modalität und des Modus, welche die Haltung des/ der Sprechenden zum Gesagten ausdrückt. Tatsächlich scheint beispielsweise der indikativische Modus der Ausdruck einer assertiven und der imperativische Modus der Ausdruck einer direktiven Illokution zu sein. Man betrachte allerdings die folgenden vier Sätze, die alle im Indikativ Präsens stehen: (4.2) Ich reiche meine Demission ein (4.3) Ich komme morgen vorbei (4.4) Ich heiße Sie willkommen (4.5) Es zieht In Wirklichkeit sind dies alles keine Aussagen. (4.2) ist ein deklartiver, (4.3) ein kommissiver, (4.4) ein expressiver Sprechakt und (4.5) wird üblicherweise als direktiver Sprechakt verstanden, als Aufforderung, das Fenster oder die Türe zu schließen. Es gibt nun allerdings eine explizite Ausdrucksweise der Illokution, nur ist sie in Texten eher selten anzutreffen: Sie erfolgt durch die explizit performativen Verben. Eine Anzahl von Verben haben nämlich die Eigenschaft, in der ersten Person Singular des Indikativ Präsens den entsprechenden Sprechakt explizit zu vollziehen. Es sind dies die Verben des Sagens im weitesten Sinn wie: (4.6) Ich versichere ihnen, dass ich anwesend war (4.7) Ich bedanke mich bei ihnen, dass sie anwesend waren (4.8) Ich verspreche ihnen, dass ich anwesend sein werde (4.9) Ich verlange von ihnen, dass sie anwesend sind <?page no="46"?> 34 Diese Verben dienen im Normalfall dazu, die Sprachhandlung einer anderen Person zu beschreiben. Nur in der ersten Person Singular des Indikativ Präsens ist das Subjekt der/ die Sprechende selber, der die entsprechende Sprechhandlung hier und jetzt vollzieht. Searle hat sich denn auch mit Vorliebe für die explizit performativen Verben interessiert und 1985 zusammen mit Daniel Vanderveken eine semantische Beschreibung von über 150 solchen englischen Verben vorgeschlagen (cf. auch Vanderveken 1990). Ähnliche Beschreibungen wurden von Vanderveken (1988) fürs Französische und von Eckard Rolf (1997) fürs Deutsche vorgeschlagen. 4.2.3 Glückensbedingungen Searle verwendet zur Beschreibung der performativen Verben die so genannten Glückensbedingungen. Die fünf Arten von Sprechakten kommen mit verhältnismäßig wenig Regeln aus. Es werden aber zusätzliche Regeln zur Unterscheidung der einzelnen performativen Verben benötigt. In der Fassung von Searle/ Vanderveken (1985) sind vor allem vier Arten von Bedingungen wichtig: • Die Bedingung der illokutiven Kraft wird auch essentielle Regel genannt, da sie das Wesen der verschiedenen Sprechakte definiert. Davon wird in der Folge ausführlich die Rede sein. • Die Aufrichtigkeitsbedingung bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Sprache und Denken. Sofern man aufrichtig ist, glaubt man, was man sagt (assertiver Sprechakt), will man, was man anordnet (direktiver Sprechakt), beabsichtigt man zu tun, was man verspricht oder vorschlägt (kommissiver Sprechakt), und hat die Gefühle, die man zu haben vorgibt (expressiver Sprechakt). Deklarative Verben haben keine Aufrichtigkeitsbedingungen. • Die Bedingung des propositionalen Gehalt besagt beispielsweise für den direktiven Sprechakt, dass es sich um eine zukünftige Handlung des/ der Angesprochenen handelt. Bei assertiven Verben ist der propositionale Gehalt im Normalfall neutral, d.h. es kann ein beliebiger Inhaltssatz folgen. • Die vorbereitenden Bedingungen hängen sehr stark von den einzelnen Verben ab, aber es gibt auch Bedingungen, die für eine ganze Gruppe von Verben gelten. So hat der direktive Sprechakt immer als vorbereitende Bedingung, dass die/ der Angesprochene fähig ist zu tun, was man von ihr/ ihm zu tun verlangt. Für einzelne Verben werden noch zwei zusätzliche Regeln gebraucht: • Der Durchsetzungsmodus betrifft die Form, unter welcher eine Sprechhandlung vollzogen wird. So hat schwören im Unterschied zu versprechen beispielsweise den Durchsetzungsmodus, dass der Akt <?page no="47"?> 35 mehr oder weniger feierlich und unter Umständen sogar unter Anrufung eines geheiligten Gegenstandes oder einer geheiligten Person erfolgt. Der Akt, einen Eid zu leisten, ist noch feierlicher und findet öffentlich vor einer politischen Instanz statt. • Gleichzeitig hat beispielsweise schwören einen höheren Stärkegrade der Aufrichtigkeitsbedingung als versprechen und einen Eid leisten seinerseits einen höheren als schwören. Das bedeutet, dass man sich in noch höherem Masse darauf festlegt, etwas zu tun. 4.2.4 Kritik an Searle Searles Klassifikation der Sprechakte hat sich weitgehend bewährt und gegenüber anderen Taxinomien (Austin 1962, Bach/ Harnish 1979, Ballmer/ Brennenstuhl 1981, Vernant 1997) durchgesetzt. Dabei sind jedoch durchaus Einzelheiten dieser Theorie anfechtbar. Dazu gehört insbesondere etwa die Art und Weise, wie Searle die essentielle Regel, d.h. die Regel der illokutiven Kraft definiert. Dies ist auch bereits von Marina Sbisà (1989) und Eckard Rolf (1993, 1997) moniert worden. So würde die illokutive Kraft des assertiven Sprechaktes darin bestehen, den Sprecher oder die Sprecherin darauf festzulegen, „dass die zum Ausdruck gebrachte Proposition wahr ist“ (Searle 1979, 31). Das ist ohne Zweifel eine Verpflichtung, die sich aus diesem Sprechakt ergibt, aber schwerlich die Absicht, die man damit verfolgt. Auch wenn Searle anderweitig die philosophische Position des Idealismus kritisiert, so erscheint doch seine Vorstellung von Illokution, so wie er sie insbesondere in seinem Buch Intentionality (1983) dargestellt hat, reichlich idealistisch, d.h. völlig auf das Subjekt bezogen. Rolf (1993) weist denn auch zu Recht darauf hin, dass die tatsächliche Intention des Sprechers oder der Sprecherin (S) darin besteht, etwas bei der Adressatin oder beim Adressaten (A) zu bewirken und zwar unabhängig davon, ob die intendierte Wirkung tatsächlich eintritt. Damit wird die Problematik von Austins Definition der Perlokution umgangen, die vom Erfolg des Sprechaktes abhängig war. 4.3 Zur Definition der Sprechakte Da die Sprechakttheorie mit zu den Grundlagen gehört, auf denen wir unsere Theorie der textlichen Kohäsion aufbauen werden, soll hier versucht werden, die einzelnen Arten von Sprechakten besser zu definieren. 4.3.1 Assertive Sprechakte Nach Rolf (1993, 312) bestünde die illokutive Kraft des assertiven Sprechaktes „in der Beeinflussung der auf Seiten des Adressaten vorauszusetzenden epistemisch-doxastischen Repräsentation der sog. außersprachlichen Wirklichkeit”. Mit anderen Worten bestünde die Absicht darin, auf die mentalen Repräsentationen von A, d.h. der Adressatin oder des Adressaten, Einfluss zu <?page no="48"?> 36 nehmen. Dies scheint uns unanfechtbar. Nur ist Searles Definition, wonach der assertive Sprechakt S, d.h. den Sprecher oder die Sprecherin, darauf festlegt, „dass die zum Ausdruck gebrachte Proposition wahr ist“ ebenfalls zutreffend. Marina Sbisà (1989) ist denn auch der Meinung, der Zweck jeden Sprechaktes sei es, Rechte und Pflichten sowohl für S wie für A zu schaffen. Diese von Oswald Ducrot beeinflusste Beschränkung auf Rechte und Pflichten erscheint uns problematisch. Richtig ist allerdings, dass ein Sprechakt nicht nur einen Versuch darstellt, auf A einzuwirken, sondern dass dieser auch Konsequenzen für S mit sich bringt. Wir werden am Ende dieses Kapitels sehen, dass sich diese Konsequenzen aus den entsprechenden Aufrichtigkeitsbedingungen ableiten lassen. Wir halten deshalb an der Definition fest, wonach die illokutive Kraft des assertiven Sprechaktes darin besteht, auf die Vorstellungen, die sich A von der Welt macht, einzuwirken. Dabei ist es nicht notwendig, dass das Mitgeteilte für A neu ist; Assertionen können auch dazu dienen, vorhandene Vorstellungen zu aktivieren. Beim Argumentieren geht es beispielsweise darum, anfechtbare Meinungen durch möglichst unstrittige Argumente zu stützen (cf. Kap. 13.2). In (4.10) Da ich einen weiten Weg habe, muss ich jetzt gehen wird der weite Weg für A kaum ein neues Faktum sein; es wird bloß ein schon vorhandenes Wissen zur Begründung beigezogen 10 . 4.3.2 Expressive Sprechakte Assertive Sprechakte haben das, was Gillian Brown und George Yule (1983, 1) eine transaktionelle Funktion nennen, d.h. sie dienen der Übermittlung von Inhalten. Die expressiven Sprechakte haben demgegenüber das, was Brown und Yule eine interaktionelle Funktion nennen, d.h. sie dienen dem Ausdruck persönlicher Gefühle und der Schaffung sozialer Beziehungen. Die expressiven Sprechakte sind für uns eindeutig interaktioneller Natur. Nach Searle dienen sie dem Ausdruck eigener Gefühle. Wichtiger dürfte aber auch hier ihre Wirkung auf A sein. Eckard Rolf (1993, 312s.) sieht den Zweck der expressiven Sprechakte darin, das emotionale Gleichgewicht von A zu beeinflussen. Es geht tatsächlich nicht in erster Linie um den Ausdruck eigener Gefühle, dieser ist ohnehin bei Begrüßungen und Verabschiedungen, die ebenfalls zu den expressiven Sprechakten zählen, marginal. Außerdem kann man gegenüber A nicht nur positive Gefühle (Lob, Dank, Komplimente, Gratulationen usw.), sondern auch negative Gefühle (Beschwerden, Tadel, Spott, Beschimpfungen usw.) zum Ausdruck bringen. Damit kann das emotionale Gleichgewicht von A sowohl positiv wie negativ beeinflusst werden. 10 Zur Abschwächung und Verstärkung der assertiven Akte, cf. Kap. 5.5. <?page no="49"?> 37 4.3.3 Axiologische Sprechakte Ein besonderes Problem stellen Verben wie einstufen, einschätzen, taxieren, klassifizieren oder halten für dar. Searle (1971, 217ss.) betont, dass sie nicht zu den expressiven Sprechakten gehören, obwohl ein Satz wie (4.11) Ich halte deine Lösung für ausgezeichnet als Lob verstanden werden kann. Dieses wird jedoch als Bewertung und nicht als Lob dargestellt. Searle lässt allerdings offen, zu welcher Kategorie diese Sprechakte gehören. Bei assertiven Akten geht es um Vorstellungen, bei expressiven um Gefühle, bei axiologischen aber um Bewertungen. Es scheint mir deshalb notwendig, eine eigene Kategorie der axiologischen Sprechakte zu schaffen. Die Axiologie ist die Theorie der Bewertung, wobei die Urteile sowohl ethisch (gut ~ böse) wie ästhetisch (schön ~ hässlich) sein können. Die axiologischen Sprechakte zeigen dabei gemeinsame Eigenschaften sowohl mit den assertiven wie mit den expressiven Sprechakten. Einerseits können Bewertungen ebenfalls Gefühle auslösen: Die Adressatin oder der Adressat von (4.11) wird sich über dieses Urteil erfreut zeigen. Andererseits können sie wie die assertiven Sprechakten als Argumente dienen (cf. Kap. 15.2). Ihre Ausdrucksform ist für Sprechakte zugegebenermaßen ungewöhnlich. Sie werden vor allem durch eine Reihe von Adjektiven und durch deren Nominalisierungen (Schönheit, Hässlichkeit usw.) realisiert. Neben einer Reihe von Wörtern, die explizit axiologisch sind, gibt es zudem auch solche, die nur axiologisch gefärbt sind. Wer von Befreiern spricht, meint damit etwas Positives, wer von Besatzern spricht, dagegen etwas Negatives. Dabei handelt es sich unter Umständen um die gleiche Militärmacht, nur der subjektive Standpunkt ist vollkommen verschieden. Man spricht in diesem Fall von einer axiologischen Konnotation (cf. 22.3). In vielen Fällen sind unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit sehr eng mit solchen Werturteilen verbunden. 4.3.4 Kommissive Sprechakte Als prototypisches Verb der Klasse der kommissiven Sprechakte gilt versprechen, durch das sich S darauf festlegt, etwas zu tun. Diese Eigenschaft ist jedoch nicht allen kommissiven Verben gemeinsam. Man kann die Drohung als das negative Gegenstück zum Versprechen betrachten. In diesem Fall ist die Ausführung aber nicht bindend. Wenn die Terroristen ihre Drohungen nicht wahr machen, so wird sie niemand des Wortbruchs zeihen. Bei Verben wie vorschlagen, anbieten und einladen gilt die Selbstverpflichtung dagegen nur, wenn A den Vorschlag oder die Einladung annimmt. Auch Rolfs Erklärung der Kommissivität als Sprechakt, der es A erlaubt, Pläne für die Zukunft zu machen, ist auf die erwähnten Verben schwerlich anwendbar. Allen Verben gemeinsam scheint mir einzig die Absicht von S, etwas zu tun beziehungsweise zu unterlassen. Dabei ist zu unterscheiden, ob diese Absicht für S positiv oder negativ ist. Ist sie negativ wie bei der Dro- <?page no="50"?> 38 hung, so wird A nicht unglücklich sein, wenn S seine Absicht nicht ausführt. Ist sie jedoch positiv, so wird A daraus eine Verpflichtung ableiten. Einladungen und Vorschläge werden dagegen erst dann verpflichtend, wenn A sie annimmt. Dann gilt aber die Verpflichtung sowohl für S wie für A. Rolf (1993, 226-229; 1997, 170s.) rechnet auch das Verb erlauben zu den kommissiven Verben. Nach Searle und Vanderveken (1985, 101, cf. auch Vanderveken 1990, 197) würde dieses Verb dagegen so viel wie ‚nicht verbieten, etwas zu tun’ bedeuten und deshalb zu den direktiven Verben gehören. Dass jemand nicht verboten hat, etwas zu tun, kann aber auch heißen, dass er sich dazu nicht geäußert hat. Ich stimme deshalb Rolf zu und betrachte die Erlaubnis als einen Sprechakt, durch den S die Absicht ausdrückt, Sanktionen zu unterlassen, falls A etwas Bestimmtes tut. Dem möchte ich hinzufügen, dass ein Versprechen häufig kein rein altruistischer Akt ist. Wer etwas verspricht, hat häufig wieder etwas gutzumachen („Ich verspreche, das nie mehr zu tun“) oder hofft, etwas Anderes im Gegenzug zu erhalten („Gib mir von deinem Teller. Ich gebe dir dann von meinem Teller“). Versprechen haben damit auch eine interaktionelle Funktion. 4.3.5 Direktive Sprechakte Die direktiven Sprechakte sind die einzigen, bei denen Searle A ins Zentrum seiner Definition stellt. Sie sind Versuche, A zu bewegen, etwas zu tun. Dieser Definition können wir nur zustimmen. Dabei lässt sich zwischen stark direktiven Verben wie befehlen, anordnen oder verlangen und schwach direktiven wie bitten, empfehlen oder anraten unterscheiden. Schwach direktive Sprechakte sind nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft und es hat kaum Konsequenzen für S, wenn seine/ ihre Bitten oder Ratschläge nicht befolgt werden. Befehle oder Anordnungen können dagegen mit Erfolg nur von einer Person vollzogen werden, welche über die entsprechende Autorität verfügt. Werden sie nicht befolgt, so hat dies negative Auswirkungen für die Autorität dieser Person. 4.3.6 Deklarative Sprechakte Die deklarativen Sprechakte verändern die Welt entsprechend dem Gesagten. Durch sie wird ein (rechtlicher) Zustand geschaffen, verändert oder aufgehoben. Zumeist handelt es sich allerdings um institutionelle Sprechakte wie das Taufen, das Verurteilen, das Ernennen, das Entlassen usw. Diese können nur von bestimmten Personen in einem bestimmten Kontext glücklich vollzogen werden. Zum Akt des Taufens braucht es so einen Priester, einen Täufling, Taufzeugen und Weihwasser. Außerdem müssen der Täufling beziehungsweise dessen Eltern mit dem Taufakt einverstanden sein. Es gibt allerdings eine Untergruppe von deklarativen Sprechakten, die grundsätzlich jedermann in einer beliebigen Sprech- oder Schreibsituation <?page no="51"?> 39 vollziehen kann. Es handelt sich um das Benennen und das Definieren, zwei Sprechakte, die gerade Linguisten sehr geläufig sind. Marina Sbisà (1989, 93ss.) möchte in Übereinstimmung mit Austin (1972, 170ss.) die deklarativen Sprechakte mit den direktiven in einer Klasse zusammenfassen. Tatsächlich beruhen die stark direktiven Sprechakte wie befehlen und verordnen auf einer ähnlichen institutionellen Autorität wie die deklarativen. Dann müsste man aber eine zusätzliche Kategorie für die schwach direktiven Verben wie empfehlen oder anraten schaffen, da diese Sprechakte kein Autoritätsverhältnis voraussetzen. Die Unterscheidung zwischen den deklarativen Verben, die allgemeine Rechte und Pflichten schaffen, und den direktiven Verben, durch welche Individuen dazu gebracht werden sollen, etwas zu tun oder zu unterlassen, erscheint da wesentlich sinnvoller. 4.3.7 Konsequenzen für den Sprecher/ die Sprecherin Soweit zur kommunikativen Absicht der verschiedenen Arten von Sprechakten. Was die Konsequenzen betrifft, die sich daraus für S ergeben, so betrachten wir sie als Folge der jeweiligen Aufrichtigkeitsbedingung. Diese sind in diesem Fall als Verpflichtungen für S zu betrachten und deren Verletzung hat gesellschaftliche und teilweise sogar juristische Sanktionen zur Folge. • Wer einen assertiven Sprechakt vollzieht, verpflichtet sich auf diese Weise, die Wahrheit zu sagen. Tut man dies nicht, so ist dies eine Lüge (cf. auch Lapp 1992). Lügt man vor einem Gericht, so macht man sich sogar aufgrund einer Falschaussage oder eines Meineids strafbar. • Drückt man Gefühle aus, die man gar nicht hat, so spricht man von einer Heuchelei (unaufrichtiger expresssiver Sprechakt). • Macht man Versprechungen, die man nicht einhalten kann oder will, oder gibt man wissentlich falsche Bewertungen ab, so liegt eine Täuschung vor (unaufrichtiger kommissiver oder axiologischer Sprechakt). • Für den direktiven Sprechakt stellt sich dagegen das Problem der Unaufrichtigkeit kaum. Wer allerdings einen kriminellen oder auch nur fahrlässigen Befehl erteilt, ist juristisch haftbar. Im Falle des deklarativen Sprechakts gibt es gar keine Aufrichtigkeitsbedingung; er gilt für alle, also auch für seinen Urheber oder seine Urheberin. Auch die Ironie verletzt die Aufrichtigkeitsbedingungen. (4.12) Noch lauter! Ich hör die Sänger immer noch soll Richard Strauss einmal einem Orchester zugerufen haben, womit er wohl das Gegenteil von dem meinte, was er sagte. Die Ironie unterscheidet sich allerdings dahingegend von der Lüge, dass keine Täuschungsabsicht besteht. Ironische Äußerungen sind deshalb nur scheinbare Verletzungen der Aufrichtigkeitsbedingung. Sie werden üblicherweise in Sprechsituationen produziert, wo sie so eindeutig unangemessen sind, dass S davon ausgehen kann, dass A <?page no="52"?> 40 sie nicht zum Nennwert nimmt (cf. Eggs 2008, 310-317). Trotzdem setzt man sich mit ironischen Äusserungen der Gefahr aus, missverstanden zu werden, denn ironische Bedeutungen sind nicht lexikalisiert und müssen immer aus der Situation heraus verstanden werden. <?page no="53"?> 41 5 Die Sprache der Sprechsituation anpassen Gerade im Fall der Sprechakte zeigt es sich, dass eine gegebene Intention verschieden versprachlicht werden kann. Mit seiner Theorie der indirekten Sprechakte hat Searle dieses Problem aber nur teilweise gelöst. Tatsächlich haben wir es hier mit dem weit allgemeineren Problem der Anpassung der Sprache an die jeweilige Sprechsituation zu tun. So gibt uns die Sprache einerseits die Möglichkeit, eine Illokution abzuschwächen oder zu verstärken, je nachdem ob wir es mit einer konsens- oder einer konfliktorientierten Gesprächssituation zu tun haben. Andererseits bildet die Sprache auch Distanz und Nähe zwischen den Kommunikationspartne- rinnen und -partner ab. In diesem Zusammenhang spielt auch die Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine Rolle. Wir werden dabei zeigen, dass die Entstehung einer Hochsprache von derjenigen der Textsorten nicht zu trennen ist. 5.1 Indirekte Sprechakte In Saussures Zeichentheorie steht das Bezeichnete (signifié) in einem 1: 1- Verhältnis zum Bezeichneten (signifiant). Wir haben im vorangehenden Kapitel nun jedoch gesehen, dass sich dies im Falle der Sprechakte nicht so einfach verhält. Zwar gibt es die Möglichkeit, Sprechakte explizit durch performative Verben auszudrücken, dies ist aber nur eine und zudem eine eher seltene Möglichkeit. Einen ersten Versuch, die Vielfalt der Ausdrucksmittel zu erklären, hat Searle (1979/ 1982, Kap. II) mit seiner Theorie der indirekten Sprechakte unternommen. Wir sprechen dann von einem indirekten Sprechakt, wenn statt der Regel der illokutiven Kraft eine andere Glückensbedingung (affirmativ oder interrogativ) verbalisiert wird. Betrachten wir die folgenden Beispiele, in denen es darum geht, Leute aufzufordern, weniger Lärm zu machen: (5.1) Ich möchte, dass ihr still seid (5.2) Werdet ihr wohl mit dem Radau aufhören? (5.3) Könntet Ihr ein bisschen leiser sein? (5.4) Wollt ihr wohl ruhig sein? Es sind dies alles direktive Sprechakte. Dabei (5.1) realisiert die Aufrichtigkeitsbedingung, dass der Sprecher oder die Sprecherin (S) will (möchte), was er von der Adressatin oder dem Adressaten (A) verlangt. (5.2) verbalisiert die Bedingung des propositionalen Gehalts, nach der es sich in diesem Fall um eine zukünftige Handlung von A handelt, während (5.3) die vorbereitende Bedingung ausdrückt, dass A imstande ist zu tun, was S verlangt. (5.4) wird dagegen als eine zweite vorbereitende Bedingung angesehen, dass A bereit ist zu tun, was S verlangt. Diese Regel kommt in den anderen Darstellungen, die <?page no="54"?> 42 Searle von den direktiven Sprechakten gegeben hat, nicht vor. Sie bezieht sich eindeutig nicht mehr auf S, sondern auf A. Searle zählt auch die Anspielungen zu den indirekten Sprechakten, während Hindelang (1978) und Blum-Kulka et al. (1989) sie als eine eigene Kategorie behandeln. Inger Rosengren (1980) spricht in diesem Zusammenhang von impliziten Sprechakten, die sie den indirekten gegenüberstellt. Dieser Begriff scheint uns sehr treffend, denn die Anspielung ist eine Kommunikationsstrategie, die darin besteht, ein Argument zu nennen, das den intendierten, aber unausgesprochenen Sprechakt begründet. (5.5) Ich möchte schlafen kann so als ein Argument für die Aufforderung, weniger Lärm zu machen, verstanden werden. (5.5) ist eine Anspielung, die der Interpretation in der gegebenen Sprechsituation bedarf. Es gibt aber auch Anspielungen wie „Es hat geläutet“ für „Geh schauen, wer da ist“, deren Bedeutung praktisch lexikalisiert ist. Die Theorie der indirekten Sprechakte ist insofern von Bedeutung, als dass sie als Beleg für die psychische Realität der Glückensbedingungen angesehen werden kann. Anna Wierzbicka ( 2 2003) hat zwar ihre Universalität in Frage gestellt, wobei ihr die Direktheit des Polnischen im Vergleich zur Indirektheit des australischen Englischen als Vergleich diente 11 . Die kontrastiven Untersuchungen von Blum-Kulka et al. (1989) haben dagegen nur quantitative Unterschiede festgestellt, wobei auch hier das australische Englische als diejenige Sprache erschien, die indirekte Sprechakte besonders liebt. 5.2 Direkte Sprechakte? Es macht keinen Sinn von indirekten Sprechakten zu sprechen, wenn es nicht auch direkte Sprechakte gibt. Dabei kann es eigentlich für jede Art von Sprechakt nur eine direkte Ausdrucksweise geben, durch die der Sprechakt unmittelbar bezeichnet wird, so wie im Saussure’schen Zeichenmodell immer genau ein signifiant einem signifiant gegenübersteht. Da ergibt sich jedoch eine erste Schwierigkeit. Searles Definition des indirekten Sprechakts ermöglicht es, dieselben eindeutig einzugrenzen. Es verbleibt aber eine ganze Reihe von Ausdrucksweisen, die als direkte direktive Sprechakte in Frage kommen: (5.6) a. Seid ruhig! b. Ihr sollt/ müsst ruhig sein c. Es ist notwendig, dass ihr ruhig seid d. Ruhe! e. Ich verlange, dass ihr ruhig seid f. Ich bitte euch, ruhig zu sein 11 Ähnliche Unterschiede gibt es auch zwischen Deutsch und Englisch, cf. House 2005. <?page no="55"?> 43 Searle hat sich meines Wissens nie explizit dazu geäußert, was er unter einem direkten Sprechakt versteht. Es ist aber unverkennbar, dass sich seine Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Sprechakten an diejenige zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung anlehnt. Deshalb kommt Searle (1979/ 1982, Kap. IV) auch auf die indirekten Sprechakte im Rahmen seiner Metapherntheorie zurück. Er unterscheidet dabei zwischen Wort- und Äußerungsbedeutung. Es muss so zunächst einmal festgestellt werden, dass ein Satz „defekt“ ist, wenn man ihm seine Wortbedeutungen zuweist. Erst dann kann aufgrund einer Reihe von Prinzipien eine Äußerungsbedeutung gesucht werden, die im gegebenen Satzzusammenhang Sinn macht. Da ergibt sich jedoch sogleich eine zweite Schwierigkeit. Die Wortbedeutung eines indirekten Sprechakts wie (5.7) Können sie mir sagen, wie spät es ist? ist gar nicht „defekt“ im Sinne von Searle. Ich verstehe diesen Satz durchaus „wörtlich“, wenn ich darauf antworte: (5.7’) Nein. Ich habe keine Uhr Wie Searle im Übrigen durchaus richtig feststellt, erweitert der indirekte Sprechakt die Bedeutung von (5.7). Ich kann nicht einfach mit „Ja“ antworten und dann nichts tun, da in diesem Fall der Satz den Wert einer Aufforderung zu sagen, wie spät es ist, bekommt. Die größte Schwierigkeit bereitet aber der Begriff der wörtlichen Bedeutung. Searle selber (1979, Kap. 5) widerspricht der herrschenden Vorstellung, die wörtliche Bedeutung sei die Bedeutung eines Wortes außerhalb jeden Kontexts. So ist es nicht denkbar, die Bedeutung von oben oder unten ohne Bezug auf ein Gravitationsfeld zu bestimmen. Trotzdem hält er an diesem Begriff fest. Ray Gibbs (1994a, 24-79) hat überzeugend dargelegt, dass es tatsächlich nicht möglich ist, klar zu bestimmen, was man als wörtliche Bedeutung verstehen kann. Wenn man außerdem die Bedeutung der indirekten Sprechakte nur über Umwege erschließen könnte, so wäre anzunehmen, dass die Verarbeitungszeit eines indirekten Sprechaktes länger dauerte als die eines direkten Sprechakts. Eine Reihe von psycholinguistischen Untersuchungen ist jedoch zum Ergebnis gelangt, dass dies nicht der Fall ist, sofern die indirekten Sprechakte in einem sinnvollen Kontext präsentiert werden (cf. Gibbs 1994a, 85-91): Certain sentence forms, such as Can you...? and May I...? , conventionally seem to be used as indirect requests. Listeners’ familiarity with these sentence forms, along with the context, helps them immediately comprehend the indirect meaning of these indirect requests. (Gibbs 1994a, 91) 5.3 Höflichkeit Auch Searles (1982, 71) Auffassung, Indirektheit könne weitgehend mit Höflichkeit gleichgesetzt werden, ist fragwürdig. Von den Beispielen (5.1) - (5.5) <?page no="56"?> 44 können gerade einmal (5.1) und (5.3) als höflich angesehen werden. Die Gleichsetzung von Indirektheit und Höflichkeit hat aber in der Diskussion um die Frage der Höflichkeit eine wichtige Rolle gespielt. In der neueren Linguistik ist das Problem der Höflichkeit besonders im Anschluss an die Arbeit von Penelope Brown und Stephen Levinson (1978, 2 1987) sehr intensiv diskutiert worden. Nach ihrer Theorie gibt es Sprechakte, welche das Gesicht einer Gesprächsteilnehmerin oder eines Gesprächsteilnehmers bedrohen, die so genannten face threatening acts. Dabei ist zwischen dem positiven und dem negativen Gesicht einer Person zu unterscheiden. Das positive Gesicht betrifft das Ansehen, das jedermann in der Gesellschaft genießt oder genießen möchte; das negative Gesicht dagegen die Autonomie des Individuums, die Möglichkeit, über sich selbst bestimmen zu können. Da sowohl S wie A diese beiden Gesichter haben, gibt es insgesamt vier Arten von face threatening acts: a) Geständnisse, Selbstkritik oder Entschuldigungen bedrohen das positive Gesicht von S; b) Kritik, Vorwürfe oder Beleidigungen bedrohen das positive Gesicht von A; c) die kommissiven Sprechakte bedrohen das negative Gesicht von S und d) die direktiven Sprechakte bedrohen das negative Gesicht von A. Der Zweck der Höflichkeit bestünde nun darin, diese Bedrohungen abzuschwächen. Brown und Levinson listen denn auch eine große Anzahl von Strategien auf, die diesem Zwecke dienen. Es fällt allerdings auf, dass in den entsprechenden Studien fast immer nur von den direktiven Sprechakten (Typ d) die Rede ist. Catherine Kerbrat-Orecchioni (2005, 201ss.) ist denn auch zuzustimmen, wenn sie meint, dass es Höflichkeit nur gegenüber Anderen und nicht gegenüber sich selbst geben kann 12 . Damit entfallen (a) und (c), womit allerdings noch nicht erklärt ist, warum vom Typ (b) kaum je die Rede ist. Zu den möglichen Höflichkeitsstrategien gehört zunächst die Abschwächung des Sprechakts als solcher, dann aber auch die Möglichkeit, ihn in einen Kotext zu stellen, der abschwächend oder kompensierend wirkt. Wir können in diesem Kapitel nur den ersten Fall besprechen. Auf den zweiten Fall müssen wir in den entsprechenden Kapiteln (vor allem 13.3 und 23.3) zurückkommen. 12 Searle (1982, 76-79) spricht allerdings ebenfalls von indirekten kommissiven Sprechakten (Typ c) wie Kann ich dir helfen? oder Soll ich hinausgehen? Dabei handelt es sich allerdings nicht um Versprechungen, sondern um Vorschläge, die der Zustimmung von A bedürfen. <?page no="57"?> 45 5.4 Anpassung an die Kommunikationssituation Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass Kinder schon ab 2 Jahren beginnen, ihre direktiven Sprechakte zu differenzieren (cf. Bernicot 1992, 153- 171). Ervin-Tripp et al. (1982) haben zusätzlich nachgewiesen, dass höfliche Aufforderungen nicht besonders erfolgreich zu sein brauchen. Sie werden vor allem dort eingesetzt, wo man die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner für wenig kooperativ hält. Tatsächlich bedroht eine Aufforderung auch das positive Gesicht von S für den Fall, dass A sich der Ausführung widersetzt. Eine solche Weigerung von A stellt das Durchsetzungsvermögen von S in Frage. Damit vereinbar sind auch die Beobachtungen von Francik und Clark (1984), sowie von Gibbs (1985; 1994a, 434s.), nach denen die Wahl der verschiedenen indirekten Sprechakte vom erwarteten Hindernis abhängt. So wird (5.8) Do you have change for a dollar? vor allem im Hinblick darauf gewählt, dass die oder der Angesprochene kein Wechselgeld haben könnte. Das bedeutet freilich nicht, dass die Abschwächung nichts mit Höflichkeit zu tun hat. Es geht aber um etwas Komplexeres als bloß darum, das Gesicht von A zu wahren. Es geht darum, einen Konsens herzustellen, bei dem beide Seiten nicht Gefahr laufen, das Gesicht zu verlieren. Wir stimmen deshalb Claudia Caffi (2007) zu, wenn sie den Begriff der Abschwächung (mitigation) demjenigen der Höflichkeit vorzieht. Dabei ist zumindest in der gesprochenen Sprache die Abschwächung der face threatening acts, wie Arndt/ Janney (1987, 374ss.) zu Recht unterstreichen, kein rein verbales Problem, sondern auch die Intonation und die Kinesik, d.h. die Körpersprache spielen eine Rolle. Vor allem darf die Abschwächung nicht mit den indirekten Sprechakten gleichgesetzt werden. Nicht nur gibt es indirekte Sprechakte wie (5.4) Wollt ihr wohl ruhig sein? die den Sprechakt eher verstärken als abschwächen; es gibt auch die Möglichkeit, einen direktiven Sprechakt dadurch abzuschwächen, dass man beispielsweise das performative Verb bitten statt befehlen wählt: (5.6f) Ich bitte euch, ruhig zu sein Die Abschwächung dient im Wesentlichen dazu, Konflikte zu vermeiden. Es gibt jedoch Situationen, wo der Konflikt unvermeidlich wird oder wo man ihn sogar bewusst herbeiführt. So wird man verstärkte Formen wie (5.4) beispielsweise dort einsetzen, wo ein vorangehender Appell nicht zum Erfolg geführt hat. Daraus ergibt sich, dass die Vielfalt der Ausdrucksweise vor allem dem Zweck dient, die Sprechakte an die jeweilige Kommunikationssituation anzupassen. Abschwächungen dienen dabei einem konsensorientierten <?page no="58"?> 46 und Verstärkungen einem konfliktorientierten Sprechstil (cf. auch Kerbrat- Orecchioni 1992-96, II, 36). 5.5 Weitere Formen der Abschwächung und Verstärkung Abschwächungen und Verstärkungen spielen auch eine Rolle bei den Sprechakten, die das positive Gesicht von A bedrohen. Es geht dabei um Kritik und diese bedient sich axiologischer und expressiver Sprechakte. Axiologische Sprechakte werden üblicherweise mit Hilfe von Adjektiven (und Substantiven) ausgedrückt, die graduelle Oppositionen bilden, wie z.B. hervorragend — sehr gut — gut — genügend — ausreichend — ungenügend — schlecht — „grottenschlecht“. Auf dieser Stufenleiter lässt sich trefflich spielen. Man kann so Kritiken abschwächen (Diese Äußerung war nicht sehr glücklich statt Diese Äußerung war sehr unglücklich) oder auch verstärken bis hin zur Beleidigung 13 . Bei den expressiven Sprechakten sind die Möglichkeiten dagegen etwas beschränkter, aber man kann auch hier ein Lob verstärken (Ich hab ein großes Lob auszusprechen) und ein Kritik abschwächen (Ich habe eine kleine Kritik anzubringen). Man kann auch seinen Dank verstärken, indem man Vielen Dank oder Tausend Dank sagt. Dagegen wäre es unschicklich, seinen Dank abzuschwächen. Negative Urteile bedrohen nicht nur das positive Gesicht von A, sie bedrohen auch die Beziehung zwischen S und A. Im Fall, dass man nicht einverstanden ist, die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner aber nicht verletzen möchte, kann man deshalb auch zu einer zweideutigen Aussage Zuflucht nehmen. Beavin Bavelas et al. (1990, 69) fragten ihre Testpersonen unter anderem, welche Antwort sie im Falle bevorzugen würden, dass ihnen jemand etwas schenkt, das ihnen gar nicht gefällt. Zur Auswahl standen: (5.9) a) The gift is perfect; I really love it b) I don’t like the gift and am going to exchange or return it c) I like you, but I don’t like the gift d) I appreciate your thoughtfulness Das Problem besteht darin, dass das Gebot der Ehrlichkeit mit dem Interesse, gute Beziehungen zu erhalten, im Konflikt steht. Die meisten Auskunftspersonen wählten deshalb die eher rätselhafte Formulierung d). Auch assertive Sprechakte lassen sich verstärken und abschwächen; man spricht in diesem Fall von Modalisierungen. Dabei ist der Gebrauch von Verben des Glaubens und des Denkens ebenfalls als indirekter Sprechakt zu werten, denn sie verbalisieren die Aufrichtigkeitsbedingung des assertiven Sprechakts, nach der man das, was man sagt, auch für wahr hält. Mit „Ich glaube, dass...“ und erst recht mit „Ich vermute, dass...“ kann man den assertiven 13 Die klassische Rhetorik kennt die Begriffe von Litotes und Hyperbel, deren Definitionen allerdings zu eng sind, um hier verwendet zu werden. <?page no="59"?> 47 Sprechakt abschwächen, mit „Ich bin überzeugt, dass...“ und erst recht mit „Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass...“ dagegen verstärken 14 . Mit Höflichkeit hat dies alles nichts zu tun. Abgeschwächt oder verstärkt wird einerseits der Versuch, auf die Vorstellungen von A einzuwirken, andererseits aber auch die Verpflichtung von S, die Wahrheit zu sagen. Es geht also erneut um die Beziehungen zwischen S und A. Abgeschwächte Assertionen helfen Meinungskonflikte zu umgehen; mit verstärkten Assertionen werden diese ausgetragen. Das bedeutet, dass das Phänomen der Abschwächung und der Verstärkung bei allen Sprechakten mit Ausnahme der deklarativen vorkommt. Claudia Caffi (2007, 97-114) spricht allerdings noch von zwei weiteren Formen der Abschwächung (mitigation). Mit einer Abschwächung des deiktischen Systems hätten wir es zu tun, wenn man beispielsweise in wissenschaftlichen Texten wir, man oder das Passivs ohne Urheberbezug verwendet, um das ich zu umgehen (cf. Wüest 1988). Durch den Gebrauch von vagen Ausdrücken würde dagegen der propositionale Gehalt abgeschwächt. In diesen beiden Fällen handelt es sich allerdings nicht um das Spiel zwischen Verstärkung und Abschwächung, das für die Illokution charakteristisch ist. 5.6 Distanz und Nähe Was den propositionalen Gehalt betrifft, so kommt vielmehr eine andere Art der sprachlichen Differenzierung zur Anwendung. Traditionellerweise spricht man in diesem Fall von Stilregistern. Diese dienen ähnlich wie die Unterscheidung zwischen du und Sie dem Ausdruck der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen S und A (cf. Kerbrat-Orecchioni 1990-94, II, 39- 69). Die in den Wörterbüchern übliche Unterscheidung zwischen Registern wie gehoben oder dichterisch auf der einen und umgangssprachlich, salopp oder derb auf der anderen Seite ist dagegen problematisch, denn ihr liegt grundsätzlich eine qualitative Klassifizierung des Wortschatzes zugrunde. Auch hier geht es um die Anpassung der Sprachmittel an die jeweilige Sprechsituation. Eine derbe oder sogar vulgäre Ausdrucksweise ist in einer öffentlichen Rede nicht angebracht, es sei denn, man wolle auf diese Weise eine Schockwirkung erzielen. Eine gehobene oder gar gestelzte Ausdrucksweise wirkt dagegen im Freundeskreis als deplaziert, es sei denn, sie werde ironisch gebraucht. Man kann in diesem Sinne vom Ausdruck der Nähe und der Distanz zwischen Sender und Empfänger sprechen. Diese Unterscheidung ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der Unterscheidung zwischen Nähe- und Distanzsprache bei Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1990, 2001). Bei diesen beiden Autoren geht es um die Unterscheidung zwischen mündlich und schriftlich konzipierten Texten. Sicher werden mündliche Texte vor allem in einer Nähe- 14 Beacco (1988) spricht im ersteren Fall von einer „assertion du non-certain“ und im letzteren von einer „sur-assertion“. <?page no="60"?> 48 situation und schriftliche Texte vorwiegend in einer Distanzsituation konzipiert. Wie Koch und Oesterreicher aber selber wissen, sind diese Unterschiede nur graduell. Ein privater Brief und die neuen Formen schriftlicher Kommunikation in elektronischen Medien zeigen verschiedene Eigenschaften einer Nähekommunikation, während ein freies Referat oder eine öffentliche Diskussion sich an Formen der Distanzkommunikation anlehnt. Es gibt zwar Unterschiede zwischen dem mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch, doch sind diese im Wesentlichen nur statistischer Natur (cf. Wüest 2009). 5.7 Hochsprache und Schriftlichkeit Gewiss war die Herausbildung einer Hochsprache an die Schriftlichkeit gebunden. Man kennt die Bedeutung der Schriften Martin Luthers für die deutsche Hochsprache. Dieser konnte sich allerdings auf bereits vorhandene regionale Schrifttraditionen stützen (cf. Kriegesmann 1990). Die deutsche Schriftsprache ist denn auch mit keinem bestimmten Dialekt identisch. Selbst im Falle des Französischen, wo der Pariser Königshof eine wichtige Rolle spielte, kann man die Hochsprache nicht einfach mit dem Dialekt der Pariser Gegend gleichsetzen. Sowohl ältere Texte wie auch direkte Zeugnisse aus verschiedenen Epochen zeigen, dass der ursprüngliche Dialekt der Ile-de- France erheblich von der sehr strikten Norm der französischen Hochsprache abwich (cf. Wüest 1985). Dafür gibt es Gründe. Im Gegensatz zur spontanen mündliche Kommunikation ist die schriftliche Kommunikation zumeist geplant und es ist sogar möglich, das Geschriebene nachträglich zu korrigieren. Dadurch schafft die schriftliche Kommunikation die Voraussetzung für eine elaborierte Form der Sprache mit komplexen Satzstrukturen und einem differenzierten Wortschatz. Gleichzeitig ist die Schriftlichkeit nicht an eine bestimmte Gesprächssituation gebunden und kann deshalb auch nicht auf sie Bezug nehmen. Ferner tritt sie nicht im Verein mit gewissen zusätzlichen emotionalen Ausdrucksmitteln wie der Körpersprache oder der expressiven Intonation auf 15 . Vor allem kennt aber der schriftliche Sprachgebrauch jene Traditionen der Vertextung, die wir als Textsorten bezeichnen. Nach Michail M. Bachtin (zit. bei Krause 2000, 18) würden wir allerdings selbst in „ihrer ungezwungensten mündlichen Variante“ unsere Rede in Redegenres „gießen“. Dies scheint mir zweifelhaft. Eigentliche mündliche Redegenres wie das Märchen oder der Witz gibt es heute eher wenige. Die traditionellen Gesellschaften kannten noch eine mündlich überlieferte Literatur. Für die Mündlichkeit wie für die Schriftlichkeit gelten dagegen jene pragmatischen Verknüpfungsregeln, mit denen wir uns hier befassen werden. 15 In der elektronischen Kommunikation hat sich neuerdings der Gebrauch von Emotikonen (smileys) verbreitet, welche die Mimik nachahmen. <?page no="61"?> 49 Textsorten sind vor allem für die Schriftlichkeit charakteristisch. Sie privilegieren bestimmte Ausdrucksformen und vermeiden andere. Fachtextsorten können sogar ihre eigenen Ausdrucksmittel entwickeln. Von da ist es zur Herausbildung einer Hochsprache nur noch ein Schritt. Er besteht darin, dass man eine oder mehrere Textsorten zum Muster eines „gehobenen“ Sprachgebrauchs macht. Traditionellerweise kam diese Aufgabe dem literarischen Sprachgebrauch zu. Ein zweiter Schritt führt dann zur Kodifikation dieser Hochsprache. Es kommt hinzu, dass zu einer Zeit, als der Schulbesuch noch nicht obligatorisch war, die Hochsprache einem privilegierten Teil der Bevölkerung vorbehalten war. Damals handelt es sich vor allem um eine Opposition zwischen Hochsprache und Dialekt und diese gehörte zur Diastratie, d.h. zum schichtspezifischen Sprachgebrauch. Dank der Demokratisierung der Schulbildung ist das Problem der Stilregister aber weitgehend zu einem solchen der Diaphasie, d.h. der Anpassung an die Sprechsituation, geworden. Das bedeutet, dass der gleiche Sprecher oder die gleiche Sprecherin je nach Sprechsituation verschiedene Register zur Verfügung hat oder — wie in der deutschsprachigen Schweiz — sogar vom Dialekt zur Standardsprache wechseln kann. 5.8 Von der Literaturzur Fachsprache Jene Tradition, welche die Literatursprache zur Hochsprache machte, ist heute in Frage gestellt. In der Gegenwartsliteratur ist der Gebrauch einer saloppen oder gar vulgären Ausdrucksweise kein Tabu mehr. Gleichzeitig haben die Fachsprachen in Wissenschaft und Verwaltung ihren eigenen Stil entwickelt. Dieser lässt sich als Nominalstil charakterisieren. Häufig sind darin die Nominalisierungen, d.h. die Substantive, die aus Verben und Adjektiven hervorgegangen sind. Die Auswahl der Verben beschränkt sich dagegen weitgehend auf einige Funktionsverben wie eintreten, beginnen, bewirken, bedingen usw. Aus (5.10) Volljährig ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat wird so (5.10’) Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein (BGB, § 2) Das ist gewiss nicht schöner, ja es ist nicht einmal kürzer als der traditionelle Verbalstil, obwohl im Zusammenhang mit dem Nominalstil immer wieder von einer verdichteten Sprache die Rede ist. Der Nominalstil entspricht vielmehr der Tendenz, möglichst abstrakt und generell zu formulieren. Gelegentlich ist es aber nicht einfach, den Nominalstil in einen Verbalstil zurückzuverwandeln: (5.11) Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit Vollendung der Geburt (BGB, § 1) <?page no="62"?> 50 Man kann sich fragen, in welchem Augenblick die Geburt vollendet ist. Deshalb ist dieser Satz nicht gerade ein stilistisches Meisterstück. Wir wollen deshalb auch keine Alternative vorschlagen. Trotzdem hat sich dieser Nominalstil in den letzten 150 Jahren in der Wissenschafts- und Verwaltungsrede verschiedener Sprachen in zunehmendem Maße durchgesetzt (cf. Admoni 1990, 245ss. für das Deutsche oder Kaehlbrandt 1989 für das Französische). Dabei ist er in Deutschland immer wieder kritisiert worden (cf. z.B. Polenz 1985, 24-40). Im sonst so puristischen Frankreich, wo die sprachliche Abstraktion Tradition hat, ist eine solche Kritik dagegen ausgeblieben. Früher war der literarische Stil das Vorbild für die Schriftlichkeit; heute ist ihm mit dem Stil der Wissenschafts- und Verwaltungstexte ein Konkurrent erwachsen. <?page no="63"?> 51 6 Sätze zerlegen Wir haben bisher den propositionalen Gehalt als eine reine Prädikat-Argument- Struktur dargestellt. Hier soll zunächst auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Argument und Prädikat hingewiesen werden. Nur die Argumente können einen realen Bezugsgegenstand oder Referenten bezeichnen, wozu es aber eines besonderen Sprechakts, des Referenzaktes, bedarf. Beziehen sich mehrere Argumente in einem Text auf den gleichen Referenten, so entsteht eine Koreferenz, die für die textliche Kohäsion wichtig ist. In einem zweiten Teil geht es dann um den Begriff des Prädikats. Adverbien und Adverbialen käme in einem logischen Kalkül die Funktion von Prädikaten zu. Es handelt sich in diesem Fall allerdings nicht um eigentliche Sprechakte mit einer eigenen illokutiven Kraft. Dies trifft dagegen auf die Apposition zu, wobei zu diskutieren ist, was wir als Apposition verstehen wollen. 6.1 Prädikate und Argumente Ein Sprechakt besteht aus einer illokutiven Kraft F und einem propositionalen Gehalt, der sich seinerseits aus einem Prädikat und einer variablen Anzahl von Argumenten, a 1 , a 2 , a 3 ... zusammensetzt. Daraus ergibt sich die Formel: F (P (a 1 , a 2 , a 3 ...)) Nach der klassischen Zeichentheorie haben aber Zeichen nicht nur eine Bedeutung, sondern beziehen sich auch auf konkrete Bezugsobjekte, die so genannten Referenten. In Wirklichkeit gilt dies allerdings nur für die Argumente. Dass die illokutive Kraft kein konkretes Bezugsobjekt hat, ist einleuchtend. Searle (1971, 150-195) hat aber überzeugend dargelegt, dass dies auch auf die Prädikate zutrifft. Wir haben nie das Aufstehen oder das Gehen als solches gesehen, sondern nur immer Personen oder Tiere, die aufstanden oder gingen. Aufstehen und Gehen sind deshalb abstrakte Konzepte, die nicht für sich alleine, sondern bloß zusammen mit einer handelnden Person eine konkrete Wirklichkeit bezeichnen können 16 . Selbst im Fall der Argumente haben nur die so genannten konkreten Substantive einen wirklichen Bezugsgegenstand und dies längst nicht in allen Verwendungen. So besteht kein direkter Bezug zur Wirklichkeit, wenn sie generalisierend gebraucht werden; dann bezeichnen sie die gesamte Spezies beziehungsweise die Vorstellung, die wir uns von ihr machen: (6.1) Katzen sind verspielt Komplexer ist der indefinite Gebrauch: 16 Das gilt grundsätzlich auch für das Prädikatsnomen. In Verdi war Komponist ist Komponist sein kein Referent, sondern eine Eigenschaft. Dies verhält sich allerdings anders, wenn das Prädikatsnomen determiniert ist: Verdi war der Komponist von ‚Aida’. In diesem Fall sind Subjekt und Prädikatsnomen miteinander vertauschbar und damit funktionell gleichgestellt: Der gegebene Satz ist äquivalent mit Der Komponist von ‚Aida’ ist Verdi. <?page no="64"?> 52 (6.2) Heute Morgen ist mir eine schwarze Katze über den Weg gelaufen Wenn wir einmal annehmen, es handle sich nicht um eine Fiktion, so geht es für S um eine ganz bestimmte Katze, nicht aber für A, die/ der diese Katze ja gar nicht gesehen hat. A muss sich diese Katze selbst vorstellen, so wie sie/ er dies auch tun müsste, wenn es sich um eine fiktionalen Text handelte. Damit auch A ein Substantiv mit einem konkreten Lebewesen, einem konkreten Gegenstand oder einer konkreten Situation identifizieren kann, braucht es das, was Searle (1982, 114-149) einen Referenzakt nennt. 6.2 Der Referenzakt Um den Referenzakt zu vollziehen, müssen S und A das betreffende Lebewesen oder den betreffenden Gegenstand bereits kennen oder das Lebewesen oder der Gegenstand muss in der betreffenden Sprechsituation selber anwesend sein, so dass S darauf hinweisen kann. Im Einzelnen gibt es drei sprachliche Möglichkeiten: • Eigennamen. Nach der Definition von Saul Kripke (1972) ist der Eigenname ein rigid designator, der direkt auf einen Referenten verweist. Das ist aber nur bedingt richtig. Da oft mehrere Personen den gleichen Namen tragen, funktionieren Eigennamen einzig als rigid designators in einem zwischen den Gesprächsteilnehmerinnen und teilnehmer auszuhandelnden Umfeld. In der Logik kennt man in diesem Zusammenhang den Begriff des universe of discourse 17 . Ähnliches kann auch für Ausdrücke wie der Präsident oder der Kardinal gelten. Gleichzeitig verbinden sich Eigennamen aber auch mit gewissen Vorstellungen, weshalb sie gelegentlich wie Gattungsnamen gebraucht werden. Wenn man z.B. sagt (6.3) Unter den heutigen Komponisten befindet sich kein neuer Mozart so ist damit nicht der Komponist, der von 1756 bis 1791 gelebt hat, gemeint, sondern das Talent und die Frühreife ebendieses Kompo- nisten. • Komplexe Nominalsyntagmen, die genügend Informationen enthalten um das gemeinte Bezugsobjekt zu identifizieren wie „der Nachfolger von Konrad Adenauer“ oder „der Papst, der das 2. Vatikanische Konzil einberufen hat“. Auch hier hängt die Frage, wie viele Informationen notwendig sind, von der jeweiligen Kommunikationssituation, vom universe of discourse ab. Eine Angabe wie „die Türe 17 Cf. Givón 1984, 388: „The study of human language(s) suggests that reference relations are not a mapping of propositions of terms in a language onto the Real World, but rather a mapping from the language to some Universe of Discourse. This universe of discourse is constructed or negotiated between speaker and hearer, and communication then refers to states, events or individuals within that constructed world.“ <?page no="65"?> 53 rechts hinten“ kann in einer bestimmten Kommunikationssituation zur Identifikation ausreichen, nicht aber außerhalb dieser Situation. • Deiktika haben von Natur aus die Aufgabe, eine Beziehung zur Wirklichkeit herzustellen. Dazu gehören o die Demonstrativpronomen, o die persönlichen Deiktika ich, du; mich, dich usw., o die örtlichen Deiktika hier, dort usw. o die zeitlichen Deiktika heute, morgen, gestern; jetzt, kürzlich, demnächst usw. Die Deiktika sind erst recht an die Kommunikationssituation gebunden. Konrad Ehlich (1983, 93) definiert sie als „sprachliche Einheiten, durch die ein Sprecher S eine Verweisung innerhalb eines Verweisraums vornimmt“. Zugleich richten sie eine Aufforderung an den „Hörer H, diese Fokalisierung ebenfalls zu vollziehen“ 18 . 6.3 Die Koreferenz In einem Text ist jedoch häufig vom gleichen Referenten mehrfach die Rede. Man spricht in diesem Fall von einer Koreferenz. Diese ist ein wichtiges Mittel der textlichen Kohäsion. So ist im Text (5.3) immer wieder von der gleichen Person, nämlich vom Radprofi Jan Ullrich die Rede: (6.4) Der unter Dopingverdacht stehende Radprofi Jan Ullrich hat seinen Rücktritt erklärt. Der 33 Jahre alte Tour-de-France-Sieger von 1997 verkündete am Montag (26.02.07) bei einer Pressekonferenz in einem Hamburger Hotel seinen Rückzug vom Leistungssport. Seit seiner Suspendierung am 30. Juni 2006 kurz vor dem Start der Tour de France bestritt Ullrich kein Rennen mehr. (nach http: / / sport.ard.de/ 27.02.07) Die Wiederaufnahme des Referenten erfolgt hier zunächst durch die Umschreibung der 33 Jahre alte Tour-de-France-Sieger von 1997, dann durch die beiden Possessivpronomen seinen und seine und zuletzt durch die Wiederholung seines Namens. Damit kommen in diesem Text alle drei Formen der Koreferenz vor: • Pronominalisierung: Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die grammatische Kategorie der Pronomen nicht homogen ist. Die Pronomen der ersten beiden Personen nehmen auf die Kommunikationssituation Bezug und gehören zu den Deiktika. Nur die Pronomen der dritten Person, die Emile Benveniste (1966, 251-257) non-personne nannte, beziehen sich auf im Text genannte Referenten. • Renominalisierung: Gemeint sind damit Umschreibungen wie der Autor von ‚Hamlet’ für Shakespeare. Der bestimmte Artikel deutet zwar 18 Insofern sie eine Aufforderung an A enthalten, kann man die Deiktika als eine Art von direktiven Sprechakten betrachten (cf. Wüest 1995). <?page no="66"?> 54 an, dass der zweite Ausdruck auf schon Bekanntes referiert, es sind aber trotzdem sehr oft das Weltwissen von A gefordert, um die Koreferenz herzustellen. • Rekurrenz: Hier geht es um die Wiederholung eines Namens oder eines Nominalsyntagmas, wobei es im letzteren Fall allerdings häufig zu einem Artikelwechsel kommt: (6.5) Ich sah einen Hund. Der Hund kam auf mich zu. Man spricht von Anaphern bei Referenten, die auf einen früher genannten Referenten zurückverweisen 19 , und von Kataphern bei solchen, die auf einen erst später ausführlich benannten Referenten voraus verweisen. Gewiss haben die Pronomen der dritten Person zumeist eine anaphorische und gelegentlich eine kataphorische Funktion. Trotzdem wäre es falsch, die Anapher als eine Wortart zu verstehen; sie ist eine Textfunktion. Dabei sind die Übergänge zwischen Anapher und Deixis fließend. In (6.6) wird so das Demonstrativpronomen deiktisch, in (6.6’) aber anaphorisch gebraucht: (6.6) (auf eine Person deutend) Diese muss es gewesen sein (6.6’) Ich habe nur eine Person gesehen. Diese muss es gewesen sein Außerdem sind es nicht die Anaphern selber, welche die Beziehung zwischen zwei Referenten herstellen. Sie sind nur Indizien für eine solche Beziehung und müssen noch interpretiert werden. Gelegentlich ist ihre Interpretation schwierig: (6.7) Arthur sah Heinz. Er begrüßte ihn. (6.7’) Arthur sah Heinz. Er war tief in Gedanken versunken In (6.7) ist es nicht auszumachen, wer wen begrüßte, Arthur Heinz oder Heinz Arthur. In (6.7’) muss mit er dagegen Heinz gemeint sein, denn wenn jemand tief in Gedanken versunken ist, nimmt er seine Umgebung nicht war. Wenn also Arthur tief in Gedanken versunken gewesen wäre, so hätte er Heinz nicht wahrgenommen. 6.4 Die dynamische Semantik Die Koreferenz ist ein Problem der Textsemantik. Diese Tatsache haben sich Hans Kamp in seiner Discourse Representation Theory und Irene Heim in ihrer File Change Semantics zunutze gemacht, um eine dynamische Semantik zu entwickeln. Es geht dabei darum, dass jedes Mal, wenn ein Referent in einem Text auftaucht, wir wieder neue Informationen über ihn erhalten. So können 19 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass man auch von Anaphern spricht, wenn sich Anapher und Antezedent im Verhältnis eines Teils zum Ganzen befinden: Das Auto hielt an. Die Türe öffnete sich (cf. auch Kap. 8.3). Wird auf einen Textteil verwiesen (weiter oben, im folgenden Kapitel), so spricht man von einer Textdeixis. <?page no="67"?> 55 wir uns nach und nach ein immer genaueres Bild von ihm machen. Im Text (6.4) erfahren wir so vom Radprofi Jan Ullrich, dass er seinen Rücktritt vom Radsport erklärt hat, ferner — sofern wir es nicht schon wissen — dass er unter Dopingverdacht steht, dass er 2007 33 Jahre alt war, dass er am Montag, 26/ 02/ 07, eine Pressekonferenz in einem Hamburger Hotel gegeben hat, dass er 1997 die Tour de France gewonnen hat, dass er am 30. Juni 2006 suspendiert wurde und seither kein Rennen mehr bestritten hat. In den genannten Theorien werden alle diese Angaben auf einer Art Karteikarte eingetragen. Diese würde im Falle von (6.4) wie folgt aussehen: x x heißt Jan Ullrich x ist Radprofi x steht unter Dopingverdacht x hat den Rücktritt vom Radsport erklärt x hat die Tour-de-France 1997 gewonnen … Solche Karteikarten lassen sich allerdings auch für fiktive Personen wie die Mitglieder der Familie Buddenbrook bei Thomas Mann herstellen. Es geht also auch hier nicht notwendigerweise um den Bezug zur Realität, sondern vielmehr um den Aufbau jenes propositionalen Wissens, über das wir von einer realen oder fiktiven Person verfügen (cf. Kap. 2.5). Selbst bei fiktiven Personen entwickeln wir oft zusätzlich ein mentales Bild von ihnen und sind dann bei einer Romanverfilmung enttäuscht, wenn die Darstellerinnen und Darsteller diesem Bild nicht entsprechen. 6.5 Adverbien und Adverbiale Nun haben jedoch nicht alle vom Prädikat abhängigen Satzglieder den Status von Referenten. Lucien Tesnière (1959) hat diese Satzglieder in seiner Dependenzgrammatik in Ergänzungen (actants) und Angaben (circonstants) unterteilt. Dabei sind die Angaben ihrem Wesen nach Adverbien oder Präpositionalsyntagmen mit der Funktion von Adverbien, die Ergänzungen aber Substantive (Tesnière 1959, 103, 125). Leider hält sich Tesnière nicht an diese an und für sich richtige Unterscheidung, sondern identifiziert dann seine actants mit den drei Kategorien sujet, complément d’objet direct und complément d’objet indirect der französischen Grammatik. Tatsächlich ist das Kriterium der Adverbialität entscheidend. Man betrachte einmal die folgenden beiden Sätze: (6.8) Anna verletzte Hans mit einem Messer (6.8’) Anna verletzte Hans mit Absicht <?page no="68"?> 56 Obwohl in beiden Fällen die Präposition mit verwendet wird, handelt es sich in funktioneller Hinsicht um zwei ganz verschiedene Konstruktionen. Nur mit Absicht in (6.8’) hat eine adverbiale Funktion. Das Syntagma kann auch leicht durch das Adverb absichtlich ersetzen werden, während für mit einem Messer keine adverbiale Konstruktion zur Verfügung steht. Außerdem kann man die Absicht im Gegensatz zum Messer nicht als einen Referenten betrachten. Damit kommt nur dem Messer in (6.8) die Funktion eines Arguments zu. Nun gibt es allerdings verschiedene Arten von Adverbien. Prädikatsadverbien sind jene Art von Adverbien, die im Negativsatz immer nach der Negation stehen 20 : (6.9) Anna verletzte Hans nicht schwer (6.10) Komm nicht alleine! Die Stellung der Negation nach dem Adverb wäre hier gänzlich unmöglich: (6.9’) * Anna verletzte Hans schwer nicht (6.10’) * Komm alleine nicht! In einer atomistischen Prädikatenlogik müssten diese Sätze durch zwei Propositionen wiedergegeben werden, nämlich „Anna verletzte Hans“ und „Die Verletzung war nicht schwer“ beziehungsweise „Komm! “ und „Sei nicht alleine“. Vom Standpunkt der Sprechakttheorie drängt sich diese Behandlung aber nicht auf, denn beide Propositionen unterstehen der gleichen illokutiven Kraft, einer assertiven in (6.9) und einer direktiven in (6.10). Satzadverbien sind dagegen jene Art von Adverbien, die im Negativsatz immer vor der Negation stehen: (6.11) a. Wahrscheinlich/ Glücklicherweise kenne ich Anna nicht b. Ich kenne Anna wahrscheinlich/ glücklicherweise nicht Völlig unmöglich wäre in diesem Fall die Stellung nach der Negation: c. * Ich kenne Anna nicht wahrscheinlich/ glücklicherweise Satzadverbien beziehen sich auf den Inhalt des gesamten Satzes und haben zumeist eine illokutive Funktion. Adverbien wie wahrscheinlich, vielleicht, sicherlich, unbestreitbar usw. präzisieren die assertive Illokution; solche wie (un)glücklicherweise oder merkwürdigerweise sind der Ausdruck einer expressiven Illokution. Im Französischen ist sehr viel über eine semantisch-syntaktische Klassifikation der Adverbien geforscht worden und dabei ist eine große Anzahl von Unterklassen entdeckt worden 21 . Wir erwähnen hier nur noch eine weitere Klasse, da sie im folgenden Kapitel eine wichtige Rolle spielen wird. Es han- 20 Wir übernehmen hier die Unterscheidungen von Christina Helder (1981), adaptieren sie aber an die deutsche Negation, die zum Teil anders funktioniert als die französische. 21 Cf. vor allem Mørdrup 1976, Schlyter 1977, Nojgaard 1992, Guimier 1996, Molinier/ Levrier 2000, Gezundhait 2000. <?page no="69"?> 57 delt sich um jene Adverbien, die sowohl vor wie nach der Negation stehen können: (6.12) a. Die Post kommt am Sonntag nicht b. Die Post kommt nicht am Sonntag Es ist allerdings zuzugeben, dass Satz (6.12b) unvollständig wirkt und eigentlich nach einer Fortsetzung wie „sondern nur werktags“ verlangt. Diese Adverbien geben einen Rahmen an, innerhalb dessen eine Aussage zutrifft. Im Anschluss an Susanne Schlyter (1977) und Christina Heldner (1981) möchte ich sie deshalb als Rahmenangaben (cf. auch Wüest 1986) bezeichnen. Sie lassen sich aufteilen in: • Zeitangaben (heute, morgen; kürzlich, derzeit; letztes Wochenende, vor 7 Jahren, im Jahre 2050 usw.) • Ortsangaben (hier, dort; unter dem Tisch, in Paris, zwischen Zürich und Bern usw.). • Angabe von Domänen (innerlich, äußerlich; im amerikanischen Fußball, in meinem Traum, nach Aristoteles usw.) Es ist allerdings festzuhalten, dass es zwei Arten von Ortsangaben gibt, die sich wiederum aufgrund ihres Verhaltens zur Negation unterscheiden lassen: (6.13) a. Die Sonne scheint im Norden der Alpen nicht b. Die Sonne scheint nicht im Norden der Alpen (aber im Tessin) (6.14) a. Lugano liegt nicht im Norden der Alpen b. * Lugano liegt im Norden der Alpen nicht In (6.13) haben wir es mit einer Rahmenangabe zu tun, in (6.14) aber nicht. In diesem letzteren Fall handelt es sich vielmehr um eine obligatorische Ergänzung, denn „Lugano liegt“ wäre ein unvollständiger Satz. 6.6 Komplexe Sätze Wir können festhalten, dass Adverbien und Adverbiale grundsätzlich nie den Gegenstand eigener Sprechakte bilden. Ein Problem ergibt sich allerdings bei den Umstandssätzen, die eigentlich auch eine adverbiale Funktion haben: (6.15) a. Um neun Uhr öffneten sich die Türen b. Als es neun Uhr war, öffneten sich die Türen c. Als die Glocke neun Uhr schlug, öffneten sich die Türen In (6.15a) haben wir es mit einer Rahmenangabe zu tun, in (6.15b) und (6.15c) aber eigentlich auch. (6. 5 1 b) ist dabei um nichts informativer als (6.15a). Der Temporalsatz hat hier deshalb keine andere Funktion als diejenige einer Rahmenangabe. Der Fall von (6.15c) ist dagegen komplexer, denn in diesem Fall ist der Temporalsatz nicht nur eine Rahmenangabe, sondern enthält die <?page no="70"?> 58 zusätzliche Aussage, dass es eine Glocke war, die neun Uhr schlug. Wir haben es in diesem Fall deshalb mit einem zusätzlichen Sprechakt zu tun. Im Falle eines Kausalsatzes haben wir es dagegen nicht nur mit zwei, sondern sogar mit drei (assertiven) Sprechakten zu tun (cf. auch Kap. 13.2): (6.16) Die Exkursion findet nicht statt, weil der Leiter erkrankt ist bedeutet nämlich: (a) die Exkursion findet nicht statt, (b) der Leiter (der Exkursion) ist erkrankt und (c) (b) ist der Grund für (a). Betrachten wir nunmehr die Sätze (6.16’) und (6.16”) (6.16’) Wegen der Erkrankung des Leiters findet die Exkursion nicht statt (6.16”) Die Erkrankung des Leiters ist der Grund für den Ausfall der Exkursion so müssen diesen beiden Sätzen die gleichen drei Assertionen wie in (6.16) zugrunde liegen 22 . Wir haben es im Fall von Erkrankung und Ausfall mit satzwertigen Nominalisierungen zu tun, die als eigenständige Sprechakte behandelt werden müssen. Das zeigt nur, dass wir uns bei der logischen Analyse von Sätzen nicht auf deren grammatische Struktur verlassen können. 6.7 Appositionen In allen Fällen als eigene Sprechakte zu werten sind dagegen die Appositionen. Im Falle von (6.17) a. Kennst du X, den Sieger von Wimbledon? b. Ich möchte X, den Sieger von Wimbledon, kennenlernen c. Ich bewundere X, den Sieger von Wimbledon haben wir es in (a) mit einem Fragesatz, in (b) mit einem Wunschsatz, also mit zwei direktiven Sprechakten, und in (c) mit einem expressiven Sprechakt zu tun. Davon unberührt enthält jeder dieser Sätze die Assertion, dass X der Sieger von Wimbledon ist. Die Apposition kann somit eine andere illokutive Kraft haben als der übergeordnete Satz und bildet deshalb einen eigenen Sprechakt. Die Frage ist in diesem Fall vielmehr, was als Apposition gelten darf. So unterscheidet die französische und die englische Grammatik zwischen appositiven (oder explikativen) und restriktiven (oder determinativen) Relativsätzen. Die ersteren haben zwischen Kommas zu stehen, die letzteren nicht. Der Unterschied lässt sich am schönen Beispiel von Georges Kleiber zeigen: (6.18) a. Les Alsaciens, qui boivent de la bière, sont obèses b. Les Alsaciens qui boivent de la bière sont obèses 22 Dieser Meinung sind auch Rubattel (1987) und Roulet et al. (2001, 58-71). <?page no="71"?> 59 In (6.18a) werden zwei Aussagen von den Elsässern gemacht, nämlich dass sie Biertrinker und korpulent sind. In (6.18b) trifft die Aussage von der Korpulenz nur auf die Biertrinker unter den Elsässern zu. Diese Unterscheidung ist angefochten worden (cf. Kleiber 1987). Dabei bestand das Problem in erster Linie wohl darin, dass restriktiv nicht gleichbedeutend mit individualisierend ist, d.h. dass ein restriktiver Relativsatz nicht notwendigerweise erlaubt, einen Referenzakt zu vollziehen, welcher eine eindeutige Identifikation mit einem oder mehreren Referenten ermöglicht. Es können aber auch die Adjektive appositiv oder restriktiv gebraucht werden (cf. Kleiber 1987, 121s.). Schon die Grammaire de Port-Royal (Arnauld/ Lancelot 1660, 68) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Satz (6.19) Dieu invisible a créé le monde visible nicht weniger als drei Aussagen enthält, eine übergeordnete („Gott hat die Welt erschaffen“) und zwei untergeordnete („Gott ist unsichtbar“ und „Die Welt ist sichtbar“). Hier handelt es sich freilich dreimal um assertive Akte. In (6.20) Das geschockte Publikum buhte den unfähigen Regisseur aus haben wir es dagegen mit einem assertiven Sprechakt zu tun, dem sich ein expressiver Akt („Das Publikum war geschockt“) und ein axiologischer Akt („Der Regisseur war unfähig“) unterordnen. Durch appositive Adjektive lassen sich auf diese Weise Subjektivismen in einen Text einbauen (cf. auch Kap. 22.3). Freilich hängt die Abgrenzung zwischen appositiven und restriktiven Adjektiven wiederum von unserer Interpretation eines Textes ab. Indem Kintsch/ Keenan (1973) in ihrem berühmten Experiment (cf. Kap. 3.2.1) alle Ergänzungen von Substantiven immer als eine eigene Proposition verstanden, behandelten sie in Wirklichkeit alle diese Konstruktionen als appositiv. Betrachten wir nochmals den Satz (3.1) Romulus, the legendary founder of Rome, took the women of Sabine by force Nach Kintsch/ Keenen enthielte dieser Satz vier Propositionen, nämlich 1 (TOOK, ROMULUS, WOMEN, BY FORCE) 2 (FOUND, ROMULUS, ROME) 3 (LEGENDARY, ROMULUS) 4 (SABINE, WOMEN) Von den untergeordneten Propositionen ist die Nummer 2 (Romulus gründete Rom) unanfechtbar. Sie entspricht der Apposition in Satz (3.1). Schon Proposition 3 (Romulus ist legendär) ist dagegen problematisch. Grammatisch bezieht sich das Adjektiv gar nicht auf Romulus, sondern auf founder. In Wirklichkeit ist wohl gemeint, dass die Gründung von Rom durch Romulus eine Legende ist. Völlig unglücklich ist die vierte Proposition. Es wird ja nicht gesagt, dass (allgemein) Frauen aus Sabinien stammen, sondern, dass es sich um bestimm- <?page no="72"?> 60 te Frauen handelte, nämlich um solche aus Sabinien. Die nominale Ergänzung of Sabine hat hier eindeutig eine restriktive Funktion. Ich möchte deshalb Substantive mit restriktiven Ergänzungen als komplexe Argumente verstehen und nicht als eigene Propositionen oder gar Sprechakte. Dabei darf man festhalten, dass nominal ergänzte Nominalsyntagmen wie die Brücke über den Rhein, Barbarossas Bart oder eben the women of Sabine immer restriktiv sind. <?page no="73"?> 61 7 Sprache und Denken Damit kommen wir zum Problem von Sprache und Denken. Die Aufrichtigkeitsbedingungen der Sprechakte stellen einen Bezug zu unserem Denken her und wir postulieren deshalb, dass dieses ähnlich strukturiert sein muss. Wir lassen uns dabei von Gilles Fauconniers Theorie der mentalen Räume leiten, für die wir aber gewisse Ergänzungen vorschlagen. Nicht nur für die Sprechakte muss es verschiedene mentale Räume geben. Es muss auch hypothetische und sogar fiktionale Räume geben. Auf dieser Basis werden wir eine Reihe von Problemen zu lösen versuchen, insbesondere dasjenige der Präsupposition. Dabei werden wir die Ansicht vertreten, dass nicht alle Phänomene, die unter dem Namen Präsupposition bekannt sind, gleich behandelt werden können. Typische Präsuppositionen sind für uns propositionale Inhalte, die einem bestimmten assertiven mentalen Raum angehören, die aber nicht den Gegenstand eines expliziten Sprechaktes bilden. 7.1 Die Theorie der mentalen Räume Bei der Interpretation eines Textes geht es nicht nur darum, was jemand gesagt hat, sondern vor allem darum, was er damit gemeint hat. Dabei sind es die Aufrichtigkeitsbedingungen der Sprechakte die einen Bezug zwischen Sprache und Denken unter der Voraussetzung herstellen, dass S aufrichtig ist. Selbst wenn diese Bedingung erfüllt ist, sagt ein Text aber nicht aus, was der Fall ist, sondern bloß, was S glaubt, dass der Fall sei. Robert Martin (1987) hat dafür den treffenden Ausdruck eines univers de croyance geschaffen. Darin finden freilich nur die assertiven Sprechakte ihre Entsprechung. Der geeignetste Ansatz scheint mir deshalb immer noch Gilles Fauconniers (1984) Theorie der mentalen Räume zu sein. Auch bei Fauconnier steht allerdings der Referenzraum R, der dem entspricht, was der Sprecher oder die Sprecherin für die Wirklichkeit hält, im Mittelpunkt. Daneben erwähnt er ganz kurz einen Raum des Wollens (1984, 53), der einem direktiven Sprechakt entspricht. Wir brauchen aber mentale Räume für alle Sprechakte mit Ausnahme des deklarativen, der keine Aufrichtigkeitsbedingung kennt. Wir brauchen mentale Räume für das, was man zu tun gedenkt (kommissive Sprechakte), ferner solche für Gefühle (expressive Sprechakte) und Wertungen (axiologische Sprechakte). Fauconnier ging es zunächst darum, das Funktionieren von zugegebenermaßen etwas merkwürdigen Sätzen zu erklären. Dazu kann man etwa McCawleys (1981) Beispiel rechnen: (7.1) I dreamed that I was Brigitte Bardot and I kissed me Das ich gehört hier sozusagen zwei Räumen an, einerseits der realen Welt, andererseits aber einer Traumwelt, in der die gleiche Person als Brigitte Bardot verwandelt erscheint, wobei im Traum die letztere Person die erstere küsste. In der Theorie der mentalen Räume würde der Ausdruck „I dreamed <?page no="74"?> 62 that“ als ein Operator verstanden, der einen zusätzlichen Raum einführt. Fauconnier nennt solche Operatoren introducteur d’espace und in der englischen Ausgabe space builder. Ähnlich funktioniert Fauconniers eigenes Beispiel (7.2) Im Jahre 1943 war der Präsident ein Säugling Es ist offensichtlich nicht gemeint, dass das Land im Jahre 1943 von einem Säugling regiert wurde, sondern dass der gegenwärtige Präsident im Jahre 1943 noch ein Säugling war. Hier haben wir es demnach mit zwei zeitlichen Räumen zu tun, dem Raum R, welcher dem Hier und Jetzt entspricht, und einem durch den space builder „im Jahre 1943“ eingeleiteten Raum M, wobei die gleiche Person im Raum R als Präsident (a) und im Raum M als Säugling (b) vorkommt. R M Aus diesem Beispiel geht hervor, dass Fauconnier nur das dem Referenzraum R zuweist, was S hier und jetzt für die Wirklichkeit hält, denn auch die Tatsache, dass der jetzige Präsident 1943 noch ein Säugling war, gehört zu dem, was man für die Wirklichkeit hält. Es ergibt sich so die Notwendigkeit, dass jener mentale Raum, der den assertiven Sprechakten entspricht, sich in Teilräume aufteilen lässt. Dabei erscheint durchaus das, wovon man glaubt, dass es hier und jetzt der Wirklichkeit entspricht, als der zentrale Raum R, für den wir keinen space builder benötigen. Der space builder „im Jahre 1943“ gehört dagegen zu jenen Rahmenangaben, von denen in Kapitel 6.5 die Rede war. Das ist kein Zufall, denn es ist die eigentliche Aufgabe der Rahmenangaben, solche Teilräume zu erschließen. Diese lassen sich damit in örtliche und zeitliche Räume, sowie in Domänen einteilen. Was die zeitlichen Räume betrifft, so können auch die grammatischen Tempora bis zu einem gewissen Grad diese Funktion übernehmen. 7.2 Hypothetische und fiktionale Räume Ausgesprochen ausführlich behandelt Fauconnier (1984, 51-52, 141-165) eine weitere Art von Räumen, die keinem Sprechakt in Searles Klassifikation entsprechen. Es handelt sich um hypothetische Räume. Sie können durch Operatob a b Im Jahre 1943 <?page no="75"?> 63 ren wie vielleicht oder Es ist möglich, dass ... eingeführt werden. Ein realer Bedingungssatz wie (7.3) Wenn ich in der Lotterie gewinne, kaufe ich mir ein neues Auto eröffnet ebenfalls einen hypothetischen Raum H, in dem (p) ich gewinne in der Lotterie und (q) ich kaufe mir ein neues Auto in einem Kausalverhältnis (p q) zueinander stehen. Gleiches gilt auch für den irrealen Bedingungssatz: (7.4) Wenn ich in der Lotterie gewonnen hätte, würde ich mir eine neues Auto kaufen R H Hier kommt allerdings dazu, dass im Raum R der „Wahrheit“ des Sprechers zugleich die negativen Aussagen (~ p) ich habe nicht in der Lotterie gewonnen und (~ q) ich kaufe mir kein neues Auto zu stehen kommen. Das Bilden von Hypothesen darf dabei als eine essentielle kreative Fähigkeit des menschlichen Geistes verstanden werden, die es erlaubt, sich Dinge vorzustellen, die man nie gesehen hat oder die es gar nicht gibt. Insofern ist das hypothetische Denken der Fiktion verwandt (cf. Jacquenod 1988, 80-84). Dabei ist die Fiktion für den Logiker ein Problem, weil sie sich der gleichen assertiven Sätze bedient wie ein Diskurs mit Wahrheitsanspruch. John R. Searle (1979, 65/ 1982, 86) hat dieses Problem dadurch zu lösen versucht, dass er sagte, der Autor oder die Autorin eines fiktionalen Textes „gebe vor“ (pretends), assertive Sprechakte zu äußern. Diese Interpretation ist in den wesentlichen Zügen auch von Gérard Genette (1991, 41-63) übernommen worden. Herbert H. Clark (1996, 353ss.) geht noch einen Schritt weiter, indem er verschiedene Ebenen (layers) unterscheidet. Dabei geben Autor und Leser beziehungsweise Autorin und Leserin auf Ebene 1 gemeinsam vor (jointly pretend), dass die Handlung auf Ebene 2 stattfindet. Davon abgesehen funktioniert die Rezeption einer fiktiven Erzählung nicht wesentlich anders als diejenige eines historischen Werks, das uns beispielsweise die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs erzählt. In beiden Fällen sind Leserinnen und Leser aufgefordert, von dem, was sie lesen, sich eine Vorstellung zu machen. Der Unterschied besteht einzig darin, dass man die Darstellung des Historikers mit derjenigen anderer Historiker und allenfalls sogar mit den Originalquellen vergleichen kann, um festzustellen, ob die Darstellung historisch ist. p q ~q ~ p <?page no="76"?> 64 7.3 Verneinungen und Fragen Das Modell der espaces mentaux von Fauconnier und des univers de croyance von Robert Martin sind sich inhaltlich ähnlich. Von Martin (1989) würde ich sehr gern die Idee übernehmen, dass assertive Sprechakte nicht nur wahr und falsch sein können, sondern dass es alle Zwischenstufen zwischen wahr und falsch gibt 23 . Das erlaubt es nicht nur, die Modalisierungen (cf. Kap. 5.5) zu berücksichtigen, sondern auch der komplexen Natur von Verneinungen und Fragen gerecht zu werden. So kann man kaum als falsch erklären, was nicht wenigstens vorstellbar ist 24 . In dieser Hinsicht war Walter Ulbrichts berühmter Satz von 1961 (7.5) Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen verräterisch, da er, wenn auch rein implizit, dasjenige als Möglichkeit voraussetzte, was er in Abrede stellte. Deshalb ist es auch schwierig, sich einen Kontext vorzustellen, in dem (7.6a) Sinn machen würde, während das bei (7.6b) kein Problem ist, da ein Wal wie ein Fisch im Meer schwimmt: (7.6) a. ? ? Ein Wal ist kein Vogel b. Ein Wal ist kein Fisch Verneinungen führen so eine zusätzliche mögliche Welt ein, in der das Verneinte möglich ist. Was die Fragen betrifft, so gehört das Verb fragen in der Sprechakttheorie zu den direktiven Sprechakten, da es eine Aufforderung zu antworten enthält. Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Man beachte die Anapher das in der Antwort von B: (7.7) A: Kommt morgen der Weihnachtsmann? B: Das wäre zu schön Auf was bezieht sich die Anapher? Nicht auf die Frage, sondern auf eine Art Assertion „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, die sich hinter der Frage versteckt 25 . Ich bin jedoch nicht mit Martin (1987, 21-25) einverstanden, wenn er der Meinung ist, der Wahrheitsgrad dieser Assertion sei unbestimmt. Es gibt verschiedene Arten, eine Frage zu formulieren, und diese unterscheiden sich durch den Wahrscheinlichkeitsgrad ihres Inhalts. Eine negative Frage wie (7.8) Du bist doch nicht etwa krank? beruht so auf der Annahme, dass der Inhalt der Frage unwahrscheinlich ist. Man nimmt also die erwartete negative Antwort durch die Negation gleichsam schon vorweg. Wenn man dagegen eine Assertion durch ein angehängtes 23 Unglücklich scheint mir dagegen die Idee, den Operator M = möglich in dieses Modell einzubeziehen, denn dieser stammt aus der modalen und nicht aus der alethischen Logik. 24 Cf. auch Ducrot, in: Ducrot et al. (1980, 49-55), Martin (1983, 39). 25 Cf. Martin (1987, 21s.) und Anscombre/ Ducrot (1983, 131s.). <?page no="77"?> 65 nicht wahr? in eine Frage umwandelt, so ist man sich seiner Sache ziemlich sicher und erwartet eine Bestätigung. 7.4 Fremde mentale Räume Nützlich wäre auch Martins (1983, 1987) Begriff des hétéro-univers. Wir kennen nicht nur das, was wir glauben, wollen usw., sondern wir machen auch Annahmen darüber, was unsere Gesprächspartnerinnen und -partner glauben, wollen usw. Diese Annahmen bilden die Grundlage dessen, was man das gemeinsame Wissen nennt (cf. Kap. 1.4). Bei der Rede- und Gedankenwiedergabe werden solche fremde mentale Räume verbalisiert: (7.9) Heidemarie glaubt, sie besitze übernatürliche Kräfte In diesem Fall wird dieser Glauben dem fremden Referenzraum R H von Heidemarie zugeschrieben. In meinem eigenen Referenzraum bleiben diese übernatürlichen Kräfte jedoch zweifelhaft. Sage ich gar (7.9’) Heidemarie wähnt, sie besitze übernatürliche Kräfte so heißt dies, dass die Aussage Heidemarie besitzt übernatürliche Kräfte im Raum R H von Heidemarie wahr, in meinem Raum R dagegen falsch ist, denn was jemand wähnt, entspricht aus der Sicht von S nicht der Wahrheit. Ein einziger Satz kann somit auch hier mit mehreren mentalen Räumen im Bezug stehen. 7.5 Präsuppositionen Fauconniers Theorie der mentalen Räume scheint mir nach wie vor auch die beste Grundlage für das Problem der Präsupposition zu sein (cf. Wüest 1987). Der Begriff der Präsupposition stammt aus der Logik, wo er eine Aussage bezeichnet, die wahr sein muss, damit eine andere Aussage wahr oder falsch werden kann. So präsupponiert sowohl der positive Satz (7.10) Sheilas Kinder sind blond wie auch der negative Satz (7.10’) Sheilas Kinder sind nicht blond dass Sheila Kinder hat. Im folgenden Fall ist es allerdings zweifelhaft, ob diese Präsupposition weiterhin gilt: (7.11) Patrick meint, dass Sheilas Kinder blond sind Man könnte ja beispielsweise weiterfahren mit „dabei hat sie gar keine Kinder“. Als Erster hat Lauri Karttunen (1973) auf solche Probleme aufmerksam gemacht. Sie sind als das Projektionsproblem der Präsupposition bekannt. Im Anschluss an John Austin (1962, chap. 4; cf. auch Sbisà 2007, 25-30) hat man häufig die Präsuppositionen als Gebrauchsbedingungen analog zu den Glückensbedingungen der Sprechakte verstanden. Oswald Ducrot (1972) hat <?page no="78"?> 66 dagegen die Meinung vertreten, es handle sich bei den Präsuppositionen um eine besondere Art von Sprechakten, die nicht negiert werden können, hat aber diese Meinung später wieder abgeschwächt (Ducrot 1977; 1984, 33-46). Mir scheint es dagegen, dass die Präsuppositionen gar keine einheitliche Kategorie bilden, sondern dass man aufgrund eines einzigen Kriteriums, der fehlenden Negierbarkeit, das aber in Einzelfällen gar nicht zutrifft, verschiedene Erscheinungen zu einer einzigen Kategorie zusammengeführt hat. 7.5.1 Kategoriale Präsuppositionen Reine Gebrauchsbedingungen sind die kategorialen Präsuppositionen, die festlegen, mit welchen Kategorien von Argumenten sich ein Prädikat verbinden lässt. Das Verb lesen präsupponiert so etwa, dass sein erstes Argument eine zum Lesen fähige Person (oder allenfalls eine entsprechende Maschine) und sein zweites Argument ein Schriftstück sein muss. Das sind Informationen, die einzig den Gebrauch dieses Verbs betreffen. 7.5.2 Existenzpräsuppositionen Komplex ist das Problem der Existenzpräsupposition. Eine solche kommt grundsätzlich jedem Nominalsyntagma zu. So präsupponiert (7.12) Ein Polizist hat einen Dieb verhaftet, dass es (a) mindestens einen Polizisten und (b) mindestens einen Dieb gibt. Das entspricht der Art wie (7.12) in einem Prädikatenkalkül wiedergegeben würde: x y (POLIZIST (x)) & (DIEB (y)) & (HAFT (x, y)), d.h. „Es gibt mindestens ein x und mindestens ein y, so dass x ein Polizist und y ein Dieb ist und x y verhaftet“. Dies zeigt, dass diese Art von Präsuppositionen sehr stark an ein bestimmtes logisches Modell gebunden ist, denn die Aussagen, dass es mindestens einen Polizisten und mindestens einen Dieb gibt, sind extrem trivial. Dazu kommt die Unbestimmtheit dieser Präsuppositionen außerhalb eines gegebenen Kontexts. Was bedeutet beispielsweise der folgende Satz? (7.13) Der Rektor spricht vom Bau eines neuen Forschungsinstituts Das Nominalsyntagma der Bau eines neuen Instituts lässt sich nicht zeitlich festgelegen. Je nachdem, ob der Bau der Vergangenheit, der Gegenwart oder einer — ungewissen — Zukunft angehört, kann der Satz präsupponieren, dass das Institut gebaut wurde oder dass es gebaut wird. Wenn es sich aber um einen zukünftigen Bau handelt, so existiert höchstens das entsprechende Projekt. Von einer Existenzpräsupposition lässt sich in einem solchen Fall eigentlich gar nicht mehr sprechen. Nicht trivial ist dagegen die Präsupposition von Bertrand Russells berühmtem Beispiel (7.14) The present King of France is bald <?page no="79"?> 67 Der Fall ist interessant, weil die Präsupposition, dass es gegenwärtig einen König von Frankreich gibt, falsch ist. Hier macht das Adjektiv present aus der vagen Existenzpräsupposition eine aktualisierte Aussage. Tatsächlich sind Existenzpräsuppositionen für die Inhaltsanalyse eines Textes nur interessant, wenn sie einem zeitlichen und modalen Rahmen zugeordnet werden können. Sie gehören dann zum Inhalt des entsprechenden mentalen Raums. Der mentale Raum, dem die Aussage zugeordnet wird, ist aber nicht notwendigerweise der Referenzraum R. Es ist klar, dass die Sätze (7.15) und (7.16) nicht die Existenz von Rosen ohne Dornen und von ehrlichen Maklern präsupponieren, so wie sie dies nach der traditionellen Theorie eigentlich tun müssten: (7.15) Es gibt keine Rosen ohne Dornen (7.16) Hat man je einen ehrlichen Makler gesehen? Es geht hier erneut um das Problem von Negation und Interrogation. Die Präsupposition von (7.15), dass es Rosen ohne Dornen gibt, gehört in einen hypothetischen Raum. Man kann sich vorstellen, dass es Rosen ohne Dornen gibt, es gibt sie aber nicht wirklich. (7.16) scheint mir eine rhetorische Frage zu sein. Dass es ehrliche Makler gibt, kommt damit so gut wie einer negativen Assertion gleich. Der Begriff der Existenzpräsupposition ist auch im folgenden Fall irreführend. In (7.17) Der IKRK-Delegierte für den Tschad verlangt schnelle Hilfe haben wir es mit dem direktiven Verb verlangen zu tun, das die schnelle Hilfe in einen mentalen Raum des Wollens stellt. Man kann zwar hoffen, dass diese Hilfe schnell kommt. Es kann jedoch keine Rede davon sein, dass die Existenz dieser Hilfe präsupponiert wird. Zu beachten ist freilich, dass diese Einschränkung nur für das Nominalobjekt unseres Verbs gilt, nicht aber für sein Subjekt. So präsupponiert Satz (7.17) durchaus die Existenz eines IKRK- Delegierten für Usbekistan. Gleiches gilt für den Satz (7.18) Der französische Präsident verspricht schnelle Hilfe Die Existenz eines französischen Präsidenten wird präsupponiert; die schnelle Hilfe kommt jedoch hier in einen Raum I der Intention des Präsidenten zu stehen. Das Konzept der Existenzpräsupposition muss deshalb neu definiert werden. Es handelt sich um propositionale Inhalte, die nur dann einen Sinn machen, wenn sie interpretatorisch einem bestimmten mentalen Raum zugewiesen werden können. 7.5.3 Weitere Präsuppositionen Die verbleibenden Arten von Präsuppositionen sind zum Glück unproblematisch. Verben des Wissens oder der Gefühlsbewegung leiten so genannte faktische Präsuppositionen ein. Das heißt, dass der propositionale Gehalt eines von ihnen abhängigen que-Satzes als Faktum zu betrachten ist. <?page no="80"?> 68 (7.19) Ich weiß, dass zwei und zwei vier machen präsupponiert, dass der Satz „Zwei und zwei machen vier“ der Wahrheit entspricht, und (7.20) Ich gratuliere Ihnen, dass sie die Prüfung bestanden haben präsupponiert, dass der oder die Angesprochene die Prüfung bestanden hat. Dabei kann (7.20) sogar die Formel sein, mit der ich jemandem mitteile, dass er/ sie die Prüfung bestanden hat, wobei die Gratulation nicht viel mehr als eine Höflichkeitsfloskel ist. In diesem Fall und wohl nur in diesem Fall hat die Präsupposition den Status eines assertiven Sprechakts. Es gibt eine Reihe von weiteren Präsuppositionen, die keinen besonderen Namen tragen. Verben der Zustandsänderung wie aufhören, anfangen, fortfahren oder auch gehen und kommen, sich ankleiden und sich ausziehen präsupponieren den vorangehenden Zustand. (7.21) René kam nach Hause und zog seinen Mantel aus setzt voraus, dass René vorher nicht zu Hause war und einen Mantel trug, was in einem Kriminalroman unter Umständen bedeutungsvoll werden kann. Von einer Präsupposition kann man auch bei den Ergänzungsfragen sprechen, wo sich die Frage auf ein bestimmtes Satzglied bezieht, jener Teil des Satzes, nach dem nicht gefragt wird, der aber präsupponiert ist. So präsupponiert das berühmte Incipit von Ciceros Senatrede vom 8. November 63 vor Chr. (7.22) Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? dass Catilina die Langmut der Senatoren missbraucht. Besonders interessant sind schließlich jene Adverbien, die Henning Nølke (1983) adverbes paradigmatisants genannt hat. Es sind dies Adverbien wie auch, selbst, vor allem usw., denen eine argumentative Funktion zukommt. In (7.23) Der Abend war ein Erfolg. Selbst Irene ist gekommen präsupponiert der zweite Satz nicht nur, dass andere Leute ebenfalls gekommen sind, sondern stellt die Anwesenheit von Irene als ein Argument höheren Grades für den Erfolg des Abends dar. 7.6 Die Natur der Präsuppositionen Wir kommen damit zum Schluss, dass Präsuppositionen propositionale Inhalte sind, die einem bestimmten assertiven mentalen Raum angehören, die aber nicht explizit als Sprechakte realisiert werden. Sie können aus bestimmten sprachlichen Ausdrucksformen abgeleitet werden, wobei bei den so genannten Existenzpräsuppositionen der Kotext eine zusätzliche Rolle spielt. Viele Präsuppositionen teilen jedoch nichts Neues mit. Präsupponieren heißt eigentlich „als bekannt voraussetzen“, weshalb man sie häufig auch als einen Teil des gemeinsamen Wissens (common ground) von S und A betrachtet hat. Dieser Meinung können wir uns anschließen, wenn das gemeinsame <?page no="81"?> 69 Wissen im Sinne von Kapitel 1.4 nicht als eine unverrückbare Größe verstanden wird, sondern als eine Annahme, die S über das gemeinsame Wissen von S und A macht. Diese Annahme kann falsch sein, weshalb die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner eine Präsupposition in Abrede stellen kann. Catherine Kerbrat-Orecchioni (1986, 28) zitiert unter anderem ein Interview des Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim, in dem er gefragt wurde, ob er nicht Angst habe, ein bisschen von seinem Sockel herunterzufallen, wenn er statt zu dirigieren Kammermusik mache. Barenboim widersprach umgehend dem Bild des Dirigenten, der auf einem Sockel steht. Die Frage der Journalistin darf wohl als Fangfrage verstanden werden, in der mit der Präsupposition versucht wird, jemandem eine Meinung zu unterschieben. In einem solchen Fall ist es ratsam, der Präsupposition gleich zu widersprechen, wenn man nachher nicht auf der entsprechenden Aussage behaftet werden will. Das klassische Beispiel ist (7.24) Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen. Antworten Sie mit „Ja“ oder „Nein“ Der Nachsatz verbietet es, der Präsupposition zu widersprechen. Antwortet man also mit „Ja“, so wird man verurteilt, weil man sie in der Vergangenheit geschlagen hat. Antwortet man mit „Nein“, so ist der Fall noch weit schwerer, da man sie immer noch schlägt. 7.7 Präsuppositionen „erben“ Wir sind damit bei jenem Phänomen angelangt, das Fauconnier das „Erben“ von Präsuppositionen nennt. Eine Präsupposition gehört primär zu einem gewissen mentalen Raum. Die Frage ist nun, ob sie auch in einen verwandten Raum übernommen wird. Im schon erwähnten Fall von (7.11) Patrick meint, dass Sheilas Kinder blond sind gilt die Präsupposition, dass Sheila Kinder hat, für den fremden Referenzraum R P von Patrick und wird nicht notwendigerweise vom Referenzraum von S „geerbt“. Das hängt davon ab, wie gut Patrick Sheila kennt. In Fauconniers Beispiel (1984, 115) (7.25) Peut-être que Max vient d’arrêter de fumer steht das Verb arrêter, das grundsätzlich einen vorangehenden Zustand, da Max rauchte, präsupponiert, in einem hypothetischen Raum, der durch peutêtre eingeleitet wird. S kennt aber den Vornamen — Max — der betreffenden Person; es darf deshalb angenommen werden, dass S auch weiß, ob Max früher geraucht hat oder nicht. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Präsupposition auch für den Referenzraum R von S gilt. Anders verhält es sich dagegen im Fall, wo S und A einem übel gelaunten und gereizten Unbekannten begegnen und S zu A sagt: <?page no="82"?> 70 (7.25’) Peut-être que ce type vient d’arrêter de fumer Hier kennt S offensichtlich die betreffende Person nicht, weshalb die Präsupposition, der Unbekannte sei Raucher gewesen, ebenso hypothetisch ist wie die Vermutung, er könnte aufgehört haben zu rauchen. Die Gültigkeit von Präsuppositionen ist somit kein rein semantisches, sondern auch ein pragmatisches, d.h. interpretatorisches Problem. Das Projektionsproblem der Präsupposition ist vor allem anhand von eher gesuchten Beispielen wie dem folgenden abgehandelt worden: (7.26) If Jack has children, then all of Jack’s children are bald Auch hier müsste das Nominalsyntagma Jack’s children eigentlich den Gegenstand einer Existenzpräsupposition bilden. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, nachdem diese Annahme im Vordersatz als hypothetisch dargestellt wurde. Man hat deshalb der Präsupposition die Funktion einer Anapher zubilligen wollen (cf. Heim 1988, van der Sandt 1992, Kripke 2009). Zur Interpretation dieser Präsupposition muss man tatsächlich wie bei einer Anapher auf den vorangehenden Text zurückgreifen. Das ist richtig, erklärt aber die anderen Fälle, die wir in Kapitel 7.5.2 besprochen haben, nicht. In Wirklichkeit handelt es sich in (7.26) wieder um das Problem der so genannten Existenzpräsuppositionen, deren Interpretation vom Kotext abhängt. In (7.26) erscheinen Jack’s children zuerst im if-Satz, d.h. in einem hypothetischen Raum, und diese Interpretation wird auch vom folgenden Satz „geerbt“. In den mentalen Räumen spielen sich so Überlegungen ab, die nicht ihren direkten sprachlichen Ausdruck finden müssen. <?page no="83"?> 71 8 Schlüsse ziehen Unter den impliziten Inhalten eines Textes stellen die Präsuppositionen nur einen kleinen Teil dar. Wie die noch selteneren linguistischen Implikationen haben sie die Eigenschaft, sich auf linguistische Auslöser zu stützen. Für das Verstehen eines Textes ist aber immer ein bestimmtes Weltwissen nötig. Dieses erlaubt es, einen Text zu interpretieren, wobei eine gewisse Subjektivität der Textinterpretation nicht zu umgehen ist. Andere Implikationen stützen sich auf Annahmen über das Verhalten der Gesprächspartnerinnen oder -partner; Paul Grice spricht in diesem Zusammenhang von Implikaturen. Rhetorische Figuren wie die Metapher oder die Metonymie haben dagegen unseres Erachtens nichts mit Implikaturen zu tun. Wir werden in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „wörtlichen Bedeutung“ in Frage stellen, auf dem eine solche Interpretation beruht. Dagegen sind auch die Beziehungen zwischen den Sätzen vielfach implikativer Natur. 8.1 Unausgesprochenes Wenn ich den Satz lese: (8.1) Max erstach seine Frau und wurde zu zehn Jahren unbedingt verurteilt so weiß ich auch, • dass Max verheiratet war, • dass sein Verbrechen nicht unentdeckt blieb, • dass er vor Gericht gestellt wurde, • dass er dort verhältnismäßig milde Richter fand und • dass er die nächsten zehn Jahre hinter Gefängnismauern zubringen wird, sofern ihm nicht die Flucht gelingt oder er wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird. Von all dem steht in (8.1) kein Wort. Im Falle des Nominalsyntagmas seine Frau handelt es sich immerhin um eine Existenzpräsupposition der Art „Max hatte eine Frau“, was wiederum impliziert, dass Max verheiratet war. Die Präsuppositionen machen damit nur einen bescheidenen Teil des impliziten Gehalts eines Satzes aus. Ein wesentlicher Teil unseres Textverständnisses gründet deshalb auf Schlüssen, die wir aus einem Text ziehen. Wie wir bereits betont haben, ist das Verstehen von Texten ein weitaus schöpferischerer Vorgang, als man sich das früher vorgestellt hat. Philip Johnson Laird (1983) hat in diesem Zusammenhang den Begriff des mentalen Modells eingeführt, das A aufgrund eines gegebenen Textes konstruiert und dann memorisiert. Erfolgreicher als sein Modell war allerdings dasjenige von Van Dijk und Kintsch (1983), das wir bereits in Kapitel 3.2.1 vorgestellt haben. Dieses Modell setzt voraus, dass die Textbasis, die aus Prädikat- Argument-Strukturen besteht, durch eigene Interpretationen der Empfänge- <?page no="84"?> 72 rin oder des Empfängers ergänzt werden muss, damit ein kohärentes Textmodell — bei Van Dijk und Kintsch Situationsmodell genannt — entsteht. Tatsächlich wird jemand, der einen Text schreibt, gewisse Kenntnisse von Seiten von A voraussetzen und seine Gedanken deshalb nur teilweise explizit formulieren: (8.2) Der […] Chef der russischen Bankenaufsicht war im September 2006 abends vor einem Moskauer Sportstadion aus nächster Nähe angeschossen worden und später im Spital seinen Verletzungen erlegen. (Neue Zürcher Zeitung, 24/ 11/ 08, p. 13) Angeschossen impliziert, dass der Chef der russischen Bankenaufsicht verletzt, im Gegensatz zu erschossen aber nicht auf der Stelle tot war. Verletzte bringt man ins Spital. Das war für den betreffenden Journalisten so selbstverständlich, dass er es nicht zu sagen brauchte. Man beachte dabei, dass im Spital definit konstruiert ist. Unser Journalist nimmt demnach an, dass alle seine Leserinnen und Leser diese Implikation bereits vollzogen haben, so dass er nicht zu präzisieren braucht, dass es sich um dasjenige Spital handelt, in das der Angeschossene transportiert wurde. 8.2 Linguistische Implikationen Betrachten wir nunmehr den folgenden Satz: (8.3) Concordia steigt in die erste Liga ab Wer sich nicht im schweizerischen Fußball auskennt, wird diesen Satz kaum verstehen. Überraschenderweise ist die erste Liga die drittoberste Spielklasse im schweizerischen Fußball, weshalb man auch in die erste Liga absteigen kann, und Concordia ist hier keine Gesangsverein, sondern ein Basler Fußballklub. Das ist das Weltwissen, dass A bereits mitbringen muss, um diesen Satz zu verstehen. Aus dem in dieser Weise interpretierten Satz lässt sich dann auch ableiten, a) dass Concordia in der letzten Spielzeit in einer höheren Klasse gespielt hat und b) dass Concordia in der nächsten Spielzeit in der ersten Liga spielen wird. Bei a) handelt es sich dabei um eine Präsupposition, denn a) ist auch dann richtig, wenn Concordia nicht absteigt. Bei b) handelt es sich dagegen um eine Implikation. Diese Aussage stimmt nämlich nur dann, wenn Concordia absteigt. Implikationen gelten im Gegensatz zu Präsuppositionen nur dann, wenn der Satz nicht negiert ist. In gleicher Weise präsupponiert (8.4) Lisa erwachte, dass Lisa vorher schlief und impliziert, dass sie nachher wach war, denn (8.4’) Lisa erwachte nicht <?page no="85"?> 73 lässt die Präsupposition unangefochten, hebt aber die Implikation auf. Wir sprechen hier von linguistischen Implikationen, die ähnlich wie die Präsuppositionen einen linguistischen Auslöser haben, nämlich absteigen in (8.3) und erwachen in (8.4). Weit häufiger sind jedoch jene Implikationen, die sich auf das Weltwissen abstützen. Es sind dies jene Vorstellungen von der Wirklichkeit, über die S und A im Idealfall gemeinsam verfügen und die deshalb unausgesprochen bleiben können. 8.3 Implikationen aus dem Weltwissen Für diejenigen, die sich im schweizerischen Fußball auskennen, impliziert (8.3) aber nicht nur a) und b), sondern auch, c) dass Concordia in der letzten Spielzeit in der Challenge League spielte und d) dass Concordia dort einen der letzten beiden Ränge belegte. Um zu diesen Folgerungen zu gelangen, muss man allerdings wissen, dass die zweitoberste Spielklasse in der Schweiz seit einigen Jahren Challenge League heißt und dass diejenigen Vereine, die dort am Ende der Spielzeit die letzten beiden Ränge einnehmen, absteigen müssen. Dabei setzt die letztere Aussage wiederum voraus, dass man weiß, dass auf Grund der Begegnungen zwischen den Vereinen einer Spielklasse eine Rangliste aufgestellt wird usw. usf. Diese Art von Implikationen setzt somit voraus, dass A über das entsprechende Weltwissen verfügt. Es geht hier erneut um den common ground (cf. Kap. 1.4). S sagt gewisse Dinge nicht, weil er annimmt, dass sie A ohnehin weiß. Diese Vermutung kann auch falsch sein. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass man in der Psycholinguistik zum Ergebnis gelangt ist, dass die Zahl der Implikationen, die jemand aufgrund eines gegebenen Satzes bildet, individuell verschieden ist (cf. vor allem die Untersuchungen von Noordman/ Vonk/ Kempf 1992 und Noordman/ Vonk 1992). Das kann zur Folge haben, dass ein Text nicht verstanden wird. Diese Gefahr besteht besonders im Fall, wo ein Text von jemand Anderem gelesen wird, als von den eigentlichen Adressatinnen und Adressaten. Das gilt auch für die Lektüre älterer Texte, die oft Kenntnisse als bekannt voraussetzen, die für uns heute nicht mehr selbstverständlich sind. Umgekehrt kann es auch zu Überinterpretationen kommen. Ich hätte beispielsweise angenommen, der frühere Slogan von Apple, „Think different“, der mit den Bildern von berühmten Persönlichkeiten warb, sei auf die übermächtige Microsoft gemünzt gewesen. Für Mathieu Guidère (2000, 120) bedeutet dieser Slogan jedoch so viel wie „Pensez américain“. Wenn im gleichen Buch (p. 23) von der konsternierenden Tatsache die Rede ist, dass die amerikanische Kultur den Verkauf fördere, so kann ich mir allerdings vorstellen, wie dieser Autor zu dieser Interpretation gelangen konnte. <?page no="86"?> 74 Das Modell der neuronalen Netze erklärt am besten, wie solche Implikationen funktionieren. Es liegt einer Anzahl von Modellen zugrunde, angefangen von der spreading activation theory von Collins/ Loftus (1975) und den Scripts von Schank/ Abelson (1977) bis hin zur frame semantics von Charles Fillmore 26 . Solche Netzwerke funktionieren so, dass ein Begriff, dessen Aktivierung eine gewisse Schwelle überschreitet, auch die mit ihm verknüpften Begriffe aktiviert. So aktiviert der Satz (8.5) Elsa ging ihre Tante in Chicago besuchen auch die Vorstellung, dass Elsa dazu ein Transportmittel, wahrscheinlich ein Flugzeug, benutzt hat, und (8.6) Bernd hängte ein Gemälde auf die Vorstellung, dass er dazu wahrscheinlich einen Nagel mit einem Hammer in die Wand geschlagen hat. Solche Implikationen sind äußerst wichtig für die Textkohäsion. Beispiele (8.7) und (8.8) sind nur aufgrund solcher Implikationen verständlich: (8.7) Elsa wollte ihre Tante zum 60. Geburtstag in Chicago überraschen, aber alle Flugzeuge waren ausgebucht (8.8) Bernd wollte ein Gemälde aufhängen. Dabei schlug er sich mit dem Hammer auf den Finger Man beachte, dass in unseren Beispielen für die Flugzeuge und den Hammer der bestimmte Artikel gebraucht wird, dass diese gleichsam als bereits bekannt vorausgesetzt werden. Die Tatsache, dass Bernd ein Mensch ist, impliziert ebenso, dass er Finger hat. Er wird sogar deren mehrere haben und, obwohl nicht präzisiert wird, um welchen Finger es sich handelt, steht auch hier der bestimmte Artikel. Wir haben in Kapitel 6.3 gesehen, dass die Koreferenz, d.h. die Tatsache, dass die Referenten in einem Text aufeinander verweisen können, ein wichtiges Mittel der Textkohäsion ist. Wir sehen nun, dass die Kohäsion auch durch Begriffe hergestellt werden kann, die im gleichen Netz miteinander verflochten sind. 8.4 Implikaturen Es gibt nun auch Implikationen, die sich nicht auf ein linguistisches oder ein Weltwissen stützen, sondern auf Annahmen, die A über das Verhalten von S macht. H. Paul Grice (1975) spricht in diesem Fall von Implikaturen. Wenn die Mutter zu ihrem allzu lebhaften Kind sagt (8.9) Wenn du nicht brav bist, gibt es heute Abend kein Dessert 26 Cf. http: / / framenet.icsi.berkeley.edu/ (letzte Konsultation: 6/ 11/ 2010). <?page no="87"?> 75 so wird dies ihr Kind als Versprechen deuten, es bekomme ein Dessert, wenn es brav sei. Von einem solchen Versprechen ist jedoch nirgends die Rede. Es handelt sich hier um eine Implikatur. Als Grundannahme für die Bildung von Implikaturen dient Grice das Kooperationsprinzip, nach dem man seinen Gesprächsbeitrag so gestalten soll, wie es der augenblickliche Zeitpunkt der Äußerung erfordert. Daraus leitet er vier Arten von Maximen ab, diejenigen der Quantität, der Qualität, der Relevanz und der Art und Weise. Auf Satz (8.9) trifft so die erste der beiden Maximen der Quantität zu: • Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig. • Mache ihn nicht informativer als nötig. Wenn es noch einen weiteren Grund gäbe, wieso es an diesem Abend kein Dessert gibt, so hätte die Mutter dies sagen müssen; sonst verletzt sie die erste Maxime. Man kann eine Maxime aber auch absichtlich verletzten: (8.10) A: Kommst Du mit ins Kino? B: Ich habe morgen eine Prüfung Was B sagt, ist eigentlich keine Antwort auf die Frage von A. Sein/ ihr Gesprächsbeitrag verletzt somit die Relevanzmaxime (Sage nur Relevantes). Wir gehen aber davon aus, dass A diese Maxime eigentlich nicht verletzen wollte und wir suchen deshalb eine Interpretation, die in diesem Zusammenhang relevant ist. Es ist naheliegend, dass B dadurch sagen will, dass sie/ er nicht kommen kann, weil sie/ er noch für die Prüfung lernen muss. Solche indirekten Ausdrucksweisen werden oft auch verwendet, um einem Höflichkeitsgebot zu entsprechen. Geoffrey Leech (1983) hat deshalb vorgeschlagen, das Kooperationsprinzip von Grice durch weitere Prinzipien, darunter ein Höflichkeitsprinzip, zu ergänzen. Eckard Rolf (1994) möchte seinerseits den Glückensbedingungen der Sprechakte die Form von Maximen geben. Tatsächlich ist es beispielsweise so, dass die beiden Qualitätsmaximen von Grice weitgehend identisch sind mit der Aufrichtigkeitsbedingung und der vorbereitenden Bedingung eines assertiven Sprechakts bei Searle: • Sage nichts, wovon du glaubst, dass es falsch ist. • Sage nichts, wofür du keine ausreichenden Anhaltspunkte hast. Das heißt aber auch, dass diese Maximen nur auf den assertiven Sprechakt, nicht aber etwa auf den direktiven Sprechakt zutreffen, der gar keinen Wahrheitswert hat. Daraus ziehe ich allerdings einen andern Schluss als Rolf, nämlich denjenigen, dass diese Maximen eigentlich überflüssig sind. Laurence R. Horn (1984, 2004) möchte denn auch mit bloß zwei Maximen auskommen, nämlich der (ersten) Quantitäts- und der Relevanzmaxime. Das dürfte eine angemessene Lösung sein, denn auch die Maximen der Art und Weise, die etwa Zweideutigkeit oder Weitschweifigkeit verbieten, sind von zweifelhaftem Nutzen. <?page no="88"?> 76 Dan Sperber und Deirdre Wilson (1986) möchten sogar mit einer einzigen, der Relevanzmaxime, auskommen und dabei gleich auch noch auf das Kooperationsprinzip verzichten. Auf die erste Quantitätsmaxime dürfte allerdings schwer zu verzichten sein. Wenn ich in einer polizeilichen Vernehmung nur auf die Fragen antworte, die man mir stellt, so verhalte ich mich in Übereinstimmung mit der Relevanzmaxime (Sage nur Relevantes). Ich verstoße jedoch gegen die erste Quantitätsmaxime (Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig), wenn ich eine wichtige Mitteilung, nach der nicht explizit gefragt wurde, unterschlage. Dabei ist wichtig, dass man das Kooperationsprinzip und die daraus abgeleiteten Maximen nicht als Vorschriften für ethisches Handeln betrachtet. Es ist nicht unethisch, wenn ich aufgrund schlechter Erfahrungen von meinem Gegenüber annehme, dass es sich nicht kooperativ verhält. Das Kooperationsprinzip ist das, was Horn (2004, 8) ein „default setup“ nennt, eine Annahme über das Verhalten meines Gegenübers, so lange nichts Besonderes vorliegt. 8.5 Metaphern Nach Grice (1975, 53) würden Metaphern ebenfalls eine Konversationsmaxime verletzen, nämlich die erste Qualitätsmaxime, nach der man nur sagen soll, was man für wahr hält. Eine ähnliche Metaphertheorie hat auch John R. Searle (1979/ 1982, Kap. IV) vorgeschlagen. Ergibt eine Ausdrucksweise keinen Sinn, wenn man sie wörtlich interpretiert, so hat sie einen Interpretationsprozess zu durchlaufen, aufgrund dessen eine übertragene Bedeutung gefunden werden muss, die im gegebenen Kontext Sinn macht. Diese Konzeption lässt sich als Versuch verstehen, das strukturalistische Zeichenmodell (cf. Kap. 2.1) zu retten, das davon ausgeht, dass es so etwas wie einen rein linguistischen Sinn außerhalb jedes Kontexts gibt. Neben diesem Wortsinn gäbe es übertragene Bedeutungen, die erst im Kontext einer Äußerung entstehen. In Searles Metaphertheorie muss deshalb zunächst einmal festgestellt werden, dass der Satz „defekt“ ist, wenn man ihn wörtlich versteht. Danach kann erst aufgrund einer Reihe von Prinzipien, eine Äußerungsbedeutung gesucht werden, die im gegebenen Satzzusammenhang Sinn macht. Oswald Ducrot (1972, 111) hat diese Auffassung in seinem „Zwei Komponenten-Modell“ verdeutlicht, das zwischen einem rein linguistischen Sinn 27 und einer Bedeutung, die von einer rhetorischen Komponente mit Hilfe des Kontexts generiert wird, unterscheidet: 27 Ducrot spricht hier von signification und danach von sens. Wir haben stattdessen Sinn und Bedeutung nach der Art von Gottlob Freges berühmtem Artikel (1892) verwendet. <?page no="89"?> 77 A X 1 Linguistische Komponente A’ (Sinn von A) 2 Rhetorische Komponente Bedeutung von A im Kontext X Gegen dieses Konzept der übertragenen Bedeutungen lassen sich die gleichen Einwände vorbringen, die wir schon im Zusammenhang mit den indirekten Sprechakten vorgetragen haben (cf. Kap. 5.2). Müsste zunächst festgestellt werden, dass die wörtliche Bedeutung zu einer „defekten“ Satzbedeutung führt, und danach umständlich nach einer übertragenen Bedeutung gesucht werden, so würde die Verarbeitungszeit einer übertragenen, figurativen Bedeutung deutlich länger dauern als diejenige einer wörtlichen Bedeutung. Bei ausreichendem Kontext ist dies jedoch nicht der Fall: ... the experimental data overwhelmingly suggest that people can understand figurative utterances without having to first analyze and reject their said meanings when these nonliteral expressions are seen in realistic social contexts (Gibbs 1994b, 421). Eine Ausnahme machen nur poetische Bilder, deren Bedeutung nicht eindeutig ist. Lakoff/ Johnson (1980/ 1998, cf. auch Lakoff 1987, Johnson 1987) haben die Meinung vertreten, Metaphern bestünden auf konzeptuellen Verbindungen zwischen einer Ursprungs- und Zieldomäne, wie man dies längst für die Metonymien angenommen hat. Diese letzteren beruhen auf Konzepten der räumlichen Nähe wie dem Ort für die Person (Die Wall Street ist in Panik. Das Weiße Haus schweigt) oder dem Behälter für den Inhalt (Ein Glas trinken. Eine Berner Platte essen). In ähnlicher Weise lägen den Metaphern konzeptuelle Metaphern zugrunde wie Z EIT IST G ELD (Sie vergeuden meine Zeit. Ich habe viel Zeit verloren. Dies kostet mich mehrere Stunden. Die Zeit wird knapp. Seine Tage sind gezählt usw.) oder P OLITIK IST K RIEG (die Wahlen gewinnen/ verlieren; den Gegner mit <?page no="90"?> 78 seinen eigenen Waffen schlagen; ihn in die Defensive drängen; ihm eine vernichtende Niederlage bereiten usw.) 28 . Eine wesentliche Neuerung dieser Theorie besteht darin, dass die Metaphern nicht mehr als rein rhetorisch-literarische Verzierungen oder gar als Verstoß gegen die Sprachlogik verstanden werden. Sie sind auch in der Umgangssprache geläufig und die ihr zugrunde liegenden Analogien werden sogar als wesentliche Funktionen des menschlichen Denkens verstanden. Die Idee, wonach Metaphern auf Ähnlichkeiten oder Analogien beruhen, ist allerdings weder neu noch wird sie von Lakoff/ Johnson (1980) wirklich neu begründet. Dies versucht nunmehr die Theorie der konzeptuellen Integration, auch blending genannt (Fauconnier/ Turner 2002) 29 . Gilles Fauconnier hat dazu zusammen mit Mark Turner sein Modell der mentalen Räume (cf. Kap. 7) weiterentwickelt. Die konzeptuelle Integration stellt sich als Grundlage des analogen Denkens dar, einer wesentliche Errungenschaft der Spezies Mensch. Sie betrifft nicht nur den Gebrauch von Metaphern und Metonymien, sondern sie ermöglicht auch das Bilden von Sätzen wie (8.11): (8.11) In France, Watergate would not have harmed Nixon Ausgangspunkt für die konzeptuelle Integration sind dabei immer zwei mentale Räume, die gewisse Analogien miteinander aufweisen müssen, so dass sich von ihnen aus ein dritter, generischer Raum bilden lässt, der all das enthält, was den beiden Ausgangsräumen gemeinsam ist. In unserem Fall sind die politischen Systeme Amerikas und Frankreichs die beiden Ausgangsräume. Diese enthalten eine Anzahl von gemeinsamen Eigenschaft: Beides sind Demokratien, an deren Spitze ein vom Volk gewählter Präsident steht. Dies ermöglicht es dann, einen imaginären vierten Raum zu bilden, in dem ein bestimmter amerikanischer Präsident französischer Präsident wäre, in dem sich der Einbruch im Watergate ereignete, in dem aber die Regeln der französischen Politik gelten würden, die kein impeachment vorsehen und wo die politischen Journalisten nur selten investigativ tätig sind. In gleicher Weise beruhen konzeptionelle Metaphern wie P OLITIK IST K RIEG oder Z EIT IST G ELD auf gewissen Analogien. Man sagt ja auch der Krieg sei die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Zu beachten ist, dass der Ausgangsraum konkreter ist als der Zielraum. So ist Geld im Gegensatz zur Zeit materiell fassbar. Bildhafte Ausdrücke wie Metaphern und Metonymien bereichern einen Text insofern, als dass sie einen Bezug zu einem anderen und zumeist auch anschaulicheren Bedeutungsfeld herstellen. 28 Nach Lakoff/ Turner (1989) gilt dies weitgehend auch für literarische Metaphern, doch gibt es auch wirklich originelle Metaphern, die entsprechend schwer zu deuten sind. 29 Man findet eine Bibliographie zu dieser Theorie (mit mehreren Links zu Publikationen) auf http: / / markturner.org/ blending.html / letzte Konsultation: 6/ 11/ 2010. <?page no="91"?> 79 8.6 Konnotationen Hier muss auch noch etwas zum Begriff der Konnotation gesagt werden. Man versteht darunter eine (emotionale) Nebenbedeutung, die zur eigentlichen Bedeutung, der Denotation, hinzutritt. Diese Begriffe wurden von Louis Hjelmslev (1943/ 1974) in die Linguistik eingeführt, aber nie eindeutig definiert. Catherine Kerbrat-Orecchioni hat in ihrer Darstellung von 1977 den Begriff der Konnotation geradezu inflationär gebraucht. Wir möchten ihn sehr restriktiv anwenden. Wenn mich der Ausdruck „mit schlurfendem Schritt“ an einen alten Mann denken lässt, so ist das eine Implikation und keine Konnotation. Wenn in einer Kosmetikwerbung steht (8.12) Native pflanzliche Zellextrakte reaktivieren die Integrine der Haut so werden die Wenigsten verstehen, was damit gemeint ist. Der Zweck solcher Werbetexte ist es eigentlich nur, den Eindruck von Wissenschaftlichkeit für das beworbene Produkt zu vermitteln. Dass es sich um eine wissenschaftliche Ausdrucksweise handelt, ist aber ebenfalls eine Implikation, denn unbekannte Wörter können schwerlich eine Konnotation haben. Mit eindeutigen Fällen von Konnotation haben wir es allerdings bei jenen Begriffen zu tun, welche die Wörterbücher als pejorativ bezeichnen. Üblicherweise steht neben jedem pejorativen ein neutraler Begriff: sparsam neben geizig, Alkoholiker neben Säufer, Behinderter neben Krüppel usw., womit die Wortwahl nochmals erweitert wird. In einer „politisch korrekten“ Sprache bemüht man sich angestrengt, allen Wörtern aus dem Weg zu gehen, die auch nur im Verdacht stehen könnten, pejorativ und damit diskriminierend zu sein. So verschieben sich die Grenzen ständig: Neger und Muselman waren früher keine pejorativen Begriffe. Es geht hier um den Versuch, pejorative Ausdrücke durch Euphemismen 30 zu ersetzen. Das ist aber ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, denn die Euphemismen haben die Tendenz, über kurz oder lang die gleichen negativen Konnotationen anzunehmen. Steven Pinker (2002/ 2003) nennt dies die Euphemismus-Tretmühle. Der Grund ist leicht einzusehen. Es gibt Dinge, die im gesellschaftlichen Urteil besser dastehen als andere: Man ist lieber reich als arm, stark als schwach, Sieger als Verlierer usw. Solchen nicht linguistischen Urteilen entgeht die Sprache nicht. 8.7 Implizite Satzverknüpfungen Nun gibt es jedoch noch eine vierte Art von Implikationen. Sie betreffen die Satzverknüpfung. Im Falle von (8.13) (a) Ich verabschiede mich. (b) Es ist schon spät 30 Euphemismen dienen auch dazu, tabuisierte Begriffe zu vermeiden. <?page no="92"?> 80 wird man (b) als eine Begründung für (a) verstehen, obwohl die beiden Sätze durch keinen Konnektor wie weil miteinander verbunden sind. Im Falle von Cäsars Nachricht an seinen Freund Amintus nach einem unerwartet schnellen Sieg (8.14) Veni, vidi, vici deutet die Abfolge der Sätze immerhin an, dass es sich hier um eine Abfolge von Taten handelt. In unserem Beispiel (8.14) kann ich dagegen sogar die Abfolge der beiden Sätze umkehren, ohne dass sich die Interpretation ändert: (8.13’) (b) Es ist schon spät. (a) Ich verabschiede mich Das bedeutet, dass auch die Verknüpfungen zwischen Sätzen zum Gegenstand von Implikationen werden können. Tatsächlich sind in einem Text meist nur wenige Sätze explizit miteinander verknüpft. Damit wir eine Abfolge von Sätzen als Text interpretieren können, müssen diese aber in irgendeiner Beziehung zueinander stehen. Diese Beziehungen muss die Empfängerin oder der Empfänger weitgehend durch Implikationen selber erschließen, wobei diesen Implikationen offensichtlich die Annahme zugrunde liegt, dass wir es bei einer Satzabfolge nicht mit einer zufälligen Abfolge von Sätzen zu tun haben, sondern mit einem Text, d.h. dass irgendwelche Verbindungen zwischen den Sätzen bestehen müssen (cf. auch Vater 3 2000, 127s.). Diese letzte Art von Implikationen ist allerdings von einer anderen Natur als diejenigen, mit denen wir es bislang in diesem Kapitel zu tun hatten. Hier geht es nicht um propositionale Inhalte, die nicht verbalisiert werden, sondern um pragmatische Prädikate, die Sprechakte untereinander verbinden. Mit diesem Problem werden wir uns in der Folge auseinandersetzen. <?page no="93"?> 81 9 Was ist ein Text? Nach diesen Präliminarien ist es nun an der Zeit, dass wir uns dem Text zuwenden. Dabei müssen wir uns zunächst fragen, was denn ein Text ist. Da wir von der Sprechakttheorie ausgegangen sind, ist die naheliegendste Textdefinition diejenige, dass ein Text durch eine globale Kommunikationsabsicht zusammengehalten wird. Man hat so den Text auch schon als Makro-Sprechakt betrachtet. Ähnliche Annahmen liegen der Theorie der Illokutionshierarchie und auch der Rhetorical Structure Theory oder dem Connectivity Model zugrunde. Die Vorstellung, dass sich die Textsorten durch die Kommunikationsabsicht allein definieren lassen, erscheint aber als ungenügend. Wir bringen deshalb ebenfalls die Kommunikationssituation und die Textthematik ins Spiel. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit, Texttypen aufgrund ihrer Kommunikationsabsicht und der betreffenden Kommunikationssituation unabhängig von einer bestimmten Sprache zu definieren. 9.1 Text und Kommunikationsabsicht Die Frage, was ein Text ist, ist gar nicht so leicht zu beantworten und in der Textlinguistik schon sehr ausführlich diskutiert worden (cf. insbesondere Fix et al. 2002). Da unser Ausgangspunkt die Sprechakttheorie ist, ist die naheliegendste Antwort diejenige, dass einem Text eine globale Kommunikationsabsicht zugrunde liegen muss. Dadurch wäre der schwerwiegende Nachteil von Searles Sprechakttheorie überwunden, der darin besteht, dass sich diese Theorie nur mit isolierten Sprechakten beschäftigt 31 . Die Idee, einem Text liege eine globale Kommunikationsabsicht zugrunde, ist alles andere als neu. Sie hat so im Konzept des Makro-Sprechaktes ihren Niederschlag gefunden. Danach wäre der Text selber als ein Makro-Sprechakt zu betrachten. Der Begriff macro-speech act taucht in der englischsprachigen Linguistik bereits in den siebziger Jahren auf, namentlich bei Teun A. Van Dijk (1977, 232-247), von wo ihn Frédéric Nef (1980) in die französischsprachige Linguistik übernommen hat. Er hat in der Folge in der Anglistik und der Französistik eine gewisse Verbreitung gefunden, während er in der Germanistik weitgehend unbekannt geblieben ist. Die germanistische Linguistik hat ihrerseits ein anderes, wenn auch verwandtes Konzept entwickelt, nämlich dasjenige der Illokutionshierarchie. Der Begriff scheint zuerst bei Siegfried J. Schmidt ( 2 1976, 150) aufzutauchen, der den Textbegriff wie folgt definiert: Werden in einem Kommunikationsakt mittels verschiedener Äußerungsmengen verschiedene unterscheidbare Illokutionsakte realisiert, und lassen sich diese Illokutionsakte hierarchisch in ein kohärentes System einordnen, dann gilt die gesamte Äußerungsmenge, die die Illokutionshierarchie vollzieht, als Text… 31 Searle (1992) selber hat sich allerdings zu Versuchen, die Sprechakttheorie für die Konversationsanalyse brauchbar zu machen, sehr skeptisch geäußert. <?page no="94"?> 82 Dieses Konzept wurde insbesondere in einem Artikel von Margareta Brandt und Inger Rosengren (1992) weiterentwickelt. Danach ist in einem Text jeweils derjenige Sprechakt, der die grundlegende Kommunikationsabsicht des Textes ausdrückt, als der dominierende Sprechakt zu betrachten, dem sich die anderen Sprechakte unterordnen. Das verbindende Element zwischen den Sprechakten wird dabei wiederum als eine besondere Art von Sprechakt verstanden. Diese Theorie geht insofern klar über das Konzept des Makro- Sprechaktes hinaus, als dass sie auch ein Modell für die Beziehungen der Sätze untereinander anbietet. Mit den Beziehungen der Sätze untereinander befasst sich auch die Rhetorical Structure Theory. Sie wurde von William C. Mann und Sandra A. Thompson (1988) an der University of South California ursprünglich für die automatische Textgenese entwickelt, hat aber auch außerhalb der Computerlinguistik Anwendung gefunden 32 . Das Connectivity Model von Jan Renkema (2009) darf als eine Weiterentwicklung dieser Theorie verstanden werden. Der Nachteil der beiden Theorien ist in meinen Augen aber derjenige, dass sie die Sprechakttheorie ignorieren, auch wenn die Rhetorical Structure Theory die Relationen zwischen Kern und Satellit in einer Art beschreibt, die an die Glückensbedingungen der Sprechakttheorie erinnern. Die genannten Theorien gehen zudem davon aus, dass der Sprechakt beziehungsweise der Satz, der an der Spitze der Hierarchie steht, im Text selber enthalten sein muss. Einzig in der Theorie des Makro-Sprechaktes wird dies zwar nicht ausgeschlossen, aber als Normalfall gilt eher, dass dieser aus dem Text zunächst erschlossen werden muss. Tatsächlich muss der dominierende Sprechakt nicht immer explizit sein. Was beispielsweise die Produktwerbung betrifft, so hat sich in der französischen Linguistik die Meinung durchgesetzt, dieser müsse ein Makro- Sprechakt der Art „Je vous recommande d’acheter ce produit“ (Ich empfehle Ihnen, dieses Produkt zu kaufen) zugrunde liegen (cf. Everaert-Desmedt 1984; Adam/ Bonhomme 1997, 25; Wüest 2001b; Lugrin 2006, 83-86). Die Kaufempfehlung wird jedoch nie in dieser expliziten Form ausgedrückt; vielmehr scheint das Verb kaufen in der Werbung allgemein ein Tabuwort zu sein. Wenn der dominierende Sprechakt aber nicht explizit vorhanden sein muss, wie kann man ihn dann erkennen? Tatsächlich kann es vorkommen, dass gewisse Personen in einem Text noch eine Sprecherintention zu erkennen glauben, die anderen nicht mehr einsichtig ist. Hans Ulrich Gumbrecht (2002, 207) gibt dazu ein eklatantes Beispiel, das den berühmten (ost)deutschen Romanisten Werner Krauss betrifft: Auf dem Totenbett von Krauss, sagt die wie so oft in seinem Fall etwas mythologisch klingende Überlieferung, fand sein Freund und Nachbar, der Philosoph Wolfgang Heise, „fragmentarische Entwürfe zu einem neuen Roman mit dem Titel ‚Die Jahrhundertfeier’“. Als ich die Niederschrift dieses Dokuments las, fragte ich mich, wie viel inkohärenter eine Ansammlung von Wörtern sein müsste, um nicht 32 Cf. insbesondere die Website http: / / www.sfu.ca/ rst/ (letzte Konsultation: 27/ 12/ 2010), die von William C. Mann und Maite Taboada betreut wird. <?page no="95"?> 83 mehr als „Text“ identifiziert zu werden — und wo wohl die entsprechende Grenze läge, welche die Verehrer von Krauss davon abhalten könnte, irgendeine Notiz von ihm für die Skizze eines großen Projekts zu halten. Gumbrecht reproduziert das betreffende Dokument und es ist auch mir nicht möglich, darin einen Sinnzusammenhang zu erkennen. Das mag ein extremes Beispiel sein, aber grundsätzlich gibt es wohl eine menschliche Tendenz, in allem, was wie ein Text aussieht, zunächst einmal einen Sinn zu suchen. Am 9. November 1989, kurz vor 19 Uhr, gab das Politbüromitglied Günter Schabowski am Ende einer Pressekonferenz eine Erklärung zum neuen Ausreisegesetz der DDR ab, das ihm Egon Krenz zugesteckt hatte, das er aber offensichtlich noch gar nicht selber gelesen hatte. „Bei den meisten Journalisten hatte die Pressekonferenz ein großes Rätselraten über die schwer verständlichen Informationen hinterlassen. […] Während viele Journalisten noch debattierend im Pressezentrum standen oder sich in der Mokkabar den Kopf zerbrachen, wie es sich mit den Privatreisen verhielt, preschte Associated Press um 19.05 Uhr vor und interpretierte die Reiseregelung als ,Grenzöffnung’“ (Hertle 1999, 149). Die Folgen sind bekannt. Ein Text ohne klar erkennbare Kommunikationsabsicht kann so zu Fehlinterpretationen führen. Solche Beispiele widerlegen jedoch nicht die These, wonach einem Text immer eine bestimmte Kommunikationsabsicht zugrunde liegen muss. Sie zeigen vielmehr auf, wie Empfängerinnen und Empfänger mit einem Text umgehen, dessen Kommunikationsabsicht aus irgendeinem Grunde unklar ist. Sie interpretieren ihn dann in einer Weise, die offensichtlich eher ihren Wünschen als der Realität entspricht. Das zeigt aber gerade, dass diese Suche nach einer Kommunikationsabsicht für das Textverständnis grundlegend ist. 9.2 Stufenmodelle Eckard Rolf (1993) hat den Versuch unternommen, möglichst viele Textsorten nach ihrem dominierenden Sprechakt zu klassifizieren. Danach würde jede Textsorte von einem der fünf Searle’schen Sprechakte dominiert. Die einzige Konzession, die er macht, betrifft die Möglichkeit, dass mehrere Sprechakte der gleichen Illokution vorkommen, die ihrerseits eine Hierarchie bilden (Rolf 1993, 39). Dem hält Giuseppe Manno (2007) einige durchaus einleuchtende Gegenbeispiele entgegen und selbst Brandt und Rosengren (1992, 39-41) räumen ein, dass in einem Brief — dies ist die einzige Textsorte, mit der sie sich befassen — dominierende Sprechakte verschiedener Natur vorkommen können. Noch problematischer wird es, wenn wir uns den dialogischen Texten zuwenden, die Rolf deshalb von seiner Typologie ausschließt. John McH. Sinclair und Malcolm Coulthard (1975) haben für ihre Analyse des schulischen Dialogs ein Modell der Ränge vorgeschlagen, das später von der Genfer Schule um Eddy Roulet übernommen wurde (cf. vor allem Roulet et al. 1985, ferner Kerbrat-Orecchioni 1990-94, I, 210ss.). Darin kommt der Sprechakt erst <?page no="96"?> 84 auf dem untersten der fünf Ränge vor, doch handelt es sich um jenen isolierten Sprechakt, wie ihn Searle sieht, und nicht um eine Art von Makrosprechakt. Den obersten Rang nimmt in diesem Modell die Interaktion ein (bei Sinclair/ Coulthard 1975 noch lesson genannt). Sie wird durch die Kommunikationssituation definiert. Es folgt als zweite Einheit die Sequenz. Sie definiert sich durch ihre Thematik, wobei die Abgrenzung der Sequenzen nicht immer ganz einfach ist, denn in einer Konversation gleitet man gelegentlich von einem Thema zum andern. Auch Klaus Brinker ( 6 2005, 159-161) berücksichtigt in seinem Stufenmodell neben der Textfunktion die Kommunikationssituation und die Textthematik, wobei die Kommunikationssituation die erste, die Textfunktion die zweite und die Thematik die dritte Stufe bilden. Es scheint deshalb sinnvoll, auch die Kommunikationssituation und die Textthematik in unsere Betrachtung einzubeziehen. 9.3 Die Kommunikationssituation Zur Bestimmung der Kommunikationssituation ist zunächst einmal wichtig, wer S (Sprecher oder Sprecherin) ist und wer A (Adressatin oder Adressat) ist. Wir verwenden dabei grundsätzlich den Begriff des Sprechers und der Sprecherin auch für geschriebene Texte, doch ist deren Bestimmung nicht immer ganz einfach. Wer ist beispielsweise der Urheber einer Werbung, die Werbeagentur oder der Auftraggeber beziehungsweise die Auftraggeberin? Kroeber-Riel (1993, 283-285) gibt ein Beispiel, wie für eine neue Kaffeemarke eine völlig überladene und unübersichtliche Anzeige entstand, da auf die Sonderwünsche verschiedener Verantwortlicher des Unternehmens eingegangen werden musste. Noch komplexer ist der Fall der Adressatin oder des Adressaten, denn es gibt das Problem der Doppel- und Mehrfachadressierung (cf. vor allem Kühn 1995). Als eine Revolte in Algerien ausbrach, hielt General de Gaulle am 25. Januar 1960 eine kurze Radio- und Fernsehrede, die mit den Worten „Quant à moi, je ferai mon devoir“ endete. Die Ankündigung, er werde seine Pflicht erfüllen, ist ein kommissiver Sprechakt, der aber auf zwei verschiedene Arten verstanden werden kann: Für die Aufständischen war er eine Drohung, für die Anhänger des Generals dagegen ein Versprechen. Wir nehmen an, dass de Gaulle sich dieser Doppeladressierung bewusst war. Sie führte hier zu keiner sprachlichen Konfliktsituationen, so wie dies zum Beispiel für die Textsorte des Arbeitszeugnisses der Fall ist. Diese „soll — adressiert an den Beurteilten — ein Empfehlungsschreiben und gleichzeitig — adressiert an den zukünftigen Arbeitgeber — eine fachliche Beurteilung, ggf. mit Warnung sein“ (Kühn 1995, 6). Dies führt bekanntlich zu einem ganz besonderen, für Außenstehende oft kryptischen Sprachgebrauch. Nicht alle Leserinnen oder Leser eines Textes sind aber auch dessen Adressatinnen oder Adressaten. Ein Text kann in die Hände von Personen gelangen, an die er nicht adressiert war. Immerhin lässt sich in den meisten <?page no="97"?> 85 Fällen zumindest ein primärer Adressat bestimmen, d.h. eine oder mehrere Personen, an die S namentlich dann denkt, wenn er sich überlegt, wie viel gemeinsames Wissen er voraussetzen kann. Peter Kühn will dagegen den Begriff der Mehrfachadressierung weiter fassen. Er (1995, 7-15) zitiert den Fall von Helmut Kohl, der 1986 in einem Newsweek-Interview Gorbatschow mit Goebbels verglich. Gerade in diesem Fall kann man aber mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Kohl nicht an Gorbatschow und die sowjetische Regierung als Adressat gedacht hatte; sonst hätte er schwerlich diesen Vergleich gezogen. Kühns Interpretationen beziehen sich häufig auf Implikationen, die jemand in einen Text hineininterpretiert hat. Wie wir in Kapitel 8.3 gezeigt haben, hängen solche Interpretationen vom jeweiligen Weltwissen von A ab und sind längst nicht immer voraussehbar. Für uns wird aber eine Textsorte primär durch die Kommunikationsabsicht von S bestimmt. Diese hängt ihrerseits von der Frage ab, wen S als A betrachtet. In dieser Hinsicht ist es für uns wichtig zu wissen, wer als A intendiert ist. Ein weiteres Kriterium zur Bestimmung der Kommunikationssituation ist das verwendete Medium. Je nach Medium kann man beispielsweise zwischen Print-, Plakat-, Radio-, Fernseh-, Kino- oder Internetwerbung unterscheiden. Besonders wichtig ist für den Linguisten der Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation (cf. Kap. 5.7). Wesentlich ist auch die Frage, ob das gewählte Medium über nur einen oder mehrere Kommunikationskanäle verfügt (cf. Kap. 24). Die Printwerbung verwendet etwa Schrift und Bild; in der Fernsehwerbung können dagegen Sprache (mündlich und schriftlich), Bild (bewegtes Bild und Standbild), sowie Musik und Geräusche vorkommen. 9.4 Die Textthematik Was man als das Thema eines Textes betrachten soll, ist sehr umstritten (cf. Adamzik 2004, 118ss.). Der Begriff des Themas wird zudem in der Linguistik auch im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen Thema und Rhema (cf. Kap. 3.5) verwendet. Diese wird ebenfalls verschieden definiert. Gewisse Autoren (z.B. Welke 1992, Tschida 1995) setzen sie mit der Opposition bekannt ~ neu gleich. Tatsächlich ist das Thema in einer Mehrheit von Sätzen bereits bekannt und erscheint deshalb nicht selten als Pronomen. Dies entspricht jedoch nicht der ursprünglichen Definition des Themas als das, wovon man spricht. Diese letztere Definition hat den Vorteil, dass sie sowohl auf das Satzwie auf das Textthema anwendbar ist. Das Satzthema ist das, worüber ein bestimmter Satz spricht, das Textthema hingegen das, worüber der ganze Text spricht. Auf einer mittleren Ebene ist die Thematik zudem ein wichtiges Mittel der textlichen Kohärenz. Auf Franti ek Dane (1970, cf. auch Combettes/ Tomassone 1988, Brinker 62005) geht das Konzept der thematischen Progression <?page no="98"?> 86 zurück. Es geht dabei um die Art und Weise, wie die Themen in den Sätzen eines Textes aufeinander folgen. Dane unterscheidet zwischen • der einfachen linearen Progression, in der das Thema des Folgesatzes dem Rhema des vorangehenden Satzes entnommen wird: (9.1) Gegenstand der Syntax sind vor allem die gegliederten Sätze. Sie bestehen auf der obersten Stufe aus Satzgliedern. Jedes Satzglied kann durch ein charakteristisches Fragewort erfragt werden. (Hans Jürgen Heringer, Wort für Wort: Interpretation und Grammatik, Stuttgart 1978, p. 5) 33 • dem durchlaufenden Thema: (9.2) Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit — gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule gewachsen bin. (Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Beginn) • der Progression mit abgeleiteten Themen, die sich von einem Hyperthema, hier den Ziegen, ableiten: (9.3) Ziegen sind relativ robust gebaute Tiere mit kräftigen Gliedmaßen und breiten, an eine kletternde Fortbewegung angepassten Hufen. Sie erreichen eine Kopfrumpflänge von 1,0 bis 1,8 Metern, der Schwanz ist 10 bis 20 Zentimeter lang und die Schulterhöhe beträgt 65 bis 105 Zentimeter. Das Gewicht variiert zwischen 25 und 150 Kilogramm ... (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ziegen/ Letzte Konsultation: 28/ 12/ 2010) • der Entwicklung eines gespaltenen Themas: (9.4) Die Widerstandsfähigkeit in feuchter und trockener Luft ist bei verschiedenen Arten pathogener Viren sehr unterschiedlich. Poliomyolitisviren sterben in trockener Luft sofort ab […] Bei Grippeviren ist es hingegen umgekehrt ... (Dane 1970, 77). • Ein thematischer Sprung liegt dagegen vor, wenn ein Glied in der thematischen Kette ausgelassen wird: (9.5) Wir durchquerten das Dorf. Die Strassen waren menschenleer Hier fehlt als Übergang, dass es in diesem Dorf Strassen gab. Das ist allerdings derart banal, dass man es nicht zu sagen braucht. Häufig vermischen sich allerdings die verschiedenen Progressionen: (9.6) Alexander III. der Große, 356-323, Sohn Philipps II. und der Olympias. Als Kronprinz, u.a. von Aristoteles erzogen, wurde A. ab 340 mit wichtigen Aufgaben betraut. Nach Philipps Vermählung mit Kleopatra fiel er gleich 33 Die Hervorhebungen in diesem und den folgenden Texten stammen von mir. J.W. <?page no="99"?> 87 der Mutter in Ungnade und wurde samt seinen Freunden verbannt. Auch nach seiner Rückberufung war er seines Lebens und der Thronfolge nicht sicher, bis Philipp 336 ermordet wurde, wohl nicht ohne Mitwissen A.s und seiner Mutter ... (Lexikon der alten Welt, s. Alexander) Auffällig ist an diesem Textausschnitt die Häufung der Passivkonstruktionen. Diese erlauben es, Alexander den Großen möglichst als Satzthema beizubehalten, verhindern aber nicht, dass zweimal (bei Philipps Vermählung mit Kleopatra und bei seiner Ermordung) Philipp zum Thema der entsprechenden Propositionen wird. Alexander der Große ist jedoch das Textthema. Dieses ist in einem Lexikon leicht zu identifizieren, denn jeder Lexikonartikel steht unter einem Schlagwort oder Lemma, das zu Beginn des Artikels fett gedruckt erscheint. Jeder Artikel hat in diesem Fall ein eigenes Textthema und dieses ist identisch mit dem jeweiligen Lemma. In gleicher Weise kann man annehmen, dass eine historische Abhandlung unter dem Titel Karl der Große den karolingischen Kaiser zum Textthema hat. Dabei kann ein Titel tatsächlich dazu dienen, das Textthema zu nennen, muss aber nicht. So ist der bekannte Marsch von Johann Strauss Vater in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch sicher nicht das Thema des ganzen Buchs. Betrachten wir deshalb einmal die Anfangssätze dieses Romans: (9.7) Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje — der Name des Dorfes, aus dem er stammte — wurde sein Adelsprädikat. Zu einer besonderen Tat hatte ihn das Schicksal ausersehn. Er aber sorgte dafür, dass ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren. Vom zweiten Satz an gibt es hier ein durchlaufendes Thema (der Ahnherr der Trottas), das nur gerade im Satz, der mit Sipolje beginnt 34 , durchbrochen wird. Wie ist jedoch der erste Satz zu verstehen? Da der gesamte Roman von den Trottas handelt, bin ich versucht, die Trottas auch als das eigentliche Thema des gesamten Romans zu betrachten. Klaus Brinker ( 6 2005, 61ss.) hat das Konzept der thematischen Entfaltung eingeführt. Danach würde die Kohärenz eines Textes dadurch hergestellt, dass sich die Themen der einzelnen Sätze von einem Textthema gleichsam ableiten. Nach ihm ist „als Hauptthema des Textes das Thema [zu] betrachten, aus dem sich die anderen Themen des Textes am überzeugendsten (für unser Textverständnis) ‚ableiten’ lassen“ (Ableitbarkeitsprinzip). Dazu kommt noch ein zweites Prinzip, das Kompatibilitätsprinzip: „Als Hauptthema des Textes ist […] das Thema zu betrachten, das sich am besten mit der aufgrund einer textpragmatischen Analyse ermittelten Textfunktion verträgt“. Erinnern wir uns daran, dass im Stufenmodell von Brinker die Textfunktion — wir sprechen stattdessen von Kommunikationsabsicht — dem 34 Der Satz „Sipolje — der Name des Dorfes, aus dem er stammte — wurde sein Adelsprädikat“ müsste in Wirklichkeit in drei (assertive) Sprechakte aufgeteilt werden, nämlich „Er hatte ein Adelsprädikat“, „Dieses Adelsprädikat war Sipolje“ und „Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem er stammte“ oder „Er stammte aus Sipolje“. <?page no="100"?> 88 Textthema vorausgeht und diese ihrerseits auf die Kommunikationssituation folgt. 9.5 Die Kommunikationsabsicht Wir haben bereits unsere Zweifel angemeldet, dass die Kommunikationsabsicht eines Textes einfach durch einen dominierenden Sprechakt ausgedrückt wird, obwohl das in der Mehrzahl der Fälle zutreffen mag. Eine Mutter kann aber beispielsweise ihrer Tochter im gleichen Brief schreiben, die Tante sei krank (assertiver Sprechakt), sie freue sich auf ein Wiedersehen an Weihnachten (expressiver Sprechakt) und sie solle sich warm anziehen (direktiver Sprechakt). Das bedeutet, dass man diesen Text nicht mit Hilfe des dominierenden Sprechakts definieren kann. Gleiches gilt ebenfalls für das Thema, denn die drei Sprechakte unseres Briefes haben auch drei verschiedene Themen. Im Fall unseres Briefs ist es aber eigentlich nicht schwer, eine übergeordnete Kommunikationsabsicht ausfindig zu machen, die allerdings nicht einem der fünf Searle’schen Sprechakte entspricht. Briefe und Telefongespräche dienen primär dazu, den Kontakt zwischen Menschen auf Distanz aufrecht zu erhalten. Es geht hier um das, was Roman Jakobson (1960) die phatische Funktion der Sprache nennt. Wenn wir den Begriff der Kommunikationsabsicht weiter fassen, indem wir annehmen, dass sie nicht unbedingt die Form eines Sprechaktes haben muss, sondern auch phatisch sein kann, so haben wir eine Lösung für dieses Problem. Gleiches gilt für verschiedene Formen der Kommunikation auf Postkarten, in persönlichen Briefen, in E-Mails und ganz besonders am Mobiltelefon. Jean-Luc Alber (1985) hat sich so gefragt, wozu die Ansichtskarten dienen, die man aus den Ferien seinen Freunden und Bekannten schickt. Er ist zum Schluss gekommen, dass sie dazu dienen, die sozialen Beziehungen zwischen Sender und Empfänger aus der Distanz aufrecht zu erhalten. Folgt man ihm weiter, muss man den Akt des Grüssens als dominierenden Sprechakt verstehen, obwohl dieser gelegentlich fehlt. Auch hier wäre es wohl angemessen, zwischen Kommunikationsabsicht und dominierendem Sprechakt zu unterscheiden. Solche Feriengrüße dienen der Pflege sozialer Beziehungen, welche dominierend durch einen Gruß verwirklicht werden können, aber nicht müssen. 9.6 Der Texttyp Wir trennen deshalb die Kommunikationsabsicht vom dominierenden Sprechakt. Dabei kann der dominierende Sprechakt als die — fakultative — Versprachlichung der Kommunikationsabsicht verstanden werden. Ähnliches gilt für die Kommunikationssituation. In einem formalen Brief wird der Absender oder die Absenderin, sowie die Adressatin oder der Adressat meist <?page no="101"?> 89 explizit genannt. Auch im Gerichtsurteil werden die beteiligten Parteien und ihre Anwälte angeführt. Das sind aber eher Ausnahmen. Meistens spiegelt sich die Kommunikationssituation nicht direkt im Text wieder. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Texttypen aufgrund von außersprachlichen Kriterien zu bestimmen. Wir unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen Texttyp und Textsorte. Üblicherweise betrachtet man den Texttyp als eine übergeordnete Kategorie (cf. Gansel/ Jürgens 3 2009, 65ss.). Wir verstehen ihn als eine Kategorie von Texten, die in erster Linie durch eine bestimmte Kommunikationssituation und eine bestimmte Kommunikationsabsicht definiert sind. Textsorten sind für uns dagegen die einzelsprachliche Realisation eines Texttyps, durch die auch die Natur der untergeordneten Sprechakte in der Illokutionshierarchie und zum Teil sogar deren Versprachlichung festgelegt wird. Dabei sind Texttypen nicht immer sehr leicht zu bestimmen. Wir haben gesagt, der Werbung liege ein Akt des Empfehlens zugrunde. Der Sender bleibt anonym; er spricht aber im Namen des Unternehmens. Es ist deshalb sinnvoll, das Unternehmen als den Sender zu betrachten. Auch die Adressatinnen und Adressaten bleiben zumeist anonym. Man weiß aber, dass sich eine Werbung immer an ein bestimmtes Zielpublikum wendet, d.h. an die potentiellen Käuferinnen und Käufer, und entsprechend platziert werden. Werbungen sind somit eine Textsorte, durch die ein Unternehmen den Erwerb eines Produkt oder einer Dienstleistung einem Zielpublikum empfiehlt. Nehmen wir nun aber das Beispiel einer staatlichen Präventionskampagne, z.B. gegen Alkohol am Steuer. Das Anliegen dieser Werbung ist es nicht ein Produkt zu verkaufen, sondern die Einstellung der Autofahrer und Autofahrerinnen zu verändern. Wir haben es hier mit einer Mischform zu tun, wo mit den Mitteln der Werbung versucht wird, etwas ganz anderes zu erreichen. Wie weit dies gelingt, ist eine andere Frage. Interessant ist der Fall der Präventionskampagnen gegen AIDS, die eigentliche mehr Werbekampagnen für den Gebrauch von Präservativen sind. Schwierig wird es auch im Fall einer Mehrfachadressierung. Gerichtsbeschlüsse sind grundsätzlich deklarative Sprachhandlungen. Deklarationen sind aber komplexe Sprechhandlungen. Der Gerichtsbeschluss muss vollzogen werden, allerdings nur vom Moment an, in dem er rechtskräftig wird. Für den Vollzug sind die Justizvollzugsbehörden verantwortlich. Für diese hat der Gerichtsbeschluss den Wert von Anordnungen, d.h. von direktiven Sprechakten. Der Text wendet sich aber auch an die Prozessparteien, sowie an ein weiteres interessiertes Publikum. Seine Funktion ist in diesen Fällen vor allem informativ, d.h. assertiv. Zu erwähnen ist ferner, dass sich die Texttypen in Untertypen aufzuteilen lassen, indem man weitere Kriterien beizieht. Zu diesen Kriterien gehört zunächst das Medium. Wie bereits erwähnt, lässt sich so die Werbung in Plakat-, Print-, Radio-, Fernseh- und Internetwerbung aufteilen. Ein weiteres Kriterium ist auch das Textthema. So ist die Automobilwerbung eine Werbung, die das Automobil zum Textthema hat, oder die Bierwerbung eine solche, die das Bier zum Textthema hat. <?page no="102"?> 90 Wesentlich ist die Tatsache, dass uns auf diese Weise ein Weg eröffnet wird, Texttypen unabhängig von ihrer sprachlichen Realisation zu definieren. Im Gegensatz dazu sind Textsorten, auf deren Problematik wir im Schlusskapitel zurückkommen werden, an eine gewisse Sprache gebunden und dem historischen Wandel ausgesetzt. Der Texttyp ist dagegen einzig insofern dem historischen Wandel unterworfen, als dass viele Texttypen erst im Laufe der Geschichte als Folge von neuen Kommunikationsbedürfnissen entstanden sind. Aufgrund seiner nicht an eine bestimmte Sprache gebundene Bestimmung eignet sich der Texttyp auch als tertium comparationis im interlinguistischen Textsortenvergleich. <?page no="103"?> 91 10 Die Verknüpfung der Sprechakte im Text Sowohl die gesprochene wie die geschriebene Sprache haben eine lineare Struktur. Wir haben aber zu zeigen versucht, dass die den Sätzen zugrunde liegenden semantisch-pragmatischen Strukturen einen hierarchischen Aufbau haben. Wir postulieren nun das Gleiche für den Text. Im Modell von Brandt und Rosengren wird so der Text als eine Illokutionshierarchie betrachtet, die in einem dominierenden Sprechakt gipfelt. Dabei können die Verknüpfungen zwischen den illokutiven Sprechakten ebenfalls als eine Art von Sprechakten verstanden werden. Wir werden diese Konnektive nennen. Von Brandt und Rosengren übernehmen wir sodann die Unterscheidung zwischen subsidiären Sprechakten, die den dominierenden Sprechakt direkt stützen, und komplementären Sprechakten, die sich mehr auf das Umfeld des Textes beziehen. Sequenzen gleichartiger Sprechakte durchbrechen allerdings die hierarchische Struktur eines Textes. 10.1 Von der hierarchischen Struktur des Sprechakts ... Nach Searle hat die illokutive Kraft F eines Sprechaktes die Funktion eines übergeordneten Prädikats über dem propositionalen Gehalt P (cf. Kap. 4.2.1): F (P) Das ist freilich eine verkürzende Darstellung, denn der propositionale Gehalt besteht ebenfalls aus einem Prädikat und den dazugehörigen Argumenten. Außerdem ist ein Sprechakt auch ein Kommunikationsakt, für den es notwendigerweise einen Sender x und einen Empfänger y braucht. Wenn wir einen explizit performativen Satz wie (10.1) Ich verspreche dir, dass ich dir ein Eis kaufen werde prädikatenlogisch wiedergeben wollen, so erhalten wir eine Formel wie F verspr (x, y, P kauf (x, y, z)) Nehmen wir an, es spreche hier die Mutter zu ihrem Sohn, so ist x die Mutter, y der Sohn und z das Eis. Da es sich um einen explizit performativen Satz handelt, sind Mutter und Sohn auch Sender und Empfänger des Sprechakts. Man könnte dies auch als Dependanzgraphen darstellen: F verspr x P kauf y x y z <?page no="104"?> 92 Ein Sprechakt besteht demnach aus zwei Prädikaten, wobei sich P der illokutiven Kraft F unterordnet. Die beiden Prädikate sind aber sehr unterschiedlicher Natur. Es gibt keinen Satz, wo das Prädikat P und seine Argumente nicht irgendwie im Satz vorhanden wären, notfalls in Form von Anaphern. Die illokutive Kraft F braucht dagegen im Satz nicht explizit sprachlich ausgedrückt zu werden und schon gar nicht braucht der Sender und der Empfänger erwähnt zu werden. Wir sprechen deshalb im Falle von P von einem semantischen und im Falle von F von einem pragmatischen Prädikat. Pragmatisch sind jene Prädikate, die nicht unbedingt sprachlich ausgedrückt werden. Dabei hat Satz (10.1) sowohl in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache keine hierarchische, sondern eine lineare Struktur. Wir haben deshalb angenommen, dass bei der Produktion die hierarchische Denkstruktur in eine lineare Sprachstruktur umgewandelt wird und dass bei der Rezeption der umgekehrte Vorgang stattfindet. 10.2 ... zur hierarchischen Struktur der Texte Im Experiment von Kintsch/ Keenan (1973), mit dem wir uns bereits beschäftigt haben (Kap. 3.2.1), ging es nicht nur um die Auflösung von Sätzen in Propositionen, sondern auch darum zu zeigen, dass diese Propositionen eine Hierarchie bilden. In einem Erinnerungstest konnte so nachgewiesen werden, dass die Propositionen umso besser memorisiert wurden, je höher sie in der Hierarchie standen. Auch die Ergebnisse dieses Tests wurden mehrfach durch spätere Experimente bestätigt (cf. Van Dijk/ Kintsch 1983, 43s.; Christmann 1989, 58-61), wobei Beyer (1987) gezeigt hat, dass dieser Effekt bei längeren Texten am deutlichsten ist. Walter Kintsch selber ist allerdings in der Folge eher von der Meinung abgerückt, ein Text bestehe aus einer Hierarchie von Propositionen beziehungsweise Sprechakten. Dass die Sätze nur dann einen Text bilden, wenn sie miteinander in Bezug stehen, bleibt allerdings unangefochten. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass es so etwas wie einen dominierenden Sprechakt gibt, der die Kommunikationsabsicht des ganzen Textes zusammenfasst, so ist die Annahme, dass der logische Aufbau des Textes hierarchisch ist, fast unausweichlich und wird außerdem durch die erwähnten psycholinguistischen Experimente gestützt. Wir postulieren deshalb für den ganzen Text, was wir für den einzelnen Sprechakt angenommen haben. Auch hier muss bei der Produktion die hierarchische Denkstruktur in eine lineare, d.h. sequentielle Sprachstruktur umgewandelt werden. Brandt und Rosengren (1992) nennen diesen Vorgang Sequenzierung. Entsprechend muss bei der Rezeption von Texten diese hierarchische Struktur wiederhergestellt werden. Das folgende Beispiel stammt aus dem Artikel von Brandt/ Rosengren (1992, 30): (10.2) 1.1 Als Anlage übersenden wir Ihnen unser Schaltschema STA 220 in 6facher Ausführung. <?page no="105"?> 93 1. Wir bitten Sie, uns nach Überprüfung 1 Exemplar mit ihrem Genehmigungsvermerk versehen zurückzusenden. 1.2 Wir hoffen, Ihnen hiermit gedient zu haben. Brandt/ Rosengren stellen die Hierarchie dieser Sprechakte wie folgt dar: 1. DIR sach koop 1.1 ASS 1.2 HOFF Der dominierende Akt 1. ist explizit direktiv; 1.1 ist ein assertiver Akt, während der Fall von 1.2 etwas komplexer ist. Hoffen ist ein Verb des Denkens, das ein assertive Komponente (Ich halte für wahrscheinlich, dass ...) und eine schwach direktive Komponente (Ich möchte, dass ...) enthält. Im Textzusammenhang hat 1.1 jedoch eine sach(verhaltsklärende) und 1.2 ein koop(erationssichernde) Funktion. Stellen wir uns zunächst die Frage, woran man ersieht, dass 1. der dominierende Sprechakt ist und dass 1.1 und 1.2 untergeordnete Sprechakte sind. Formell an gar nichts! Inhaltlich kann man immerhin feststellen, dass der letzte Satz für sich allein keinen Sinn ergäbe. Auch ist es nicht möglich, dass der zweite Satz den ersten stützt, umgekehrt aber schon. Man könnte wohl den Aufbau dieses sehr kurzen Textes erraten, auch wenn man die entsprechende Textsorte nicht kennen würde. Die Kenntnis der Textsorte ist beim Textverständnis jedoch eine wesentliche Hilfe. Tatsächlich ist es in einem Geschäftsbrief üblich, dass man zunächst einmal auf den Kontext des Briefes Bezug nimmt. 1.2 ist dagegen eine typische Höflichkeitsfloskel, wie sie üblicherweise am Ende des Briefs steht. 10.3 Konnektive Im Modell von Brandt und Rosengren sind die drei Sprechakte von Text (10.2) durch zwei verbindende Elemente miteinander verknüpft, welche die Sprechakte 1.1 und 1.2 dem dominierenden Sprechakt unterordnen. Wir möchten diese verbindenden Elemente ähnlich wie die illokutive Kraft als pragmatische Prädikate betrachten. Auch hier handelt es sich um Prädikate, die nur selten ihren sprachlichen Ausdruck in Form von Konnektoren finden, die einen Satz explizit einem anderen unterordnen. Ihre Besonderheit besteht dabei darin, dass ihre Argumente von Sprechakten gebildet werden. Rigotti/ Rocci (2006) verwenden für pragmatische Prädikate aller Art, also auch für die illokutive Kraft, den Begriff connettivo 35 . Dieser Begriff scheint 35 Ich habe selber im zusammen mit den erwähnten Autoren verfassten Modul ‚Du texte au dialogue/ Dal testo al dialogo’ von Swissling diesen Begriff verwendet. <?page no="106"?> 94 mir allerdings weit mehr auf jene pragmatischen Prädikate zugeschnitten, die Sätze in der Art von Konnektoren miteinander verbinden. Ebenso werde ich nicht wie Brandt und Rosengren den Begriff der Illokution ausweiten und von sachverhaltsklärenden oder kooperationssichernden Illokutionen sprechen. Wir werden den Begriff der Illokution ausschließlich im klassischen Sinne verwenden und den Begriff Konnektiv auf jene pragmatischen Prädikate beschränken, welche die Sprechakte untereinander verbinden. Den Begriff Sprechakt werden wir allerdings in beiden Fällen gebrauchen. Mit Ausnahme des dominierenden Sprechaktes haben nämlich alle Sprechakte im Text eine doppelte Funktion, eine Funktion an und für sich, die ihnen die Illokution F zuweist, und eine Funktion im Text, die vom Konnektiv K abhängt, das sie dem übergeordneten Sprechakt unterstellt. So kann man den Sprechakt 1.1 im Text (10.3) sowohl als assertiven wie als sachverhaltsklärenden Sprechakt verstehen. Konnektive sind tatsächlich eine Art zusätzlicher Kategorie von Sprechakten. Versucht man allerdings die Konnektive prädikatenlogisch darzustellen, so ergibt sich eine erhebliche Schwierigkeit. Im traditionellen Prädikatenkalkül sind nämlich alle Argumente gleichwertig. So ist nicht erkennbar, dass in einer Formel wie der folgenden mit dem Konnektiv K als pragmatischem Prädikat K (F , F , F ...) F die übergeordneten Illokution und F , F zwei untergeordneten Illokutionen darstellen sollen. Ich würde deshalb die folgende Darstellung vorschlagen: K (F ) 0 , (F , F ...) -1 Die Indizes 0 und -1 zeigen dabei an, dass F der dominierende und F , F ... die untergeordneten Sprechakte sind 36 . 10.4 Ein Urteil des schweizerischen Bundesgerichts Die wohl einzige Textsorte, bei der die syntaktische Struktur die Illokutionshierarchie widerspiegelt, ist die traditionelle französische Form des Gerichtsbeschlusses in einem Satz. Diese Tradition hat sich nicht nur im französischen, sondern ebenso im belgischen und luxemburgischen Gerichtswesen bewahrt. Auch in der kanadischen Provinz Québec und am Schweizer Bundesgericht in Lausanne greift man bei relativ einfachen Fällen gelegentlich auf diese Form der Abfassung zurück, bei welcher der dominierende Sprechakt den Hauptsatz bildet, dem alle anderen Sprechakte sowohl logisch wie syntaktisch untergeordnet sind. Wir haben als Beispiel ein deutschsprachiges Urteil des schweizerischen Bundesgerichts gewählt: 36 Da sich in einem Text die Sprechakte kaskadenförmig über mehrere Stufen unterordnen, sind auch Indizes wie -2 oder -3 möglich. <?page no="107"?> 95 (10.3) Nach Einsicht in das Schreiben vom 10. September 2008, worin Ö.________ die Beschwerde vom 25. Februar 2008 gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. Dezember 2007 zurückzieht, in Erwägung, dass die Beschwerde gemäss Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 73 Abs. 1 BZP im Verfahren nach Art. 32 Abs. 2 BGG abzuschreiben ist, dass in Anwendung von Art. 66 Abs. 2 BGG auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet wird, verfügt die Einzelrichterin: 1. Das Verfahren wird infolge Rückzugs der Beschwerde abgeschrieben. 2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 3. Diese Verfügung wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. (www.bger.ch, 8C_152/ 2008) Aufgabe eines Gerichts ist es, in einer Rechtssache einen Entscheid zu fällen. Dieser Entscheid steht im so genannten Dispositiv, welches in der Schweiz — wie auch in den romanischen Ländern — immer am Schluss, in Deutschland und in Österreich hingegen immer am Anfang steht. Dass das Dispositiv der zentrale Teil eines Urteils ist, wird auch dadurch unterstrichen, dass bis zur Revolution die französischen Urteile einzig aus dem Dispositiv bestanden (cf. Krefeld 1985, 81ss.), da die Richter es nicht für nötig befanden, ihre Entscheide zu begründen. Dem Dispositiv gehen zwei — syntaktisch wie inhaltlich — untergeordnete Arten von Sprechakten voraus, die durch Nach Einsicht in ... und in Erwägung, dass ... eingeleitet werden. Durch Nach Einsicht in ... wird ein Sprechakt eingeleitet, welcher den Text in einen Kontext stellt, während die Erwägungen Begründungen für das folgende Urteil sind. Dabei bezieht sich in unserem Urteil die erste Begründung auf Punkt 1 (Abschreibung) und die zweite Begründung auf Punkt 2 (Gerichtskosten) des Dispositivs. In ausführlicheren Urteilen sind diese beiden Teile mit Sachverhalt und Erwägungen überschrieben. Die Darstellung des Sachverhalt befasst sich mit der Vorgeschichte des Falls, die in narrativer Form rapportiert wird. Als Beispiel dazu geben wir den Anfang eines weiteren Urteils des Schweizer Bundesgerichts wieder: (10.4) Der aus Guinea stammende X.________, geboren 1978, stellte im März 2000 unter falschem Namen ein Asylgesuch. Am 23. Oktober 2003 heiratete er eine Schweizer Bürgerin und erhielt in der Folge eine Aufenthaltsbewilligung. Das eheliche Zusammenleben wurde im Laufe des Jahres 2005 aufgegeben, die Ehe wurde am 7. November 2007 geschieden. Am 9. Mai 2008 lehnte das Migrationsamt des Kantons Zürich eine weitere Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von X.________ ab und setzte ihm eine Frist zum Verlassen des Kantons Zürich an (Wegweisung) ... (2C_736/ 2008) <?page no="108"?> 96 Kein Text enthält alle Informationen, die zu seinem Verständnis notwendig sind, sondern setzt das voraus, was man das gemeinsame Wissen nennt. Durch den Text selber wird jedoch dieses Wissen ständig auf den neuesten Stand gebracht (cf. Kap. 6.4). Dies ist die Aufgabe der Darstellung des Sachverhalts. Sie stützt das Urteil nicht direkt, sie ist aber notwendig, um das Urteil zu verstehen. Das zeigen insbesondere jene Entscheide des deutschen Bundesgerichtshofs 37 , bei denen darauf verzichtet wird, was deutlich auf Kosten der Verständlichkeit geht (cf. Kap. 25.3.3). Die Erwägungen stützen das Dispositiv direkt, indem sie es begründen und gegebenenfalls die Argumente der Parteien widerlegen. Brandt und Rosengren nennen Sprechakte, „die direkt darauf abzielen, den Erfolg der dominierenden Illokution zu sichern“ (1992, 18), subsidiär. Sprechakte, die sich mehr auf das Umfeld des Textes beziehen wie die sachverhaltsklärenden, nennen Brandt und Rosengren dagegen komplementär. Sie unterteilen ferner die komplementären Sprechakte in sachverhaltsklärende und kooperationssichernde. Damit die Kommunikation gelingt, ist es wichtig, dass die notwendige emotionale Beziehung zwischen den an der Kommunikation Beteiligten gewährleistet ist. Kooperationssischernde Sprechakte sind somit solche, deren Funktion es ist, im Text eine positive Beziehung zwischen den an der Kommunikation Beteiligten aufzubauen. Brandt und Rosengren geben dafür Beispiele wie das folgende: (10.5) Wir hoffen, dass Sie unserer Bitte entsprechen, und sehen Ihrer baldigen Rückäußerung mit Interesse entgegen. Wir bedanken uns bereits heute für Ihr Entgegenkommen. 10.5 Sequenzen Ein Problem bildet nun aber das Dispositiv in Text (10.3). Scheinbar haben wir es mit drei Sprechakten zu tun. Man könnte zwar versucht sein, auch hier eine Hierarchie aufzustellen. In einem französischen Urteil, das sich an eine strikte Einsätzigkeit hält, würde man sich auf Punkt 1 (die Mitteilung des Rückzugs) beschränken, was man deshalb als den wichtigsten Beschluss ansehen darf. Dass die Kosten mitgeteilt werden wie in Punkt 2, ist auch anderswo üblich, während Punkt 3, der die Empfänger des Urteils aufzählt, eine ausgesprochene Besonderheit der schweizerischen Gerichtsbarkeit zu sein scheint. Zu beachten ist aber, dass das Dispositiv durch das Verb verfügen eingeleitet wird, das in dieser Bedeutung als explizit performatives Verb der deklarativen Art verstanden werden darf. Sein Subjekt ist die Einzelrichterin. Der propositionale Gehalt wird in den von 1. bis 3. durchnummerierten Sätzen nachgetragen. Formal haben wir es somit mit einem einzigen illokutiven Akt zu tun, dem sich drei propositionale Inhalte unterordnen. Dies lässt sich prädikatenlogisch wie folgt darstellen: 37 Cf. http: / / www.bundesgerichtshof.de/ <?page no="109"?> 97 F dekl (P a & P b & P c ) Wir haben es somit nicht mit einer Hierarchie, sondern mit einer Aufzählung zu tun, wobei die Tatsache, dass das Wichtigste am Anfang der Aufzählung steht nichts Ungewöhnliches ist. Es wird allgemein geraten, eine Aufzählung mit dem Wichtigsten zu beginnen und mit dem Unwichtigsten zu beschließen. Wir sprechen in einem Fall, wo die Sprechakte keine Hierarchie bilden, von einer Sequenz. Dabei möchten wir annehmen, dass die obige Formel für alle Sequenzen gilt, d.h., dass die illokutive Kraft allen propositionalen Inhalten einer Sequenz gemeinsam ist und damit das Bindeglied der Sequenz bildet. Zusätzlich können die einzelnen propositionalen Inhalte durch koordinative Konnektoren wie und, oder, einerseits ... andererseits, zuerst ... dann ... zuletzt usw. verbunden werden. In Beispiel (10.3) geschieht dies durch die Nummerierung. Die Sequenz, mit der wir es in diesem Dispositiv zu tun hatten, war rein enumerativ. Es gibt aber auch temporale Sequenzen. Text (20.4) ist dafür ein Beispiel. In diesem Fall werden, die Ereignisse in jener Abfolge erzählt, in der sie sich ereignet haben. Das einzige sprachliche Indiz, das wir es in (20.4) mit einer temporalen Sequenz zu tun haben, ist der Gebrauch des Präteritums. 10.6 Teiltexte Dass es in den Texten nicht nur Hierarchien, sondern auch Sequenzen gibt, war auch Brandt und Rosengren bewusst, obwohl sie dieses Problem nicht wirklich ansprechen. Dies zeigt das folgende Beispiel, das ich etwas vereinfacht aus Brandt/ Rosengren (1992, 26s.) übernommen habe: (10.6) 1.1a Mit unserem Schreiben vom 18.12.79 haben wir Ihnen Ihre Anzahlung in Höhe von skr 122 000,— garantiert, falls unsere Konzernfirma, die Wr. B. u. K. AG, die übernommene Verpflichtung zur Lieferung und Montage des C-Krans nicht erfüllen sollte. 1.1b Gleichzeitig wurde unser Werkshaftbrief mit dem Zeitpunkt befristet, an dem sämtliche Lieferungen und Leistungen laut Ihrer Bestellung durchgeführt sind. 1.2 Da in der Zwischenzeit alle vertraglichen Verpflichtungen von unserer Konzernfirma erfüllt wurden, 1. ersuchen wir Sie, uns den eingangs erwähnten Garantiebrief zurückzusenden. Dazu bemerken Brandt und Rosengren (1992, 37): „In diesem Text bilden die Assertionen 1.1a und 1.1b einen inhaltlichen Block, der den sachlichen Hintergrund zusammenfasst.“ Sie stellen deshalb seinen hierarchischen Aufbau wie folgt dar: <?page no="110"?> 98 1. DIR sach subs 1.2 ASS 1.1a ASS 1.1b ASS Dass die assertive Kraft hier nicht als dem inhaltlichen Block gemeinsam dargestellt wird, braucht uns nicht zu stören. Mein Unbehagen angesichts dieser Darstellung hat einen anderen Grund. Wir haben es bei 1.2 mit einem subsidiären (argumentativen) Konnektiv zu tun, bei 1.1a und 1.1b dagegen mit einem komplementären (sachverhaltsklärenden) Konnektiv. Wozu soll aber diese Unterscheidung dienen, wenn sie in der graphischen Darstellung nicht zum Ausdruck kommt? Nun haben allerdings sachverhaltsklärende Sprechakte wie in diesem Fall oft eine latent argumentative Funktion. 1.1a und insbesondere 1.1b erklären, wieso im Zeitpunkt, wo alle vertraglichen Verpflichtungen erfüllt wurden, der Garantiebrief zurückzusenden ist. Ich komme deshalb zum Schluss, dass die gesamte sachverhaltsklärende Sequenz der Argumentation als Ganzes — bestehend aus dem Argument 1.2 und der Folgerung 1. — untergeordnet ist. Wir sprechen in einem solchen Fall von Teiltexten. Grundsätzlich sind alle Sequenzen Teiltexte. Teiltexte können aber auch aus einer Verbindung von dominierenden und untergeordneten Sprechakten bestehen. So haben wir es in Beispiel (10.6) mit einem dominierenden Teiltext T o — bestehend aus 1.2 und 1. — und einem untergeordneten Teiltext T- 1 — bestehend aus 1.1a und 1.1b — zu tun. Diese beiden Teiltexte (und nicht die einzelnen Sprechakte) werden durch ein sachverhaltsklärendes Konnektiv K sach gemäß der folgenden Formel zusammengehalten: K sach ( T o , T- 1 ) 10.7 Ausblick Es konnte nur die Aufgabe dieses Kapitels sein, das Modell einer Illokutionshierarchie knapp zu skizzieren. Was hier gesagt wurde, soll in den folgenden Kapiteln präzisiert werden. Es geht uns dabei darum, eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt, den implizit hierarchischen Aufbau von Texten möglichst eindeutig zu erfassen. Ausgangspunkt einer solchen Textanalyse muss dabei immer die Identifikation des dominierenden Sprechaktes sein. In Kapitel 11 werden wir allerdings sehen, dass dieser in gewissen Textsorten implizit bleibt. In Kapitel 12 werden wir zudem zeigen, dass es auch Sprechakte gibt, die sich nicht in die Hierarchie des Haupttextes einordnen und eine Art von Texten über Texte bilden. Anschließend befassen wir uns zunächst mit den subsidiären Sprechakten. Dabei hat die entsprechende Klassifizierung von Brandt und Rosengren of- <?page no="111"?> 99 fensichtlich schon Wolfgang Motsch (1996, 22) nicht zu überzeugen vermocht. Sein Vorschlag, stattdessen zwischen Sprechakten zu unterscheiden, die das Verstehen, die Akzeptanz und die Ausführung stützen, vermag mich aber ebenfalls nicht zu befriedigen. Wir werden deshalb zwei Arten von subsidiären Konnektiven unterscheiden, nämlich diejenigen, die auf einer logischen, und diejenigen, die auf einer semantischen Beziehung beruhen. Was die ersteren betrifft, so besteht ein häufiger Fehler darin, dass nicht zwischen argumentativen und kausalen Konnektiven unterschieden wird. Diese Unterscheidung wird deshalb zunächst in Kapitel 13 erläutert. Im Gegensatz zu den kausalen sind die argumentativen Sprechakte textkonstituierend und werden deshalb ausführlicher behandelt. In Kapitel 14 befassen wir uns so mit den verschiedenen Arten von Argumentationen, die für verschiedene Textsorten charakteristisch sind. In Kapitel 15 werfen wir sodann die häufig diskutierte Frage auf, welche Arten von Argumentationen legitim sind. Als eine Form der semantischen Expansion betrachten wir in Kapitel 16 die Spezifizierungen. Es geht darum, wie man zu einem gegebenen Thema sukzessiv weitere Angaben machen kann. Während es auf dem Gebiete der Argumentationstheorie eine reichhaltige Literatur gibt, standen wir hier vor der Schwierigkeit, dass Vorarbeiten auf diesem Gebiet fehlen. Wir befassen uns danach mit den beiden Arten von Sequenzen, von denen bereits die Rede war, nämlich mit den enumerativen und den temporalen (Kap. 17). Temporale Sequenzen liegen insbesondere Erzählungen zugrunde, weshalb wir uns im folgenden Kapitel 18 mit den Unterschieden zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen befassen müssen. Es wird sich zeigen, dass diese Unterschiede sehr subtil sind. Sie betreffen auch das Problem der Rede- und Gedankenwiedergabe, das den Gegenstand von Kapitel 19 bildet. Obwohl sich die vorliegende Untersuchung im Wesentlichen nur mit geschriebenen Texten befasst, schien uns an dieser Stelle ein Exkurs zur Gesprächslinguistik in Kapitel 20 notwendig. Dabei werden wir eine zusätzliche Kategorie von Konnektiven entdecken, durch welche die verschiedenen Gesprächsbeiträge in einem Dialog miteinander verbunden werden. Erst dann wenden wir uns den komplementären Konnektiven zu; diese können sich nämlich auch einer Sequenz unterordnen. Brandt und Rosengren haben sie in sachverhaltsklärende und kooperationssichernde Sprechakte unterteilt. Diese beiden Kategorien erweisen sich jedoch als unzureichend beziehungsweise als zu restriktiv. Wir werden diese deshalb als Untergruppen jener Sprechakte betrachten, die wir informationserweiternd und emotionsunterstützend nennen werden. Die ersteren bilden den Gegenstand von Kapitel 21, während Kapitel 22 sich mit den beschreibenden Texten und der Rolle befasst, welche die komplementären Sprechakte darin spielen. Kapitel 23 ist sodann nicht nur den emotionsunterstützenden Akten gewidmet, sondern allgemein der Vermittlung von Gefühlen und Werten in Texten. Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf die geschriebene Sprache. Viele Textsorten sind aber heute bimodal oder sogar multimodal. Kapitel 24 hat deshalb ein wenig die Funktion eines Nachtrags, in dem wir uns vor allem mit dem Zusammenwirken von Bild und Text befassen. In einem zusammen- <?page no="112"?> 100 fassenden Schlusskapitel (25) kehren wir dann zum allgemeinen Problem der Texttypologie zurück. Irgendwann hatte auch der Verfasser dieses Buchs die Absicht, eine eigene Texttypologie zu entwickeln. Die Aufgabe stellte sich dann aber als derart immens heraus, dass er sie bald aufgegeben hat. Seine Betrachtungen können deshalb höchstens als Prolegomena zu einer solchen Typologie gewertet werden. <?page no="113"?> 101 11 Der dominierende Sprechakt Nach der Theorie der Illokutionshierarchie wird die globale Kommunikationsabsicht eines Textes durch einen dominierenden Sprechakt ausgedrückt. Wir werden uns hier allerdings mit einer Reihe von Textsorten beschäftigen, in denen diese Kommunikationsabsicht unausgesprochen bleiben kann (Werbetexte, politische Reden, Gesetze) oder durch den Titel ausgedrückt wird (Anweisungstexte und Zeitungsmeldungen). Es ist aber nicht möglich, einen Text wirklich zu verstehen, ohne dass man erfasst hat, welche Kommunikationsabsicht dahinter steht. Üblicherweise gehen wir deshalb an einen Text mit einer entsprechenden Vermutung heran. Erkennen wir die Textsorte als solche, so wissen wir auch, mit welcher Art von Kommunikationsabsicht wir es zu tun haben, denn diese gehört zur Definition der Textsorte. Ein Sonderfall sind allerdings direktive Texte, deren direktive Funktion nur für die primären Adressatinnen und Adressaten gilt. 11.1 Den dominierenden Sprechakt finden Der dominierende Sprechakt fasst die wesentliche Botschaft eines Textes zusammen. Er ist für das Textverstehen besonders wichtig, denn “a coherent text is recognized by the global meaning that readers can make of it“ (Le 2009, 113). Leider ist es aber gar nicht immer leicht, diesen zu finden. Frédéric Nef (1980) hat sich mit dieser Frage in seiner Analyse eines Textes befasst, den Valéry Giscard d’Estaing kurz vor den Parlamentswahlen im Jahre 1978 publizieren ließ. Dieser Text beginnt mit einer persönlichen Erinnerung aus dem zweiten Weltkrieg und endet mit dem berühmten Satz: (11.1) Et alors, comme vous l’avez toujours fait, vous ferez le bon choix pour la France! Giscard d’Estaing will auf diese Art und Weise natürlich seinen Leserinnen und Lesern empfehlen, für seine Mehrheit zu stimmen. Indem er sagt, sie würden bestimmt die richtige Wahl für Frankreich treffen, geschieht dies in einer sehr indirekten Form. Außerdem steht dieser Satz ganz am Ende des Textes. Nach Nef würde sich die globale Kommunikationsabsicht des Textes deshalb erst aus diesem Schlusssatz retroaktiv herleiten lassen. Wir müssten also zunächst den ganzen Text lesen, bevor wir Betrachtungen anstellen könnten, was der Verfasser oder die Verfasserin eigentlich sagen wollte. Dieser Fall kann durchaus bei einem älteren Text eintreten, wenn wir uns nicht mehr bewusst sind, in welchem Umfeld er verfasst wurde. Unser Text wurde jedoch in einer bestimmten Kommunikationssituation veröffentlicht und richtete sich an bestimmte Adressatinnen und Adressaten. Diesen war bewusst, dass in Frankreich ziemlich schicksalhafte Wahlen bevorstanden, hatten doch die Umfragen erstmals seit langem einen Sieg der Linken vorausgesagt. Sie wussten auch, mit welcher politischen Koalition ihr damaliger Präsident regierte. Es genügte ihnen also zu sehen, von wem der Text stammte, um die Hypothese zu bilden, dass es sich um einen Wahlaufruf <?page no="114"?> 102 des Präsidenten zugunsten seiner rechten Parlamentsmehrheit handeln müsse. Alles andere hätte in dieser Situation überrascht. Auch der Schlusssatz an und für sich ist ohne die Kenntnis der damaligen politischen Situation in Frankreich schwer zu verstehen. Blum-Kulka et al. (1989) würden hier von einer unkonventionellen Anspielung sprechen. Es handelt sich also um eine Form der Anspielung, die nicht bereits lexikalisiert ist und die eine Deutung verlangt. Dazu braucht es zusätzliche Informationen, die sich ebenfalls aus der Kommunikationssituation ergeben. Auf diese Informationen greift man jedoch nicht erst beim letzten Satz zurück. Bei der Lektüre von Texten hat man meist schon eine Vermutung, worum es geht, bevor man überhaupt mit der Lektüre beginnt. Diese Vermutung kann dann sowohl bestätigt wie auch in Frage gestellt werden. Dieses Hin und Her zwischen der Textlektüre und den Vermutungen, die man über Absicht und Aufbau des gesamten Textes macht, bilden jenen Vorgang, den man als interaktive Lektüre bezeichnet (cf. Kap. 1.5). 11.2 Werbung Man hat ausgerechnet, dass man für die „Lektüre“ einer Werbeanzeige bei geringem Interesse weniger als 2 Sekunden aufwendet (cf. Kroeber-Riel/ Esch 5 2000, 138 und passim). Es ist völlig klar, dass diese Zeit nicht ausreicht, um einen Werbetext zu lesen. Ein oberflächlicher Kontakt hat der Leserin oder dem Leser also bereits genügt, um zu erfassen, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt. Wie ist dies möglich? Werbeanzeigen hatten traditionellerweise einen recht konventionellen Aufbau. Man kann so zwischen Bild, Headline, Fließtext, Logo und Slogan unterscheiden. In neuester Zeit ist diese Form allerdings aufgeweicht worden (cf. Reimann 2008, 324-326); dafür dominiert mit wenigen Ausnahmen das Bild. Der Hinweis auf eine Internetadresse, wo man jene Informationen findet, die nicht mehr in der Werbeanzeige selber stehen, ist dagegen nahezu obligatorisch geworden. Es gehört auch zur Regel, dass das Produkt, für das geworben wird, im Bild selber — meist als so genannter pack shot — erscheint. Die Leserinnen und Leser können deshalb nicht nur leicht erraten, dass es sich um eine Werbeanzeige handelt, sondern auch, wofür sie wirbt. Nur so ist es erklärbar, dass die Betrachtungszeit davon abhängt, ob das Produkt den Leser oder die Leserin interessiert. Bei Anzeigen, die nicht mit dem Bild des Produktes selber werben, kann der erste visuelle Eindruck sogar zu einer Falle werden. Kroeber-Riel/ Esch ( 5 2000, 236) zitieren dazu eine Aussage des ehemaligen Leiters der Marktforschung von Henkel, Eitelfritz Cabus: In einer Testanzeige für PRIL hatten wir zum Beispiel neben Geschirr als Spülgut eine dampfende Tasse Kaffee abgebildet nach dem Motto: flink mit Pril gespült, gönn Dir eine Tasse Kaffee. Die Anzeige wurde von einer Reihe von Versuchspersonen auch nach halbstündiger Auseinandersetzung noch für eine Kaffeeanzeige gehalten. <?page no="115"?> 103 Wie wir bereits in Kapitel 9.1 gesagt haben, ist der dominierende Akt in einer Produktwerbung eine Kaufempfehlung für das beworbene Produkt. Dieser Akt wird aber bloß indirekt oder gar nicht realisiert. Es gibt zwar Werbetexte, die mit einem direktiven Sprechakt enden, doch ist das Verb kaufen und seine Synonyme in andern Sprachen in der Werbung offenbar ein Tabuwort. Der Fließtext der folgenden Anzeige der Holzwirtschaft endet zwar mit einem Imperativ, es ist dies aber ein Appell, „Verantwortung für Umwelt und Klima“ zu übernehmen, nachdem der vorangehende Text durchblicken ließ, dass man etwas für Umwelt und Klima tut, wenn man mit Holz baut: (11.2) Wenn Sie Wert auf zeitgemäßes Wohnen legen, bietet Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft unbegrenzte Möglichkeiten. Beispielsweise bei einer Sanierung, mit der Sie Energie und Kosten sparen. Nachhaltig bauen und modernisieren — zeigen auch Sie Verantwortung für Umwelt und Klima. (Focus 39, 22/ 09/ 2008, p. 39) Was auffällt, das ist die Frequenz des positiv axiologischen Vokabulars (zeitgemäß, nachhaltig, unbegrenzt usw.). Dies ist für Werbeanzeigen ausgesprochen charakteristisch. Wir haben gesagt, dass der dominierende Akt eine Empfehlung ist. Nun präsupponiert der Akt des Empfehlens jedoch „hinsichtlich des propositionalen Gehalt der Äußerung […], dass sie im Allgemeinen, d.h. für Jeden, gut ist“ 38 . Es genügt deshalb eigentlich, dass man in einer Werbung sagt, das beworbene Produkt sei gut, neu, preiswert, sicher usw., um es zu empfehlen. Viele Werbetexte bleiben auf diesem Niveau der Argumentation stehen und sind damit nicht sehr interessant. Die folgende Anzeige ist im August 2008 erschienen, als das Ausmaß der Verluste der Bayern LB noch nicht bekannt war und kann deshalb nachträglich unfreiwillig komisch wirken. Die Argumentation ist jedoch raffiniert. Die Headline lautete „19.206 Profis auf der Bank“ und eine — sehr kleine — Abbildung zeigt die Ersatzbank einer Fußballmannschaft. Es wird in dieser Anzeige mit der Doppelbedeutung von Bank (zum Sitzen und für Geldgeschäfte) gearbeitet. Der folgende Untertitel „Ein kluger Wechsel kann Ihre Mannschaft schnell in Führung bringen“ bezieht sich in seiner ersten Bedeutung ebenfalls auf die Auswechslung in einem Fußballspiel. In seiner zweiten Bedeutung ist er jedoch eine Aufforderung, die Bank (Finanzinstitut) zu wechseln. Diese Zweideutigkeit durchzieht den ganzen Fließtext: (11.3) Wenn Sie in Führung gehen wollen, bringen Sie einfach die BayernLB Group ins Spiel. Die besten Profis warten dort auf Ihren Einsatz: Erfahren. Hochmotiviert. Und bewährt im internationalen Geschäft. Zeit für den Wechsel. Zeit für neue Kräfte und bessere Ideen. Zeit für eine starke Bank. Mehr erfahren Sie unter www.bayernlb.de. (Der Spiegel 33, 11/ 08/ 2008, p. 28) Der Hinweis auf die Homepage ist hier gleich in den Text integriert. Der durchgehende Vergleich mit der Fußballersatzbank genügt aber natürlich noch nicht, um für neue Kunden zu werben. Es braucht auch noch Argumen- 38 Rolf 1997, 187, cf. auch Searle/ Vanderveken 1985, 203s., Vanderveken 1988, 185; 1990, 197. <?page no="116"?> 104 te dafür, wieso man die Bayern LB wählen soll. Dazu dienen einmal mehr die positiv axiologischen Ausdrücke. Sie sind in dieser Anzeige besonders häufig: Führung, Einsatz, erfahren, hochmotiviert, bewärt, neu, besser und stark. 11.3 Politische Reden Bei Wahlreden wie in Beispiel (11.1) ist es eigentlich klar, dass die Empfehlung, jemanden zu wählen, der dominierende Sprechakt ist. Ein Redner wird allerdings kaum eine Rede mit dem Appell „Wählen Sie mich! “ beschließen. Ohnehin scheint in der Wahlwerbung das deutsche Verb wählen und das französische Verb voter im Gegensatz zum italienischen votare und dem englischen to vote ein Tabuwort zu sein. Appelle, auch in abgeschwächter Form, sind verhältnismäßig wichtige Sprechakte in politischen Reden, wie z.B. die Untersuchung von Klaus Stüwe (2005, 180-194) zur Großen Regierungserklärung der deutschen Bundeskanzler gezeigt hat. Diese Funktion tritt allerdings in Reden und Diskussionen, wo Politikerinnen und Politiker ihre Politik verteidigen, zurück. Hier gilt es, den eigentlichen Zweck politischer Reden im Auge zu behalten. Wir teilen dabei die Meinung von Alexander Tillmann (1989), der als übergeordnetes Handlungsziel politischer Reden durchgehend den Machterwerb beziehungsweise den Machterhalt annimmt. Auch Paul Valéry (1945, 227) meinte: „… la politique consiste dans la volonté de conquête et de conservation du pouvoir“. Dies erklärt, wieso sich die Reden von Diktatoren oft gar nicht so sehr von denen demokratischer Politiker unterscheiden. Es geht auch dort um den Machterhalt; Reden von Oppositionellen, die an die Macht wollen, sind allerdings in Diktaturen nicht erlaubt. Machterwerb und Machterhalt sind jedoch Textfunktionen, die keinem konkreten Sprechakt entsprechen. Sie können einzig dadurch verbalisiert werden, dass die Rednerin oder der Redner sein Publikum um Vertrauen für sich beziehungsweise für die Partei oder die Regierung bittet. Zumeist wird dies nicht ausdrücklich gesagt. In der Kosovo-Rede von Joschka Fischer kommt dieser Zweck jedoch überdeutlich zum Ausdruck. Außenminister Fischer musste damals an einem Parteitag der Grünen im Mai 1999 gegen die Pazifisten in seiner eigenen Partei den Beschluss der Regierung verteidigen, an der militärischen Intervention im Kosovo teilzunehmen. Sein Schlussappell lautete dann wie folgt: (11.4) Und was ich euch als Außenminister bitte, ist, dass ihr mir helft, dass ihr Unterstützung gebt und dass ihr mir nicht Knüppel in die Beine werft und dass ich nicht geschwächt, sondern gestärkt aus diesem Parteitag herausgehe, um unsere Politik weiter fortsetzen zu können. <?page no="117"?> 105 11.4 Gesetzestexte Auch bei Gesetzestexten ist es kaum möglich, einen dominierenden Sprechakt ausfindig zu machen. Dabei gibt es einen streng hierarchischen Aufbau bei den Titeln. Im schweizerischen Strafgesetzbuch werden in dieser Hinsicht nicht weniger als vier Ebenen unterschieden: (11.5) Erstes Buch: Allgemeine Bestimmungen Erster Teil: Verbrechen und Vergehen Erster Titel: Geltungsbereich Art. 1: Keine Sanktion ohne Gesetz […] Zweiter Titel: Strafbarkeit […] Zweites Buch: Besondere Bestimmungen […] Der allgemeine Teil besteht aus allgemeinen Grundsätzen und grundlegenden Definitionen, beginnend mit dem in zivilrechtlichen Ländern grundlegenden Prinzip „Keine Strafe ohne Gesetz“, das man mehr oder weniger umständlich formulieren kann: (11.6) a. Eine Strafe oder Maßnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt. (Schweiz, Art. 1) b. Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (Deutschland, § 1) c. Eine Strafe oder eine vorbeugende Maßnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die unter eine ausdrückliche gesetzliche Strafdrohung fällt und schon zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht war. (Österreich, Art. 1 (1)) Der besondere Teil besteht dann aus dem Maßnahmenkatalog. Darin kann man den eigentlichen Zweck des Strafgesetzes erblicken, während dem allgemeinen Teil als Teiltext eine sachverhaltsklärende Funktion zukommt. Tatsächlich ist die Kommunikationsabsicht, die hinter einem Strafgesetzbuch steht, nicht schwer zu erraten. Es geht darum, Regeln für die Strafgerichtsbarkeit zu schaffen, damit vergleichbare Vergehen oder Verbrechen auch vergleichbar bestraft werden. Diese Kommunikationsabsicht wird in gewissen Gesetzen durch einen Zweckparagraphen ausgedrückt, im Falle der Strafgesetzbücher dagegen als bekannt vorausgesetzt. Was nun den Maßnahmenkatalog betrifft, so haben die einzelnen Bestimmungen immer wieder den gleichen Aufbau. Sie bestehen aus der Nennung eines Tatbestands und der sich daraus ergebenden Rechtsfolge: (11.7) Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht [Tatbestand], wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft [Rechtsfolge]. (Schw. Strafgesetzbuch, Art. 117). <?page no="118"?> 106 Der Tatbestand ist als eine Rahmenangabe im Sinne von Kapitel 6.5 zu verstehen. Er legt einen Rahmen fest, innerhalb dessen die Rechtsfolge eintritt. Der Nebensatz hat hier keine assertive Funktion, er präsupponiert höchstens, dass man den Tod eines Menschen fahrlässig verursachen kann. Hier gibt es jedoch ein formallinguistisches Problem. Die Rechtsfolge steht in den heutigen Gesetzen im Indikativ Präsens und dies nicht nur in der deutschen Sprache 39 . Juristen sind der Meinung, diesem Präsens Indikativ komme der Wert eines Imperativs zu, was von einem linguistischen Standpunkt aus merkwürdig ist, weshalb auch schon verschiedene andere Deutungen vorgeschlagen wurden (cf. Wüest 2002, 182s.). Allerdings ist dieser Gebrauch nicht alt und geht wohl auf den Einfluss des Code Napoléon zurück (cf. Wüest 1993b). In älteren deutschsprachigen Gesetzen wurde an dieser Stelle das Modalverb sollen verwendet und im angelsächsischen Recht, das nie unter dem Einfluss des Code Napoléon stand, wird heute noch shall gebraucht. Im Französischen und Italienischen stand hier früher ein ebenfalls modal zu verstehendes Futur, sofern nicht gar explizit performative Verben direktiver Natur mit dem Monarchen als Subjekt zur Anwendung kamen. Das spricht eigentlich durchaus dafür, dass es sich im Grunde um einen direktiven Sprechakt handelt. Juan C. Sager (1993, 70) weist allerdings darauf hin, dass Gesetzestexte ein Fall von Mehrfachadressierung sind. Einerseits haben sie für ein nicht selber betroffenes Publikum eine informative Funktion, andererseits aber für die direkt Betroffenen und zuvorderst für die Rechtsinstanzen eine direktive Funktion. Dabei dürfen allerdings die Rechtsinstanzen als die primären Adressatinnen eines Gesetzestextes verstanden werden, weshalb man die Gesetzestexte durchaus zu den direktiven Textsorten rechnen darf. Wir haben es hier mit einem allgemeinen Problem direktiver Textsorten zu tun. Direktive Sprechakte wenden sich an bestimmte Adressatinnen oder Adressaten. Wer einen solchen Text liest, ohne selber Adressatin oder Adressat zu sein, kann ihn dagegen nur als Information zur Kenntnis nehmen. Das gilt selbst für die Werbung, obwohl sie anpreist, was angeblich für Alle gut ist. Werber wissen aber sehr wohl, dass sich eine Werbeanzeige an ein bestimmtes Zielpublikum wendet und entsprechend platziert werden muss. 11.5 Anweisungstexte Ein ähnliches Problem ergibt sich bei den Anweisungstexten wie Gebrauchs- und Betriebsanleitungen, Kochrezepten, Wegbeschreibungen usw. 40 Susanne 39 In der französischen Fassung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs wird allerdings im Gegensatz zu der deutschen und italienischen Fassung das Futur verwendet, was unter französischsprachigen Gesetzestexten als Ausnahme gelten darf. 40 Rolf (1993, 183, 237s.) rechnet die Beipackzetteln von Arzneimittel zu den assertiven Texten, obwohl darin sowohl direktive wie assertive Sprechakte vorkommen (cf. auch Mentrup 1982). Hoffmann (1983, 1984) weist dagegen darauf hin, dass es sich hier um einen ausgesprochenen Fall von Mehrfachadressierung handelt. So richten sich die di- <?page no="119"?> 107 Göpferich (1995, 118), die den technischen Anweisungstexten im Deutschen und Englischen eine umfassende Studie gewidmet hat, ist der Auffassung, es handle sich „bei den Anweisungen […] um Informationstexte, da der Empfänger durch sie nicht aufgefordert wird, etwas zu tun, sondern Informationen dazu erhält, wie er bei etwas vorgehen sollte, das er ohnehin schon zu tun beabsichtigt“. Hier kommt ein weiteres Problem hinzu. Es müssen zwei Arten von direktiven Texten unterschieden werden, Texte, die anordnen, dass man etwas tun muss, und solche, die anordnen, wie man etwas tun soll (cf. insbesondere Adam 2001a, 2001b). Die Anweisungstexte (oder prozeduralen Texte) bilden dabei diese zweite Kategorie. Damit diese letzteren Texte einen direktiven Charakter erhalten, gilt die Voraussetzung, dass man die beschriebenen Handlungen auszuführen denkt. Während in deutschen Kochrezepten heute fast ausschließlich der imperativische Infinitiv („Die Äpfel schälen, entkernen und in Stücke schneiden“) gebraucht wird, gelangt nach Göpferich (1995, 322-334) in Betriebs- und Bedingungsanleitung eine breite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten zur Anwendung. Dabei findet man allerdings in Anweisungstexten nicht nur Sprechakte direktiver Natur: (11.8) Abdunkeln der Display-Beleuchtung nur über Fernbedienung Mit Hilfe dieser Funktion kann das Display abgedunkelt werden, wenn seine Beleuchtung störend wirkt, z.B. vor dem Schlafengehen. Drücken Sie [DIMMER]. Das Display wird abgedunkelt, und alle Seitenwandanzeigen außer der Anzeige [AC IN] erlöschen. (Panasonic ® CD-Stereoanlage SC-PM25, p. 14) Direktiv ist nur der Satz „Drücken sie [DIMMER]“, wobei dieser Text noch von einer Abbildung begleitet wird, die zeigt, wo sich die Taste [DIMMER] auf der Fernbedienung befindet. Diesem direktiven Sprechakt geht eine Erklärung voraus, worum es sich bei dieser Funktion handelt. Dies ist ein untergeordneter, sachverhaltsklärender Sprechakt 41 . Solche Ausführungen erklären „sich hauptsächlich damit, dass der sachgemäße und sichere Gebrauch der Produkte, die ja in der Regel neu oder aber einem Benutzer fremd sind, Kenntnisse über sie voraussetzt“ (Pelka 1982, 91). Wie notwendig solche Informationen bei technischen Geräten sind, merkt man vor allem dann, wenn sie einmal in einer Gebrauchsanleitung fehlen. Der abschließende Satz beschreibt dann, was geschieht, wenn man den entsprechenden Knopf drückt. Ihm kommt die Funktion eines kausalen Folgesatzes zu. rektiven Akte (Dosierung, Art und Dauer der Anwendung, Art der Aufbewahrung usw.) eindeutig an den Patienten, während die assertiven Akte (Zusammensetzung, Nebenwirkungen usw.) wohl eher die Fachleute (Ärzte, Apotheker, Juristen im Prozessfall) als primäre Adressaten haben. 41 Nach Galina Don eva (1990, 167) stünden „die Ziele Instruieren und Informieren in keiner hierarchischen Beziehung“; gleichzeitig bezeichnet sie jedoch das Instruieren als „primäres Ziel der Textsorte“ (168). <?page no="120"?> 108 Bleibt die Funktion des Titels „Abdunkeln der Display-Beleuchtung“. Titel sind in einer Bedienungsanleitung ausgesprochen wichtig. Auch wenn aus rechtlichen Gründen empfohlen wird, den Text zunächst sorgfältig durchzulesen, so sucht man darin meistens erst Hilfe, wenn ein spezifisches Problem auftritt. Elektronische Hilfen zu Computerprogrammen sind sogar so gestaltet, dass man nur über Suchbegriffe zu den jeweils benötigten Anweisungen gelangt. Die grundlegende Funktion der Titel in Anordnungstexten besteht also mit Sicherheit darin, das jeweilige Thema vorzugeben. Dazu kommt, dass ältere Kochrezepte sich oft nicht mit einer Titelüberschrift begnügen. So führt das zwischen 1345 und 1354 verfasste älteste deutsche Kochbuch, „daz buch von guter spise“ (cf. Liebman Parrinello 1996, 301), die Rezepte in folgender Weise ein: (11.9) wilt du machen pasteden von vischen, so schupe die vische … Hier wird explizit gesagt, dass die Anweisungen nur dann als solche gelten, wenn man das entsprechende Rezept tatsächlich ausführen will. Damit wird die einem Anweisungstext zugrunde liegende Kommunikationsabsicht 42 , die heute nicht mehr verbalisiert wird, explizit gemacht. Unser Beispiel (11.8) ist allerdings atypisch, da darin ein einziger direktiver Sprechakt vorkommt. Üblicherweise haben wir es mit einer Abfolge von Handlungen zu tun, die in einer bestimmten chronologischen Reihe auszuführen sind, beispielsweise (11.10) 1. Klicken Sie im Menü Format auf Schriftart. 2. Wählen Sie die für neue Dokumente zu verwendenden Optionen aus. 3. Klicken Sie auf Standard. 4. Klicken Sie auf Ja, wenn Sie aufgefordert werden die Standardschrift zu ändern. (aus Word-Hilfe) Diese temporale Abfolge findet man auch in Erzählungen. Jean-Michel Adam ( 2 2004, 95) hat aber recht, wenn er sich dagegen wehrt, Anweisungstexte als Erzählungen zu betrachten. Wir sprechen deshalb von temporalen Sequenzen, denn diese sind nicht notwendigerweise auch narrativ (cf. Kap. 17.4). 11.6 Zeitungsmeldungen Zeitungsmeldungen gehören eindeutig zu den assertiven Texten: (11.11) Schwerer Waldbrand in South Carolina. Der größte Waldbrand seit mehr als 30 Jahren hat im amerikanischen Gliedstaat South Carolina 2500 Personen in die Flucht getrieben. Die 6,5 Kilometer breite Flammenwand zerstörte bis zum Freitagabend 70 Häuser, rund 100 weitere Gebäude wurden beschädigt. Der Brand hat innerhalb von zwei Tagen bereits eine Fläche von 42 Cf. Wüest 2005b, 376. - Auch Giuseppe Manno (2009) kommt zum Schluss, dass sich die Kommunikationsabsicht in prozeduralen Texten aus dem Titel ableiten lässt. <?page no="121"?> 109 60 Quadratkilometern zerstört. Was den Waldbrand ausgelöst hat, war laut den Behörden zunächst noch unklar. (NZZ, 25./ 26.04.09, p. 11) Auch hier kommt dem Titel der Kurzmeldung die Aufgabe zu, das Textthema „Waldbrand“ einzuführen. Es wird hier praktisch zum durchlaufenden Thema dieser Kurzmeldung. Einzig im zweiten Satz wird das Thema „(Wald)brand“ durch das abgeleitete Thema „Flammenwand“ abgelöst, dann aber wieder durch „Brand“ und „Waldbrand“ aufgenommen. Der Titel führt in diesem Fall allerdings nicht nur das Thema „Waldbrand“ ein, sondern enthält auch weitergehende Informationen darüber, wo er ausgebrochen ist und dass es sich um einen schweren Waldbrand handelt. Wie die meisten Zeitungstitel besteht er aus einem nicht verbalen Satz, doch ist das Fehlen eines Verbs nicht entscheidend. Deshalb kann man hier den Titel durchaus als assertiven Sprechakt verstehen. Mehr noch. Ich möchte ihm in Beispiel (11.11) sogar die Funktion eines dominierenden Sprechakts zubilligen. Der Titel enthält in diesem Fall die wesentliche Aussage der Meldung, nämlich dass in South Carolina ein schwerer Waldbrand ausgebrochen ist. Der folgende Text orientiert uns dann über das Ausmaß und die — noch unbekannten — Gründe der Katastrophe. Wir haben es deshalb mit jener Strukturform zu tun, die wir als Spezifizierungen bezeichnen (cf. Kap. 16). Die extrem konzentrierte Information des Titels wird durch die folgende Kurzmeldung spezifiziert. Dies ist allerdings nicht die Funktion aller Titel, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. <?page no="122"?> 110 12 Texte über Texte Es gibt auch Textteile, die nicht in die Illokutionshierarchie integriert sind, sondern Angaben zum so genannten Trägertext machen. Dazu gehört all das, was Gérard Genette Peritext nennt, nämlich Autornamen, Titelei, Impressum, Vorwort, Bibliographie usw. Besonders ausführlich befassen wir uns hier mit dem Titel. Dieser hat primär die Aufgabe, den Text zu benennen; es können ihm aber verschiedene zusätzliche Funktionen zukommen, namentlich diejenige, eine potentielle Leserschaft auf den Text aufmerksam zu machen, und sogar diejenige, als dominierender Sprechakt zu dienen. Wir befassen uns des Weiteren mit verschiedenen Formen der Zusammenfassung und jenen metatextuellen Sprechakten, die über den Aufbau des Textes referieren, die aber völlig in den Trägertext integriert sind. Auf viele Fußnoten trifft das Gegenteil zu: Sie erscheinen als autonome Teiltexte, sind aber zumeist bloß entbehrliche Teile des Trägertext. 12.1 Paratexte Sowohl Brandt/ Rosengren (1992, 25) wie auch Motsch (1996, 24) weisen darauf hin, dass es in einem Text Sprechakte geben kann, die sich nicht in die Illokutionshierarchie einordnen. Diese kommentieren den eigentlichen Text und sind gleichsam Texte über Texte. Gérard Genette (1987) ist diesem Problem im literarischen Text nachgegangen. Texte, deren Funktion darin besteht, dass sie sich auf andere Texte beziehen, nennt er Paratexte und teilt diese in Peri- und Epitexte ein. • Peritexte erscheinen auf dem gleichen medialen Träger wie der Haupttext. Um beim Beispiel des literarischen Textes zu bleiben, gehören dazu der Titel des Werks, der Name des Autors, das Impressum des Verlags, die Widmung, das Vor- und Nachwort, sowie in den Zwischenräumen des Haupttextes die Zwischentitel und die Fußnoten. • Epitexte sind Äußerungen des Autors oder der Autorin zum Text, wie man sie traditionellerweise in seiner/ ihrer Korrespondenz oder gegebenenfalls in einem Tagebuch findet. Dazu kommen heute in vermehrtem Maße Interviews und Erklärungen in anderen Medien. Damit brauchen wir uns hier aber nicht zu beschäftigen. Auch der Fall mancher Peritexte ist reichlich banal. So braucht kaum gesagt zu werden, dass das Inhaltsverzeichnis und die Register dem Auffinden von Textteilen oder dass die Bibliographie dem Quellennachweis dient. Auch ist die tabellarische Darstellungsweise dieser drei Textsorten in textlinguistischer Hinsicht wenig ergiebig. Wir werden uns deshalb in der Folge auf solche Fälle konzentrieren, wo die Funktion des Peritextes zu Diskussionen Anlass gibt <?page no="123"?> 111 oder wo seine Abgrenzung zu dem, was wir fortan den Trägertext nennen werden, nicht eindeutig ist. 12.2 Der Titel 12.2.1 Die Funktion des Titels Welche Funktion hat der Titel eines Werks? Wenn Stendhal alias Henri Beyle einen seiner Romane Le rouge et le noir nennt, so kommt dies nach Gérard Genette (1987, 16) einem deklarativen Sprechakt der Art „Moi, auteur, je décide d’intituler ce livre Le Rouge et le Noir” gleich. Der Titel hätte somit die Funktion einer deklarativen Illokution, durch den der Autor oder die Autorin beschließt, dem Werk einen bestimmten Namen zu geben. Man kann auch von einem Akt der Namengebung sprechen, denn im Textzusammenhang wird ein Titel wie eine Art Eigennamen behandelt, der allerdings zwischen Anführungszeichen stehen muss (cf. Hellwig 1984, 7): (12.1) Hast du „Dichtung und Wahrheit“ gelesen? (12.2) Sind „Die Räuber“ schon vom Binden zurück? Die Funktion der Namengebung scheint uns unbestreitbar. Welche Funktion kommt jedoch dem Titel in Bezug auf den Trägertext zu? Es mag sinnvoll sein, zunächst zwischen informativen und spielerischen Titeln zu unterscheiden. Titel von Nachrichten und von wissenschaftlichen Werken sind fast immer informativ. Bei der zunehmenden Spezialisierung der Forschung ist es wichtig, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen jene schmale Zielgruppe erreichen, für die sie bestimmt sind. Deshalb kommt hier den Titeln die Funktion zu, über den Inhalt des Textes informieren. In den Geistes- und Sozialwissenschaften erfolgt die Literaturrecherche weitgehend noch manuell, wenn auch mit Unterstützung des Computers. In den Naturwissenschaften werden die Titel dagegen heute für bibliographische Zwecke maschinell ausgewertet. „Für die Aufnahme von Titeln in Datenbanken kommt es vor allem auf eine ausreichende Zahl von keywords an, die ein Titel enthalten muss“, sagt Günther Dietz (1995, 55) und gibt dafür das Beispiel des längsten Titels, den er gefunden hat: (12.3) Phenylalanyl-tRNA Synthetase from Chloroplasts of Higher Plant (Phaseolous vulgaris): Purification and Comparison of its Structural, Functional, and Immunological Properties with those of the Enzymes from the Corresponding Cytoplasm, the Cyanobacterium Anactis nidulans, and the Photosynthetic Green Sulfur Bacterium Chlorobium limicola. Anders verhält es sich mit literarischen Titeln. Peter Hellwig (1984, 12-13) meint dazu: Literarische Texte dienen vornehmlich der Unterhaltung des Lesers. Dieses Ziel erreichen sie auf zweierlei Weise. Zum einen dominiert in ihnen die poetische Funktion der Sprache im Sinne von Jakobson (1960), die als Bewusstmachung der Form definiert werden kann. Auch die Überschriften werden dieser poetischen Funktion <?page no="124"?> 112 unterworfen […]. Zum anderen beruht der Unterhaltungseffekt der Belletristik nicht zuletzt auf dem Aufbau von Spannung. Aus diesem Grund darf auch der Titel nicht zuviel vom Ko-Text verraten. Im Gegenteil, die Aufgabe, den verborgenen Sinn des Titels herauszufinden, macht einen der Reize des literarischen Werks aus. Das trifft eindeutig auf Titel wie Le rouge et le noir oder Kabale und Liebe zu, die dem literarisch Unbewanderten so gut wie gar nichts über die Handlung verraten, aber trotzdem darauf neugierig machen. Weniger originell ist es, eine Hauptperson zum Titel des Werks zu machen. Dabei besitzen Titel wie Die Jungfrau von Orléans oder Wilhelm Tell für ein historisch gebildetes Publikum durchaus auch einen gewissen informativen Wert. Ohnehin entspricht die Grenze zwischen informativen und spielerischen Titeln nicht unbedingt derjenigen zwischen literarischen und nicht-literarischen Werken. Insbesondere können auch journalistische Texte spielerische Überschriften tragen. Man wird diese freilich kaum im Nachrichtenteil der Zeitung finden, sondern weit eher im Feuilleton: (12.4) Herzschmerz und Zahnschmelz (NZZ, 29/ 01/ 09) (12.5) Saladin und die Erbsenzähler (Der Standard, 01/ 02/ 09) (12.6) Protest Mahlzeit (Süddeutsche Zeitung, 04/ 02/ 09) Solche Titel zeichnen sich durch Wortspiele wie Reime, Assonanzen oder die Verfremdung bekannter Titel und Redewendungen aus. Im französischen Journalismus, wo solche Titel besonders beliebt sind 43 , spricht man von titres incitatifs (im Gegensatz zu den titres informatifs). Ihre Aufgabe ist es, zu überraschen und damit die Neugierde der Leserinnen und Leser zu wecken. Normalerweise werden solche Titel jedoch von einem informativen Über- oder Untertitel begleitet, damit der Inhalt des Artikels trotzdem erkennbar bleibt. Das gilt auch dort, wo wissenschaftliche Werke sich eines spielerischen Titels bedienen. Der von Hans Jürgen Heringer 1982 herausgegebene Sammelband (12.7) Holzfeuer im hölzernen Ofen würde schwerlich sein Zielpublikum erreichen, wenn er nicht den Untertitel „Aufsätze zur politischen Sprachkritik“ tragen würde. Auch die spielerischen (oder inzitativen) Titel müssen sich auf den folgenden Text beziehen. Es gibt gewiss Ausnahmen. In Ionescos La Cantatrice chauve kommt bekanntlich keine kahle Sängerin vor, doch spielt hier ein Autor absichtlich sein Spiel mit dem Publikum. Nicht selten muss man allerdings den gesamten Text durchlesen, bis man des Rätsels Lösung findet. Der Artikel mit dem Titel Protest Mahlzeit (12.6) scheint zunächst genau dem Übertitel (12.8) Berlinale: Glamour trotz Rezession 43 Kirsten Adamzik (1998a) stellt eine Bevorzugung der expressiven Titel im Französischen und der informativen Titel im Deutschen auch in geisteswissenschaftlichen Publikationen fest. <?page no="125"?> 113 zu entsprechen. Erst in den letzten drei Abschnitten ist dann davon die Rede, dass die „Ernährungsaktivistin“ Alice Waters zum Mitglied der Jury ernannt wurde. Da wird erst der Titel „Protest Mahlzeit“, der die Redewendung „Prost Mahlzeit“ parodiert, verständlich. 12.2.2 Titel und Trägertexte Auf die Frage, welches der Bezug des Titels zum Trägertext ist, gibt Peter Hellwig (1984, 14ss.) eine erste Antwort, indem er darauf hinweist, dass die Beziehung zwischen dem Titel und seinem Trägertext im Wesentlichen derjenigen zwischen Thema und Rhema entspricht. Der Titel wirft eine Frage auf, von der die Leserin oder der Leser erwarten darf, dass sie im Text beantwortet wird. Diese thematische Funktion kommt nicht nur den informativen, sondern auch den spielerischen Titeln zu, im letzteren Fall allerdings nur in einer indirekten, übertragenen Weise. Die Leserin oder der Leser darf erwarten, dass die Wortspielerei des Titels im Artikel ihre Erklärung findet. Auch wenn in Titeln konjugierte Verben im Allgemeinen eher selten vorkommen, so sind gleichwohl viele Titel und so gut wie alle journalistischen Titel als elliptische Sätze und damit als eigentliche Sprechakte zu verstehen. Dies gilt auch für den Titel unserer Kurzmeldung im vorangehenden Kapitel: (11.11) Schwerer Waldbrand in South Carolina Es wird nicht nur das Thema (Waldbrand) vorgegeben, sondern dieser wird auch lokalisiert und als schwer beurteilt. Solche Titel, die bereits die wesentliche Information des Textes in kondensierter Form enthalten, können denn auch sehr leicht zum dominierenden Sprechakt des Gesamttextes werden, was aber keine allgemeine Eigenschaft der Titel ist. Was die Titel in Zeitungen und Zeitschriften betrifft, so scheint deren Gebrauch in Frankreich erst in der Zeit der Französischen Revolution und in Deutschland sogar noch ein Jahrhundert später aufgekommen zu sein (cf. Lavoine 1997, 47ss.; Sandig 1971, 132ss.). Ursprünglich bestanden Zeitungen aus brieflichen Nachrichten, die ihr Herausgeber von seinen Korrespondenten erhalten hatte. Deshalb stand über den einzelnen Mitteilungen als Überschrift einzig der Ort und das Datum (Aus Cöllen vom 4. Jenner; De Rome, le 30 novembre 1633), so wie das in Briefen bis heute üblich ist. Einige Zeitungen haben diese Art der Überschrift bis nahe an die Gegenwart ebenfalls bewahrt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden dann die Titel durch eigentliche Titeleien ersetzt, die neben dem Haupttitel einen Über- oder Untertitel oder auch ein so genanntes lead umfassen können, d.h. einen ersten Absatz in größerer oder fetterer Schrift, der bereits die wesentlichen Informationen enthält. Die Gestaltung dieser Titelei ist dabei von Zeitung zu Zeitung verschieden. Wir haben es hier mit einer Entwicklung zu tun, die parallel zum zunehmenden Umfang der Zeitungen verläuft. Bei den ältesten Zeitungen, die aus vier oder acht kleinformatigen Seiten bestanden, konnte man noch davon ausgehen, dass die ganze Zeitung gelesen wurde. Das ist heute bei fast allen Zeitungen gar nicht mehr möglich, will man nicht seinen ganzen Tag der <?page no="126"?> 114 Zeitungslektüre widmen. Üblicherweise besteht eine erste Zeitungslektüre ganz einfach aus der Lektüre der Titelüberschriften. Aufgrund dieser ersten Lektüre entscheidet man dann, welche Artikel man tatsächlich lesen will. 12.2.3 Zwischentitel Was wir hier vom Titel im Allgemeinen gesagt haben, gilt auch für die Zwischentitel. Bernd Spillner (1992, 57) weist allerdings auf einen Unterschied zwischen Deutsch und Französisch hin. Im Französischen ist es im Gegensatz zum Deutschen nicht selten, dass Zwischentitel anaphorisch im Text wiederaufgenommen werden: (12.9) Variole. Elle vient de disparaître de la pathologie terrestre. Sa haute contagiosité à partir des croûtes, sa fréquence dans les pays du tiers monde imposaient jusqu’alors la vaccination préventive pour tout voyage. (Temps médical 201, 1985, 3, zit. bei Spillner 1992, 57) Zwischentitel werden so zu einem Mittel der Textstrukturierung, indem sie das Thema des betreffenden Paragraphen vorwegnehmen. 12.2.4 Der Titel und seine Umgebung Es gab eine Zeit, da trugen Französischlehrwerke Titel wie Eléments de langue française oder Premières années de français. Diese Titel waren informativ, aber wenig originell. Heute versucht man mit Titeln wie Bonne chance! , Découvertes oder envol sich einen attraktiven Anstrich zu geben. Jene früheren Lehrwerke waren denn auch nicht unter ihrem Titel, sondern unter dem Namen ihres Autors als „der Hösli“ oder „der Staenz“ bekannt. Christiane Nord (1993, 28) betrachtet denn auch den Titel zusammen mit dem Namen des Autors/ der Autorin als eine Funktionseinheit. Das hängt allerdings von der Texstsorte ab. Bei Zeitungsnachrichten ist der Name des Journalisten kaum von Bedeutung, im Feuilleton unter Umständen aber schon. Hat der Verfasser oder die Verfasserin eines Buches einen bekannten Namen, so ist schon dieser Name eine Kaufempfehlung. In den französischen Buchhandlungen liegen die neuesten Bücher bekannter Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit einem roten Streifband auf, auf dem nichts anderes als der Name des Autors oder der Autorin in großen Lettern steht. Ein bekannter Name hat zudem eine informative Funktion. Der Literaturnobelpreisträger von 1999 war wohl zu bekannt, als dass jemand unter dem Titel (12.10) Günther Grass: Der Butt eine zoologische Abhandlung vermutet hätte. In der dtv-Ausgabe steht außerdem unter dem Titel der Vermerk „Roman“. Bei literarischen Texten ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass man auf der Titelseite das literarische Genre vermerkt. Dies ist dann ein durchaus wichtiges Fiktionssignal. <?page no="127"?> 115 Wir bleiben somit dabei, dass der Titel grundsätzlich dazu dient, einen Text zu benennen. Diese Funktion ist im Laufe der Zeit jedoch von anderen Funktionen überlagert worden. Sie mag heute noch bei literarischen Titeln essentiell sein; bei Sachtexten steht jedoch eindeutig die Funktion im Vordergrund, eine potentielle Leserschaft auf den Text aufmerksam zu machen. 12.3 Das Vorwort Jochen Sternkopf (1996) weist auf Ähnlichkeiten zwischen Vorwort und Rezension hin. Das gilt allerdings nur für jene Art von Vorwort, die von einer Drittperson geschrieben wurde. Vor allem bei wissenschaftlichen Publikationen stellt der Verfasser oder die Verfasserin selber dem Text ein Vorwort voran. Dieses ist von der Einleitung zu unterscheiden; letztere gehört nämlich bereits zum Trägertext. Vorwörter des Autors oder der Autorin dienen in erster Linie der Rechtfertigung der Publikation. So glaubt der Verfasser eines Buchs mit dem Titel „Gründungszeit ohne Eidgenossen“ über „Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300“ zunächst seinen Titel verteidigen zu müssen: (12.11) Gründungszeit und das erst noch ohne Eidgenossen — was soll das? Manche geschichtsinteressierten Leserinnen und Leser haben, wenn sie sich die politischen Verhältnisse in der Innerschweiz um 1300 vor Augen führen, wohl eben gerade diese ersten Eidgenossen vor sich. Und die Fachwissenschaftler werden sich fragen, ob nun mit der Rede von Gründung die Begrifflichkeit für die frühe Schweizergeschichte ins 19. Jahrhundert zurückfällt. Wer heute einen solchen Buchtitel wählt, ist also vorab einige Erklärungen schuldig. (Roger Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, Baden: hier + jetzt, 2008, p. 7) Der Fragesatz zu Beginn setzt das Thema. Zunächst werden dann in erläuternder Weise zwei mögliche Erwartungshaltungen angesprochen, bei denen der Titel Anstoß erregen könnte. Darauf werden Erklärungen angekündigt, deren Länge fünf Seiten erreicht. Dabei fehlen Verdankungen oder eine Übersicht über den Aufbau des Werks, weshalb wohl die Überschrift „Anstelle eines Vorworts“ lautet. Tatsächlich ist das Vorwort zumeist ein eher wenig kohärenter Text, der auch noch die genannten Teile einschließt. Verdankungen bilden allerdings in englischsprachigen Publikationen zumeist einen eigenen Peritext. Dafür wird in englischsprachigen wissenschaftlichen Publikationen so gut wie immer am Ende des Vorworts der Aufbau des Trägertextes skizziert. 12.4 Abstract und résumé Wie schon der Name verrät, stammt die Gewohnheit, einem wissenschaftlichen Artikel einen abstract voranzustellen, aus dem angelsächsischen Raum. In der französischen Tradition steht stattdessen am Ende eines Artikels oder <?page no="128"?> 116 eines Kapitels ein résumé. Dabei findet der abstract jedoch zunehmend Verbreitung, im Französischen auch auf Kosten des résumés. Auch wenn beide Arten von Zusammenfassungen einen ähnlichen Aufbau kennen, ist ihre Funktion verschieden. Résumés haben einen mnemotechnischen Zweck. Sie dienen dazu, dem Leser oder der Leserin die wesentlichen Punkte der Abhandlung nochmals in Erinnerung rufen. Sie sind dabei nicht selten ohne die Lektüre des vorangehenden Textes kaum verständlich. Der Zweck des abstracts ist dagegen demjenigen der Titelei verwandt. Es geht hier darum, die potentielle Leserschaft genauer, als dies in der Titelei möglich ist, über den Inhalt eines Artikels zu orientieren und damit die Entscheidung zu erleichtern, ob man ihn lesen will oder nicht. Die gleiche Funktion kommt im Übrigen auch jenen Präsentationstexten zu, die auf der vierten Seite eines Buchumschlags stehen. In den Anleitungen, die man dazu auf dem Internet findet, wird der abstract als Zusammenfassung beschrieben, die den Zweck, die Methoden und auch die Schlussfolgerung des Artikels wiederzugeben hat. In den empirischen Wissenschaften halten sich die meisten Verfasser und Verfasserinnen an diese Vorgaben. Dazu muss man wissen, dass in den empirischen Wissenschaften die Artikel immer mehr einen standardisierten Aufbau haben, der vier Hauptteile umfasst: eine Einleitung, die das Thema umreist, je ein Kapitel über Methoden und Ergebnisse der experimentellen Untersuchung, sowie ein interpretatorisches Schlusskapitel, in dem für eine Schlussfolgerung argumentiert wird. Es ist nun interessant zu sehen, was davon nicht im abstract Eingang findet. Es fehlen zunächst die einzelnen Resultate, zu denen die empirische Untersuchung gelangt ist. Diese sind zu detailliert, als dass sie sich in der gebotenen Kürze zusammenfassen ließen. Auch die Argumentation, die zur Schlussfolgerung führt, lässt sich im abstract nicht wiedergeben. Da es in den empirischen Wissenschaften jedoch darum geht, in einem Artikel eine These zu beweisen oder allenfalls zu widerlegen, lässt sich die Schlussfolgerung sehr wohl in einem Satz zusammenfassen. Hier ergibt sich dagegen ein Problem in den Geisteswissenschaften, wo man meist zu nuancierten, aber auch vagen Schlussfolgerungen gelangt, die sich kaum in einem Satz ausdrücken lassen. Geisteswissenschaftliche abstracts sind deshalb weit mehr problemals lösungsorientiert. Peter Hellwig (1984, 17) bemerkt dazu apodiktisch: Der Leser kann die Zusammenfassung eines Textes, den er nicht gelesen hat, meist nicht verstehen und kaum behalten. Was er benötigt, ist eine kurze Orientierung über die Fragestellung des Textes. Wenn ihn die Antworten interessieren, wird er zum Text selber greifen. Dieses Urteil trifft aber nur auf die Geisteswissenschaften zu. Sowohl das abstract wie das résumé am Ende des Textes, das ebenfalls lösungsorientiert sein muss, unterscheidet sich vom Schlusskapitel eines Textes, das mit Schlussfolgerungen oder Diskussion, gelegentlich aber auch mit dem zweideutigen Begriff Zusammenfassung überschrieben sein kann und das noch <?page no="129"?> 117 zum Trägertext gehört 44 . Solche Schlusskapitel erlauben es, weiter auszuholen oder sogar neue Gesichtspunkte einzuführen. Vor allem bieten sie genügend Raum, eine Schlussthese oder einen Ausblick auf notwendige weitere Forschungen argumentativ zu begründen. 12.5 Metatexte Wenn wir in diesem Buch jedem Kapitel eine Art abstract vorangestellt haben, so ist dies ein eher ungewöhnliches Vorgehen. Diesen Texten kommt hier nicht nur die Aufgabe zu, die Probleme zu skizzieren, die in den einzelnen Kapiteln behandelt werden, sondern auch die Beziehungen der einzelnen Kapitel zueinander herauszustellen, so dass sie grundsätzlich als fortlaufender Text gelesen werden können. Hier liegt ein grundsätzliches Problem wissenschaftlicher Publikationen in Buchform. Es ist noch möglich, einem wissenschaftlichen Artikels eine hierarchische Struktur zu geben, die auf eine Hauptthese hinausläuft; in wissenschaftlichen Buchpublikation und ganz besonders in Lehrbüchern werden so viele Standpunkte behandelt, dass es schwierig wird, die Kohärenz der Darstellung zu wahren. Oft sind die einzelnen Kapitel nur lose miteinander verknüpft. Üblicherweise verwendet man dazu allerdings am Beginn eines neuen Kapitels Übergangssätze wie die folgenden: (12.12) Nachdem wir die Sprache in ihrer Vielfältigkeit und den Sprachgebrauch in seinem Kontext betrachtet haben, wollen wir uns im Weiteren genauer einzelnen Aspekten zuwenden. (Adamzik 2001, 40) Solche Sprechakte machen Aussagen über den Aufbau des Trägertextes; man kann deshalb von einer metatextuellen Funktion sprechen. Eine solche Funktion kommt auch Sätzen wie den folgenden zu: (12.13) a. Im Folgenden betrachten wir das Problem ausführlicher. b. Wir kommen auf diese Frage noch ausführlicher zurück. Wolfgang Motsch (1996, 24), von dem wir diese Beispiele übernommen haben, schreibt dazu: „In Fällen dieser Art liegt in der Regel kein Bezug auf eine bestimmte dominierende Illokution vor, sondern auf Textausschnitte.“ Wir verstehen diese Aussage dahingehend, dass auch für Motsch solche Sätze sich nicht in die Illokutionshierarchie eines Textes einordnen; sie machen vielmehr den Aufbau des Textes explizit. Motsch fügt noch den folgenden Hinweis hinzu: „Solche strukturindizierende Illokutionen können nicht an beliebiger Stelle stehen. Sie markieren z.T. Strukturgrenzen im Text.“ Dies gilt für Satz (12.13a), während wir es bei (12.13b) mit einem Querverweis zu tun haben. Solche Querverweise sind nötig, weil es nicht immer möglich ist, einem argumentativen Text eine streng lineare Struktur zu geben. Metatextuelle Hinweise sind keine eigentlichen 44 In der kontrastiven deutsch-englischen Untersuchung von Hermann Oldenburg (1992) wurde diese Unterscheidung offenbar nicht gemacht. <?page no="130"?> 118 Peritexte, da sie formal völlig in den Text integriert sind. Inhaltlich gehören sie jedoch nicht zur Illokutionshierarchie, da sie vielmehr Aussagen über diese machen. 12.6 Fußnoten Bei den Fuß- und Endnoten stoßen wir auf das umgekehrte Problem. Formal handelt es sich eindeutig um Peritexte, die vom Trägertext klar abgehoben sind. Schon Gérard Genette hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Fall nicht eindeutig ist: La note originale est un détour local ou une bifurcation momentanée du texte, et à ce titre lui appartient presque autant qu’une simple parenthèse. Nous sommes ici dans une frange très indécise entre texte et paratexte. (Genette 1985, 301, cf. auch p. 315) Dabei gilt es allerdings zwei Arten von Fußnoten zu unterscheiden. Vielfach enthalten diese nur Quellenangaben. Heute kann man diese durch abgekürzte bibliographische Angaben in Klammern ersetzen. Die vollständigen bibliographischen Angaben findet man dann in der Bibliographie. So verfahren wir auch hier. Es besteht in diesem Fall eine gewisse Verwandtschaft zu den metatextuellen Verweisen, von denen wir soeben gesprochen haben. Allerdings erfolgt hier der Verweis nicht innerhalb des Textes, sondern auf andere Texte. Im zitierten Text geht es Genette aber offensichtlich nicht um Quellenangaben, denn er spricht von lokalen Umwegen und kurzfristigen Abzweigungen im Text. Tatsächlich vertraut man den Fußnoten besonders gerne jene Art von Erwägungen an, auf die man nicht zu verzichten können glaubt, die aber den Fluss des Textes stören würden. Es handelt sich dabei zumeist um informationserweiternde Sprechakte, gelegentlich aber auch um Verdankungen (expressive Sprechakte) oder sogar Argumentationen und Gegenargumentationen. In deutschen Publikationen können die Fußnoten dabei sogar zu selbstständigen Texten werden. Kirsten Adamzik (1998b, 4) stellt in diesem Zusammenhang fest: „französische wissenschaftliche Texte stellen in stärkerem Ausmaß Lesetexte dar, deutsche wissenschaftliche Texte bieten sich auch zu anderem Umgang an als zur linearen Rezeption“. <?page no="131"?> 119 13 Argumentation und Kausalität Wir kommen nunmehr zu den subsidiären Sprechakten. Ein großer Teil davon stützt den dominierenden Sprechakt entweder argumentativ oder kausal. Grundlegend sind dabei die Theorien von Aristoteles, auf den nicht nur der Begriff des Syllogismus, sondern auch derjenige des Enthymems zurückgeht, der zeitweise in Vergessenheit geraten war. Beim Syllogismus geht es es um Wahrheiten, beim Enthymem aber um Wahrscheinlichkeiten. Dabei bildet das Enthymem die Grundlage von Argumentationen. Deren Aufgabe besteht darin, Anfechtbares akzeptabler zu machen. Die Argumentation darf dabei nicht mit der Kausalität verwechselt werden. Diese letztere beschreibt ein Ursache-Folge-Verhaltnis. Beide Formen unterscheiden sich durch die Natur der daran beteiligten Sprechakte. Die „kausalen“ Konnektoren sind dagegen polysem und machen es deshalb eher schwierig, eine klare Grenze zu ziehen. 13.1 Syllogismus und Enthymem Was die Argumentationstheorie betrifft, so bleiben heute noch die Schriften von Aristoteles grundlegend. Vor allem durch die Vermittlung von Cicero und Boethius wurden sie zur Grundlage der mittelalterlichen Rhetorik. Die Argumentationstheorie geriet danach in Vergessenheit und verdankt ihre Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert im Wesentlichen der Abhandlung von Chaim Perelman und Olga Olbrechts-Tyteca (1958). Über die Zeiten hinweg erhalten blieb freilich das Konzept des Syllogismus. Dieser besteht aus zwei Prämissen, einem Ober- und einem Untersatz, und aus einer daraus folgenden Konklusion oder Folgerung, z.B. Obersatz: Alle Menschen sind sterblich. Untersatz: Ich bin ein Mensch. Folgerung: Also bin ich sterblich. Syllogismen folgen streng definierten Deduktionsregeln und spielen in Texten kaum eine Rolle. Was dagegen vorkommt, das sind zum Beispiel Deduktionen in der Art eines modus ponens: (13.1) Die Literatur bleibt, wie je, eine Macht; und da die Macht sich allgemein fasslich in Geld ausdrückt, so fällt ihr Geld zu. (Heinrich Mann, zitiert im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, s. da) Der Obersatz steht hier an zweiter Stelle. Er lässt sich grundsätzlich auf die Form einer logischen Aussage der Art von ( ), d.h. „Wenn , dann “, zurückführen. Die Regel des modus ponens lautet dann: „Wenn ( ) und , dann .“ Grundlage der rhetorischen Argumentation ist jedoch das Enthymem, das Aristoteles als eine „Art von Syllogismus“ beschreibt. Sehr häufig ist in der Folge das Enthymem als ein abgekürzter Syllogismus, als syllogismus trunca- <?page no="132"?> 120 tus, missverstanden worden 45 . Ein solcher liegt vor, wenn ich eine Komponente des Syllogismus weglasse, sei dies der Obersatz wie in (13.2a), der Untersatz wie in (13.2b) oder sogar die Folgerung wie in (13.2c): (13.2) a. Ich bin ein Mensch, also bin ich sterblich. b. Alle Menschen sind sterblich; also auch ich. c. Alle Menschen sind sterblich und ich bin auch nur ein Mensch. Beim Enthymem geht es aber nicht wie beim Syllogismus um Wahrheiten, sondern um Wahrscheinlichkeiten. So wie Aristoteles in seinen Analytiken festgelegt hat, welches wirkliche und scheinbare Syllogismen sind, so hat er in seiner Topik festzulegen versucht, welches wirkliche und scheinbare Enthymeme sind. Schon diese Tatsache zeigt, dass die Enthymeme nicht einfach abgekürzte Syllogismen sind. Die Topik ist dabei die Wissenschaft von den Topoi und damit kommen wir zu einem zweiten, höchst umstrittenen aristotelischen Begriff. Leider gibt uns Aristoteles keine Definition des Topos; in seiner Nachfolge sind die Topoi als eine Methode, Argumente zu finden, verstanden worden. Auch die Lektüre seiner Topik lässt keinen anderen Schluss zu, als dass damit eine Art von Argumentationsschemen gemeint ist. So beruht etwa der folgende Satz auf dem Topos von „Mehr und Weniger“, wonach das, was für das Mehr gilt, wohl auch für das Weniger gilt: (13.3) Wenn schon die Götter nicht alles wissen, dann wohl kaum die Menschen (Rhetorik 1397b, 12s., übers. Rapp 2002, 115). Der folgende Satz illustriert den Topos der Reziprozität: (13.4) Wenn es nämlich für Euch nicht schändlich ist, sie zu bezahlen (scl. die Zölle), dann auch nicht für uns, sie einzunehmen (Rhetorik 1397a, 26s., übers. Rapp 2002, 114)). Abstrakt formuliert bedeutet dies, dass das, was für eine bestimmte Handlung gilt, auch für die reziproke Handlung gelten muss. Das genügt aber nicht. Ein Enthymem muss zusätzlich auf einer wahrscheinlichen Meinung gründen. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von einem Endoxon: „Endoxa sind die Meinungen, die entweder von Allen angenommen werden oder von den Meisten oder von den Weisen oder den Meisten unter ihnen oder von den Bekanntesten und Berühmtesten“ 46 . Es ist immer wieder vorgekommen, dass der Topos mit dem Endoxon verwechselt wurde. So erklärt es sich, dass der aristotelische Begriff des zum deutschen Gemeinplatz wurde und dass Ernst Robert Curtius (1948) in einem einflussreichen Werk den Topos als eine Art Cliché missverstehen konnte. Ekkehard Eggs (1994, 2002) ist sogar der Meinung, dass der 45 Diese Interpretation scheint von Aristoteles (Rhetorik 1357a, 16-22; 1395b, 25-27) selber gestützt zu werden, wenn er vom Enthymem sagt, dass es oft kürzer sei und sich auf weniger Prämissen abstütze als der Syllogismus. 46 Topik 100b, 21-23: , μ μ . <?page no="133"?> 121 Begriff Topos bei Aristoteles zwei Bedeutungen habe, indem er sowohl das Argumentationsschema wie auch die wahrscheinliche Meinung, auf der die Argumentation aufbaut, also das Endoxon, bezeichne 47 . Beispiel (13.3) gründet so auf einem Endoxon der Art „Götter wissen mehr als Menschen“. Dazu kommt die explizite Prämisse „Götter wissen nicht alles“, woraus mit Hilfe des Topos von Mehr oder Weniger die Folgerung entsteht, dass wohl auch Menschen nicht alles wissen können. Endoxa können dabei durchaus kulturell bedingt sein (cf. Rocci 2006): In monotheistischen Religionen ist Gott allwissend; dort macht Beispiel (13.3) wenig Sinn. Die Argumentation in Beispiel (13.4) beruht einerseits auf der impliziten Prämisse, dass „Zölle bezahlen“ sich komplementär zu „Zölle einnehmen“ verhält, was eine Art linguistisches Endoxon ist, andererseits auf der expliziten Prämisse, dass „Zölle bezahlen nicht schändlich ist“, woraus sich auf Grund des Topos der Reziprozität ergibt, dass auch das Einnehmen von Zöllen nicht schändlich ist. 13.2 Tatsachen und Meinungen Um die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit geht es auch bei derjenigen zwischen Kausalität und Argumentation. Dabei werden diese beiden Formen zu oft nicht klar voneinander getrennt (cf. Eggs 2000, 397s.). Bei der Kausalität geht es allerdings weniger um Deduktionen wie beim Syllogismus, sondern um Feststellungen oder Behauptungen. Man betrachte deshalb die Sätze (13.5) und (13.6): (13.5) Da der Professor krank ist, fällt die Vorlesung aus (13.6) Da der Professor krank ist, wird wohl die Vorlesung ausfallen 48 In (13.5) ist die Krankheit der Grund für die Feststellung oder die Tatsache, dass die Vorlesung ausfällt. Es handelt sich hier um ein kausales Ursache- Folge-Verhältnis, dem eine verhältnismäßig einfache Struktur zugrund liegt. Sie besteht aus drei Assertionen: (1) „Der Professor ist krank“, (2) „Die Vorlesung fällt aus“ und (3) „Die Krankheit des Professors ist der Grund für den Ausfall der Vorlesung“. In (13.6) ist die Krankheit des Professors dagegen ein Grund für die Meinung, die Vorlesung könnte ausfallen. Wir haben es hier mit einer Argumentation zu tun. „Ausgangspunkt einer Argumentation ist immer etwas Strittiges, ein Dissens“ (Eggs 2000, 398). Argumentationen haben deshalb eine persuasive Funktion; sie dienen dazu, eine an und für sich strittige Konklusion akzeptabler zu machen. Argumentative Strukturen sind erheblich komplexer als kausale. Wir werden im folgenden Kapitel ausführlich darauf zurückkommen. 47 Ruth Amossy (2000, 99ss.) unterscheidet in gleicher Weise zwischen topos rhétorique und topos pragmatique. 48 Der Konnektor kann auch fehlen: Der Professor ist krank. Seine Vorlesung fällt (wohl) aus. <?page no="134"?> 122 In nicht wenigen Fällen kann man Argumentationen daran erkennen, dass die Folgerung wie in (13.6) modalisiert ist 49 . Die Modalisierung ist jedoch kein sicheres Kriterium; im folgenden Beispielspaar von Eve Sweetser (1990, 77) sind beide Sätze nicht modalisiert: (13.7) John came back, because he loved her (13.8) John loved her, because he came back In (13.7) dient die Tatsache, dass John sie liebt, als Begründung für die Tatsache, dass er zurückkam; because ist hier kausal. In (13.8) bildet die Tatsache, dass John zurückkam, dagegen ein Argument für die Annahme, dass er sie liebt; because ist hier argumentativ und der Hauptsatz hat, wie Sweetser sagt, eine epistemische Modalität. 13.3 Weitere Illokutionen Mit der Unterscheidung zwischen Tatsachen, die kausal begründet werden, und Meinungen, für die man argumentiert, ist es nun allerdings noch nicht getan. Kausal begründen lassen sich auch deklarative Sprechakte. Diese sind zwar keine Tatsachen, schaffen aber solche. Ein Beispiel ist das Gerichtsurteil. Wie wir schon in Kapitel 10.4 gezeigt haben, begründen die Erwägungen die deklarativen Sprechakte des Dispositivs ursächlich. Auch Rücktrittsschreiben werden üblicherweise begründet. Als Beispiel sei hier das Schreiben von Wolfgang Wagner an den Stiftungsrat der Bayreuther Festspiele zitiert: (13.9) (i) Seit 59 Jahren habe ich Verantwortung für die Bayreuther Festspiele getragen, jetzt halte ich es für an der Zeit, diese abzugeben. (ii) Die Entwicklungen insbesondere der letzten Wochen bestärken mich in meinem Entschluss ebenso wie der Umstand, dass sich für die Gestaltung der Zukunft der Bayreuther Festspiele eine einvernehmliche, von breitem Konsens getragene Lösung abzeichnet. Dem will ich mich nicht verschließen. (iii) Hiermit erkläre ich, dass ich die Leitung der Festspiele bis spätestens zum 31. August 2008 niederlegen werde. (FAZ.NET, 01.06.08) Der Text besteht aus drei Teilen. Teil (i) ist eine sachverhaltsklärende Einleitung, die interessanterweise die Schlussfolgerung bereits vorwegnimmt. Der dominierende Sprechakt ist allerdings (iii), denn nur durch einen deklarativen Akt wie diesen wird der Rücktritt rechtsgültig. In (ii) werden dagegen die Gründe genannt, weshalb Wolfgang Wagner nunmehr — nach langem Zögern — zurücktritt. Auch Argumente beziehen sich nicht ausschließlich auf Meinungen. Eve Sweetser (1990) und Renate Pasch (2003) weisen in diesem Zusammenhang noch auf eine dritte Art von Begründungen hin, die sich nach ihrer Meinung 49 Zum Begriff der Modalisierung, cf. Kapitel 5.5. <?page no="135"?> 123 auf die Illokution beziehen 50 . Im folgenden Beispiel von Eve Sweetser (1990, 78) geht es darum, eine Frage zu begründen: (13.10) Since we’re on the subject/ Since you’re so smart, when was George Washington born? Fragen sind direktive Akte und gehören deshalb zu den face threatening acts. In der Höflichkeitstheorie (cf. Kerbrat-Orecchioni 1990-94, II, 217) werden solche Begründungen denn auch als Höflichkeitsstrategien verstanden. Das scheint mir als Erklärung aber nicht ausreichend. Argumente haben die Aufgabe, die Akzeptabiliät eines Sprechaktes zu erhöhen. Das gilt auch für Aufforderungen: (13.11) Hör auf! Du tust mir weh Indem versucht wird, durch eine Begründung eine Frage oder eine Aufforderung akzeptabler zu machen, soll auch die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass A die Handlung, zu der sie/ er aufgefordert wird, tatsächlich ausführt. Schwieriger zu erklären ist das folgende Beispiel von Pasch (2003, 332ss.): (13.12) Du, morgen ist Ratssitzung, da solltest du nämlich hingehen Man könnte den Satz „morgen ist Ratssitzung“ als Tatsache verstehen. Die Begründung gilt aber nicht dieser. Die Kommunikationsabsicht ist vielmehr diejenige, jemanden an einen wichtigen Termin zu erinnern. Nun haben es aber nicht alle Leute gern, wenn man sie ständig an Termine erinnert. Der untergeordnete Satz mit nämlich hat deshalb die Aufgabe, den Sprechakt des Erinnerns zu begründen und damit akzeptabler zu machen. Das trifft auch auf das folgende Beispiel zu: (13.13) Es ist schönes Wetter. Wie wär’s, wenn wir eine Wanderung machten? Was in der Form einer Frage ausgedrückt wird, ist in Wirklichkeit ein Vorschlag, d.h. ein kommissiver Sprechakt, welcher der Zustimmung durch A bedarf. Ihm voran geht ein Argument zugunsten des Vorschlags. Alle diese Fälle sind somit gar nicht grundsätzlich verschieden von demjenigen, wo es darum geht, eine Meinung akzeptabler zu machen. Ohnehin haben wir es auch bei Tatsachen und Meinungen letztlich mit Illokutionen zu tun, nämlich mit zwei unterschiedlichen Arten von assertiven Illokutionen. Wir stellen deshalb fest, dass es bei Argumentationen immer um die Akzeptabilität von Sprechakten geht, die durch Argumente gestützt werden soll. Bei Tatsachen und Deklarationen steht die Akzeptatilität dagegen nicht zur Diskussion. Diese letzteren beiden Sprechakte brauchen deshalb nicht argumentativ gestützt zu werden. Umgekehrt setzt aber eine Ursache-Folge- Beziehung voraus, dass wir es mit der Verbindung von zwei unstrittigen Tatsachen zu tun haben. Nur Tatsachen und Deklarationen können deshalb kausal begründet werden. Ob wir es mit einer Argumentation oder mit einer Kausalität zu tun haben, hängt damit eindeutig von der Natur des Sprechakts ab, der die Folgerung beziehungsweise die Folge ausdrückt. 50 Ähnliche Erwägungen findet man bei der Groupe l (1975) und Oswald Ducrot (1983). <?page no="136"?> 124 13.4 „Kausale“ Konnektoren 13.4.1 „Kausale Konnektoren im engeren Sinn“ Auf die Konnektoren kann man sich dagegen bei der Unterscheidung zwischen Kausalität und Argumentation nicht verlassen, denn sie sind polysem. Sie sind aber auch nicht einfach untereinander austauschbar. Was das englische since betrifft, so spricht beispielsweise Sweetser (1990, 82) von „a strong tendency towards an epistemic or a speech-act reading“, was bedeutet, dass die Verwendung vor allem argumentativ ist. Nach der Groupe - l (1975) würde das Gleiche auch für das französische puisque im Unterschied zu parce que gelten. Allerdings haben sich die Linguisten mehr für die syntaktischen als für die funktionalen Unterschiede interessiert. Im Deutschen gilt dabei besonders die Stellung des Verbs als wichtig. Steht es an zweiter Stelle, so spricht man von einem koordinierenden, steht es dagegen an letzter Stelle, so spricht man von einem subordinierenden Konnektor. Von den „kausalen Konnektoren im engeren Sinn“, wie sie die Grammatik versteht, wären demnach weil und da subordinierend, denn und nämlich aber koordinierend. Geht es darum, die Illokutionshierarchie zu bestimmen, so wird man sich allerdings nicht auf dieses grammatische Kriterium verlassen dürfen. In einer Argumentation darf man die Folgerung immer als den dominierenden Sprechakt betrachten. Dies ist auch die Meinung der Genfer Schule (cf. vor allem Moeschler 1985), welche die Konklusion als acte directeur betrachtet, dem sich die Argumente unterordnen. Das braucht bei der Kausalität nicht der Fall zu sein, wie wir dies bei den Folgesätzen sehen werden. Die Besonderheit von denn und nämlich besteht dagegen darin, da sie immer nachgestellte Sätze einleiten. Im folgenden Ausschnitt aus Franz Kafkas Die Verwandlung kommen so zwei kausale denn- Sätze vor: (13.14) Spät erst in der Nacht wurde das Licht im Wohnzimmer ausgelöscht, und nun war leicht festzustellen, dass die Eltern und die Schwester so lange wach geblieben waren, denn wie man genau hören konnte, entfernten sich jetzt alle drei auf den Fußspitzen. Nun kam gewiss bis zum Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen, wie er sein Leben jetzt neu ordnen sollte. Aber das hohe freie Zimmer, in dem er gezwungen war, flach auf dem Boden zu liegen, ängstigte ihn, ohne dass er die Ursache herausfinden konnte, denn es war ja sein seit fünf Jahren von ihm bewohntes Zimmer […] (Hervorhebungen von mir. J.W.) Es handelt sich um eine temporal-narrative Sequenz, in welcher die Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge erzählt werden. Untersucht man die beiden kausalen denn-Sätze in dieser Perspektive, so muss auffallen, dass deren Inhalt sich nicht in die Chronologie der Erzählung einordnet. Das bedeutet, dass die Ursache ( ) der Folge ( ) untergeordnet sein muss. Auch das implizite Bindeglied ( ), d.h. „Wenn , dann “, betrachten wir als untergeordnetes, <?page no="137"?> 125 subsidiäres Element. Die Kausalität lässt sich deshalb prädikatenlogisch wie folgt darstellen (CAUS = kausales Konnektiv; ASS = assertiver Sprechakt): CAUS (ASS( )) 0 , (ASS( ), ASS( )) -1 13.4.2 Folgesätze In Text (13.14) findet sich auch ein Beispiel für ein konsekutives also: (13.14’) Nun kam gewiss bis zum Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen Hier stehen beide Handlungen in ihrer temporalen Abfolge. Wir haben es deshalb nicht nur grammatisch mit zwei Hauptsätzen zu tun; auch logisch stehen beide Sätze auf der gleichen Stufe. Sie gehören zur gleichen temporalen Sequenz und sind zusätzlich kausal verbunden, was übrigens kein seltener Fall ist (cf. Kap. 17.6). Diese Verwendung scheint charakteristisch für die Folge- oder Konsekutivsätzen, bei denen die Folge und nicht die Ursache durch einen Konnektor wie also, folglich, daher, darum, deshalb, somit usw. eingeleitet wird. In einem solchen Fall betrachten wir deshalb bloß das verbindende Element ( ) als untergeordnet: CAUS (ASS( ), (ASS( )) 0 , ASS( )) -1 Folgesätze gelten im Übrigen als Hauptsätze, da das Verb an zweiter Stelle steht. Eine Ausnahme macht allerdings der so dass-Satz, der grammatisch untergeordnet ist. Dabei braucht sich aber die Folge im so dass-Satz nicht auch logisch der Ursache unterzuordnen. Im folgenden Beispiel haben wir es wiederum mit zwei Handlungen zu tun, die zeitlich aufeinanderfolgen und zusätzlich in einem kausalen Verhältnis stehen. (13.15) Effi war gerührt von dem allen und schrieb öfters darüber nach Hohen- Cremmen, so dass die Mama sie mit ihrer »Liebe zum Alchimisten« zu necken begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien verfehlten ihren Zweck […] (Theodor Fontane, Effi Briest, Kapitel 13) Mehr noch. In Gerichtsbeschlüssen habe ich sogar Beispiele gefunden, wo im so dass-Satz die logische Folgerung steht, zu der das Gericht aufgrund seiner Erwägungen kommt. Wir kommen deshalb zum überaschenden Schluss, dass hier der dominierende Sprechakt in einem grammatisch untergeordneten Satz steht: (13.16) Im Zuge des Verwaltungsstrafverfahrens ist weder hervorgekommen, dass das Verschulden des Beschwerdeführers geringfügig ist, noch dass die Folgen der Übertretungen unbedeutend sind, so dass es an den maßgeblichen Voraussetzungen für eine zulässige Anwendung des § 21 VStG fehlt. (Beschluss des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2010, Geschäftszahl 2010/ 07/ 0162) Folgesätze sind zwar zumeist kausal; sie können allerdings wie in (13.6) auch argumentativ gebraucht werden. Dafür habe ich ein weiteres Beispiel gefun- <?page no="138"?> 126 den, wo also einen direktiven Sprechakt einleitet und deshalb eindeutig als argumentativ interpretiert werden muss: (13.17) Übrigens will er auch mit dir persönlich sprechen. Also bitte mach die Tür auf. (Franz Kafka, Die Verwandlung) 14.4.3 Finalsätze Eine andere Form kausaler Beziehung liegt vor, wenn die Folge bloß intendiert ist und es ungewiss bleibt, ob sie eintreten wird oder nicht. Dies gilt für den Finalsatz. Im Deutschen wird der Finalsatz zumeist durch damit eingeleitet oder als Infinitivkonstruktion mit um... zu... konstruiert. Finalsätze lassen sich mit Hilfe einer Form des Verbs wollen paraphrasieren, wobei das persönliche Subjekt des Hauptsatzes auch als Subjekt von wollen dient. (13.18) Ich beeile mich, damit ich den Zug noch erreiche Ich beeile mich, weil ich den Zug noch erreichen will Steht im Hauptsatz allerdings kein persönliches Subjekt, so muss die finale Konjunktion durch wenn man will, dass... umschrieben werden; der Finalsatz nimmt dann den Wert eines Konditionalsatzes an (cf. Helbig/ Buscha 1972, 594s.): (13.19) Die Äpfel müssen lagern, damit sie schmecken Die Äpfel müssen lagern, wenn man will, dass sie schmecken Finalsätze scheinen immer kausal zu sein. Sie sind nicht nur grammatisch, sondern auch logisch untergeordnet. 14.4.4 Konzessivsätze Bei den Konzessivsätzen haben wir es dagegen mit Gegenargumenten zu tun, die aber nicht ausschlaggebend sind. Oswald Ducrot 51 hat im Rahmen seiner Polyphonietheorie eine ingeniöse Erklärung für das Funktionieren des Konzessivsatzes gegeben, die allerdings die Polysemie der Konnektoren zu wenig berücksichtigt. (13.20) Obwohl es erst zwei Uhr nachmittags war (p), wurde es bereits dunkel (q) Dieser Konzessivkonstruktion liegt eine implizite Argumentation zugrunde. Es wird als bekannt vorausgesetzt, dass es in unseren Breitengraden selbst im Winter um zwei Uhr nachmittags noch Tag ist, es sei denn, dass irgend ein besonderes Ereignis wie eine Sonnenfinsternis oder ein Vulkansausbruch stattfindet. Etwas anderes ist es natürlich, wenn wir uns in einer Polarregion befinden. Ist dies nicht der Fall, würde man deshalb aus der Tatsache, dass es erst zwei Uhr nachmittags war, ableiten, dass es noch hell war. Wir haben es also mit einer jener Implikationen aus dem Weltwissen zu tun, von der wir in 51 Cf. vor allem Ducrot et al. (1980, 93-130), ferner Moeschler (1989, 27-82) und — mit wichtigen Modifikationen — Adam 1990, 192-211. <?page no="139"?> 127 Kapitel 8.3 gesprochen haben. Man kann sie in der Art eines Syllogismus darstellen: (Obersatz) Um zwei Uhr nachmittags ist es (üblicherweise) noch hell (Untersatz) Es war erst zwei Uhr mittags (Folgerung) Also war es (sehr wahrscheinlich) noch hell Diese Implikation vollzieht nicht nur S, sondern es darf auch angenommen werden, dass sie ebenfalls von A vollzogen wird. Der Nachsatz führt dann ein Faktum ein, das explizit dieser Implikation widerspricht und sie gleichsam auslöscht. Dadurch wird die Überraschung über die ungewöhnliche Tatsache ausgedrückt: Es hätte eigentlich noch hell sein sollen, es wurde aber bereits dunkel. In der Konstruktion obwohl p, q ist q dabei nicht nur der grammatisch übergeordnete Satz, sondern auch der dominierende Sprechakt. Dies ist im Falle von p, aber q beziehungsweise p, jedoch q nicht so eindeutig. Wenn man den Satz (13.20) folgendermaßen umformuliert, so haben wir es weit eher mit zwei gleichwertigen Aussagen zu tun, die eine enumerative Sequenz bilden: (13.20’) Es war erst zwei Uhr nachmittags. Es wurde aber/ jedoch bereits dunkel Die Konnektoren aber oder jedoch deuten hier nur den möglichen Wiederspruch zwischen den beiden Aussagen an, insofern man aus der Aussage, dass es erst zwei Uhr war, versucht sein könnte abzuleiten, dass es noch hell war. Der Konnektor aber kennt wie das französische mais aber noch eine weitere Verwendung, die den anderen konzessiven Konnektoren abgeht 52 . Wir zitieren dafür als Beispiel die Anfangssätze von Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt: (13.21) (r) Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum ersten Mal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongress teilzunehmen. (p1) Selbstverständlich wollte er nicht dorthin. (p2) Monatelang hatte er sich geweigert, (q) aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben... Der einleitende Satz ist in diesem Fall die Folgerung r, die den gesamten Textabschnitt dominiert. In der Folge wird denn auch von dieser Reise berichtet. Dabei ist man zunächst etwas erstaunt, wenn sich an r die beiden Sätze p1 und p2 anschließen, denn diese sind eigentlich Argumente für die Negation von r, d.h. dafür, dass Carl Friedrich Gauß — denn um ihn handelt es sich hier — nicht an den Deutschen Naturforscherkongress gegangen wäre. Einzig q ist ein Argument für die Folgerung r. Man kann somit sagen, dass p1 und p2 Argumente für nicht-r sind, während q ein Argument für r ist. Dabei kommt dem durch aber eingeleiteten Argument q aber mehr Gewicht zu als den beiden Gegenargumenten p1 und p2 zusammen. Das ist die Regel bei dieser Art von Argumentation. 52 Nach Ducrot hätte mais sogar ausschließlich diese Funktion; Adam (1990, 192-211) widerspricht ihm meines Erachtens aber zu Recht. <?page no="140"?> 128 In Beispiel (13.21) wird die Schlussfolgerung durch r ausgedrückt. Dabei kann der dominierende Akt in dieser Verwendung aber auch unausgesprochen bleiben. Ich mag mich an ein Plakat von Amnesty International erinnern, das eine augenscheinliche Verletzung von Menschenrechten zeigte. Neben dem Logo und dem Namen der Organisation enthielt das Plakat gerade einmal die Worte (13.22) Nicht hier, aber jetzt Was war damit gemeint? Das „nicht hier“ würde für eine implizite Argumentation der Art „Das geht mich nichts an, weil es nicht hier stattfindet“ sprechen, das „aber jetzt“ stützt dagegen schwergewichtig die gegenteilige Argumentation „Das geht mich etwas an, weil es jetzt stattfindet“. Damit ist die ganze Argumentation aber noch nicht zu Ende. Es stellt sich die Frage nach dem Zweck dieses Plakates. Nun hat ein Plakat üblicherweise die Aufgabe, für ein Produkt, eine Firma oder hier für eine Organisation zu werben. Weiter darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass Amnesty International weltweit gegen Menschenrechtsverletzungen kämpft. Daraus ergibt sich wiederum die Folgerung, dass ich Amnesty International unterstützen muss, wenn ich etwas gegen Menschenrechtsverletzungen tun will. Damit ist auch das implizite Gegenargument widerlegt, dass ich selber nichts gegen solche Vorfälle tun kann. Zu solchen oder ähnlichen Überlegungen sollte dieses Plakat die Betrachterin oder den Betrachter anregen. Ob dies geschieht, hängt natürlich auch von ihrer/ seiner Einstellung gegenüber Amnesty International ab. Im Gegensatz zum verhältnismäßig einfachen Fall der Kausalität besteht das Problem der Argumentation darin, dass sie oft einen sehr impliziten Charakter hat. <?page no="141"?> 129 14 Argumentieren Das Argumentieren verdient es, ausführlicher behandelt zu werden, denn es ist für zahlreiche Textsorten konstitutiv. Das Enthymem ist dabei die deduktive Form des Argumentierens. Wie die enthymemische Argumentation im Einzelnen funktioniert, bleibt allerdings weiterhin kontrovers. Gemeinsam ist allen Versuchen, dass sie das Enthymem auf den Syllogismus zurückführen wollen. Die zweite Form der Argumentation, die Aristoteles nennt, ist das Beispiel. Er hielt dieses für eine Form der Induktion. Unter Induktion versteht man allerdings üblicherweise das Bilden allgemeiner Regel gestützt auf Einzelfälle. Wir haben es in diesem Fall vielmehr mit Analogieschlüssen zu tun. Als dritte Art des logischen Schließens gilt sodann seit Charles S. Peirce die Abduktion. Hier geht es um die Bildung von Hypothesen, die ihrerseits argumentativ gestützt werden müssen. Diese Form der Argumentation ist sowohl in den empirischen wie auch in den philologischen Wissenschaften verbreitet. 14.1 Stephen Toulmin Aristoteles kennt keine Formalisierungen und ist das beste Beispiel dafür, wie das Fehlen von Formalisierungen das Verstehen erschweren kann. So wissen wir nicht, wie er sich das Funktionieren des Enthymems eigentlich vorgestellt hat. Viel gelobt, aber auch viel kritisiert wird bis heute das Modell von Stephen Toulmin (1958), dessen Buch im gleichen Jahre wie dasjenige von Perelman/ Olbrechts-Tyteca erschien und ebenfalls wesentlich zum neuerwachten Interesse an der Argumentationstheorie beigetragen hat. Dieses Modell sieht folgende Komponenten vor: Data: Harry was born in Bermuda Claim: Harry is a British citizen Modality: so, probably Warrant: A man born in Bermuda will generally be an English citizen Backing: The following statutes and legal provisions: Rebuttal: Unless both his parents were aliens or he has become a naturalized American <?page no="142"?> 130 Wie in allen neueren und älteren Darstellungen wird das Enthymem letztlich auf den Syllogismus zurückgeführt. So finden sich in diesem Modell der Obersatz als warrant, den Untersatz als data und die Folgerung als claim wieder. Der warrant hat die Form ( ), d.h. „wenn , dann “: Aus der Tatsache, dass jemand auf den Bermudas geboren ist, folgt üblicherweise, dass er britischer Staatsbürger ist. Da aber Harry auf den Bermudas geboren ist, darf man annehmen, dass er britischer Staatsbürger ist. Diese Argumentation hat somit die klassische Form des modus ponens: „Wenn ( ) und , dann “. Von den übrigen Teilen des Modells ist die modality eine durchaus sinnvolle Ergänzung, insofern Enthymeme im Unterschied zu den Syllogismen nur wahrscheinliche Urteile erlauben. Eine interessante Erweiterung ist auch das rebuttal, mit dem der Sprecher selber die Richtigkeit seines Schlusses einschränkt, was allerdings selten vorkommt. Damit kommen wir aber zur eigentlichen Schwachstelle des Modells, das äußerst vage formulierte backing. Eckard Eggs (2000, 405) kritisiert denn auch zu Recht, dass Toulmin der Topik der antiken und mittelalterlichen Rhetorik nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. 14.2 Van Eemerens Pragma-Dialektik Die Pragma-Dialektik der Schule von Frans Van Eemeren ist für uns insofern von Bedeutung, als dass sie eine Argumentation als komplexen Sprechakt versteht (cf. vor allem Van Eemeren/ Grotendorst 1992). Die essentielle Glückensbedingung dieses komplexen Sprechaktes ist dabei, dass die Argumente einen Versuch von S darstellen, A davon zu überzeugen, dass die Konklusion akzeptabel ist. Von Bedeutung sind ferner die drei vorbereitenden Bedingungen: 1) S glaubt, dass A die Folgerung als solche nicht akzeptiert. 2) S glaubt aber, dass A die Argumente als solche akzeptiert. 3) S glaubt ferner, dass A die Argumente als Begründung für die Folgerung akzeptiert. Dies sind Vorbedingungen besonderer Natur, denn es handelt sich darum, dass S Annahmen über das Verhalten von A macht. Von besonderer Bedeutung ist zudem die dritte Bedingung, die in ähnlicher Form auch bei den Glückensbedingungen auftritt. Eine Argumentation besteht nicht nur aus Argumenten und einer Folgerung, sondern es ist auch notwendig, dass die Argumente als Begründungen für die Folgerung akzeptiert werden. Wir sind mit dem Konzept eines komplexen Sprechakts einverstanden, deuten es aber so, dass sowohl die Argumente — es können deren mehrere sein — wie auch die Folgerung als einfache Sprechakte zu verstehen sind, die durch ein argumentatives Konnektiv ARG zu einem komplexen Sprechakt zusammengefügt werden. Damit eine Argumentation aber einsichtig wird, muss zwischen Argument und Folgerung eine Verbindung in der Art von „Wenn , dann “ beste- <?page no="143"?> 131 hen. Von Eemeren und Grotendorst weisen diese Aufgabe einer von der pragmatischen getrennten logischen Ebene zu. Sie verstehen dabei dieses Element, das dem klassischen Endoxon entspricht, als indirekten Sprechakt. Richtiger wäre es wohl mit Marc Angenot (1982, 172s.) von einer Präsupposition zu sprechen. Zwar ist die Verwendung der Begriffe in beiden Fällen metaphorisch, denn sie wurden für die Interpretation von einzelnen Sätzen und nicht von Argumentationen geschaffen; die Meinung, auf der die Argumentation aufbaut, ist jedoch keine zweite Bedeutung wie der indirekte Sprechakt, sondern eine Vorbedingung für das Gelingen der Argumentation. Trotzdem überzeugt dieser Ansatz nicht wirklich, denn er behandelt wiederum das Enthymem als abgekürzten Syllogismus und weist dem Topos keinen Platz zu. 14.3 Eddo Rigotti Auch im Handbuch von Walton et al. (2008) bleibt das Ineinanderwirken der verschiedenen Komponenten unklar. Weiter als andere Autoren ist dagegen Eddo Rigotti (2009) im Bestreben gegangen, dieses Zusammenspiel explizit zu machen. Wenden wir seine Methode auf unser Beispiel (13.4) an (Wenn es nämlich für Euch nicht schändlich ist, die Zölle zu bezahlen, dann auch nicht für uns, sie einzunehmen), so ergibt sich die folgende Darstellung: Endoxon: Bezahlen und Einnehmen sind reziprok Explizite Prämisse: Zölle bezahlen ist nicht schändlich Erste Folgerung/ Untersatz: Bezahlen ist reziprok zu etwas, das nicht schändlich ist. Maxime: Reziproke Begriffe haben die gleichen Eigenschaften Schlussfolgerung: Zölle einnehmen ist nicht schändlich. Locus der Reziprozität <?page no="144"?> 132 Wir haben es hier gleichsam mit einem doppelten Syllogismus zu tun, der sich auf ein Endoxon und auf eine Maxime als Obersätze stützt. Eine Maxime ist dabei die Konkretisierung eines Topos. Auf der linken Seite steht das Endoxon, wonach das Bezahlen reziprok zum Einnehmen ist. Mit dem expliziten Untersatz, dass das Bezahlen von Zöllen nicht schändlich ist, ergibt sich daraus die Folgerung, dass das Einnehmen von Zöllen reziprok zu etwas ist, das nicht schändlich ist. Aus dem Topos der Reziprozität auf der rechten Seite leitet sich sodann die Maxime ab, dass reziproke Ausdrücke gleiche Eigenschaften haben. Daraus ergibt sich — mit der ersten Folgerung als Untersatz — die Schlussfolgerung, dass auch das Einnehmen von Zöllen nicht schändlich ist. Diese Darstellung leuchtet grundsätzlich ein; es scheint mir allerdings fraglich, ob sie tatsächlich auf alle Fälle anwendbar ist. 14.4 Induktives Schließen Aristoteles (Rhetorik 1356b, 1ss.; 1393a, 23-24) unterscheidet nämlich zwischen zwei Formen des rhetorischen Argumentierens, dem Enthymem und jener Form der Argumentierens, die er μ nennt. Wie aus seinen Beispielen hervorgeht, ist damit das analogische Schließen gemeint. Dieses bezeichnet er als induktive Form des Argumentierens. Syllogismen und Enthymeme beruhen auf der Deduktion, bei der eine Folgerung aus Prämissen hergeleitet wird. Von Induktion spricht man dagegen dort, wo aus einer Reihe von Einzelbeispielen eine allgemeine Regel abgeleitet wird. Zum Beispiel wurden in den letzten Jahren in der Schweiz keine Temperaturen von 37° und mehr im Schatten gemessen. Daraus kann man folgern, dass in der Schweiz keine Temperaturen von 37° und mehr im Schatten vorkommen. Natürlich besteht bei Induktionen die Gefahr, dass man zu schnell verallgemeinert. Sie können jederzeit von einem neuen Fall widerlegt werden. So ist zu befürchten, dass unsere Aussage über die Höchsttemperatur in der Schweiz sich in Zukunft als Folge des Klimawandels als falsch erweisen könnte. Mit dem Musterbeispiel einer induktiven Argumentation haben wir es im folgenden Fall zu tun. Er stammt aus einer Erwiderung auf einen pädagogischen Artikel: (14.1) Der Hinweis von Kim und Hoppe-Graff, dass die „MI“ (scl. Multiplen Intentionen) „unter Pädagogen weltweit populär“ sind, stellt per se kein schlagendes Argument dar. (Beispiele für die überhastete Einführung „weltweit populärer“ Konzepte sind Legion. Man denke z.B. an die Mengenlehre in der Grundschule, die heute in den ersten Schuljahren — wenn überhaupt — nur ein randständiges Dasein fristet. Oder an das Frühlesen als Mittel der Intelligenzsteigerung. Davon spricht heute keiner mehr. Man erinnert sich an die erfolglosen Versuche, durch die Programmiersprache Logo Kindern systematisch logisches Denken beizubringen.) (Detlef H. Rost, „Mehr multiple Perspektiven — mehr multiple Irritationen? Replik auf die <?page no="145"?> 133 Kritik von Kim & Hoppe-Graff“, Zeitschrift für pädagogische Psychologie 23, 2009, 77) Wenn sich Kim und Hoppe-Graff darauf berufen, dass ihre Methode „unter Pädagogen weltweit populär“ sei, so verwenden sie nichts anderes als ein argumentum ad populum, das in der Argumentationstheorie ohnehin als sophistisch gilt. Als Gegenthese bringt Rost vor, dass die Popularität einer Theorie nicht deren Erfolg garantiere. Diese These stützt er induktiv durch drei Beispiele des Scheiterns überschnell in den Unterricht eingeführter Theorien. Durch diese Demonstration wird die Schlüssigkeit der Argumentation von Kim und Hoppe-Graf erfolgreich angezweifelt. Wirklich schlüssige Beweise kommen durch die Induktion jedoch nicht zustande, sondern bloß Wahrscheinlichkeiten; insofern ist das induktive Schließen dem Enthymem verwandt. Induktionen können auch die Grundlage von deduktiven Argumentationen werden. Aristoteles spricht in einem solchen Fall von einem induktiven Topos. Im Beispiel (14.2) ( ) Sein Wagen steht nicht in der Garage. ( ) Der Doktor ist wohl nicht da wird so die An-/ Abwesenheit des Wagens als Indiz für die An-/ Abwesenheit seines Besitzers gewertet. Diese Argumentation beruht auf einer Regel, die sich aus einer Anzahl von Erfahrungen herleitet, die der Sprecher oder die Sprecherin gemacht hat. Hier nimmt die Deduktion dann die Form eines modus tollens an, da es sich um negative Aussagen handelt: „Wenn ( ) gilt und falsch ist, dann ist auch falsch“. Auch hier hat der Obersatz die Form ( ), d.h. „Wenn sein Wagen in der Garage steht, ist der Doktor (wohl) da“. Da aber ( ) („Der Wagen steht in der Garage“), falsch ist, muss die Folgerung ( ) („Der Doktor ist da“) ebenfalls falsch sein. 14.5 Exemplifizieren Das folgende Beispiel stammt aus einer Einführung in die Linguistik: (14.3) (i) Das Abfolgeprinzip stellt eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zeitlichen Ereignissen in unserer Erfahrung und der linearen Abfolge von sprachlichen Formen in einer sprachlichen Konstruktion her. (ii) Es kann in seiner einfachsten Erscheinungsform die Abfolge von zwei und mehr Teilsätzen bestimmen. (iii’) Nehmen wir nur einmal die geschichtsträchtigen Worte des römischen Feldherrn Julius Cäsar Veni, vidi, vici ‚Ich kam, sah und siegte’. Die Abfolge der Teilsätze entspricht der Abfolge der wirklichen Ereignisse, die mit ihnen beschrieben werden. (iii’’) Oder noch ein Beispiel: Zirkusleute und Schausteller locken ihr Publikum mit Slogans wie: Kommen, sehen, staunen: zuerst geht man in den Zirkus, dann sieht man die Auftritte und durch das Zuschauen wird man ins Staunen versetzt. (René Dirven/ Günter Radden, in: Ralf Pörings/ Ulrich Schmitz (Hrsg.), Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung, Tübingen: Narr, 1999, p. 9) <?page no="146"?> 134 Wir haben es hier mit einer dreistufigen Hierarchie zu tun. Eine erste These (i) allgemeiner Art wird durch eine zweite These (ii) spezifiziert. (Es werden in der Folge weitere spezifische Thesen vorgestellt, die wir hier nicht wiedergeben.) Diese zweite These wird dann durch die beiden Beispiele (iii’) und (iii’’) exemplifiziert. Man kann sich dabei fragen, ob wir in diesem letzteren Fall noch von einer Argumentation sprechen dürfen. Tatsächlich geht es hier nicht darum, die These (ii) zu beweisen, denn für einen Linguisten ist diese These nicht neu. Allerdings handelt es sich hier um einen didaktischen Text, der sich in erster Linie an Studierende wendet. Man kann sich aber durchaus fragen, ob die Exemplifikation nicht eher zu denjenigen Fällen gehört, die wir in Kapitel 16 unter dem Begriff der Spezifikation behandeln werden. Dort wird es jedoch darum gehen, zusätzliche Informationen zu einem gegeben Thema zu vermitteln. Hier soll dagegen eine abstrakte These durch konkrete Beispiele gestützt und damit akzeptabler gemacht werden. Da es nun gerade die Aufgabe einer Argumentation ist, den dominierenden Sprechakt akzeptabler zu machen, rechnen wir die Exemplifikation ebenfalls zu den induktiven Argumentationen. Die Struktur von (14.3) ist allerdings noch etwas komplexer, da jedes Beispiel von seiner Analyse gefolgt wird. Dies ist ein typisch philologisches Vorgehen, für das man in unserem eigenen Text mehr als genügend Beispiele findet. Solche Analysen sind nicht mehr argumentativ, sondern sind zu den komplementären, sachverhaltsklärenden Sprechakten zu rechnen. 14.6 Analogie ohne Induktion Nach Aristoteles genügt beim Analogieschluss sogar ein einziges Beispiel. Dabei kann dieses Beispiel entweder historischer oder sogar fiktiver Natur sein (Rhetorik 1393a, 28). Mit einem historischen Präzedenzfall haben wir es im folgenden Beispiel zu tun. Es geht dabei um die Übernahme von Chrysler durch Fiat unter ihrem CEO Sergio Marchionne. Dieser war der missglückte Übernahmeversuch von Volkswagen unter ihrem damaligen CEO Jürgen Schrempp voraufgegangen: (14.4) Marchionne will offenkundig mit Fiat das ganz große Rad drehen. Er wandelt dabei auf den Spuren von Jürgen Schrempp, der einst Daimler in die Ehe mit Chrysler führte. Wie Schrempp könnte dabei am Ende Marchionne selber unter die Räder geraten. (NZZ, 2.-3/ 05/ 09, p. 21) Es handelt sich hier um die Schlussfolgerung eines Zeitungskommentars. Diese baut auf einer doppelten Radmetapher auf: Marchionne dreht das ganz große Rad und droht dabei selber unter die Räder zu kommen. Dabei kann es aber nicht die Absicht des Verfassers gewesen sein, aus dem Misserfolg Schrempps eine allgemeine Regel induktiv ableiten zu wollen, zumal das Scheitern Marchionnes als bloße Möglichkeit dargestellt wird. In solchen Fällen von Induktion zu sprechen, scheint verfehlt (cf. auch Dominicy 2002, 52). Wir haben es vielmehr mit einem Fall des analogischen Denkens zu tun. Unter diesen Umständen kommt das Modell der konzeptuel- <?page no="147"?> 135 len Integration von Fauconnier und Turner (cf. Kap. 8.5) zur Anwendung. Grundlage der Analogie sind die Gemeinsamkeiten beider Fälle: Es handelt sich um den gleichen in Schwierigkeiten geratenen amerikanischen Automobilbauer. Schrempp und Marchionne sind sodann die CEO von zwei europäischen Automobilkonzernen, die beide beim amerikanischen Konzern eingestiegen sind, um ihn zu sanieren. Der Erstere ist dabei gescheitert, also kann man sich vorstellen, dass der Letztere ebenfalls scheitern wird. Bedenklich wird der Analogieschluss allerdings dann, wenn er nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wahrheit präsentiert wird. Es mag auch erstaunen, dass Aristoteles fiktive Beispiele, besonders solche, die man selber für den gegebenen Zweck erfunden hat, akzeptiert 53 . In der Fernsehwerbung wird nicht selten auf diese Art und Weise argumentiert, wobei Geschichten nach dem Muster „Sie haben ein Problem, wir haben die Lösung“ besonders beliebt sind. Wer kennt nicht jene von Schmutz starrende Küche, die sich mit einem „herkömmlichen Reiniger“ nicht mehr sauber kriegen lässt? Darauf kommt jener kahle, eunuchenhafte Mann mit Ohrring und die Küche erstrahlt wieder in ihrem alten Glanz. Die Tatsache, dass Procter & Gamble fast ein halbes Jahrhundert lang immer neue Abwandlungen dieses Fernsehspots für ihren Allzweckreiniger produzieren ließen, scheint allerdings dafür zu sprechen, dass unabhängig von ihrem Wahrheitswert diese Art von Argumentation durchaus effizient sein kann. Aristoteles (Topik 105a, 16-17) betont denn auch die leichte Zugänglichkeit von Argumentationen, die auf konkreten Beispielen beruhen. 14.7 Die Gerechtigkeitsregel Auf einer Analogie baut auch die Gerechtigkeitsregel auf, wie sie Perelman/ Olbrechts-Tyteca (1958, 294-297) beschrieben haben. Danach ist gerecht, dass analoge Fälle gleich behandelt werden. Vorherrschend tritt sie als Maxime der Art auf, dass es ungerecht ist, wenn für den Fall A nicht gilt, was für den analogen Fall B galt. Manfred Kienpointner (1992, 195s.) gibt als Beispiel die Argumentation, die in einer österreichischen Fernsehdiskussion die Managerin I. Moser dafür vorbrachte, dass auch Frauen Militärdienst leisten sollten: (14.5) Wenn Sie einen Sohn haben, dann geht der zum Bundesheer. MUSS. Er MUSS. Weil wir für die Neutralität sind. SO. Jetzt frage ich mich, was tun die Frauen? Die machen nämlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Nix! Wenn wir von den eingeschobenen Begründungen absehen, so lässt sich dieser Text auf zwei Argumente reduzieren: Die Männer leisten Militärdienst und die Frauen nicht. Unausgesprochen bleibt das Endoxon, dass Frauen und 53 Zu beachten ist allerdings, dass nach Aristoteles (Poetik 9) „Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres [ist] als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit“. <?page no="148"?> 136 Männer nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Pflichten haben sollten. Daraus ergibt sich aufgrund der Gerechtigkeitsregel, dass die beschriebene Situation ungerecht ist. Solche Argumentationen sind in der Politik sehr beliebt („Den Banken haben sie Milliarden gegeben und für die armen Leute haben sie kein Geld.“). Schon Perelman/ Olbrechts-Tyteca haben allerdings darauf hingewiesen, dass es immer schwierig ist zu bestimmen, was nun wirklich analog ist. Darauf wollte sich in der Diskussion die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer nicht einlassen, sondern sie spann die Argumentation weiter: (14.5’) ... bitte, Jungs, aber dann mal schnell ran mit unseren ganzen Pflichten, da liegt nämlich noch einiges brach, wo ihr euch verdient machen könnt. 14.8 Hypothesen bilden: die abduktive Argumentation Aristoteles und seine Vorläufer, die Sophisten, hatten ihre Argumentationstheorien im Hinblick auf die politische und die Gerichtsrede entwickelt. Heute spielt die Argumentation in wissenschaftlichen Texten eine fast noch wichtigere Rolle. Eine dritte Form der Argumentation, die Abduktion, ist allerdings nur für gewisse Wissenschaftszweige wichtig. Sie kommt bei Aristoteles so gut wie gar nicht vor. Erst Charles Sanders Peirce hat sich ausführlicher mit ihr befasst; er definiert sie folgendermaßen: Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, dass A wahr ist (Peirce CP 5.189, http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Abduktion (Wissenschaftstheorie)/ letzte Konsultation: 4.1.2010. Gesucht wir in diesem Fall nicht die Folge, sondern die Ursache. Die Folge ist vielmehr bereits bekannt, so wie in Kriminalromanen und -filmen die Polizei zunächst die Leiche findet und dann nach dem Täter fahndet. Entsprechend ist der dominierende Sprechakt hier nicht die Folgerung, sondern die Hypothese. Nach Walton et al. (2008, 329) würde die abduktive Argumentation auf folgenden Prämissen gründen: Premise 1: D is a set of data or supposed facts in a case. Premise 2: Each one of a set of accounts A 1 , A 2 …, A n is successful in explaining D. Premise 3: A i is the account that explains D most successfully. Conclusion: Therefore, A i is the most plausible hypothesis in this case. Das Problem ist allerdings, wie man herausfindet, dass A i die Erklärung ist, die D am erfolgreichsten erklärt. Auch hier steht eine ganze Argumentation hinter der Argumentation, die in diesem Fall aber zumeist explizit geführt wird. In den Sozialwissenschaften, wo vor allem mit Umfragen gearbeitet wird, müssen sehr häufig unvorhergesehene Ergebnisse interpretiert werden. Im folgenden Beispiel ging es um die unerwartete Tatsache, dass Frauen mit <?page no="149"?> 137 Migrationshintergrund leichter einen Ausbildungsplatz fanden als Männer gleicher Herkunft. Man beachte dabei die starke Modalisierung dieses Textes, die wir durch Kursivdruck hervorgehoben haben. Bei Abduktionen befindet man sich immer auf unsicherem Grund. (14.6) Unseres Erachtens spricht vor allem auch der große Unterschied zwischen jungen Frauen und Männern mit Migrationshintergrund dafür, dass Diskriminierungsprozesse seitens der Ausbilder bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen eine Rolle spielen. Wie oben argumentiert wurde, werden „ausländische“ junge Männer in der Regel habitusmäßig als bedrohlicher erlebt, und viele negative Assoziationen wie Jugendkriminalität, Gewaltbereitschaft und „Machoverhalten“ werden eher mit Jungen als mit Mädchen in Verbindung gebracht. Es scheint also durchaus plausibel, dass sich Diskriminierungsprozesse stärker auf junge Männer als auf Frauen richten. Eine rein ressourcenbasierte Erklärung wird angesichts der großen Geschlechterdifferenzen in den ethnischen Ungleichheiten auf dem Ausbildungsstellenmarkt vermutlich schnell an ihre Grenzen stoßen. Schließlich gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass sich junge Männer und Frauen aus Migrantenfamilien im Hinblick auf ihren sozialen Hintergrund unterscheiden. (Claudia Diehl et al., „Jungendliche ausländischer Herkunft beim Übergang in die Berufsausbildung: Vom Wollen, Können, Dürfen“, Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), 64s. Hervorhebungen von mir. J.W.) Ausgangspunkt für die Argumentation ist hier die Hypothese, die Bevorzugung der Frauen erkläre sich durch die „Diskriminierungsprozesse seitens der Ausbilder bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen“. Die Studie selber liefert für diese These allerdings keine Beweise. Deshalb muss spekuliert werden. Dabei wird ein plausibles Argument vorgetragen, wieso diese bei Männern stärker wirken könnten als bei Frauen. Da aber die ganze Erklärung sehr hypothetisch bleibt, was bei dieser Art von Argumentation unausweichlich ist, wird versucht, die gegebene Interpretation dadurch zu stützen, dass in den letzten beiden Sätzen zwei weitere Erklärungen als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden. Die Widerlegung anderer Thesen hat in diesem Fall eine subsidiäre Funktion; auch sie macht die bevorzugte These und damit den dominierenden Sprechakt wahrscheinlicher. In den empirischen Wissenschaften wird heute die Darstellung der erzielten Ergebnisse streng von deren Interpretation getrennt, die am Ende eines Artikels unter dem Titel Diskussion erscheint. Die Schlussfolgerungen, zu denen man dort gelangt, dürfen dann auch als die dominierenden Sprechakte des gesamten Textes angesehen werden. In den empirischen Wissenschaften ist freilich die Zuverlässigkeit (reliability) der Ergebnisse eines Experiments von Wichtigkeit. Das bedeutet, dass immer die gleichen Ergebnisse herauskommen müssen, wenn man ein Experiment wiederholt. Entsprechend oft sind denn auch gewisse Experimente wiederholt worden. Wenn sich das Ergebnis bestätigt, so wird auch die Schlussfolgerung ganz einfach aus dieser Bestätigung bestehen. Es kann aber auch vorkommen, dass die Ergebnisse einer Studie keine klare Interpretation ermöglichen. Im folgenden Beispiel wird so eine wissenschaftliche Studie zusammengefasst, in der man herausfinden wollte, ob die <?page no="150"?> 138 faulen Hypotheken, welche die Finanzkrise von 2008 auslösten, vor allem ökonomisch unerfahrenen Schuldnern angedreht worden waren. Dabei waren die Ergebnisse widersprüchlich. (14.7) (i) Es zeigt sich, dass Personen mit niedrigem Finanzwissen nicht häufiger «adjustable-rate mortgages» erhielten als die in finanziellen Dingen besser Beschlagenen. (ii) Es scheint also nicht so zu sein, dass vor allem den «Dummen» Hypotheken angedreht wurden. (iii) Doch gleichzeitig zeigte sich auch, dass die Finanz-Unkundigen meist gar nicht wussten, dass sie wohl auf einer Problem-Hypothek saßen. (iv) Die möglichen psychologischen Ursachen der Subprime-Krise scheinen demnach einiges komplexer zu sein, als sich manche das vorstellen. (NZZ, 6.-7./ 6/ 2009, p. 28) Das in (i) zusammengefasste Ergebnis der Studie ist ein Argument für die negative Folgerung (ii), die allerdings durch das Verb scheinen modalisiert wird. Sie ordnet sich damit der Schlussfolgerung (iv) unter. Das in (iii) vorgebrachte widersprüchliche zweite Ergebnis lässt dann nämlich den Journalisten dieses Artikels zu einer sehr vorsichtigen Schlussfolgerung (iv) gelangen. In wissenschaftlichen Texten lautet die Schlussfolgerung dann meistens, dass weitere Studien notwendig sind... 14.9 Thesen widerlegen Zur Argumentation gehört nicht nur das Finden eigener Argumente, sondern auch das Widerlegen fremder Argumente. Wie wir soeben in Beispiel (14.6) gesehen haben, kommt dem Widerlegen in der Abduktion eine besondere Rolle zu. Die Abduktion darf dabei als die bevorzugte Art der Argumentation in den modernen empirischen Wissenschaften gelten (cf. Wüest 2010b). Daneben kommt ihr aber auch eine zentrale Aufgabe in der Philologie zu, wenn es um die Interpretation von Texten oder um die Suche nach der Herkunft eines Wortes geht. Gerade in dieser schon älteren Wissenschaft kommt dem Widerlegen früherer Erklärungen ein wesentlicher Platz zu. Mustergültig ist etwa der Aufbau der Artikel im Lexikon der Schweizer Gemeindenamen, das in strittigen Fällen zunächst die bisherigen Deutungen zitiert, dann unter dem Titel Besprechung sie kritisch untersucht und meistens widerlegt, um schließlich einen eigenen Deutungsvorschlag zu machen. Bevor im Falle des Gemeindenamens Visp (Kanton Wallis) eine eigene Deutung mit großer Vorsicht vorgeschlagen wird, wird so zunächst gegen die früheren Interpretationen argumentiert: (14.8) Jaccards Kritik an Gatschet ist berechtigt. Ein Ansatz „Wiesenbach“ oder „Fischbach“ kann die ursprüngliche Form Vesbia/ Vespia nicht erklären. Der Typ Bispach/ Fischbach ist erst relativ spät durch volksetymologische Umdeutung entstanden. Hubschmieds Argumentation beruht auf einem Zirkelschluss […]. Eine hypothetische Form *wesp wird durch eine ebenso hypothetische Ableitung *wespi „gedeutet“, deren Bedeutung „Alpbach“ durch nichts gestützt ist. Zudem erklärt Hubschmieds Vorschlag nicht, wie deutsch Visp auf keti- <?page no="151"?> 139 sches *wespi , französisches Viège jedoch auf „spätgallisches“ *wesbia zurückgehen könnte. (Andres Kristol et al., Lexikon der schweizerischen Gemeindenamen, Frauenfeld: Huber/ Lausanne: Payot, 2005, p. 937). Im ersten Abschnitt geht es um eine Art der Argumentation, die für die Ortnamenkunde charakteristisch ist: Da Ortnamen häufig volksetymologische Umdeutungen erfahren haben, ist die Kenntnis der ältesten Belege von größter Wichtigkeit. In unserem Fall lautet die ursprüngliche Form Vesbia oder Vespia; diese lässt sich deshalb nicht von einem erst später belegten Bispach oder Fischbach herleiten. Im zweiten Abschnitt ist von einem Zirkelschluss die Rede. Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass gewisse Philologen eine Hypothese durch eine weitere Hypothese zu „stützen“ suchen. Wir haben es jedoch mit einem Zirkelschluss zu tun, wenn so getan wird, als ob sich die Hypothesen im Kreis herum gegenseitig stützen könnten. Außerdem wird in unserem Text noch auf eine weitere Inkohärenz bei Hubschmied hingewiesen, welche die Schlüssigkeit seiner Argumentation noch mehr in Frage stellt. Wenn Argumente die Aufgabe haben, eine These wahrscheinlicher zu machen, so haben Widerlegungen die Aufgabe, sie unwahrscheinlicher zu machen. Widerlegungen haben implizit die Struktur einer konzessiven Periode der Art „X sagt A x , aber ich habe das folgende Gegenargument“, woraus folgt, dass A x unwahrscheinlich ist. Widerlegungen stehen so im Dienste der eigenen These A i , denn die Unwahrscheinlichkeit der Gegenthese stützt subsidiär die eigene These A i . Über die Strategien des Widerlegens erfährt man in vielen Handbüchern zur Argumentationstheorie recht wenig. Aristoteles behandelt im dritten Buch (Kap. 15) immerhin die Frage, wie man auf Beschuldigungen reagieren kann und zählt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Topoi auf. So kann man z.B. darauf plädieren, dass man den Schaden nicht absichtlich verursacht hat, oder man kann nachweisen, dass der Ankläger oder seine Freunde den gleichen Fehler ebenfalls begangen haben. Im zweiten Buch der Rhetorik (Kap. 25) nennt er zudem den Einwand und die Gegenargumentation als Formen der Widerlegung. Ein Beispiel für einen Einwand ist in Text (14.8) der Hinweis, dass die ältesten Belege gegen die Erklärung sprechen. Der Zirkelschluss ist dagegen ein Beispiel für einen Fehlschluss, d.h. für eine logisch nicht einwandfreie Argumentation. Eine besonders effektvolle Art der Widerlegung ist zudem diejenige, bei der man eine Argumentation dadurch widerlegt, dass man sie ad absurdum führt. Ein Beispiel dafür ist das berühmte Gedicht Die Lösung von Bert Brecht, das er nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schrieb: (14.9) Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, dass das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch doppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da <?page no="152"?> 140 Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? <?page no="153"?> 141 15 Überzeugen oder verführen? Mehr als mit dem Widerlegen von Argumenten hat sich die Argumentationstheorie mit dem Erkennen von Fehl- oder Trugschlüsse befasst. Es geht dabei vor allem um die Frage nach der Grenze zwischen ethisch korrekten Überzeugungsstrategien und ethisch bedenklichen Verführungsstrategien. Unter Generalverdacht stehen insbesondere die emotionalen Argumente. Sie wurden in neuerer Zeit immer wieder abgelehnt, weil man der Meinung war, Verstand und Gefühl seien strikte voneinander zu trennen. Dies wird allerdings gerade von der neueren neurologischen Forschung in Frage stellt. Werturteile spielen so eine zentrale Rolle in einer ganzen Reihe von Textsorten, in der politische Rede, in der Werbung, in der Ratgeberliteratur und — mit Einschränkungen — in der Rezension. Ein weiteres Problem kann in diesem Zusammenhang nur gestreift werden: Es ist dies die Frage nach der Effizienz von Argumentationen. 15.1 Fehlschlüsse Weit wichtiger als das Widerlegen von Thesen war bereits bei Aristoteles das Erkennen von Fehlschlüssen, denen er das ganze letzte Buch des Organons, die Sophistischen Widerlegungen ( ) gewidmet hat. Man spricht von Fehl-, aber auch von Trugschlüssen. In gleicher Weise kann man von Paralogismen oder Sophismen sprechen. Der Unterschied besteht in beiden Fällen darin, dass Trugschlüssen oder Sophismen eine Täuschungsabsicht zugrunde liegt, Fehlschlüssen oder Paralogismen aber nicht. Da es sich aber in Wirklichkeit schwer feststellen lässt, ob eine Täuschungsabsicht vorliegt oder nicht, ist diese Unterscheidung problematisch. Wir sprechen deshalb einfach von Fehlschlüssen oder Paralogismen: Diese erwecken den Anschein einer Argumentation, beweisen in Wirklichkeit aber gar nichts. Aristoteles kennt zwei Arten von Fehlschlüssen. Formale Fehlschlüsse beruhen auf sprachlichen Zweideutigkeiten, z.B. (15.1) Wer geheilt ist, erfreut sich guter Gesundheit Der Kranke wurde geheilt Deshalb erfreut sich der Kranke guter Gesundheit Der Fehlschluss besteht darin, dass im Untersatz der Kranke eine Person bezeichnet, die früher krank war, in der Folgerung aber eine solche, die augenblicklich krank ist. Als klassische Fälle eines materiellen Fehlschlusses dürfen beispielsweise der Zirkelschluss (oder petitio principis) oder auch die ignoratio elenchi gelten, die darin besteht, auf eine andere Frage zu antworten als diejenige, die gestellt wurde. Das ist insbesondere eine häufige Strategie in politischen Interviews. Jacqueline Léon (1999) hat allerdings gezeigt, dass dies vielfach eine verständliche Reaktion auf ausgesprochene Fangfragen der interviewenden Person ist. <?page no="154"?> 142 Erst in der Neuzeit scheint dagegen von jenen Paralogismen die Rede zu sein, die man mit Hilfe der Konjunktion ad bezeichnet: argumentum ad hominem, argumentum ad verecundiam, argumentum ad baculum, argumentum ad misericordiam, argumentum ad populum usw. Im Anschluss an die Kritik von Charles L. Hamblin (1970) haben Frans Van Eemeren und Rob Grootendorst eine integrierte Theorie für die Gesamtheit der Paralogismen vorgeschlagen. Diese beruhte anfangs (1992) auf zehn, später (2004) auf fünfzehn Regeln der kritischen Diskussion. Diese Regeln gehen von einer Kommunikationssituation aus, in der es gilt, auf argumentativer Basis eine gemeinsame Vereinbarung zu erzielen. Nun ist dies jedoch nicht die einzige Situation, in der argumentiert wird. Häufiger ist wohl der Fall, wo es darum geht, Drittpersonen wie ein Richtergremium, die Wählerschaft, das Parlament oder in der Werbung die Käuferschaft von seinen Argumenten zu überzeugen. Nehmen wir als Beispiel das argumentum ad hominem, bei dem nicht die Argumente, sondern die Person, welche die Argumente vorgebracht hat, angegriffen wird. Es ist klar, dass man solche persönliche Angriffe tunlichst unterlassen sollte, wenn man zu einer gütlichen Regelung gelangen will. In anderen Kommunikationsssituation kann aber ein argumentum ad hominem durchaus erfolgreich sein. Aristoteles empfiehlt selber ein solches zur Abwehr von Beschuldigungen: Ein weiterer Topos beruht darauf, dass man gegen den Beschuldigenden Gegenbeschuldigungen erhebt; es wäre nämlich abwegig, wenn die Reden von diesem als glaubwürdig gelten würden, wenn dieser selbst unglaubwürdig sei. (Rhetorik 1416b 27, übers. Rapp 2002, 156) Man muss sich deshalb fragen, wieso man die ursprüngliche Kategorie der Paralogismen bei Aristoteles nachträglich erweitert hat. Das hat wohl damit zu tun, dass die Argumente ad nicht streng rational sind, sondern an die Gefühle appellieren: Mit dem argumentum ad hominem soll die Antipathie und mit dem argumentum ad misericordiam das Mitleid geweckt werden, beim argumentum ad baculum wird eine Drohung ausgesprochen, die Angst machen soll usw. Solches erachteten rationalistische Philosophen als unzulässig. Eine kritische Haltung gegenüber dieser Entwicklung in der modernen Philosophie haben John Woods und Douglas Walton (1989) eingenommen, indem sie untersuchten, unter welchen Umständen wir es tatsächlich mit Paralogismen zu tun haben. Als argumentum ad hominem gilt einerseits der Angriff auf die Kompetenz der Gegnerin oder des Gegners, andererseits aber auch der Fall des tu quoque, bei dem man auf einen Widerspruch in ihren/ seinen Aussagen hinweist oder auch auf einen Widerspruch zwischen dem, was sie/ er sagt, und dem, was sie/ er tut. Es ist kaum einsichtig, wieso wir es in diesem letzteren Fall mit einem Fehl- oder Trugschluss zu tun haben sollten. Nach Trognon/ Larrue (1994) ist dies sogar eine der häufigsten und erfolgreichsten Strategien in politischen Diskussionen. Etwas kritischer mag der Fall sein, wo es um die fachliche Inkompetenz des Gegners oder der Gegnerin geht. In diesem Fall ist das argumentum ad <?page no="155"?> 143 hominem die Umkehrung des argumentum ad verecundiam, wo man sich in seiner Argumentation auf das Urteil einer fachlich kompetenten Autorität stützt. Hier kann man einwenden, dass Fachkompetenz kein objektives Kriterium ist und dass vermeintliche Geistesgrößen sich auch schon als falsche Autoritäten erwiesen haben. Darauf ist allerdings zu erwidern, dass Argumentationen, wie wir bereits mehrfach betont haben, nicht dazu dienen, die Wahrheit zu beweisen, sondern nur, Folgerungen akzeptabel zu machen. Ohnehin ist das Argumentieren eigentlich ein dialektischer Prozess, bei dem die Argumente der einen mit denen der anderen Partei in Widerstreit geraten. Vor Gericht ist es dann beispielsweise die Aufgabe des Richters zu entscheiden, den Argumenten welcher Partei er mehr Gewicht zumisst. 15.2 Axiologische Argumente Die Tendenz, die Argumentation auf das streng Rationale zu beschränken, hat wohl mit dem logischen Positivismus im 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Dagegen kann man Aristoteles nicht den Vorwurf machen, die Rolle der Gefühle in seiner Rhetorik vernachlässigt zu haben. Auf ihn geht im Prinzip die Unterscheidung zwischen Ethos, Pathos und Logos zurück, auch wenn er diese Begriffe noch nicht selber verwendete: Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Formen. Die ersten liegen im Charakter des Redners, die zweiten darin, den Zuhörer in einen bestimmten Zustand zu versetzen, die dritten in dem Argument selbst, durch das Beweisen oder das scheinbare Beweisen. (Rhetorik 1356a 1, übers. Rapp 2002, 23) Die zweite Form ist das, was man später als Pathos bezeichnen wird. Aristoteles widmet so die gesamte erste Hälfte des zweiten Buches einer Affektlehre. Es sind jedoch erst die jüngsten Fortschritte der Neurologie, welche aufgezeigt haben, in welchem Maße die Gefühle unser Handeln bestimmen (cf. vor allem Damásio 1994, 2005). Wir wissen heute, welche Hirnzonen die Emotionen verarbeiten. Werden diese verletzungsbedingt oder operativ ausgeschaltet, so sind die entsprechenden Patienten noch immer fähig, rational zu argumentieren, sie verlieren sich aber in subtilen Abwägungen, ohne dass sie fähig wären, sich zu einem Entscheid durchzuringen. Damit erweist es sich, dass es keine rein rationalen Entscheidungen geben kann, sondern dass die Empfindungen unseres Körpers immer mitentscheiden. Diese Erkenntnis beginnt sich auch in der Argumentationstheorie durchzusetzen. Eine Vorreiterrolle spielte dabei erneut Douglas Walton, der schon 1992 ein Buch über The Place of Emotion in Argument veröffentlichte. In Ethical Argumentation (2003) hat Walton zudem aufgezeigt, dass man in der Ethik nicht rein rational argumentieren kann. Jede ethische Diskussion stützt sich notwendigerweise auf Werte. Giuseppe Manno (2000) hat die Wichtigkeit emotionaler Argumente in Aufrufen zur humanitären Hilfe gezeigt. Besonders beliebt ist es, in Spenden- <?page no="156"?> 144 aufrufen mit der Darstellung eines möglichst rührenden Einzelschicksals zu beginnen: (15.2) Zitternd halten sie es in ihren Armen. Fünf Wochen zu früh sei es auf die Welt gekommen. Ein Wunder sei es, ihr kleines Baby, und gesund dazu, erzählen sie mir. Stolz sind sie, die Eltern. Wie es für sie als Familie jetzt weitergehe, würden sie nicht wissen. Das sei jetzt auch nicht wichtig. Glücklich seien sie, dass sie hier leben könnten. Ja, wenn sie hier nicht Unterschlupf gefunden hätten, wie hätten sie es wagen können, ihrem kleinen Schatz das Leben zuzumuten. Einen ganz besonderen Wunsch hätten sie für ihr Kleines: Ein lebenswertes Leben. Der mündliche Stil soll hier Authentizität suggerieren. Beachtlich ist vor allem die Zahl der affektiven und axiologischen Ausdrücke (zitternd, Wunder, glücklich, Unterschlupf, Schatz, lebenswert). Es sind dies Ausschmückungen, die wir zu jenen komplementären Sprechakten zählen werden, deren Aufgabe es ist A gefühlsmäßig anzusprechen und die wir deshalb als gefühlsvermittelnd bezeichnen werden (cf. Kap. 22 und 23). Diese können ihrem Wesen nach sowohl axiologisch wie expressiv sein, wobei wir auch affektive Ausdrücke wie zitternd oder glücklich zu den expressiven Akten zählen, da sie ebenfalls Gefühle ausdrücken. Die axiologischen Ausdrücke unterscheiden sich von den expressiven aber dadurch, dass sie zusammen mit den assertiven Sprechakten auch als Argumente dienen können. Im Beispiel (15.3) Ich trage diese alten Schuhe, weil sie bequem sind ist die Bequemheit der Schuhe eine Bewertung und keine Tatsache. Beim folgenden Text aus einer Werbeanzeige für klassische Musik wird man freilich nicht wirklich von einer Argumentation sprechen können: (15.4) Das Debüt-Soloalbum des gefeierten Bass-Baritons Ildebrando D’Arcangelo mit einer exquisiten Auswahl aus den Bass-Arien Händels. Virilität in Stimme und Statur. Zerlegt man diesen verblosen Text in Propositionen, so ergeben sich jedoch drei Propositionen mit positiv wertenden Adjektiven als Prädikat, eines davon ist explizit axiologisch („Die Auswahl aus den Bass-Arien Händels ist exquisit“), zwei weitere sind zumindest positiv axiologisch konnotiert („Dieser Bass-Bariton wird gefeiert“ und „Er ist viril in Stimme und Statur“). Dass diese Wertungen als eine Kaufempfehlung verstanden werden können, hat mit zwei Tatsachen zu tun, die wir bereits erwähnt haben. Einerseits ist der dominierende Sprechakt einer Werbeanzeige immer eine Kaufempfehlung, auch wenn diese so gut wie nie ausgesprochen wird (cf. Kap. 9.1, 11.2). Andererseits präsupponiert eine Empfehlung, dass das Empfohlene gut ist (cf. Kap. 11.2), wodurch jede positive Wertung Tendenz hat, zu einer Empfehlung zu werden. <?page no="157"?> 145 15.3 Ratgeber Nicht nur in der Werbung, sondern auch in der Ratgeberliteratur dienen Bewertungen dazu, Empfehlungen auszusprechen. In diesem Fall kommen allerdings nicht nur positive, sondern auch negative axiologische Sprechakte vor. Es geht dabei nicht nur ums Empfehlen, sondern auch ums Abraten. Die Ratgeberliteratur hat heute Hochkonjunktur, denn das Publikum sucht Orientierungshilfen im übergroßen Angebot. Ratgeber gibt es heute für diejenigen, die ferne Länder kennen lernen wollen, wie für diejenigen, die sich zu Hause gemütlich einrichten wollen. Die Auswahl reicht von der Kapitalanlage bis zum Zahnersatz, von der Säuglingsbis zur Gräberpflege. Konsumentinnen- und Konsumentenmagazine führen Vergleichstests durch und bewerten Produkte mit Schulnoten: Je besser die Note, umso empfehlenswerter das Produkt. Eine Extremlösung pflegte bis vor kurzem der Guide rouge von Michelin, da er ohne Kommentare erschien und seine Urteile einfach mit Hilfe der berühmten Michelin-Sterne ausdrückte. Bekanntlich wird deren Bedeutung wie folgt umschrieben: Ist eine Reise wert Verdient einen Umweg Sehenswert Die beiden ersten Sprechakte sind eindeutige Empfehlungen, während der dritte eigentlich axiologisch ist. Auch in anderen Publikationen wird die Bedeutung der Symbole teils axiologisch, teils (schwach) direktiv umschrieben oder es wird gänzlich auf eine Legende verzichtet. Dann ist ein Restaurant, ein Film, eine Schallplatte usw. einfach umso besser, je mehr Sterne oder andere Symbole dabeistehen. Besprechungen in wissenschaftlichen Zeitschriften haben einen wissenschaftlichen Anspruch, aber auch sie enden zumeist mit einer direkten oder indirekten Empfehlung und seltener mit einer Ablehnung. Martine Dalmas (2001), die sich mit dem Empfehlen beziehungsweise Abraten in dieser Textsorte befasst hat, macht dabei schon gar keinen Unterschied, ob der entsprechende Sprechakt axiologisch oder direktiv formuliert wurde. Eigentlich sind die (positiven und negativen) axiologischen Akte Argumente für Empfehlungen oder das Gegenteil davon. In dieser Textsorte scheint sich die Grenze zwischen dem Bewerten und dem An- und Abraten jedoch zu verwischen. 15.4 Rezensionen Nun ist aber nicht schon jeder positive axiologische Akt bereits eine Empfehlung. Zu den Textsorten, in denen zahlreiche Werturteile vorkommen, und zwar nicht nur positive, gehören auch die Rezensionen. Nach Werner Zillig (1982, 199) geht es „in Rezensionen um INFORMATIONEN und BEURTEI- LUNGEN“. Jörg Pätzold (1986) betrachtet sogar die Beurteilungen oder Be- <?page no="158"?> 146 wertungen als das dominierende Element in dieser Textsorte. Ähnlicher Meinung sind auch Heinz-Helmut Lüger ( 2 1995, 139-141) und Ernst Seibold (1996, 245-257), wenn sie die Kritik zu den meinungsbetonten Textsorten rechnen. Martha Ripfel (1999, 390) nennt ihrerseits die Bewertung das „textsortenkonstituierende“ Element. Während andere Autoren sich weniger deutlich entscheiden, widerspricht Eckard Rolf (1993, 191). Er stellt zunächst die Frage, welches die primären Adressatinnen und Adressaten dieser Textsorte sind. Wären es die Autorinnen und Autoren der besprochenen Werke, so müssten die Rezensionen zu den expressiven Textsorten gerechnet werden. Rolf definiert ja das Handlungsziel der expressiven Sprechakte dahingehend, dass sie dazu dienen, das emotionale Befinden von A zu stabilisieren beziehungsweise zu destabilisieren. Tatsächlich sind positive wie negative Kritiken durchaus imstande, solche emotionalen Reaktionen bei den direkt Betroffenen auszulösen. Dieser Hinweis ist wichtig, denn er bedeutet, dass die Bewertungen in einer Rezension in zwei verschiedenen Arten wahrgenommen werden können: • bei den Autorinnen und Autoren als emotionaler Stimulus, der Freude, Scham oder Wut auslösen kann, und • bei den nicht direkt Beteiligten als positive oder negative Empfehlung. Da aber Rolf — sicher zu Recht — der Meinung ist, eine Rezension richte sich primär an die Leserinnen und Leser der betreffenden Zeitung oder Zeitschrift, kommt er zum Schluss, „Rezensionen seien zu denjenigen assertiven bzw. informationalen Textsorten zu rechnen, die darstellend und dabei judizierend sind“ (ibid.). Nun gibt es tatsächlich Rezensionen, die sich (fast) ganz einer Bewertung enthalten (cf. Wüest, im Druck). Als extremes Beispiel dafür darf man die französische Literaturkritik betrachten, doch gibt es auch Beispiele im deutschen Sprachraum. Lüger (1995, 141) spricht in diesem Fall abwertend von einer „kulinarischen Kritik“, in der es um den „Kunstanspruch der Kritik selbst“ ginge. Harald Fricke (1977) charakterisiert diese Art von „werkimmanenter“ Kritik dahingehend, dass sie über keine eigene Wissenschaftssprache verfüge, sondern sich der Objektsprache des besprochenen Textes bediene, um damit selber Literatur zu machen. Jörg Niederhauser (1996, 55) zitiert als Beispiel einen schon fast parodistisch anmutenden Ausschnitt aus einem Aufsatz von Richard Alewyn über ein Brentano-Gedicht: (15.5) Das Lied singt von selber, es singt sich selber, es singt von sich selber. […] Es lässt die Menschen singen, von seinem Singen singen, vom Singen der Nachtigall, und indessen wird es gesungen, ein echter Singsang. Diese Art von Kritik steht am einen Ende einer Skala. Am anderen Ende findet man beispielsweise jene kurzgefassten Filmkritiken, die man als Programmhinweise in Fernsehzeitschriften oder als Veranstaltungshinweise in Ausgehmagazinen findet. Es handelt sich hier um den Tipp, „kurz, bündig und gerne mit Sternchen versehen. Seine Funktion ist klar, es ist die Empfeh- <?page no="159"?> 147 lung; durchaus auch diejenige, nicht hinzugehen“, meint der Filmkritiker Christoph Egger (NZZ, 23/ 6/ 2009). Wo verläuft jedoch die Grenze? Tatsächlich wird die Rezension erst dort zur axiologisch-direktiven Textsorte, wo ihre Funktion diejenige eines Ratgebers ist, der auf Fragen wie „Wohin gehen wir heute Abend? “, „Welches Buch soll ich kaufen? “ usw. antwortet. Dazu genügen einzelne Bewertungen im Text nicht. Im Gegensatz zur Werbung oder zur politischen Rede, wo man schon im Voraus weiß, worum es geht, sollte das Urteil des Rezensenten ausgewogen und damit nicht vorhersehbar sein. Um zur Empfehlung zu werden, braucht es deshalb ein Gesamturteil, sei es in Form einer Schlussfolgerung oder in Form einer Bewertung mit Symbolen. Jannis K. Androutsopoulos (1999) hat sich mit der Schallplattenkritik in Fanzines befasst. Das sind von jugendlichen Autoren und Autorinnen amateurhaft produzierte „Fan-Magazine“ für bestimmte Musikrichtungen. Wenn er dabei feststellt, dass 42% der deutschsprachigen Kritiken eine eindeutige Empfehlung (oder das Gegenteil davon) enthalten, so steht dieses Ergebnis im deutlichen Gegensatz zur professionellen Musikkritik, in der explizite Bewertungen ausgesprochen selten sind (cf. Wüest, im Druck). Außerdem müssen noch gewisse äußere Bedingungen gegeben sein, damit eine positive Bewertung zu einer Empfehlung wird. Die Empfehlung hinzugehen zielt nämlich ins Leere, wenn zum Beispiel alle Vorstellungen bereits ausverkauft sind. Die Rezension erweist sich damit als eine recht zweideutige Textsorte. 15.5 Die Gefahr der Manipulation Wertungen sind subjektiv. Gewisse französische Publikationen wie Les cahiers du cinéma oder Classica stellen die Wertungen von bis zu zehn Kritikern einander gegenüber. Die Unterschiede sind eklatant. Jene emotionalen Argumente, von denen in diesem Kapitel die Rede war, stehen deshalb nicht ohne Grund unter dem Verdacht, manipulatorisch zu sein, das Publikum nicht aufzuklären, sondern verführen zu wollen. Auch wenn sich dies meistens nicht beweisen lässt, können unlautere Absichten nicht ausgeschlossen werden. Den Vorwurf der Manipulation muss sich nicht nur die Werbung, sondern auch immer wieder die Politik gefallen lassen. Dabei sind es nicht bloß böse Diktatoren und schlimme Demagogen die emotionale Argumente verwenden. Wie Sara Cigada (2008) gezeigt hat, waren auch die Reden, die am Anfang der Gründung eines geeinten Europas standen, stark emotional. Politische Reden sind nicht nur emotional, sie sind auch zumeist ausgesprochen manichäisch, indem sie die eigenen Positionen als gut und diejenigen des Gegners als schlecht darstellen (cf. Boudeau et al., 1989). Die Frage, welche Argumentationen manipulatorisch sind, muss nun aber von der Frage getrennt werden, welche Argumentationen effizient sind. Wir haben bereits im Fall der Analogieschlüsse (Kap. 14.6) feststellen müssen, <?page no="160"?> 148 dass diese Form der Argumentation zwar logisch und ethisch anfechtbar, aber aufgrund ihres konkreten Charakters sehr effizient sein kann. Die Forschung hat sich leider mit der Frage der Effizienz von Argumentationen sehr wenig beschäftigt 54 . Was die Gefahr der Manipulation betrifft, hat sie sich dagegen sehr puristisch gezeigt und ist wohl auch über das Ziel hinausgeschossen, als sie emotionale Argumente grundsätzlich ablehnte. Effizient ist das, was bei den Empfängerinnen und Empfänger die gewünschte Reaktion auslöst. Das lässt sich aber nicht generell festlegen. Man hat auch schon gesagt, die Reden von Charles de Gaulle ließen sich eigentlich alle auf die Formel „Ich oder das Chaos“ zurückführen. Sein Lieblingsargument war also das argumentum ad baculum. Leider glaubte de Gaulle noch in der Rede vom 24. Mai 1968, als die Straße diesen bereits forderte, mit seinem Rücktritt drohen zu müssen („Au cas où votre réponse serait « non », il va de soi que je n’assumerais pas plus longtemps ma fonction.“). Die Reaktion der Straße war denn auch sehr heftig. Ein Argument, das sich in einem gegebenen Umfeld durchaus als effizient erweist, kann in einem anderen Umfeld kontraproduktiv wirken. 54 Cf. nunmehr aber Van Eemeren (2010). <?page no="161"?> 149 16 Spezifizieren Neben den subsidiären Sprechakten, die in einer logischen Beziehung zum jeweils dominierenden Sprechakt stehen, gibt es auch solche, deren Beziehung semantischer Natur ist. Es sind dies die Spezifizierungen. Spezifiziert werden können direktive Sprechakte, vor allem aber assertive Sprechakte. So darf man in Zeitungsmeldungen den eigentlichen Artikel zumeist als Spezifizierung der in der Titelei enthaltenen Informationen betrachten. Besonders beliebt ist dieses Vertextungsmuster in wissenschaftlichen Texten. Sehr häufig wird auf diese Weise zunächst ein Sachverhalt kurz zusammengefasst und anschließend ausführlicher dargestellt. Andere Spezifizierungen stützen sich auf die thematische Progression des Textes. Man ist versucht, Umformulierungen ebenfalls zu dieser Kategorie zu zählen. Hier geht es aber vielmehr um Gleichsetzungen. Zudem stoßen wir in diesem Fall auf ein Gebiet vor, das weit eher zur Semantik als zur Textlinguistik gehört. 16.1 Einleitung Im Kapitel 11.6 haben wir gezeigt, dass man in Zeitungsmeldungen die Titelei oft als den dominierenden Sprechakt des gesamten Textes betrachten kann, dessen Inhalt dann im so genannten body des Artikels spezifiziert wird. Dies gilt vor allem für die harten Nachrichten (hard news), deren Titelei informativ ist. Heinz-Helmut Lüger (1995, 98) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Verknüpfungsprinzip, welches darauf basiert, dass der fortlaufende Text eine im Titel oder im Titelgefüge vermittelte Kerninformation zunehmend erweitert, präzisiert, ergänzt, kurz: spezifiziert“. Wir werden den Begriff der Spezifizierung hier für ein Konnektiv gebrauchen, dessen grundlegende Funktion es ist, zu einem Thema, das bereits kurz charakterisiert wurde, ausführlichere Informationen zu geben. Jean-Michel Adam ( 4 2001, 137ss.) setzt diese Textstruktur mit der explikatorischen Sequenzform bei Egon Werlich (1975) gleich. Im Gegensatz zu den argumentativen und den kausalen Sprechakten würde diese Art von subsidiären Sprechakten auf die Frage WIE ? und nicht auf die Frage WARUM ? antworten. Wir fassen den Begriff der Spezifizierung weiter und wollen ihn nicht auf die Frage nach dem WIE ? einschränken. Spezifizierend sind alle erweiternden Informationen zu einem gegebenen Thema. Die Frage ist allerdings, wie man diese erkennt. Die kausalen und argumentativen Konnektive gründen auf einer logischen Beziehung zwischen dem dominierenden und dem untergeordneten Sprechakt. Im Falle des spezifizierenden Konnektivs beruht diese Beziehung dagegen auf dem semantischen und dem Weltwissen, das S bei A voraussetzt. Wolfgang Motsch (1996, 22) wollte seinerseits die subsidiären Sprechakte in solche aufteilen, die das Verstehen, die Akzeptanz oder die Ausführung stützen. Diese Klassifikation scheint uns erhebliche Nachteile aufzuweisen. Akzeptanzstützend sind bei uns die argumentativen Sprechakte. Die Kausali- <?page no="162"?> 150 tät findet in dieser Aufzählung dagegen keine Berücksichtigung. Problematisch ist aber vor allem, dass Motsch auch die Mehrheit der sachverhaltsklärenden Sprechakte als verstehensstützend betrachtet, während Brandt und Rosengren diese — meines Erachtens zu Recht —zu den komplementären und nicht zu den subsidiären Akten rechnen (cf. Kap. 21). Ausführungsstützend ist schließlich nur eine kleine Gruppe von Akten, die wir als Spezifizierungen von direktiven Sprechakten betrachten. 16.2 Direktive Sprechakte spezifizieren Die Spezifizierung von direktiven Sprechakten kann verschiedene Formen annehmen. In unserem ersten Beispiel wird so der dominierende Sprechakt, die Aufforderung, das Abonnement einer Zeitschrift zu erneuern, gegen Ende des Textes nochmals wiederholt und dabei das Vorgehen spezifiziert: (16.1) Erneuern Sie Ihr Abonnement. […] Am besten erneuern Sie Ihr Abonnement jetzt gleich und ganz bequem mit dem beiliegenden Bestellschein, im Internet unter www.xxx.ch oder telephonisch unter 0848 XX XX XX. (nach einem Originaldokument) Nicht selten werden solche spezifizierende Sprechakte zusätzlich durch die thematische Progression gestützt: (16.2) Die Festsetzung der Einkommenssteuer kann mit dem Rechtsbefehl des Einspruchs angefochten werden. Der Einspruch ist beim bezeichneten Finanzamt schriftlich einzureichen. (zit. bei Rolf 1996a, 109) Wir haben es hier mit einer einfachen linearen Progression zu tun, bei der das Thema (der Einspruch) des untergeordneten Sprechakts zunächst als Teil des Rhemas im übergeordneten Sprechakt erscheint. Nicht so eindeutig ist die Verbindung in unserem zweiten Beispiel, das von Brandt/ Rosengren (1992, 19) stammt: (16.3) Mäh doch mal schnell den Rasen! Der Rasenmäher steht in der Garage. Hier wird der Zusammenhang durch das implizite Weltwissen hergestellt, dass man den Rasen nicht mähen kann, wenn man nicht über ein entsprechendes Gerät, z.B. einen Rasenmäher, verfügt. In folgendem Fall sprechen Motsch/ Pasch (1987, 75) dagegen von einem verstehensstützenden Sprechakt: (16.4) Gib mir den Winkelschneider! Das ist das Gerät mit der runden Scheibe Hier geht es um die Erklärung eines Begriffs. Auch für uns handelt es sich deshalb nicht um eine Spezifizierung, sondern um einen informationserweiternden Akt, genauer um eine klärende Ergänzung im Sinne von Kapitel 21.6. <?page no="163"?> 151 16.3 Zusammenfassend einleiten Wesentlich häufiger als direktive bilden assertive Sprechakte den Gegenstand von Spezifizierungen. Dies ist sogar mehr noch als die Argumentation das vorherrschende Vertextungsmuster in wissenschaftlichen Texten. Besonders beliebt ist das Vorgehen, einen Textabschnitt zunächst zusammenfassend durch einen Satz einzuleiten, der das Thema setzt und bereits die wesentlichsten Informationen enthält, bevor er dann durch eine ausführlichere Darstellung spezifiziert wird. Dabei können Spezifizierungen kaskadenförmig durch weitere Spezifizierungen ergänzt werden, so wie wir dies im folgenden Beispiel sehen werden: (16.5) (0) Norbert Elias (1983) hat eindringlich die Herausbildung der höfischen Gesellschaft in Frankreich mit ihren Strukturen beschrieben; (-1) er weist nach, wie der Schwertadel seine ursprünglichen Feudalrechte immer mehr verliert, an den Hof nach Paris gezogen wird und dort sein Prestige durch die Produktion symbolischen Verhaltens ausdrückt. (-2) Die Zentralisierung des Königtums, der absolute Machtanspruch des Throninhabers, werden in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck gebracht: in Stadtanlagen und Bauformen, in der Zentralisierung des Heeres und der Bürokratie (Mumford 1979, 401ff), in der Ausdifferenzierung und Reglementierung der Formen des gesellschaftlichen Verkehrs der höfischen Elite, in der Komplizierung von Etikette und Ritualen bei Hofe, deren Vollzug und Beachtung selbstzweckhaft erscheinen mag, für jene, die sich zur Elite zählten, jedoch unabdingbar war; nur so konnte der höfische Staat funktionieren. (Wolfgang Settekorn, Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich, Tübingen: Niemeyer, 1988, p. 46). Ich unterscheide in diesem Text drei Niveaus, die ich von 0 bis -2 nummeriert habe. Auf dem dominierenden Niveau 0 erfahren wir, dass Norbert Elias Entstehung und Strukturen der höfischen Gesellschaft in Frankreich beschrieben hat. Auf Niveau -1 wird dann spezifiziert, wie Elias die höfische Gesellschaft beschrieben hat. Nach seiner Darstellung verlor der Adel durch die Zentralisierung seine reale Macht, weshalb diese in eine symbolische Macht umgewandelt wurde. Auf Niveau -2 bilden diese beiden Aussagen dann wiederum den Gegenstand einer weitergehenden Spezifizierung. Dabei schließt dieses Niveau mit der Aussage, dass diese Entwicklung für den höfischen Staat unabdingbar war, was nicht unbedingt als eine zwingende Folgerung erscheinen mag. Im Originaltext folgt nämlich auf diese Stelle ein sehr langes Zitat aus Die höfische Gesellschaft von Norbert Elias, das wir hier aus Platzgründen nicht wiedergeben. Elias erklärt darin die Verfeinerung der Etikette aus der Notwendigkeit, die Beziehungen am Hof zu formalisieren. So stellt es sich heraus, dass der Schluss unseres Ausschnitts wiederum eine Zusammenfassung des folgenden Zitats ist, welches dann das Niveau -3 bildet. So können Spezifizierungen ihrerseits praktisch ad infinitum den Gegenstand weiterer Spezifizierungen bilden. <?page no="164"?> 152 Eine Variante dieser Darstellungsform besteht darin, dass man das Thema in Form einer Frage vorgibt, auf die man dann zu antworten sucht, z.B. (16.6) Wann soll der Richter, wann die Justiz letztinstanzlich über die Interpretation der Verfassung entscheiden? (Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Band 1, Zürich: Schulthess, 2005, p. 412) Die Antwort wird hier sein, dass diese Frage in verschiedenen Verfassungen verschieden beantwortet wurde. Solche Fragen, die das Thema vorgeben, können ebenfalls als Titel erscheinen. 16.4 Spezifizierungen und thematische Progression Wie wir schon in Beispiel (16.2) gesehen haben, können sich Spezifizierungen auch auf die thematische Progression stützen: (16.7) Bei der Tempus-Perspektive geht es um die Unterscheidung von (a) Textzeit und (b) Handlungszeit. (a1) Textzeit ist die Zeit, die ein Text in seinem Ablauf verbraucht. (a2) In diesem Textablauf hat jedes einzelne Sprachzeichen sein «Jetzt». (a3) Das ist primär jener Augenblick, in der dieses Sprachzeichen vom Sprecher ausgesprochen und vom Hörer aufgenommen wird. […] (b1) Auch Handlungen laufen in der Zeit ab. Wir können daher diejenige Zeit, die eine Handlung verbraucht, ihre Handlungszeit nennen. (b2) Über diese Handlungszeit kann der Sprecher den Hörer unterrichten, (b3 ) beispielsweise durch ein Datum. (b3 ) Auch mit syntaktischen Mitteln kann der Sprecher dem Hörer Angaben über die Handlungszeit machen. (b4 ) Das sind jedoch immer relative Angaben, nämlich solche, die sich direkt oder indirekt auf das Verhältnis von Textzeit und Handlungszeit beziehen. (Harald Weinrich, Textgrammatik der französischen Sprache, Stuttgart: Klett, 1982, p. 158) Schon im allerersten Satz wird die Spaltung des Themas Tempus in zwei Teilthemen vollzogen, nämlich in (a) die Textzeit und (b) die Handlungszeit. Daraus entstehen zwei thematische Stränge (a) und (b). Die Abfolge (a1) > (a2) > (a3) besteht aus einer Reihe von Spezifizierungen zur Textzeit, beginnend in (a1) mit der Definition des Begriffs, die hier den Status eines deklarativen Sprechaktes hat. Man beachte dabei die lineare Progression der Themen. (Text)ablauf erscheint in (a1) im Rhema und wird in (a2) zum Thema. Gleiches gilt für das «Jetzt» in (a2), das durch das Pronomen das in (a3) als Thema anaphorisch wiederaufgenommen wird. Im Falle des thematischen Strangs zur Handlungszeit (b) ist die Struktur etwas komplexer. (b1) beginnt ebenfalls mit einer Definition; hier hält es der Autor jedoch für nötig, diese kausal durch einen vorangehenden Satz zu stützen, indem er betont, dass auch Handlungen in der Zeit ablaufen. (b2) präzisiert dann, dass der Sprecher den Hörer über die Handlungszeit informieren kann, worauf zwei neue Themen zunächst rhematisch eingeführt werden. Die Information zur Handlungszeit kann durch ( ) ein Datum oder ( ) eine syn- <?page no="165"?> 153 taktische Angabe übermittelt werden. ( ) wird hier nicht mehr vertieft, während im Falle von ( ) die Spezifizierungen weitergehen. Diesem Text liegt ein sehr stringenter Aufbau zugrunde. Indem er mit der Unterscheidung zwischen zwei Zeitformen, der Text- und der Handlungszeit, beginnt, ergibt sich die Notwendigkeit, dass auf einer untergeordneten Ebene über diese Zeitformen etwas gesagt wird. Am Schluss des Textes werden die beiden Ausgangspunkte dann wieder in der Aussage zusammengeführt, dass die grammatischen Tempora Aussagen über das Verhältnis zwischen Text- und Handlungszeit machen. Tatsächlich ist dies der Beginn des Kapitels über das Tempus-System. Deshalb kommt diesem letzteren Satz eine entscheidende Rolle im Text zu. Er ist der Ausgangspunkt und damit der dominierende Sprechakt für das, was im Weiteren zum Tempus-System ausgeführt wird. Am Ende des ersten Paragraphen haben wir allerdings zwei Sätze weggelassen, wo Weinrich auf ein Problem hinweist, das sich bei den geschriebenen Texten mit der Textzeit ergibt: (16.7’) In geschriebenen Texten sind zwar das Jetzt des Schreibaktes und das Jetzt des Leseaktes getrennt, werden aber durch die Imagination des Lesenden gleichzeitig gemacht («synchronisiert»). Wir können daher für die folgenden Beschreibungen ohne Rücksicht darauf, ob es sich um mündliche oder schriftliche Texte handelt, von einer Textzeit ausgehen, die dem Sprecher/ Schreiber und dem Hörer/ Leser jeweils gleichzeitig ist. Diese Bemerkungen schienen uns im Rahmen unserer Analyse verzichtbar. Wir haben daraus geschlossen, dass sie eine rein komplementäre Funktion haben, während der Rest des Textes aus einer Hierarchie von spezifizierenden Sprechakten besteht, die den eigentlichen Inhalt dieser Darstellung bilden. 16.5 Der Zeitungsartikel als Spezifizierung der Titelei Wir haben bereits zu Beginn dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass man auch einen Zeitungstext als Spezifizierung seiner Titelei betrachten kann, wenn diese bereits die Essenz der Nachricht enthält. Unser früheres Beispiel (11.10) war eine einfache Kurzmeldung. Wir möchten hier noch eine Meldung mit einer komplexeren Struktur untersuchen. Ihre Titelei war: (16.8) Oswald Grübel neuer UBS-Konzernchef Sofortige Ablösung von CEO Marcel Rohner Beide Titel sind im Nominalstil, d.h. ohne Verb, verfasst, weshalb es schwierig ist, ihre Beziehung zueinander zu bestimmen. Es steht einzig fest, dass der Haupttitel auch der dominierende Sprechakt sein muss. Auf der Stufe des leads wird dies dann klarer: (16.8’) Die mit Problemen kämpfende UBS hat am Donnerstag überraschend Oswald Grübel zum Konzernchef ernannt. Der ehemalige Spitzenmann der Credit Suisse löst mit sofortiger Wirkung Marcel Rohner ab. <?page no="166"?> 154 Hier wird vom Nominalstil zum Verbalstil gewechselt und es wird deutlich, dass der zweite Satz die Information des ersten spezifiziert. Dabei haben wir es wiederum mit einer einfachen linearen Progression zu tun, bei der das Thema des zweiten Satzes, Grübel beziehungsweise der ehemalige Spitzenmann der Credit Suisse, aus dem Rhema des ersten Satzes übernommen wird. Die Spezifizierung verläuft hier also in zwei Richtungen: Einerseits spezifiziert der zweite Satz den ersten und andererseits spezifiziert das gesamte lead die Titelei. Dabei haben wir es hier mit zwei verschiedenen Arten von Spezifizierungen zu tun. Das Verhältnis zwischen den beiden Sätzen im lead (16.8’) baut auf einer linearen Progression auf wie in Beispiel (16.7), während das Verhältnis zwischen Titelei und lead eher derjenigen in Beispiel (16.5) ähnlich ist. Die Titelei ist die kürzest mögliche Zusammenfassung der Meldung, die dann im lead näher ausgeführt wird. Dabei sind allerdings die zusätzlichen Informationen hier eher spärlich. Es werden vor allem die Informationen, die schon in der Titelei standen, schmückend wieder aufgenommen. Das lead stellt die erste Stufe der Spezifizierung dar, der dann eine zweite Stufe der Spezifizierung im body des Artikels folgt. Was in diesem Artikel allerdings ungewöhnlich ist, das ist, dass dann zu Beginn des eigentlichen Artikels noch einmal die gleichen Informationen gegeben werden, allerdings in einer um einiges blumigeren Sprache: (16.8”) Die unter Dauerdruck stehende UBS hat überraschend den früheren Konzernchef der Credit Suisse (CS), Oswald Grübel, auf die Kommandobrücke geholt. Er tritt per sofort die Nachfolge des ohne Fortüne agierenden, nach zwei problembeladenen Amtsjahren zermürbten Konzernchefs Marcel Rohner an. Dieser hatte offenbar bereits im Januar seine Absicht signalisiert, seinen Posten zu verlassen. (NZZ, 27/ 2/ 09, p. 1) Üblicherweise besteht der body aus zusätzlichen Informationen, die als Spezifizierungen der Information im Titel angesehen werden können. Dabei werden die einzelnen Informationen eher lose durch das zusammengehalten, was Klaus Brinker ( 5 2005, 61ss.) eine thematische Entfaltung nennt. So ist in unserem Artikel in der Folge zuerst von der Karriere Grübels und dann von der positiven Reaktion der Börse auf seine Ernennung die Rede. Es wird weiterhin eine Erklärung Grübels zur schwierigen Lage der Bank zitiert und dann kommentierend festgestellt, dass Grübel nunmehr vor einer größeren Herausforderung stehe als seinerzeit bei der Credit Suisse. Diese eher lockere Aufzählung von Informationen, die um die Themen „Grübel“ und „UBS“ kreisen, ist für Zeitungsmeldungen charakteristisch (cf. auch Kap. 17.3). Der Artikel endet dann nach dem Zwischentitel „Peter Kurer will bleiben“ mit der Meldung, dass „der ebenfalls unter Beschuss geratene UBS- Verwaltungsratspräsident Peter Kurer vorerst im Amt bleiben“ will. An dieser Stelle ist der Bezug zur Hauptmeldung dann so lose, dass wir es hier weit eher mit einem komplementären, informationserweiternden Sprechakt zu tun haben. <?page no="167"?> 155 16.6 Zweifelsfälle Wir müssen uns in diesem Kapitel leider auch mit einigen Zweifelsfällen befassen. Nach Brandt/ Rosengren (1992, 19) könnte auch die Illokution zum Gegenstand eines subsidiären Sprechaktes werden. Bezeichnenderweise führen sie dafür aber ein dialogisches Beispiel an: (16.9) A. Verreisen sie vorläufig lieber nicht! B. Ist das ein Befehl? A. Nein, eine Bitte. Sie entscheiden natürlich selbst. Es dürfte wohl schwierig sein, für diese Struktur auch in nicht dialogischen Texten Beispiele zu finden. Im Beispiel (16.9) stellt B eine Präzisierungsfrage, auf die B antwortet. Dies ist eine typische Struktur eines dialogischen Texts (cf. Kap. 20.5). Auf der Suche nach treffenden Beispielen bin ich ebenfalls auf die folgenden beiden Anfangssätze aus Friedrich Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs gestoßen, die mir einiges Kopfzerbrechen bereiten: (16.10) Seit dem Anfang des Religionskriegs in Deutschland bis zum Münsterischen Frieden ist in der politischen Welt Europens kaum etwas Großes und Merkwürdiges geschehen, woran die Reformation nicht den vornehmsten Anteil gehabt hätte. Alle Weltbegebenheiten, welche sich in diesem Zeitraum ereignen, schließen sich an die Glaubensverbesserung an, wo sie nicht ursprünglich daraus herflossen, und jeder noch so große und noch so kleine Staat hat mehr oder weniger, mittelbarer oder unmittelbarer, den Einfluss derselben empfunden. Darauf folgen eine Reihe von Beispielen, welche die zu Beginn aufgestellte These belegen sollen, was ein klarer Fall von Exemplifikation im Sinne von Kapitel 14.4 ist. Das Problem besteht darin, dass die beiden ersten Sätze eigentlich genau dasselbe mit gänzlich verschiedenen Wörtern ausdrücken. Dürfen wir deshalb den zweiten Satz als eine schmückende Umformulierung und damit als eine Spezifizierung des ersten Satzes verstehen, obwohl jener nur unwesentlich länger ist als dieser (41 Wörter gegen 32)? Oder handelt es sich ganz einfach um zwei äquivalente Sätze, die gleichgesetzt und nicht einander untergeordnet sind. Wir würden die zweite Lösung bevorzugen, denn wir werden gleich sehen, dass es diesen zweiten Fall ebenfalls gibt. Dabei ist aber nicht immer einfach eine klare Grenze zu ziehen. 16.7 Unterordnen oder gleichsetzen? Eckard Rolf (1996a) hat in einem Artikel die Worterklärungen zusammen mit den ausführungsstützenden Sprechakten unter der Bezeichnung Erläuterungen in einer Kategorie zusammengefasst. Mehrere Beispiele von Worterklärungen hat er dabei der Novelle S. von John Updike entnommen, wo es darum geht, Sanskrit-Begriffe zu erklären: <?page no="168"?> 156 (16.11) Natürlich ist er ein echter jivan-mukta, das heißt, er ist wirklich im nivwana und auf Erden irgendwie nur aus Höflichkeit (zit. bei Rolf 1996a, 110). Obwohl hier ein Begriff und nicht ein ganzer Sprechakt erklärt wird, kann man bei diesem Beispiel versucht sein, das deutsche das heißt beziehungsweise das englische which means 55 als einen subordinierenden Konnektor zu betrachten. In anderen Beispielen ist dies jedoch wesentlich weniger eindeutig. Im folgenden Text von Immanuel Kant kommt gleich viermal das heute weniger gebräuchliche das ist (d.i.) anstelle von das heißt vor, wobei allerdings die ersten von den letzten beiden Fällen zu unterscheiden sind: (16.12) Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d.i. der Logik. (Immanuel Kant, Werkausgabe III: Kritik der reinen Vernunft I, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1974, p. 98) In den ersten beiden Fällen handelt es sich um Umformulierungen ganzer Sätze. Dabei ergibt sich aber schon beim zweiten Beispiel ein Problem, denn es ist nicht selbstverständlich, dass „seine Anschauungen sich verständlich zu machen“ das Gleiche bedeutet wie „sie unter Begriffe [zu] bringen“. Hier wird aber impliziert, dass dies das Gleiche ist, wodurch Kant über eine reine Begriffserklärung hinausgeht. Noch erstaunlicher ist der Gebrauch der letzten beiden d.i., solange man davon ausgeht, dass diese Begriffserklärungen einleiten. Hier wird das Verhältnis zwischen Begriff und Begriffserklärung gleichsam umgekehrt, denn es werden nicht die Umschreibungen „Wissenschaft der Sinnlichkeit überhaupt“ und „Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt“, sondern die Begriffe Ästhetik und Logik durch d.i. eingeleitet. Das kann man sich nur erklären, wenn man annimmt, dass d.i. beziehungsweise d.h. Konnektoren sind, die eine Gleichsetzung vornehmen und damit gar nicht einen Sprechakt einem anderen unterordnen. Dabei ist es sogar möglich, dass auf diese Weise zwei Begriffe gleichgesetzt werden, die es in linguistischer Hinsicht eigentlich gar nicht sind. So lautet der Titel eines Songs von Roland Kaiser „Frei — das heißt allein“ und die Berner Zeitung titelte mit verkürzter Syntax am 23. Oktober 2009: (16.13) Im März beginnt Sanierung Felsenauviadukt — das heißt Staus Ähnlich funktioniert auch der Konnektor kurz beziehungsweise kurz gesagt: 55 Englischer Originaltext: „He is a jivan-mukta, which means he’s really in nirvana and is staying on earth only to be polite.“ <?page no="169"?> 157 (16.14) Er saß neben dem Ofen, in seinem dunklen, ausgebürsteten Sonntagsgewand, nickte von Zeit zu Zeit, sprach ein paar Worte, um den Ausspruch eines anderen zu bestätigen, kurz: er gab sich Mühe, kein Aufsehen zu erregen. (Friedrich Glauser, Der Chinese) Nach kurz folgt im Grundsatz eine zusammenfassende auf eine ausführliche Darstellung. Dabei ist aber das, was hier auf kurz folgt, mehr als eine Zusammenfassung; es ist eine Interpretation des vorangehenden Teiltextes. Durch den nachgeschobenen Satz wird das Verhalten der betreffenden Person in ein ganz besonderes Licht gerückt. Auch Konnektoren, die eigentlich Folgesätze einleiten, lassen sich in dieser Weise gebrauchen, wobei der folgende Titel aus dem Spiegel vom 29. August 2007 eine besonders gewagte Gleichsetzung vornimmt: (16.15) Unvollkommen und deshalb perfekt Wo zwei Begriffe gleichgesetzt werden, haben wir es mit keiner Unterordnung mehr zu tun. Hierher gehören auch Umformulierungen, die in der gesprochenen Sprache weit häufiger sind als in der geschriebenen. Wenn man den treffenden Ausdruck nicht sofort findet, so setzt man zur Formulierung mehr als einmal an. Auch wenn man schreibt, probiert man ja häufig mehrere Formulierungen aus, bevor man sich für eine entscheidet. Es geht hier um Probleme der Wortsuche und nicht der Illokutionshierarchie. Adam/ Petitjean (1989, 128) haben in diesem Zusammenhang den Begriff der Assimilierung von Denis Apothéloz (1983) übernommen. Dies wäre eine Form der Beschreibung, die drei Ausprägungen kennt: (a) die Umformulierung, (b) der Vergleich und (c) die Metapher (oder Metonymie). Tatsächlich sind Vergleich und Metapher eng verwandt. Man hat ja auch immer wieder die Metapher als abgekürzten Vergleich verstanden: (16.16) Achill kämpft wie ein Löwe (Vergleich) (16.17) Achill ist ein Löwe (Metapher) Schon im Fall des Vergleichs in (16.16) wäre es schwierig diesen Satz in zwei Propositionen aufzulösen: „Achill kämpfte“ und „Achill war wie ein Löwe“ gibt den Sinn des Satzes nur ungenügend wieder. Tatsächlich wird nicht Achill mit einem Löwen, sondern es werden gewisse seiner Eigenschaften mit denen eines Löwen (die Kraft, der Kampfesmut) verglichen. Der Vergleich findet also nicht auf der Ebene von Propositionen oder Begriffen, sondern auf derjenigen von semantischen Eigenschaften von Begriffen statt. Damit haben wir es nicht mit einem textlinguistischen, sondern mit einem semantischen Problem zu tun. Dies gilt in noch höherem Maße für die Metapher. Es scheint uns durchaus sinnvoll, dass man die Umformulierungen in diesen Rahmen stellt. Auch bei den Umformulierungen, die wir soeben untersucht haben, mussten wir immer wieder feststellen, dass es sich nicht um präzise Definitionen handelte. Das trifft selbst auf Beispiel (16.11) von John Updike zu, das wir von Rolf übernommen haben. Macht man sich nämlich kundig, was ein jivan-mukta ist, so wird man feststellen, dass Updike den Begriff sehr frei umschrieben hat. Auch bei Umschreibungen geht es also <?page no="170"?> 158 nicht um Definitionen, d.h. um untergeordnete deklarative Sprechakte, sondern um Gleichsetzungen auf der Ebene der semantischen Eigenschaften. Hier ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, da die Vorstellungen, die sich mit Wörtern verbinden, bis zu einem gewissen Grade individuell sind (cf. Kap. 2.6). Deshalb stoßen wir auch immer wieder auf diskutable Gleichsetzungen. Bei einem Titel wie (16.15) kann deshalb der Linguist nur feststellen, dass es sich um einen Widerspruch handelt. Es muss die Aufgabe des entsprechenden Artikels sein, diesen Widerspruch aufzulösen. <?page no="171"?> 159 17 Aufzählen und erzählen Sprechakte können nicht nur Hierarchien bilden, sondern sie können sich auch zu Sequenzen von gleichrangigen und gleichartigen Sprechakten verbinden. Die einfachste Form ist dabei die enumerative Sequenz, die im Journalismus die Form der „ungekehrten Pyramide“ annimmt. Temporale Sequenzen haben dagegen die zusätzliche Eigenschaft, dass sie der Chronologie der Ereignisse folgen. Insbesondere liegt Erzählungen notwendigerweise eine temporale Sequenz zugrunde, was aber nicht heißt, dass temporale Sequenzen nur in Erzählungen vorkommen. Von einer Erzählung werden wir zusätzlich verlangen, dass sie von einem Ausgangszu einem Endpunkt führt und dass es sich um Handlungen von Personen handelt. Man hat erzählerisch-temporale Sequenzen auch schon als Kausalkette verstanden, was allerdings einen stark erweiterten Begriff von Kausalität voraussetzt. Es kommt dazu, dass in Erzählungen die Chronologie häufig durch Rückblenden und Vorgriffe durchbrochen wird. 17.1 Enumerative Sequenzen Sequenzen sind Abfolgen von gleichrangigen und gleichartigen Sprechakten. Wir unterscheiden zwischen enumerativen und temporalen Sequenzen. Im ersteren Fall sind die Elemente einer Aufzählung grundsätzlich miteinander austauschbar. Das heißt aber nicht, dass sie nicht ebenfalls gewissen Regeln unterworfen wären. Der folgende Text von Jorge Luis Borges ist in diesem Zusammenhang schon mehrfach zitiert worden (u.a. von Foucault 1966, 7 und Lakoff 1987, 92). Er stammt angeblich aus einer alten chinesischen Enzyklopädie, welche die Tiere folgendermaßen klassifiziert: (17.1) a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie tolle gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. Hier überschneiden sich verschiedene Arten von Klassifikationen. Der Höhepunkt der Absurdität wird dort erreicht, wo in h) und j) die Gesamtheit der Tiere ebenfalls zur Kategorie erhoben wird und wo das und so weiter statt am Ende mitten in der Aufzählung steht. Wir leiten davon ab, dass sich in einer Aufzählung die aufgezählten Kategorien nicht überschneiden sollten. Noch zwingender ist allerdings die Regel, dass es sich dabei immer um Elemente der gleichen übergeordneten Kategorie handeln muss. Diese Regel wird selbst in (17.1) eingehalten, wenn auch insofern etwas geritzt, als dass auch die Fabelwesen und Tierzeichnungen in die übergeordnete Kategorie der Tiere aufgenommen wurden. Aufzählungen können auch innerhalb des gleichen Satzgefüges auftreten: (17.2) Seine Bücher und Artikel sind zahlreich und bedeutend <?page no="172"?> 160 Lucien Tesnière (1959, 323-358) hat sich mit allen möglichen Kombinationen erschöpfend befasst. Für uns sind solche Konstruktionen von geringem Interesse, da hier wie im Fall der Assimilation im vorangehenden Kapitel der propositionale Gehalt als Ganzes der gleichen illokutiven Kraft unterworfen ist. Im folgenden Beispiel haben wir es dagegen mit einer Struktur zu tun, die in wissenschaftlichen Lehrbüchern nicht selten vorkommt. Die Existenz eines Textmusterwissens wird darin durch konkrete Fälle exemplifiziert: (17.3) Das (intuitive) textsortenspezifische Textmusterwissen ermöglicht uns einen routinierten Alltags-Umgang mit bestimmten Textsorten und zeigt sich z.B. darin, — dass wir einen zerschnittenen und fehlerhaft angeordneten Text wieder in einer textsortenadäquaten Reihenfolge zusammenstellen können. — dass wir als Leser von wissenschaftlichen Abhandlungen wissen, dass am Schluss des Textes sowie als Abschluss von größeren Unterkapiteln kurze Zusammenfassungen zu erwarten sind […]. — dass wir eine Zeitungsseite bei einer morgendlichen Tasse Kaffee ‚überfliegen können und dann trotzdem in groben Zügen über den Inhalt der einzelnen Meldung informiert sind. — usw. (Linke et al. 5 2003, 283s.) Hier enthält der grammatisch übergeordnete Satz ein und, das aber eher irreführend ist. Der logische Aufbau der Textsequenz ist vielmehr hierarchisch, wobei die übergeordnete Aussage, dass das Textmusterwissen uns den „Alltags-Umgang mit bestimmten Textsorten“ erleichtert, durch eine offene Liste von drei Beispielen exemplifiziert wird. Diese Liste ordnet sich argumentativ dem dominierenden Sprechakt unter, wodurch die Kohäsion dieser enumerativen Darstellung gewährleistet ist. 17.2 Enumerative Texte Es gibt aber auch den Fall, wo Texte als solche eine enumerative Struktur aufweisen. Ein Beispiel dafür sind die Gesetzestexte, mit denen wir uns bereits in Kapitel 11.4 befasst haben. In Gesetzestexten lässt sich kein dominierender Sprechakt ausfindig machen; sie unterstehen aber einer bestimmten Kommunikationsabsicht, beispielsweise die Regeln des Strafrechts, des Familienrechts, des Verkehrsrechts usw. festzulegen. Einfachere Gesetze und Erlasse bestehen einfach aus einer enumerativen Anreihung von Artikeln. Größere Gesetzeswerke sind dagegen hierarchisch strukturiert. Wir haben so in Kapitel 11.4 gesehen, dass das schweizerische Strafgesetzbuch nicht weniger als vier Ebenen kennt. Auf der obersten Ebene werden die allgemeinen den besonderen Bestimmungen gegenübergestellt, dann folgen nacheinander verschiedene Untertitel, bis wir auf der vierten Ebene die einzelnen Artikel finden, die durchnummeriert sind. Auch enumerative Sequenzen sind somit rekursiv, d.h., dass eine Aufzählung eine untergeordnete Aufzählung einschließen kann. Titel und Untertitel geben das <?page no="173"?> 161 Thema der jeweiligen Teile vor und erleichtern damit das Auffinden einzelner Bestimmungen. Dezimalklassifikationen sind auch in wissenschaftlichen Abhandlungen beliebt. Diese erhalten dadurch eine mehrstufige enumerative Struktur. In Wirklichkeit ist deren Struktur allerdings komplexer, als das die Dezimalklassifikation glauben machen könnte. In wissenschaftlichen Texten wird auch für oder gegen gewisse Theorien argumentiert oder es kann die Geschichte eines Wissenschaftszweigs erzählt werden. Dabei können sich solche Argumentationen oder geschichtliche Darstellungen über mehrere Unterkapitel erstrecken, so dass die Struktur solcher Texte nicht mehr rein enumerativ ist. 17.3 Zeitungsmeldungen Mit einer in ihrem Kern enumerativen Textsorte haben wir es auch bei den so genannten harten Nachrichten im Journalismus zu tun. Man spricht davon, dass ihr Aufbau derjenige einer umgekehrten Pyramide sei. Damit meint man, dass die wichtigste Information am Anfang und die unwichtigste am Schluss zu stehen kommt. Diese Textstruktur erlaubt nicht nur der Leserin oder dem Leser „die Lektüre ab[zu]brechen, ohne auf wichtige Informationen verzichten zu müssen“ (Lüger 2 1995, 96). Sie erlaubt es auch, dass „beim Umbruch eventuelle Kürzungen vom Schluß her vorgenommen werden, ohne dass Wesentliches verlorenginge oder der gesamte Text geändert werden müßte“ (ibid.). Wie wir in Kapitel 16.5 bereits gesehen haben, steht die wichtigste Information allerdings bereits in der Titelei. Es ging in jenem Text um die Ernennung eines neuen Konzernchefs der UBS. Dabei wurde die Titelei zunächst durch das lead und nachher dieses durch den eigentlichen Artikel spezifiziert. Im body des Artikels sollten sich die Informationen ebenfalls nach ihrer Wichtigkeit folgen, doch ist dieses Kriterium reichlich subjektiv. Die Sequenz ist im Wesentlichen rein enumerativ, wobei die gemeinsame Klammer darin besteht, dass sich grundsätzlich alle Mitteilungen auf das in der Titelei gegebenen Textthema beziehen. Die letzte Information war in unserem Fall allerdings diejenige, die sich am weitesten vom ursprünglichen Textthema entfernte und die man deshalb wohl auch am leichtesten hätte weglassen können. Nun gibt es jedoch ein Problem bei den journalistischen Textsorten: Sie sind nicht nur einem häufigen Wandel unterworfen (cf. Schwitalla 1993), sondern die verschiedenen Publikationsorgane kennen oft ihre eigenen, untereinander abweichenden Redaktionsnormen. Die Form der harten Nachricht hat sich aber als Muster weitgehend durchgesetzt und scheint sogar zunehmend andere informationsbetonte Textsorten zu verdrängen. So ist in den Boulevardmedien, die von Skandalen und Gesellschaftsklatsch leben, die Grenze zwischen harten und weichen Nachrichten weitgehend aufgehoben. Nur noch selten sieht man narrative Textmuster. <?page no="174"?> 162 Auch die Reportage, eine primär narrative Textsorte, ist selten geworden. Marlise Müller (1989) definierte drei Makroebenen, die zur Reportage gehören: (a) die Vor-Ort-Ebene, wo man gleichsam den Reporter oder die Reporterin selber an der Arbeit sieht, (b) die Personenebene, auf der die Personen zum Wort kommen, die er/ sie angetroffen hat, und (c) die Dokumentationsebene, wo das Wissen aus dem Archiv der Zeitung zum Zuge kommt. Die Vor-Ort-Ebene bildet den erzählerischen Rahmen, in den die informationserweiternden Angaben aus den anderen beiden Quellen eingelassen sind. Marlise Müller kam allerdings zum Schluss, dass von 113 „reportageverdächtigen“ Artikeln gerade 21 diesen Kriterien vollumfänglich entsprachen. Eine Typologie der journalistischen Textsorten erweist sich unter diesen Umständen als schwierig. 17.4 Erzählung und temporale Sequenz Eine narrative Textsorte gründet notwendigerweise auf einer temporalen Sequenz. Dabei darf man nicht vergessen, dass jede sprachliche Produktion, sei sie mündlich oder schriftlich, in der Zeit abläuft: Wort folgt auf Wort, Satz auf Satz. Von einer temporalen Sequenz sprechen wir deshalb dort, wo der lineare Ablauf der Sprachproduktion dazu verwendet wird, um den chronologischen Ablauf von Handlungen und Ereignissen darzustellen. Nun ist allerdings nicht jeder Text, der auf einer temporalen Sequenz gründet, auch schon eine Erzählung. So folgt die Textsorte Chronik einem streng chronologischen Aufbau. Niemand wird aber hier von einer Erzählung sprechen: (17.4) 25. Mai 1968: Der 1. FC Nürnberg wird deutschen Fußballmeister. 30. Mai 1968: General de Gaulle hält eine Radiorede. 3. Juni 1968: Die Sängerin Kylie Minogue wird geboren. 5. Juni 1968: Senator Robert F. Kennedy wird ermordet. Das Problem besteht darin, dass sich diese Ereignisse zwar chronologisch folgen, jedoch nichts miteinander zu tun haben. Damit erhalten wir ein weiteres Kriterium, das aber auch noch nicht genügt. Wir haben gesagt, dass man auch ein Kochrezept nicht als eine Erzählung betrachten kann, obwohl es die einzelnen Verrichtungen in ihrer chronologischen Abfolge beschreibt und diese durchaus etwas miteinander zu tun haben (cf. Kap.11.5). Mit der Frage, was eine Erzählung ist, haben sich nicht nur Literaturwissenschafter, sondern auch Linguisten befasst. Ein erster Versuch, ein verbindliches Schema für den Aufbau einer Erzählung festzulegen, war der Artikel von Labov/ Waletzky (1967). Ende der 1970er Jahre wurden dann mehrere Erzählgrammatiken (story grammars) formuliert, die sich formal an die Gene- <?page no="175"?> 163 rative Grammatik anlehnten (Thorndyke 1977, Mandler/ Johnson 1977, Stein/ Glenn 1979, Van Dijk 1980, 142s.). Diese bildeten die Grundlage von psycholinguistischen Experimenten. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Erzählungen, die sich an das gegebene Schema hielten, schneller memorisiert wurden als solche, die davon abwichen. Der intendierte Beweis, dass eine Erzählung grundsätzlich in Form eines solchen Schemas memorisiert wird, konnte jedoch nicht erbracht werden (cf. Fayol 1985). Offensichtlich waren diese Erzählgrammatiken zu normativ, weshalb diese Art von Forschung sehr bald wieder aufgegeben wurde. Trotzdem ist dieser Versuch von Interesse, zumal trotz allen Unterschieden zwischen den verschiedenen Ansätzen auch sehr viele Gemeinsamkeiten auszumachen sind. Einigkeit herrschte darüber, dass der Plot einer Geschichte oder, richtiger, einer Episode — denn eine Geschichte kann aus mehreren Episoden bestehen — von einem Anfangszu einem Endpunkt führen muss. Dabei kann es zu einer unumkehrbaren Veränderung kommen. In der Fabel vom Raben und dem Fuchs besitzt so am Anfang der Rabe und am Ende der Fuchs den Käse. Es ist auch möglich, dass der Anfangszustand am Ende wiederhergestellt wird. So wird im Kriminalroman die durch das Verbrechen verletzte Weltordnung durch die Verhaftung des Täters gleichsam wiederhergestellt. Anfang und Ende entsprechen auch dem, was man in der traditionellen (französischen) Dramaturgie nœud und dénouement nennt. Dazwischen kann eine beliebige Zahl von Peripetien vorkommen. Wie in einem Theaterstück kann dem Plot zudem eine Exposition vorausgehen. Auf diese Weise können die handelnden Personen vorgestellt, aber auch Ort und Zeit bestimmt werden. Märchen beginnen so oft mit der Formel Es war einmal ..., durch welche zumindest eine Person der Handlung eingeführt wird. Labov/ Waletzky (1967) nennen diesen Teil orientation. Er ist fakultativ, aber bei den von ihnen untersuchten vierzehn mündlichen Erzählungen wiesen ihn immerhin elf auf. Im Erzählschema von Jean-Michel Adam ( 2 1994, 104) steht der Exposition, die hier als Anfangssituation bezeichnet wird, zusätzlich eine symmetrische Schlusssituation gegenüber: Séquence narrative Situation Complication Actions Résolution Situation initiale Déclencheur 1 ou Déclencheur 2 finale (Orientation) (nœud) Évaluation (dénouement) Hier scheint mir allerdings die Symmetrie zu weit getrieben worden sein. Es ist nicht nur unklar, was man als Schlusssituation verstehen soll. Mich stört auch, dass die Anfangs- und Schlusssituation gleichsam als eine übergeordnete Sequenz erscheint. Meines Erachtens sind die beschreibenden Teile der <?page no="176"?> 164 Erzählung untergeordnet. Dies ist auch die Meinung von Teun Van Dijk (1980, 140): Ein erstes grundlegendes Kennzeichen des Erzähltextes besteht darin, daß er sich auf Handlungen von Personen bezieht, und zwar in allererster Linie, so daß Beschreibungen von Zuständen, Objekten oder anderen Geschehnissen diesem ersten deutlich unter- und nachgeordnet sind. In dieser Definition taucht noch ein wichtiges weiteres Element auf: Eine Erzählung besteht aus Handlungen von Personen. Allerdings gibt es auch Teiltexte, die aus einer Abfolge von Ereignissen ohne handelnde Personen bestehen: (17.5) Langsam fallend deckte der Schnee das blache Feld und die Dächer vereinzelter Höfe rechts und links von der Heerstraße, die aus den warmen Heilbädern an der Limmat nach der Reichsstadt Zürich führt. Dichter und dichter schwebten die Flocken, als wollten sie das bleiche Morgenlicht auslöschen und die Welt stille machen, Weg und Steg verhüllend und das Wenige, was sich darauf bewegte. (Conrad Ferdinand Meyer, Der Heilige, Beginn) Françoise Revaz (2009, 112ss.) bezeichnet diese Form der Beschreibung als relation, was sich mit Bericht übersetzen ließe. Von einer Erzählung spricht sie dagegen zu Recht nur dort, wo wir es mit handelnden Personen zu tun haben. Sicher können in Fabeln Tiere oder sogar Gegenstände die Rolle von handelnden Personen übernehmen, diese verhalten sich aber wie intentional agierende menschliche Wesen. Zudem haben wir es meistenteils mit mehreren handelnden Personen zu tun, die verschiedene Funktionen in der Geschichte übernehmen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf das Modell von Vladimir J. Propp (1928/ 1972, Kap. 6), das von Algirdas J. Greimas (1966) weiterentwickelt wurde. 17.5 Ein Experiment von Michel Fayol Michel Fayol (1980, auch Fayol 1985, 18-20) wollte wissen, was noch als Erzählung verstanden wird. Er legte dazu Erwachsenen sechs kurze, chronologisch aufgebaute Texte vor und ließ sie beurteilen, ob es sich dabei um Erzählungen handelt. Zwei Texten wurde diese Eigenschaft eindeutig abgesprochen. Darunter war der folgende: (17.6) Paul wollte gerne eine Hütte im Wald bauen. Eines Morgens nahm er seine Werkzeuge und ging weg. Er marschierte lange. Er pflückte Blumen. Er schaute den Vögeln nach (übersetzt von mir. J.W.). Der Text hat zwar einen Anfang und es liegt sogar eine Absicht vor, aber es fehlt der Schluss. Irgendwann vergisst Paul, dass er eine Hütte bauen wollte. Solches verletzt die Anforderung, dass eine Erzählung einen Anfang und einen Schluss haben muss, die irgendwie aufeinander Bezug nehmen. Der folgende Text irritierte dagegen, wurde zum Teil allerdings noch als Erzählung akzeptiert: <?page no="177"?> 165 (17.7) Ein kleiner Hase verließ seine Mutter. Er ging in den Wald. Er hüpfte im Gras herum. Er knabberte an Karotten. Dann ging er einen Weg entlang und kam zu seiner Mutter zurück (übersetzt von mir. J.W.). Diesmal hat die Geschichte einen Anfang und ein Ende: Der kleine Hase kehrt wieder an den Ausgangpunkt zurück. Trotzdem bereitet die Einstufung dieses Textes als Erzählung ein gewisses Unbehagen. Der Grund dafür ist, dass die Abfolge der Handlungen rein zufällig wirkt. Irgendwie ist der kleine Hase auch nicht genug anthropomorph, da er kein Ziel verfolgt wie der Fuchs in der Fabel. 17.6 Chronologie und Kausalität Immer wieder wurde die Meinung vertreten, dass in einer Erzählung die einzelnen Handlungen nicht nur chronologisch aufeinander folgen, sondern gleichzeitig kausal miteinander verknüpft sind. Jean-Paul Sartre (1947) hat sogar dem Roman L’Etranger von Albert Camus die Eigenschaft, eine Erzählung zu sein, abgesprochen, da das Verhalten der Hauptperson, Meursault, keiner Kausalität gehorcht. Jene Art von Kausalität, von der wir in Kapitel 13 gesprochen haben, liegt durchaus in einem Text wie dem folgenden vor, der vom wirtschaftlichen Aufschwung der Schweiz in der Gründerzeit handelt: (17.8) Die Eisenbahnen machten es möglich, deutsche oder lothringische Steinkohle in großen Mengen in die Schweiz zu befördern, so dass die Dampfmaschine, die bisher durch die hohen Brennmaterialkosten unrentabel gewesen war, sich endlich einbürgern konnte. Daraus zog nicht nur die Textilindustrie Nutzen, sondern auch die Maschinenindustrie begann alsbald solche Maschinen zu bauen. (Jean-François Bergier, Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, Zürich: Benzinger, 2 1990, p. 249) Dass wir es hier nicht nur mit einer Chronologie, sondern mit kausalen Zusammenhänge zu tun haben, gründet auf sprachlichen Indizien wie den Prädikaten möglich machen und daraus Nutzen ziehen, sowie auf dem konsekutiven Konnektor so dass. Die Kausalität kann sich so der Chronologie überlagern. Wollen wir die Chronologie jedoch generell als Kausalität deuten, so müssen wir auf Definitionen der „Kausalität“ wie diejenige von Trabasso/ Sperry (1985, 595) zurückgreifen: „If event A had not occurred, then, in the circumstances of the story, event B would not have occurred“. Es geht also nur darum, dass ein Ereignis auf ein vorangehendes Bezug nimmt. Trabasso/ Sperry analysieren auf diese Weise eine etwas längere Geschichte und erhalten dabei ein sehr komplexes Schema, denn nicht jeder Satz stützt sich einfach auf den unmittelbar vorangehenden ab. Skeptischer hat sich Roland Barthes (1977, 10) zur Kausalität in der Erzählung geäußert. Er ging dabei vom Standpunkt der Empfängerinnen und Empfänger aus: <?page no="178"?> 166 Tout laisse à penser, en effet, que le ressort de l’activité narrative est la confusion même de la consécution et de la conséquence, ce qui vient après étant lu dans le récit comme causé par, une application systématique de l’erreur logique dénoncée par la scolastique sous la formule post hoc, ergo propter hoc. Beda Schmidhauser (1995, 190ss.) hat darauf hingewiesen, dass man versucht ist, nach dem Prinzip post hoc, ergo propter hoc im folgenden Fall einen Kausalzusammenhang herzustellen, obwohl nicht explizit von einem solchen die Rede ist: (17.9) Die Schiffe stießen zusammen. Danach sanken sie Dagegen würde im folgenden Fall wohl niemand eine Kausalität vermuten: (17.9’) Die Schiffe hissten die Flagge. Danach sanken sie Solche Interpretationen stützen sich auf unser Weltwissen. Dass ein Schiff sinkt, weil es die Flagge hisste, ist kaum vorstellbar; wenn es mit einem andern zusammenstößt, dagegen schon. Betrachten wir noch das folgende Beispiel, das ich wiederum aus Michel Fayol (1985, 70) übersetzt habe: (17.10) Hans hatte Geburtstag. Anna ging in ein Parfümeriegeschäft. Nach wenigen Augenblicken fand sie, was sie gesucht hatte. Glücklich ging sie nach Hause. Wir nehmen an, dass der Geburtstag von Hans der Grund ist, weshalb Anna in ein Parfümeriegeschäft ging. Um zu diesem Schluss zu gelangen, ist aber eine Reihe von zusätzlichen Annahmen nötig. Wir wissen, dass man an Geburtstagen häufig von Leuten, die einem nahestehen, Geschenke erhält. Wir nehmen also an, dass sich Hans und Anna nahestehen und dass Anna deshalb ein Geschenk für den Geburtstag von Hans suchte. Dabei hat sie sich für eines aus einem Parfümeriegeschäft entschieden, weshalb sie ein solches aufsucht. Das sind nun so komplexe Implikationen, dass sie schwerlich aus dem Text allein abgeleitet werden können. Es ist vielmehr anzunehmen, dass wir uns bei der Interpretation auf ein Art Geschenk-Skript stützen. Eine kausale Beziehung lässt sich auch zwischen der Tatsache, dass Anna glücklich wer, und der Tatsache, dass sie das Gesuchte gefunden hat, herleiten. Sonst haben wir es mit nicht viel mehr als einer zeitlichen Abfolge zu tun, eine Ansicht, die sich wiederum aus dem entsprechenden Skript ergibt. Deshalb werden wir auch annehmen, dass Anna das Gesuchte käuflich erworben und nicht bloß angeschaut hat. Der Text lässt dies offen; der Kauf gehört jedoch zum Geschenk-Skript. Wir dürfen deshalb annehmen, dass sowohl Produktion wie Interpretation von Geschichten letztlich auf solchen Skripts beruht. 17.7 Abweichungen von der Chronologie Erzählungen folgen grundsätzlich der chronologischen Abfolge des Erzählten. Es kommt aber immer wieder vor, dass sie davon abweichen, indem man auf Geschehenes rückverweist oder auf noch Geschehendes vorverweist. <?page no="179"?> 167 Gérard Genette (1972, 82ss. = 2007, 28ss.) hat dafür die Begriffe Analepse und Prolepse eingeführt. Eberhard Lämmert (1955), der sich ausführlich mit der Zeitlichkeit in Erzählungen beschäftigt hat, spricht von Rückwendungen und Vorausdeutungen. An und für sich lässt sich eine Geschichte gemächlich von Anfang an erzählen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller tun das aber häufig nicht, sondern versuchen die Leserschaft dadurch zu fesseln, dass sie mit einer besonders dramatischen Episode beginnen. In Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ geht es um das Zusammentreffen von zwei Gelehrten, Alexander von Humboldt (1768-1859) und Carl Friedrich Gauß (1777-1855), die sich beide auf sehr verschiedene Weise um die Vermessung der Erde verdient gemacht haben. Die Erzählung beginnt im Augenblick, wo Gauß widerwillig zu einem von Humboldt organisierten Kongress nach Berlin abreist. Daraufhin wird in einer langen Rückblende das Leben der beiden Wissenschafter erzählt, bevor in den Schlusskapiteln das Treffen tatsächlich stattfindet. Dabei ergibt sich ein weiteres Problem. Wie erzählt man das Leben von zwei Wissenschaftlern, das parallel verlaufen ist, ohne dass sich die beiden je getroffen hätten? Die Sprachproduktion gründet auf einem linearen Prinzip und erlaubt es nicht, das Leben der beiden parallel, sondern nur konsekutiv zu erzählen. Es wechseln in diesem Buch deshalb die Kapitel miteinander ab, die von den Abenteuern Humboldts in Spanien und in Lateinamerika einerseits und von der geographisch weit bescheideneren Karriere von Gauß andererseits erzählen. Insgesamt würde ich allerdings die Begriffe der Rückwendung und Vorausdeutung restriktiver handhaben, als dies Lämmert tut. Dieser (1955, 118ss.) verweist beispielsweise auf Voltaires Candide. Darin wird das Leben von Candide, der Hauptperson, chronologisch aus seiner Perspektive erzählt, während wir die Vorgeschichte der darin auftretenden oder wiederkehrenden Personen erst aus deren Gesprächen mit Candide erfahren. Wenn man den Augenblick, wo das Geschehen stattfand, als Maßstab nimmt, so kann man diese Gespräche natürlich als Rückwendungen oder Analepsen verstehen. Hält man sich jedoch an die Abfolge der Gespräche mit Candide, so ordnen sich diese durchaus an der richtigen Stelle in die Chronologie der Erzählung ein. Im gleichen Text beginnt jedes Kapitel mit einer Inhaltsübersicht: (17.11) CHAPITRE PREMIER Comment Candide fut élevé dans un beau château, et comment il fut chassé d’icelui Auch hier würde ich nicht von einer Prolepse sprechen, sondern diese Titelei gleich interpretieren, wie wir es bei den journalistischen Titeleien getan haben (cf. Kap. 16.5), nämlich als dominierenden Sprechakt, der durch das folgende Kapitel spezifiziert wird. Mit wirklichen Prolepsen haben wir es dagegen bei Thomas Mann zu tun, wenn in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull der Ich-Erzähler, Felix <?page no="180"?> 168 Krull, zu Beginn seiner Erzählung ständig versucht ist, Beziehungen zu seinem späteren Leben herzustellen, bis er zu Beginn des zweiten Kapitels das folgende Versprechen abgibt: (17.12) ... von nun gedenke ich nicht mehr vorzugreifen, sondern die Zeitfolge sorgfältig zur Richtschnur zu nehmen. In Wirklichkeit wird er sogleich wieder rückfällig und wir lesen etwas später: (17.13) ... jetzt erst ist auch meine Schlafkraft erlahmt, jetzt erst bin ich dem Schlafe gewissermaßen entfremdet, ist mein Schlummer kurz, untief und flüchtig geworden, während ich vormals im Zuchthause, wo viel Gelegenheit dazu war, womöglich noch besser schlief als in den weichlichen Betten der Palasthotels. — Aber ich verfalle in meinen alten Fehler des Voraneilens. Auffällig ist, dass wir es hier mit einer umgekehrten Abfolge zu tun haben, indem Krull zunächst von der Jetztzeit und dann rückwärts von seinem früheren Aufenthalt im Zuchthaus und schließlich von seinem noch früheren hochstaplerischen Leben in den Palasthotels berichtet. Allerdings handelt es sich hier nicht um einmalige, sondern um wiederholte Ereignisse, d.h. es wird in einem Satz erzählt, was mehrfach geschehen ist. Wenn nicht Zustände miteinander verglichen würden, sondern es sich um eine Kette von Ereignissen handeln würde, so wäre diese Umkehrung der Reihenfolge kaum möglich. <?page no="181"?> 169 18 Dichtung und Wahrheit Wir haben im vorangehenden Kapitel den Unterschied zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen außer Acht gelassen. Diese nach universellen formalen Kriterien unterscheiden zu wollen, ist unmöglich, da die Wahl der Ausdrucksmittel innerhalb der Textsorten dem historischen Wandel unterworfen ist. Entscheidend ist für uns, welche Kommunikationsabsicht einer Erzählung zugrunde liegt und hier sind die Unterschiede zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen augenscheinlich. Das historische Erzählen ist von Natur aus assertiv, während sich das fiktionale Erzählen einem anderen Ziel unterordnet, nämlich demjenigen zu unterhalten und/ oder zu belehren. Entsprechend sind dort die Assertionen nur innerhalb einer fiktiven Welt gültig. Dabei erweisen sich allerdings die Grenzen zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen als fließend. Ein besonderes Problem stellt die Autobiographie dar. 18.1 Der fiktive Erzähler Wir haben im vorangehenden Kapitel den Unterschied zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen außer Acht gelassen. Tatsächlich gelten gewisse Regeln für beide Arten von Erzählungen. Auch haben wir es in beiden Fällen mit assertiven Sprechakten zu tun. Diese Tatsache wird nun allerdings zum Problem, wenn man mit Searle davon ausgeht, dass man sich durch einen assertiven Sprechakt darauf festlegt, dass das Gesagte wahr ist. Wir haben uns aber bereits in Kapitel 7.2 die Meinung von Herbert Clark zu eigen gemacht, dass die Fiktion auf einer Art Vereinbarung zwischen S und A besteht, das Erzählte in einem fiktiven mentalen Raum für wahr zu halten. In ähnlicher Weise wird heute in der Literaturtheorie zumeist davon ausgegangen, dass nicht der Autor oder die Autorin selbst Urheber oder Urheberin des Erzählten ist, sondern ein von ihm/ ihr geschaffener fiktiver Erzähler (narrateur), der uns über die Vorgänge in einer fiktiven Welt berichtet. Diesem steht zumeist auch ein fiktiver Leser (narrataire) gegenüber. Diese Auffassung ist allerdings auch schon angefochten worden, insbesondere von Käte Hamburger: Einen fiktiven Erzähler, der, wie es offenbar vorgestellt wird, als eine Projektion des Autors aufzufassen wäre, ja als „eine vom Autor geschaffene Gestalt“ (F. Stanzel), gibt es nicht, gibt es auch in den Fällen nicht, wo durch eingestreute Ich- Floskeln wie ich, wir, unser Held u.a. dieser Anschein erweckt wird […]. Es gibt nur den erzählenden Dichter und sein Erzählen. (Hamburger 2 1968, 115) Die einzige Ausnahme, die Käte Hamburger gelten lässt, ist die Ich- Erzählung, in der eine Person der Erzählung zum Erzähler in der ersten Person Singular wird. Wenn man die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler beziehungsweise zwischen Autorin und Erzählerin nicht akzeptiert, so stellt sich allerdings die Frage, worin dann der Unterschied zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen besteht. Es ist wohl bezeichnend, dass es Käte <?page no="182"?> 170 Hamburger war, die sich ausführlich mit der Suche nach sprachlichen Fiktionssignalen beschäftigt hat. 18.2 Das epische Präteritum Am umstrittensten ist Hamburgers These von der Zeitlosigkeit der Fiktion 56 . Ein Kennzeichen der Fiktionalität wäre danach das epische Präteritum, d.h. ein Gebrauch des Präteritums, bei dem dieses „seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen, verliert“ (Hamburger 2 1968, 61). Dieser Verlust der temporalen Funktion würde vor allem dort evident, wo sich temporale Deiktika wie morgen oder gestern mit dem epischen Präteritum in fiktionalen Texten verbinden: (18.1) a. Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten. (Alice Berend). b. Man versammelte sich, und alle waren durch das gestrige Fest verstimmt. (Goethe) 57 Deiktika beziehen sich auf die Origo des Sprechers oder der Sprecherin. Diese ist durch die Pronomen ich, hier und jetzt definiert. Das Besondere der fiktiven Texte ist es, dass es neben der Origo des Erzählers beziehungsweise des Autors auch eine Origo der Romanfiguren gibt, was nach Hamburger die Zeitlosigkeit fiktiver Texte belegen würde. Es gibt aber auch fiktive Erzählungen im Präsens. Käte Hamburger erwähnt selber in der zweiten Auflage von 1968 die Romane von Alain Robbe-Grillet. Sie betont zu Recht, dass man in diesem Fall diese Zeitform nicht als ein historisches Präsens verstehen kann. Zweifel an der Zeitlosigkeit der Fiktion müssen aber aufkommen, wenn die Handlung einer fiktiven Erzählung an die Lebensumstände einer bestimmten Zeitepoche gebunden ist oder wenn in ihr sogar bekannte historische Persönlichkeiten auftreten. Zu den Autoren, die ihre Erzählungen zeitlich und örtlich sehr genau zu situieren pflegen, gehört Honoré de Balzac. Im Fall der Novelle „Un épisode sous la Terreur“ erscheint die Zeitangabe bereits im Titel und die Erzählung beginnt mit einer präzisen Zeit- und Ortsangabe: (18.2) Le 22 janvier 1793, vers huit heures du soir, une vieille dame descendait, à Paris, l’éminence rapide qui finit devant l’église Saint-Laurent, dans le faubourg Saint-Martin. Roland Barthes ist allerdings noch einen Schritt weiter gegangen, als er die Zeitlosigkeit generell für das französische passé simple postulierte: Retiré du français parlé, le passé simple, pierre d’angle du Récit, signale toujours un art; il fait partie d’un rituel des Belles-Lettres. Il n’est plus chargé d’exprimer le temps. (Barthes 2 1964, 29s.) 56 Cf. vor allem Schmid 2 2008, 34ss. und die abwägende Kritik von Genette 1983, 52ss. = 2007, 353ss. 57 Beispiele nach Hamburger 2 1968, 65. <?page no="183"?> 171 Weiter heißt es, das passé simple sei nicht Ausdruck einer Zeitlichkeit, sondern derjenige der Sukzessivität von Handlungen. Das ist zumeist seine Funktion in Erzählungen, aber dies ist nicht seine einzige Funktion. Jean-Michel Adam ( 2 1994, 249) weist denn auch mit Recht darauf hin, dass im heutigen journalistischen Sprachgebrauch das passé simple auch isoliert auftreten kann und dann eindeutig nicht narrativ ist (cf. auch Monville-Burston/ Waugh 1985, Wiberg 1995). Zudem hat sich dieses Tempus nicht nur aus dem gesprochenen Französisch „zurückgezogen“, wie Barthes sagt, sondern es hat im Laufe seiner Geschichte sehr verschiedene Funktionen angenommen (cf. insbesondere Blumenthal 1986) und verwendete sich beispielsweise im Altfranzösischen in Funktionen, die heute dem imparfait vorbehalten sind. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die Funktion von grammatischen Formen im Laufe der Zeit wandeln kann und dass sie gleichzeitig an die jeweilige Textsorte gebunden ist. Damit wird es schwierig, die Fiktion an gewissen grammatischen Erscheinungen festmachen zu wollen. 18.3 Die Erzählperspektive Käte Hamburger ( 2 1968, 72-74) rechnet den Gebrauch der Verben für innere Vorgänge wie glauben, meinen, denken ebenfalls zu den Fiktionssignalen. Sophie Marnettes Untersuchung zu Erzählperspektive und Redewiedergabe in den französischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts scheint ihr Recht zu geben. Diese Studie befasst sich unter anderem mit den ersten drei altfranzösischen Prosachroniken, nämlich denjenigen von Robert de Clari und Geoffroy de Villehardouin über den vierten Kreuzzug und der Vie de Saint Louis von Jehan, sire de Joinville. Diese bedienen sich durchgängig der Erzählperspektive, welche die Autorin focalisation externe de l’extérieur nennt und die Gérard Genettes externer Fokalisation entspricht. Wir halten uns hier an die Terminologie von Genette (1972, 1983, 2007), die sich weitgehend durchgesetzt hat. Auf ihn geht die Unterscheidung zwischen dem Modus („Wer sieht? “) und der Stimme („Wer spricht? “) zurück. Beim Modus geht es um den Blickwickel; Genette spricht von Fokalisierung und unterscheidet zwischen: • der externen Fokalisierung, bei der nur das beschrieben wird, was der Beobachter sieht, was ausschließt, dass er die Gedanken und Gefühle der beteiligten Personen kennen kann; • die interne Fokalisierung, bei welcher der Erzähler aus seiner Perspektive erzählt, wobei er nur seine eigenen Gedanken und Gefühle kennen kann, und • die Null-Fokalisierung, wo einem allwissenden Erzähler keine Gedanken und Gefühle der Personen verborgen bleiben, wo es somit keinen einengenden Blickwinkel gibt. <?page no="184"?> 172 Alle diese Fokalisierungen können in einer fiktionalen Erzählung vorkommen; häufig wechselt sogar die Fokalisierung innerhalb eines Textes. Die interne Fokalisierung drängt sich dagegen für autobiographische Texte auf. Wenn man aber in den drei genannten Prosachroniken nur die externe Fokalisierung findet, so scheint dies logisch zu sein, denn der Historiker kann die Gedanken und Gefühle der historischen Personen nicht kennen, es sei denn, diese seien von ihnen schriftlich überliefert. Dem widerspricht nun aber der folgende Text von Golo Mann, der freilich ein Vertreter einer traditionellen, erzählerischen Geschichtsschreibung ist: (18.3) Am Tag vor seinem Ende hat Wallenstein geäußert, er wolle endlich sein eigener Herr sein; und das ist etwas, wie sein letztes, wahres Wort. Er war der alten Bindungen überdrüssig, und ebenso graute ihm vor den neuen, nach denen er tastete. Sein eigner Herr aber, ein freier Monarch, konnte er nicht sein. Lebensmüdigkeit und Ekel erklären seine letzten Taten, sein Nicht-Tun. Dass er den Reichsfrieden wollte an Stelle des Krieges, der dann noch vierzehn Jahre immer toller und zerstörender wütete, ist seine Ehre. Aber schließlich war der Friede, nach dem er sich sehnte, vor allem sein eigener, die Ruhe, das Nichts, und der schnelle Tod kam ihm als Erlösung. (Golo Mann, „Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges“, in: Golo Mann/ August Nitschke (Hg.), Propyläen Weltgeschichte, Bd. 7, Frankfurt/ M.: Ullstein - Berlin: Propyläen Verlag, 2 1991, p. 211) Hier geht es ausschließlich um Absichten und Gefühle und das ist in der politisch-militärischen Geschichte nicht ungewöhnlich, denn diese handelt von Menschen, die ein Ziel verfolgen und deren Absichten deshalb ihr Handeln erst verständlich machen. Es kommt dazu, dass die drei erwähnten Chronisten gar keine Historiker im modernen Sinne waren. Sie stützten sich auf keine Archivquellen, sondern erzählten, was sie selber miterlebt hatten. Joinville erscheint in seiner Erzählung sogar weitgehend als Hauptperson. Er ist auch der einzige, der von sich selber in der ersten Person Singular spricht. Trotzdem erfahren wir so gut wie nichts über seine Persönlichkeit. Auch hier scheitert der Versuch, allgemeine Fiktionssignale ausfindig zu machen, am historischen Wandel und an der Textsortenabhängigkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel. Das trifft auch auf die erlebte Rede (cf. Kap. 19.3) zu, die Hamburger ( 2 1968, 74-78) als ein weiteres Fiktionssignal nennt. Diese Form der Rede- und Gedankenwiedergabe lässt sich sporadisch in verschiedenen Epochen nachweisen; sie ist aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem verbreiteten literarischen Stilmittel geworden (cf. Steinberg 1972, 55ss.). Es kommt noch hinzu, dass der Begriff der Fiktion nicht durch die Jahrhunderte hindurch gleich verstanden wurde. Unsere heutige Vorstellung von Wahrheit ist durch die Naturwissenschaften geprägt. Das war nicht immer so. Antike und mittelalterliche Historiker zitieren keine Quellen; sie stützen sich auf die Tradition und erzählen das weiter, was man ihnen erzählt hat (cf. Veyne 1983). Dabei nimmt Herodot (VII, 152, 3) sogar für sich in Anspruch, dass der Historiker selbst nicht zu glauben braucht, was er erzählt: „Meine <?page no="185"?> 173 Aufgabe ist zu erzählen, was man mir erzählt hat, aber nicht alles zu glauben“. Auch die epischen Dichter des Mittelalters berufen sich auf die Überlieferung und entgehen so dem schlechten Ruf, den die Fiktion damals hatte. Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts polemisierte der Bischof von Belley, Jean-Pierre Camus, gegen die Verfasser fiktionaler Literatur und verfasste dabei selber hochmoralische Geschichten, die wir heute ebenfalls als fiktional bezeichnen würden (cf. Zufferey 2006). Es haben sich somit nicht nur die Genres gewandelt, sondern es hat sich auch der Begriff der Fiktion verändert. 18.4 Das fiktionale Erzählen Seit Plato ist die Fiktion immer wieder in die Nähe der Lüge gerückt worden. Es ist der Zweck der Lüge, uns Dinge glauben zu machen, die gar nicht existieren. Das ist aber gerade nicht der Zweck der Fiktion, die grundsätzlich voraussetzt, dass jedermann weiß, dass die dargestellten Handlungen nicht wirklich geschehen sind. Es wäre ja auch witzlos, jemanden über Dinge zu orientieren, von denen er weiß, dass sie nicht vorgefallen sind. Auch hier gilt es, die Frage nach der Kommunikationsabsicht zu stellen. Die Frage nach dem Zweck der Fiktion ist dabei schon von Horaz beantwortet worden: Eine fiktionale Erzählung dient dazu, zu unterhalten und/ oder zu belehren: Aut prodesse volunt, aut delectare poetae ; Aut simul et jucunda et indonea dicere vitae. (Horaz, Ars Poetica, Verse 333-34) Was die belehrende Funktion betrifft, so kann diese sogar explizit gemacht werden, indem die Geschichte mit einer Moral abschließt. Zumindest die Erzählgrammatiken von Mandler/ Johnson (1977) und Van Dijk (1980) haben diese Komponente ausdrücklich berücksichtigt. Es sind insbesondere die Fabeln, die häufig mit einer Moral enden, indem aus dem Erzählten ein allgemeines Prinzip abgeleitet wird. Dabei erscheint es mir sinnvoll, die Moral als den dominierenden Sprechakt zu betrachten, der durch die Erzählung exemplifiziert wird. Wo keine explizite Moral vorhanden ist, bedeutet dies allerdings nicht, dass keine solche intendiert wurde, und dies gilt nicht nur für die Fabel. Jean- Michel Adam (1992, 60s. 58 ) zitiert dazu ein treffendes Beispiel aus Camus’ Les Justes, wo Kaliayev die Legende vom heiligen Dimitrios erzählt: Dieser kam zu spät zum Rendez-vous mit Gott, weil er einem Bauern geholfen hatte. Erst auf die Nachfrage seines Gesprächspartners Foka, der den Sinn der Erzählung nicht verstanden hat, fügt dann Kaliayev der Geschichte eine allgemeine Moral bei: Es gibt Leute, die immer zu spät kommen, weil sie glauben, zu vielen Menschen helfen zu müssen. 58 Leider setzt Adam die Moral mit der evaluation bei Labov/ Waletzky (1967) gleich. Dieser Begriff wird dort in einem umfassenderen Sinn gebraucht. Außerdem befassen sich die beiden amerikanischen Autoren mit faktualen Erzählungen. <?page no="186"?> 174 Viele Texte sind sowohl belehrend wie unterhaltend. Gibt es auch solche, die nur belehrend sind, ohne unterhaltend zu sein? Man mag hier an stark didaktische Erzählungen wie Fénélons Télémaque denken, mit dem sich in früheren Jahrhunderten Generationen von Schülern abplagten. Dagegen ist es leichter, Textsorten wie den Witz oder den Schwank zu nennen, die offensichtlich der reinen Unterhaltung dienen. Brewer/ Lichtenstein (1982) haben in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel Stories are to entertain die Geschichten (stories) als eine narrative Untergruppe verstanden, die allein der Unterhaltung dient. Solche Geschichten gelten kaum als literarisch. Die Fiktion darf ohnehin nicht einfach mit der Literatur gleichgesetzt werden. Dabei wollen wir uns hier nicht auf das gefährliche Spiel einlassen, eine Definition dessen, was literarisch ist, geben zu wollen. Wir glauben jedoch, dass auch literarische Werke eine Art Moral haben müssen, auch wenn diese zumeist implizit bleibt und sich sicher nicht auf einen einfachen, plakativen Satz zusammenfassen lässt wie in der Fabel. Deshalb bedürfen sie der Interpretation, auch wenn diese notwendigerweise subjektiv und dem jeweiligen Zeitgeist verhaftet sein wird. Ferner gehört zur Literatur die Arbeit an der Sprache, die Roman Jakobson (1960) als poetische Funktion der Sprache definierte. Diese kann in einer experimentellen Literatur sogar zur Hauptfunktion werden. Entscheidend ist für uns die Tatsache, dass fiktionale Erzählungen ganz andere Ziele verfolgen als dasjenige zu berichten, was in der Realität vorgefallen ist. Dabei behalten die assertiven Sprechakte im Prinzip ihre Funktion, sie sind aber nicht R-wahr, sondern F-wahr, d.h., dass ihre Wahrheit nicht mehr innerhalb des Referenzraums R gilt, sondern innerhalb eines fiktiven mentalen Raums F. 18.5 Das historische Erzählen Wenn wir nun das historische Erzählen dem fiktiven Erzählen gegenüberstellen, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass in der Geschichtswissenschaft heute zwei sehr unterschiedliche Textsorten gebraucht werden. Narrative Darstellungen findet man vor allem in jener Art von Geschichtsschreibung, welche die Begründer der französischen Annales-Schule mit einer Spur von Herablassung als histoire événementielle bezeichnet haben. Dort, wo es um Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte geht, wird man eine systematische Darstellung bevorzugen, die sich mit ihrer Aufreihung von Themen von anderen wissenschaftlichen Texten allenfalls durch den Gebrauch des historischen Präteritums oder des historischen Präsens unterscheiden. Historische Erzählungen, deren Grundstruktur von der Chronologie der Ereignisse gebildet wird, tragen üblicherweise Titel wie Der zweite Weltkrieg oder Die französische Revolution. Dadurch wird angezeigt, dass die Geschichte innerhalb eines gegebenen Zeitraums erzählt werden soll. Die Kommunikationsintention ist somit assertiv und die einzelnen assertiven Sätze behalten ihre Wahrheitsfunktion innerhalb des Referenzraums R. Mit dem Titel wird <?page no="187"?> 175 auch Anfang und Ende der Erzählung weitgehend festgelegt. Gelegentlich wird der zeitliche Rahmen im Titel noch genauer präzisiert (z.B. Geschichte Indiens von der Induskultur bis zur englischen Eroberung). Dabei fängt eine Episode einer historischen Erzählung sehr häufig damit an, dass jemand eine Absicht verfolgt: (18.4) [Alexander I.] fing mit der guten Absicht an, die staatliche Ordnung nach dem Vorbild der Aufklärung umzugestalten. (Theodor H. von Laue, „Russland im 19. Jahrhundert“, in: Golo Mann (Hg.), Propyläen Weltgeschichte, Bd. 8, Frankfurt/ M.: Ullstein - Berlin: Propyläen Verlag, 2 1991, p. 590) Nur führt hier die gute Absicht sehr oft nicht ans Ziel; so endet die Episode, die so begonnen hat, mit der Bemerkung: (18.4a) So waren alle mühevollen und originellen Anstrengungen des Kaisers, ein monolithisches Staatswesen zu schaffen, vergebens. (ib., p. 598) Im Gegensatz zur antiken Tragödie enden solche Geschichten aber nicht notwendigerweise mit dem tragischen Tod des Helden. Wenn akademische Historikerinnen und Historiker über die Intentionen historischer Figuren sprechen, so geht es zumeist um Absichten, die sie aus deren Handlungen ableiten. Auch wörtliche Zitate sind nur dort möglich, wo sie in den Quellen überliefert sind. Davon ausgenommen ist das Genre der romanhaften Biographie, wie es zum Beispiel Stefan Zweig pflegte. In solchen Biographien kommen wie in einem Roman Dialoge vor, wobei wir sogar die emotionellen Reaktionen der am Gespräch Beteiligten erfahren. Dies ist eine ausgesprochene Mischform, in der die historische Überlieferung mit fiktionalen Elementen ausgeschmückt wird. Dagegen darf von der akademischen Geschichtsschreibung erwartet werden, dass sie auf den vorhandenen Quellen fußt, selbst wenn auf eine genaue Quellenangabe in den Fußnoten verzichtet wird. Von den heutigen Historikerinnen oder Historikern wird aber auch erwartet, dass sie sich nicht darauf beschränken, zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen“ (Leopold von Ranke), sondern dass sie das Vorgefallene deuten. Sogar der große Ploetz verspricht in seinen neueren Auflagen neben Daten und Fakten auch Zusammenhänge, selbst wenn das nicht seine hervorstechende Eigenschaft ist. Immerhin beginnt jeder Zeitabschnitt mit einem „Überblick über Wesen und Bedeutung“ der betreffenden Zeit. Nach Jean-Claude Beacco (1988) kommen drei Arten von Sprechakten in historischen Texten vor, die er REPRÉSENTER , INTERPRÉTER und DÉLIMITER nennt. Die letzteren brauchen uns hier nicht zu beschäftigen, denn es sind damit jene metatextuellen Sprechakte gemeint, die den Textaufbau anzeigen. Wichtig ist das Nebeneinander von repräsentativen und interpretativen Sprechakten. Dabei werden die ersteren in narrativen, die letzteren dagegen in systematischen Darstellungen bevorzugt. Nicht selten findet man heute auch historische Darstellungen, in denen einzelne Kapitel narrativ, andere aber systematisch aufgebaut sind. <?page no="188"?> 176 Insofern das historische Erzählen aber ein deutendes Erzählen ist, bleibt es bei aller Faktizität letztlich subjektiv und von persönlichen Einstellungen geprägt. 18.6 Grenzfälle Das fiktionale Erzählen und das heutige historische Erzählen sind zwei Extreme auf einem Kontinuum. Dabei gibt es keine klare Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit. Searle (1982, 96) weist darauf hin, dass die meisten fiktionalen Erzählungen auch nicht-fiktionale Elemente enthalten: Tolstoi beginnt Anna Karenina mit dem Satz „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art“. Diese Äußerung fasse ich nicht als eine fiktionale, sondern als eine ernsthafte auf. Sie ist eine echte Feststellung. Eckard Rolf (1996b) spricht in diesem Zusammenhang von „Inseln der Nicht- Fiktionalität“. Das heißt, dass wir Sätze wie das Incipit von Anna Karenina nicht dem (fiktiven) Erzähler, sondern dem (realen) Autor zuschreiben müssen. Darüber kann man sich allerdings streiten. In der Fabel Le loup et l’agneau von Jean de La Fontaine bringt der Wolf immer absurdere Argumente gegen das Lamm vor, um es am Schluss auffressen zu können. Die der Fabel vorangestellte Moral lautet hier: „La raison du plus fort est toujours la meilleure.“ Man kann eigentlich nur hoffen, dass dies kein „ernsthafter“ Satz ist, sondern dass man ihn ironisch verstehen muss. Er ist deshalb einem fiktiven Erzähler zuzuschreiben, von dem sich der Autor distanziert 59 . Nun ist es aber nur natürlich, wenn Leserinnen und Leser aufgrund der Lektüre sich eine Vorstellung von den Auffassungen des Autors oder der Autorin zu machen versuchen. Slavische Literaturwissenschaftler haben dieses Problem zu lösen versucht, indem sie zwischen dem fiktiven Erzähler und dem realen Autor noch die Figur des abstrakten Autors eingeführt haben (cf. Schmid 2 2008, 55-65). Dieser entspricht dem Bild, das sich Leserinnen und Leser vom Autor oder der Autorin aufgrund der Lektüre zu machen versuchen. Ich würde dagegen annehmen, dass wir es hier mit einem ähnlichen Fall zu tun haben wie bei der Präsupposition, wo es in Kapitel 7.7 darum ging, ob eine Präsupposition aus einem fremden Raum in den Raum dessen, was der Sprecher oder die Sprecherin für wahr hält, übernommen wird oder nicht. Jene Aussagen, die Searle und Rolf für nicht-fiktional halten, sind meines Erachtens ebenfalls dem Erzähler zuzuschreiben. Die Frage ist dann allerdings, ob solche Aussagen, vom Autor oder der Autorin gleichsam „geerbt“ werden. Dies ist häufig schwierig zu entscheiden. 59 Schon gar nicht darf man Aussagen im Präsens, wie Rolf es tut, einfach als „Inseln der Nicht-Fiktionalität“ betrachten. Wenn beispielsweise Gottfried Keller über das Heimatdorf des Grünen Heinrich sagt „Aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter denn je...“, so belegt das Präsens keinesfalls, dass dieses Dorf tatsächlich existiert. <?page no="189"?> 177 18.7 Das autobiographische Erzählen Auch das autobiographische Erzählen wirft Probleme auf. Philippe Lejeune (1975) hat nur zwei Eigenheiten gefunden, welche die Autobiographie vom Roman unterscheiden: der Verfasser oder die Verfasserin bezeichnet sein/ ihr Werk selber als Autobiographie und/ oder der Name der Hauptperson ist mit seinem/ ihrem Namen identisch. Der Literarhistoriker und Romancier Serge Doubrovsky fühlte sich darauf herausgefordert, mit Fils (1977) ein neues Genre zu kreieren, die Autofiktion, eine fiktionale Erzählung, in welcher der Held den Namen des Autors trägt und viele biographische Details mit ihm teilt 60 . Das Problem liegt darin, dass die erste große Biographie der Neuzeit, die Confessions von Jean-Jacques Rousseau, deren Titel auf das autobiographische Werk von Augustinus zurückweist, im Vorwort einen klaren Wahrheitsanspruch erhebt: (18.5) Voici le seul portrait d’homme, peint exactement d’après nature et dans toute sa vérité, qui existe et qui probablement existera jamais. Wir wollen hier nicht darüber diskutieren, ob Rousseau dieses Versprechen tatsächlich eingehalten hat. Weit wirklichkeitsnäher erscheint mir jedenfalls, was August Bebel im Vorwort seiner Autobiographie schrieb: (18.6) Wollte ich nach Möglichkeit die Wahrheit schreiben, so konnte ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Nach einer Reihe von Jahren lässt einen das Gedächtnis im Stich, selbst Vorgänge, die sich einem tief einprägten, erlangen im Laufe der Jahre unter allerlei Suggestionen eine ganz andere Gestalt. Ich habe diese Erfahrung häufig nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen gemacht. Ich habe nicht selten im besten Glauben Vorgänge früherer Jahre im Kreise von Bekannten und Freunden erzählt, die sich nachher, zum Beispiel durch aufgefundene Briefe, die unmittelbar unter dem Eindruck der Vorgänge geschrieben wurden, ganz anders darstellten. (August Bebel, Mein Leben, Vorwort, nach http: / / gutenberg.spiegel.de) Bebel wollte sich deshalb nicht auf sein Gedächtnis verlassen, sondern zog „nach Möglichkeit Briefe, Notizen, Artikel usw.“ bei. Tatsächlich scheint es nicht so zu sein, dass sich ein Erlebnis jemandem unveränderlich ins Gedächtnis einprägt; das autobiographische Gedächtnis wird vielmehr fortwährend an spätere Eindrücke und Einsichten angepasst (cf. Damásio 1999, 174). Die Gefahr der Selbsttäuschung ist deshalb in Autobiographien groß. 60 Im gleichen Jahr wie Fils von Serge Doubrovsky erschien Livret de famille von Patrick Modiano, das ebenfalls der Autofiktion zuzurechnen ist. <?page no="190"?> 178 19 Wer spricht? Am ehesten unterscheiden sich die fiktionalen Texte im Bezug auf die Redewiedergabe von den faktualen. Dabei ist die direkte und die indirekte Rede insofern ein Sonderfall, als dass wir es hier mit einem propositionalen Gehalt zu tun haben, der sich einer doppelten Illokution unterordnet, derjenigen der zitierenden und derjenigen der zitierten Person. Gleichzeitig wird durch die Redeeinleitung der propositionale Gehalt einem fremden mentalen Raum zugewiesen. Es gibt auch Formen der Redewiedergabe, welche sich praktisch auf diese Zuweisung beschränken. Dabei ist in wissenschaftlichen und journalistischen Texten die Redewiedergabe mit dem Zitieren anderer Personen gleichzusetzen. In fiktionalen Erzählungen werden dagegen die Reden und auch die Gedanken von Personen wiedergegeben, die ebenso fiktional sind wie die Erzählung selber. Das drückt sich zum Teil auch in formaler Hinsicht aus. 19.1 Formen der Redewiedergabe In der direkten und der indirekten Rede haben wir es eigentlich mit zwei Reden zu tun, einer zitierenden und einer zitierten. In der direkten Rede behalten dabei beide Reden ihr eigenes deiktisches Referenzsystem bei: (19.1) Cäcilia sagte mir am Telefon: „Ich bin heute hier angekommen“ In der indirekten Rede wird dann das deiktische Referenzsystem der zitierten Rede in dasjenige der zitierenden Rede überführt: (19.2) Cäcilia sagte mir am Telefon, sie sei an jenem Tage dort angekommen Dabei handelt es sich bei der Redewiedergabe aber nicht etwa um einen untergeordneten Akt, denn es existiert nur ein einziger propositionaler Gehalt, der aber einer doppelten Illokution unterstellt ist: „Ich, S, sage dir, dass Cäcilia mir gesagt hat, dass...“. Illokutive Kräfte sind pragmatische Prädikate, die nicht explizit versprachlicht werden müssen. In diesem Fall verhält es sich so, dass das erste pragmatische Prädikat („Ich, S, sage dir“) so gut wie nie, das zweite („Cäcilia sagte“) in der direkten und indirekten Rede aber obligatorisch versprachlicht wird. Dabei ist „Cäcilia sagte“ zugleich auch ein space builder im Sinne von Fauconniers Theorie (cf. Kap. 7). Er weist den propositionalen Gehalt des Satzes einem fremden mentalen Raum zu. Dabei ist selbst in der direkten Rede das Zitat nicht unbedingt wörtlich. Es ist es nicht unbedingt, wenn ich aus dem Gedächtnis zitiere, und schon gar nicht, wenn ich es übersetze, wofür wir Beispiele sehen werden. Nun gibt es auch noch andere Formen der Redewiedergabe, die weit weniger explizit sind. Die folgende Zeitungsmeldung möge uns als Beispiel dienen: <?page no="191"?> 179 (19.3) Ingo Mocek hat laut «Neon» eingeräumt, Gespräche mit den Musikern Beyoncé Knowles, Jay-Z, Christina Aguilera, Slash und Snoop Doggy Dogg gefälscht zu haben, die zwischen Juni 2004 und Februar 2010 erschienen seien. Die Zusammenarbeit mit dem Journalisten sei beendet worden. Das Blatt entschuldigte sich bei den betreffenden Künstlern und deren Management. (NZZ, 20/ 4/ 2010, p. 13) Im ersten Satz erscheint zunächst eine durch das Verb einräumen eingeleitete indirekte Rede. Wem hat aber Mocek dieses Geständnis abgelegt? Nicht etwa der NZZ, wo ich diese Meldung gefunden habe, sondern der Zeitschrift Neon, denn es heißt, dass er dies „laut «Neon»“ eingeräumt habe. Damit wird die Quelle des Textes genannt. Wir haben es somit zunächst mit einem Sprechakt von Ingo Mocek zu tun, der von der Zeitschrift Neon zitiert wird, worauf die NZZ ihrerseits Neon zitiert 61 . Im Relativsatz und im anschließenden zweiten Satz steht der Konjunktiv Präsens. Hier handelt sich um die uneingeleitete indirekte Rede. Diese Ausdrucksform ist dem Deutschen eigen und wird meist im Anschluss an eine indirekte Rede verwendet, so dass dessen illokutive Einleitung auch für die folgenden Sätze gilt. Unser Fall ist allerdings komplexer, da wiederum die genannte Zeitschrift zitiert wird, auf die nur mit Hilfe der Angabe „laut «Neon»“ hingewiesen wurde. Im dritten und letzten Satz haben wir es dann mit einem Redebericht zu tun, in dem die zitierte Rede völlig in die Erzählung integriert wurde. Dass es sich eigentlich um eine Rede handelte, zeigt dabei das performative Verb entschuldigen an. In diesem Fall gibt der oder die Berichtende die fremde Rede mit den eigenen Worten in geraffter Form wieder. Sätze, in denen mit Hilfe von Ausdrücken wie laut «Neon», nach gut informierten Kreisen oder gemäß § 217 auf eine Quelle hingewiesen wird, werden üblicherweise nicht mehr zur Redewiedergabe gerechnet. Diese Ausdrücke sind aber eindeutige space builder, welche die folgenden Aussagen einem fremden mentalen Raum zuweisen. Dies ist für uns das Kriterium, um von einer Rede- oder Gedankenwiedergabe zu sprechen. Auch Anführungszeichen kommen hier in Betracht, wobei in diesem Fall nicht nur gesamte Sprechakte, sondern auch einzelne Ausdrucksweisen zitiert und damit einem fremden mentalen Raum zugewiesen werden können. Dabei handelt es sich aber nicht immer um wirkliche Zitate. Anführungszeichen können auch bloß eine gewisse Distanzierung von der gewählten Ausdrucksweise kundtun, wenn diese einer anderen Sprache oder einer anderen Sprachschicht angehört oder als approximativ oder als nicht fachsprachlich betrachtet wird. Eine ähnliche Funktion kann vor allem bei einzelnen Wörtern auch der Kursivschrift zukommen, die allerdings noch mehr Funktionen aufweist und insbesondere auch zur Hervorhebung dient. Häufig hängt es deshalb von unserer Interpretation des Textes ab, was wir als Zitate betrachten. Im folgenden Beispiel geht es um eine unglückliche 61 Da die NZZ sich für die Meldung auch auf zwei Agenturen stützt, war der Transmissionsprozess wohl noch komplizierter. <?page no="192"?> 180 Äußerung des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury. Ich würde deshalb annehmen, dass die Anführungszeichen Zitate aus den erwähnten Reden und Briefen einführen, wenn auch in deutscher Übersetzung: (19.4) Rowan Williams […] sagte in einem BBC-Interview, die katholische Kirche Irlands habe seit dem Skandal um klerikalen Kindsmissbrauch „jegliche Glaubwürdigkeit verloren“. Diarmuid Martin, der katholische Erzbischof von Dublin, der sich durch seinen offenen Umgang mit dem Skandal hervorgetan hat, reagierte harsch auf die Kritik von der Nachbarinsel. Er sei „betäubt“ und fühle sich „persönlich entmutigt“. […] In einem Brief an den Erzbischof Martin entschuldigte sich Williams für die „Schwierigkeiten“, die durch seine Bemerkungen ausgelöst worden sein könnten. (NZZ am Sonntag, 4/ 04/ 2010, p. 2) Die Ausdrücke in Anführungszeichen stehen hintereinander zunächst in einer eingeleiteten indirekten Rede, dann in einer uneingeleiteten indirekten Rede und schließlich auch noch in einem Redebericht. Dominique Maingueneau (1981, 106s.; 1998, 132s.) nennt diese Darstellungsform ein Résumé mit Zitaten. 19.2 Redewiedergabe in wissenschaftlichen und journalistischen Texten Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Redewiedergabe in fiktionalen und nicht fiktionalen Texten. Nur in nicht fiktionalen Texten geht es darum, die Rede einer anderen Person zu zitieren. In fiktionalen Erzählungen sind die Personen der Handlung ebenso fiktiv wie der Erzähler selber. Eine wichtige Rolle spielt das Zitat vor allem in wissenschaftlichen und auch in journalistischen Texten, wo das Zitieren allerdings unterschiedlichen Regeln gehorcht. Der Journalist übernimmt keine Verantwortung für das, was eine andere Person gesagt oder geschrieben hat. Seine einzige Verantwortung besteht darin, ihn richtig zitiert zu haben, was auch mal von den Zitierten bestritten wird, vor allem dann, wenn ihnen ihre Aussage hinterher peinlich ist. Dabei sprechen Journalistinnen und Journalisten in Zeitungsmeldungen nicht von sich selbst, so dass meist nicht wirklich zu erkennen ist, welches ihre Quellen sind. Ganz anders verhält es sich mit wissenschaftlichen Texten. Hier wird verlangt, dass alle Aussagen belegt werden, sofern sie nicht als Allgemeingut verstanden werden können. Es wird ein strenger Respekt vor dem geistigen Eigentum anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler praktiziert (cf. Pöckl/ Reiner 1990, 71-73). Das führt aber dazu, dass auch die eigene Leistung irgendwie gekennzeichnet werden muss. Dabei war im Deutschen lange Zeit und im Französischen zum Teil bis heute der Gebrauch der ersten Person Singular verpönt. Auch heute wird diese Form allgemein nur mit Zurückhal- <?page no="193"?> 181 tung angewandt und häufig durch wir, man, das Passiv ohne Urheberbezug oder unpersönliche Konstruktionen ersetzt (cf. Wüest 1988) 62 . Längere Zitate werden in wissenschaftlichen Werken eingerückt und in kleinerer Schrift gesetzt. Dabei geht es im folgenden Text um den Versuch der amerikanischen Strukturalisten, die Phoneme einer Sprache zu bestimmen, ohne auf die Bedeutung der Wörter Bezug zu nehmen: (19.5) Dieses Problem versuchte Bernhard Bloch in seiner Arbeit zur systematischen Begründung der phonologischen Theorie […] zu lösen, in der er denn auch den Unterschied zu Bloomfield ausdrücklich betont: Unser Ansatz unterscheidet sich in einigen Hinsichten von dem Bloomfields — besonders dadurch, daß Bloomfield die Bedeutung als ein grundlegendes Kriterium heranzieht. (S. 6) Blochs Ziel ist es, den Sprachwissenschaftler in die Lage zu versetzen, ein hinreichend großes Corpus von sprachlichen Daten zu analysieren bzw. die Grammatik der Sprache aus ihm herauszuziehen, ohne daß die Bedeutung dieser Äußerungen dabei eine Rolle spielt — allerdings würde er (d.h. der untersuchende Sprachwissenschaftler, U.M.) einer Art Garantie bedürfen, daß jeder Bestandteil des Untersuchungsmaterials irgendetwas bedeutet. (S. 5-6, Anm. 8) (Utz Maas, Grundkurs Sprachwissenschaft I. Die herrschende Lehre, München: List, 1973, p. 120) Ich hatte diese Publikation gewählt, weil es Utz Maas darin eigentlich um eine Kritik an der „herrschenden Lehre“ in der Linguistik ging, und war dann erstaunt, wie wenig kritisch er die entsprechenden Zitate behandelt. Diese sind hier völlig in den Text integriert und wurden dazu noch vom Autor aus dem Amerikanischen übersetzt. Das erste Zitat ist dabei ein Beleg für die Aussage, dass Bloch sich ausdrücklich von Bloomfield distanziert. Wir haben es also mit einer Exemplifizierung im Sinne von Kapitel 14.5 zu tun. Das zweite Zitat wird sogar trotz seiner Hervorhebung regelrecht in den Text des Autors integriert. Tatsächlich ist es nicht selten, dass in wissenschaftlichen Texten in dieser Weise Zitate, selbst fremdsprachige, in den Trägertext eingebaut werden. Hier stellt sich das Problem, wer die Verantwortung für solchermaßen zitierte Aussagen trägt. In wissenschaftlichen Texten gilt die Regel, dass die zitierende Person grundsätzlich die Meinung der zitierenden Person teilt, es sei denn, sie distanziere sich ausdrücklich von ihr oder stelle sie zumindest als zweifelhaft dar: „La citazione presume che si condivida l’idea dell’autore a meno che il brano non sia preceduto e seguito da espressioni critiche“ (Eco 1977, 171). Im folgenden Text ist zweimal von Annahmen die Rede. Die Annahme von Bergenholtz/ Schaeder zu Beginn des Ausschnitts wird in Anführungszeichen zitiert und ihr wird nicht widersprochen, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie die Autorin teilt. Die „Annahme Wiegands“ wird dagegen durch ein zweites Zitat in Anführungszeichen relativiert. Da sich die Autorin 62 Im Englischen war die erste Person Singular nie tabu, wird aber ebenfalls mit Maß verwendet. <?page no="194"?> 182 wiederum von diesem letzteren Zitat nicht distanziert, bedeutet dies, dass sie diese Kritik an der „Annahme Wiegands“ übernimmt: (19.6) Bergenholtz/ Schaeder (1994: 2) nehmen an, „dass die Zahl der Fachwörterbücher in der Zeit von 1500 bis 1900 nur sehr langsam steigt, von 1900 bis 1950 sehr stark und dass seitdem eine regelrechte Explosion stattgefunden hat“. Sie kommentieren die Annahme Wiegands (1990: 2206), dass im deutschen Sprachraum nach 1945 mehr als 3000 Fachwörterbücher erschienen sind, mit dem Hinweis, dass „auch diese Zahl vermutlich viel zu gering angesetzt sein dürfte“ (vgl. Bergenholtz/ Schaeder 1994: 1). (Kirsten Adamzik, „Fachwörterbücher der Linguistik“, in: K.A. (Hg.), Kontrastive Textologie, Tübingen: Staufenburg, 2001, p. 166) Wenn wir die Redewiedergabe als ein Problem der mentalen Räume betrachten, so ergibt sich notwendigerweise die Frage nach dem „Erben“ von Aussagen (cf. Kap. 7.7), d.h. die Frage, ob die zitierende Person die Aussage der zitierten Person ebenfalls für wahr hält. In diesem bestimmten Fall ist die Lösung dieser Frage offensichtlich von der Textsorte abhängig. In journalistischen Textsorten findet ein solches „Erben“ nicht statt, während es in wissenschaftlichen Textsorten automatisch ist, sofern sich S nicht in irgendeiner Weise dagegen verwahrt. 19.3 Rede- und Gedankenwiedergabe in fiktionalen Texten Auch in fiktionalen Texten ist nicht alles neu. Während man in wissenschaftlichen Texten verpflichtet ist, seine Quellen offenzulegen, so geschieht dies in literarischen Texten nicht oder höchstens durch den Herausgeber im kritischen Apparat. Die Suche nach Einflüssen ist nämlich der Gegenstand der traditionellen Quellen- und Einflussforschung. Julia Kristeva (1969) hat stattdessen den umfassenderen, aber vagen Begriff der Intertextualität eingeführt. Gérard Genette (1982) hat versucht, diesen präziser zu fassen, bevorzugt dabei aber den Begriff der Transtextualität. Zu dieser rechnet er auch die Gattungen beziehungsweise die Textsorten. Diese werden nicht ständig neu erfunden, sondern man stützt sich auf vorhandene Modelle, auch wenn man sie nicht immer unverändert übernimmt. Etwas anderes ist die Redewiedergabe in fiktionalen Texten. Hier wird nicht eigentlich zitiert, sondern der Autor oder die Autorin lässt einfach seine fiktiven Personen sprechen. Wir erinnern uns daran, dass Clark für fiktionale Texte zwei Ebenen (layers) unterscheidet (cf. Kap. 7.2). Auf der Ebene 1 geben dabei Autor und Leser beziehungsweise Autorin und Leserin gemeinsam vor (jointly pretend), dass die Handlung auf Ebene 2 stattfindet. Dabei wird die Verantwortung für die Erzählung nach anderen Theorien (cf. Kap. 18.1) von einem fiktiven Erzähler übernommen, der nicht mit dem Autor oder der Autorin identisch ist. Bei der Redewiedergabe hätten wir es deshalb mit nicht weniger als drei Ebenen zu tun. Wenn in Samuel Becketts Waiting for Godot Estragon zu Vladimir sagt „Nothing to be done“, so ergibt sich nach Clark (1996, 364s.) die folgende Stufenfolge: <?page no="195"?> 183 Layer 3 Estragon is telling Vladimir there’s nothing to be done Layer 2 Narrator is demonstrating for readers the event in layer 3 Layer 3 Beckett and we readers jointly pretend that the events in layer 2 are taking place Man kann sich fragen, ob die Erwähnung des (fiktiven) Erzählers auf der zweiten Ebene wirklich nötig ist, denn Estragon und Vladimir sind ja ebenso fiktive Personen wie der fiktive Erzähler. Für seine Berücksichtigung spricht die Tatsache, dass das, was man in einer Erzählung über deren Personen erfährt, von der Art der Fokalisierung durch den Erzähler abhängt. So befindet sich in der Null-Fokalisierung der allwissende Erzähler in der außergewöhnlichen Lage, dass er nicht nur die Rede der handelnden Personen kennen kann, sondern dass er auch um ihre Gedanken weiß. In fiktionalen Texten gibt es deshalb nicht nur die Redewiedergabe, sondern es gibt auch eine Gedankenwiedergabe. Neben diesem grundlegenden Unterschied gibt es zwei Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe, die als typisch literarisch gelten dürfen und die sich gerade dadurch auszeichnen, dass die Grenzen zwischen der zitierenden und der zitierten Rede, also zwischen Erzähler und zitierter Person, verwischt werden. Zu erwähnen ist zunächst die erlebte Rede: (19.7) Esch stutzte: also der Bertrand war in Amerika! War ihm zuvorgekommen, war früher drüben in der leuchtenden Freiheit (Hermann Broch, Die Schlafwandler, zit. bei Steinberg 1971, p. 89) Als Merkmal der erlebten Rede gilt, dass sie im Gegensatz zur direkten und indirekten Rede nicht eingeleitet wird. Diese Aussage muss allerdings im Fall von Beispiel (19.7) relativiert werden. Der Ausdruck „Esch stutzte“ gibt zumindest einen Hinweis darauf, dass das, was folgt, eine Gedankenwiedergabe ist. Haupttempus der erlebten Rede ist das Präteritum und die Deixis ist diejenige des Erzählers. Ähnlich wie in der indirekten Rede findet somit eine Transposition in ein anderes deiktisches Referenzsystem statt. Während in der indirekten Rede aber umgangssprachliche Ausdrücke getilgt werden, bleiben sie in der erlebten Rede erhalten. Wenn in (19.6) die erlebte Rede etwas salopp mit also der Bertrand... beginnt, so darf dies als zusätzliches Indiz für eine Redebeziehungsweise Gedankenwiedergabe gelten. Im folgenden Beispiel ist die Gedankenwiedergabe dagegen durch gar nichts markiert. Wir haben sie deshalb durch Kursivdruck hervorgehoben. Der Text ergibt allerdings keinen Sinn, wenn wir nicht annehmen, dass an diesen Stellen die Gedanken von Hanno Buddenbrook wiedergegeben werden: (19.8) Hanno Buddenbrook saß vornübergebeugt und rang unter dem Tische die Hände. Das B, der Buchstabe B war an der Reihe! Gleich würde sein Name ertönen, und er würde aufstehen und nicht eine Zeile wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute, schreckliche Katastrophe, so guter Laune der Ordinarius auch sein mochte ... Die Sekunden dehnten sich martervoll. ‚Buddenbrook’ ... jetzt sagte er ‚Buddenbrook’ ... <?page no="196"?> 184 „Edgar! “ sagte Doktor Mantelsack [...] (Thomas Mann, Die Buddenbrooks, zit. bei Steinberg 1971, p. 173) Was Hanno Buddenbrook glaubt, dass geschehe oder gleich geschehen werde, tritt in Wirklichkeit gar nicht ein. All dies findet nur in seinen Gedanken statt. Dass dabei neben dem Präteritum auch der würde-Konjunktiv erscheint, erklärt sich daraus, dass dieser Handlungen ausdrückt, die aus der Sicht der Vergangenheit in der Zukunft liegen, wofür es im Deutsche kein eigenes Tempus gibt. Dadurch, dass einerseits das deiktische Referenzsystem des Erzählers angewandt, andererseits aber gleichzeitig der Sprechstil der zitierten Person beibehalten wird, wird die Grenze zwischen Erzähler und der von ihm zitierten Person verwischt. In einer zweiten Form der Redewiedergabe, die ebenfalls als typisch literarisch gelten darf, wird dagegen gleichsam die Präsenz des Erzählers ausgeblendet. Dies betrifft die autonome direkte Rede, wobei man wohl besser von autonomen Dialogen sprechen würde. Hier handelt es sich um Dialoge, die nur durch Anführungszeichen als solche gekennzeichnet sind und explizit keiner Person der Geschichte zugeschrieben werden: (19.9) Hulda wollte noch ein paar Einschränkungen machen, aber Effi war schon den nächsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts hin, bis sie mit einem Male verschwunden war. „Effi, das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck, wir spielen Anschlag“, und unter diesen und ähnlichen Vorwürfen eilten die Freundinnen ihr nach […], bis die Verschwundene mit einem Male aus ihrem Versteck hervorbrach und mühelos, weil sie schon im Rücken ihrer Verfolger war, mit „eins, zwei, drei“ den Freiplatz neben der Bank erreichte. „Wo warst du? “ „Hinter den Rhabarberstauden; die haben so große Blätter, noch größer als ein Feigenblatt ...“ „Pfui ...“ „Nein, pfui für euch, weil ihr verspielt habt, Hulda, mit ihren großen Augen, sah wieder nichts, immer ungeschickt.“ (Theodor Fontane, Effi Briest, 2. Kapitel) Obwohl die Gesprächsbeiträge niemandem explizit zugewiesen werden, ist es aus dem Kotext nicht schwer zu erraten, dass der zweite und der vierte Gesprächsbeitrag Effi Briest, die anderen dagegen einer ihrer Freundinnen zuzuordnen sind. In der direkten Rede würden die entsprechenden Sätze mit „Hulda sagte“, „Effi erwiderte“ usw. eingeführt. Diese sind die materielle Spur des Erzählers, die in diesem Fall ausgewischt wird. Man kann die erlebte Rede und den autonomen Dialog als Fiktionssignale verstehen, auf die allerdings nicht unbedingt Verlass ist. Vor allem ist ihr Gebrauch in fiktionalen Texten alles andere als obligatorisch. <?page no="197"?> 185 20 Exkurs zur Gesprächslinguistik Die Gesprächslinguistik ist eigentlich nicht Gegenstand dieses Buches; der Dialog ist aber in Erzähltexten so häufig, dass wir uns zumindest mit der Frage beschäftigen müssen, wie die einzelnen Gesprächszüge in einem Dialog miteinander verknüpft sind. Die minimale Einheit eines Dialogs ist das Nachbarschaftspaar (adjacency pair), das aus einem initiativen und einem reaktiven Sprechakt besteht. Dem initiativen Sprechakt liegt dabei die Absicht zugrunde, eine Reaktion hervorzurufen. Diese Absicht entspricht dem, was Austin den perlokutiven Akt genannt hatte. Wir sprechen deshalb davon, dass die einzelnen Gesprächsbeiträge durch perlokutive Konnektive zusammengehalten werden, eine Art von Konnektiven, die nur im Dialog vorkommt. Im Weiteren werden wir in diesem Kapitel zeigen, wie aus der minimalen Zelle des Nachbarschaftspaars längere Gesprächszüge und auch längere Gespräche entwickelt werden können. 20.1 Nachbarschaftspaare Die Gesprächslinguistik befasst sich fast ausschließlich mit der mündlichen Rede, die nicht den Gegenstand dieses Buches bildet. Dialoge kommen aber auch häufig in Erzähltexten vor, weshalb hier zumindest der Frage nachgangen werden muss, worauf die Kohäsion der Dialoge beruht. Es gibt verschiedene Ansätze in der Gesprächslinguistik. Für unser Problem grundlegend sind zunächst die Arbeiten aus der soziologischen Schule der Ethnomethodologie. Ihr verdanken wir insbesondere den Begriff des adjacency pairs (Sacks/ Schegloff 1973), ein Begriff, den man im Deutschen als Nachbarschaftspaar wiedergeben kann. Ein solches Nachbarschaftspaar besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Sprechakten zweier Sprecherinnen oder Sprecher, wobei der erste Teil die Natur des zweiten mitbestimmt. Typische Beispiele für Nachbarschaftspaare sind Frage und Antwort oder Gruß und Gegengruß. Wir werden in Anlehnung an die Genfer Schule (cf. Kerbrat-Orecchioni 1990-94, I, 236) den ersten Sprechakt initiativ und den zweiten reaktiv nennen 63 . Initiative Sprechakte werden in einer Konversation grundsätzlich mit der Absicht produziert, eine Reaktion hervorzurufen. So erwartet man auf eine Frage eine Antwort, auf einen Gruß einen Gegengruß usw. Dabei kann diese Reaktion freilich auch ausbleiben, weil jemand den initiativen Akt missverstanden hat oder ganz einfach das Gespräch verweigert. Man hat weiter vorgeschlagen, zwei Arten von Reaktionen zu unterscheiden, eine bevorzugte und eine nicht bevorzugte (dispreferred, cf. Levinson 1983, 307s., 332-344; Schegloff 2007, 13-27). Stephen Levinson nennt die nicht bevorzugte Reaktion auch markiert, weil sie auf Grund der Tatsache, dass sie zu einer Verletzung des positiven Gesichts der Sprecherin oder des Sprechers 63 In der germanistischen Dialoggrammatik (cf. Anm. 2) verwendet man eher initial statt initiativ, während Johannes Schwitalla (1979) die etwas umständlichen Ausdrücke initiierend und respondierend vorgeschlagen hat. <?page no="198"?> 186 führen kann, nach Höflichkeitsstrategien wie Abschwächungen oder Begründungen verlangt. Einen Schritt weiter gegangen ist Franz Hundsnurscher (1980), als er vorschlug, der sehr empirischen Konversationsanalyse eine theoretisch fundierte Dialoggrammatik entgegenzusetzen 64 . Eine solche Trennung wurde außerhalb der Germanistik aber nirgends vollzogen; auch ist diese Dialoggrammatik verhältnismäßig marginal geblieben. Insofern sie auf der Sprechakttheorie aufbaut und sich mit der Verknüpfung der Gesprächsbeiträge befasst, ist sie hier allerdings von zentralem Interesse, auch wenn ihre Verwendung von zumeist konstruierten Beispielen Anlass zu Kritik gibt. In der Gesprächsgrammatik werden denn auch nicht nur zwei, sondern eine ganze Anzahl von Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt und diese über mehrere Züge verfolgt. Dabei ist allerdings zu erwähnen, dass es auch eine Reihe von Sprechakten gibt, die an und für sich keine Reaktion verlangen. Dazu gehören zunächst die deklarativen Sprechakte. Auch Versprechen müssen als solche zu keiner Reaktion von A führen, denn deren Ausführung obliegt S. Was schließlich die positiv expressiven Akte wie danken oder loben betrifft, so scheint die einzig übliche Reaktion die Minimisierung zu sein („Sie sind zu gütig. Das wäre nicht nötig gewesen“). 20.1.1 Kommissive Sprechakte: Vorschläge, Angebote, Einladungen Nach Wilhelm Franke (1990, 15-21) kommen für einen Vorschlag wie den folgenden (20.1) Sollen wir nicht am Wochenende deine Eltern zu uns einladen? die folgenden Reaktionen in Frage: (20.2) a. Gute Idee! Das machen wir. b. Ach nee! Nicht schon wieder. c. Du meinst jetzt Sonntag? d. Wolltest Du nicht Tennis spielen? e. Kann man sich ja mal überlegen. f. Nach dem Krach, den ich neulich mit ihnen hatte? Macht dir wohl Spaß, mich zu ärgern. g. Ich würde lieber mit dir einen gemütlichen Sonntag verbringen. Die ersten beiden Beispiele gehören nach Franke zu den spezifischen Reaktionstypen: (a) bezeichnet er dabei als den positiven und (b) als den negativen Entscheid. Diese entsprechen der bevorzugten und der nicht bevorzugten Reaktion. Bevorzugt ist die Annahme eines Vorschlags, Angebots oder einer Einladung, nicht bevorzugt deren Ablehnung. Die Beispiele (c) bis (f) wären dagegen nicht-spezifische Reaktionstypen und (g) der „gegen-initiative“ Typ. Ich deute diese Fälle zum Teil anders. (f) 64 Einen Überblick findet man nunmehr bei Hindelang ( 5 2010, 99-129). <?page no="199"?> 187 läuft ebenfalls auf einen negativen Bescheid hinaus; dieser wird indirekt vorgetragen, kann daher als eine Variante von (b) gelten. (e) ist dagegen eine ausweichende Antwort; sie kann die Bereitschaft zum Verhandeln signalisieren, aber auch eine höfliche Ablehnung sein. So bleiben noch die Präzisierungsfrage (c), die problematisierende Frage (d) und der „gegen-initiative“ Vorschlag (g). Wir werden uns damit im Kapitel 20.5 in einem anderen Zusammenhang befassen. 20.1.2 Expressive Sprechakte: Tadel, Kritik, Vorwurf Nach Levinson (1983, 336) wäre die bevorzugte Reaktion auf den Tadel (blame) die Ablehnung und die nicht bevorzugte das Zulassen. Dies erstaunt mich sehr; auch Hundsnurscher (1976, 259) scheint von der gegenteiligen Annahme auszugehen. Er hat zusammen mit Gerd Fritz (1975) eine ausführliche Liste der möglichen Reaktionen auf den Sprechakt des Vorwurfs zusammengestellt, einen Sprechakt, dem die Idee eines Normverstoßes zugrunde liegt. Walther Dieckmann (2005) hat allerdings diese Liste aufgrund seines Korpus auf ganze fünf Fälle zusammengekürzt. Sein Korpus ist rein schriftlich und man dürfte in der gesprochenen Sprache wohl noch andere Reaktionen finden. Auch hier gibt es die Möglichkeit der Nicht-Reaktion, indem man zu einem Vorwurf einfach schweigt. Die übrigen vier Fälle bilden eine Art Kontinuum zwischen dem Bevorzugten und dem Nicht-Bevorzugten. Als bevorzugte Reaktion darf dabei die Annahme des Vorwurfs gelten, die üblicherweise mit einer Entschuldigung einhergeht: (20.3) Ich entschuldige mich hiermit gleich bei Ludwig Jäger für das erfolgte Revanche-Foul. (Habel 1993, zit. bei Dieckmann 2005, 109) Auch wenn jemand um Verständnis beziehungsweise um mildernde Umstände bittet, akzeptiert er den Vorwurf bis zu einem gewissen Grade, so wie dies im französischen Sprichwort „Qui s’excuse, s’accuse“ zum Ausdruck kommt. Das folgende Beispiel beginnt so mit einem Gegenvorwurf (schändliche Lüge) und endet mit einer Entschuldigung... an den Leser: (20.4) Gleich darauf kam Hoffmanns zweytes Heft ans Licht; darin stand nun eine schändliche Lüge von mir, und das verleitete mich, […] mehr Worte zu verlieren, als diese unwürdigen Gegenstände wert sind. — Der Leser wird das gütigst verzeihen. (Knigge 1792, zit. bei Dieckmann 2005, 108) Das Bestreiten eines Vorwurfs darf dagegen als die nicht bevorzugte Handlung gelten. Dabei besteht eine erste Möglichkeit darin, dass man nicht den Vorwurf als solchen, sondern seine Berechtigung bestreitet: (20.5) ... es handelt sich um nichts Persönliches, es betrifft die große Angelegenheit eines ganzen Volkes, und da wäre großmütige Zurückhaltung unzeitig, ja frevelhaft. (Börne 1936-37, zit. bei Dieckmann 2005, 107) Die zweite und wohl stärkste Form des Abstreitens besteht darin, dass man den Inhalt des Vorwurfs in Abrede stellt: <?page no="200"?> 188 (20.6) In meinem Buch gibt es nicht ein einziges Zitat, das nicht Wort für Wort mit meinen Informanten abgestimmt wäre. (Schwarzer 1993, zit. bei Dieckmann 2005, 106) 20.1.3 Direktive Sprechakte: Befehlen, Anordnen, Bitten Bei direktiven Sprechakten besteht kein Zweifel, dass die Ausführung des Aktes die bevorzugte und die Weigerung, ihn auszuführen, die nicht bevorzugte Reaktion ist. Etwas anderes ist es freilich, wenn man jemanden um etwas bittet. In diesem Fall wird man bevorzugen, dass die Bitte gewährt, und nicht, dass sie abschlägig beschieden wird (cf. Hundsnurscher 1976, 259). 20.1.4 Frage Die Frage ist zwar ebenfalls ein direktiver Sprechakt, soll aber getrennt behandelt werden, da sie ihre spezifischen Eigenschaften hat. Nach Levinson (1983, 336) ist die bevorzugte Reaktion die erwartete Antwort und die nicht bevorzugte eine unerwartete oder eine Nicht-Antwort. Nach der Klassifikation von Yang (2003) dürfen wohl die folgenden Reaktionen zu den nicht bevorzugten Antworten gezählt werden: • das Passen: Weiß ich nicht. Bin ich überfragt. • die Antwortverweigerung: Dazu will ich mich nicht äußern. • die Zurückweisung: Das sieht man doch. So fragt man doch nicht. • die ausweichende Antwort: Was hast du gekauft? — Etwas. 20.1.5 Assertive Sprechakte Was die assertiven Sprechakte betrifft, so ist klar, dass der Widerspruch die nicht bevorzugte Reaktion ist (cf. Moeschler 1982, Spranz-Fogasy 1986, Kohnen 1987): (20.7) GR: ja des gabs schon antiquarisch mensch BE: quatsch des’s völlich neu des hat die grade vorgestellt (zit. bei Schwitalla 1995, 177; Transkription vereinfacht) Als bevorzugte Reaktion kann man dagegen die Zustimmung betrachten, so wie sie sich in einem positiv axiologischen Akt äußert. Im folgenden Beispiel stellt B eine Frage, auf die C antwortet, worauf B, A und C diese Antwort positiv beurteilen: (20.8) B: sagen Sie müssen Sie denn unbedingt n fotoapparat mitnehmen? C: ich würd schon einen mitnehmen B: na ja schön is es natürlich <?page no="201"?> 189 A: ich mein es ist natürlich 65 schön C: schön is es machen Sie dias? A: ja das is natürlich ganz schön (nach Brinker/ Sager 3 2001, 75s.) Auffällig, für eine spontane Konversation aber nicht ungewöhnlich ist es, dass die Frage „Machen Sie Dias? “ in der zweiten Intervention von C, eigentlich ein neuer initiativer Sprechakt, von niemandem aufgenommen wird. A wiederholt vielmehr nochmals seine Bewertung. Solche positiven Bewertungen sind aber eher selten. Die minimale Anforderung ist in diesem Fall, dass die Gesprächspartnerinnen und -partner die Aussage zur Kenntnis nehmen (cf. Linke et al. 5 2004, 304-306). Man spricht in diesem Fall von einem Hörer-Feedback 66 . Dazu dienen Ausdrücke wie mhm, ja, eben, soso usw. Das Feedback kann auch nonverbal erfolgen. So genügt im direkten Gespräch ein Blickkontakt, ein mimischer Ausdruck, ein Nicken oder ein Lachen, um Aufmerksamkeit zu signalisieren. Dieses Hörer-Feedback — sowohl in verbaler wie nichtverbaler Form — ist nicht als eigenständiger Gesprächsbeitrag zu betrachten. 20.1.6 Axiologische Sprechakte Auch bei axiologischen Sprechakten darf nach Levinson (1983, 336) die Zustimmung als bevorzugter und der Widerspruch als nicht bevorzugter Sprechakt gelten. 20.2 Mehrstufige Gespräche Das Konzept der Nachbarschaftspaare ist allerdings nicht unumstritten. In der Dialoggrammatik begnügt man sich nicht mit dem zweiten Zug, sondern versucht auch Aussagen über den dritten und sogar den vierten Zug zu machen. Eine Reihe von Autoren hat auch die Meinung vertreten, der Aufbau der Gesprächsbeiträge sei nicht zwei-, sondern dreigliedrig (cf. Gruber 2001, 1231s.). Schon Sinclair und Coulthard (1975) haben in ihrer Studie zum schulischen Dialog drei Schritte unterschieden, nämlich • den Eröffnungsschritt (opening), bei dem die Lehrperson eine Frage stellt, • den Antwort-Schritt (answering), bei dem eine Schülerin oder ein Schüler eine Antwort gibt, und • den Auswertungsschritt (follow up), bei dem die Lehrperson angibt, ob die Antwort richtig oder falsch war. 65 Die Unterstreichung besagt, dass es sich hier um eine Überschneidung handelt. 66 Im Englischen findet man dafür vor allem den Ausdruck back-channel behavior und im Französischen gibt es den Begriff des régulateur (cf. Gaulmyn 1987). <?page no="202"?> 190 Tatsächlich sind Unterrichts- und Prüfungsfragen eine besondere Art von Fragen (cf. Searle 1971, 103). Üblicherweise stellt man dann eine Frage, wenn man etwas wissen möchte, was man nicht weiß. Bei einer Lehrperson darf dagegen davon ausgegangen werden, dass sie die Antwort weiß, aber wissen möchte, ob die Schülerinnen und Schüler sie auch wissen. Deshalb ist eine Rückmeldung in diesem Fall erforderlich. Ist die Rückmeldung allerdings negativ, so ist der Austausch damit noch nicht abgeschlossen, sondern es wird von der Schülerin oder dem Schüler erwartet, dass sie/ er sich korrigiert, worauf ein weiterer Auswertungsschritt folgt. Solche Gesprächsformen beruhen auf einer Konvention, welche die Schülerinnen und Schüler zunächst verinnerlichen müssen. Einen höchst interessanten Vorschlag hat Wilhelm Franke (1990, 27-30) gemacht, was den dritten Zug auf einen nicht bevorzugten Sprechakt betrifft. Der Sprecher oder die Sprecherin des ersten Zugs hat drei Möglichkeiten zu reagieren: • Er/ sie zieht seinen initiativen Akt zurück, weil er ihn für nicht durchsetzbar hält oder von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist (retraktive Sprechakttypen). • Er/ sie schränkt seinen initiativen Akt ein oder schlägt eine Alternative vor (revidierende Sprechakttypen). • Er/ sie kann insistieren, indem der initiative Akt wiederholt wird (reinitiative Sprechakttypen). Zu beachten ist nun allerdings, dass Franke selber (1990, 22-25) einen Austausch mit zwei Zügen als einen Minimal-Dialog bezeichnet, der durch „dialogexpandierende Sprechakte“ ausgebaut werden kann. Eine analoge Auffassung vertritt heute auch Emanuel Schegloff (2007), der mit Harvey Sacks das Konzept des Nachbarschaftspaares eingeführt hatte. 20.3 Perlokutive Konnektive Wenn wir vom Konzept eines Nachbarschaftspaares mit je einem initiativen und reaktiven Sprechakt ausgehen, so scheint es mir durchaus möglich, dass der reaktive Sprechakt seinerseits wieder als initiativer Sprechakt für ein weiteres Nachbarschaftspaar dient. Um zum Beispiel (19.9) aus Effi Briest zurückzukehren, so haben wir es mit der folgenden Abfolge zu tun: „Wo warst du? “ Frage: initiativ „Hinter den Rhabarberstauden...“ Antwort: reaktiv-initiativ „Pfui...“ Beurteilung: reaktiv-initiativ „Nein, pfui für euch, weil...“ Widerspruch: reaktiv Auf die Frage folgt eine Antwort (erstes Paar), diese Antwort wird zum Gegenstand einer negativen Beurteilung (zweites Paar) und diese Beurteilung <?page no="203"?> 191 bewirkt einen Widerspruch (drittes Paar). Das sind lauter Sprechaktsequenzen der Art, wie wir sie oben beschrieben haben. Im ersten Fall handelt es sich dabei um eine bevorzugte Reaktion, in den folgenden Fällen dagegen um nicht bevorzugte Reaktionen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es auch Sprechakte gibt, die nur reaktiv sein können. Merkwürdigerweise werden zwar in jenen Sprechaktbeschreibungen, die auf Searle/ Vanderveken (1985) aufbauen, annehmen und verweigern unter den kommissiven Sprechakte aufgenommen, nicht aber antworten und erwidern unter den assertiven. Reaktive Sprechakte unterscheiden sich dabei von den anderen Sprechakten nur dadurch, dass sie eine zusätzliche vorbereitende Bedingung dergestalt kennen, dass ein entsprechender initiativer Sprechakt vorausgegangen sein muss. Nach Austin (cf. Kap. 4.1) ist jeder Sprechakt auch ein perlokutiver Akt, der eine gewisse Wirkung auf A ausüben will. Natürlich wird diese Wirkung nicht immer erzielt, weshalb Searle auf diese Komponente verzichtet hat. Wir können nunmehr sagen, dass sich diese Wirkung nur einstellt, wenn der initiative Akt die bevorzugte Reaktion auslöst. Selbst wenn es zu einer nicht bevorzugten Reaktion kommt, so wird diese aber bis zu einem gewissen Grade vom initiativen Zug bestimmt. Es ist deshalb unbestreitbar, dass eine Verbindung zwischen den beiden Teilen eines Nachbarschaftspaares besteht. Diese Verbindung ist nichts anderes als der perlokutive Akt selber, d.h. die Absicht, eine Reaktion hervorzurufen. Der perlokutive Akt ist somit ein pragmatischer Akt, der allerdings nur im Dialog existiert. Pragmatische Akte, die der Verbindung zwischen zwei Sprechakten dienen, nennen wir Konnektive. Wir betrachten deshalb den perlokutiven Akt als ein Konnektiv oder genauer gesagt als das perlokutive Konnektiv. 20.4 Das Modell der Ränge Wir haben in diesem Kapitel mehrfach von Zügen gesprochen und uns damit einer Terminologie bedient, die eigentlich zum Modell der Ränge der Schulen von Birmingham und Genf gehört. Die beiden obersten Ränge haben wir bereits in Kapitel 9.2 kennengelernt. Es handelt sich um die Interaktion, die sich durch die Gesprächssituation definiert, und um die Sequenz, die durch die Thematik begrenzt wird. Für die Konversationsanalyse vor allem wichtig sind jedoch die drei unteren Ränge. Der unterste, fünfte Rang wird vom Sprechakt gebildet, auf dem das ganze Modell aufbaut. Der Zug (engl. move, frz. intervention) folgt auf dem vierten Rang. Ein Zug besteht aus einem dominierenden Sprechakt und, wenn vorhanden, aus den ihm untergeordneten Sprechakten. Dabei können alle Konnektive zur Anwendung kommen, die man auch in monologischen Texten findet. So bestehen in unserem Ausgangstext (19.8) die beiden Züge von Effi Briest aus mehreren Sprechakten: <?page no="204"?> 192 (19.9a) Hinter den Rhabarberstauden; die haben so große Blätter, noch größer als ein Feigenblatt... Dieser erste Zug beginnt mit der Antwort auf die Frage ihrer Freundin. Was darauf folgt, könnte man als kausale Begründung für die Tatsache betrachten, dass es Effi gelang, sich vor ihren Freundinnen zu verstecken. Nur entspricht das nicht der Formulierung dieses Zugs. Es handelt sich bei den untergeordneten Akten vielmehr um jene Art von Sprechakt, die wir als informationserweiternd bezeichnen. (19.9b) Nein, pfui für euch, weil ihr verspielt habt, Hulda, mit ihren großen Augen, sah wieder nichts, immer ungeschickt Der abschließende Zug Effis ist eine Erwiderung auf die Kritik ihrer Freundinnen, der mit Hilfe des Konnektors weil durch zwei Argumente gestützt wird. Die Erwiderung ist ein nicht bevorzugter Akt, weshalb er hier eine Rechtfertigung erfährt. Diese endet mit einem Vorwurf an Hulda, den diese schweigend zu akzeptieren scheint. Auf dem dritten Rang folgt dann der Austausch (engl. exchange, frz. échange). Er besteht aus einer Kette von Zügen, die vom gleichen initiativen Zug ausgelöst wurde. So führt in (19.8) die Frage „Wo warst du? “ zu einer Kette von vier Zügen. Dabei ist der Zug nicht mit dem Gesprächsbeitrag (engl. turn, frz. tour de parole) zu verwechseln, denn ein Sprecher oder eine Sprecherin kann innerhalb des gleichen Gesprächsbeitrags einen Austausch beenden und sofort einen neuen beginnen. Dazu geben wir noch ein zweites Beispiel, das wir der Datenbank Gesprochenes Deutsch beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim entnommen haben: (20.9) S2: und ich zum Beispiel ich ich finde finde es schrecklich wenn ich gehört habe ja gut in in Russland da hat man natürlich keine Trauung vor m Altar mehr da geht man in einen schönen Heiratspalast da bezahlt man na ich weiß nicht wie viel Geld dafür dann hat man bisschen bisschen Musik und dann hält irgend n Bezirksleiter noch ne Ansprache un dann werden pro Tag vierzig Ehen geschlossen alles kühl und sachlich S3: ja das genügt ja auch S2: ja mir nich S3: also mir genügt die Formalität daß es auf m Papier steht schön also gehört mir nun endlich das genügt mir (FR 030) Gesprochene Texte sind weniger explizit als geschriebene, weshalb die Verknüpfungen zwischen den Sprechakten schwieriger zu erkennen sind. Im ersten Zug von S2 muss der dominierende Sprechakt aber die Bewertung sein, es sei schrecklich. So hat es auch S3 verstanden, die oder der dieser Bewertung widerspricht. In der Folge insistieren beide auf ihrer Bewertung. Dabei bleibt hier der Widerspruch beiderseits ohne Begründung. Das führt dazu, dass sich keine Diskussion entwickeln kann. S2 und S3 bestehen einfach rechthaberisch auf ihren Positionen. <?page no="205"?> 193 Kehren wir zum ersten Zug von S2 zurück. Die Bewertung stützt sich auf die Erzählung, wie in der Sowjetunion geheiratet wird. (Der Text stammt von 1966.) Da die Bewertung der dominierende Sprechakt ist, muss die Erzählung diesem untergeordnet sein. Diese besteht aus informationserweiternden Sprechakten, die eine temporale Sequenz bilden. Den Sprechakt, wonach es in Russland keine Trauung vor dem Altar mehr gäbe, verstehe ich dagegen als eine kausale Begründung dafür, dass man in einen Heiratpalast geht. Er ordnet sich deshalb der temporalen Sequenz unter. 20.5 Eingeschobene Expansionen Wenn wir vom Nachbarschaftspaar als Minimal-Dialog ausgehen, so kann dieser in verschiedenen Richtungen expandieren. So kann ein Dialog auch durch eine Nachfrage verlängert werden (cf. Rost-Roth 2006). Im folgenden Beispiel haben wir es mit einer Echofrage zu tun, welche eine vorausgehende Formulierung wieder aufnimmt. (20.10) S: also was meinen 'sie jetzt dazu mit diesem kunstgeschichte mit der bewerbung? D: was ich dazu meine? S: ja D: na dass sie-s auf jeden fall versuchen an der ef u […] (zit. nach Rost-Roth 2006, 188, 252; Transkription vereinfacht) Die Funktion des Nachfragens ist vielfältig. Die Nachfrage kann bei einer Verständigungsschwierigkeit verwendet werden, sie kann der Vergewisserung dienen oder, wie in unserem Beispiel zu vermuten ist, einfach den Zweck haben, Zeit zum Überlegen zu gewinnen. Eine weitere Form der Expansion ist die Präzisierungsfrage. Im folgenden Beispiel beginnt B mit einer Wegbeschreibung und muss dann zweimal auf Präzisierungsfragen von A antworten, bevor sie ihre Beschreibung zu Ende führen kann: (20.11) B: ... fahren Sie auf der großen Straße geradeaus durch . bis sie linkerhand, etwa in Mitte der Häuserzeile, die Sie dann sehen, den Stüssgen- Markt sehen. Da wird wahrscheinlich heute Abend um sechs schon das große S leuchten A: Bis Stüssgen B: Ja, Stüssgen A: Öh, das ist auf der linken Seite <?page no="206"?> 194 B: Ja, links, ja. Rechts is ja unbebaut, da is das (A: Ach so! 67 ) da is eine Kiesgrube und eben, öh (A: Ja 67 ) sons nix, ne. Un bei S können Sie einen kleinen schmalen Weg reinfahren un dort parken (zit. bei Brons-Albert 1984, 132) Es handelt sich hier um zwei Austausche, die gleichsam in einen übergeordneten Austausch eingefügt werden. Emanuel Schegloff (2007) spricht in solchen Fällen von einer insert-expansion und Jacques Moeschler (1985, 84) von einem échange enchâssé, vertritt aber gleichzeitig die Meinung, dass im folgenden Beispiel der eingefügte Austausch B1-A2 die Vorbedingung für die Antwort B2 sei: (20.12) A1: Wie spät ist es? B1: Haben sie keine Uhr? A2: Nein B2: Es ist Mittag A3: Danke Dieser Fall unterscheidet sich jedoch vom vorausgehenden. Es handelt sich hier um keine Präzisierungsfrage, sondern um eine problematisierende Frage. A1 stellt die Frage nach der Urzeit ohne die in solchen Fällen angezeigten Höflichkeitsbezeugungen. Die perlokutive Natur der initiativen Akte bringt es mit sich, dass der Sprecher oder die Sprecherin des initiativen Aktes immer eine gewisse Kontrolle über das Gespräch ausübt. Dies will B offensichtlich nicht akzeptieren und gewinnt vorübergehend mit der problematisierenden Frage die Kontrolle über das Gespräch zurück. Dies wird im Fall von Frankes „gegen-initiativen“ Sprechakts noch deutlicher. Indem ich auf einen Vorschlag mit einem Gegenvorschlag antworte, übernehme ich die Initiative und blocke diejenige meiner Gesprächspartnerin oder meines Gesprächspartners ab. 20.6 Vorankündigungen In einer freien Diskussion ist das Recht, einen initialen Sprechakt zu realisieren, grundsätzlich verhandelbar. Diesem Zwecke dient die Vorankündigung von Sprechhandlungen, wie man sie gelegentlich im Dialog findet. So kann einer Frage oder einer Bitte ein Satz wie „Darf ich Sie etwas fragen? “ oder „Ich habe eine große Bitte“ vorausgehen. Roulet et al. (1985, 87) und Kerbrat- Orecchioni (1990-1994, II, 215s.) betrachten dies als eine Höflichkeitsstrategie. Dafür spricht, dass Fragen und Bitten zu den face threatening acts (cf. Kap. 5.3) gehören. Wir würden aber lieber von einer Verhandlungsstrategie sprechen, denn man kann auch einen Witz mit „Kennst du schon den neusten“oder ein Nachricht in der folgender Weise ankündigen: 67 Es handelt sich hier um Hörer-Feedbacks. Im Gegensatz zu unserer Textvorlage haben wir ihnen deshalb nicht die Form von eigenen Gesprächsbeiträgen gegeben. <?page no="207"?> 195 (20.13) A: Didju hear the terrible news? B: No. What? (zit. bei Schegloff 2007, 40) Das Recht, jemandem um etwas zu bitten oder einen Witz erzählen zu dürfen, ist verhandelbar und solche Ankündigungen dienen dazu, das Wohlwollen oder die Neugierde einer Person zu wecken. Auch Verkaufsgespräche beginnen nicht mit einer eigentlichen Begrüßungssequenz wie andere Gesprächsarten, sondern mit einer einfachen Vorankündigung. Hundsnurscher/ Franke (1985) haben dies für das Deutsche untersucht und Guy Aston (1995) im Rahmen seines Projekts PIXI für das Englische und Italienische. Im Verkaufsgespräch signalisiert entweder der Käufer/ die Käuferin oder aber der Verkäufer/ die Verkäuferin seine/ ihre Gesprächsbereitschaft, wobei diese Einleitung bestenfalls noch von der anderen Partei erwidert wird (z.B. Can I help you? — Yes oder Senti! — Dica! ). Ein besonders interessanter Fall ist sodann jene Einleitung, die Schegloff (1980; 2007, 44-48) preliminary of preliminary oder pre-pre genannt hat. Es geht um den Fall, wo dem dominierenden Akt ein längere sachverhaltsklärende Sequenz vorausgeht, und deshalb die Natur des dominierenden Akts und damit der Zweck der gesamten Rede im Voraus angekündigt wird, um sich das Wohlwollen von A zu erhalten. Wir haben dafür ein bezeichnendes Beispiel in der Aufnahme der Fernsehdiskussion zwischen François Mitterrand und Jacques Chirac vor der zweiten Runde der französischen Präsidentenwahlen von 1988 gefunden. Chirac kündigt eine Frage an, verliert aber soviel Zeit mit seinen Präliminarien, dass er sie schließlich noch einmal ankündigt und begründet, bevor er sie als etwas umständliche Alternativfrage formuliert: (20.14) alors je voudrais simplement poser une question - moi j’ai fait voter des lois - pour la sécurité mais je m’imagine que nous y viendrons tout à l’heure - et contre - l’immigration - et notamment l’immigration clandestine - en particulier une loi très importante celle du 9 septembre 86 relative aux conditions d’entrée et de séjour des étrangers en France - naturellement les socialistes ont voté contre - l’ont traitée de loi scélérate - et je crois que vous aviez quelques observations - sur cette loi - elle est pourtant indispensable - si l’on veut maintenir le cadre dans ce domaine - alors ma question - est la suivante - les Français y seront sensibles - est-ce que votre intention est de poursuivre ma politique dans ce domaine et notamment de maintenir la loi du 9 septembre 86 - ou au contraire votre intention est-elle de changer et notamment de faire abroger dans l’hypothèse - dans l’hypothèse où vous seriez élu 20.7 Sequenz oder Hierarchie? Diejenige Gesprächsperson, die mit ihrem initiativen Akt den Austausch auslöst, übt auf diesen eine gewisse Kontrolle aus. Dabei kommt in asymmetrischen, institutionellen Dialogen das Recht, Fragen zu stellen, einer bestimmten Person zu, nämlich im schulischen Dialog der Lehrperson, im Verhör der <?page no="208"?> 196 oder dem Verhörenden, im Interview der Interviewerin oder dem Interviewer usw. In symmetrischen Dialogen unter Gleichberechtigten ist dieses Recht dagegen, wie wir eben gesehen haben, verhandelbar und kann auch zu Konfliktsituationen wie Überschneidungen oder Unterbrechungen führen. Bedeutet dies, dass Gespräche eine hierarchische Struktur haben? Ich würde meinen, dass auch das perlokutive Konnektiv ein Konnektiv ist, das die verschiedenen Gesprächsbeiträge einander hierarchisch unterordnet. Dabei bildet jeder Austausch eine neue Hierarchie, wobei die Verbindung zu einer größeren Einheit einzig durch ein gemeinsames Thema gewährleistet wird. Gegen diese Annahme mag sprechen, dass sich im literarischen Dialog die einzelnen Gesprächsbeiträge durchaus in die chronologische Abfolge der Ereignisse einordnen. Wir haben es in diesem Fall aber wohl mit der Sequenzierung einer Struktur zu tun, die in ihrem Wesen eigentlich hierarchisch ist. <?page no="209"?> 197 21 Ergänzende Informationen Wir befassen uns nunmehr mit den komplementären Sprechakten und zunächst mit jenen, die Brandt und Rosengren sachverhaltsklärend genannt haben. Durch sie wird ein Text in einen Kontext gestellt. So verlangte schon die antike Rhetorik, dass in einer politischen oder Gerichtsrede ein erzählender Teiltext der Argumentation vorangehe. Dies erlaubt dem Redner oder der Rednerin, eine eigene Deutung des Vorgefallenen zu geben. Solche Darstellungen können aber auch manipulatorisch sein. Diesem Problem werden wir anhand von Goebbels’ Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 nachgehen. Sachverhaltsklärungen kommen in verschiedenen Ausprägungen auch in Erzähltexten vor. Nur ist dieser Begriff nicht mehr angemessen, wenn es sich um fiktionale Texte handelt. Wir bevorzugen deshalb von nun an den Überbegriff informationserweiternd und betrachten die sachverhaltsklärenden Sprechakte als eine Unterkategorie davon. 21.1 Komplementäre Sprechakte Die Kategorie der sachverhaltsklärenden Sprechakte, wie sie Brandt und Rosengren (1992) verstehen, haben wir bereits im Kapitel 10 eingeführt und dort und im Folgenden mehrere Beispiele dafür gegeben. Es handelte sich dabei um Einzelsätze (Beispiele 10.2, 10.3 und 13.9), um zwei Sätze, die mit dem Konnektor gleichzeitig verbunden sind (Beispiel 10.6), und um temporale Sequenzen bestehend aus zwei (Beispiel 13.9) oder mehreren Sätzen (Beispiele 10.6 und 20.14). Wolfgang Motsch (1996, 24) möchte in diesem Fall jedoch eine Unterscheidung vornehmen. Er hält die sachverhaltsklärenden Sprechakte für subsidiär, ohne dass die Gründe dafür sehr klar wären. Dagegen versteht er jene Verweise, durch die häufig Geschäftsbriefe eingeleitet werden, als komplementär. Ein Beispiel dafür ist: (21.1) Wir nehmen Bezug auf unser Telefongespräch von heute Morgen Er spricht in diesem Fall von themamarkierenden Sprechakten. Dieser Name scheint uns eher unglücklich, denn der Begriff Thema hat in der Linguistik eine technische Bedeutung (in Opposition zu Rhema), die auf diesen Fall nicht zutrifft. Außerdem widerspricht dieses Vorgehen unserer Taktik, die darin besteht, möglichst allgemeine Kategorien zu bilden und diese dann in Unterkategorien aufzuteilen. In diesem Sinne betrachten wir die sachverhaltsklärenden Sprechakte sogar als eine Unterklasse der allgemeineren Klasse der informationserweiternden Sprechakte. Es ist vor allem die Untersuchung von Erzähltexten, die uns dazu gebracht hat, diese Kategorie zu erweitern. In gleicher Weise scheint uns die Bezeichnung derjenigen Sprechakte, die Brandt und Rosengren kooperationssichernd nennen, zu eng, da sie den Erfolg dieser Art von Sprechakten gleich- <?page no="210"?> 198 sam voraussetzt. Wir werden stattdessen von emotionsunterstützenden Sprechakten sprechen. Mit den informationserweiternden und den emotionsunterstützenden Sprechakten glauben wir die ganze Kategorie der komplementären Sprechakte abdecken zu können. Sie sind leicht dadurch zu unterscheiden, dass die ersteren, wie schon ihr Name sagt, informativ, d.h. assertiv sind, während Gefühle sprachlich nur durch expressive und axiologische Sprechakte vermittelt werden können. Komplementäre Konnektive sind aber solche, welche untergeordnete Sprechakte mit dem eigentlichen Kern des Textes, d.h. mit dem übergeordneten Teiltext verbinden. 21.2 Sachverhalte klären Wir beginnen mit der Unterkategorie der sachverhaltsklärenden Akte. Als solche verstehen wir Sprechakte, deren Funktion darin besteht, einen Text in einen Kontext zu stellen. Die Empfängerinnen und Empfänger erhalten dadurch Informationen, die für das Verständnis des eigentlichen Textes wichtig sind. Deshalb gehen solche Sprechakte sinnvollerweise dem übergeordneten Teiltext voraus. Schon die antike Rhetorik empfahl für politische und Gerichtsreden eine Disposition, in der eine Erzählung der Beweisführung vorausgeht. Noch heute ist diese Abfolge in politischen Reden üblich, auch wenn die Grenzen nicht mehr so klar gezogen werden. Einen ähnlichen Aufbau zeigen auch Gerichtsbeschlüsse in der Schweiz und in romanischen Ländern, für welche die Abfolge Sachverhalt — Erwägungen — Dispositiv gilt. Im kurzgefassten einsätzigen Bundesgerichtsurteil, das wir in Kapitel 10.4 analysiert haben, reduziert sich dabei der Sachverhalt auf einen einfachen Verweis auf ein anderes Dokument: (10.3’) Nach Einsicht in das Schreiben […], worin Ö. die Beschwerde […] zurückzieht In ausführlichen Urteilen steht dagegen an dieser Stelle eine chronologische Darstellung der Vorgeschichte (cf. Beispiel 10.4). Dies sind für uns zwei Varianten, die grundsätzlich die gleiche Funktion ausüben, nämlich diejenige, den Text in einen Kontext zu stellen. Der Sachverhaltsklärung kann somit sowohl ein einzelner Sprechakt wie auch ein ganzer Teiltext dienen. Dabei kann der Teiltext nicht nur aus einer temporalen, sondern auch aus einer enumerativen Sequenz bestehen. Dies möchten wir anhand einer Textsorte zeigen, mit der wir uns noch nicht beschäftigt haben, nämlich der Wetterprognose. Diese bestand traditionellerweise aus zwei Teilen, der allgemeinen Wetterlage und den Prognosen für den folgenden Tag. Heute kommen noch die Prognosen für weitere Tage hinzu, auf die wir hier verzichten können: <?page no="211"?> 199 (21.2) Allgemeine Lage. Ein Höhentief mit Kern über dem Jura bestimmt das Wetter im Schweizer Alpenraum. Die darin enthaltene Polarluft ist zwar kalt und labil geschichtet, aber auch trocken. Prognosen bis Freitagabend. Alpennordseite, Wallis, Nord- und Mittelbünden. Am Vormittag im Osten noch oft bewölkt, vor allem am Alpennordhang und in Graubünden. Gegen Westen hin recht sonnig. Am Nachmittag überall zunehmend sonnig, gegen Abend isolierte Gewitter wahrscheinlich. […] (NZZ, 24.04.09) Wir haben es hier mit zwei Teiltexten zu tun, die beide von einem Titel eingeleitet werden. (Die gesamte Rubrik trägt zudem den Titel „Wetter“.) Wir betrachten dabei die beiden Texte als Spezifizierungen ihrer Titel. In welcher Beziehung stehen jedoch die beiden Teiltexte zueinander? Man könnte versucht sein zu glauben, der Abschnitt über die allgemeine Lage begründe die Prognose. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch der Fall; nur besteht keine direkte logische Verbindung zwischen den beiden Teiltexten. In beiden Fällen handelt es sich um wenig strukturierte enumerative Sequenzen. Dass sich die Darstellung der allgemeinen Lage der Prognose unterordnet, scheint mir kaum bestreitbar, denn wir wollen ja wissen, wie das Wetter wird und nicht wie die allgemeine Wetterlage ist. Wie wir schon in Beispiel (10.6) gesehen haben, können sachverhaltsklärende Sprechakte auch dazu dienen, Argumente einzuführen, die später im übergeordneten Teiltext aufgenommen werden. Unter diesen Umständen gehen wir davon aus, dass es kein argumentatives, sondern ein sachverhaltsklärendes Konnektiv ist, das die Darstellung der allgemeinen Lage der Prognose unterordnet. Was die Kommunikationsabsicht dieses Textes betrifft, so geht es darum, den wahrscheinlichen Verlauf des Wetters vorherzusagen. Vorhersagen bilden eine besondere Kategorie von assertiven Sprechakten. Die Kommunikationsabsicht kommt dabei im Titel „Prognosen bis Freitagabend“ zum Ausdruck. Diesem sprechen wir deshalb die Funktion eines dominierenden Sprechakts zu. 21.3 Sachverhalte manipulieren? Insofern ein sachverhaltsklärender Teiltext auch dazu dienen kann, Argumente, deren man sich später explizit oder implizit bedient, einzuführen, spielt er auch für die Argumentation eine Rolle. Die „Sachverhaltsklärung“ kann dadurch aber auch einen manipulatorischen Charakter annehmen. Fakten lassen sich zwar kaum abstreiten; man kann sie jedoch interpretieren. Die narrative Einleitung einer Rede kann so dem Versuch dienen, die „Interpretationshoheit“ über das Vorgefallene zu gewinnen. Die Gefahr, dass sie zu einer sehr einseitigen Darstellung missbraucht wird, ist groß. An der außerordentlichen Generalversammlung vom 27. Februar 2008 sah sich der damalige Verwaltungsratspräsident der UBS, Marcel Ospel, gezwungen zu erklären, wieso seine Bank in Turbulenzen geraten war. Er benutzte dazu eine meteorologische Metapher, indem er von einem Sturm sprach, „der <?page no="212"?> 200 über die Finanzmärkte gerast ist“ 68 . So wie es bei einem Sturm keine Verantwortlichen gibt, so stellte er zu Beginn seines Rechenschaftsberichts den Börsenkrach als eine Art Naturereignis dar, für das es keine Verantwortlichen gibt und das unerwartet über die Menschheit hereingebrochen ist: (21.3) 1. Im Lauf des letzten Jahres kam es auf wichtigen Wertschriftenmärkten in den USA zu einem ebenso unerwarteten wie heftigen Zusammenbruch. 2. Extreme Kursverluste bei zuvor hoch bewerteten verbrieften Krediten und das rasante Versiegen der Liquidität auf dem Markt zogen die Kreditmärkte in der Folge weltweit in Mitleidenschaft. 3. Die Marktrisiken veränderten sich in kürzester Zeit in einem horrenden, in diesem Ausmaß niemals zu erwartenden Tempo. […] Dieser unpersönliche Stil ist nicht neutral. Börsenereignisse sind keine Naturerscheinungen, sondern werden von Menschen gemacht. Zu beachten ist auch das zweimalige unerwartet beziehungsweise niemals zu erwartend. Tatsächlich trafen die Ereignisse gewisse Konkurrenten weit weniger unvorbereitet. Die sachverhaltsklärenden Sprechakte können so zu sachverhaltsmanipulierenden Akten werden. 21.4 Goebbels’ Sportpalastrede Wie sehr der Kontext, der durch den narrativen Teil geschaffen wird, für die Aufnahme einer Rede ausschlaggebend ist, wollen wir anhand der Sportpalastrede von Joseph Goebbels vom 18. Februar 1943 69 aufzeigen. Jens Kegel (2006) hat ihr zwar einen manipulatorischen Charakter abgesprochen, doch vermag ich diese Ansicht nicht zu teilen. Es stimmt sicherlich, dass der Reichspropagandaminister darin in sehr geschickter Weise den Erwartungen seines Publikums entsprochen hat, aber ist das nicht gerade die Voraussetzung für eine geglückte Manipulation? Aus dieser Rede berühmt geworden ist eigentlich nur die eine Stelle: (21.4) Die Engländer behaupten, das deutsche Volk wehrt sich gegen die totalen Kriegsmaßnahmen der Regierung. Es will nicht den totalen Krieg, sagen die Engländer, sondern die Kapitulation. (Zwischenrufe) Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? (Großer Applaus) Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? (Applaus) Dies war die vierte von zehn Fragen, die Goebbels gegen Ende seiner Rede an die Anwesenden richtete. Diesen Fragen ging eine eineinhalbstündige Hetz- 68 Den Text findet man unter http: / / www.ubs.com/ 1/ g/ investors/ egm/ speeches.html. Letzte Konsultation: 17/ 12/ 2010. - Ich verdanke diesen Hinweis Andrea Rocci. 69 Die Audioaufnahmen von Goebbels’ Sportpalastreden vom 30. Januar und 18. Februar 1943 wurden unter http: / / www.nationalsozialismus.de/ documente abhört, wo zurzeit nur noch der Text der Rede vom 18. Februar zugänglich ist. Die Audioaufnahme dieser Rede findet man aber weiterhin unter http: / / www.archive.org/ details/ Joseph Goebbels-Sportpalastrede. Letzte Konsultation: 17/ 12/ 2010. <?page no="213"?> 201 rede voraus, in der er zunächst die Gefahr des Bolschewismus und des mit ihm angeblich verbündeten Judentums beschwor. Um diese schreckliche Gefahr abzuwenden, brauche es deshalb die totale Kriegsanstrengung des deutschen Volkes. Die Rede bestand bis hierher nicht nur aus narrativen, sondern auch aus argumentativen Teilen mit den entsprechenden Folgerungen. Vor der Peroratio fügte dann Goebbels aber das ein, was man im schulischen Bereich einen Test nennen würde. Die Antworten auf die zehn Fragen hatte er bereits in der vorangehenden Rede gegeben. Hier hatten die Anwesenden einzig zu beweisen, dass sie folgsame Schülerinnen und Schüler waren. Zum unmittelbaren Kontext der Rede kommt aber noch der mittelbare. Tatsächlich war das Thema des totalen Kriegs alles andere als neu. Kegel (2006, 73) sagt dazu: „Goebbels selbst benutzte die Rede an diesem Tag, um die von ihm schon seit Monaten in der Presse verbreiteten Ansichten zum totalen Krieg vorzutragen.“ In seiner Rede stellt er den Sachverhalt allerdings so dar, als würde es sich dabei um den Ruf des einmütigen deutschen Volkes handeln: (21.5) Man frage landauf, landab das deutsche Volk; und man wird nur die eine Antwort erhalten: Das Radikalste ist heute gerade radikal, und das Totalste ist heute gerade total genug, um zum Siege zu führen. Darum ist die totale Kriegführung eine Sache des ganzen deutschen Volkes. Niemand kann sich auch nur mit einem Schein von Berechtigung an ihren Forderungen vorbeidrücken. Als ich in meiner Rede vom 30. Januar von dieser Stelle aus den totalen Krieg proklamierte, schwollen mir aus den um mich versammelten Menschenmassen Orkane der Zustimmung zu. In der erwähnten Rede vom 30. Januar, die er zum zehnten Jahrestag der Machtergreifung gehalten hatte, stellte er die Forderung eines totalen Kriegs gleich zweimal als einen Schrei aus den Tiefen des deutschen Volkes dar, wobei er bloß beim zweiten Mal mit Applaus bedacht wurde: (21.6) a. Aus den Breiten und Tiefen unserer Nation dringt der Schrei nach totalster Kriegsanstrengung im weitestem Sinn des Wortes an unsere Ohren. b. In ungezählten Briefen aus allen Schichten unseres Volkes dringt der Schrei nach der totalsten Kriegsanstrengung an das Ohr der Führung. Dabei mag diese an und für sich wenig konkrete Forderung durchaus beliebt gewesen sein. Er interpretiert sie in seiner Rede nämlich so, dass alle Schichten der Bevölkerung zu den Kriegsanstrengungen beitragen müssten und dass es nicht erlaubt sein soll, dass Einzelne ihren Vergnügungen aus der Friedenszeit weiterhin nachgehen dürfen. Wie die Reaktionen des Publikums zeigen, stießen diese letzten Forderungen auf große Zustimmung. Sie scheinen dagegen einigen Nazigrößen weniger gefallen zu haben. Um die Reaktion des Publikums zu verstehen, muss man deshalb den gesamten Kontext nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad in Betracht ziehen. Dazu kommt, dass das Wort total im Nationalsozialismus seine eigene Geschichte hat: Schon 1932 hatte Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reichs“, den totalen Staat, gestützt auf Ernst Jüngers <?page no="214"?> 202 Begriff der totalen Mobilmachung, gefordert (cf. Faye 1972, 49-62). Dazu prangte über der Rednertribüne ein Riesentransparent mit der Aufschrift „Totaler Krieg — kürzester Krieg“, ein Argument, das auch in Goebbels’ Rede auftaucht. Von einer spontanen Reaktion des Publikums kann unter diesen Umständen keine Rede sein. All dies ist ein Teil der Manipulation, die längst vor der Rede des 18. Februars einsetzte. Dabei lässt sich in Einzelheiten auch eine bewusste Täuschung nachweisen. So stellte Goebbels vor den zehn Fragen sein Publikum als einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar. Er zählte zunächst die vertretenen Berufsgruppen auf und folgerte dann: (21.7) Ich kann also mit Fug und Recht sagen: Was hier vor mir sitzt, ist ein Ausschnitt aus dem ganzen Volk und der Heimat. Stimmt es? (großer Applaus) Allerdings Juden sind hier nicht vertreten. (Applaus) Hier geht es um eine bewusste Manipulation, denn am 5. Juni 1943 wird Goebbels selber sagen, dass „am 18. Februar in der Hauptsache die Partei vertreten war“ (Kegel 2006, 84). 21.5 Ergänzende Informationen in Erzähltexten Ein ganz anderer Fall liegt in Erzähltexten sowohl fiktionaler wie faktualer Natur vor. Hier bereitet die Erzählung nicht die Argumentation vor, sondern bildet den eigentlichen Kern der Geschichte, der wiederum durch komplementäre Sprechakte ergänzt werden kann. Deren Funktion ist derjenigen der sachverhaltsklärenden Sprechakte ähnlich. Auch hier geht es darum, Informationen zu geben, die zum besseren Verständnis der eigentlichen Geschichte dienen. Wir haben es aber bei fiktionalen Texten höchstens mit fiktiven Sachverhalten zu tun. Deshalb bevorzugen wir hier den neutralen Begriff der Informationserweiterung. Man könnte nun allerdings versucht sein, auch die Spezifizierungen als Sachverhaltsklärungen oder Informationserweiterungen zu verstehen. Um den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Konnektiven klarzustellen, möge uns ein Ausschnitt aus einer Geschichte Chinas dienen: (21.8) (i) In den chaotischen Bürgerkriegen der 1350er Jahre kämpfte sich Chu Yüan-chang (1328-1498) allmählich nach oben. (ii) Er entstammte einer verarmten Bauernfamilie Mittelchinas und (iii) hatte in seiner Jugend Zuflucht in einem Kloster gesucht. (iv) Dort kam er in Verbindung mit der buddhistischen Sekte „Weißer Lotus“, (v) die mit ihren messianischen Impulsen lokale Aufstände vorangetrieben hatte. (vi) Im Huai-Gebiet setzte sich der frühere Mönch an die Spitze einer zunächst noch kleinen Kampfgruppe und (vii) erwies sich bald als so erfolgreich, (viii) dass er zum Befehlshaber einer größeren Streitmacht wurde und (ix) sich schließlich 1356 in Nanking zum Herrn eines Territoriums machte, das den alten Landschaftsnamen Wu führte; (x) Chu nannte sich selber „Herzog von Wu“. (Herbert Franke/ Rolf Trauzettel, Das chinesische Kaiserreich, Frankfurt/ M., Fischer, 1968, p. 242) <?page no="215"?> 203 Satz (i) ist der dominierende Sprechakt dieses Textes; er fasst die folgende Erzählung zusammen und bildet damit das Niveau 0. Diese Erzählung hat die Form einer temporalen Sequenz. Zu ihr gehören die Sätze (ii) bis (iv), sowie (vi) bis (ix) 70 , die das Niveau -1 bilden. Diese Erzählung spezifiziert die Aussage, wonach Chu sich allmählich nach oben kämpfte. Sie bildet den eigentlichen Kern des gesamten Kapitels und hat damit eine subsidiäre und nicht nur eine komplementäre Funktion. Dabei stehen (vii) und (viii) zusätzlich in einem durch so... dass... markierten kausalen Verhältnis zueinander, so wie dies in einer temporalen Sequenz häufiger vorkommt (cf. Kap. 17.6). Es verbleiben die Sprechakte (v) und (x), die sich nicht in diese temporale Sequenz einfügen: (v) ist eine Analepse und (x) das, was wir eine klärende Ergänzung nennen werden. Solche Sprechakte betrachten wir als informationsergänzend. Sie sind der Erzählung untergeordnet und gehören somit auf eine Ebene -2. Klärende Ergänzungen, die kommentierend ins Geschehen eingreifen, und Analepsen und Prolepsen, die sich nicht in die temporale Sequenz der Erzählung einordnen, sind zwei Arten von informativen Erweiterungen, die für Erzählungen charakteristisch sind. Dazu kommen als dritte Art von Erweiterungen die Beschreibungen, die wir allerdings erst im nächsten Kapitel behandeln werden. 21.6 Klärende Ergänzungen Die Geschichte von Chu Yüan-changs Aufstieg zum Kaiser Chinas, von der in Beispiel (21.8) die Rede war, geht weiter bis zu seiner Einsetzung als Kaiser. Sie endet wie folgt: (21.9) (0) 1368 wurde er in Nanking, seiner Hauptstadt, zum Kaiser erhoben; sein Staat führte den Namen Ming. Auch Ming ist kein Landesname, sondern wie Yüan eine Dynastiebezeichnung mit Sinngehalt (ming = hell, klar). Man hat vermutet, diese Namensgebung hänge damit zusammen, dass der Manichäismus (chinesisch ming-chiao, ‚helle Lehre’) in der Sekte „Weißer Lotos“, der ja auch Chu Yüan-chang zunächst anhing, unterirdisch weitergewirkt habe — eine ingeniöse Hypothese, die freilich die Nachwirkungen des Manichäismus überschätzen dürfte. (op.cit., p. 142s.) Hier haben wir es gleich mit einer Kaskade von klärenden Ergänzungen zu tun. Nur gerade die Assertion, dass Chu 1358 in Nanking zum Kaiser erhoben wurde, gehört noch zur temporalen Sequenz des Niveaus -1. Nicht nur der Satz „sein Staat führte den Namen Ming“, sondern auch der implizite Satz „Nanking war seine Hauptstadt“, der sich aus der Apposition ergibt, gehören bereits auf die Ebene -2. In gleicher Weise geht es weiter. Auf der Ebene -3 wird dann eine (hypothetische) Erklärung des Namens Ming gegeben, die sich vom Manichäismus der Sekte „Weißer Lotus“ herleitet. Dabei bildet der Relativsatz, wonach Chu zunächst dieser Sekte ebenfalls anhing, bereits das Niveau -4. 70 Der Relativsatz in (ix) ist determinativ und zählt deshalb nicht als eigener Sprechakt. <?page no="216"?> 204 Was auf den Gedankenstrich folgt, ist eine konzessive Periode: „Die Hypothese ist ingeniös, überschätzt aber wohl die Nachwirkungen des Manichäismus.“ Daraus ergibt sich die Folgerung, dass die These fragwürdig ist. Diese bleibt zwar unausgedrückt, gehört aber ebenfalls zum Niveau -4, während die beiden Argumente bereits das Niveau -5 bilden. Bis zum Bindestrich sind die Sätze nicht nur durch informationserweiternde Konnektive einander untergeordnet, sondern auch durch die thematische Progression miteinander verknüpft. Das zweimalige Possessivum sein auf Niveau -1 bezieht sich auf er, d.h. auf Chu Yüan-chang. Ming wird auf Niveau -1 rhematisch eingeführt und thematisch auf Niveau -2 wiederaufgenommen. Diese Namengebung ist das Thema auf Niveau -3 und verweist anaphorisch auf den vorangehenden Satz, während das Relativpronomen als Thema auf Niveau -4 sich auf die im übergeordneten Satz rhematisch eingeführte Sekte bezieht. Wir haben es also mit einer sehr ähnlichen Struktur wie in Text (17.6) zu tun, wo es sich allerdings um Spezifizierungen handelte. Wo liegt da der Unterschied? Wir sehen ihn darin, dass es sich in (16.7) um essentielle Teile einer Demonstration handelte, während die klärenden Ergänzungen in (21.9) immer weiter vom eigentlichen Kern der Geschichte, dem Aufstieg von Chu Yüan-chang zum chinesischen Kaiser, wegführen. Nicht selten stehen klärende Ergänzungen deshalb auch in Fußnoten. Klärende Ergänzungen können selbstverständlich nicht nur in Erzähltexten vorkommen. Ein Beispiel dafür haben wir schon früher getroffen: (16.4) Gib mir den Winkelschneider! Das ist das Gerät mit der runden Scheibe Hier handelt es sich wie im Fall des Namens Ming in (21.9) um eine Worterklärung, d.h. um eine Ergänzung mit einer metalinguistischen Funktion. 21.7 Die zeitliche Struktur von Erzählungen Analepse und Prolepse sind dagegen außerhalb von Erzähltexten kaum anzutreffen. Sie stellen Ereignisse dar, die sich zeitlich nicht in die Chronologie des Textes einordnen. Gérard Genette spricht in diesem Fall von Anachronie; für ihn besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einer Unterordnung zu tun haben: Toute anachronie constitue par rapport au récit dans lequel elle s’insère — sur lequel elle se greffe — un récit temporellement second, subordonné au premier… (1972, 90 = 2007, 39) In Erzählungen im Präteritum sind retrospektive, d.h. analeptische Sprechakte häufig. Sie erscheinen dort grundsätzlich im Plusquamperfekt: (21.10) Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückkehr nach Hohen-Cremmen antraten. Es waren glückliche Tage gewesen, vor allem auch darin, dass man nicht unter unbequemer und beinahe unstandesgemäßer Verwandtschaft gelitten hatte. „Für Tante Therese“, so hatte Effi gleich nach <?page no="217"?> 205 der Ankunft gesagt, „müssen wir diesmal inkognito bleiben […] (Theodor Fontane, Effi Briest, Beginn des 4. Kapitels) Fontane macht an dieser Stelle einen Zeitsprung und erzählt dann vom zweiten Satz an, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Es folgt noch eine Reihe von weiteren Plusquamperfekten, bevor Fontane zur Szene am Bahnhof und damit zum Präteritum zurückkehrt. Der erste Satz von (21.3) enthält einen temporalen Nebensatz. Wir haben in Kapitel 6.6 gezeigt, dass temporale Nebensätze eine doppelte Funktion haben können. Der Temporalsatz gibt zunächst einmal den zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen die Aussage „Vetter Dagobert war am Bahnhof“ stimmt. Dabei besteht hier eine klare Unterordnung, denn der umgekehrte Satz, würde nicht viel Sinn machen: (21.10’) ? Als Vetter Dagobert am Bahnhof war, traten die Damen ihre Rückkehr nach Hohen-Cremmen an. Tatsächlich darf man unterstellen, dass Vetter Dagobert am Bahnhof war, weil die Damen abreisten, und nicht etwa, dass die Damen abreisten, weil Vetter Dagobert am Bahnhof war. Trotzdem ist der Temporalsatz nicht nur eine Rahmenangabe, er enthält auch die für die Fortsetzung wichtige Aussage, dass die bewussten Damen nach Hohen-Cremmen zurückkehrten. Wir haben es hier mit einem Fall von zwei gleichzeitigen Handlungen zu tun, zwischen denen noch eine implizite kausale Verbindung besteht. Das folgende Beispiel stammt ebenfalls aus dem vierten Kapitel von Effi Briest; es ist der Beginn des vierten Alineas: (21.11) Ende August war da, der Hochzeitstag — 3. Oktober — rückte näher, und sowohl im Herrenhaus wie in der Pfarrre und Schule war man unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu seiner Fritz- Reuter-Passion, hatte sich’s als etwas besonders „Sinniges“ ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining auftreten zu lassen, natürlich plattdeutsch, während Hulda das Käthchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter von Strahl. Wieder macht Fontane einen Zeitsprung und erzählt dann retrospektiv, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Ich habe dieses Beispiel allerdings vor allem deshalb gewählt, weil darin auch Aussagen vorkommen, die man als proleptisch bezeichnen kann. Prolepsen sind selten und kennen vor allem im Deutschen kein spezifisches Ausdrucksmittel wie das Plusquamperfekt für die Analepse, so dass sie nicht immer leicht zu identifizieren sind. Eindeutig proleptisch erzählt sind die in der Zukunft liegenden Auftritte von Bertha und Hertha, sowie von Hulda und Leutnant Engelbrecht. Als proleptisch kann man auch im ersten Satz die Aussage verstehen, dass der Hochzeitstag näher rückte, denn der Bezugspunkt liegt hier in der Zukunft. Damit verbleiben zwei Aussagen, die mit einem einfachen und miteinander verknüpft sind: „Ende August war da […] und sowohl im Herrenhaus wie in der Pfarrre und Schule war man unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend.“ Hier sind aber offensichtlich die mit und verknüpften Sät- <?page no="218"?> 206 ze nicht gleichwertig. Ende August war da ist inhaltlich nämlich nicht mehr als eine zeitlich Rahmenangabe. Man hätte ebenso gut schreiben können: „Ende August war man sowohl im Herrenhaus wie in der Pfarre unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend.“ Wir haben es hier mit dem gleichen Problem zu tun wie schon im Fall der kausalen Konnektoren in Kapitel 13. Die grammatische Unter- oder Beiordnung eines Satzes braucht kein Abbild der Illokutionshierarchie eines Textes zu sein. <?page no="219"?> 207 22 Beschreiben und bewerten Beschreibungen in Erzählungen zählen ebenfalls zu den informationserweiternden Sprechakten. Sie treten als enumerative Sequenzen auf, die sich durch Ortsangaben und/ oder durch die Themaprogression zusätzlich strukturieren lassen. Eine besonders wichtige Rolle spielen sie im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, wo ihnen die Aufgabe zugeschrieben wird, eine Illusion von Realität zu bewirken. Einzelne beschreibende Sprechakte können aber auch die Form von appositiven Adjektiven annehmen, die Substantive charakterisieren. In diesem Fall gilt es allerdings die Beschreibungen von den Bewertungen zu unterscheiden. Letztere sind emotionsunterstützende Sprechakte, mit denen emotional auf die Leserschaft eingewirkt werden soll. Unsere Beispiele stammen in diesem Kapitel aus der Erzählliteratur und aus Reiseführern, die einen interessanten Fall von Mehrfachadressierung darstellen. 22.1 Die Struktur der Beschreibungen Jean-Michel Adam (1997, 75-80) hat auf den schlechten Ruf der Beschreibungen in der Literaturkritik hingewiesen. Tatsächlich gibt es in diesem Fall keine so strengen Regeln wie bei der Erzählung oder gar bei der Argumentation. Trotzdem hat es Versuche gegeben, den Grundcharakter von Beschreibungen näher zu bestimmen. Nach Egon Werlich (1975, 34-37) käme den beschreibenden Sequenzformen eine räumliche Struktur zu, die sie von der temporalen Struktur erzählender Sequenzen unterscheiden würde. Tatsächlich findet man in der folgenden Ortsbeschreibung ungewöhnlich viele Raumangaben vor: (22.1) Von der Terrasse an der Südseite des Bundeshauses bietet sich eine schöne Aussicht auf die Aare, die Stadt und im Hintergrund das Berner Oberland. Auf dieser Terrasse und im benachbarten Park Kleine Schanze halten sich viele Drogenabhängige auf. (Michelin-Reiseführer Schweiz, Ausgabe 1997, p. 70) Raumangaben sind allerdings nicht die einzige Art, wie man Lokalisierungen sprachlich ausdrücken kann. Weitere Möglichkeiten kommen im folgenden Text über die Klosterkirche Rheinau im gleichen Reiseführer vor: (22.2) Ehemalige Klosterkirche — Unter Beibehaltung des spätgotischen Südturms (16. Jh.) wurde die Kirche im 18. Jh. völlig neugebaut. Sie zeigt eine schlichte Fassade. Um so mehr überrascht die überreiche Barockausstattung edes Inneren*. Fresken schmücken das Langhausgewölbe; die Seitenkapellen mit Emporen und einer Balustrade darüber sind, wie der gigantische Hochaltar, mit einer Überfülle von Gold und Marmor verziert. Schönes Gestühl enthält der mit einem prächtigen schmiedeeisernen Gitter geschlossene Chor; die Orgel stammt von 1715. Der links vom Chor gelegene Raum birgt wertvolle Möbel mit wunderschönen Einlegearbeiten und den Kirchenschatz. (op.cit., p. 201) <?page no="220"?> 208 Halten wir zunächst einmal fest, dass dieser Text den typischen Aufbau eines Eintrags über ein Bauwerk in einem Reiseführer zeigt. Nach dem Titel, welcher das Thema vorgibt, wird zunächst etwas über die Baugeschichte mitgeteilt. Hier umfasst dieser historische Exkurs nur gerade einen Satz; er hat häufig auch die Form einer temporalen Sequenz. Wir gehen davon aus, dass der historische Exkurs als Informationserweiterung sich der räumlichen Beschreibung unterordnet. Diese beginnt regelmäßig mit dem Äußeren, auf welches das Innere folgt. Die Abfolge Äußeres vor Innerem entspricht dabei der üblichen Abfolge eines Besuchs. Was nun die Lokalisierungen betrifft, so erfolgen sie in (22.2) weitgehend durch Verben wie schmücken, verzieren, enthalten, schließen, bergen und links liegen, ferner einmal durch das Adverb darüber. Daneben sind auch gewisse Substantive wie der Südturm, aber auch die Fassade, das Innere, das Langhaus, die Seitenkappellen, die Emporen, der Hochaltar usw. für diejenigen, die sich mit der Architektur von Kirchen auskennen, als implizite Ortsangaben zu verstehen. Mit einem ähnlichen Phänomen haben wir es auch bei den Personenbeschreibungen zu tun, bei denen man nicht anzugeben braucht, wo sich die entsprechenden Körperteile befinden: (22.3) Jetzt werde ich von meinem Paten Schimmelpreester sprechen, einem nicht alltäglichen Manne. Um seine Person zu beschreiben, so war er untersetzt von Gestalt und trug sein frühergrautes und gelichtetes Haar dicht über dem einen Ohr gescheitelt, so dass es fast gänzlich nach einer Seite über den Schädel gestrichen war. Sein rasiertes Gesicht mit der hakenförmigen Nase, den gekniffenen Lippen und den übergroßen, kreisrunden und in Zelluloid gefassten Brillengläsern zeichnete sich noch besonders dadurch aus, dass es über den Augen nackt, das heißt ohne Brauen war, und zeugte im Ganzen von einer scharfen und bitteren Sinnesart […] (Thomas Mann, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, I, 4) Wichtiger noch als die räumliche Struktur einer Beschreibung scheint mir jedoch der thematische Aufbau zu sein, den Jean-Michel Adam und André Petitjean (1989) eingehend untersucht haben. Charakteristisch für Beschreibungen ist die thematische Progression mit abgeleiteten Themen. Mit dieser haben wir es auch in unseren Beispielen (22.2) und (22.3) zu tun. In einem Reiseführer wird das Textthema 71 bereits im Titel des Eintrags angegeben. Nach dem baugeschichtlichen Abriss erscheint als erstes abgeleitetes Thema die Fassade, von der allerdings nur gesagt wird, dass sie schlicht ist. Es folgt als zweites abgeleitetes Thema das Innere, auf dessen überreiche Barockausstattung zunächst generell und dann im Einzelnen hingewiesen wird, wobei als weitere Themen, die vom Thema des Inneren ihrerseits abgeleitet sind, das Langhausgewölbe, die Emporen, der Hochaltar, das Gestühl, die Orgel und schließlich der links vom Chor liegende Raum vorkommen. 71 Ähnlich wie in einem Wörterbuch oder einer Enzyklopädie kann man sowohl den Reiseführer als Ganzes wie auch die einzelnen Einträge als Text verstehen. <?page no="221"?> 209 In der Personenbeschreibung von Thomas Mann (21.3) ist das Thema der Pate Schimmelpreester, von dem wir zunächst erfahren, dass er ein nicht alltäglicher Mann von eher untersetzter Gestalt war. Die abgeleiteten Themen sind sodann sein Haar und sein Gesicht, dessen Beschreibung praktisch den Rest des Textes bildet und mit einem moralischen Urteil endet. In diese Beschreibung eingelassen sind aber wiederum drei durch mit eingeführte, abgeleitete Themen, d.h. die Nase, die Lippen und die Brillengläser, die ebenfalls charakterisiert werden. Eine ähnliche und doch komplexere Form zeigt die folgende Personen- beschreibung von Friedrich Dürrenmatt: (22.4) Professor Adolf Winter gab ihm den Billardstock. Er war ein sechzigjähriger, schwerer, doch eher kleingewachsener Mann, mit leuchtender Glatze, goldener randloser Brille, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen, den er würdevoll zu streichen pflegte, stets sorgfältig, nicht unraffiniert konservativ gekleidet, einer der humanistischen Schwadroneure, die unsere Universität bevölkern, Mitglied des PEN -Clubs und der Usteri- Stiftung, Autor des zweibändigen Schmökers‚ ‚Carl Spitteler und Hesiod oder Schweiz und Hellas. Ein Vergleich’, Artemis 1940 (als Jurist geht mir seit jeher die philosophische Fakultät auf die Nerven). (Friedrich Dürrenmatt, Justiz, Zürich: Diogenes, 2 1985, p. 19) Das Textthema ist hier Professor Adolf Winter, der im ersten Satz noch als handelnde Person auftritt. Dieser wird dann zum Thema der Beschreibung in einem Satz. Dabei wird sein Aussehen (sechzigjährig, schwerer und kleingewachsen) und seine Kleidung beschrieben, bevor er noch als humanistischer Schwadroneur, als Mitglied angesehener Organisationen und als Autor eines zweibändigen Schmökers charakterisiert wird. All dies hat die Form einer enumerativen Sequenz. Als abgeleitete Themen kommen einzig — wiederum durch mit eingeleitet — die Glatze, die Brille und der Vollbart vor, die den Gegenstand von Charakterisierungen bilden, die allerdings nicht mehr rein informativ sind. Deshalb endet wohl dieser Abschnitt zwischen Klammern mit einem Urteil des Ich-Erzählers, das ich als nicht in den Text integrierten Kommentar betrachte. Beschreibungen sind wenig strukturierte Texte; es ist nur die thematische Progression, die solche Texte zusammenhält. Ein zusätzliches Mittel, sie zu strukturieren, sind Ortsangaben. Davon abgesehen liegt die Struktur einer enumerativen Sequenz vor. Das bedeutet, dass Beschreibungen ähnlich lose miteinander verbunden wären wie die Paragraphen eines Gesetzbuchs, wenn nicht die thematische Progression und allfällige Ortsangaben als weitere strukturierende Elemente dazukämen. 22.2 Literarische Beschreibungen Den Beschreibungen kommt in Erzählungen die Funktion von informationserweiternden Sprechakten zu, die sich dem Erzählstrang unterordnen. Adam/ Petitjean (1989) haben im ersten Teil ihres Buchs über den beschrei- <?page no="222"?> 210 benden Text gezeigt, dass sie in literarischen Erzählungen im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Funktionen erfüllten. Auffällig ist dabei das Gewicht, das ihnen in der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts zukommt. Dabei gehen die Beschreibungen häufig über das hinaus, was zum Textverständnis nötig wäre. Nach Roland Barthes (1968) kommt solchen „überflüssigen“ Details die Aufgabe zu, eine Illusion von Realität zu schaffen. Er verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der referentiellen Illusion. Ein häufig genanntes Merkmal fiktionaler Texte ist es nämlich, dass ihre Sprachzeichen im Unterschied zu den faktualen Texten keinen realen Bezugsgegenstand oder Referenten haben. Im realistischen Roman soll aber die Illusion erweckt werden, dass ein solcher existiert. Dabei kommt den Beschreibungen eine wesentliche Rolle zu. Sie erschaffen gleichsam eine fiktionale Realität. Die Wichtigkeit der Beschreibung im Roman des 19. Jahrhunderts drückt sich in den romanischen Sprachen auch durch die Häufigkeit des Imperfekts aus, das in diesen Sprachen das beschreibende Tempus par excellence ist. Harald Weinrich ( 4 1985, 97s.) meint dazu recht apodiktisch: „Wenn man der Prosa des 18. Jahrhunderts das Passé simple zuordnet, muss man der erzählenden Prosa des 19. Jahrhunderts das Imparfait zuordnen“ 72 . Nach Weinrich würde die Unterscheidung zwischen passé simple und imparfait der „Reliefgebung“ dienen, wobei das passé simple das Tempus des Vordergrunds und das imparfait dasjenige des Hintergrunds wäre. Tatsächlich dient das passé simple primär der Darstellung von Handlungen und das imparfait primär der Beschreibung. Auch wir gehen davon aus, dass die beschreibenden den erzählenden Sprechakten untergeordnet sind und somit so etwas wie den Hintergrund einer Erzählung bilden. Nur sind das nicht die einzigen Funktionen der beiden Tempora. Die Zunahme des imparfaits im Laufe des 19. Jahrhunderts hat so noch weitere Ursachen. Auf der einen Seite entwickeln sich im Französischen des 19. Jahrhunderts neue Verwendungen des imparfaits, das nunmehr auch als narratives Tempus auftreten kann (cf. Muller 1966). Dazu kommt, dass die erlebte Rede zunehmend zu einem wichtigen Stilmittel wird, deren Haupttempus ebenfalls das imparfait ist. Ferner stehen noch bis zur Mitte des Jahrhunderts Beschreibungen häufig gar nicht im Imperfekt, sondern im Präsens. Balzacs Roman „Le Père Goriot“ beginnt beispielsweise mit einer ungefähr zehnseitigen Sequenz, in der die Pension Vauquer als Pariser Institution dargestellt wird. Sie steht fast ausschließlich im Präsens, das hier zusätzlich zur referentiellen Illusion beiträgt. Es folgen zehn weitere Seiten im Imperfekt, die der Beschreibung der Bewohner der Pension im Zeitpunkt, wo die Handlung stattfindet, dienen. Das erste passé simple erscheint dann nach rund zwanzig Seiten, wenn zum ersten Mal von der Titelfigur die Rede ist. 72 Tatsächlich stellt man nicht nur gegenüber dem vorangehenden Jahrhundert, sondern auch im Laufe des 19. Jahrhundert eine statistische Zunahme des Imperfekts fest, wie eine von mir betreute Seminararbeit von Katharina Haguenauer und Katharina Ursprung, sowie die Lizentiatsarbeit von Philipp Kämpf gezeigt haben. <?page no="223"?> 211 Dieser Beginn ist untypisch. Üblicherweise setzt die Handlung sofort ein und die beschreibenden Elemente werden nachgetragen. Außerdem kommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seitenlange Beschreibungen außer Mode. In einem Roman wie L’éducation sentimentale von Gustave Flaubert sind die Beschreibungen völlig in die Handlung eingelassen. Weinrich (ib.) sagt dazu: „Man lese etwa in der […] Education sentimentale nach, wie langsam und spärlich sich eine Art Vordergrundhandlung im Passé simple aus der breiten Zustandsschilderung herauslöst und immer wieder in sie zurückfällt.“ Der Eindruck, es geschähe in diesem Roman sehr wenig, ist allerdings subjektiv. Dazu trägt insbesondere die Tatsache bei, dass die Bestrebungen der Hauptperson, Frédéric Moreau, allesamt zu keinem Ziel führen. Die beschreibenden Elemente sind dabei ganz in die Erzählung integriert. Ähnliches findet man beispielsweise auch bei Arthur Schnitzler: (22.5) (i) Auf der Straße musste er den Pelz öffnen. (ii) Es war plötzlich Tauwetter eingetreten, der Schnee auf dem Fußsteig beinahe weggeschmolzen, und in der Luft wehte ein Hauch des kommenden Frühlings. (iii) Von Fridolins Wohnung in der Josefstadt nahe dem Allgemeinen Krankenhaus, war es kaum eine Viertelstunde in die Schreyvogelgasse; (iv) und so stieg Fridolin bald die schlecht beleuchtete gewundene Treppe des alten Hauses in das zweite Stockwerk hinauf und zog an der Glocke; (v) doch ehe der altväterische Klingelton sich vernehmen ließ, (vi) merkte er, dass die Türe nur angelehnt war; er trat durch den unbeleuchteten Vorraum in das Wohnzimmer und sah sofort, dass er zu spät gekommen war. (vii) Die grün verhängte Petroleumlampe, die von der niederen Decke herabhing, warf einen matten Schein über die Bettdecke, unter der regungslos ein schmaler Körper hingestreckt lag. (viii) Das Antlitz des Toten war überschattet, doch Fridolin kannte es so gut, dass er es in aller Deutlichkeit zu sehen vermeinte - hager, runzlig, hochgestirnt, mit dem weißen, kurzen Vollbart, den auffallend hässlichen weißbehaarten Ohren. (ix) Marianne, die Tochter des Hofrats, saß am Fußende des Bettes mit schlaff herabhängenden Armen, wie in tiefster Ermüdung. (Arthur Schnitzler, Traumnovelle, 2. Kap.) Unser Textausschnitt beginnt in (i) mit einer Handlung. Dieser folgt eine Beschreibung des Wetters in (ii). Dabei kann das plötzliche Tauwetter als Grund dafür verstanden werden, dass Fridolin den Pelz öffnen musste. Diese Kausalität wird aber nicht explizit gemacht; zudem gibt Schnitzler noch weitere Angaben zum Wetter, die in diesem Zusammenhang kaum von Belang sind. Dies sind jene „überflüssigen“ Elemente, die nach Barthes eine Illusion von Realität bewirken sollen. Wie wir schon in Kapitel 10.6 gesagt haben, können Elemente informationserweiternder beziehungsweise sachverhaltsklärender Teiltexte dazu benutzt werden, Aussagen argumentativ oder kausal zu stützen. Dieser Fall liegt auch hier vor. (ii) ist ein informationserweiternder Teiltexte, wobei dem Hinweis auf das Tauwetter die zusätzliche Funktion einer impliziten kausalen Begründung von (i) zukommt. Zwischen (iii) und (iv) wird sodann eine kausale Beziehung durch das und so zumindest angedeutet, aber nicht wirklich explizit gemacht. Gemeint ist, dass Fridolin schnell am Ort war, weil der Weg kurz war. <?page no="224"?> 212 (v) ist eine Analepse, die uns hier nicht weiter zu beschäftigen braucht. (vi) enthält wiederum beschreibende Elemente. Dabei wechselt hier die Erzählperspektive von der Null-Fokalisierung zur internen Fokalisierung. Es ist nicht mehr der allwissende Erzähler, der wie in (ii) sein Wissen beiträgt, sondern es ist eine handelnde Person des Romans, die ihre Wahrnehmungen mitteilt. Die beschreibenden Elemente werden so in die Handlungen der wahrnehmenden Person integriert. Ein Satz wie „er merkte, dass die Türe nur angelehnt war“ mag formal an die indirekte Rede erinnern. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass wir es bei der Redewiedergabe mit fremden Sprechakten zu tun haben, während Wahrnehmungen keine Sprechakte sind. Es geht hier einzig um ein Problem der Erzählperspektive. Dabei sind Beschreibung aus der Perspektive einer Figur des Romans eine literarische Form, die es vor allem erlaubt, Erzählung und Beschreibung miteinander zu verschmelzen. Diese Erzählperspektive wird jedoch nicht durchgehalten, sondern wechselt ständig. Die Beschreibungen in (vii) und (ix) werden wiederum vom allwissenden Erzähler übernommen, während es in (viii) erneut um eine Wahrnehmung der handelnden Person geht, wobei zusätzlich dieser Satz noch eine konzessive Form annimmt. Die Strukturen literarischer Erzählungen sind oft komplex. Hier ging es vor allem darum zu zeigen, wie sehr sich bei Autoren aus Schnitzlers Zeit Handlung und Erzählung gegenseitig durchdringen können. 22.3 Charakterisierungen Es sollte aufgefallen sein, dass die beschreibenden Sprechakte häufig nicht aus einem Verbalsatz, sondern bloß aus einem appositiven Adjektiv bestehen, das ein Substantiv determiniert. Wir haben schon in Kapitel 6.7 darauf hingewiesen, dass appositiv gebrauchte Adjektive wie appositive Relativsätze zu behandeln sind. Ein syntaktisches Gefüge wie „Sein rasiertes Gesicht mit der hakenförmigen Nase, den gekniffenen Lippen und den übergroßen, kreisrunden und in Zelluloid gefassten Brillengläsern“ lösen wir also in nicht weniger als vier Assertionen auf, eine übergeordnete („Sein Gesicht war rasiert“) und drei untergeordnete („Seine Nase war hakenförmig“, „seine Lippen waren gekniffen“ und „seine Brillengläser waren übergroß, kreisrund und in Zelluloid gefasst“). Wenn Dürrenmatts Ich-Erzähler Professor Adolf Winter als „sechzigjährigen, schwereren, doch eher kleingewachsenen Mann, mit leuchtender Glatze, goldener randloser Brille, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen“ darstellt, so haben wir es bis hier mit lauter Adjektiven zu tun, die man als beschreibend bezeichnen kann. Wenn dagegen in der Beschreibung der ehemaligen Klosterkirche Rheinau (22.2) Adjektive wie prächtig, wertvoll, schön und erst recht wunderschön neben schlicht und überreich gebraucht werden, so haben wir es nicht mehr mit Beschreibungen, sondern mit Bewertungen zu tun. Diese stehen oft nebeneinander im gleichen Text, wobei es sich bei den <?page no="225"?> 213 Beschreibungen aber um informationserweiternde und bei den Bewertungen um emotionsunterstützende Sprechakte handelt. Bei diesen geht es nicht nur darum, dass der Verfasser oder die Verfasserin seine/ ihre eigenen Emotionen und Bewertungen mitteilt, sondern auch auf diejenigen des Zielpublikums einzuwirken versucht. Die Unterscheidung zwischen beiden Arten von Adjektiven fällt aber nicht immer leicht. Zunächst geht es bei den emotionsunterstützenden Akten nicht nur um Gefühle, sondern auch um Werte oder mit anderen Worten nicht nur um expressive, sondern auch um axiologische Illokutionen. Catherine Kerbrat-Orecchioni (1980, 83-100) möchte sogar vier Gruppen von Adjektiven unterscheiden: Adjektive objektive subjektive z.B. verheiratet, weiß, leuchtend evaluative affektive z.B. tragisch, traurig, nicht axiologisch axiologisch merkwürdig z.B. groß ~ klein, z.B. gut ~ schlecht, schwer ~ leicht schön ~ hässlich Die Grenze zwischen beiden Arten von komplementären Sprechakten verläuft hier zwischen den Adjektiven, die als nicht axiologisch evaluativ beziehungsweise als axiologisch evaluativ bezeichnet werden. In diesem Sinne betrachten wir schwer und klein(gewachsen) als beschreibend und nicht als bewertend, denn auf der Skala zwischen schwer und leicht beziehungsweise zwischen groß und klein gibt es irgendwo eine Norm des Gewichts und der Größe von Menschen, die eine einigermaßen objektive Beurteilung ermöglicht. Axiologische Bewertungen wie schön und hässlich, gut und schlecht bleiben dagegen in ihrem Wesen ganz subjektiv. Im Gegensatz zu Kerbrat-Orecchioni haben wir in unserem Schema die affektiven Adjektive an den rechten Rand gerückt, da wir sie für die subjektivsten Adjektive halten. Ausdrücke wie der bedauernswerte Mann, der furchterregende Sturm, ein tragisches Unglück, ein fröhliches Fest usw. drücken Gefühle aus, die ein Vorfall bei S hervorruft und die S auf diese Weise auch bei A hervorrufen möchte. Es handelt sich mithin um expressive Sprechakte. Bewertende Begriffe kommen freilich nicht nur als Adjektive vor. Ob wir von einem „schönen Gestühl“ oder von der „Schönheit des Gestühls“ sprechen, macht nichts aus; beide Ausdrücke implizieren, dass „das Gestühl schön ist“. Die wirkliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass es neben den eigentlich axiologischen auch axiologisch konnotierte Begriffe gibt. Dies trifft beispielsweise auf die beiden Substantive Schwadroneur und Schmöker anstelle der neutralen Ausdrücke Redner und Buch im Dürrenmatt-Text (20.4) <?page no="226"?> 214 zu. Durch diese Wortwahl wird Professor Winter in ein negatives Licht gerückt. Wenn sodann im Text über Rheinau von einem gigantischen Hochaltar die Rede ist, so handelt es sich eigentlich um ein nicht axiologisch evaluatives Adjektiv aus dem Umfeld der Opposition groß ~ klein. Man muss sich aber fragen, ob solche superlativische Ausdrücke nicht schon an und für sich eine positive axiologische Konnotation aufweisen. Wenn man den Kotext betrachtet, so fällt dagegen auf, dass in Bezug auf den Altar von einer Überfülle von Gold und Marmor die Rede ist, wobei Überfülle eigentlich axiologisch negativ ist. Man kann sich deshalb fragen, ob gigantisch in diesem Umfeld nicht vielmehr als eine Kritik am barocken Stil zu verstehen ist. Wie dies eine Leserin oder ein Leser interpretiert, hängt von ihrer/ seiner subjektiven Einstellung ab. Man kann im Barock schwelgen oder ihn als überladen ablehnen. Letzteres dürfte die Einstellung des Verfassers oder der Verfasserin dieses Textes sein. Silke Jahr (2000) hat vorgeschlagen für die Emotionalität in der Sprache eine besondere, zusätzliche Ebene anzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Emotionalität anderen Kommunikationsabsichten überlagern kann, wird man nicht umhinkommen, ihr eine Sonderstellung einzuräumen. 22.4 Reiseführer Sowohl in Werbetexten (cf. Kap. 11.2) wie auch in Ratgebern (cf. Kap. 15.3) spielen axiologische Ausdrücke eine zentrale Rolle. Unter den Ratgebertexten nimmt der Reiseführer dabei eine gewisse Sonderstellung ein. Er hat sich als Textsorte zur Zeit des beginnenden Tourismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert aus der älteren Textsorte des Reiseberichts heraus entwickelt. Der Reisebericht war primär ein narrativer Text, der durch die Reiseroute sowohl räumlich wie zeitlich strukturiert wurde 73 . Als Prototypen des modernen Reiseführers dürfen diejenigen von Karl Baedecker (1801-1859) gelten. Er war es, der den berühmten Stern eingeführt hat, mit dem er besonders wichtige Sehenswürdigkeiten auszeichnete (cf. Gugger 2010, 13). Mit den Sternen und anderen Symbolen wurde ein bewertendes und zugleich empfehlendes Element in diese Textsorte eingeführt. So bedeutet etwa im Michelin-Führer der Eintrag (22.6) BASEL *** soviel wie „Basel ist eine Reise wert“. Natürlich findet man auch in Reiseberichten Bewertungen. So schrieb Goethe in seinem Reisetagebuch: (22.7) Überhaupt fällt es auf, was in Toskana gleich die öffentlichen Werke, Wege, Brücken für ein schönes grandioses Ansehen haben. Es ist hier alles zugleich tüchtig und reinlich, Gebrauch und Nutzen mit Anmut sind beab- 73 Lorenza Mondada (1996, 373-407) nennt das entsprechende Kapitel „Le parcours comme mode d’argumentation spatio-textuel“. <?page no="227"?> 215 sichtigt, überall lässt sich eine belebende Sorgfalt bemerken. Der Staat des Papstes hingegen scheint sich nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen will. (Italienische Reise, 25. Oktober 1786, abends) Das sind aber sehr persönliche, subjektive Wertungen, die man in dieser Form kaum in heutigen Reiseführern finden würde. Was man in heutigen Reiseführern dagegen sehr oft findet, das sind axiologische Ausdrücke. Catherine Kerbrat-Orecchioni (2004) hat denn auch die Nähe dieser Textsorte zur Werbung betont. Dass man darin wie in der Werbung fast nur positiv axiologische Ausdrücke findet, erklärt sich allerdings daraus, dass schon die Aufnahme einer Sehenswürdigkeit in einen solchen Führer als Empfehlung zu verstehen ist. Diese axiologischen Ausdrücke sind komplementäre, emotionsunterstützende Sprechakte, die sich der eigentlichen Beschreibung unterordnen. Auch sie haben die Funktion einer Empfehlung, nicht nur die generelle Bewertung durch Sternchen oder andere Symbole. Wir erhalten damit eine merkwürdige Hierarchie, wo sich die Beschreibung in einer Art Sandwichposition befindet. Ihr übergeordnet ist die Empfehlung in Form von Symbolen und ihr untergeordnet die Empfehlung durch axiologische Ausdrücke. Diese letzteren können bis zu einem gewissen Grade auch als Argumente für die generelle Empfehlung verstanden werden. Wir befinden uns demnach erneut vor dem Fall, wo komplementäre Sprechakte indirekt eine argumentative Funktion übernehmen. Als bewertend-empfehlende Textsorte gehört der Reiseführer zu den direktiven Texten. Von diesen haben wir schon in Kapitel 10.6 gesagt, dass sie nur in gewissen Kontexten wirklich direktiv sind. In unserem Fall handelt es sich nur dann um Empfehlungen, wenn der Reiseführer zur Vorbereitung einer Reise dient. Man kann ihn aber auch ohne bestimmte Absicht konsultieren. In diesem Fall tritt die beschreibende Funktion in den Vordergrund und die bewertende in den Hintergrund. Das ist aber noch nicht alles. Der Reiseführer wird häufig auch erst dann konsultiert, wenn man bereits vor dem betreffenden Monument steht und mehr darüber erfahren möchte. In diesem Fall wird er zu einer Art von Gebrauchsanleitung für die Besichtigung, d.h. zu einem Anweisungstext. Tatsächlich gebrauchen denn auch einige Reiseführer häufiger, andere weniger häufig den Stil von Anweisungstexten. Dazu gehört insbesondere der Fall, wo der Reiseführer einem die Reiseroute gleichsam vorschreibt: (22.8) Von Thásos-Stadt fährt man zunächst südwärts über das hübsche und im Sommer gut besuchte Bergdorf Panagía, dessen Ortsbild von schiefergedeckten Häusern mit Balkonen geprägt ist... (Baedeker, Griechische Inseln, 10. Auflage 2009, 401). Hier wird eine Norm gesetzt, wie man die Insel Thasos zu besuchen hat, obwohl man die Rundreise auch in der umgekehrten Richtung antreten könnte. Kirstin Adamzik (1993) hat in diesem Zusammenhang auf Reiseführer aufmerksam gemacht, die den Imperativ der ersten Person Plural gebrauchen: <?page no="228"?> 216 (22.9) Treffen wir uns am Eingang zum Basler Münster (geöffnet 10-18 Uhr) und klettern, möglichst behände, die vielen steilen Stufen empor. (A. Ziehr, Die Schweiz und ihre Städte, 1982, p. 31, zit. bei Adamzik 1993, 173) Solche Texte sind in der Art eines Dialogs mit einem Ortskundigen verfasst, der die Touristin oder den Touristen mit seinen drängenden Ratschlägen begleitet. Wir haben es somit beim Reiseführer mit einem interessanten Fall von Mehrfachadressierung zu tun, bei dem es schwierig zu entscheiden ist, wen wir als primäre Adressatinnen und Adressaten betrachten sollen, was sich auch in der Mischung von Stilen ausdrückt. <?page no="229"?> 217 23 Gefühle und Werte vermitteln Eine erfolgreiche Kommunikation setzt voraus, dass S und A gewisse Gefühle und Werte teilen. Es gibt deshalb Sprechakte, die dazu dienen, in einer Rede oder einem Brief eine gemeinsame Basis für die Kommunikation zu schaffen. Das geschieht allerdings nicht immer; man kann sich sogar gegenseitig beschimpfen. Polemische Texte bilden allerdings einen Sonderfall, denn sie wenden sich in erster Linie an ein Publikum, das als Schiedsgericht fungiert. Als emotionsunterstützend bezeichnen wir dabei all diejenigen axiologischen und expressiven Sprechakte, denen eine komplementäre Funktion zukommt. Im journalistischen Kommentar ist dagegen der dominierende Sprechakte axiologisch, während die epidiktische oder Gedenkrede ihrem Wesen nach expressiv-axiologisch ist. Wir werden das Funktionieren dieser letzteren anhand eines Gegenbeispiels untersuchen, nämlich der missglückten Gedenkrede Philipp Jenningers zur Reichskristallnacht. 23.1 Ethos und Pathos Im Politikdiskurs werden Wahl- und Abstimmungsniederlagen immer wieder von den Unterlegenen dadurch beschönigt, dass man dem Sieger vorwirft, Emotionen geweckt und Ängste geschürt zu haben. Dabei wusste schon Aristoteles, dass es zur erfolgreichen politischen Rede gehört, dass der Redner sein Publikum auch emotional anzusprechen weiß. In diesem Fall handelt es sich um jene Komponente der Rede, die man in der Folge Pathos nannte. Als Ethos versteht man dagegen die Glaubwürdigkeit des Redners, die für den Erfolg der Rede entscheidend ist. Dabei sind Ethos und Pathos im Diskurs oft nicht zu trennen. Willy Brandt äußerte sich 1974 folgendermaßen zur Revision des § 218 des Strafgesetzbuchs über den Schwangerschaftsabbruch: (23.1) Wenn uns die verzweifelte Lage vieler Frauen wirklich berührt […], dann gibt es aus meiner Sicht und aus der Sicht derer, die gestern Abend so wie ich gestimmt haben, keinen ehrlicheren Weg zu einer Regelung, als den Weg zur Beratung ohne Angst und ohne Instanzen frei zu machen. (zit. bei Schröter 2006a, 185) Brandt drückt hier nicht nur sein Mitgefühl gegenüber den betroffenen Frauen aus; er arbeitet gleichzeitig an seinem eigenen Ethos als mitfühlendem Politiker und wirft seinen Gegnern indirekt Unehrlichkeit vor, indem er sagt, dass es keinen ehrlicheren Weg als den seinen gebe. Für uns gehören deshalb sowohl Ethos wie Pathos zu den komplementären Akten, die eine emotionale Verbindung zwischen S und A herstellen sollen. Brandt/ Rosengren (1992) nennen diese kooperationssichernd. Melani Schröter (2006a) hat sich mit der Adressatenorientierung in den Reden deutscher Bundeskanzler von Adenauer bis Schröder befasst. Dabei zeigt es sich tatsächlich, dass es in sehr zahlreichen Fällen darum geht, einen Konsens mit dem Publikum herzustellen: <?page no="230"?> 218 (23.2) Ich bin gekommen, um zu gratulieren. Aber — und das sage ich ganz besonders gerne hier — ich bin auch gekommen, um für Ihre Sache, die auch die meine ist, zu demonstrieren. (Helmut Kohl 1997, zit. bei Schröter 2006a, 127) Expressive Sprechakte wie Zustimmung, Lob und Dank stärken das Selbstwertgefühl von A und machen ihn gleichzeitig für die Botschaft von S aufnahmebereiter. Melani Schröter stellt in diesem Zusammenhang fest: Praktisch keine der Reden, die vor Vereinen, Verbänden, Betrieben und sonstigen Einrichtungen gehalten wird, kommt ohne einen Dank an die primär Adressierten für ihre Tätigkeit aus (2006b, 53). Solche Sprechakte können an den verschiedensten Stellen einer Rede auftreten. Ihr bevorzugter Platz ist aber das Exordium, der Einleitungsteil der Rede, wo es darum geht, das Publikum für die Rede zu interessieren. Am außerordentlichen Parteitag der SPD vom 1. Juni 2003 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010, die ja nicht leicht mit den traditionellen Grundsätzen sozialdemokratischer Politik zu vereinbaren war, seinen Genossinnen und Genossen schmackhaft zu machen. Er begann damit, im Exordium die gemeinsame Identität zu beschwören: (23.3) Liebe Genossinnen und Genossen! Liebe Freunde! Vorige Woche haben wir den 140. Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie gefeiert. Wir haben uns miteinander unserer großen Geschichte und unserer sozialdemokratischen Werte versichert: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Wir haben uns miteinander daran erinnert, was unseren Stolz auf unsere Partei ausmacht als die älteste, die größte und — das sagen wir ganz selbstbewusst — als die beste Partei, die es in Deutschland gibt. Schröder bekundete damit seine Verbundenheit mit den traditionellen Werten der Sozialdemokratie, womit er den Erwartungen seines Publikums entsprach. Gleichzeitig musste er aber versuchen, das bestehende Ethos zu modifizieren. So erscheint schon im zweiten Alinea ein neuer Wert, nämlich die Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen. (23.3’) Festigkeit in den Prinzipien, aber auch die Fähigkeit, uns und die Gesellschaft immer zu erneuern, die Bereitschaft, kühne Ziele zu formulieren und uns den notwendigen Veränderungen zu stellen, also die Begeisterung, das Morgen denken zu wollen, und die Entschlossenheit, das Heute zu gestalten: Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist es, was uns stolz macht auf unsere Partei. Hier wird der Versuch gemacht, das gewachsene Selbstverständnis der Sozialdemokratie gleichsam umzubiegen. Nach Aristoteles (Rhetorik 1356a 9) müsste sich tatsächlich der Ethos aus der Rede selber ergeben und dürfte nicht aus vorgefassten Meinungen bestehen. Ruth Amossy (1999, 19; 2000, 62) weist aber darauf hin, dass schon Isokrates (436-338 v. Chr.) den in der Vergangenheit erworbenen Ruf des Redners als Ethos verstand. Sie schlägt deshalb vor, zwischen einem ethos préalable, das der Sprecher oder die Specherin bereits mitbringt, und einem ethos oratoire, das durch die Rede geschaffen wird, zu unterscheiden. <?page no="231"?> 219 Nur selten wird ein Redner oder eine Rednerin selber auf das ethos préalable hinweisen. General de Gaulle tat dies beispielsweise in der Fernsehansprache vom 29. Januar 1960. Während einer Revolte in Algerien trat er erstmals wieder in Generalsuniform auf, um dadurch auf seine militärisch-politischen Verdienste während des zweiten Weltkriegs hinzuweisen: (23.4) Si j’ai revêtu l’uniforme pour parler aujourd’hui à la Télévision, c’est pour marquer que je le fais comme étant le Général de Gaulle aussi bien que le Chef de l’Etat. Dieses bereits erworbene Ethos — neuhochdeutsch würde man von Image sprechen — kann jedoch durch die Rede selber verändert werden. 23.2 Adressierungen Zu den kooperationssichernden Akten kann man auch die Anreden in Reden und Briefen, sowie die Schlussformeln in Briefen rechnen. Man mag einwenden, dass diese sehr konventionell sind, doch ihre Wahl braucht durchaus nicht banal zu sein. So ist es nicht gleichgültig, ob Gerhard Schröder in unserem Beispiel sein Publikum mit „liebe Genossinnen und Genossen“ oder aber mit „liebe Freundinnen und Freunde“ anspricht. Die Anrede kann auch von einer expliziten Begrüßung gefolgt sein, wie in der Ansprache, die Papst Johannes Paul II. am 12. September 1983 an die Arbeiterschaft in Österreich hielt 74 : (23.5) Liebe Brüder und Schwestern aus der Welt der Arbeit! Euch alle, die Ihr heute hierher gekommen seid, begrüße ich auf das herzlichste: ich begrüße Euch, österreichische Arbeitnehmer, und ich begrüße Euch, die Ihr aus verschiedenen Ländern Europas und sogar aus Übersee hier in Österreich Arbeit gefunden habt. Interessant ist hier, dass der Papst bereits in der Begrüßung zwei Gruppen von Adressatinnen und Adressaten unterscheidet. Im weiteren Verlauf der Rede wendet er sich denn auch zunächst an die eine und dann an die andere: (23.5’) […] Ich wende mich zunächst an Euch, liebe Gastarbeiter […] Und nun, liebe Brüder und Schwestern, wende ich mich besonders an die Männer und Frauen unter Euch, die aus Österreich selbst stammen. […] Das bedeutet nicht, dass im ersten Teil nur die Gastarbeiter angesprochen würden. Zu Ende des ersten Teils fordert der Papst verschiedene weitere Adressaten auf, die ausländischen Gäste gastfreundlich zu empfangen („Besonders die Christen in diesem Land rufe ich auf, dem Gastarbeiter echte 74 http: / / www.vatican.va/ holy_father/ john_paul_ii/ speeches/ 1983/ september/ documents/ hf_jp-ii_spe_19830912_lavoratori-austria_ge.html. Letzte Konsultation: 21/ 12/ 2010. <?page no="232"?> 220 Gastfreundschaft zu gewähren […]“). Weiter bedankt er sich bei seiner Kirche in Österreich für ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet. Wir haben es hier mit einem ausgesprochenen Fall von Mehrfachadressierung zu tun. Mit der Aufforderung zum gastfreundlichen Verhalten und mit dem Lob an seine Kirche profiliert sich der Papst auch als jemand, der für die Anliegen der Gastarbeiter eintritt. Mit den expliziten Adressierungen wählt er dabei einzig die primären Adressatinnen und Adressaten der verschiedenen Redeteile aus. Begrüßungen und Verabschiedungen werden zu den expressiven Sprechakten gerechnet. Sie sind in den Briefen, die Brandt/ Rosengren (1992) untersucht haben, ähnlich häufig wie in Reden. Brandt/ Rosengren nennen sie kooperationssichernd. Dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang durchaus zutreffend. Man könnte ihn beibehalten, wenn er sich nicht so schlecht auf die bewertenden Sprechakte des vorangehenden Kapitels anwenden ließe. Es geht hier insgesamt um Akte, welche die Aufgabe haben, eine emotionale Übereinstimmung zwischen A und S als Grundlage für eine gelungene Kommunikation zu schaffen; wir nennen sie deshalb emotionsunterstützend. Als emotionsunterstützend betrachten wir jene expressiven und axiologischen Sprechakte, die komplementär gebraucht werden, wobei diese beiden Arten von Sprechakten natürlich nicht nur komplementär vorkommen, wie wir in diesem Kapitel noch sehen werden. Dem Ausdruck der Gefühle dienen insbesondere die expressiven Sprechakte. Jene performativen Verben, die Searle expressiv nennt (grüssen, danken, sich entschuldigen, loben usw.), drücken aber vor allem das aus, was schon Charles Bally ( 3 1951, 10) „soziale Gefühle“ genannt hat, d.h. solche, die zwischenmenschlichen Konventionen entsprechen. Spontane Gefühle werden eher durch affektive Adjektive wie traurig oder komisch, hinreissend oder niederschmetternd oder durch entsprechende Substantive ausgedrückt. Die axiologischen Sprechakte dienen dagegen nicht in erster Linie der Darstellung von Emotionen, sondern von Werte. Arndt/ Janney (1987) und Janney/ Caffi (1994) betrachten allerdings gestützt auf die Meinung verschiedener Psychologen die Axiologie als einen der fundamentalen Parameter der Emotionalität. Auch sprachlich besteht eine enge Verbindung zwischen expressiven und axiologischen Sprechakten. Lob und Tadel wird man nur selten explizit performativ durch „Ich lobe, dass ...“ oder „Ich tadle, dass ...“ zum Ausdruck bringen. Üblich sind vielmehr axiologische Ausdrucksweisen wie „Das ist gut“ oder „Das ist schlecht“. Catherine Kerbrat-Orecchioni (1990- 1994, III, 199-301) hat sich ausführlich mit der Darstellung von Komplimenten beschäftigt. Auch in diesem Fall überwiegt die axiologische Ausdrucksweise mit Hilfe von positiven ästhetischen Wertungen („Wie schön du bist! “). 23.3 Kompensatorische Sprechakte Nun gibt es aber auch Sprechakte, die eigentlich eher negative Gefühle hervorbringen. Dazu gehören die face threatening acts (FTA) der Höflichkeitstheo- <?page no="233"?> 221 rie. Diese können abgeschwächt (cf. Kap. 5.3, 5.4) oder durch jene Sprechakte kompensiert werden, die Catherine Kerbrat-Orecchioni (1990-94, II, 59) anti- FTAs oder face flattering acts nennt 75 . Dazu gehören Lob, Komplimente, Sympathiebezeugungen, Verdankungen, Gegenangebote und selbst Begrüßungsformeln. Das sind lauter Akte, die man zu den emotionsunterstützenden rechnen kann. Kritik bedroht das positive Gesicht von A. Da man sie nur schwer abschwächen kann, ohne sie zu verfälschen, besteht eine bewährte Strategie darin, sie in Lob einzupacken. Den folgenden Brief hat Conrad Ferdinand Meyer am 24. April 1881 an Gottfried Keller geschrieben. Nachdem sie in den vorangehenden Briefen bloß Nettigkeiten ausgetauscht hatten, scheint hier plötzlich Kritik auf. Dies geschieht jedoch äußerst behutsam, indem C.F. Meyer zunächst seinem Kollegen sehr viel Lob spendet und jede Kritik sogleich entschuldigend abschwächt und am Schluss gar als Plauderei abtut: (23.6) Verehrter Herr, jetzt da die Linien des „Sinngedichtes“ sich zu schließen beginnen, darf ich Ihnen berichten, wie sehr ich mich daran ergötze? Derart daß wo sich ein Bedenken meldet, dasselbe ohne weiters von diesem langsamen und gewaltigen Erzählen und Entwickeln überwältigt und erdrückt wird. Obenan „Regine“, darüber ist kein Wort zu verlieren. Die Gespenstergeschichte gibt zu lachen und zu denken. Der Gerichtsact des Vorüberschleppens in der „Baronin“ wird durch das Barocke gemildert. Und schließlich Don Salvador mit seinem astrologischen Mantel und sonstigen Eigenschaften, der „einen Stuhl“ heiratet, wenn ich recht berichtet bin! Der Rahmen reich und schwer. Unwahrscheinlichkeiten im Détail ( — die man übrigens — so oder so — jedem Poeten, auch dem größten, vor- oder zugeben muß und es so gerne thut, wenn man wie bei Ihnen durch ein so intenses Vergnügen entschädigt wird) — Unwahrscheinlichkeiten im Détail werden durch das Substantielle des Ganzen quasi aufgehoben. Kaum sagt ein „gebildetes“ Mädchen: „Den Teufel hoffst du! “ aber wer möchte das entbehren? Genug geplaudert, es musste aber doch mit einer Zeile gesagt sein. (http: / / www.kellerbriefe.ch/ briefe.htm) 23.4 Die polemische Rede Es gibt aber Fälle, wo solche Höflichkeitsstrategien gar nicht zum Einsatz gelangen. Schon erwähnt wurde der Fall der prozeduralen Texte, wo die Anweisungen gleichsam das Einverständnis, sie auszuführen, voraussetzen und deshalb das negative Gesicht von A gar nicht verletzen können (cf. Kap. 11.5). Es gibt aber auch Situationen, wo S die Verletzung des positiven Gesichts von A recht eigentlich in Kauf nimmt. Dazu gehört die polemische Rede. Die Besonderheit der polemischen Rede besteht darin, dass sie sich an zwei Arten von Adressatinnen und Adressaten richtet. Einerseits wendet sie 75 Kate Beeching (2002, 20) bevorzugt die Bezeichnung face enhancing acts. <?page no="234"?> 222 sich an eine bestimmte Kontrahentin oder einen bestimmten Kontrahenten und verlangt deshalb auch eine Erwiderung. Deshalb ist die polemische Rede im Grunde genommen dialogisch, auch wenn sie natürlich nicht auf ein gegenseitiges Verstehen ausgerichtet ist: „... c’est un dialogue de sourds […], mais c’est un dialogue tout de même ; entre frères ennemis, mais entre frères […]“ (Kerbrat-Orecchioni 1980, 33) 76 . Der eigentliche Adressat ist jedoch nicht die Kontrahentin oder der Kontrahent, sondern das Publikum, denn Polemik spielt sich in der Öffentlichkeit ab, und dem Publikum kommt dabei eine Schiedsrichterrolle zu. Es handelt sich um einen Wettkampf der Worte, bei dem es gilt, die Gegnerin oder den Gegner zu disqualifizieren, weshalb man auf sie/ ihn keine Rücksicht zu nehmen braucht: „Der Polemiker soll samt seiner Position in den Augen der polemischen Instanz als wertvoll erscheinen, der Angegriffene und seine Position als minderwertig“ (Stenzel 1986, 7). Ähnlich hat dies auch Uli Windisch (1987, 21) formuliert: „En combattant un adversaire par le discours — par la guerre verbale — on cherche également à l’éjecter de la place (sociale, politique) qui est la sienne“. Wenn es um die Gegnerin oder den Gegner geht, können in dieser Weise auch negativ axiologische Begriffe durchaus als emotionsunterstützend verstanden werden. Polemisch sind die meisten politischen Reden; Boudeau et al. (1989) nennen sie sogar manichäisch, denn sie sind nach dem Muster gestrickt: „Wir sind die Guten; die Anderen sind die Bösen“. Das gilt allerdings nicht nur für politische Reden. Dominique Maingueneau (1983) hat sich mit dem axiologischen Vokabular in der polemischen Auseinandersetzung zwischen den Jansenisten und ihren theologischen Gegnern im 17. Jahrhundert befasst 77 . Dabei ergab sich in dem von ihm statistisch untersuchten Text des heiligen François de Sales eine Verteilung, die nicht anders zu erwarten war: Die positiv axiologischen Begriffe werden der eigenen, die negativ axiologischen der gegnerischen Partei zugewiesen. Beliebt ist in politischen Reden auch der expressive Sprechakt des Vorwurfs. Im folgenden Fall gründet er auf einer Argumentation, die sich aus der Gerechtigkeitsregel (cf. Kap. 14.7) herleitet: (23.7) Herr Bundeskanzler, es hat vor Ihnen keinen Bundeskanzler gegeben, der die Soldaten in so viele internationale Einsätze geschickt und ihnen gleichzeitig so wenig Geld zur Verfügung gestellt hat. (zit. bei Henriksson 2004, 139) Die entsprechende Maxime müsste lauten, dass es ungerecht ist, demjenigen, der zusätzliche Aufgaben übernehmen muss, keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Es geht in diesem Fall um ein ethisches Urteil. Ohnehin geht der Sprechakt des Vorwurfs über denjenigen der Kritik hinaus, indem er 76 Der dialogische Charakter scheint den polemischen Text vom Pamphlet zu unterscheiden. Marc Angenot (1982) sieht den Pamphletschreiber als eine Art Rufer in der Wüste, der gegen die dominierende Meinung polemisiert. 77 Dominique Maingueneau (1983, 1984) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „inintercompréhension“. <?page no="235"?> 223 die Verletzung einer (ethischen) Norm miteinschließt und damit implizit axiologisch ist. 23.5 Beschimpfungen Weit über die polemische Rede hinaus geht die Beschimpfung. Das folgende Beispiel stammt aus einer österreichischen Fernsehsendung. Dabei hatte ein Wiener Gemeinderat gegenüber einem Mann der Exekutive schwere Korruptionsvorwürfe erhoben. Dieser (M) verlor offensichtlich schon zu Beginn der Diskussion die Beherrschung, begann zu schreien und ließ seinen Kontrahenten (P) gar nicht zu Wort kommen: (23.8) M: Sie wissen genau, dass Sie lügen, und gehen mit einer Menschenverachtung vor, die UNGEHEURLICH ist, Herr P.! WAS SIE HIER AUF- FÜHREN, IST DIE HALTUNG EINES DIKTATORS UND NICHT DIE HALTUNG EINES DEMOKRATISCHEN POLITIKERS! (0.5) P: Herr M., angesichts/ M: DAS IST UNGEHEURLICH, WAS SIE TUN! P: Herr M., angesichts/ M: ICH PERSÖNLICH FÜHLE MICH IN MEINER EHRE GETROFFEN, ICH LASSE MIR DAS VON IHNEN NICHT GEFALLEN! (0.8) DAS SIND METHODEN, DIE BITTE IN DER KP ODER SONSTWO SO- MÖGLICH SIND […] (Emo Gotsbachner, „Durchsetzung von Deutungsrahmen in politischen Fernsehdiskussionen“, Gesprächsforschung 9, 2008, 269-299, Zitat p. 273s.) Beschimpfungen können auch zu Hause zwischen vier Wänden stattfinden, ohne dass ein Publikum anwesend ist. Sie sind denn auch nicht argumentativ, sondern vielmehr ein Anzeichen dafür, dass jemand die Beherrschung verloren hat. So dürfte auch M mit seinem Auftritt einen eher negativen Eindruck beim Fernsehpublikum hinterlassen haben. Wir haben es hier einfach mit einer Anhäufung von negativen axiologischen und expressiven Sprechakten zu tun. Von einer eigentlichen Textsorte kann hier nicht mehr die Rede sein. 23.6 Zeitungskommentare als axiologische Textsorte Axiologische und expressive Sprechakten kommen natürlich nicht nur als komplementäre Sprechakte vor. Wir haben bereits festgestellt (cf. Kap. 15.2), dass axiologischen Sprechakte auch argumentativ eingesetzt werden können. Eigentliche axiologische Textsorten sind freilich selten. Dazu dürfte immerhin der journalistische Kommentar gehören. Hans-Helmut Lüger ( 2 1995, 126-136) hat gezeigt, dass Zeitungskommentare sich in ihrem Aufbau an die klassische Rede anlehnen. Der Titel übernimmt dabei zumeist die Funktion des Exordiums. Es werden dabei spielerische Titel eingesetzt, die das Interesse der Leserschaft wecken sollen. Der Text selber <?page no="236"?> 224 besteht aus einem narrativen und einem argumentativen Teil und läuft auf eine Schlussfolgerung, eine Art peroratio hinaus, der die Funktion des dominierenden Sprechakts zukommt. Was allerdings die Klassifikation dieser Textsorte erschwert, das ist, dass der dominierende Sprechakt zwar meist die Form einer Bewertung hat, aber auch diejenige einer Handlungsempfehlung annehmen kann. Lüger ( 2 1995, 129) bemerkt dazu, dass Schlussfolgerungen wie die folgende „vielfach umstandslos als Aufforderungen betrachtet“ werden: (23.9) ... Wenn die Bundesregierung beschäftigungspolitisch untätig bleibt, macht sie den Arbeitsmarkt völlig von wachsenden Unsicherheiten der weltwirtschaftlichen Entwicklung abhängig (Frankfurter Rundschau, 5/ 01/ 90, zit. bei Lüger 2 1995, 129). Er relativiert dann aber diese Interpretation. Auch hier stellt sich die Frage, an wen sich primär diese Textsorte richten. Journalistinnen und Journalisten können der Regierung keine Befehle erteilen. Deshalb ist nicht die Regierung, sondern die Leserschaft der Zeitung primäre Empfängerin. Wir haben es also mit einer axiologischen Textsorte zu tun, die auf die Wertvorstellungen der Zeitungsleserinnen und -leser Einfluss nehmen will. Lüger ( 2 1995, 128) schließt sich denn auch der These von Reinhold Läzer an, wonach es der Zweck dieser Textsorte ist, eine „Veränderung der evaluativen Einstellung, des Wertens der Leser bezüglich des dargestellten Sachverhalts“ (1988, 475) zu bewirken. Wir haben es somit mit einer Textsorte zu tun, deren dominierender Sprechakt axiologisch ist. Das ist aber noch nicht alles. Ähnlich wie wir dies im vorangehenden Kapitel bei den Reiseführern gesehen haben, können die Bewertungen auch hier alle Teile des Textes durchdringen, besonders aber den erzählenden Teil, welcher eigentlich der Sachverhaltsklärung dient. Folgender Ausschnitt stammt aus dem erzählenden Teil eines Kommentars unter dem Titel „Hypo Alpe-Adria als Lehrstück kollektiven Versagens“: (23.10) Natürlich war der aggressive und riskante Expansionskurs auf dem Balkan Mittel zum Zweck, um Haiders ausufernde Sozialpolitik in Kärnten zu finanzieren. Als dann aber die Hypo mit riskanten Kredit- und Leasinggeschäften statt politischem Spielgeld für Haider bloß Abschreiber und Flops produzierte, trat ein ebenso kongenialer Partner in Gestalt der Bayern LB auf. (NZZ, 24/ 11/ 09, p. 26) Hier wimmelt es geradezu von axiologischen Ausdrücken (aggressiv, riskant, ausufernd usw.), wobei der kongeniale Partner natürlich ironisch gemeint ist. Dadurch nimmt der sachverhaltsklärende Teiltext die folgende Argumentation einmal mehr bereits zum Teil vorweg. 23.7 Die epidiktische Rede Die expressiv-axiologische Rede par excellence ist dagegen die epidiktische oder Gedenkrede, die Aristoteles (Rhetorik I 3) als dritte Form der öffentlichen Rede <?page no="237"?> 225 neben der politischen und der Gerichtsrede nennt. Nach Aristoteles geht es in ihr um Lob und Tadel. Es können aber auch andere Gefühle zum Tragen kommen, z.B. die Trauer in einer Grabrede. Vor allem geht es in ihr aber um die Beschwörung gemeinsamer Werte, die damit gestärkt werden sollen (cf. Danblon 2001). Am 10. November 1988 fiel dem damaligen Präsidenten des deutschen Bundestags, Philipp Jenninger, die Ehre zu, im Plenum eine Rede zur Erinnerung an die Judenpogrome in der so genannten Reichskristallnacht zu halten, die genau 50 Jahre zurücklag. Es hätte dies eine epidiktische Rede sein sollen. Schon während der Rede verließen etwa 50 Abgeordnete konsterniert den Saal und am folgenden Tag sah sich Jenninger gezwungen, seinen Rücktritt als Präsident einzureichen. Der Aufbau der Rede war narrativ, was für eine epidiktische Rede nicht ungewöhnlich ist. Entscheidend ist die Bewertung der damaligen Ereignisse. Diese drückt sich wiederum zuvorderst durch axiologische und vor allem axiologisch konnotierte Begriffe aus. In der Folge wurde diese Rede von Linguisten sehr kontrovers diskutiert (cf. Girnth 1993, 4-45, Brambilla 2007, 91- 110). Man warf Jenninger vor allem die Verwendung vieler nazistischer Reizwörter wie „germanische Kulturspender“ und „jüdische Untermenschen“ vor. Heiko Girnth (1993; 2002, 99-105) hat das ideologische Vokabular dieser Rede mit demjenigen von drei Reden verglichen, die Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker zum gleichen Thema gehalten haben. Dabei ergab es sich, dass das als nazistisch konnotierte Vokabular in Jenningers Rede tatsächlich übervertreten war (1,2% statt 0,1 bis 0,2% in den anderen Reden). Zwar gibt es durchaus auch Textstellen, wo sich Jenninger von der nazistischen Ideologie distanziert, doch weist Girnth auf ein anderes Manko hin. Aufgabe einer epidiktischen Rede ist es nämlich „gemeinsam geteilte Werthaltungen zum Ausdruck zu bringen“ (1993, 50). Es geht nicht darum, sein Publikum zu überzeugen, sondern ein bereits überzeugtes Publikum in seinen Überzeugungen zu bestärken. Dazu muss der Redner oder die Rednerin die Werte der „Eigengruppe“, zu der er/ sie spricht, teilen und sich des entsprechenden Vokabulars, also desjenigen des demokratischen Rechtsstaates bedienen. Jenninger tat dies in weit geringerem Maße als die drei anderen Redner (1,3% statt 2,7 bis 2,8%). Wenn die epidiktische Rede dem Lob und dem Tadel dient, so hätten in diesem Fall die Judenpogrome und der Nationalsozialismus insgesamt getadelt und gleichzeitig der demokratische Rechtsstaat gelobt werden müssen. Ein zentraler Teil der Rede bestand jedoch darin, die Begeisterung der damaligen Deutschen für den Nationalsozialismus zu erklären. Und das tönte dann so 78 : 78 Man findet Text und Tonaufnahme bei http: / / www.mediaculture-online.de/ Politische_Rhetorik.139+M5f9d6b3159e.0.html/ Letzte Konsultation: 11/ 12/ 2010. <?page no="238"?> 226 (23.11) Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die staunenerregenden Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos, Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse- und Versammlungsfreiheit und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und Assimilation. Hier werden die Werte richtiggehend umgedreht 79 . Gelobt wird Hitler und getadelt wird nicht nur die Weimarer Republik, sondern dank einer sehr undifferenzierten Ausdrucksweise auch gleich noch der demokratische Rechtsstaat als solcher. Jenniger versuchte vor allem das Verhalten der damaligen Deutschen zu erklären, ja zu entschuldigen. Damit verfehlte er aber das Ziel des Anlasses vollkommen. Zweck einer epidiktischen Rede muss es sein, gemeinsame Werte zu beschwören. 79 Gewisse Kommentatoren haben diesen Passus allerdings als eine — missglückte! — erlebte Rede interpretiert. <?page no="239"?> 227 24 Sprache und Bild Immer mehr Textsorten sind multimodal, d.h., dass sie sich nicht mehr ausschließlich sprachlicher Ausdrucksmittel bedienen. Für die geschriebene Sprache ist dabei die Verbindung zwischen Sprache und Bild besonders wichtig. In Textsorten wie der Werbeanzeige sind sie als zwei Teiltexte zu verstehen, die sich zu einem Gesamttext zusammenfügen. Beide Teiltexte haben unterschiedliche Funktionen und ergänzen sich deshalb gegenseitig. Die verbreitete Aussage, dass Bilder unmittelbarer wirken als Sprache, trifft zwar zu, gilt aber nur für ihre primäre (ikonische) Funktion. So kann man Bilder wie Wörter auch metaphorisch gebrauchen; sie bedürfen dann in beiden Fällen der Interpretation. In multimodalen Texten haben die verschiedenen Kommunikationskanäle unterschiedliches Gewicht; keiner ist aber so universell wie der sprachliche. 24.1 Einleitung Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich die Möglichkeiten, Bilder drucktechnisch wiederzugeben, ständig verbessert. Als Folge davon gibt es immer mehr Texte, die Sprache und Bild vereinen. Man nennt Texte, die sich in dieser Weise zweier Kommunikationskanäle gleichzeitig bedienen, bimodal. Sind mehr als zwei Kommunikationskanäle beteiligt, so heißen sie multimodal. Letztere haben durch die neuen Medien eine gesteigerte Verbreitung erfahren. Dabei ist der simultane Gebrauch mehrerer Kommunikationskanäle aber gar nicht neu, denn er charakterisiert seit jeher die gesprochene Sprache. Nach Arndt/ Janney (1987) zeichnet sich diese durch ein Zusammenspiel von Sprache (im engeren Sinn), von Intonation und von Körpersprache aus. Die beiden Autoren zeigen dabei, wie Intonation und Körpersprache die Deutung der Sprechakte beeinflussen können. Der Beitrag der verschiedenen Kanäle ist dabei je nach Textsorte von unterschiedlichem Gewicht. In der Film- und Fernsehdidaktik testet man dies, indem man zunächst nur den Bild- oder den Tonkanal laufen lässt. Der Filmregisseur Jean-Luc Godard sagt dazu in einem Interview mit der NZZ am Sonntag: (24.1) Oft schaue ich die Spiele ohne Ton. Der Moderator sagt: „Eine schöne rechte Vorhand von Federer“ — das sehe ich selber. Umgekehrt versteht man die Tagesschau nur dank den Kommentaren. Macht man den Ton aus, wird unklar, worum es geht. Wäre das Fernsehen das Königreich der Bilder, benötigte es nicht so viele Texte. (NZZ am Sonntag, 7/ 11/ 2010, p. 70) Wenn wir von bimodalen oder multimodalen Texten sprechen, so verwenden wir einen gegenüber der Tradition erweiterten Textbegriff. Bernd Spillner (1982) scheint der Erste gewesen zu sein, der Sprache und Bild in der Werbung als einen Gesamttext begriff. Wir betrachten deshalb Sprache und Bild als <?page no="240"?> 228 zwei Teiltexte, aus denen sich erst der Gesamttext ergibt. Uns interessiert dabei primär die Sprache-Bild-Beziehung. 24.2 Bild und Sprache Es gibt eine große Zahl von Bildtheorien (cf. Stöckl 2004, 48ss.); wir halten uns jedoch an eine semiotische Betrachtungsweise, wonach man Bilder ähnlich wie die Sprache als Zeichensystem verstehen darf. Trotzdem scheint es uns problematisch, wenn man eine in der Sprachwissenschaft entwickelte Begrifflichkeit einfach auf andere Zeichensysteme überträgt. Wir hegen deshalb Zweifel, ob es richtig ist, mit Kress/ Van Leeuwen (1996) von einer Bildgrammatik (grammar of visual design) zu sprechen. Während Sprachzeichen letztlich arbiträr sind, sind Bildzeichen in ihrem eigentlichen Wesen ikonisch, d.h. sie gründen auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Abgebildeten und dem Abzubildenden. Wir werden allerdings sehen, dass man Bilder nicht auf diese ikonische Funktion beschränken darf. Wo Bilder mit einer Kommunikationsabsicht eingesetzt werden — und nur dieser Fall interessiert uns hier —, sind sie fast notwendigerweise mit der Sprache verbunden. Wir stimmen Hartmut Stöckl (2004, 95) zu, wenn er schreibt, dass „Bilder trotz ihrer vernünftigerweise vorauszusetzenden autonomen Bedeutungsfähigkeit sowohl in Produktion als auch in Rezeption quasi untrennbar mit Sprache verbunden sind“. Er gibt dafür als Beispiel einer „vermeintlich ‚sprachlosen’ Bildverwendung“ das Bild in der Gemäldegalerie, bei dem aber „zumindest Künstlername und Titel“ angegeben werden. Man sollte deshalb den sprachlichen Teiltext nicht losgelöst von dem ihn begleitenden bildlichen Teiltext betrachtet, so wie dies insbesondere in einer großen Zahl von linguistischen Abhandlungen zur Werbesprache geschehen ist. Ein besonders beliebter Analysegegenstand war dabei der Slogan. Seine Attraktivität verdankte dieser seiner Nähe zur poetischen Sprache. Als verdichtete Sprachform (cf. Adam/ Bonhomme 1997, 59ss.) bedient er sich nämlich verschiedener rhetorischer Figuren. Olivier Reboul (1975) sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer zweckgerichteten „poésie pour“ im Gegensatz zur literarischen „poésie pure“. Auch Roland Barthes (1964), der sich wohl als Erster mit der Sprache-Bild- Beziehung in der Werbung befasst hat, ordnete das Bild im Wesentlichen der Sprache unter. Nach Barthes wäre die wichtigste Sprache-Bild-Beziehung diejenige, die er Verankerung (ancrage) nennt und folgendermaßen beschreibt: ... toute image est polysémique, elle implique, sous-jacente à ses signifiants, une « chaîne flottante » de signifiés, dont le lecteur peut choisir certains et ignorer les autres. La polysémie produit une interrogation sur le sens […]. Au niveau du message littéral, la parole répond, d'une façon plus ou moins directe, plus ou moins partielle, à la question: qu'est-ce que c'est? (Barthes 1964, 44) Es stimmt, dass Bilder immer vieldeutig sind und dass diese Vieldeutigkeit durch die Sprache aufgehoben werden kann. Nur sind auch Wörter polysem. <?page no="241"?> 229 Hartmut Stöckl (2004, 95) betont denn auch zu Recht, dass „sowohl Bilder als auch Sprache prinzipiell Mehrdeutigkeiten zulassen, die jeweils nur durch die pragmatische Situierung ausgeräumt werden“. Wie wir noch sehen werden, kann ein Bild auch dazu helfen, die Mehrdeutigkeit eines Wortes aufzuheben. Barthes kennt dagegen nur noch eine einzige weitere Beziehung zwischen Sprache und Bild. Er nennt sie relais und meint damit den Fall, wo in einer humoristischen Zeichnung oder einem Comic Zeichnung und Dialog sich gegenseitig abwechseln. Eine völlig andere Haltung nahm der Konsum- und Verhaltensforscher Werner Kroeber-Riel (1988, 1993) ein, der für die Überlegenheit des Bildes in der Werbung plädierte. Von ihm stammt die wenig geschmackvolle Aussage, Bilder seien „schnelle Schüsse ins Gehirn“ (Kroeber-Riel 1993, ix; Kroeber- Riel/ Esch 5 2000, 145). Dabei ist nicht zu bestreiten, dass ein Bild schneller rezipiert wird als ein Text: Um ein Bild von mittlerer Komplexität so aufzunehmen, dass es später wiedererkannt werden kann, sind 1,5 bis 2,5 Sekunden erforderlich. In der gleichen Zeit können ca. zehn Wörter aufgenommen werden (Kroeber-Riel/ Esch 5 2000, 25). Allgemein wird auch die Meinung vertreten, dass sich das Bild besser eigne, emotionale Inhalte zu vermitteln, als die Sprache. Wie erklärt sich diese Überlegenheit des Bildes? Wir haben in Kapitel 2.5 gesagt, dass es wahrscheinlich eine doppelte Kodierung der Wörter gibt, einerseits durch mentale Bilder und andererseits durch logisch-linguistische Propositionen. Dabei haben wir die mentalen Bilder für primär gehalten. Mentale Bilder spielen aber auch eine wichtige Rolle beim Erkennen von Bildern. Wenn wir eine abwesende Person auf einer Fotografie wiedererkennen, so nur, weil wir ein mentales Bild von ihr im Gedächtnis gespeichert haben (cf. auch Groupe μ 1992, 135ss.). Die Sprache gibt uns damit Zugang zu den gleichen mentalen Bildern wie bildliche Darstellungen. Nur darf man annehmen, dass Bilder uns dazu einen unmittelbareren Zugang eröffnen als Wörter. Christian Doelker (1997, 58) weist darauf hin, dass es kein Wörterbuch für Bilder gibt. Richtiger wäre es wohl zu sagen, dass Bilder kein Wörterbuch benötigen. Wenn wir uns auf die ikonische Funktion der Bilder beschränken, so ist es tatsächlich sehr leicht zu erkennen, dass das Bild einer Pfeife eine Pfeife darstellt, ja das Bild zeigt uns sogar, ob es sich um eine solche für Raucher oder für Schiedsrichter handelt, während das Wort „Pfeife“ polysem und abstrakt ist. Das scheint in gleicher Weise für Gefühle zu gelten. Zwar haben wir in den letzten Kapiteln gesehen, dass die Sprache über genügend Mittel verfügt, um Gefühle auszudrücken. Wörter, auch solche, die einen emotionalen Inhalt haben, sind aber immer abstrakte Zeichen. Welche interpretatorischen Schritte Sätze durchlaufen müssen, damit sich daraus ein mentales Modell entwickelt, haben wir in Kapitel 3.2.2 anhand des CI-Modells von Walter Kintsch gezeigt. Dass die Sprache weniger unmittelbar wirkt als Bilder, ist unter diesen Umständen sehr verständlich. <?page no="242"?> 230 Dabei sind Bild und Sprache aber auch komplementäre Medien. „Das Bild ist dem Raum zugehörig“, titelt Christian Doelker (1997, 55). Damit eignet es sich auch besonders zur Darstellung räumlicher Gegebenheiten: „Danach sind manche Bilder (z.B. Lagepläne, Bau- und Konstruktionsentwürfe, Passbilder, Modefotografie etc.) kognitiv unersetzlich, weil sie kommunikative Aufgaben effizient lösen, für die Sprache weniger gut geeignet ist“ (Stöckl 2004, 7). Aus dem konkreten Charakter der Bilder und dem abstrakten der Wörter, ergeben sich aber auch Einschränkungen für den Einsatz von Bildern. Abstrakte Ideen lassen sich durch Bilder höchstens metaphorisch übermitteln. Auch verfügen Bilder über keine entwickelte Syntax, die es erst ermöglicht, abstrakte Überlegungen anzustellen. Deshalb bleibt die Sprache in vielen Fällen unverzichtbar. 24.3 Die Bildsemiotik Was im Übrigen das schnelle Erkennen von Bildern betrifft, so beschränkt sich dieses auf die ikonische Funktion. Die Groupe μ (1992) hat eine Unterscheidung zwischen den ikonischen und plastischen Funktionen der visuellen Zeichen eingeführt. Die ikonische Funktion eines Bildes besteht darin, einen konkreten Gegenstand darzustellen. Ein Bild besteht aber auch aus Formen, Farben und Texturen. Diese bilden die plastische Funktion und können ihrerseits bedeutungsvoll sein. Wie uns die abstrakte Malerei zeigt, kann es auch Bilder ohne ikonische und mit ausschließlich plastischer Funktion geben. Mariette Julien (1997) hat untersucht, wie auf diese Weise in der Parfumwerbung die verschiedenen Duftnoten ihren bildlichen Ausdruck finden. Es gibt kaum Anzeigen, in denen der Flakon nicht abgebildet wäre. Dieser wird meist auch mit besonderer Sorgfalt entworfen. Dabei werden für betont weibliche Duftnoten rundliche Formen gewählt, für betont männliche dagegen aufrechte, eckige oder, wenn man so will, „phallische“ Formen (Julien 1997, 36, 39). Auch die Wahl der Farben ist bedeutungsvoll. Rot eignet sich für aggressive, Blau für erfrischende Duftnoten. Die Frage ist allerdings, wie man die Bedeutung dieser plastischen Elemente erkennen kann, und sogar die, wie weit sie überhaupt erkannt wird. Mariette Julien vertritt die Meinung, dass die Bedeutung plastischer Elemente der Interpretation bedarf, d.h. auf einer Abduktion im Sinne von Peirce beruht (cf. Kap. 14.8). Man redet zwar von einer Farbsymbolik; Tatsache ist aber, dass die gleiche Farbe sehr verschiedene symbolische Bedeutungen haben kann. Jede Farbe und jede Form bedarf der Interpretation in einem pragmatischen Umfeld. Wissen wir, dass wir es mit einer Parfumwerbung zu tun haben, so werden die möglichen Bedeutungen eingeschränkt. Blau lässt in diesem Kontext am ehesten an die erfrischende Wirkung des Wassers denken. Bei der Interpretation plastischer Elemente ist neben dem pragmatischen Umfeld auch das gemeinsame Weltwissen von Bedeutung. Es gilt deshalb das Gleiche, was wir schon über die sprachlichen Implikationen aus dem Weltwissen gesagt haben (cf. Kap. 8.3). Solche Implikationen sind letztlich indivi- <?page no="243"?> 231 duell. In jener Werbeanzeige der Firma Panzani, die Roland Barthes (1964) analysiert hat, sah man in einem Einkaufsnetz lauter Produkte, die zur Herstellung einer Pasta nötig sind, vorwiegend solche der Firma Panzani selber. Entscheidend war jedoch der Gebrauch der Farben Grün, Weiß (ein gelbliches Weiß) und Rot. Es sind dies die Farben der italienischen Nationalflagge. Dadurch sollte ein Eindruck von italianità erzeugt werden für ein Produkt, das in Wirklichkeit in Frankreich hergestellt wird. Diese Interpretation setzt aber voraus, dass man sich an die Farben der italienischen Nationalflagge erinnert. Was das pragmatische Umfeld betrifft, so wird es häufig vom Bild selber geschaffen. In den meisten Parfumwerbungen werden neben dem Flakon auch Menschen abgebildet, die ihrerseits in einem gewissen Umfeld stehen können. Dabei gilt der folgende „Code“: Frauen werben für Frauenparfums, Männer für Männerparfums und gemischte Paare für zweigeschlechtliche Parfums 80 . Das ist aber noch nicht alles. Die Photomodelle können verschiedene Posen annehmen (cf. Julien 1997, 39ss.). So wird das Bild der Frau als Verführerin mit starken Duftnoten verbunden, dasjenige einer romantischen, versonnenen Frau dagegen mit eher diskreten, floralen Parfums. Solche Bildbotschaften hängen erneut von der richtigen Interpretation ab. Es gibt allerdings auch solche, die einigermaßen konventionalisiert sind. So repräsentiert eine Frau mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand die Gerechtigkeit beziehungsweise die Justiz. Es handelt sich in diesem Falle um eine bildliche Allegorie. Ebenso repräsentiert eine Frau, die eine Fackel mit der rechten Hand hochreckt, die Freiheit. Das berühmteste Beispiel dafür ist die New Yorker Freiheitsstatue. Diese kann auch die Stadt New York oder die gesamten Vereinigten Staaten symbolisieren. In diesem Fall handelt es sich um eine bildliche Synekdoche (pars pro toto). In gleicher Weise kann auch der Eifelturm Paris oder ganz Frankreich und das Matterhorn die Schweiz symbolisieren (cf. Lugrin 2004). Wenn Philip Morris mit der Freiheitsstatue für ihre Zigaretten wirbt (cf. Lugrin 2006, 153), so geschieht das offensichtlich in der Absicht, die mit dieser Statue verbundenen Symbolismen (die Freiheit und der american way of life) mit ihrem Produkt zu verbinden. Eric Lugrin (2006) spricht in diesem Fall von einer bildlichen Intertextualität. Diese Art, bekannte Bildmotive aufzugreifen, ist in der Werbung verbreitet. Aber auch hier erfolgt die entsprechende Implikation nicht automatisch, besonders dann nicht, wenn das Bildmotiv verfremdet wurde. Die Schweizer Familie brachte auf der Titelseite ihrer Weihnachtsausgabe das Bild eines jungen Violinisten mit Haarmähne und herausgestreckter Zunge. Dadurch sollte ein intertextueller Bezug zur berühmten Fotografie von Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge hergestellt werden, wobei Einstein als Beispiel für ein Genie gilt. Entsprechend lautete der dazugehörige 80 Nach Julien (1997, 45) wird für Männerparfums oft mit einem Paar geworben, da diese meist von der Partnerin für ihren Partner gekauft werden. Dies scheint sich aber seither geändert zu haben. <?page no="244"?> 232 Titel: „Musik macht klug“. Dies wurde aber längst nicht allgemein verstanden, sondern führte zu negativen Zuschriften: „Was sich die Verantwortlichen für das Weihnachts-Titelblatt einfallen ließen, finde ich mehr als geschmacklos. Was soll der seine Zunge herausstreckende Junge? “ (zit. bei Doelker 1997, 90) Zuletzt soll noch darauf hingewiesen werden, dass Bilder nur einen gewissen Ausschnitt aus der Wirklichkeit wiedergeben. Es kommt darauf an, was man im gegebenen Bildrahmen zu sehen bekommt und was nicht. Dabei kann die Nahaufnahme eines Gesichts durchaus stärker wirken als die Großaufnahme der gleichen Person. Was des Weiteren die Wahl des Blickwinkels betrifft, so kann etwa die Froschperspektive einen Eindruck von Erhabenheit, aber auch von Bedrohung vermitteln. Die These, wonach Bilder unmittelbarer wirken als Sprache, muss demnach relativiert werden. Dies gilt nur für ihre ikonische Funktion. Daneben können Bilder aber auch Botschaften enthalten, die der Interpretation bedürfen. Diese vermitteln sich weit weniger unmittelbar und hängen mindestens ebenso stark von der individuellen Interpretationsarbeit der Empfängerin oder des Empfängers ab, wie dies bei sprachlichen Botschaften der Fall ist. 24.4 Die Sprache-Bild-Beziehung Es gibt eine Reihe von Versuchen, die Sprache-Bild-Beziehung zu beschreiben. Man findet einen Überblick — verbunden mit ihrer Anwendung auf ein umfangreiches Korpus von Werbeanzeigen — bei Nadine Rentel (2005). Uns interessiert hier vor allem das, was sie die „Dekodierungsrichtungen zwischen verbalem und visuellem Teiltext nennt“. Der Begriff der Dekodierungsrichtung scheint uns in diesem Zusammenhang aber wenig glücklich. Mit der Methode der Blickerfassung (eye tracking) kann man untersuchen, welche Punkte einer Werbeanzeige in welcher Reihenfolge fixiert werden (cf. Kroeber-Riel/ Esch 5 2000, 189s., 241). Danach ist es fast immer zunächst das Bild (englisch visual), das unsere Aufmerksamkeit erweckt 81 . Der Blick folgt dann einer Zick-Zack-Bewegung, wie wir sie in unserer Kultur von der Lektüre her gewohnt sind. Erfasst wird dabei üblicherweise die Titelei (englisch headline), kaum jedoch der klein gedruckte Fließtext (englisch body copy). Der letzte Blick fällt rechts unten auf die Seite, wo zumeist das Markenlogo und ein allfälliger Slogan 82 steht. Eigentlich wäre es der Fließtext, der uns die meisten Informationen übermitteln könnte, doch zeigen diese Untersuchungen, dass er zumeist gar nicht zur Kenntnis genommen wird. 81 „Da das Bild fast immer zunächst betrachtet wird, ist es für die Erwartungen und für das Verständnis verantwortlich, mit denen sich der Empfänger dem Text zuwendet“ (Kroeber-Riel/ Esch 5 2000, 241). 82 Slogan und headline werden zum Teil nicht geschieden. Die headline ist aber auf den jeweiligen Inhalt einer Werbeanzeige bezogen, während der Slogan während längerer Zeit für eine Marke wirbt. <?page no="245"?> 233 Grundsätzlich hat die headline die gleiche Funktion wie eine andere Titelei auch (cf. Kap. 12.2). Wie wir soeben festgestellt haben, gelingt es aber eher selten, dass die Titelei einer Werbeanzeige die Aufmerksamkeit auf den Fließtext lenkt. Die headline muss deshalb ihre Funktion vor allem im Zusammenspiel mit dem Bild verwirklichen. Sehr häufig ist dabei die headline der Werbeanzeigen für sich genommen einfach zu wenig informativ. Eine so allgemeine Formulierung wie „Seien Sie Ihrer Zeit voraus“ kann sich auf ein beliebiges Produkt beziehen; es wird dann zur Aufgabe des Bildes, die Bedeutung auf ein bestimmtes Produkt einzuschränken. Was das Bild betrifft, möchten wir annehmen, dass ihm eine sehr ähnliche Funktion wie einer Titelei zukommt. Stärker noch als die Titelei hat das Bild jedoch die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter auf sich zu ziehen. Im Extremfall kann dies sogar seine einzige Funktion sein. In einer Werbeanzeige für ein Girokonto bei der ING-DiBa (Der Spiegel 41, 11.10.2010, p. 33) zeigt das Bild einen jugendlichen Herrn, der offenbar in einem Restaurant die Aufmerksamkeit des Servierpersonals auf sich zu ziehen versucht. In diesem Fall hat das Bild überhaupt nichts mit dem Inhalt der Anzeige zu tun und dient allein als Blickfang. Man sieht auch immer mehr Werbeanzeigen, die bloß aus einem Bild und dem Namen der Marke bestehen. Diese Art Werbung findet man vor allem für Schmuck und Uhren, sowie für Designerkleider und -schuhe. Einerseits dürfte es sich hier um eine ausgesprochene Aktualisierungswerbung handeln, deren Funktion vor allem darin besteht, den Firmennamen in Erinnerung zu rufen, da die Käuferschaft bekannten Firmennamen mehr vertraut als unbekannten (cf. Kroeber-Riel/ Esch 5 2000, 89ss.). Andererseits handelt es sich in diesem Fall um Gegenstände, die weit mehr einen symbolischen als einen realen Wert haben und für die es deshalb schwierig ist, mit logischen Argumenten zu werben. Titeleien sind entweder informativ oder spielerisch (cf. Kap. 12.2.1). Dies gilt cum grano salis auch für das visual. Informativ ist es dann, wenn es sich darauf beschränkt, dass beworbene Produkt abzubilden. Diese Vorgehensweise ist wenig kreativ. Es kommt hinzu, dass man zwar ein konkretes Produkt, schwerlich aber eine Dienstleistung bildlich darstellen kann. Will man nicht gerade mit einem Bild werben, das nichts mit der Dienstleistung zu tun hat, so bleibt noch die Möglichkeit einer spielerischen, mehr oder weniger surrealistischen Bildkomposition. In einer Werbung für REWEs Label PRO PLANET (Der Spiegel 41, 11.10.2010, p. 49) sieht man so eine Familie, die auf einem Waldweg mit ihrem Einkaufswagen die Durchfahrt eines Holztransporters blockiert. Dies ist eine rätselhafte Bildkomposition, deren Lösung man im sprachlichen Textteil vermuten darf. Doch der Haupttitel hilft nicht weiter; er ist ebenfalls von eher spielerischer Art, indem er mit dem Doppelsinn von bewegen arbeitet: „Unsere Kunden bewegen mehr als ihren Einkaufswagen.“ Erst der verhältnismäßig klein gedruckte Untertitel hilft, den Sinn der Werbeanzeige besser zu verstehen: „Setzen auch Sie ein Zeichen für den Erhalt der Wälder. Mit dem Kauf unserer PRO PLANET-Produkte.“ Wer uns ist, erfährt man wiederum erst, <?page no="246"?> 234 wenn man weiterliest. Durch diesen Aufbau soll somit die Betrachterin oder der Betrachter dazu verleitet werden, ständig weiterzulesen. Nadine Rentel (2004, 216s.) verweist nur sehr kurz darauf, dass das Bild auch dazu dienen kann, einen Titel zu ambiguisieren. 2006 schaltete der private französische Radiosender RTL eine Anzeigenreihe, deren sprachlicher Teiltext einzig aus dem Slogan „Vivre ensemble. RTL“ bestand. Gemeint war wohl in diesem Fall das „Zusammenleben“ des Senders mit seinen Hörerinnen und Hörern. Illustriert wurde dieser Slogan jedoch durch Bilder von Politikern und einer Politikerin, deren Zusammenleben in der gleichen Partei und in einem Fall sogar im gleichen Haushalt durch ihre gegensätzlichen Ambitionen getrübt war, nämlich Dominique de Villepin und Nicolas Sarkozy, sowie Ségolène Royal und François Hollande. In diesem Fall diente das Bild dazu, den sprachlichen Teiltext zu ironisieren. Man kann sich im Titel auch einer idiomatischen Wendung bedient. Damit hat sich Hartmut Stöckl (2004, 260-264, 309ss.) eingehend befasst. Idiome enthalten Metaphern, die aber weitgehend lexikalisiert sind und deshalb kaum missverstanden werden können. In diesem Fall scheint die Tendenz nun aber zu sein, dass das Bild auf die „wörtliche“ und nicht auf die metaphorische Bedeutung anspielt. So wurde in einem Artikel der Times (cf. Stöckl 2004, 263) der Titel „How to find a safe haven for your cash“ mit dem Bild eines kleinen idyllischen Hafens illustriert. In einer Zeit der Informationsflut ist es vor allem wichtig aufzufallen. Dabei sind Witz und Ironie erfolgversprechendere Strategien als trockene Information. 24.5 Die Bild-Bild-Beziehung Wir haben uns in diesem Buch mit den Beziehungen der Sätze in einem Text befasst. Wie steht es jedoch mit den Bild-Bild-Beziehungen? Diese sind im Vergleich zur Sprache recht eingeschränkt. Hartmut Stöckl (2004, 289ss.) nennt einzig deren drei, nämlich • die temporal-narrative, • die spezifizierende, bei der Details aus einem Gesamtbild gezeigt werden, und • die vergleichend-kontrastierende Bild-Bild-Beziehung. Von diesen Beziehungen ist die weitaus wichtigste die temporal-narrative. Die Bindung an den zeitlichen Ablauf ist ganz besonders deutlich bei den bewegten Bildern in Film und Fernsehen. Komplexer ist der Fall der Bildgeschichte, des Comics, wo sich die einzelnen Panels, wie man die Einzelbilder nennt, zwar üblicherweise in der richtigen zeitlichen Reihenfolge befinden, wo man aber gleichsam von einem Panel zum anderen springt. Mario Saraceni (2003, 9) schreibt dazu: Each panel is separated from the others by a blank space called the gutter. The gutter is a very important element, since it is the space containing all that happens be- <?page no="247"?> 235 tween the panels. This means that the reader has to guess the missing elements in order to reconstruct the flow of the story. Saraceni übernimmt aus der Linguistik die Unterscheidung zwischen Kohäsion und Kohärenz. Dazu muss man wissen, dass ein Panel normalerweise aus mehreren Zeichen besteht. Ulrich Krafft (1978) unterscheidet so im Comic zwischen Handlungszeichen (z.B. Obelix und Idefix) und Raumzeichen (z.B. ein Wald). Letztere sind nicht direkt an der Handlung beteiligt und können auch fehlen beziehungsweise durch einen einfarbigen Hintergrund ersetzt werden. Die Kohäsion beruht nun darauf, dass in den sich folgenden Panels immer wieder die gleichen Zeichen, vor allem die gleichen Handlungszeichen, vorkommen. Diese Wiederholungen sind der Koreferenz in einem Sprachtext vergleichbar (cf. Kap. 6.3). Die Kohärenz ergibt sich dagegen in der Bildgeschichte allein aus der Rekonstruktion des Handlungsablaufs, den die Leserin oder der Leser selber vornehmen muss. Es gibt weitere Ausdrucksmittel, die aber mit Ausnahme der Musik in der Oper eine eher untergeordnete Rolle spielen. Dazu gehören neben der Musik auch die Geräusche. Im Comic werden Geräusche durch onomatopoetische, d.h. lautmalerische Bildungen (ZIFF! WRANG! ZOING! ) wiedergegeben. Enkell/ Rézeau ( 2 2003) haben ein Wörterbuch dieser Bildungen für das Französische herausgegeben. Dies zeigt, dass wir es hier mit einem eigenen, zusätzlichen Zeichensystem von konventionalisierten, wenn auch polysemen Zeichen zu tun haben. Und wenn dies alles noch nicht genügt, so verbleibt immer noch die Sprache. Diese kommt nicht nur in den Dialogen der Sprechblasen vor, sondern auch in jenen zumeist rechteckigen Feldern, die man auf Englisch als captions und auf Französisch als récitatifs bezeichnet. Dadurch kann zu Beginn einer Episode Ort und Zeit angezeigt werden oder es können Verständnishilfen angeboten werden. In diesem Fall greift auch der Comic auf die Mittel des sprachlichen Erzählens zurück. Grundsätzlich ist zwar im Comic das Bild das wichtigste Ausdrucksmittel, aber es gibt auch Ausnahmen. In den Frustrés von Claire Bretécher findet man beispielsweise Geschichten, wo in jedem Panel die gleichen Handlungszeichen zu sehen sind und sich bloß die Mimik und die Gestik der dargestellten Personen ändert. Die Funktion des Bildes reduziert sich hier darauf, die Körpersprache nachzuahmen, ein Kommunikationskanal der mündlichen Kommunikation, der in der Schrift sonst keine Berücksichtigung findet. Auch ein weiterer Kanal der Mündlichkeit, die Intonation, findet im Comic seinen Ausdruck dadurch, dass man mit verschiedenen Schriften und auch mit verschiedenen Sprechblasen arbeitet 83 . Große Buchstaben im Dialog bedeuten, dass jemand schreit, und besonders kleine, dass jemand flüstert. Man hat dem Comic immer wieder vorgeworfen, dass er zu einer Verarmung der 83 Für die zeichnerischen Ausdruckmittel, cf. vor allem Scott McCloud (1994), der die Ausdrucksmittel des Comics mit Hilfe eines Comic darstellt. <?page no="248"?> 236 Sprache führe. Dabei ist er eine Kommunikationsform, die sich sehr stark den Möglichkeiten der mündlichen Sprache annähert. <?page no="249"?> 237 25 Textsorten Zuletzt wollen wir uns den Fragen einer Textsortentypologie zuwenden. Wir haben bereits in Kapitel 9.6 vorgeschlagen, zwischen Texttyp und Textsorte zu unterscheiden. Texttypen werden primär durch die Kommunikationsabsicht bestimmt, Textsorten legen dagegen fest, wie ein bestimmter Texttyp in einer gegebenen Sprache realisiert wird. Textsorten können sowohl den Aufbau des Textes wie auch die Wahl der Ausdrucksmittel bestimmen. Da jede Sprache die gleiche Idee auf verschiedene Arten ausdrücken kann, wird es zur Aufgabe der Textsorte, diese Wahl einzuschränken. Alle Textsorten tun dies aber nur bis zu einem gewissen Grade und lassen damit Platz für die individuelle Ausgestaltung. Dadurch wird es schwierig festzulegen, wann wir es noch mit der gleichen und wann wir es bereits mit zwei verschiedenen Textsorten zu tun haben. Aufgrund dieser Tatsache droht eine allgemeine Textsortentypologie noch lange das utopische Fernziel der Textlinguistik zu bleiben. 25.1 Texttypen und Textsorten Wir haben in Kapitel 9.6 die Unterscheidung zwischen Texttyp und Textsorte eingeführt. Als Texttyp betrachten wir eine kommunikative Einheit, die durch die Kommunikationssituation und die Kommunikationsabsicht definiert wird. Unterkategorien eines Texttyps können zusätzlich durch Kriterien wie den Kommunikationskanal und die Textthematik determiniert werden. Texttypen lassen sich damit unabhängig von ihrer sprachlichen Verwirklichung bestimmen und eignen sich deshalb als tertium comparationis für einen interlinguistischen Textsortenvergleich. Wer einen Text schreibt, lässt sich aber kaum von solchen theoretischen Erwägungen leiten, sondern er nimmt sich mit Vorteil bestehende ähnliche Texte als Vorbild. Auf diese Weise entstehen jene Vertextungsmuster, die wir Textsorten nennen. Meistens beruhen sie auf einer stillschweigenden Übereinkunft, die nirgends festgelegt ist. Es gibt aber Ausnahmen. Nach Paul Amselek (1990, 404) kommt es sogar vor, dass französische Premierminister sich an ihre Minister mit der Aufforderung wenden, sich beim Entwurf von Gesetzen und Erlassen an die geltenden Normen zu halten. Das Projekt einer allgemeinen Texttypologie ist etwa so alt wie das der Textlinguistik selber. Was Eckard Rolf in Die Funktion der Gebrauchstextsorten (1993) vorgeschlagen hat, ist in unserer Terminologie ein Versuch, die Texttypen zu klassifizieren. Schon dieses Unterfangen erweist sich als schwierig. Wir haben uns hier mehrfach mit einzelnen seiner Zuweisungen kritisch auseinandergesetzt. Tatsächlich ist es nicht immer leicht, Kommunikationsabsichten zu bestimmen. Wir glauben auch nicht, dass sich diese immer in einer der fünf Sprechaktkategorien Searles ausdrücken lassen. Für fiktionale Texte, mit denen sich Rolf nicht beschäftigt, kann man dies sogar ausschließen (cf. Kap. 18.4). Zudem scheinen uns gewisse Texte eine phatische Funktion zu <?page no="250"?> 238 haben, d.h., dass sie einfach dazu dienen, zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten (cf. Kap. 9.5). Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich aus der Mehrfachadressierung gewisser Texte. Dies gilt ganz besonders für die direktiven Textsorten. Diese enthalten Anweisungen, die nur für die primären Adressatinnen und Adressaten gelten; für die nicht direkt Betroffenen enthalten sie bloß Informationen und werden zum Teil auch wie informative Texte formuliert, was zu irrigen Zuweisungen führen kann (cf. Kap. 11.4 und 11.5). Üblicherweise lässt sich aufgrund der Bestimmung der primären Adressatinnen und Adressaten aber auch eine primäre Kommunikationsabsicht festlegen. So sind Anweisungstexte, die anordnen, wie vorzugehen ist, als direktiver Texttyp zu verstehen, auch wenn sie nur denjenigen Personen Anweisungen erteilen, die das, was angeordnet wird, auch tatsächlich ausführen wollen. Erweist sich schon die Klassifikation der Texttpyen als schwierig, so dürfte diejenige der Textsorten noch auf lange Zeit hinaus utopisch bleiben. Es soll hier deshalb in erster Linie von den Schwierigkeiten eines solchen Projekts die Rede sein. Die Textsorte bestimmt bis zu einem gewissen Grade die Makro- und die Mikrostruktur eines Textes. Unter der Makrostruktur verstehen wir dabei die Natur der untergeordneten Sprechakte und ihrer Konnektive, sowie ihre Abfolge im Text, unter Mikrostruktur dagegen die Ausdrucksmittel, mit denen die Sprechakte verwirklicht werden. Der Ausdruck „bis zu einem gewissen Grade“ zeigt dabei die Schwierigkeit der Textsortenbestimmung an. Wie weit legt das Vertextungsmuster einer Textsorte den Aufbau und die Ausdrucksformen eines Textes fest und wie weit lässt es Alternativen zu? Von der Beantwortung dieser Frage hängt auch ab, wann wir es noch mit zwei Varianten der gleichen Textsorte zu tun haben und wann wir bereits von zwei verschiedenen Textsorten sprechen müssen. Da sich diese Fragen nicht eindeutig beantworten lassen, bleibt die Textsortenforschung einem sehr empirischen Ansatz verpflichtet. 25.2 Die Makrostruktur So wie wir soeben die Makrostruktur definiert haben, mag man erstaunt sein, dass wir nicht angenommen haben, die Natur der untergeordneten Sprechakte und ihrer Konnektive werde vom Texttyp bestimmt. Tatsächlich ist dies nicht immer eindeutig. Die antike Rhetorik nimmt im Allgemeinen an, dass eine politische oder Gerichtsrede aus folgenden Teilen zu bestehen habe, nämlich aus • dem exordium, durch das der Redner oder die Rednerin den Kontakt mit dem Publikum herstellt, • der narratio, welche den Sachverhalt darstellt, • der argumentatio, in der Argumente für die Schlussfolgerung vorgebracht werden, <?page no="251"?> 239 • der refutatio oder confutatio, in der die Argumente des Gegners widerlegt werden, und • der peroratio, die zur Schlussfolgerung und damit zum dominierenden Sprechakt führt. Dabei hat sich schon Aristoteles (Rhetorik III, 13) gefragt, welche dieser Redeteile wirklich obligatorisch sind. Das wären seiner Meinung nach nur die narratio und die argumentatio. Auch kann nach Aristoteles (Rhetorik III, 17) der Argumentation die Widerlegung der gegnerischen Argumente vorangehen und braucht ihr nicht zu folgen. 25.3 Die Argumentationsstruktur von Revisionsurteilen Wie wir bereits in Kapitel 21.2 erwähnt haben, zeigen die schweizerischen Gerichtsbeschlüsse mit der Abfolge Sachverhalt — Erwägungen — Dispositiv einen Aufbau, der dem der klassischen Rede sehr ähnlich ist. Auf ein Exordium kann in diesem Fall verzichtet werden und die Argumente und Widerlegungen sind hier in den Erwägungen zusammengefasst. Demgegenüber beginnen die deutschen und österreichischen Urteile mit dem Dispositiv. Wir wollen hier untersuchen, welche Auswirkungen dies auf die Argumentationsstruktur hat. Wir haben dabei letztinstanzliche Urteile verwendet, da sie heute auf dem Internet leicht zugänglich sind. Außerdem haben wir nur ausführliche Urteile beigezogen. Wenn das schweizerische Bundesgericht bei Entscheiden von Einzelrichtern zum Teil auf die Abfassung in einem Satz zurückgreift (cf. Beispiel 10.3), so muss man sich bereits fragen, ob wir es nicht mit zwei verschiedenen Textsorten zu tun haben. Zwar ist die Makrostruktur die gleiche, aber die Ausdrucksmittel sind teilweise verschieden. 25.3.1 Das schweizerische Bundesgericht Die Erwägungen, die auf die Darstellung des Sachverhalts folgen, stellen sich beim schweizerischen Bundesgericht als eine Art Argumentation über zwei bestehende Argumentationen dar, nämlich diejenige der Vorinstanz und diejenige der eingereichten Beschwerde. Wie bei letztinstanzlichen Gerichten allgemein üblich, wird vor dem Bundesgericht der Prozess nicht noch einmal aufgerollt, d.h., dass nicht noch einmal Zeugen angehört werden, sondern dass auf die Erhebungen der Vorinstanz abgestellt wird 84 . Folgendes Beispiel ist charakteristisch dafür, wie man in Lausanne argumentiert: 84 Unsere Untersuchung stützt sich auf die Urteile mit den Nummern 1C_107/ 2010, 1C_236/ 2010, 1C_404/ 2009, 2C_10/ 2010, 2C_38/ 2010, 2C_385/ 2009, 2C_632/ 2010, 2C_794/ 2009, 6B_246/ 2010, 6B_270/ 2010" , 6B_276/ 2010, 6B_473/ 2010, , 6B_493/ 2010, 8C_51/ 2010, 8C_77/ 2010, 8C_232/ 2010, 8C_335/ 2010, 8C_834/ 2010, 9C_75/ 2010, 9C_278/ 2010. Sie wurden am 20. Juni und am 29. Juli 2010 von www.bger.ch heruntergeladen. <?page no="252"?> 240 (25.1) (i) Das Bundesgericht […] legt die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), wenn sie nicht offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). „Offensichtlich unrichtig“ bedeutet willkürlich. Eine Willkür muss der Beschwerdeführer anhand der angefochtenen Beweiswürdigung darlegen. Auf appellatorische Kritik tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 136 II 101 E. 3). (ii) Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerde nicht. (iii) So führt der Beschwerdeführer zwar aus, nach Abschluss des Werkvertrags (oben E. A) habe er mit A. verhandelt. Er setzt sich aber nicht mit der vorinstanzlichen Feststellung auseinander, wonach er gewusst hatte, dass ein Vertrag mit der Firma nur schriftlich abgeschlossen werden konnte und dass dazu die Unterschriften von zwei Zeichnungsberechtigten erforderlich waren, dass aber A. nicht zeichnungsberechtigt gewesen war (angefochtenes Urteil S. 9). (iv) Die Vorinstanz leitet die Diebstahlsabsicht nicht „alleine“ aus dem Abschluss des Werkvertrags her. An der Wegnahme ändert sich nichts, dass er „die Hallenteile nicht in einer Nacht- und Nebelaktion heimlich entwendet hat“. Auch dass er die Firmenkennzeichen nicht übermalt hatte, lässt die Bereicherungsabsicht nicht entfallen. (v) Auf diese Tat- und Rechtsfragen vermengenden appellatorischen Vorbringen ist nicht einzutreten. (6B_270/ 2010, E.) Die meisten Entscheide beginnen mit einer Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen einer Beschwerde ans Bundesgericht 85 . Was wir unter (i) zitieren, sind dabei nur die Schlusssätze dieser allgemeinen Überlegungen. In (ii) wird dann festgestellt, dass die Beschwerde diesen Anforderungen nicht genügt. Dies ist eine Folgerung, die sich auf die folgende Argumentation abstützt. (iii) hat dabei einen konzessiven Aufbau. Das entscheidende Argument ist, dass der Beschwerdeführer auf die Argumentation der Vorinstanz gar nicht eingegangen ist. In (iv) werden offensichtlich Argumente aus der Beschwerdeschrift widerlegt, wobei die Textstellen zwischen Anführungszeichen Zitate aus diesem Schriftsatz sein müssen. Dabei wird allerdings nicht wirklich argumentiert, sondern die Argumente des Beschwerdeführers werden ganz einfach abgelehnt. (v) ist sodann die Schlussfolgerung, dass auf die Vorbringungen des Beschwerdeführers nicht „einzutreten“ sei. Diese Folgerung ist der dominierende Sprechakt in diesem Abschnitt; sie ergibt sich aus (i) als Obersatz und aus (ii) als Untersatz. Die Argumentation hat hier die Form eines modus tollens. Es ist nicht untypisch für diese Textsorte, dass solch explizite Argumentationen neben den sehr impliziten in (iv) zu stehen kommen. Das schweizerische Bundesgericht beschränkt sich darauf abzuklären, ob der Entscheid der Vorinstanz Bundesrecht verletzt. Dazu muss man wissen, dass es in der Schweiz auch kantonales Recht gibt, wobei aber Bundesrecht kantonales Recht „bricht“. Angesichts dieser Beschränkungen werden nur verhältnismäßig wenige Fälle mit dem Auftrag einer zusätzlichen Abklärung 85 Wenn in Wüest (2002, 186) behauptet wurde, dies sei nur bei französischsprachigen Urteilen der Fall, so ist das der Tatsache zuzuschreiben, dass dort nur strafrechtliche Urteile berücksichtigt wurden. <?page no="253"?> 241 an die Vorinstanz zurückverwiesen. In unserem Korpus waren es gerade einmal drei von zwanzig Urteilen. Eine erstaunlich hohe Anzahl von Beschwerden wird dagegen aufgrund ihrer grundsätzlichen Mängel schon im Vorneherein als aussichtslos taxiert. Ein besonderer Hinweis sei in diesem Zusammenhang auf die sozialrechtlichen Beschwerden erlaubt, in denen es um die Zusprechung von Renten geht. Das Gericht muss sich in diesem Fall auf die entsprechenden medizinischen Gutachten stützten, die der Reihe nach zusammengefasst werden. Daraus muss das Gericht dann seine Folgerung ziehen. Die Argumentation ist in diesem Falle induktiv, indem aus einer Mehrzahl von medizinischen Gutachten eine generelle Folgerung gezogen wird. 25.3.2 Die österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshöfe Was bei den „Erkenntnissen“ des österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofs 86 zunächst einmal auffällt, das ist, dass Gesetzestexte, vorinstanzliche Urteile und Beschwerden ausführlich im Wortlaut zitiert werden. Das trägt dazu bei, dass österreichische Urteile verhältnismäßig lang sind. In der Schweiz und in Deutschland sind solche wörtlichen Zitate die Ausnahme. Wie in Deutschland steht das Dispositiv am Anfang, doch unterscheidet sich die Art, wie argumentiert wird, nicht grundsätzlich von derjenigen in der Schweiz. Obwohl nicht formal getrennt, wird zunächst der Sachverhalt geklärt und dann auf eine Schlussfolgerung hin argumentiert, so dass diese hier doppelt vorkommt, einmal am Schluss der Begründung und das andere Mal im vorangestellten Dispositiv. 25.3.3 Der deutsche Bundesgerichtshof Die Beschlüsse des deutschen Bundesgerichtshofs bilden dagegen einen eigentlichen Gegenpol zu denjenigen des schweizerischen Bundesgerichts 87 . Hier lässt sich von zwei verschiedenen Textsorte sprechen, die allerdings beide den Texttyp des Revisionsurteils repräsentieren. Zunächst fällt bei den Urteilen des deutschen Bundesgerichtshofs auf, dass dieser über weitgehende Kompetenzen bei der Auslegung des Rechts verfügt. Während das schweizerische Bundesgericht nur überprüft, ob ein Urteil eidgenössisches Recht verletzt, haben die obersten Gerichte der Bundesrepublik die Möglichkeit, das Recht selbstständig weiterzuentwickeln. Ist dies der Fall, steht vor dem Entscheid ein Leitsatz. Solche Urteile heißen dann Leitsatzentscheide. 86 Cf. www.ris.bka.gv.at/ Judikatur. 87 Auch hier stützten wir uns auf die Analyse von 20 Urteilen, darunter 10 Leitsatzentscheide, nämlich 5 StR 51/ 10, 5 StR 464/ 09, IX ZB 167/ 09, IX ZB 216/ 07, I ZR 121/ 08, I ZR 85/ 08, I ZR 178/ 08, III ZR 221/ 09, V ZR 218/ 09, VI ZR 177/ 09, ferner 1 StR 577/ 09, 1 StR 148/ 10, 2 StR 48/ 10, 5 StR 104/ 10, 5 StR 115/ 10, V ZB 93/ 10, V ZB 203/ 09, IX ZB 3/ 07, III ZR 117/ 09, XI ZR 224/ 09. Die Urteile wurden am 20. Juni und 3. August 2010 von www.bundesgerichtshof.de heruntergeladen. Ausgeschlossen wurden Beschwerden wegen Verweigerung der Revision und Gesuche um Prozesskostenhilfe, die zumeist nur summarisch begründet werden. <?page no="254"?> 242 Während wir die Entscheide des schweizerischen Bundesgerichts als eine Argumentation über zwei bestehende Argumentationen bezeichnet haben, trifft das auf den deutschen Bundesgerichtshof nicht zu. Diesem ist es überlassen, wie weit er überhaupt auf die Argumentation der Beschwerdeführerin oder des Beschwerdeführers eingehen will. Urteil XI ZR 224/ 09 (14) bemerkt dazu: (25.2) Die weiteren geltend gemachten Zulassungsgründe hat der Senat geprüft, aber für nicht durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 ZPO abgesehen. In einem der untersuchten Urteile (IX ZB 3/ 07) fehlt sogar der Verweis auf die Vorinstanz, doch darf dies wohl als eine nicht charakteristische Normabweichung gelten. Mit der Argumentation der Vorinstanz befasst man sich im Wesentlichen aber nur dort, wo diese widerlegt wird. Auf diese Art und Weise erhält die Argumentation des Bundesgerichtshofs einen weitgehend autonomen Charakter. Das ist nicht der einzige Unterschied. Während in Entscheiden ohne Leitsatz wie in der Schweiz aufgrund der bestehenden Gesetze argumentiert wird, geht es bei Leitsatzentscheiden darum, die Gesetze zu ergänzen. Das Gericht stützt sich in diesen Fällen auf andere richterliche Entscheide oder es argumentiert sogar mit Hilfe von allgemeinen Maximen wie derjenigen, dass man das tun soll, was im eigenen Interesse ist. Im folgenden Fall wurde in dieser Weise begründet, wieso sich jemand strafbar macht, wenn sein ungesicherter WLAN-Anschluss von einer Drittperson missbraucht wird: (25.3) Auch Privatpersonen, die einen WLAN-Anschluss in Betrieb nehmen, ist es zuzumuten zu prüfen, ob dieser Anschluss durch angemessene Sicherungsmaßnahmen hinreichend dagegen geschützt ist, von außenstehenden Dritten für die Begehung von Rechtsverletzungen missbraucht zu werden. Die Zumutbarkeit folgt schon daraus, dass es regelmäßig im wohlverstandenen eigenen Interesse des Anschlussinhabers liegt, seine Daten vor unberechtigtem Eingriff von außen zu schützen. Zur Vermeidung von Urheberrechtsverletzungen durch unberechtigte Dritte ergriffene Sicherungsmaßnahmen am WLAN-Zugang dienen zugleich diesem Eigeninteresse des Anschlussinhabers. Die Prüfpflicht ist mit der Folge der Störerhaftung verletzt, wenn die gebotenen Sicherungsmaßnahmen unterbleiben. (1 ZR 121/ 08, 22) Vor allem aber steht in Deutschland nicht nur das Dispositiv am Anfang, sondern es wird auch die Argumentation gleichsam umgedreht, indem der Entscheid thesenförmig am Anfang steht und im Anschluss daran begründet wird: (25.4) In der Sache führt das Rechtsmittel zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Verfahrens an das Beschwerdegericht (scl. die Vorinstanz). 1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, der Gläubiger habe den geltend gemachten Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO genügende glaubhaft gemacht. [Es folgen 6 Sätze indirekter Rede im Konjunktiv I.] <?page no="255"?> 243 2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. a) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist allerdings davon auszugehen, dass der weitere Beteiligte zu 1 den von ihm geltend gemachten Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO glaubhaft gemacht hat. […] b) Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht beanstandet, fehlt es jedoch an hinreichenden Feststellungen des Beschwerdegerichts, dass der Schuldner die ihm vorgeworfenen Steuerverkürzungen tatsächlich vorgenommen hat. […] (IX ZB 216/ 07) Zu Beginn wird thesenförmig der Beschluss des Gerichts aus dem vorangehenden Dispositiv wiederholt. Es folgt dann in 1. zunächst die Darstellung der Argumentation der Vorinstanz. Dieser Teil, von dem wir hier nur den ersten Satz wiedergeben, entspricht der Darstellung des Sachverhalts in schweizerischen Urteilen. In 2. wird dann begründet, wieso dem Rekurs Folge gegeben wurde. Auch hier steht eine These am Anfang, nach der die Ausführungen der Vorinstanz einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten. Erst darauf folgt die Begründung dieser These, wobei a) den Wert eines Konzessivsatzes hat und die eigentliche Begründung in b) steht. Die Feststellung in Punkt 2 schließt dabei logisch an den Anfangssatz an, indem er den Beschluss des Gerichts begründet. Diese beiden Sätze werden jedoch durch die sieben Sätze von Punkt 1 auseinandergerissen. Das ist die Folge davon, dass in dieser Disposition eigentlich kein Platz für die Darstellung des Sachverhalts vorgesehen ist. Fünf von zehn Urteilen ohne Leitsatz wenden deshalb eine Radikallösung an. Sie verzichten ganz einfach auf die Darstellung des Sachverhalts, was den Entscheid kaum nachvollziehbar macht. Bei den Leitsatzentscheiden fällt es schwieriger, auf eine Sachverhaltsdarstellung zu verzichten. Es gibt jedoch keine einheitliche Darstellungsweise. In vier von zehn Leitsatzentscheiden wird immerhin zwischen Tatbestand und Entscheidungsgründen (in dieser Reihenfolge) unterschieden. In vier weiteren Fällen wird der Tatbestand zu Beginn des Teils, der mit Gründe überschrieben ist, erörtert, während man in den zwei verbleibenden Entscheidungen den Sachverhalt nur über die Darstellung des Entscheids der Vorinstanz erfährt. Die Abfolge Sachverhalt — Erwägungen — Dispositiv, die im Wesentlichen derjenigen entspricht, welche die klassische Rhetorik für politische Reden vorgeschlagen hatte, darf wohl als die natürlichste gelten. Versucht man sie umzukehren, so ergibt sich ein Problem mit der Darstellung des Sachverhalts. Diese hat die Aufgabe, die Argumentation des Gerichts verständlicher zu machen und kann deshalb nicht einfach an den Schluss gestellt werden. So kommt es, dass in vier Leitsatz- und zwei weiteren Entscheiden unseres deutschen Korpus am Ende der Begründung die Folgerung noch einmal genannt wird, so wie das auch in Österreich der Fall ist. <?page no="256"?> 244 25.4 Die Mikrostruktur Die Textsorte kann bis zu einem gewissen Grade auch die Mikrosturktur, d.h. die für die einzelnen Sprechakte verwendeten Ausdrucksmittel festlegen. Das ist insofern von Belang, als dass in einer Sprache einer gegebenen Idee immer mehrere Ausdrucksmittel gegenüberstehen. Hier kann die Textsorte die Wahl der Ausdrucksmittel einschränken. Bei unserer Untersuchung der schweizerischen Revisionsurteile ist uns beispielsweise aufgefallen, dass die Art, wie die Beschwerde zitiert wird, sehr stereotyp ist. Es handelt sich um eine zuerst eingeleitete, dann uneingeleitete indirekte Rede im Konjunktiv, wobei das Einleitungsverb immer im Präsens Indikativ steht 88 : (25.5) Mit Eingabe vom 14. September 2009 erheben X. und Y. Beschwerde beim Bundesgericht. Sie stellen den Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 17. Juni 2009 sei aufzuheben. Auf die Beseitigung des in die Landwirtschaftszone ragenden Teils des Pferdestalls sei zu verzichten. Eventualiter sei festzustellen, dass die Beschwerdeführer bei der Erstellung der Baute gutgläubig gehandelt hätten und die Voraussetzungen für den Schutz des Vertrauens erfüllt seien. (1C_404/ 2009, S.C) Grundsätzlich wird der Konjunktiv I bevorzugt. Wenn einmal der Konjunktiv II auftritt (gehandelt hätten), so erklärt sich dies daraus, dass in diesem Fall die Form des Konjunktiv I nicht vom Indikativ (gehandelt haben) zu unterscheiden wäre. Der Konjunktiv darf dabei nicht als eine Distanzierung des Gerichts gegenüber der Argumentation gewertet werden. Der Indikativ tritt nur dann auf, wenn etwas unbestritten ist: (25.6) Es ist unbestritten, dass ein Teil des Pferdestalls (ca. 30 m2) der Beschwerdeführer in der Landwirtschaftszone liegt. Die Beschwerdeführer bestreiten auch nicht, dass die fragliche Stallung der Hobbytierhaltung gilt. (1C_404/ 2009, E.2.2) Wird hingegen das Urteil der Vorinstanz zitiert, so steht der einleitende Satz abwechslungsweise im Präsens, im Perfekt oder im Präteritum, wobei im gleichen Urteil das Tempus sogar wechseln kann. Offenbar wird in diesem Fall die Tempuswahl nicht durch die Textsorte festgelegt. Was die Inhaltssätze betrifft, so haben auch deutsche Instanzen eine Vorliebe für den Konjunktiv I, die österreichischen dagegen, wie schon gesagt, für das wörtliche Zitat. 25.5 Die Globalisierung von Textsorten Insofern sie die sprachlichen Ausdrucksformen festlegen, sind die Textsorten grundsätzlich an eine bestimmte Sprache gebunden. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass die Globalisierung auch schon die Textsorten erreicht hat. Beim Kochrezept hat sich so als internationale Norm durchge- 88 Ausnahmsweise kommen auch Infinitivkonstruktionen vor. <?page no="257"?> 245 setzt, dass zunächst die Zutaten quantifiziert werden, bevor deren Zubereitung beschrieben wird. Diese Form der Präsentation ist aber weder notwendig noch alt (cf. Hödl 1999, 40s.); sie ist aber praktisch im Hinblick auf die Einkäufe, die zu tätigen sind. Kochrezepte sind Anweisungsstexte und entsprechend ist der Ausdruck der Anweisung zentral. Im heutigen deutschsprachigen Kochrezept hat sich dafür der Infinitiv in imperativischer Funktion weitgehend durchgesetzt (Die Äpfel schälen und in Stücke schneiden). Seltener findet man die 3. Person Plural des Imperativs (Schälen Sie die Äpfel und schneiden Sie sie in Stücke). Das war nicht immer so. Ältere Formen der Anweisung im Deutschen wie man mit Indikativ (Man nimmt ...) oder das heute noch gelegentlich parodierte Man nehme ... mit dem Konjunktiv I sind seit dem zweiten Weltkrieg außer Gebrauch gekommen (cf. Torttila/ Hakkarainen 1990). Die Untersuchung von Annick Englebert (2009) für das Französische zeigt eine sehr ähnliche Entwicklung. Vom Mittelalter bis und mit zum 19. Jahrhundert bestand eine fast uneingeschränkte Auswahl von Ausdrucksmöglichkeiten für die Anweisungen in Kochrezepten. Im 20. Jahrhundert reduziert sich dann die Wahl plötzlich auf die Höflichkeitsform des Imperativs und den imperativischen Infinitiv, deren Formen im Französischen zum Teil phonetisch identisch sind. Aus der Tatsache, dass es früher so viele Möglichkeiten gab, Anweisungen zu umschreiben, zieht Englebert die Folgerung, dass es im Französischen die grammatische Form eines Imperativs gar nicht gebe, so wie dies Gustave Guillaume behauptet hatte. Dass ein gegebener Sprechakt, zumal ein direktiver, durch verschiedene Ausdrucksmittel, grammatische und weniger grammatische, ausgedrückt werden kann, darf in der Textlinguistik aber eigentlich als Normalfall gelten. Deshalb ist diese Argumentation nicht stichhaltig. Was dieses Beispiel dagegen exemplarisch belegt, das ist die Art, wie die Konventionen einer Textsorte die Vielfalt der Ausdrucksmittel einschränken können. Nicola Hödl (1999, 60ss.) stellt im Übrigen eine zunehmende Häufigkeit des imperativischen Infinitivs in Kochrezepten sowohl im Deutschen wie im Französischen und im Spanischen fest, wobei das Spanische allerdings noch die größte Vielfalt von Formen kennt. Dabei ist diese Entwicklung hier für einmal nicht vom Englischen beeinflusst, das die entsprechende Form gar nicht kennt und in diesem Fall immer den Imperativ setzt. Textsortenkonventionen können in dieser Weise sowohl die Makrowie die Mikrostruktur einer Textsorte festlegen. Diese Festlegung ist aber nicht starr, sondern lässt einen mehr oder weniger großen Raum für individuelle Variationen. Eigentliche Normüberschreitungen haben meistens keine Folgen. Wenn sie Nachahmer finden, können sie aber im Laufe der Zeit selber zu einer Veränderung der Norm führen. Bei alle dem bleibt dagegen der Texttyp, der vor allem durch die Kommunikationssituation und die globale Kommunikationsabsicht definiert ist, unverändert und damit der eigentliche Orientierungspunkt für jede Textsortenbestimmung und jeden Textsortenvergleich. <?page no="259"?> 247 Bibliographie Adam, Jean-Michel (1985, 2 1994), Le texte narratif. Traité d’analyse pragmatique et textuelle, Paris: Nathan. — (1990), Eléments de linguistique textuelle. Théorie et pratique de l’analyse textuelle, Bruxelles: Mardaga. — (1992, 2 2008), Les textes: types et prototypes, Paris: Nathan. — (2001a), „Types de textes ou genre de discours? Comment classer les textes qui disent de et comment faire? “, Langages 141, 10-27. — (2001b), „Entre conseil et consigne. Les genres de l’incitation à l’action“, Pratiques 111-112, 7-37. — (2005, 2 2008), La linguistique textuelle. Introduction à l’analyse textuelle des discours, Paris: Armand Colin. — / Marc Bonhomme (1997), L’argumentation publicitaire. 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Nachbarschaftspaar Adjektiv 37, 59, 67, 212-214, 220 Adressierung 217-220 Adverb 55-57, 68, 208 Affektive Begriffe 144, 213, 220 Analepse 167, 204-205, 212 Analogieschluss 134-135, 147 Analyse du discours 2 Anapher 1, 14, 54, 64, 70, 92 Anspielung 42, 102 Appositionen 58-60, 203, 212 Argumentation 5-6, 36-37, 42, 68, 96, 98-99, 103, 116-118, 119-124, 126- 128, 129-139, 141-145, 147-148, 149, 151, 160-161, 192, 199, 202, 204, 207, 211, 215, 222, 224, 238-244 argumentum ad baculum 142, 148 argumentum ad hominem 142-143 argumentum ad misericordiam 142 argumentum ad populum 133, 142 argumentum ad verecundiam 142-143 Assimilierung 157-158 Aufrichtigkeitsbedingung 34, 35-36, 39, 41, 46, 61, 75 Autor, abstrakter 176 Axiologie, s. Sprechakt, axiologischer Begrüßung 219 Beschimpfung 223 Beschreibung 207-215 Bewertung 37, 144-146, 189, 192-193, 212-215, 220, 224-226 Bezugsobjekt, s. Referent Bild und Sprache 239-241, 232-235 Bild-Bild-Beziehung 234-235 Bilder, mentale 16-18, 21-22, 229 Blending, s. Integration, konzeptuelle Blickerfassung 232 CI-Modell 23-24, 229 Common ground, s. Wissen, gemeinsames Connectivity Model 82 Deduktion 119, 121, 132-133 Deixis 13, 54, 170, 178, 183-184 Dependenzgrammatik 55 Dezimalklassifikation 163 Dialog 155, 175, 184, 187-200, 216, 222, 229, 235 Dialoggrammatik 190-193 Diaphasie 49 Diastratie 49 Discours—récit 4-5 Diskursanalyse, kritische 2 Dispositiv 95-97, 122, 198, 239, 241- 243 Distanz 47-48 Doppeladressierung, s. Mehrfachadressierung Dynamische Semantik 54-55 Effizienz von Argumentationen 135, 141, 147-148 Eigenname 11, 52 Eingeschobene Expansion 197-198 Emotion 17 Anm., 36-37, 48, 143-144, 146-148, 171-172, 175, 213-214, 217- 218, 220, 229-230 Empfehlen 82, 89, 101, 103-104, 114, 144-147, 214-215, 224 Endoxon 120-121, 131-132, 135 Enthymem 119-120, 129-133 Epitext 110 Ergänzung, klärende 150, 203-204 Ergänzungsfragen 68 Erzähler, fiktiver 169-171, 176, 180, 182-184, 209, 212 Erzählgrammatik 162-163, 173 Erzählperspektive, s. Fokalisierung <?page no="278"?> 266 Erzählung 99, 162-168, 169-180, 185, 193, 197-198, 202-205, 207, 209-212, 224, 235 Ethos 143, 217-219 Euphemismus 79 Exemplifizieren 133-134, 160, 112 Exordium 218, 223, 238 Face flattering (enhancing) acts 221 Face threatening acts 44-45, 123, 194, 220 Familienähnlichkeit 16 Fangfrage 69, 141 Farben 230-231 Fehlschluss 139, 141 Fiktion 62-63, 114, 169-177, 180, 182- 184, 202, 210, 237 Finalsätze 126 Fokalisierung 173-174, 212 Folgesatz 107, 125-126, 157 Fragesatz 64-65, 67-68, 115, 123, 149, 152, 155, 187-190, 192-195 Funktionalstilistik 6 Fußnote 118 Gedankenwiedergabe 179, 182-183 Gefühl, s. Emotion Gegenargument 118, 126, 128, 139 Gehalt, propositionaler 32, 34, 41, 47, 51, 67, 91, 96, 103, 160, 178 Generalisierend (Nominalsyntagma) 17-18, 51 Generativismus 1, 13-14 Gerechtigkeitsregel 135-136, 222 Gesamttext 227 Gesicht, positives und negatives 44- 46, 185, 221 Gesprächslinguistik 185-196 Glückensbedingungen 34-35, 41-42, 65, 75, 130 Grammatikalisierung 13 Heuchelei 39 Hochsprache 48-49 Höflichkeitsstrategien 44-45, 47, 75, 123, 186, 194, 220-221 Hörer-Feedback 189, 194 Anm. Hypothese 62-63, 67, 69-70, 136-137, 139 Idiom 13, 234 Ikonische Funktion 228-230, 232 Illokution 31-32, 35, 56, 81, 83, 94, 96, 122-123, 155, 178-179 (s. auch Kraft, illokutive) Illokutionshierarchie 6, 81, 89, 94, 98, 110, 117-118, 124, 206 Illusion, referentielle 210 Implikation 72-74, 79-80, 85, 127, 166, 230-231 Implikaturen 74-75 Individualisierend (Nominalsyntagma) 18, 59 Induktion 132-134, 241 Integration, konzeptuelle 14, 78, 135 Interaktionelle Funktion 36-38 Intertextualität 2, 182, 231 Intonation 45, 48, 227, 235 Ironie 39-40, 224, 234 Katapher 14 Anm., 54 Kategorisieren 14-16 Kausalität 58, 63, 99, 107, 121-126, 128, 149, 12, 165-166, 192, 203, 205, 211 Kognitivismus, klassischer 27 Kohärenz 1, 9, 85, 87, 235 Kohäsion 1, 9, 14, 35, 53, 74, 160, 185, 234-235 Kommunikationsabsicht (globale) 9, 81-83, 85, 87, 88, 89, 92, 101, 105, 108, 123, 199, 214, 228, 237-238, 245 Kommunikationskanal 85, 227, 235- 237 Kommunikationssituation 45, 52-53, 84-85, 87-89, 101-102, 142, 237, 245 Konflikt 45-47, 84, 196 Konnektiv (Sprechakt) 94-96, 98-99, 191, 198, 238: argumentativ 99, 130, 149, 201, 223 emotionsunterstützend 99, 198, 213, 215, 220-222 informationserweiternd 99, 118, 150, 154, 162, 192, 197-198, 202-204, 208-209, 211, 213 kausal 99, 125, 206 komplementär 96, 98-99, 150, 153- 154, 197-198, 202-203, 213, 215, 217, 220, 223 <?page no="279"?> 267 kooperationssichernd 94, 96, 99, 197, 217, 219-220 perlokutiv 190-191, 196 sachverhaltsklärend 94, 96, 98-99, 105, 107, 122, 134, 150, 195, 197-202, 211, 224 spezifizierend 99, 109, 134, 149- 154, 199, 202-203, 204, 234 subsidiär 96, 98-99, 125, 137, 139, 149-150, 155, 197, 203 themamarkierend 197 Konnektivismus 26 Anm., 27 Konnektor 1, 6, 80, 93-96, 99, 124-128, 156-157, 165, 197, 206 Konnotation 37, 79, 144, 214 Konsens 45 Kontext 13, 20, 29, 38, 43, 64, 66, 76- 77, 93, 95, 198, 200-201, 215, 230 Konversationsmaximen 75-77 Konzessivsatz 126-128, 204, 212, 240, 243 Kooperationsprinzip 75-76 Koreferenz 53-54, 74, 235 Körpersprache 44, 48, 227, 235 Korpuslinguistik 2, 5 Kotext 14, 19-20, 68, 70, 112, 184, 204 Kraft, illokutive 32-36, 41, 51, 56, 58, 91-93, 97-98, 160, 178 Lektüre, interaktive 8-9, 102 Linksverschiebung 29 Lokutiver Akt 31-32 Lüge 39 Makro-Sprechakt 81-82 Makrostruktur 238-239, 245 Manipulation 147-148, 199-202 Maxime, logische 133, 135, 222, 242 (s. auch Konversationsmaxime) Medium 85, 89 Mehrfachadressierung 84-85, 89, 106 und Anm., 215-216, 220, 238 Merkmalstheorie 15-16 Metalinguistische Funktion 204 Metapher 17, 43, 76-78, 134, 157, 199, 234 Metatext 117-118, 175 Metonymie 77-78, 157 Mikrostruktur 238, 244-245 Modalisierung 46, 64, 122, 137 Modularismus 26-27 Modus 33 Modus ponens 119, 130 Modus tollens 133, 240 Morphem 13 Moral 173-174, 176 Multimodal 227 Nachbarschaftspaar 185, 189-191, 193 Nähe 47-48 Nativismus 14, 17 Negation 56-57, 64, 67, 72 Netze, neuronale 74 Neurologie 16, 143, 177 Nominalstil 49-50, 153 Ortsangabe 57, 170, 208-209 Onomatopöie 235 Paralogismus 141-143 Paratext 110, 118 Passé simple 170-171, 210-211 Pathos 143, 217 Performative Verben 33-35, 41, 45, 91, 96, 106, 179, 220 Peritext 110, 115, 118 Perlokution 31-32, 35, 191 Peroratio 201, 223, 239 Phatische Funktion 88, 237 Plastische Funktion 230 Poetische Funktion 111, 174 Polemik 221-223 Polysemie 15, 124, 126, 228-229, 235 Prädikat 51, 55, 66, 71, 92-93, 144 Prädikat, pragmatisches 32, 80, 92-94, 178 Prädikat-Argument-Struktur, cf. Proposition, logische Prädikatenlogik 56, 91, 96, 99, 125 Pragmatik 2, 19-20 Präsuppositionen 65-70, 131, 176: „Erben“ von Präsuppositionen 69-70, 185 Existenzpräsuppositionen 66-68, 70, 71 Faktische Präsuppositionen 67-68 Kategoriale Präsuppositionen 66 Präsuppositionen negieren 69 Projektionsproblem 65, 70 Präteritum, episches 170-171 <?page no="280"?> 268 Produktionsmodelle 25-27 Prolepse 167, 203-205 Propositionen, logische 7, 16-18, 22- 23, 25, 27-28, 31, 51, 56, 59-60, 87, 92, 144, 229 Protoypentheorie 15 Psycholinguistik 7-9, 15-18, 22-28, 42, 73, 77, 96, 163-165 Rahmenangaben 57, 62, 104, 205-206, 207-208 Ränge (Modell der) 83-84, 191-193 Raum, mentaler 61-70, 72, 78, 169, 174, 178-178, 182 Rechtsfolge, s. Tatbestand Rechtsverschiebung 29 Rede, direkte 178, 184 Rede, erlebte 172, 183-184, 210, 226 Anm. Rede, indirekte 178-180, 183, 212, 234 Redebericht 179-180 Redewiedergabe 171-172, 178-184 Referent 11-12, 51-56 Referenzakt 52-53, 59 Relativsatz 58-59, 203 Anm. Reliefgebung 210 Résumé 115-117 Rhema, cf. Thema Rhetorical Structure Theory 82 Satzperspektive, funktionale 29 Schriftlichkeit 47-48, 50 Schüttelreim 24-25 Script 74, 166 Semantem 13 Sequenzen 5-6, 96-99, 159-163 enumerativ 97, 99, 127, 160-161, 198-199, 209 temporal 97, 99, 108, 124-125, 159, 162, 193, 197, 203, 208 Sequenzformen (Werlich) 5-6, 149, 207 Sequenzierung 92 Semiotik, visuelle 228-230 Shifter 13, 18 Situationsmodell 24, 72 Sophismus 141 Spaltsätze 29-30 Spracherwerb 14, 27-28 Sprachunterricht, funktionaler 3 Sprachzeichen 11-14 Sprechakt (s. auch Konnektiv): assertiv 32-34, 35-36, 37, 39, 46, 56, 58-59, 61-64, 68, 75, 88-89, 93-94, 98, 106 Anm., 108-109, 123, 125, 144- 146, 151, 169, 174, 188-189, 191, 198-199, 203, 212 axiologisch 37, 39, 46, 59, 61, 103- 104, 143-145, 147, 188-189, 198, 213- 215, 220, 222-225 deklarativ 33-34, 38-39, 47, 61, 89, 96, 111, 122, 152, 158, 186 direktiv 32-34, 38, 39, 41-42, 44-45, 51 Anm., 56, 58, 61, 64, 67, 75, 88- 89, 93, 103, 106-108, 123, 126, 145, 147, 150, 188, 215, 238, 245 dominierend 82-83, 88, 92-94, 96, 98, 101, 103-105, 109, 113, 117, 122, 124-125, 127-128, 134, 136-137, 144, 146, 149-151, 153, 160. 167, 173, 175, 191-193, 195, 199, 203, 223-224, 239- 240 expressiv 33-34, 36, 37, 39, 46, 56, 58-59, 61, 88, 118, 144, 146, 186-188, 198, 213, 218, 220, 222-223, 224 indirekt 41-46, 77, 129 kommissiv 33-34, 37-38, 39, 44 und Anm., 61, 84, 123, 186-187, 191 komplex 130 Stilregister 47, 49 Strukturalismus 12, 76 Stufenmodell 83-84 Syllogismus 119-121, 127, 130-132 Tatbestand ~ Rechtsfolge 105 Täuschung 39, 141, 202 Teiltext 97-98, 105, 157, 164, 198-199, 211, 224, 227-228, 232-234 Temporalsatz 57-58, 205 Textsorte 2-3, 6, 8, 48, 83-85, 89-90, 93- 94, 98-99, 237-241, 244-245 Textsorten (Texttypen): Abstract 115-116 Anweisungstexte 104-106, 215, 221, 238, 245 Arbeitszeugnis 84 Artikel, wissenschaftliche: empirische Wissenschaften 4-5, 109, 116-117, 132-133 <?page no="281"?> 269 Geisteswissenschaften 116-117, 151-153, 157-158, 180-182 Linguistik 133-134, 152-153, 160, 181-182 Philologie 134, 138-139 Aufruf zur humanitären Hilfe 144 Autobiographie 177 Bedienungsanleitung 108 Beipackzettel 106/ 7 Anm. Brief, geschäftlich 83, 88, 93, 97- 98, 197 - persönlich 88, 221 Chronik 162 Comic 229, 234-235 Erzählung, literarische 162-165, 167-174, 182-184, 204-205, 209-210, 212 Fabel 175-177 Gedenkrede 224-226 Gerichtsbeschluss (Urteil) 89, 96- 99, 122, 125, 198, 239-244 Geschichtsschreibung 155, 165, 172, 174-176, 202-204 Gesetzestext 105-106, 160-161 Interview 141, 196 Kochrezept 3, 106-108, 245 Lehrbücher (Linguistik) 133-134, 160 Pamphlet 222 Anm. Personenbeschreibung 208-209 Postkarte 88 Präventionskampagne 87 Ratgeber 145-146 Rechenschaftsbericht 199-200 Rede, politische 6, 84-85, 104, 147, 200-202, 217-219, 238-239 (s. auch Gedenkrede) Reisebericht 214 Reiseführer 207-208, 214-216 Reportage 162 Résumé 115-116 Rezension 145-147 Rücktrittsschreiben 122 Vorwort 115 Werbung 79, 82, 84-85, 89, 102- 103, 106, 135, 147, 228, 230-232 Wetterprognose 198-199 Zeitungskommentar 134, 223-224 Zeitungsmeldung 108-109, 113- 114, 149, 153-154, 161-162, 179-180 „tip-of-the-tongue“-Phänomen 26-27 Textthema 84-85, 87-89, 108-109, 115, 161, 208-209, 237 Texttyp 88-90, 237-238, 241 Texttypologien 2-7, 100, 237 Thema und Rhema 28-30, 84, 85-88, 98, 109, 113-114, 149-152, 154, 161, 191, 196, 204, 208-209 Thematische Entfaltung 6, 87, 154 Thematische Progression 85-86, 150, 152, 204, 208 Titel 106-107, 109-113, 114, 135-136, 149, 153-154, 156-158, 160-161, 167, 170, 174-175, 208, 223, 228, 231-234 Topos 120-121, 131-133, 139, 142 Transaktionelle Funktion 36 Transphrastische Grammatik 1-2 Trugschluss 142 Überinterpration 73, 83 Univers de croyance 61, 64 Universe of discourse 52 Vorankündigung 193-195 Vorbereitende Bedingung 34, 41, 191 Vorwurf 187-188, 222 Welt, besprochene und erzählte 4 Weltwissen, s. Wissen, gemeinsames Widerlegen 116, 137, 138-140 Wissen, gemeinsames 8, 19, 54, 65, 68-69, 72-73, 85, 96 127, 149-150, 166, 230 „Wörtliche“ Bedeutung 43, 76, 234 Zeichentheorien 11-12, 41, 228 Zwei-Komponenten-Modell 76-77 Zweideutigkeit 45, 138, 233 <?page no="283"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Jakob Wüest, emeritierter Professor für Galloromanische Sprachwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, hat sich international einen Namen gemacht durch seine Habilitationsschrift sowie durch seine fundierten Beiträge aus dem Bereich des Altokzitanischen im Lexikon der Romanistischen Linguistik. Die vorliegende Festschrift, die ihm Kollegen und Freunde widmen, würdigt das Erscheinen seines opus magnum (La dialectalisation de la Gallo-Romania. Problèmes phonologiques) vor dreißig Jahren. Sie enthält auch die vollständige Bibliographie des Geehrten und zeigt das breitgefächerte Spektrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Hans-Rudolf Nüesch (éd.) Galloromanica et Romanica Mélanges de linguistique offerts à Jakob Wüest Romanica Helvetica, Band 130 2009, X, 310 Seiten, € [D] 68,00/ SFr 115,00 ISBN 978-3-7720-8332-7 121209 Auslieferung Dezember 2009.indd 17 04.12.09 10: 21 <?page no="284"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Kommunikation hat und braucht Kontextualisierung, Texte als Makrozeichen verweisen auf ihre Kontexte. Die moderne kognitive Textlinguistik und die linguistische Diskursanalyse setzen diese Erkenntnis häufig in ihren Arbeiten voraus, ohne sie systematisch zu explizieren. So bleiben die Begriffe „Kontext“ und „Kontextualisierung“ notorisch vage; sie fehlen im theoretischen Fundament textwissenschaftlicher Analysen. Der vorliegende Sammelband versucht, diesen Mangel anzusprechen und ihm in Form theoretischer und praktisch-analytischer Beiträge, z.B. zu literalen Praktiken in verschiedenen soziokulturellen, medialen und literarischen Kontexten, entgegenzutreten. Peter Klotz Paul R. Portmann-Tselikas Georg Weidacher (Hrsg.) Kontexte und Texte Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns Europäische Studien zur Textlinguistik, Band 8 2010, 346 Seiten, €[D] 58,00/ SFr 90,90 ISBN 978-3-8233-6490-0 060010 Auslieferung Juli 2010.indd 11 21.07.10 16: 02