Czeslaw Milosz und die Geschichtlichkeit der Kultur
0716
2014
978-3-8233-7670-5
978-3-8233-6670-6
Gunter Narr Verlag
Matthias Freise
Mit diesem Buch erscheint die erste deutschsprachige Monographie zum Werk des polnischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz. Der Autor Matthias Freise, Professor für Slavische Literaturen an der Universtät Göttingen, nimmt die Verantwortung eines Dichters für die Beziehung zum kulturellen Erbe - sowohl für die Überwindung von Klischees als auch für die Rückbesinnung auf Vergangenes - zum Ausgangspunkt. Miloszs Werk zeigt sich in den Textanalysen als "Arche" kultureller Epochen und geistiger Strömungen. Doch auch als moralischer "Leuchtturm" des Exils auf das kommunistisch beherrschte Polen kommt der Autor zur Sprache. Ursprünglich beheimatet in der polnischen Avantgarde der 1930er Jahre, prägen drei fulminante Comebacks Miloszs Dichterkarriere: 1945 wird er zur Leitfigur der Nachkriegsgeneration, die Verleihung des Literaturnobelpreises 1980 lässt ihn zu einer der Symbolfiguren für die Solidarnosc-Bewegung werden und im Jahr 2000 überrascht er mit enem ausdrucksstarken und kämpferischen Spätwerk.
<?page no="0"?> Czesław Miłosz und die Geschichtlichkeit der Kultur Matthias Freise <?page no="1"?> Czesław Miłosz und die Geschichtlichkeit der Kultur <?page no="3"?> Matthias Freise Czesław Miłosz und die Geschichtlichkeit der Kultur <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6670-6 <?page no="5"?> Für Katja Kiedy ludzie przestaną wierzyć, że jest zło i jest dobro, Tylko piękno przywoła ich do siebie i ocali. Wenn die Menschen aufhören werden zu glauben, dass es Böse und Gut gibt, Wird nur noch die Schönheit sie zu sich rufen und retten. Poznanie dobra i zła (Die Erkenntnis von Gut und Böse), in Nieobjęta ziemia (Unermessliche Erde), 1984 <?page no="7"?> 7 Inhalt Miłosz, der Unzeitgemäße ................................................................................9 Miłoszs geistiger Lebensraum ........................................................................19 Ich Miłosz ................................................................................................................... 20 Katastrophismus und Eschatologie......................................................................... 20 Das Herz und seine ironische Zersetzung. ............................................................ 22 Herz und Vernunft.................................................................................................... 24 Die Liebe zur Hasel ................................................................................................... 26 Der Mensch und seine Mission ............................................................................... 28 Aufstand gegen das Gesetz der Natur..................................................................... 32 Die Natur im Menschen ........................................................................................... 35 Psychische Folgen der Auflösung der Werte ......................................................... 40 Der reduzierte Mensch und die Literatur des 20. Jahrhunderts ......................... 43 „Meine Kunst“ ........................................................................................................... 50 Drei Welten, vier Elemente ...................................................................................... 52 Das Sakrale ................................................................................................................. 56 Geschichtlichkeit ....................................................................................................... 60 Geschichtlichkeit in Czesław Miłoszs Frühwerk ...........................................65 Diskus 68 Luli ......................................................................................................................... 71 Drei Winter .....................................................................................................75 Das Tor zur Geschichte ............................................................................................ 75 Wolken ....................................................................................................................... 80 Moralischer Widerstreit .................................................................................85 Perspektiven auf das brennende Warschauer Ghetto .......................................... 85 Das Widmungsgedicht von Ocalenie (Rettung) oder wer rettet wen? ............... 91 Das Moralische Traktat (Traktat moralny) im Kontext der Neoavantgarde ........ 101 Der Roman Dolina Issy (Tal der Issa) und seine Prätexte ..........................109 Vorbemerkungen und Biographisches ............................................................... 109 Die Tradition der polnischen Prosa .................................................................... 114 Sprache und Stil von Dolina Issy im Vergleich mit den Praetexten ................ 120 Lechitismus ............................................................................................................. 127 Die Tradition der Idylle .......................................................................................... 132 Mythos Litauen ........................................................................................................ 136 Litauische Idyllen ................................................................................................... 139 Idyllen überhaupt .................................................................................................... 141 Der Antagonismus zwischen reichen und armen Herrschaften ..................... 147 ........................................................................................................................ ..... <?page no="8"?> 8 Die Jagd ..................................................................................................................... 153 Der lange Weg in die Bibliothek ........................................................................... 161 Aufbewahren ............................................................................................................ 163 Der Lauf der Sonne als Gedichtzyklus .........................................................171 Ein Epitaph auf Rom ...................................................................................183 Sęp-Szarzyński und seine zeitgenössischen Dichterkollegen ............................ 184 Czesław Miłoszs Auseinandersetzung mit dem Rom-Mythos ......................... 201 An Heraklits Fluss ........................................................................................214 Warum Anusewicz? ................................................................................................ 215 Warum Sigrid? ......................................................................................................... 216 Warum der Garten des Bernhardinerklosters? ................................................... 218 Warum Molche? ...................................................................................................... 219 Miłoszs Vermächtnis ....................................................................................223 DAS ....................................................................................................................... 223 Das Theologische Traktat ...................................................................................... 226 Schluss ...........................................................................................................237 Liste der Gedichtbände von Czesław Miłosz ..............................................239 <?page no="9"?> 9 Miłosz, der Unzeitgemäße Czesław Miłoszs Stimme soll in Deutschland gehört werden. Sie ist eine Stimme wider den Zeitgeist, denn sie stellt Fragen, die wir verdrängt haben, Fragen, die aber von jeder Generation gestellt werden müssen, ganz grundsätzliche Fragen, wie die von Miłosz als Achse und Hauptthema seiner ‚geistigen Biographie‘ Ziemia Ulro (Das Land Ulro) bezeichnete Frage nach dem Ursprung des Bösen: „Unde malum? “. 1 Lange blieb es in Deutschland stumm zu Miłosz. Der unermüdliche Karl Dedecius hat eine Reihe von Gedichten übersetzt, 2 doch auch hierzu blieb ein großes Echo aus. Wenn überhaupt, wurde Czesław Miłosz im deutschsprachigen Raum politisch wahrgenommen, als Polens wichtige Stimme der Freiheit und des Gewissens in der Zeit der kommunistischen Herrschaft. Auf den Intellektuellen, der in Zniewolony umysł (Verführtes Denken) 3 die geistigen Übungen der polnischen Intellektuellen zur Anpassung an den Stalinismus vorführt, ist man in Deutschland aufmerksam geworden - noch die deutsche Publizistik zu seinem achtzigsten 4 und sogar zu seinem hundertsten 5 Geburtstag war davon geprägt. 6 Den Dichter und sein dichterisches Werk hat man hierzulande dagegen wenig wahrgenommen. Im Oktober 2000 durfte Miłosz zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sprechen, die dem Partnerland Polen gewidmet war, doch zu seiner Lyrik fand man hierzulande keinen Zugang. Zu metaphysisch erscheint sie dem deutschen Leser, zu arm an kühnen Metaphern, wie sie die deutsche Lyrik das 20. Jahrhundert hindurch gepflegt hat, zu geschichtlich in einer Zeit, die sich postgeschichtlich nennt, zu ernst in einer Kultur, die eher die ironische Lyrik eines Robert Gernhard schätzt, zu wenig eingängig für eine Lyrikkultur der schnellen performativen Wirkung auf Poetry Slams. Die erste Monographie zu Person und Werk des Dichters auf Deutsch ist dann 1997 erschienen. Sie geht aber in ihrem Anspruch über das Ziel, Miłosz dem deutschen Leser zugänglich zu machen, hinaus. Andrzej Wierciński will in Der Dichter und sein Dichtersein 7 die dichterische Existenz des 1 Ziemia Ulro, Warszawa 1982, im Weiteren zitiert als ZU, S.45. 2 Gesammelt in dem Band Gedichte 1933-1981, der 1995 in Frankfurt in der Reihe Polnische Bibliothek erschienen ist. 3 Paris 1953, deutsch Köln 1953. 4 Die Zeit, Nr. 46/ 1991, S. 77. 5 Deutschlandfunk, Kalenderblatt 30.6.2011. 6 Zu den politischen Kontroversen um Miłosz vgl. Andreas Lawaty, Marek Zybura: Zur Einführung. In: dieselben (Hg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Osnabrück 2013, S. 9-21. 7 Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1997. <?page no="10"?> 10 Menschen philosophisch-theologisch deuten. Czesław Miłosz soll dafür nur zum Beispiel dienen. Ob dieser übergreifende Anspruch mit dem Buch eingelöst wird, kann ich hier nicht erörtern. Was Miłosz angeht, so vermag Wiercińskis dezidiert theologische Perspektive manches im Denken des Dichters und manche thematische Dominante seiner Dichtung aufzudecken. Insgesamt schränkt diese Perspektive den Blick jedoch zu sehr ein. 8 Miłosz wollte ausdrücklich nicht als katholischer Schriftsteller wahrgenommen werden: Oczywiście zawsze wolno było ogłosić się pisarzem katolickim, ale oznaczało to zaszeregowanie do literatury „gorszej“, takiej jak literatura myśliwska czy literatura dla młodzieży, a w dodatku politycznie związanej z prawicą. (ZU S. 145) Natürlich stand es jedem frei, sich zum katholischen Schriftsteller zu erklären, aber das bedeutete, sich in die ‚schlechtere‘ Literatur einzureihen, etwa wie Literatur für Jäger oder für die Jugend, und außerdem hätte man sich damit der politischen Rechten angenähert. Überdies war ihm die moralistische Rhetorik der Kleriker fremd. Um sich von ihr abzusetzen, nennt er sich „eher einen Gnostiker als einen Christen“ (ZU S. 269). Sinnlichkeit und Spiritualität standen bei ihm außerdem immer in einem Spannungsverhältnis, das nicht in Richtung auf Glaubenswahrheiten aufgelöst werden kann. 2013 ist nun ein Sammelband erschienen, mit dem sich die deutschsprachige Polonistik dem Werk des berühmten Polen zugewandt hat. Die Beiträge dieses Bandes betrachten den Dichter überwiegend aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. 9 Darüber hinaus stehen hier Aspekte des Übersetzens, der Rezeption seines Werkes in Deutschland und der deutsch-polnischen Komparatistik im Vordergrund. Das vorliegende Buch will einen anderen Weg aufzeigen - einen notwendigerweise schmalen Pfad durch das gewaltige Massiv von Miłoszs literarischem Werk, der aber spektakuläre Ausblicke bietet von den Gipfeln, die dabei erklommen werden, und in die Abgründe, die sich dabei auftun. Allein Miłoszs Gedichte füllen, eng gedruckt, einen Band von 1400 Seiten. 10 Vom hermetisch, also schwer verständlich genannten lyrischen Frühwerk der 30er Jahre bis zu den bekenntnishaften späten Gedichtbänden ab 2000, vom scharfen politischen Essay in Zniewolony umysł (Verführtes Denken) über die Einreihung in die illustre Reihe polnischer Psalmen-Übersetzer bis hin zur kritischen Aus- 8 Wie stark die Monographie von Wierciński theologisch geprägt ist, machen Kapitel wie „Theopoetik? “ (S. 61-69) und „Theologische Aspekte für die Interpretation der Dichtung“ (S. 69-94) deutlich. 9 Andreas Lawaty, Marek Zybura (Hg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. A.a.O. 10 Czesław Miłosz, Wiersze Wszystkie, Kraków 2011, 1406 Seiten. <?page no="11"?> 11 einandersetzung mit der polnischen Literatur in Prywatne obowiązki (Private Verpflichtungen) spannt sich ein gewaltiger Bogen, so gewaltig wie von den Ufern der Niewiaża in Litauen bis zur Bucht von San Francisco. Das vorliegende Buch setzt an diesem Gesamtwerk eine Reihe von Tiefenbohrungen an, Tiefenbohrungen, die nicht nur die Eigenart des Dichters zu Tage fördern, sondern auch seinen kulturellen Kontext, an dem er sich rieb, und seine Dialogpartner, historische wie zeitgenössische. Gegenstand des Buches ist vor allem die Lyrik, die nicht paraphrasiert, sondern analysiert wird. Was leisten Gedichtanalysen? Sie fragen nicht nach einer „Autorintention“, also nicht danach, was der Autor uns etwa weismachen will oder was er uns verschweigt. Darum haben sie es auch nicht nötig, die Gedichte „subversiv“ zu lesen. Sie zeigen einfach, welcher semantische Raum sich in den Vernetzungen der Wörter aufspannt, welche Koordinaten in diesem Raum Orientierung bieten, welche Brüche, Paradoxien, Gegensätze und Analogien ihn bestimmen. Einzelne Analysen von Gedichten und Verstraktaten sowie die Analyse des einzigen Romans aus Miłoszs Feder wurden vorab in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert. 11 Diese Analysen wurden für dieses Buch grundlegend überarbeitet, auch mit dem Ziel, ein Konzept in den Mittelpunkt zu stellen, das dem Werk des Dichters eine weiter wachsende Aktualität verleiht - das Konzept der Geschichtlichkeit. Immer wieder werden wir darauf stoßen, dass in Miłoszs Werk Geschichtlichkeit weder als Erinnerungskultur noch als „objektive Geschichte“ erscheint, sondern als Dialog. Wie ein solcher Dialog mit ja doch längst Verstorbenen möglich ist, zeigen in diesem Buch vor allem, aber nicht nur, die Kapitel „Geschichtlichkeit“, „Diskus“, „Das Tor zur Geschichte“, „Das Widmungsgedicht von Ocalenie“, „Aufbewahren“ sowie die drei Kapitel unter dem Titel „An Heraklits Fluss“. Auch das vorliegende Buch bemüht sich, vermittelt über das literarische Werk, um einen Dialog mit dem 2004 gestorbenen Autor. Dabei sind Autorenmonographien in der Literaturwissenschaft selten geworden. Offenbar gibt es Zweifel am Erkenntniswert der exklusiven Beschäftigung mit einem Autor. Als relevant erscheinen nur mehr kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Nun könnte man einwenden, es handele sich immerhin um einen 11 Czesław Miłoszs Roman „Das Tal der Issa“ und seine Praetexte „Pan Tadeusz“ und „Am Niemen“. In: Wiener Slavistischer Almanach 38 (1996), S. 171-234; Czesław Miłoszs Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada als Beispiel für eine architektonische Zyklizität des Sinns. In: Zyklusdichtung in den slavischen Literaturen. Hg.: Reinhard Ibler. Frankfurt/ Main, Bern usw. 2000, S. 127-137; Ein Epitaph auf Rom: Komparatistische Betrachtungen zu einem Thema in der europäischen Barocklyrik und in der späten Lyrik von Czesław Miłosz. In: Poetica Bd. 33 (2001) Heft 1-2 S. 125-158 und zuletzt Czesław Miłoszs Traktat moralny (Moralisches Traktat) im Kontext der Neoavantgarde. In: Andreas Lawaty / Marek Zybura (Hrsg.) Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme, Osnabrück 2013, S. 39-46. <?page no="12"?> 12 Nobelpreisträger, der die polnische Kultur mehr als 70 Jahre lang maßgeblich geprägt hat. Um einen Dichter, dessen Verse U-Bahnhöfe in London, New York und Kiew sowie das Monument für die gefallenen Werftarbeiter in Danzig zieren. Um einen Autor also mit solidem symbolischem Kapital, der auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive relevant zu sein scheint. Insofern hat sich die selbstironische Prophezeihung des Autors in seiner Version des Horazschen non omnis moriar nicht erfüllt. In dem Gedicht Oskarżyciel (Ankläger) aus dem Zyklus Gdzie słońce wschodzi i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wohin sie versinkt) von 1974 heißt es: Czy dalej mówisz sobie: non omnis moriar? O tak, nie cały zginę, zostanie po mnie wzmianka w czternastym tomie encyklopedii w pobliżu setki Millerów i Mickey Mouse. 12 Sagst du dir weiterhin: non omnis moriar? O ja, ich vergehe nicht ganz, es bleibt von mir ein Eintrag im vierzehnten Band der Enzyklopädie in der Nähe von hunderten Millers und Micky Maus. Die Marginalisierung durch die amerikanische Populärkultur, die hier zum Ausdruck kommt, 13 hat bislang jedoch nicht stattgefunden. Miłosz hat, obwohl er literarisch seiner polnischen Muttersprache treu geblieben ist, seinen Platz auch in der amerikanischen Kultur erobert und behauptet. Doch wer meint, aus Gründen der öffentlichen Sichtbarkeit dieses Autors um ihn nicht herum zu kommen, wird sich mit einem Zugang zu seinem Werk schwertun. Die Beschäftigung mit diesem Werk kommt nicht umhin, sich auf ganz andere Wege zu begeben als die gegenwärtig praktizierte Kulturwissenschaft. Miłosz liefert einen, ja den Gegenentwurf zur Kultur der Gegenwart, die Miłosz in vielen Essays kritisch beschrieben hat, und die nach seinen Worten die folgenden Züge trägt: Rückzug der dichterischen Kunst auf die Sprache, und zugleich in den gesellschaftlichen Debatten ein Verlust der sprachlichen Geformtheit. Trennung von Kunst und Verantwortung in der intellektuellen Neigung zu verantwortungslosem Geschwätz und im Kult des Amoralischen. Kultureller Gedächtnisverlust, der sich postgeschichtlich nennt, der aber massiv zur Infantilisierung der Gesellschaft beiträgt. Einebnung kultureller Hierarchien, die leider nicht die Ungebildeten zu Intellektuellen, sondern die Intellektuellen zu Ungebildeten macht. Verleugnung und schließlich Verlust der Transzendenz und damit derjenigen Dimension unserer menschlichen Existenz, die uns, woher 12 Czesław Miłosz, Wiersze wszystkie, Kraków 2011, S. 671. 13 Realistisch gesehen kommt Mickey in der Enzyklopädie vor Miller, und erst danach kommt Miłosz und nach ihm dann sein französischer Verwandter und Dichterkollege Oscar Miłosz. <?page no="13"?> 13 wir auch immer kommen, unsere menschliche Würde und unseren Wert verleiht. Immer stärkere Verwischung der Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge und zwischen moralisch guten und bösen Taten. Diese Aufzählung ist eine Paraphrase von einigen der zwölf Punkte, die Miłosz in dem Gedicht Czego nauczyłem się od Jeanne Hersch? (Was ich von Jeanne Hersch gelernt habe) 14 als Vermächtnis der 2000 verstorbenen Philosophin zusammengefasst hat. Sie kann mit guten Gründen auch als Miłoszs eigenes Vermächtnis angesehen werden. Unzeitgemäß erscheint der dezidiert elitäre Charakter von Miłoszs Dichtung - widerspricht er doch dem Trend, die Grenze zwischen Hoch- und Genreliteratur aufzulösen. Geschult an den lateinischen Klassikern in einem aus heutiger Perspektive geradezu archaischen Wilnaer Gymnasialunterricht, später dann im Dialog mit führenden Theologen und Philosophen seiner Zeit, die europäische Kulturgeschichte fest im Blick - Miłosz stellt Ansprüche. Hat man sich dennoch dazu entschlossen, eine Monographie über Czesław Miłosz zu schreiben, dann stellt sich die Frage, ob man dem angelsächsischen Schema „life and work“ folgt und die Umstände schildert, unter denen Gedichtband um Gedichtband, Essayband um Essayband entstanden und erschienen sind. Miłosz ist als Person, ja als Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts außerordentlich interessant. Man könnte berichten von seinen Reisen, seinen Freundschaften mit anderen Dichtern, mit Philosophen, Politikern, Künstlern, Wissenschaftlern usw. Man könnte Miłosz porträtieren als Zeitzeugen einer entschwundenen litauischen Vorkriegs-Idylle, eines politisch polarisierten Polens der 30er Jahre oder des polnischen Untergrunds während der deutschen Besatzung. Man kann ihn beobachten als Diplomaten der jungen Volksrepublik, als misstrauisch beäugten Neuemigranten in Paris, als Kritiker der französischen Linken, als Professor der Universität Berkeley, als Nobelpreisträger, als Heimkehrer nach Krakau und als Erinnerungstouristen in Litauen. Das gibt viel Stoff zum Erzählen. Und so hat Andrzej Franaszek im Jahr 2011, rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Dichters, eine monumentale Miłosz-Biographie vorgelegt. 15 Dieses Buch geht dagegen dezidiert von den Texten aus. Seine herausragende Stellung innnerhalb der polnischen Kultur hat sich der Dichter nicht durch seinen Lebenswandel erworben, sondern einzig durch sein literarisches und essayistisches Werk. Darum wird den Texten hartnäckig analytisch auf den Grund gegangen. Wie kann man ihre Relevanz begründen? In dem Essay Życie na wyspach (Leben auf Inseln) zitiert Miłosz am Schluss aus Michail Bachtins frühem, programmatischen Text Iskusstvo i otvetstvennost’ 14 In dem Gedichtband TO (DAS), 2000. 15 Miłosz, Biografia. Kraków 2011, 959 Seiten. <?page no="14"?> 14 (Kunst und Verantwortung). Er will damit den eigentümlichen Realitätsbezug der Kunst deutlich machen. In deutscher Übersertzung lautet die Passage: Wenn der Mensch in der Kunst ist, dann ist er nicht im Leben, und umgekehrt. Es gibt zwischen ihnen keine Einheit und keine wechselseitige Durchdringung des Inneren in der Einheit der Persönlichkeit. Was garantiert uns dann aber den inneren Zusammenhang der Elemente der Persönlichkeit? Allein die Einheit der Verantwortung. Für das, was ich erlebt und in der Kunst verstanden habe, muss ich mich mit meinem Leben verantworten, damit nicht alles Erlebte und Verstandene darin wirkungslos bleibe. Mit der Verantwortung geht jedoch Schuld einher. Nicht nur wechselweitige Verantwortung müssen Leben und Kunst füreinander tragen, sondern ein jedes auch des anderen Schuld. Der Dichter darf nicht vergessen, dass an der abgeschmacktesten Prosa des Lebens seine Dichtung schuld ist, und der Mensch muss wissen, dass an der Unfruchtbarkeit der Kunst seine eigene Anspruchslosigkeit sowie die mangelnde Ernsthaftigkeit seines Lebens schuld sind. 16 Die Formsprache der Dichtung formt nicht nur die Sprache, sondern zugleich das Leben und umgekehrt. Dieses Formen vollzieht sich aber nicht direkt, sondern über den Umweg der Verantwortung. Miłosz wird als Dichter seiner Verantwortung gerecht, indem er seine Kunst nie als Spiel mit Worten begreift, und indem er Schlagwörter, Modewörter, gängige sprachliche Münze, gefällige Redewendungen vermeidet. Das gibt seiner Dichtung eine Prägnanz und Eindringlichkeit, die man bei anderen Dichtern oft vergeblich sucht. Auch wenn Miłoszs Lyrik arm an Methaphern und Symbolen ist und auch - mit bemerkenswerten Ausnahmen - ohne Reime auskommt, so mangelt es ihnen gleichwohl nicht an für die Deutung wichtigen künstlerischen Verfahren. Eine Wiedergabe des Inhalts reicht zu ihrem Verständnis in keinem Falle aus. Das gilt auch für Miłoszs einzigen fiktionalen Roman Dolina Issy (Das Tal der Issa). 17 Seine ausführliche Analyse steht in der Mitte des Buches, zwischen Analysen und Deutungen von Gedichten und Gedichtzyklen aus sieben Jahrzehnten. Die zentrale Stellung dieses Romans in diesem Buch ist nicht etwa dem besonderen Interesse deutscher Leser für Prosa geschuldet. 18 Vielmehr schreibt sich Miłoszs Roman deutlicher noch als seine Lyrik in die Geschichte der polnischen Kultur ein, er stellt sich in eine Traditionslinie dieser Kultur, die auf Adam Mickiewicz, den polnischen Nationaldichter, und auf Eliza Orzeszkowa, der neben Bolesław Prus wich- 16 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, herausgegeben und übersetzt von Rainer Grübel, Frankfurt/ Main 1979, S. 93. 17 Paris 1955, deutsch Köln 1957, im Weiteren zitiert als DI. 18 In der deutschen Reihe „Nobelpreisträger für Literatur“ erschien dieser Roman, obwohl der Dichter nicht für dieses Buch mit dem Nobelpreis geehrt wurde. <?page no="15"?> 15 tigsten Stimme des polnischen Positivismus (= Realismus) zurückgeht. An keinem anderen Werk des Dichters kann man die Kontinuität und den Wandel polnischer Befindlichkeit besser vorführen als an diesem Roman. Die Gedichte, Poeme und Verstraktate, die im Weiteren vorgestellt und analysiert werden, wurden nach dem Prinzip der „Schlüsseltexte“ ausgewählt. Ein Schlüsseltext ist ein Text, der zwar nicht als einziger, aber in besonders prägnanter Weise ein kulturelles Problem, ein poetisches Verfahren, einen Widerstreit oder ein Motiv auf den Punkt bringt. Ein Indiz hierfür ist die Intensität, mit der sich die internationale Miłosz-Forschung bereits mit diesem Text auseinandergesetzt hat. Das gilt in besonderem Maße für Bramy Arsenału (Die Tore des Arsenals), Dysk (Diskus, dem vermeintlichen Paradebeispiel für Miłoszs Katastrophismus), Campo di Fiori, Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht), TO (DAS) und Traktat teologiczny (Theologisches Traktat). Ein Gedicht, das ein im Werk des Dichters immer wieder in wichtiger Funktion auftauchendes Motiv auf den Punkt bringt, ist Obłoki (Wolken). Ziemia Ulro (Das Land Ulro) liefert uns wesentliche Aspekte von Miłoszs Metaphysik, und Rodzinna Europa (Heimatliches Europa) seine poetische und intellektuelle Genealogie. Miłosz wertet in seiner Lyrik, aber er agitiert nicht. Vor allem aber staunt er angesichts der Vielfalt der Schöpfung und angesichts der Abgründe, die sich in der europäischen Ideengeschichte auftun. Er stellt Beziehungen her - naheliegende Beziehungen, entlegene Beziehungen, räumliche, zeitliche, bildliche Beziehungen, Wertbeziehungen. Diese Beziehungen entfalten für den, der sich die Mühe macht, den semantischen Raum eines Gedichts zu erhellen, Zusammenhänge. Ein anderes Wort für Zusammenhang ist Sinn - wohlgemerkt ohne Artikel. Wir suchen also nicht „den“ Sinn von diesem oder jenem Gedicht, sondern wir entdecken Synapsen des Zusammenhangs und entwickeln dadurch entsprechende Synapsen auch innerhalb unseres Kopfes. Und als fernes Ziel erscheint dabei das Bild der europäischen Kultur als eines Zusammenhangs, ein Bild, das Miłosz nie aus den Augen verloren hat. Multiple Modernen? Nicht bei Miłosz. Seine Moderne ist ein geistiges wie sinnliches Abenteuer, dass wir Europäer gemeinsam erlebt haben. Wer diese Gemeinsamkeit nicht in der Realität erfahren hat oder erfährt, kann sie durch das Werk des Dichters erfahren. Wer es aber auch dort oder in anderen künstlerischen und philosophischen Zeugnissen der Moderne nicht erfährt, der hat letztlich keinen Zugang zum „heimatlichen Europa“. So nämlich, auf Polnisch Rodzinna Europa, lautet der Originaltitel von Miłoszs Buch über die Einheit der europäischen Kultur, das auf Deutsch leider unter dem paramilitärischen Titel „West- und östliches Gelände“ erschienen ist. 19 19 Paris 1959, deutsch Köln 1961, im Weiteren zitiert als RE. <?page no="16"?> 16 Im „heimatlichen Europa“ zu Hause zu sein, heißt, dieses Europa als einen Zusammenhang zu erleben. Man kann also mit Hilfe von Miłoszs literarischem Werk zum Europäer werden, sich in Europa zu Hause fühlen. Miłosz denkt in großen Zeiträumen, nicht, weil er so alt geworden ist - er hat immer schon in großen Zeiträumen gedacht. Aus seiner Perspektive wird deutlich, dass wir im Begriff sind, die Würde des Menschen preiszugeben, und zwar inhaltlich wie formal - der Mensch verliert seine Haltung, und er verliert sein Ethos. Miłosz gilt angesichts seiner Warnung vor dieser Entwicklung als Konservativer, als unverbesserlicher Klassizist der Form und als Bewahrer ‚veralteter‘ menschlicher Hierarchien. Doch wenn konservativ zu sein bedeutet, an liebgewonnenen alten Überzeugungen zu hängen, während die Welt sich weiterdreht, dann ist Miłosz ganz und gar nicht konservativ. Er hat, intellektuell gesehen, die Avantgarde hinter sich gelassen, jene Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einigen Mutigen losgetreten wurde, um nicht mehr tragfähige Überzeugungen, eine nicht mehr produktive poetische Sprache, einen unglaubwürdig gewordenen Glauben hinwegzufegen. Miłosz wollte diese Bewegung nicht rückgängig machen, er war selbst ein Teil von ihr, aber er hat über all die Jahrzehnte seines Schaffens jene neue Formulierung des Menschen gesucht, die die Avantgarde nicht geleistet hat, die aber nach der von ihr vollzogenen „Reinigung“ kommen musste. Statt einer neuen Formulierung der menschlichen Würde und Identität sah Miłosz in der Avantgarde und ihren postmodernen Ausläufern jedoch nur eine nihilistische Selbsterniedrigung und Selbstbanalisierung des Menschen. Es gibt in Miłoszs Formsprache eine Entwicklungslinie. Der junge Katastrophist der 30er Jahre sucht die Innovation und war insofern, bei allen schon damals erkennbaren Neigungen zu einer eher klassischen Syntax und Lexik, eben doch auch Teil der „Zweiten Avantgarde“. Der Zukunftsbezug von Miłoszs Vorkriegslyrik ist auch auf der thematischen Ebene seiner Gedichte präsent. Nach dem Krieg setzt sich in der Lexik und auch in der Thematik seiner Lyrik ein Gegenwartsbezug durch. Schließlich wird seine Dichtung persönlicher, doch ohne Seelenerguss oder Bekenntnislyrik zu werden. Vielmehr wirft der Dichter immer mehr das Gewicht seiner Lebenserfahrung, die große Perspektive des selbst Erlebten und selbst Getanen in die Waagschale. Und er kann nun nicht mehr nur über die Welt, sondern sogar über sich selbst staunen. Dennoch kann die Rekonstruktion der Biographie die Auseinandersetzung mit dem Werk nicht ersetzen. Schließlich verschiebt sich der Blick weiter, immer mehr wird der Dialog mit der Vergangenheit gesucht. So steht der alte Mann schließlich fassungslos an dem See, den er 60 Jahre zuvor in dem Bewusstsein verlassen hat, seine Heimat nie wiederzusehen. Eine treffende Charakteristik von Miłoszs Werk stammt von Stanisław Barańczak. In Język poetycki Czesława Miłosza (Die poetische Sprache von <?page no="17"?> 17 Czesław Miłosz) vergleicht Barańczak sein Werk mit dem des englischen Romantikers William Blake. 20 Wie Blakes Dichtung sei die von Miłosz von offenen Gegensätzen geprägt. Sieht man in ihm den Dichter der Kultur, so kann man ihn mit gleichem Recht als Dichter der Natur sehen, er ist Idylliker und doch zerrissen, ungläubiger Christ, Häretiker und doch Verteidiger des Katholizismus, ein Katastrophist, der anders als Stanisław Ignacy Witkiewicz, der sich 1939 das Leben nahm, doch an das rettende andere Ufer glaubt. Doch diese Gegensätze machen das Werk des Dichters nicht inkonsequent sondern vielmehr aufrichtig. Miłosz stellt sich den Widersprüchen, er hält sie aus. Seine Dichtung spannt den semantischen Raum zwischen ihnen auf, den wir nunmehr explorieren möchten. 20 Dieser Aufsatz ist wie einige der wichtigsten Essays zu Miłosz auf der Seite http: / / www.Miłosz.pl/ napisali-o-mojej-tworczosci/ opracowania online publiziert. <?page no="19"?> 19 Miłoszs geistiger Lebensraum Czesław Miłosz hat sich stets als Außenseiter der literarischen Strömungen des 20. Jahrhunderts gesehen. „Zerstritten mit seiner Epoche“, wie Miłosz selbst betont (ZU S. 175) -, sah er sich einer „verborgenen Strömung“ (ZU S. 231) innerhalb der europäischen Kultur der Neuzeit zugehörig. Die Protagonisten dieser Strömung eint die Überzeugung, dass die europäische Kultur sich eines schweren Sündenfalls schuldig gemacht oder zumindest in der Neuzeit einen wesentlichen Verlust erlitten hat. Die von Miłosz identifizierten Autoren und Denker dieser verborgenen Strömung sind jedoch keine Kulturpessimisten. Sie sehen oder entwickeln Wege, aus dieser Sünde, aus diesem Verlust wieder herauszukommen. Bis auf Simone Weil, die jüngste, und Emanuel Swedenborg, den ältesten Protagonisten dieser Strömung, finden sich in Miłoszs geistiger Ahnengalerie dieser Denkrichtung vor allem Schriftsteller: Johann Wolfgang von Goethe, William Blake, Adam Mickiewicz, Fedor Dostojewskij und Oskar Miłosz. 1 Dostojewskij passt in diese Reihe insofern nicht ganz hinein, als es ihm nach Miłosz unter allen Genannten am wenigsten gelungen sei, einen Ausweg aus dem Abgrund aufzuzeigen, vor dem Europas Kultur stand. Der nationale Messianismus, dem Dostojewskij in seiner Publizistik (nicht in seinem literarischen Werk! ) die Funktion der Rettung zutraut, überzeugt Miłosz nicht, ja er stößt ihn ab. Miłosz weist Dostojewskij dennoch einen Ehrenplatz in seiner geistigen Ahnengalerie zu, da kein anderer so deutlich wie er gesehen und beschrieben habe, wie radikal die europäische Kultur auf ihren sozialen, politischen und kulturellen Niedergang zusteuert. Andere Propheten des 20. Jahrhunderts wie Friedrich Nietzsche sind Dostojewskij nach Miłosz schon deshalb nicht ebenbürtig, weil sie diese Entwicklung als einen Gewinn, einen Fortschritt, eine Befreiung deuten. Vor allem in vier Büchern exploriert Miłosz diese geistige Strömung, die zu seiner geistigen Welt wurde - in dem autobiographischen Essay Rodzinna Europa, in der Essaysammlung Widzenia nad zatoką San Francisco 2 (1969), in dem 1971 erschienenen Buch Ziemia Ulro, und schließlich in der im Wintersemester 1981/ 82 an der Harvard Universität gehaltenen und 1983 publizierten Charles Eliot Norton Vorlesung Świadectwo poezji 3 . Die 1 Miłoszs „Ahnengalerie“ soll auch den internationalen, gesamteuropäischen Charakter dieser verborgenen Strömung demonstrieren, sie ist gleichsam seine Internationale des Geistes. 2 im Weiteren zitiert als WZSF, deutsch: Visionen an der Bucht von San Francisco, Frankfurt/ Main 2008. 3 Paris 1983, im Weiteren zitiert als SP, auf Deutsch München/ Wien 1984 unter dem Titel Das Zeugnis der Poesie. <?page no="20"?> 20 Ausführungen dieses Kapitels, in dem Miłoszs geistiger Lebensraum sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden soll, stützen sich vor allem auf Ziemia Ulro. Der Titel des Buches verweist auf einen geistigen Ort in der Metaphysik William Blakes, einen Ort der selbstverschuldeten Verbannung und Entfremdung des Menschen. Es handelt sich dabei nicht um eine Zukunftsvision und nicht um einen (anti-) utopischen Ort, sondern um das bereits in der Gegenwart von uns bewohnte geistige Exil. Der Essay beschreibt die mentale Reise durch dieses Exil-Land und die Suche nach einem Weg aus ihm hinaus. Ich Miłosz Ausgangs- und Endpunkt dieser Reise ist das biographische Ich des Dichters Czesław Miłosz. Ängste und Hoffnungen sind in ihm miteinander verschränkt. Angst, als anomal zu gelten, hat Miłosz zwar nicht, aber er befürchtet, auf absolutes Unverständnis zu stoßen und am Ende niemanden zu erreichen, zumal Verstehen nur auf der Grundlage einer gemeinsamen kulturellen Tradition möglich ist - besteht diese Grundlage überhaupt noch? Der Dichter findet im traditionsreichen Europa allenthalben dieselben Vorlieben für alte Möbel, dieselben alten Truhen und Himmelbetten- und doch fühlt er sich stumm. Kultur und Geschichte bedeutet für seine Umgebung offenbar etwas anderes als für ihn selbst. Er sieht seinen missionarischen Anspruch, die Welt vor ihrem geistigen Niedergang zu retten, darum voller Selbstironie: „Man will die Welt in Erstaunen versetzen, die Welt retten, doch die Welt lässt sich weder in Erstaunen versetzen, noch lässt sie sich retten“ (ZU S. 26). Durch diese Ironie unterscheidet sich sein Mahnen vom heiligen Ernst der Propheten des Alten Testaments. Da sich also die Welt nicht retten lassen will, bleibt für eine Manifestation der verborgenen Strömung der europäischen Kultur, die zugleich eine Besinnung auf die gemeinsame europäische kulturelle Identität sein soll, nur die Entdeckungsreise des Dichters „in das Innere der eigenen Vergangenheit“ (RE S. 7). Katastrophismus und Eschatologie Nach eigener Einschätzung ist Miłosz entscheidend von seinem entfernten Verwandten, dem französischen Dichter litauischer Herkunft Oscar Miłosz geprägt worden, den er in Paris 1934-35 zweimal, zuletzt kurz vor dessen Tod, besucht hat. Oscar Miłosz hat Czesław geistig von der ihm zeitgenössischen Epoche der Avantgarde entfremdet oder, um es positiv auszudrücken, er hat ihm den Blick auf die wirklich wichtigen Fragen eröffnet, für die nach Oscars Einschätzung die jungen Künstler des 20. Jahrhunderts blind waren. <?page no="21"?> 21 Diese Entfremdung führte dazu, dass Miłosz vieles von dem, was seine Zeitgenossen beschäftigte, wofür sie sich ereiferten, politische, gesellschaftliche, literaturstilistische Fragen, nicht für wesentlich hielt. 4 Einer ihm zeitgenössischen literarischen und künstlerischen Strömung hat sich Miłosz gleichwohl zugehörig gefühlt - dem polnischen „Katastrophismus“ der 30er Jahre, einer Strömung, die von polnischen Literaturhistorikern - aber ausdrücklich nicht von Miłosz - auch als „zweite Avantgarde“ bezeichnet wird. 5 Was hatte es damit auf sich? Gedichte Miłoszs aus dieser Zeit werden im folgenden Kapitel genauer untersucht. Hier geht es zunächst darum, wie der Dichter selbst seine Nähe oder seine Ferne zu Katastrophisten wie Stanisław Ignacy Witkiewicz, Marian Ursyn Zdziechowski, Józef Czechowicz und Jerzy Zagórski beurteilt hat. Er beurteilt sie unterschiedlich. Während Witkiewicz und Zdziechowski die kulturelle Katastrophe als endgültig ansahen, ohne jede Hoffnung auf ein „anderes Ufer“, sieht Miłosz bei Czechowicz und Zagórski ein eschatologisches Moment, d.h. die Erwartung von und die Hoffnung auf ein Jenseits - und das durchaus im zeitlichen und nicht nur im religiösen Sinne. Nur diesem eschatologischen Katastrophismus fühlt sich Miłosz verbunden, ja er betont sogar, dass er diese Form des Katastrophismus im Grunde nie abgelegt habe: „In einem gewissen Sinne bin ich mein ganzes Leben ein Katastrophist geblieben“, immer verbunden mit der Erwartung einer „neuen allgemeinen Harmonie“ (ZU S. 278). Als früher Vorläufer gilt ihm hierbei Zygmunt Krasiński, dessen Nie-Boska komedia (Die Un-Göttliche Komödie) die kulturelle Katastrophe des 20. Jahrhunderts bereits 1833 und damit früher als alle anderen Schriftsteller und Philosophen des 19. Jahrhunderts vorausgesehen hat. In der letzten Szene dieses Menschheitsdramas, in der das Proletariat über die die abendländische Kultur verteidigende Aristokratie siegt, ruft der Führer des Proletariats das dem spätantiken christenfeindlichen Philosophen Julian Apostata zugeschriebene „Vicisti, Galilaee“ (Galiläer, du hast gesiegt) aus. Der Siegeszug des Christentums am Ende der Antike ist die Größenordnung, in der Miłosz die Eschatologie, die Rettung des „anderen Ufers“ aus der eskalierenden Brutalität politischer Konflikte, aus dem Nihilismus und aus der Diktatur des Proletariats erwartet. Die Ereignisse seines, des 20. Jahrhunderts hatten für ihn „mindestens die Dimension des Endes der antiken Welt“ (ZU S. 23). 4 Mit einer Einschränkung - die Jahre der deutschen Okkupation Polens, die Miłosz im Warschauer Untergrund verbrachte, waren von seiner massiven geistigen Solidarisierung mit den Schriftstellern und Intellektuellen seiner Umgebung geprägt. 5 Vgl. Helena Zaworska: Czy istniała „druga awangarda”? , in: Literatura polska 1918- 1975, tom 2, 1922-1944, S. 351-358. Zaworska gibt dem (von Miłosz heftig attackierten) Dichter Tadeusz Peiper Recht, die neue Generation von Dichtern sei weiterhin avantgardistisch gewesen, man habe dies lediglich anders genannt (S. 352). <?page no="22"?> 22 Miłosz sah sich zwar als Außenseiter des 20. Jahrhunderts, doch er kam nach eigenem Bekunden nicht umhin, die ideologischen Begriffe seines Jahrhunderts „zu inhalieren“, sie also auch zu verwenden. Allerdings hat er diese Begriffe immer als Lügen empfunden, die in die Katastrophe führen mussten (vgl. ZU S. 191). Woher aber nimmt er die Sicherheit, dass diese Katastrophe nicht endgültig ist, warum hat das 20. Jahrhundert ihn nicht wie viele andere Intellektuelle und Schriftsteller zum Kulturpessimisten gemacht? Miłosz setzt auf die Kraft des kulturellen Erbes, auf die ich am Schluss dieses Kapitels eingehen werde. Hier sei zunächst betont, dass nach der Überzeugung des Dichters Kunst, Religion und Philosophie als beständiges Dialogangebot spätere Generationen dazu befähigen werden, die spirituelle Identität des Menschen, seine „Bestimmung“ wiederzuentdecken. Der Mensch kann sich seiner Bestimmung nicht endgültig entledigen, sie holt ihn ein wie der Ruf Gottes Jona sogar noch im Bauch des Wals erreicht. Das Herz und seine ironische Zersetzung Oscar Miłosz war dann derjenige, der dem jungen Dichter für sein apokalyptisches Zeitempfinden die Begriffe geliefert hat, die Czesław dann durch Elemente aus William Blakes und Emmanuel Swedenborgs Metaphysik ergänzt hat. Bevor wir uns dieser Metaphysik und ihren Konsequenzen zuwenden, sei auf zwei Aspekte hingewiesen, die zum persönlichen Ausgangspunkt der geistigen Biographie des Dichters gehören - zum einen seine Identifikation mit der geistig verwirrten Heldin in Adam Mickiewiczs Ballade Romantyczność (Romantizität), und zum anderen die tiefe seelische Spaltung, die er selbst empfunden hat, die er aber als Motor seines Denkens, als Stachel des geistigen Anstoßes geradezu kultiviert hat. Auf Romantyczność, Adam Mickiewiczs Ballade von einer jungen Frau, die nicht wahrhaben will, dass ihr Bräutigam tot ist, da er in ihrer seelischen Realität nach wie vor lebendig ist, kommt Miłosz in Ziemia Ulro leitmotivisch immer wieder zurück. Diese Ballade hat ihn zutiefst beunruhigt, denn die Aufforderung, dem Gefühl und dem Herzen mehr zu glauben als dem Mikroskop des Naturwissenschaftlers, zerreißt ihn, den Verehrer Mickiewiczs und zugleich aber seit frühester Jugend passionierten Naturforscher. Sieht das einfache Volk in seinem Aberglauben mehr als der Wissenschaftler mit seinen optischen Instrumenten, wie es in der Ballade heißt? Oder kann man gleichzeitig an die Erkenntnisse der Naturwissenschaft glauben und an die Ausgeburten poetischer Phantasie? Andrzej Niemojewski 6 sagt nein, Mickiewicz sei nie vom modernen naturwissenschaftlichen Denken geprägt 6 In seinem Essay: Dawność a Mickiewicz, Warszawa 1920 <?page no="23"?> 23 worden, die Aufklärung sei ihm aufgrund seiner Herkunft aus der litauischen Provinz fremd geblieben. 7 Gilt das auch für den litauischen Provinzler Miłosz? Nein, anders als Mickiewicz kann er sich nicht vollständig mit der geistesverwirrten jungen Frau in Romantyczność identifizieren, für die nicht das real ist, was das physische, sondern nur das, was das geistige Auge sieht. Er stellt zunächst einmal fest, dass Mickiewicz selbst den Konflikt entschärft habe, indem er das Setting, die Figuren und auch die Moral am Schluss („Hab ein Herz und schau ins Herz“) unrealistisch ins Märchenhafte verschoben habe. Der die Vernunft verteidigende Naturwissenschaftler sei bloß die Karikatur eines Naturwissenschaftlers, das Städtchen bloß ein Märchenstädtchen usw. Das Problem des Widerspruchs zwischen metaphysischer und wissenschaftlicher Wahrheit bleibt damit aber ungelöst. Die zersetzende Ironie des Zweifels an den Herzenswahrheiten brach sich bereits inmitten der romantischen Bewegung Bahn. Marie Shelleys Frankenstein macht den Wissenschaftler zum „satanischen Herrscher der Laboratorien“ (ZU S. 118). Man könnte auch auf die spätromantischen Ironiker Heinrich Heine und Cyprian Kamil Norwid verweisen, die nicht glauben konnten, ohne gleichzeitig über ihren eigenen Glauben zu spotten. Vermochten „Gefühl und Glaube“ Adam Mickiewicz vor dieser Zersetzung zu bewahren? Das „einfache Volk“, auf dessen Weisheit Mickiewicz in Romantyczność seine Hoffnung gesetzt hatte, ist, so Miłosz, längst zur aufklärerischen Vernunft und ironischen Skepsis übergelaufen. „Mickiewicz hat verloren“ (ZU S. 246), stellt er lakonisch fest. Doch der Dichter kommt am Schluss von Ziemia Ulro noch einmal auf Romantyczność zurück. Das „Fühlen“ des Mädchens aus der Ballade, das sich zum Gespenst seines im Krieg getöteten Verlobten in Liebe hingezogen und gleichzeitig voll Schrecken von ihm abgestoßen fühlt, wird hier zum Erlebnis der gleichzeitigen Anwesenheit von Teufel und Engel, zur schmerzlichen Empfindung des Dichters einer Zerrissenheit zwischen dem „wissenschaftlichen Jahrhundert“ (ZU S. 253) und dem eigenen seelischen Kompass. 7 „Chcieli uzgodnić Mickiewicza ze sobą nasi współcześni przyrodnicy, z jednej strony na podstawie jego czysto praktycznej a tak rozległej znajomości natury, z drugiej strony naginając jego poglądy filozoficzne do nowszych uświadomień naukowych. […] Nie chciano się na to zgodzić, by zabobon polski miał na Mickiewicza posiadać także jakiś serwitut. (S. 3: Unsere zeitgenössischen Naturwissenschaftler wollte Mickiewicz mit sich vereinbar machen, einerseits auf der Basis seiner rein praktischen und breiten Kenntnis der Natur, andererseits indem sie seine philosophischen Ansichten in Richtung auf die modernen Erkenntnisse der Wissenschaft hinbogen. […] Man wollte sich nicht damit abfinden, dass der polnische Aberglaube in Mickiewicz auch eine Art Dienstmann hatte). <?page no="24"?> 24 Herz und Vernunft Das Aufeinanderprallen von aufklärerischer Vernunft und dem Glauben an das Übersinnliche, das zum Leitmotiv von Ziemia Ulro wird, verweist nicht nur auf den Ursprung von Miłoszs „Manichäismus“, also auf seine Überzeugung, das Böse sei dem Guten an Macht ebenbürtig, sondern auch auf eine fundamentale kulturelle Äquivalenz. Was in der (noch von der Romantik geprägten) Populärkultur als Gegensatz zwischen Herz und Vernunft und in der Psychologie als Nebeneinander von kognitiver und emotionaler Intelligenz bekannt ist, haben die Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick, Janet Beavin Bavelas und Donald De Avila Jackson in ihrem Buch Pragmatics of human communication als die alternativen, jedoch in gleicher Weise unverzichtbaren Formen der digitalen und der analogen Kommunikation beschrieben. 8 Was diese kommunikationstheoretische Einteilung den populärkulturellen und psychologischen Erklärungen voraus hat und sie zugleich für das Verständnis von Miłoszs „manichäischer“ geistiger Welt geeignet macht, ist ihr Beziehungs- und ihr Zeichencharakter. Digitale und analoge Kommunikation sind keine Eigenschaften wie Intelligenz oder Herzenswärme. Als Beziehungsformen stehen sie für unterschiedliche soziale Bindungskräfte, sie sind sozusagen der Elektromagnetismus oder die Gravitation der sozialen und damit zugleich der kulturellen Sphäre. Ihr Zeichencharakter sorgt für ihre fortdauernde Relevanz in der Kultur und für ihre ästhetische Funktionalität. Aus kommunikationstheoretischer Sicht stellt sich Miłoszs geistige Zerrissenheit somit folgendermaßen dar. Digitale Kommunikation liefert die logischen Operatoren des Denkens. Analoge Kommunikation verwendet dagegen Analogien. Diese erlauben keine eindeutigen Festlegungen, weil analoger Kommunikation, z.B. Mimik und Gestik, die eindeutig machende Syntax fehlt. Ihre Aussagen sind darum unaufhebbar ambivalent. Tiere können nur analog kommunizieren, Menschen sowohl analog als auch digital. Digitale Kommunikation ist unser Instrument der Wissensübermittlung und -aufbewahrung. Im Bereich menschlicher Beziehungen ist sie jedoch bedeutungslos. Hier funktioniert nur die analoge Kommunikation. Analoge Kommunikation ist darum für den Bereich menschlicher Beziehungen unverzichtbar. Auf digitaler Ebene kann keine menschliche Beziehung hergestellt werden. Digital können wir unsere Umwelt nicht als Zusammenhang erleben, denn Zusammenhang setzt analoge Beziehungen voraus. Die „Zusammenhänge“, die wir mit den logischen Operatoren der digitalen Kommunikation erkennen, sind streng genommen gar keine Zusammenhänge, denn sie müssen Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung streng voneinander trennen. 8 Pragmatics of human communication: a study of interactional patterns, pathologies, and paradoxes. New York 1967. <?page no="25"?> 25 Der Preis ihrer Eindeutigkeit ist der Verlust des Beziehungscharakters der Verbindung. Auf digitaler Ebene tobt auch der Kampf zwischen den Arten um Lebensraum und Nahrung, den Darwin in Die Entstehung der Arten beschreibt. Die Harmonie, als die wir in Konkurrenz dazu die Natur ebenfalls erleben, ist nun angesichts dieses Kampfes keine Illusion, sondern das Ergebnis unserer analogen Kommunikation mit der Natur. Diese Kommunikation liefert radikal andere „Erkenntnisse“ bzw. Erlebnisse als die digitale. Sie sind nicht weniger „wahr“ als diejenigen der digitalen Kommunikation, sie setzen nur einen anderen, einen analogen Wahrheitsbegriff voraus. Miłoszs Entsetzen über die in der Natur waltende Grausamkeit entspringt darum letztlich einem logisch eigentlich unzulässigen Sprung auf eine andere Ebene. Er schiebt der digitalen Kommunikationsform die Kriterien der analogen Kommunikation unter. 9 Der Naturforscher, der die Beziehung zu seinem Gegenüber sucht, muss also nicht unbedingt, wie Mickiewicz in Romantyczność rät, das Mikroskop beiseite stellen. Auch in der Beziehungskommunikation ist die scharfe Wahrnehmung kleinster Unterschiede wichtig. Das hat ein Miłosz in der Naturbeobachtung mindestens ebenbürtiger Autor des 20. Jahrhunderts, der Schmetterlingskundler Vladimir Nabokov, immer wieder deutlich gemacht. 10 Wer in der Wahrnehmung keine feinen Unterschiede zu machen in der Lage ist, ist fast ebenso wenig beziehungsfähig wie ein auf der analogen Ebene taubstummer Rationalist. 11 Insofern konnte Miłosz wie Nabokov sein naturforscherisches Talent eben doch literarisch fruchtbar machen, was uns im Kapitel zu seinem Roman Dolina Issy noch beschäftigen wird. Der Dualismus zweier scheinbar miteinander unvereinbarer Weltanschauungen wird so zum Nebeneinander zweier Optionen, die dem Dichter zur Verfügung stehen. Von beiden macht er virtuosen Gebrauch. Sein Ziel ist jedoch, sie nicht nur nebeneinander zu benutzen, sondern sie zu vereinen. Darum gehört die von Swedenborg propagierte „Ehe“ zwischen Liebe (Amor) und Weisheit (Sapientia) zu seiner „Berufung als Dichter“ (ZU S. 164). 12 Die 9 Häufiger ist allerdings der umgekehrte Fall. „Digitale“ Literaturwissenschaft, digitale Soziologie, digitale Theologie und Philosophie verfehlen den essentiellen Beziehungscharakter der kulturellen Phänomene, die sie untersuchen. 10 Z.B. in Lolita, vgl. The annotated Lolita, London (Penguin Classics) 2000, Fußnote 6/ 1 auf S. 326-327. Lolita ist ganz zentral auch ein Buch über die Unfähigkeit und die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. 11 Besonders aufschlussreich ist in Lolita der deutliche Unterschied zwischen der scharfen Wahrnehmung des Autors und der undifferenzierten Wahrnehmung seines Helden. Humbert Humbert kann nicht einmal eine Motte von einem Tagfalter unterscheiden. 12 Swedenborgs Bildlichkeit ist hier von der Doppelfunktion der Ehe abgeleitet. Nicht wie für Klassizismus und Romantik die tendenziell asexuelle Seelenverwandtschaft und auch nicht wie für Renaissance und Barock das sexuelle „Entbrennen“ soll sie stiften, sondern eben beides vereint (vgl. ZU S. 164). <?page no="26"?> 26 digitale Option zeigt sich vor allem in Miłoszs Verstraktaten, die den Geist der Aufklärung atmen, die analoge Option z.B. in seinen Liebeserklärungen an das Eichhörnchen in Dolina Issy 13 und an das hölzerne Eichhörnchen in Ziemia Ulro: Miałem sześć lat i Mamusia kupiła mi na rynku drewnianą wiewiórkę. […] I oto dzięki niej dane mi było zapoznać się z potęgą Erosa […] zakochałem się i tak żarliwe było moje uczucie, że teraz odnoszę się do niego z największą powagą […] (ZU S. 46) Ich war sechs und Mama kaufte mir auf dem Markt ein hölzernes Eichhörnchen. […] Und so wurde mir zuteil, die Macht des Eros kennenzulernen […] ich verliebte mich und mein Empfinden war so innig, dass ich mich darauf heute mit dem größten Ernst beziehe. Die Liebe zur Hasel In dieser kindlichen Liebe zum Holzspielzeug lag kein Fetischismus, sondern die Geburt der Fähigkeit, Empathie auch und gerade für das Fremde, für das ganz Andere der Natur zu entwickeln. Wie viele Aspekte von Miłoszs geistiger Welt wird auch dieser in dem Band TO auf den Punkt gebracht - in dem Gedicht Do leszczyny (an die Hasel). 14 In keinem Gedicht erscheint die Beziehungsfähigkeit so deutlich als Voraussetzung für eine ganz andere, persönliche Form der Welt- und Selbsterkenntnis; eine Erkenntnis, in der sich der Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Naturerkenntnis und dem „Sehen mit dem Herzen“ aufhebt. Die Hasel, auch im Polnischen weiblich, erscheint in dem Gedicht als Geliebte, deren Körperlichkeit in geradezu erotisch-petrarkistischer Lexik gehuldigt wird. Die schlanken Zweige, die sich zur Sonne recken, sind die Arme einer brünetten Schönheit, die sich mit den „Perlen ihrer Nüsse“ schmückt. Die Wiederbegegnung mit der Geliebten nach langer Zeit findet auch das frühere innige Gefühl wieder. Die Hasel erfreut sich in dem Gedicht explizit einer weitaus größeren Zuneigung des Lyrischen Ichs als die im Polnischen männlichen Bäume Eiche und Erle, die ebenfalls die Zeit des Dichter-Exils überdauert haben. Zur Opposition des Geschlechts treten der Kontrast in punkto Biegsamkeit und Geschmeidigkeit und die metonymische Beziehung der Hasel zu den „Generationen von Eichhörnchen, die in ihr spielen“. Miłoszs Chiffre für das erotisch gefärbte Erleben der Natur wird hier angereichert um verschiedene diachrone Komponenten. Da ist zum einen die Kontinuität der vielen scheinbar ewig jungen Eichhörnchen-Generationen. Das lyrische Ich steht ihnen in paradoxer Weise ebenfalls als ewig 13 Vgl. unten S. 157-159. 14 In TO, Kraków 2001, S. 9. <?page no="27"?> 27 junges Ich gegenüber - es ist der Junge, der hier einst durch die Wälder streifte, und ist es zugleich nicht mehr. Das „Nachdenken des Heraklit“ über den paradoxen Charakter der Zeit wird damit zum unmittelbaren individuellen Erlebnis. Zugleich steht die Verwendung der Haselzweige zum Schnitzen von Bögen in einer semantischen Opposition zum Gehstock, den das Lyrische Ich nun benötigt: das biegsame Kind schnitzte sich einen biegsamen Bogen, der steif gewordene Alte muss sich einen steifen Wanderstock schnitzen. Die fast erotische Beziehung zur Natur, die so ein freudiges Widererkennen möglich macht, ist für Miłosz nicht der Widerpart der wissenschaftlichen Naturerkenntnis, sondern ihre Voraussetzung. Und in der Beziehung zum Anderen der Natur wiederum liegt die Voraussetzung für die Selbsterkenntnis, die hier in der Einsicht gipfelt, dass das menschliche Individuum im Gegensatz zu der sich beständig erneuernden Natur der Zeit unterworfen ist. Und so kann man darin, dass das Lyrische Ich inzwischen einen Stock zum Gehen braucht, einen subtilen Hinweis auf das berühmte Rätsel erblicken, das die Sphinx Ödipus gestellt hat. Der Mensch verändert sich, 15 die Natur bleibt sich gleich. Als Fazit stellt das Gedicht der Realität der Wiederkehr und des Heimkommens die Fiktivität jeder Art von konstruierter „Biographie“ gegenüber. Das Ich, das heimkommt, das sich mit der Natur wieder vereint, ist eben nicht das Ich der Biographie. Diese Entgegensetzung von biographischer und eschatologischer Lebensgeschichte hat den Dichter zu einem Post Scriptum zu Do leszczyny inspiriert, in dem zwei visuelle Eindrücke einander gegenübergestellt werden. Auf der einen Seite steht der litauische Kontrast zwischen dem hellen Weiß der Birken zum Dunkel des wolkenverhangenen Himmels, auf der anderen Seite die kalifornischen „gelben und rostfarbigen Weinberge“ im abendlichen Napa Valley. Diese beiden Eindrücke stehen für Kindheit und Alter, und damit spiegelt die Natur hier zwar doch die individuelle Biographie. Sie spiegelt jedoch nicht die biographische Identität des Menschen, indem sie als seine ihn prägende Umwelt Konstanz herstellt. Vielmehr demonstriert der Kontrast zwischen der Natur des Ortes der Kindheit und der Natur des Ortes des Alters den tiefgreifenden Wandel des Menschen. Die Natur hat sich nur verändert, weil das menschliche Individuum einen weiten Weg durchschritten hat. Birken assoziieren sich mit Jugend und Frühling, die Farbe Weiß mit der Hoffnung. Wein und Abend assoziieren sich mit Alter, ebenso das Alter signalisierende Gelb (Herbstblätter, Gesichtsfarbe, Vergilben von Papier) und der Alter und Vergänglichkeit anzeigende Rost. Die Wolkendecke des Kindheits-Litauens verweist auf die Dro- 15 „Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße“, nach: Gustav Schwab, Sagen des klassischen Altertums, Kap. 67. <?page no="28"?> 28 hungen, die damals über dem Land lagen. Warum erwähnt Miłosz hier nicht den im Kontrast dazu blauen Himmel über Kalifornien? 16 Weil es hier nicht um das Raumerleben geht, das gesteigert wird, indem „viele Wolken“ 17 dem Raum Tiefe geben, sondern um das Zeiterleben. Dieses Zeiterleben ist individuell eschatologisch. Das Lyrische Ich erlebt durch den Kontrast zwischen dem „Tal der Issa“ der Jugend und dem „Tal der Napa“ des Alters die Zeit - nicht die Naturzeit der ewigen Wiederkehr, sondern die Zeit des Falls, des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies, die das menschliche Zeiterleben zumindest im europäischen Kulturkreis prägt. Das neue Fazit des Gedichts, das Fazit des Post Scriptum zu Do leszczyny lautet darum: Odpuszczony, wracam drogą niebyłą. (Postscriptum, Zeile 5) Losgesprochen, kehre ich zurück auf dem nichtseienden Weg. 18 Das Lossprechen, d.h. die Vergebung der Sünden, ermöglicht die Rückkehr in das Paradies, aus dem wir vertrieben wurden. Auf der individuellen Ebene hat sich die Verheißung der Eschatologie erfüllt, doch diesen Weg kann man nicht biographisch „konstruieren“. Wenn denn eine Biographie konstruiert ist, dann nicht von ihrem Autor, sondern von einer höheren Instanz, die ihr den Sinn zu verleihen vermag, den sie aus sich selbst heraus nicht haben kann. Das „zmyślenie“ (Erfindung) der letzten Zeile von Do leszczyny und das „zmyślenie“ der ersten Zeile von Post Scriptum sind aus diesem Grund nicht identisch. Der Mensch und seine Mission Der durchgängige Grundzug im Erleben des Dichters vom frühen Katastrophismus bis zur postapokalyptischen geistigen - und auch realen - Heimkehr ist also die Eschatologie. Miłosz hat seine reale Vertreibung durchaus nicht als unverschuldet erlittenes Unrecht, sondern als Bestrafung gedeutet, als Bestrafung für seinen Anteil an dem von ihm „inhalierten“ 20. Jahrhundert. Und so können wir bruchlos vom biographischen Ausgangspunkt des Dichters zu seiner Modellierung der geschichtlichen Eschatologie der Menschheit übergehen. Im weiteren werde ich die Sicht des Dichters auf die Mission des Menschen beschreiben und kommentieren, dann seine Beschreibung des Falls des Menschen in den Abgrund des 20. Jahrhunderts dokumentieren und schließlich verschiedene Ausflüchte ansprechen, die der Mensch, so Miłosz, aus diesem Abgrund gesucht hat. 16 Zu den zahllosen Wolken-Anspielungen in Miłoszs Dichtung vgl. unten S. 80f. 17 „Dużo obłoków“ in dem Gedicht PO (Nach), in: TO, Kraków 2001, S. 98. 18 Die Nachdichterin Doreen Daume wählt in DAS und andere Gedichte, München 2004 S. 10 hier zu Unrecht das Präteritum „kehrte ich auf dem Weg zurück, den es nicht gab“. <?page no="29"?> 29 Die eschatologische Sichtweise des Menschen setzt nach Miłosz nicht voraus, dass man von einem paradiesischen Urzustand ausgeht, den wir durch die Entwicklung von Bewusstsein mehr oder weniger freiwillig aufgegeben hätten. In diesem Punkt hält es der Dichter mit Emanuel Swedenborg, dem zufolge der prähistorische Urmensch im Zustand der „Bestialität“ (ZU S. 159) lebte. Dies ist keine Konzession an die Erkenntnisse der Anthropologie. Miłosz baut vielmehr eine Gegenposition auf zum intellektuellen Konstrukt eines Gegensatzes zwischen Vernunft und Empfindung. Einem solchen Konstrukt zufolge müsste entwicklungsgeschichtlich ein Gewinn an Vernunft mit einem Verlust an intuitiver (analoger) Empfindung einhergehen. Analoge und digitale Kommunikationsfähigkeit, Empathie und Intellekt haben sich beim Menschen jedoch parallel zu einem im Vergleich zu anderen Lebewesen hohen Niveau entwickelt. Darum schließt auch die Bestimmung des Menschen zum Naturforscher seine Bestimmung zum Metaphysiker nicht aus. Dieses doppelte Ziel der Menschheit sieht Miłoszs insbesondere von zwei Persönlichkeiten formuliert, auf die er immer wieder hinweist: Blaise Pascal und Emanuel Swedenborg. Bei Pascal betont Miłosz den Gedanken der Fremdheit und Einsamkeit des Menschen im Kosmos, da der Mensch allein Bewusstsein besitze. Dies ist aber nur die negative Voraussetzung für die Rolle, die dem Menschen nach Miłosz in der Welt zugedacht ist. Positiv beruft sich der Dichter hier vor allem auf Swedenborg. Nach Swedenborg ist der innere, seelische Raum des Menschen realer als sein äußerer. Denn er ist durchaus nicht abstrakt oder unsinnlich: unsere fünf Sinne erschaffen fortwährend einen Kosmos der geistigen Entsprechungen. Formen, Farben und Düfte sind geistige Bedeutungen (ZU S. 153). Genau diesen Raum beschreibt Dante in seiner Göttlichen Komödie, und der russische Dichter Osip Mandelstam sah eine wesentliche Leistung Dantes darin, diesen Raum zu erschaffen. 19 Der Mensch hat ihn der Natur abgerungen, vor allem seiner eigenen Natur. Die wesentlichen Koordinaten eines solchen Raumes sind nach Miłosz das Niedrige und das Erhabene, denn der - digital funktionierende - menschliche Geist kennt wie das - analog funktionierende - menschliche Herz keine Gleichheit. 20 Miłosz spricht in dem Gedicht Czego nauczyłem się od Jeanne Hersch? offen aus, dass er sich mit seiner Behauptung von einer „geistigen Hierarchie“ unter den Menschen den Vorwurf der Überheblichkeit einhandelt. Doch der Dichter hat sich gewandelt. Als Schüler in Wilna hatte er noch voll Hochmut auf die Menschen um sich herabgeschaut: 19 O. Mandelstam, Gespräch über Dante, Frankfurt/ Main 1994, S. 133. 20 ZU S. 102, vgl. in TO die Gedichte Czego nauczyłem się od Jeanne Hersch? (Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt? , S. 59 und O nierówności ludzi (Von der Ungleichheit der Menschen, S. 68). <?page no="30"?> 30 Ale to były małpy. Jakiż jest ich sens? Po co istnieją? Wzbijałem się na jakąś boską wysokość i trwałem nad nimi jak nad preperatem. (RE S. 79) Diese hier waren Affen. Wozu gab es sie? Wofür existierten sie? Ich erhob mich zu einer gewissermaßen göttlichen Höhe und sah auf sie herab wie auf ein Präparat. Jahrzehnte später hat sich ihm der in die USA emigrierte deutsche Marxist Herbert Marcuse zu dieser Haltung bekannt. Der Philosoph bemerkte zu Miłosz in San Diego: „Diese ganze Stadt ist von Tieren bewohnt“. (ZU S. 42). Doch auch Miłosz selbst ist gefährdet. Es sagt von sich, dass er, wenn er immer noch Prosa schreiben würde, nicht anders könnte als die Menschen um sich herum als ausgestopfte Tiere mit Knopfaugen zu beschreiben. Gut, so meint er, dass er mit der Prosa aufgehört habe (ebd.). Führt die Vorstellung von einer geistigen Hierarchie unweigerlich zu intellektuellem Hochmut? Nein, in dem Gedicht O nierówności ludzi (Über die Ungleichheit der Menschen) aus dem Band TO stellt der Dichter klar: die geistige Welt ist in dem Sinne hierarchisch, dass wir um uns herum Menschen von seelischem und geistigem Adel bemerken, und Miłosz ist stolz darauf, solchen Menschen begegnet zu sein: Obym okazał się godny wysokiej kompanii, I szedł z nimi, niosąc połę królewskiego płaszcza. 21 Ich möchte mich der hohen Gesellschaft würdig erweisen, Und mit ihr gehen, den Saum des Königsmantels tragend. Nicht zufällig folgen gleich nach diesem Gedicht Verse über Miłoszs älteren Dichterkollegen Aleksander Wat. 22 In seinem Vorwort zu Wats „Gesprochenen Erinnerungen“ Mój wiek hatte Miłosz über seine geistige Beziehung zu Wat festgestellt: Ganz entscheidend ist die Tatsache, dass ich mich an Rang und Würde unterlegen fühlte. Diese Würde lässt sich schwer definieren. Sie lässt sich nicht in Begabung messen, denn der Begabte verdient nicht immer Respekt. Sie lässt sich auch nicht in Intelligenz messen, denn die Menschen machen unterschiedlichen Gebrauch von ihrer Intelligenz. Die Würde ist ein qualitatives Gewicht, und wenn wir sie jemandem zuerkennen, sind wir sicher, dass sie ihm von Natur aus zusteht. […] In diesem Buch bringt Wat seinen Respekt gegenüber den unterschiedlichsten Menschen zum Ausdruck, die in seinen Augen Würde besaßen. Darunter sind ukrainische Bauern, die weder 21 TO, Kraków 2001, S. 68, Zeile 15-16. 22 Krawat Aleksandra Wata, in: TO, S. 69-70. <?page no="31"?> 31 lesen noch schreiben konnten, polnische Arbeiter der PPS, jüdische Schuster aus einem galizischen Städtchen und sogar russische Banditen. 23 Die Feststellung einer geistigen Hierarchie setzt also keineswegs das eigene Ich als oberste Instanz ein. Darum kann sie auch frei von Überheblichkeit sein. Miłosz erkennt nicht nur sofort den „höheren Rang“ des Dichterkollegen an. Er macht außerdem klar, dass die Grundlage der geistigen Hierarchie, nämlich die Würde des Menschen, weder an die Intelligenz noch an die soziale Herkunft gebunden ist. Im Unterschied zur „konzessiven“ Formulierung der Menschenwürde in den Rechtsnormen moderner Demokratien, nach der jedem Menschen diese Würde zugestanden werden muss, aus der sich also keine Hierarchie ableiten lässt, muss der Mensch sich nach Miłosz der ihm zugestandenen Würde auch als würdig erweisen. Wie ein „Würdenträger“ ein ihm übertragenes Amt ausfüllen muss, so muss der Mensch dem Anspruch gerecht werden, den die Schöpfung oder die Evolution oder wer auch immer an seine Gattung gestellt hat. Das aber tun die Menschen eben nicht alle in gleichem Maße. Wat war ein Charismatiker, aber auch Charisma ist mit Würde nicht identisch. Es ist, so Miłosz, möglich, würdige von unwürdigen Charismatikern zu unterscheiden. Wie ist nun die Würde, die einem Menschen auszeichnet, mit seiner geistigen Mission verknüpft? Nicht dadurch, dass er sich in die Natur „integriert“, sondern zunächst und vor allem dadurch, dass er sich von der Natur unterscheidet. Der Mensch kennt die Natur. Mit Hilfe seiner naturwissenschaftlichen Methoden hat er ihre Mechanismen, ihre unbarmherzige Logik entschlüsselt. Gerade darum kann er nun seine eigene Verschiedenheit von dieser Natur feststellen. Eine nachvollziehbare Reaktion des Menschen auf diese Einsicht ist sein Rückzug vor dieser Natur in die eigene geistige Innerlichkeit, wie wir sie z.B. aus fernöstlichen Religionen kennen. Wenn der Mensch sich nach dieser Erkenntnis nun aber im Gegenteil der Natur zuwendet, dann kann er ihr den eigentlich menschlichen Raum abringen, d.h. er kann sie und damit zugleich sich selbst dann verwandeln. Dies tut er nicht, indem er sie sich untertan macht (denn gerade dadurch macht er sich ihr paradoxerweise selbst untertan, indem er er ihrem Gesetz des Unterwerfens folgt), sondern indem er sie „vom Leiden und vom Tod errettet“ (ZU S. 170). Wie soll das gehen? Was in den geistigen Raum des Menschen Einlass bekommt, ändert radikal seinen Status. Für sich selbst ohne Schönheit und ohne Liebe, kann die Natur allein durch den Menschen zum Garten Eden, zum „Quell himmlischer Freuden“ (William Blake, vgl. ZU S. 173) werden. Man könnte fragen: was nützt ihr das? Es nützt ihr insofern, als wir die so verstandene Natur als Dialogpartner verstehen. Vor allem verstehen wir ihre 23 Nach der deutschen Übersetzung von Esther Kinsky, in: A.W., Jenseits von Wahrheit und Lüge, Hg. Matthias Freise, Frankfurt/ Main 2000, S. 22. <?page no="32"?> 32 Lebewesen als zu unserer Familie gehörige Geschöpfe, als Geschöpfe, die unser Mitgefühl verdienen. Natürlich schielt der Wolf auch auf der Arche des vom Menschen geschaffenen geistig-seelischen Raumes nach dem Schaf. Statt es wortlos zu verschlingen, spricht er in diesem Raum jedoch mit ihm, sucht sein Verhalten mit seinem Hunger zu rechtfertigen, und manchmal lässt er das Schaf auch entkommen. Noahs Arche, auf der die Tiere einander nicht fressen, ist das vom Menschen geschaffene Abbild des Paradieses, die Erfüllung eines zweifachen Auftrags: des Bewahrens und der dialogischen Zuwendung. 24 Aufstand gegen das Gesetz der Natur Außerhalb des vom Menschen geschaffenen geistigen Raumes ist dagegen Mord das oberste Naturgesetz. Die Natur ist eine gewaltige Mordorgie des Fressens und gefressen Werdens. 25 Sie ist darum, wie Miłosz seinen Onkel Oscar zitiert, abgrundtief hässlich und moralisch verwerflich (ZU S. 225). Sie ist der Wohnsitz des Bösen. Diesen Schluss hat Miłosz aus den Lehren Charles Darwins gezogen. Miłosz verurteilt nicht etwa aus einer religiösen Position heraus Darwin und die Evolutionstheorie, er ist kein Anhänger des Kreationismus. Die Auseinandersetzung, die Miłosz zeit seines Lebens mit Darwin und auch mit Newton und Kopernikus führt, spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Als Zeugen gegen Kopernikus ruft er in Świadectwo poezji Lev Šestov auf. Nach Šestov werden wir „vom frühesten Alter an“ darauf gedrillt, „nur das als wahr anzuerkennen, was von unserem ganzen Wesen als Lüge empfunden wird“ (SP S. 42), z.B. dass die Erde sich in rasender Geschwindigkeit 26 um sich selbst dreht. Der russische Philosoph spielt hier zwei Wahrheitsbegriffe gegeneinander aus. Der sekundär erschlossenen naturwissenschaftlichen Wahrheit stellt er die primäre, weil unmittelbare Erlebniswahrheit gegenüber. Die Märchen, die voller Dämonen und Hexen sind, stehen, so Šestov, dieser Erlebniswahrheit näher als die abstrakte und darum unerlebbare naturwissenschaftliche Erkenntnis. Es geht Šestov wie auch Miłosz nicht darum, wissenschaftliche Erkenntnis zu diskreditieren. Es geht ihnen darum, die Lebenswelt, wie man phänomenologisch sagen würde, als Ursprungs- und Ausgangspunkt von jeder Art von Wahrheit zu rehabilitieren. Das anthropozentrische Weltbild hat zudem den großen Vorteil, dass es 24 Zum Dichter als Arche s.u. S. 38, 47, 106-107 und 166. Allerdings impliziert das Bild der als Paradies verstandenen Arche auch, dass der Mensch das Paradies nur als zeitweiligen goldenen Käfig schaffen kann. 25 Vgl. hierzu das Kapitel „Natura devorans, natura devorata“ in Aleksander Fiut: Moment wieczny, Kraków 1998, S. 67-75 26 Am Äquator mit 1660 km/ h. <?page no="33"?> 33 unter seinen Vorzeichen auch im kosmischen Maßstab darauf ankommt, was der Mensch tut und ob er sich moralisch verhält. Ansonsten könnte man mit Dostojewskijs Romanhelden feststellen, dass alles erlaubt und gleichgültig ist. Ähnlich verhält es sich mit Newton, gegen den Miłosz Goethe als Zeugen aufruft (ZU S. 108-111). Er beruft sich dabei auf Erich Hellers Essay Goethe and the idea of scientific truth. 27 Nach Heller hat Goethe einen dreißigjährigen Krieg gegen Newton geführt, indem er versuchte, eine ganz andere Wissenschaft zu begründen, die nicht von einem mechanistischen Naturbegriff ausgeht. Wenn man sich darauf beschränkt, die kausalen Beziehungen zwischen den Erscheinungen zu untersuchen, verliert man jegliches Interesse daran, was sie eigentlich für uns selbst sind und was sie bedeuten. Sie verlieren ihren Bezug zur „inneren Welt des Menschen“ (ZU S. 109), zu seinem Erleben und Fühlen. Das mag zunächst wenig folgenreich erscheinen, doch Goethe macht auf den Preis aufmerksam, den wir damit für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zahlen. Die Entsprechung von Seele und Welt ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch eine dialogische Beziehung zur Welt aufbaut. Ohne eine solche Beziehung taumelt der Mensch hin und her zwischen dem Bewusstsein seiner absoluten Nichtigkeit im Universum und einer arroganten Vorstellung von seiner Allmacht und seiner Wichtigkeit. Diese innere Zerrissenheit dokumentieren, so Miłosz, Denker und Schriftsteller von Dostojewskij über Nietzsche und Kafka bis zu Sartre. Auch unsere geistige Umwelt verwandelt sich so in eine Wüste. William Blake gibt der „diabolischen Dreifaltigkeit“ Bacon, Newton und Locke die Schuld daran, doch kann man hier von Schuld sprechen? Wussten wir, welchen Preis wir zu zahlen hatten? Oder waren wir am Ende sogar bereit, diesen Preis zu zahlen, in der Hoffnung, Schmerz, Hunger und Mühsal zu beseitigen und damit unsere Vertreibung aus dem Paradies aus eigener Kraft rückgängig zu machen? Wissenschaft verspricht Macht und Bedürfnisbefriedigung. Wer kann dem widerstehen? Die Geistesgeschichte gehorcht einer inneren Logik, der sich der Einzelne kaum entziehen kann. So konnte Martin Luther mit seinen wahrhaft berechtigten Anliegen nicht umhin, das Fegefeuer, die Fürsprache der Heiligen und das Verständnis der Kirche als Gemeinschaft über Bord werfen. Die Konsequenz war, so Miłosz (ZU S. 125), eine doppelte Vereinsamung des Menschen, sozial und historisch. Historische Vereinsamung bedeutet, dass die Bindung zu den Menschen früherer und auch kommender Zeiten abreißt, dass mit ihnen kein Dialog mehr stattfindet. 27 Als Aufsatz Swansea 1949, deutsch dann in der Essaysammlung Enterbter Geist, Frankfurt/ Main 1954. Als Buch auf Englisch in E.H., The Disinherited Mind, Harmondsworth, Penguin Books, 1961. <?page no="34"?> 34 Gegen Darwin schließlich ruft Miłosz dessen Frau sowie sich selbst in den Zeugenstand. Vom 14. Lebensjahr, in dem Miłosz als Eintrittsübung in den Naturforscherclub seiner Schule ein Referat zu Darwin hielt, 28 bis in sein 93. Lebensjahr, in dem er die Gedichte Do natury (An die Natur) und Dobroć (Güte) schrieb, 29 hat der Dichter die Auseinandersetzung mit Darwins Evolutionstheorie gesucht. In dem Band Piesek przydrożny 30 findet sich ein fiktiver Dialog des Naturforschers mit seiner Frau. Emma Darwin wirft Charles darin vor, dem Wesen, das nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, das den Engeln gleicht, seine Würde zu rauben. Er, Charles, sei das Opfer seines Geltungstriebes. Darwin kommt daraufhin bei Miłosz zu dem Schluss, eine Theologie auf der Grundlage der Evolutionstheorie könne nur eine Theologie des Teufels sein. Im Gedicht Uczeni 31 (Gelehrte) aus dem letzten großen zu Lebzeiten des Dichters veröffentlichten Gedichtband lesen wir: Karol Darwin Czuł przynajmej wyrzuty sumienia Oglaszając swoją teorię, jak mówił, diabelską. Charles Darwin verspürte wenigstens Gewissensbisse als er seine, wie er sagte, teuflische Theorie verkündete. Nach Joanna Zach 32 verfälscht Miłoszs Darstellung des Naturforschers die Wirklichkeit. Auf der Grundlage der Autobiographie Darwins sowie der Briefe seiner Frau demonstriert Zach, dass Charles von keinerlei Zweifeln geplagt und mit Emma ein Herz und eine Seele war. Für die von Miłosz bezweifelte Vereinbarkeit von Darwinismus und christlichem Glauben beruft sie sich auf Francisco Ayala. 33 Doch Ayala geht auf Miłoszs Argumente überhaupt nicht ein. Ihm geht es nur darum, die Kreationisten zu widerlegen, mit denen der Dichter jedoch nichts gemeinsam hat. Warum denn Gott eine Natur geschaffen hat, deren Grundgesetz genau das ist, was die mosaischen Gesetze uns Menschen verbieten, fragt sich Ayala nicht. Die Darwin selbst von Miłosz in den Mund gelegten Gewissensbisse widerlegt Zach mit einem Zitat aus seiner Autobiographie: „I feel no remorse from having committed any great sin“. 34 Charles bezeichne sich in seiner Autobiographie, so Zach, als Atheist und Agnostiker. Sein Theologiestudium habe ihn entsetzlich gelangweilt. 28 Vgl. Czesław Miłosz: Conversations. Jackson, Mississippi 2006, S. 152. 29 In: Wiersze ostatnie, Kraków 2006. 30 Kraków 1999, deutsch Hündchen am Wegesrand, München 2000. 31 In: Druga przestrzeń, Kraków 2002, S. 34. 32 Mrs. Darwin i teologia. Glosy i dopowiedzenia. In: Dekada Literacka 2009 Nr.4. 33 Francisco J. Ayala, Darwin’s Gift to Science and Religion, Washington 2007. 34 Zitiert nach http: / / darwin-online.org.uk. Autobiographies, S. 53. <?page no="35"?> 35 Möglicherweise unterschätzt (oder unterschlägt) Miłosz den nüchternen Empirismus englischer Tradition. Andererseits hat die Autobiographie des Naturforschers eine starke Tendenz zur Selbstidealisierung. Sie ist also auch ein Konstrukt. Am Ende aber ging es Miłosz in den fiktionalen Gedankensplittern von Piesek przydrożny natürlich nicht um eine historische Rekonstruktion. Die Kritik von Joanna Zach geht darum ins Leere. Die dem Naturforscher Darwin in den Mund gelegte Nachdenklichkeit ist die Nachdenklichkeit des passionierten Naturforschers Miłosz, der im Unterschied zu Darwin das Christentum intellektuell ernst nimmt. Die historisch bezeugte Religiosität von Darwins Ehefrau hat Miłosz zur Formulierung des fiktiven Dialogs inspiriert. Miłoszs schärfste Attacke gegen die Evolutionstheorie findet sich in Świadectwo poezji. Der menschliche Tod wird durch diese Theorie, so Miłosz, radikal uminterpretiert. Nicht nur religiös, sondern auch existenziell verstanden ist der Tod der Horizont, von dem her unser individuelles Leben seinen Sinn gewinnt. Nach der Evolutionstheorie ist der Tod dagegen ein Mechanismus, der durch das Instrument des Massenmordes unsere Existenz als Gattung Mensch überhaupt erst möglich gemacht hat. Wie ein grausamer Diktator, der Millionen sterben lässt, um größenwahnsinnige Pläne zu verwirklichen, 35 lässt die Natur die Arten so lange einander morden, bis sich eine Art herausbildet, die sich alle anderen Arten unterwirft und sich schließlich nur noch selbst ermorden kann. 36 Die Natur im Menschen Die Übung milliardenfachen Mordens hat uns geschaffen. Nach Darwins Logik ist der Mensch die perfekteste Killermaschine, die unser Planet hervorbringen konnte. Vor diesem Hintergrund zitiert Miłosz Blaise Pascals „hassenswertes Ich“ und verweist auf die von ihm hoch geschätzte religiöse Denkerin Simone Weil, die ihren eigenen Atem als Verschmutzung der Welt empfand und in extremer Askese ihre eigene Auslöschung betrieb. Gerade weil Darwin aus der Perspektive der Natur Recht hat, zieht Miłosz den Schluss, dass es die Mission des Menschen ist, sich der Natur zu widersetzen. Das gilt auch für die Natur, die der Mensch in sich selbst vorfindet. Miłosz, den passionierten Naturforscher, lässt gerade der Blick durchs Mikroskop des Biologen die Partei seines Religionslehrers ergreifen, der in der 35 Miłosz entwirft in Piesek przydrożny, S. 188 das Bild Gottes als eines römischen Imperators, der sich von seiner Loge aus am gegenseitigen Abschlachten der Gladiatoren weidet. 36 Hier gibt es eine Parallele zu Miłoszs Auseinandersetzung mit dem Rom-Topos, vgl. unten S. 208. <?page no="36"?> 36 „menschlichen Natur“ das Böse witterte. Der Mensch des freien Willens ist böse. Und damit kommen wir zu der eigenen seelischen Spaltung, die Miłosz nirgends glättet, überspielt oder „dialektisch auflöst“. Wer im Ringen um seine Seele siegen wird, ist nicht ausgemacht: der Schutzengel oder der Teufel. 37 Siegt der Schutzengel, versetzt die Erde mit ihrer Schönheit den Dichter in Ekstase, er fühlt sich unter Gottes Schutz. Siegt der Teufel, verursacht dieselbe Erde mit ihrer mechanischen Wiederholung der Naturgesetze, mit ihrer brutalen Selektion der Arten dem Dichter Ekel, und die Zufälligkeit und Sinnlosigkeit seiner individuellen Existenz deprimiert ihn. Dieser Widerspruch stürzt Miłosz jedoch nicht in Verzweiflung und Skeptizismus, er ist ihm im Gegenteil Ansporn zur dichterischen Bemühung, Stachel im Fleisch, Inspirationsquelle des Trotzes. Die Welt ist „manichäisch“ zwischen Gut und Böse gespalten, und dem Menschen kommt die Aufgabe zu, für das Gute zu kämpfen. Der Mensch ist, und diese Überzeugung hat Miłosz bis in seine letzten Gedichte nicht verlassen, durch das Böse verführbar, er kann sich erniedrigen, er kann seine Menschlichkeit preisgeben, er kann seine Humanität durch die Zersetzung des Zweifels vernichten. Für diese Erkenntnis bedurfte es im Grunde nicht einmal der Erfahrung des mörderischen, jeder Menschlichkeit spottenden 20. Jahrhunderts. Diese Erfahrung hat die Überzeugung des Dichters lediglich bestätigt. Der Glaube an die natürliche Güte des Menschen sei ihm, so Miłosz (ZU S. 53-54), schon als Jugendlicher verlorengegangen - im Zusammenhang mit seinem Referat über Darwin. Gibt es aber die von Jean Jacques Rousseau postulierte natürliche Güte des Menschen nicht, dann ist ohne religiöses Fundament keine Ethik möglich. Die Schwäche des Menschen lässt im Ungewissen, wie der Kampf zwischen Gut und Böse ausgeht. Das hat für Miłosz zwar nicht die extreme Konsequenz, dass kirchliche Repression sinnvoll und notwendig sei, wohl aber, dass dem Menschen eine starke Selbstkontrolle auferlegt sein sollte. Diese Überzeugung hat Miłosz in einen scharfen Gegensatz zu seinem Jahrhundert gebracht, das gerade im Gegenteil vom Kampf gegen Repression, gegen Regeln, gegen Zwänge geprägt war. Und so erwidert er diesem nach seinem Geschmack allzu freizügigen Jahrhundert, dass es ihm von Fall zu Fall durchaus gestattet, ja notwendig ist zu sagen: „nein, diese [philosophische oder literarische, M.F.] Speise werde ich nicht essen, das schadet mir“ (ZU S. 254). Dieses Statement verbindet sich mit Miłoszs Essay zum Phänomen der Zensur in Widzenia nad zatoką San Francisco. Angewidert von den Pariser Surrealisten, die eine junge Giftmörderin feierten, weil sie ihre spießbürger- 37 Hier spielt Miłosz auf den Prolog zu Mickiewiczs Drama Dziady Część III (Die Ahnenfeier, Teil 3) an, in dem in der Seele des schlafenden Helden der Schutzengel und der Todesengel miteinander streiten: „Między myślami bitwa już stoczona“ (Vers 126: Zwischen den Gedanken ist die Schlacht schon geschlagen). <?page no="37"?> 37 lichen Eltern ermordet hatte, und abgestoßen von dem Buch Philosophie im Boudoir des Marquis de Sade, in dem eine Minderjährige nicht nur vergewaltigt, sondern auch noch dazu angestiftet wird, ihre frömmelnde Mutter der Vergewaltigung und der vorsätzlichen Infektion mit Syphilis auszuliefern, fragt sich der Dichter in diesem Essay, welchem Umstand der Fall jeglicher Zensur im Verlauf des 20. Jahrhunderts geschuldet ist - dem Sieg der neuen Moral der Libertins, die „die eigene Lust zum alleinigen Maßstab von Gut und Böse machen“? (WZSF, S. 110-113). Natürlich befürwortet Miłosz keine moralische Zensurbehörde (obwohl er es durchaus in Ordnung findet, dass de Sade mehr als 30 Jahre in Gefängnissen und Irrenhäusern verbrachte). 38 Den Menschen ist stattdessen heute eine viel größere Verantwortung auferlegt - jeder einzelne muss sich selbst vor der Orgie der Gewalt und der Pornographie schützen, die fortwährend an seine Instinkte appelliert. Diesen Instinkten freien Lauf zu lassen führt eben nicht in die Idylle, sondern in den Verlust der Menschlichkeit. Daher rührt Miłoszs Sympathie für seinen repressiven, ja inquisitorischen Wilnaer Religionslehrer mit dem Spitznamen „Chomik“ (Hamster), der überall die Sünde sexueller Ausschweifung witterte. Obgleich er von dessen Feind, dem Lateinlehrer Rożek, viel mehr, nämlich den „Renaissance-Geist der schönen Wortverbindung“ (RE S. 73) gelernt hat, konnte Miłosz sich niemals dessen „optimistischen Glauben an die menschliche Vernunft“ (RE S. 75) anschließen. Vielmehr stimmt er in diesem Punkt nicht nur mit seinem Religionslehrer, sondern damit zugleich mit dem polnischen Barockdichter Mikołaj Sęp-Szarzyński überein, der den Menschen im ständigen „Krieg, den wir mit Teufel, Welt und Körper führen“ sieht. 39 Das Gegenüber der beiden Lehrer Chomik und Rożek, die um die Seele des Schülers Czesław Miłosz ringen und ihm über die Schuljahre hinaus gegenwärtig bleiben, ja ihn im Grunde für sein gesamtes geistiges Leben geprägt haben, ist deutlich erkennbar die Schlüsselepisode von Rodzinna Europa. Miłosz glaubt sich sogar dafür entschuldigen zu müssen, dass dieses Gegenüber „allzu literarisch“ geraten sei. Chomik und Rożek erscheinen als Inkarnationen von Naphta und Settembrini aus Thomas Manns Zauberberg, doch „die Wirklichkeit gefällt sich manchmal in solchen Gegensätzen, die aus Büchern zu stammen scheinen“ (RE S. 70). Auch in Miłoszs Gedichten hat „Chomik“, d.h. Pater Leopold Chomski (1885-1982) eine deutlich sichtbare Spur hinterlassen. Er wurde dem Dichter zur Verkörperung seines eigenen Konfliktes zwischen Sinnlichkeit und Spiritualität. Bereits das 1934 geschriebene Abschlussgedicht Do księdza Ch. (An Pater Ch.) des Gedichtbandes Trzy zimy (Drei Winter, 1936) ist als an 38 Dies äußert der Dichter natürlich vor dem Hintergrund der de Sade-Euphorie unter den linken Intellektuellen Frankreichs und der USA wie Simone de Beauvoir, Pierre Klossowski, Jacques Lacan, Gilles Deleuze und Susan Sontag. 39 Sonet IV, In: Poezye, Kraków 1903, Hg.: I. Chrzanowski, S. 11. <?page no="38"?> 38 den Pater gerichteter Brief konzipiert. 40 Die regelmäßigen, gereimten Dreizehnsilber mit Zäsur nach der siebten Silbe 41 gliedern sich in thematisch motivierte Strophen. Nach der Apostrophe an den Adressaten folgt eine düstere Beschreibung des Priesters als eines fanatischen Gegners der sündigen Welt. Sein Kampf gegen die Genüsse der geschlechtlichen Liebe findet eine ambivalente Bewertung: Seine Verachtung für die „Hochzeit der Körper“ (wesele ciał) wird mit großer Distanz dargestellt, und die Sexualität findet als „Vereinigung von Feuer und Wasser“, als simultane Bewegung der Vögel in die Höhe und der Fische in die Tiefe wohlwollende Bilder. Andererseits findet der Dichter im Priester angesichts der Verdammnis, die beide erwartet, zwar keinen Kampfgefährten, aber doch einen Leidensgenossen, denn dieser hat „das Nichts der verlockenden Formen“ erblickt. 42 Die Prophezeiung, dass die Flut der Katastrophe sie am Ende beide verschlingen wird, hat sich jedoch nicht erfüllt. 43 Heißt es in Do księdza Ch., dass angesichts der Ströme glühender Lava kein Noah in Sicht sei, hat Miłosz später seine eigene Dichtung als Arche bezeichnet. 44 Das abschließende Bild des Gedichtes ist semantisch recht komplex: Ziemia usta rozewie, w jej dudniącej katedrze chrzest odbiorą ostatni poganie. (Zeile 45-46) Die Erde reißt ihren Mund auf, in ihrer dröhnenden Kathedrale empfangen die letzten Heiden die Taufe. Die Anspielung auf den biblischen Brudermord (1. Mose 4,11: „Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan“) wird hier verknüpft mit dem Motiv der Litauer als den „letzten Heiden Europas“. 45 Zugleich werden apokalyptische Assoziationen geweckt. Ähnlich wie in Zygmunt Krasińskis Nie-Boska komedia ist die Vernichtung, die in prophetischer Weitsicht erwartete Katastrophe zugleich der Moment der Bekehrung der letzten Zweif- 40 Dzieła zebrane, Wiersze t. 1, S. 108-109. 41 Formal zeigt das Gedicht, dass der vermeintlich avantgardistische Vorkriegs-Miłosz nicht weniger klassizistisch war als der vermeintlich zum Neoklassizismus bekehrte Nachkriegs-Miłosz. 42 Eine einseitig negative Wertung des Priesters in diesem Gedicht durch Attribute wie „stickige Dorfkirchen“, „traurige Altäre“ und „Stimmen der stummen Chöre“, die der Priester hört, diagnostiziert Andrzej Wierciński, Der Dichter in seinem Dichtersein, a.a.O., S. 183. Diese Attribute werten jedoch nur die Situation, in der sich der Priester befindet, nicht seine Persönlichkeit. Das Oxymoron der „stummen Chöre“ ist im Übrigen ambivalent. Sie zu hören kann ein Wahn oder aber ein Privileg sein. 43 Miłosz sieht im Nachhinein die Katastrophe weniger in den Schrecken des Krieges als in den Schrecken des Nihilismus, d.h. der Verleugnung der menschlichen Seele. Ob diese Flut vorbei ist oder noch gar nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, bleibt offen. 44 Vgl. Fußnotte 24. 45 Vgl. unten S. 138. <?page no="39"?> 39 ler und ändert dadurch radikal ihren Status. Die Unterwelt wird zur Kathedrale, der Untergang zur Offenbarung des Göttlichen. Aus Anlass des Todes von „Chomik“ hat Miłosz ihm 50 Jahre später einen kleinen Gedichtzyklus gewidmet. Ksiądz Ch. po latach. 46 Nicht mehr Chomiks Fanatismus im Kampf gegen das Böse und seine Wirkung auf den jungen Schüler stehen hier im Mittelpunkt, auch nicht mehr der prägnante Gegensatz zwischen Religions- und Lateinlehrer wie in Rodzinna Europa. Vielmehr treten der Priester und der Dichter jetzt direkt in eine Äquivalenz der Analogie und des Gegensatzes. Das lyrische Ich ist nicht mehr Objekt didaktischer Künste und auch nicht mehr nur Beobachter. Wie der mit 97 Jahren gestorbene Hüter des christlichen Glaubens im sowjetisch besetzten Litauen ist es inzwischen alt geworden. Im Rückblick wird die Gegenüberstellung mit dem einstigen Lehrer zur Prüfung des eigenen Gewissens. Dem unbeugsamen Priester, der auch während der sowjetischen Besatzung bis zu seinem Tod in Litauen blieb, steht der bis an die Pazifikküste geflohene Dichter gegenüber; dem Priester, der die Apokalypse aushielt, der Dichter, der sie lediglich aus dem Griechischen übersetzte. Dem Priester, der sich unversöhnlich dem Kommunismus und damit dem Fürsten des Diesseits entgegenstellte, der Dichter, der sich auf den Kommunismus einließ, „um seinen Sieg hinauszuzögern“ (erstes Gedicht, Zeile 14). Der Dichter schwor Gott einst die Treue - um sie später zu brechen, und der Priester trat damals „auf Zehenspitzen heran und löschte die Kerzen“. In nachträglicher symbolischer Überhöhung ist diese Handlung des Priesters als Weissagung vom Fall des Dichters zu verstehen - spätere Auferstehung allerdings nicht ausgeschlossen. An dieser Stelle schlägt die Gegenüberstellung um. Die Beziehung des Lyrischen Ich zu Gott und seiner Transzendenz erweist sich als eine andere als die des eifernden Priesters. Nicht die düstere Jenseitigkeit Gottes, die Miłosz schon in dem früheren Gedicht mit „verkohlten Scheiten“ und „finsteren Kirchenräumen“ verband, sondern seine Gegenwart im eigenen Herzschlag gibt für den nicht „vergeistigten“, sondern „verkörperten“ Dichter den Ausschlag. Mut und Neugier werden mit der Vergebung der Sünden belohnt, und der Dichter ist zu „dionysischen Tänzen“ berufen. Bleibt am Ende des ersten Gedichts die Frage nach der Schuld offen, so wird im zweiten die Vereinigung der biblischen Stammeltern als notwendig dialogischer Weg der Erkenntnis und der menschlichen Vervollkommnung gedeutet: A jednak nie, moja wspólniczko w grzechu, Ewo spod jabłoni w Ogrodzie Rozkoszy. 46 Pater Ch. nach Jahren, in: Nieobjęta ziemia, 1984, zitiert nach Wiersze wszystkie, Kraków 2011, S. 852-856. <?page no="40"?> 40 […] Nie jedno, ale dwoje, nie dwoje, bo jedno, Ja drugi, żebym siebie był przez to świadomy. I z drzewa wiadomości jadł z tobą owoce, I krętymi drogami przemierzał pustynie. 47 Aber doch nicht, meine Gefährtin in der Sünde, Eva von unterm Apfelbaum im Garten der Wonne. […] Nicht eines, sondern zwei, nicht zwei, denn eins, ich bin ein anderer, damit ich meiner dadurch bewusst sei. Und vom Baum der Erkenntnis aß er mit dir die Früchte, Und auf gewundenen Pfaden durchmaß er die Wüsten. Damit ist der Dichter in seiner Hinwendung zur Welt gerechtfertigt. Er muss sich nicht gegen die Welt entscheiden, wenn er sich für den Glauben entscheidet. Der Eros ist nach Miłosz keineswegs der Gegenspieler des Glaubens - war es doch gerade der Eros, so Miłosz in ZU (S. 47), der ihn in den Dienst des Absoluten gestellt hat, denn er hat in ihm die Liebe geweckt zu allem, was existiert. Eros beseelt, er ist etwas anderes als Triebhaftigkeit. Hierfür beruft sich der Dichter erneut auf Emanuel Swedenborg. Nach Swedenborg muss auch das erotische beseelt Sein aus der Transzendenz kommen. Aus seinem „freien Willen“ kann der Mensch nur böses tun. Die von der Natur radikal verschiedene Welt, die zu schaffen dem Menschen aufgegeben ist, kann ihm ja nicht naturgegeben sein. Sie ist nicht einmal durch eine gewaltige eigene Anstrengung selbst zu „erringen“, denn der Mensch kann aus sich selbst heraus keinen Maßstab für die vertikale Ordnung seiner Welt, für Liebe und Weisheit gewinnen. Swedenborg spricht darum von der Notwendigkeit einer göttlichen „influx“ (also gleichsam einer Inspiration für Alle). Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Paradoxon, dass dem Menschen als Gattung Würde zukommt, sie ihm aber nicht naturgegeben ist. Woher soll sie dann kommen? Woraus soll er sie entwickeln? Diese Fragen entstehen nicht etwa aus der Ratlosigkeit derer, die nicht wissen, was Würde ist, sondern post factum, nachdem wir intuitiv die Würde eines Menschen anerkannt haben, die ihm noch dazu anscheinend „von Natur aus zusteht“. Psychische Folgen der Auflösung der Werte Man könnte Befremden äußern angesichts von Miłoszs Rechtfertigung der Selbst-Repression. Hat nicht Sigmund Freud die fatalen Auswirkungen der 47 Wiersze wszystkie, S. 853. <?page no="41"?> 41 Triebunterdrückung beschrieben? Hat er nicht gezeigt, wie nutzlos die Verdrängung ist, da sie unweigerlich zu (häufig pathologischen) Eruptionen an anderer Stelle führt? Hat nicht die sexuelle Befreiung in segensreicher Weise den Überdruck aus dem Kessel der Seele genommen? In der Tat registrieren die Psychologen im Zuge der fortschreitenden sexuellen Permissivität seit der Mitte des 20. Jahrhunderts einen Rückgang ödipal fundierter seelischer Krankheitsbilder. 48 Parallel dazu wächst aber die Zahl narzisstischer Persönlichkeitsstörungen wie etwa des Borderline-Syndroms. Das hängt, so Heenen-Wolff, mit der immer stärkeren Präferenz für autoerotisch verfasste, prägenital-infantile Sexualität zusammen. 49 Birgt diese Form der Sexualität ein soziales Problem? Sicherlich nicht im frühkindlichen Stadium der polymorphen, d.h. noch ungeformten und sozial ungerichteten Sexualität. Wird sie jedoch beibehalten, dann liegt ein Defizit der Sozialisierung vor. Beziehungen des Individuums zu Anderen sind dann tendenziell Beziehungen auf Kosten dieser Anderen (vgl. ZU S. 49). Doch auch auf eigene Kosten. In dem Essay Seks dostarczony (Sex frei Haus) aus dem Band Widzenia nad Zatoką San Francisco verweist Miłosz darauf, wie Antiutopien wie Huxleys Brave new world oder Zamjatins My [Wir] die entpersönlichende Rolle des Sex vorführen, wenn man ihn als natürliche Körperfunktion behandelt. Die totalitären Regierungen dieser Antiutopien begünstigen freie sexuelle Praktiken mit austauschbaren Partnern, weil sie „in effektiver Weise dem Entstehen von Leidenschaften vor[beugen], die nicht Körper, sondern Personen einander näherbringen.“ (WZSF, S. 102). Der Verlust der Scham im 20. Jahrhundert, d.h. die Enttabuisierung der Nacktheit, hat einen analogen Effekt. Der Körper wird in seiner Entblößung entprivatisiert und der Mensch verliert dadurch einen Teil seiner Würde. Miłosz verknüpft darum in Seks dostarczony, ähnlich wie sein tschechischer Schriftstellerkollege Milan Kundera in Nesnesitelná Lehkost Bytí, 50 die massenhafte Nacktheit von Menschen am FKK-Strand mit der erniedrigenden Nacktheit in Konzentrationslagern. 51 Das Ideal frei und unterschiedslos praktizierter Sexualität sahen die Avantgardisten im Mythos vom „natürlichen“ Leben auf den Südseeinseln verwirklicht. T.S. Eliot, der als neokonservativer „Abtrünniger“ der Avantgarde gilt, hat diesen Mythos bereits Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts destruiert. Miłosz hat Eliot außerordentlich geschätzt und zitiert in 48 Vgl. z.B. in Psychoanalyse und Freiheit von Susann Heenen-Wolff, Frankfurt/ Main 2009, das Kapitel „Der Rückgang ödipaler Strukturen in der klinischen Wirklichkeit“, S. 57-59. 49 Ebd. S. 70f. 50 Toronto 1985, 2. Teil Kap. 8 und Kap. 24. deutsch: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, München 1984. 51 WZSF, S. 101. <?page no="42"?> 42 Seks dostarczony aus dessen Theaterstück Sweeney Agonistes. 52 In diesem Stück träumt der „höchst profane Alltagsmensch“ 53 Sweeney davon, die Prostituierte Doris auf eine Südseeinsel zu entführen, wo man nur „birth, copulation and death“ kennt. Eliots Theaterstück gilt als wegweisend für das absurde Drama. Wo liegt aber dann der Unterschied zu Becketts absurden Stücken, die Miłosz so heftig angreift? Worin unterscheidet sich Eliots Reduktionismus des Menschen von dem Becketts? Liest man Sweeney Agonistes weiter, dann kündigt Sweeney scherzhaft an, Doris auf der Südseeinsel zu Hackfleisch zu verarbeiten und als Kannibale zu verzehren. Anschließend erzählt Sweeney von einem Frauenmörder, und sein Fazit lautet, jeder Mann sei im Grunde ein Frauenmörder, und Leben und Tod seien vollkommen egal. Das heißt, dass die „banalen“ Figuren in Eliots Stück im Unterschied zu Becketts Helden ihre eigene Entpersönlichung thematisieren. Auch für den Gewinn an Natürlichkeit ist ein kultureller Preis zu zahlen - der „natürliche“ Mensch ist ungehemmt in seiner Gier. Diesen Preis ist Miłosz nicht bereit zu zahlen. Wenn der andere Mensch nur noch Objekt der eigenen Begierde ist, dann sind wir in Ulro. In Ulro, so William Blake, verwandelt der Mensch seine Mitmenschen in nichts bedeutende Schatten, in Geschöpfe des Zufalls (ZU S. 188). Mit anderen Worten, meine Mitmenschen sind dann lediglich die Funktion meiner eigenen Bedürfnisse - wie beim noch nicht sozialisierten Neugeborenen. Und hier kommen wir zu einem zentralen Punkt in Miłoszs Argumentation: Die theoretisch so naheliegende Reduktion des Menschen auf seine Bedürfnisse bedeutet in der Praxis seine soziale Regression. Die psychologische Bewertung des Libertinismus muss darum zweischneidig ausfallen. Mit dem Gewinn an Freiheit auf der einen Seite geht ein Verlust an sozialer Kompetenz auf der anderen Seite einher. Zum Nulltarif waren die sexuelle Befreiung und das Ende der „großen Erzählungen“ nicht zu haben. Sozialisierung bedeutet zwar Repression, aber der Verzicht auf Repression bedeutet Desozialisierung, d.h. Regression in einen präsozialen Narzissmus. Was haben wir davon, so Miłosz, wenn wir uns im Zuge dieser Reduktion von einem König in einen menschengestaltigen Affen ohne Garten Eden, ohne Himmel und ohne Hölle verwandeln? Wenn wir alles Erleben des Menschen auf Lust- und Schmerzgefühle reduzieren (ZU S. 167-68)? Möglicherweise mehr Lust? Doch selbst dem hat bereits Freud widersprochen: Lust entwickelt sich gerade am zu überwindenden Widerstand: Auch die uneingeschränkte Sexualfreiheit von Anfang an führt zu keinem besseren Ergebnis. Es ist leicht festzustellen, dass der psychische Wert 52 Als Buch erschienen London 1932. 53 Kindlers Literaturlexikon, 3. Auflage, Hg. Heinz-Ludwig Arnold, Stuttgart 2009, Bd. 5, S. 181. <?page no="43"?> 43 des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Hindernisse gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können. 54 Als Trumpfkarte eines anthropologischen Reduktionismus gilt allerdings die Aufrichtigkeit. Wir müssten doch der unbequemen Tatsache ehrlich ins Auge blicken, dass alle unsere Lebensäußerungen nur Ausdruck unserer biologischen Verfassung sind. Doch in der Welt des Geistes gilt außer dem Prinzip der Hierarchie auch noch das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung - was als nichtexistent gedacht wird, existiert in der menschlichen Sphäre auch nicht. Der methodische Zweifel des Skeptizismus bedeutet darum immer zugleich den realen Verlust. Zweifele ich methodisch an der Liebe - und sei es um sie dadurch zu „beweisen“ - dann lösche ich sie für mich aus. Der anthropologische Reduktionismus ist ein Akt der Selbstverstümmelung (vgl. ZU S. 48). Das gilt gerade auch für die Menschenwürde. Der anthropologische Reduktionismus hat keine Argumente gegen Folter und Massenmord, vorausgesetzt, sie verschaffen dem, der sie vollzieht, Lust. Diese Voraussetzung besteht nun aber nicht nur theoretisch. Sie wurde auch praktisch erwiesen - zuletzt in der skurrilen Sex-Orgie des Formel-1-Managers Mosley, der zum Zweck des Lustgewinns die Misshandlung weiblicher jüdischer KZ-Häftlinge durch SS-Aufseherinnen von Prostituierten nachspielen ließ. Am Ende lässt der anthropologische Reduktionismus in einer Welt voller Täuschungen und ohne Werte als einzigen Wert die Unterhaltung übrig, die uns Zerstreuung bieten und damit ablenken soll von der unbarmherzigen Zeit, die alles frisst. Diese Ablenkung ist nun aber das genaue Gegenteil von Aufrichtigkeit. Der anthropologische Reduktionismus, der mit dem Ziel äußerster Aufrichtigkeit angetreten war, mündet am Ende in die äußerste Unaufrichtigkeit, mit der verdrängt wird, dass wir der Zeit unterworfen und dem Tod ausgeliefert sind. Der reduzierte Mensch und die Literatur des 20. Jahrhunderts Seine eigene Entwicklung als Schriftsteller misst Miłosz am Wachstum seines Misstrauens gegen die Literatur und die Kunst des 20. Jahrhunderts, also gegen seine zeitgenössischen Kollegen. Die künstlerisch-literarische Kultur der Gegenwart steckt in einer Falle, schreibt Miłosz in ZU (S. 166). Sie will modern sein und ist über die globalen Trends bestens informiert, doch das hilft ihr nicht - im Gegenteil. Der Trend ist immer da, wo ich nicht bin, und am Ende ist er überall gleich: Nihilismus und Deprimiertheit auf allen Ka- 54 Sigmund Freud: Werke aus den Jahren 1909-1913. London 1943, S. 88. <?page no="44"?> 44 nälen. Wie jede frühere Epoche, so schreibt Miłosz in SP, ist auch die „Literatur der Gegenwart“, also die Literatur des 20. Jahrhunderts, von der Wirklichkeit durch eine „gläserne Wand der Konventionen“ (S. 71) getrennt, obwohl sie doch an keinerlei formale Regeln mehr gebunden ist. Der düstere Ton der Hoffnungslosigkeit, die alles zersetzende Ironie, die Reduktion des Menschen auf Gier und Schmerz - werden sie nicht später als absonderliche Konventionen der Dichtung des 20. Jahrhunderts gelten? Der von Zbigniew Herbert in Kamyk (Kiesel) besungene Neid des empfindenden, formbaren Menschen auf den empfindungslosen starren Kieselstein - ist er aus der Distanz betrachtet nicht genauso manieriert wie die stilistischen Verrenkungen der Barockliteratur? Miłosz vermeidet eine allzu direkte Kritik des Dichterkollegen, aber diese Schlussfolgerung drängt sich auf. Man kann die literarischen Richtungen des 20. Jahrhunderts, die zu Zielscheiben von Miłoszs Attacken werden, wie folgt einteilen. Da sind erstens die marktschreierischen Dichterkollegen, die sich an der internationalen Avantgarde orientierten. Die Kunst wird zur Zirkusnummer, mit echtem Blut und Kopulation auf der Bühne. Nach seinem Besuch bei Oscar Miłosz in Paris erscheinen Miłosz die Bücher dieser Avantgardisten als „reichlich dumm“ (ZU S. 214). Nach dem Urteil seines Pariser Onkels und väterlichem Kollegen ist die Poesie der Avantgarde „vertrocknet und geschrumpft“, sie ist ein „Lallen der Erschöpfung und der Senilität“. 55 Seitdem hat sich auch Czesław Miłosz immer wieder kritisch zur Avantgardeliteratur geäußert, am ausführlichsten in Traktat moralny, dem in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. In Świadectwo poezji zitiert Miłosz ausführlich einen Brief Simone Weils, in dem die französische Philosophin und Mystikerin den Avantgarde-Schriftstellern eine Mitverantwortung für die Gräuel des 20. Jahrhunderts gibt. Schriftsteller sind, so Weil, dem Wertbegriff verpflichtet, weil Kunst Werte impliziert. Das bedeutet, dass Künstler, so Weil, entweder „Hüter des verlorenen Schatzes“ oder aber umgekehrt dessen „Plünderer“ sind (SP S. 56). Der avantgardistische „Denksport der Sprache“ (ZU S. 35) ist also keineswegs wertneutral. Im Essayband Emperor of the Earth, den Miłosz 1976 im Original auf Englisch publiziert hat, wirft er Kritikern wie Lesern vor, sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass man im künstlerischen Medium zwischen einer Hierarchie der Werte und der ästhetischen Selbstzerstörung wählen muss. 56 Tertium non datur. Und so haben die Surrealisten und Dadaisten nicht zufällig für die Demokratie nur Verachtung übrig gehabt. Nach Miłosz waren sie zu feige, für einen Wert einzustehen. Sie schämten sich, ernst, ehrlich und aufrichtig zu sein. Viel einfacher ist „Spotten, Spu- 55 Quelques mots sur la Poesie, zitiert nach SP S. 45. 56 Vgl. hierzu Leonard E. Nathan und Arthur H. Quinn, The Poet’s Work: An Introduction to Czeslaw Miłosz, Cambridge, Mass. 1991 S. 75. <?page no="45"?> 45 cken und Sarkasmus“ (ZU S. 54). Einerseits hält Miłosz eine solche Haltung für „billig“, da die Bosheit und Nichtigkeit der Welt ohnehin jedem intelligenten Menschen bekannt sei. Andererseits diagnostiziert er den Avantgardisten durchaus auch echte Verzweiflung. Das „Heulen“ (Allen Ginsberg: Howl) in der menschlichen „Wüste“ (T.S. Eliot: The waste land) ist nicht gespielt. 57 Doch das rehabilitiert die Avantgarde in seinen Augen nicht: Verzweiflung ist Kapitulation vor dem Bösen, sie ist die Sünde des Defätismus. Dabei war auch die Avantgarde, wie jede literarische Epoche, von der Sehnsucht nach dem Sakralen, Göttlichen, Absoluten bestimmt. Das zeigt nicht zuletzt ihr Kult um die Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, eine Unmittelbarkeit, die indes genauso unerreichbar ist wie es die metaphysischen Ideale der Romantiker waren. Ein Weg, an der Absolute zu rühren, stand der Avantgarde jedoch offen: der Weg der Schändung. Wie Tomaszs Freund Domcio in Miłoszs Roman Dolina Issy sucht sie das Sakrale, indem sie es aufs äußersten erniedrigt, es zerstört, ihm lästert. Domcio spießt eine geweihte und gewandelte Oblate auf und sehnt dafür Gottes Strafe herbei. Als sie nicht eintritt, entlädt sich seine Wut in exzessiver Aggression gegen die Oblate - er zerhackt sie. Mit der Schändung werden Tabus gebrochen, jedoch nicht, weil man diese Tabus für falsch hält, sondern weil diese Tabus im Schmerz, den wir bei der Schändung empfinden, noch einmal sichtbar werden. Die Avantgardisten verhielten sich dabei wie Blinde, die sich Nadeln in die Augenhöhlen stechen, um wenigstens Lichtblitze zu sehen. In ZU sagt Miłosz nicht, der Weg der Schändung ermögliche keinen Kontakt zum Absoluten. Er betont lediglich, dass dieser Weg „ihm nicht gefällt“, weil er an die niedere Sphäre des menschlichen Geistes appelliere. Das widerspreche seinen ästhetischen Vorlieben. Miłosz drückt sich hier sehr vorsichtig aus. Er weiß, dass er damit eine Epoche kritisiert, die ihm zwar zeitgenössisch, aber fremd ist. Ob er ihr geistig hinterherhinkt oder über sie hinaus ist, spielt dabei für ihn gar keine Rolle. Sein künstlerisches Anliegen ist mit dem Anliegen der Avantgarde inkompatibel, und aus dieser Position heraus muss er sein Befremden äußern. Die Avantgarde erscheint ihm als kollektives Borderline-Syndrom der Intellektuellen. Der einzige sarkastische Ironiker unter den Schriftstellern, den Miłosz von dieser Kritik ausnimmt, ist Witold Gombrowicz. Gombrowicz sei zwar ein moralischer Krüppel gewesen, doch „Spielfreude, Wortfreude und Schöpfergabe“ machen ihn „menschlich“ (ZU S. 57). Hier macht Miłosz es sich zu einfach. Künstlerische Kreativität allein vermag keine Menschlichkeit zu verleihen. Es ist nicht sein Wortwitz, der Gombrowicz „rettet“, sondern, so merkwürdig es klingen mag, sein Snobismus. Gombrowicz ist so extrem elitär, dass er sich nicht mit den „Menschen des Fortschritts“ gemein macht - wie die bitterböse Zeichnung der „Młodziakówna“, der jugendlich-fort- 57 Vgl. SP S. 17-18. <?page no="46"?> 46 schrittlich-sportiven Heldin im Roman Ferdydurke zeigt. Sein aristokratischer Spott auf die Welt entbehrt nicht der Würde, nie stellt er die Moral selbst in Frage, sondern stets des Menschen Fähigkeit, nach ihr zu streben. Der Mensch macht sich zum Affen, das sagt, mit leicht verschobenem Akzent, Gombrowicz ebenso wie Miłosz. Der moralische Fall der klassischen Avantgarde beruhte nicht immer auf dem „Borderline“-Zwang zu verfremden und Tabus zu brechen. In Ziemia Ulro verweist Miłosz auf zumindest einen „glücklichen Ideologen“, der bis zu seinem Tod in der Überzeugung lebte, ein positives Programm der Avantgarde zu verwirklichen und dem Fortschritt der Menschheit zu dienen - Julian Przyboś. Das macht seine Kunst natürlich nicht besser als die der Zyniker, ihn als Person aber zumindest authentisch. Anders liegt der Fall bei Samuel Beckett. Er treibt den anthropologischen Reduktionismus in der künstlerischen Sphäre auf die Spitze. Nach Miłosz gebärdet sich Beckett wie ein Mensch, der einem körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen ins Gesicht sagt, dass er ein Krüppel sei, was dieser aber bis zum Überdruss selbst weiß und nicht mehr hören kann. Der ins Pathologische reduzierte Mensch wird in Becketts Kunst zum Menschen schlechthin. Die Avantgarde stellt alle Hierarchien von Werten in Frage, sie hat dabei aber doch einen Weg gefunden, einen Wert der Kunst zu retten. Sie pocht dafür auf die „Eigengesetzlichkeit“, die der Kunst durch ihre Form zukomme. 58 So richtig es aber ist, dass man Kunstwerke anders rezipieren muss als Nichtkunstwerke, dass Kunst eine ihr eigene Sprache, die Sprache der Form spricht, so sinnlos ist es doch, von dieser Erkenntnis darauf zu schließen, dass Kunst keinen Welt-Bezug haben dürfe, dass diese Sprache für die Welt und in der Welt nichts bedeute. Ein autonomer Wert ist kein Wert, denn Wert ist eine Beziehung. Der Rückzug auf einen der Kunst durch ihre autonome Form zukommernden Wert propagiert darum letztlich die Bedeutungslosigkeit von Kunst und Literatur, die sie folgerichtig auch ereilte - die Welt der Kultur ist voller sich selbst erfüllender Prophezeiungen. In kompensatorischer Funktion zu diesem Bedeutungsverlust der Kunst stehen Versuche, die Kunst zum letzten Rettungsanker für Sinn in einer Welt zu machen, die ansonsten in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Einen solchen Ästhetizismus, habe Shelley, so Miłosz, mit seiner Elegie auf den Tod von Keats unter dem Titel Adonais in die europäische Kultur eingeführt. 59 Nach Shelley vergehe der Mensch ganz und gar, außer dem Funken Schönheit, wenn er ihn denn erfassen konnte (ZU S. 36-37). Miłosz bezieht sich hier auf die Zeilen 177-180 von Adonais, in denen es heißt: 58 Vgl. SP S. 49 zum „Werk für sich“ als letztem Rettungsversuch absoluter Kriterien. 59 Die Quelle von Czesław Miłoszs Urteil über Shelley ist Oskar Miłoszs Quelques mots sur la Poesie, aus dem er in seiner zweiten Norton-Vorlesung an der Harvard-Universität in extenso zitiert, vgl. SP S. 34. <?page no="47"?> 47 Shall that alone which knows Be as a sword consumed before the sheath By sightless lightning? —the intense atom glows A moment, then is quenched in a most cold repose. Diese Stelle könnte man vor dem Hintergrund von Shelleys demonstrativem Atheismus tatsächlich als ästhetischen Minimalismus und als Dokument der spirituellen Hoffnungslosigkeit deuten. Allerdings gehört diese demonstrative Hoffnungslosigkeit zum topischen Bestand der Todeselegie, von dem Shelley in Adonais reichlich Gebrauch macht. Das soll nicht heißen, die Hoffnungslosigkeit sei bei Shelley nur eine Pose. Vielmehr sind die Topoi in Adonais eingebunden in eine großräumige Kette geistiger Bewegung in Richtung auf die Transzendenz, von der Trauer des lyrischen Ichs und seiner künstlerisch inspirierten Zeitgenossen über die Trauer der Geschöpfe von Keats’ Inspiration, der Naturelemente und schließlich des Firmaments, verkörpert in der Muse Urania. Diese Bewegung mündet in einer Apotheose des Dichters, der mit Kain und Christus verglichen wird und schließlich in der pantheistisch erlebten Natur verkörpert und damit allgegenwärtig ist. Wenn das Atheismus ist, dann war Miłosz auch Atheist. In SP registriert Miłosz im Gedicht Autotomia (Autotomie) von Wisława Szymborska den letzten Nachhall von Shelleys ästhetistischem Minimalismus. Ironisch kommentiert er den Topos vom Widerhall der Kunst in der Nachwelt als „Rückversicherung“ jenseits christlicher Vorstellungswelten. Ähnlich wie (nach Miłosz) bei Shelley zu einem kurzen Aufglimmen, wird bei Szymborska das kraftvolle non omnis moriar des Horaz zu einem stockenden Flüstern, einem abgebrochenen Lachen (SP, S. 47). Und Miłosz selbst? Von seiner in der Enzyklopädie zwischen Miller und Micky Maus eingezwängten „Unsterblichkeit“ war schon die Rede. Also auch bei ihm Selbstironie? In Traktat moralny allerdings bezeichnet er den Dichter als Arche. 60 Er verschiebt dabei den Akzent dieses Bildes ein wenig. Üblicherweise versteht man die Arche als Rettungskapsel für alles Wertvolle aus einer früheren Zeit. Miłoszs Arche stößt dagegen an das aus den Fluten aufgetauchte jungfräuliche Land, in das eine menschliche Spur einzuschreiben die Aufgabe des Dichters ist. Das Werk des Dichters ist nicht „von selbst“ unsterblich. Er kann und darf nicht einfach auf die „Nachwelt“ vertrauen, die in ihren Enzyklopädien alles unterschiedslos aufbewahrt. Er muss vielmehr entschlossen einen Fuß vor den anderen setzen sowie die Hand zum Dialog ausstrecken. Dabei ist er angewiesen auf Spätere, die ihm entgegenschreiten und ihm ihrerseits die Hand zum Dialog ausstrecken. 61 60 Zu Traktat moralny s.u. S. 101-108. 61 Vgl. in dem Gedicht Moja wierna mowo (Meine treue Sprache): „Myślałem że będziesz także pośredniczką / pomiędzy mną i dobrymi ludźmi, / choćby ich było dwudziestu, dziesięciu, / albo nie urodzili się jeszcze”. (Ich dachte, du würdest auch <?page no="48"?> 48 Kunst und Kultur sind sterblich, es bedarf der Anstrengung auf beiden Seiten der Geschichte, damit sie weiterleben. Die Kunst kann darum nicht selbst das Absolute, das sacrum sein. Miłosz propagiert keine Kunstreligion. Allenfalls eröffnet sich in der dialogischen Haltung der Kunst zur Welt die Möglichkeit, dass sich in ihr etwas Spirituelles zeigt. Kunst wäre dann zwar sakral im Sinne von: religiösen Zwecken dienend, aber nicht selbst heilig. Zur Kompensation des eigenen Bedeutungsverlusts und der Reduktion des Menschen auf seinen Willen und seinen Schmerz sollte schließlich auch die Esoterisierung der Kunst seit der Romantik dienen, deren dritter Aufguss die gegenwärtige populärkulturelle Esoterik ist. Hier verkriecht sich die Kunst, indem sie eine Verachtung des Materiellen und Leiblichen zur Schau trägt, vor der Herausforderung und Zumutung durch die konkrete sinnliche Erfahrung. Allzu leicht wandern bei Słowacki, so Miłosz in ZU (S. 126), die Seelen und Astralleiber durch die Zeiten. Dazu kommt ein religiöses Argument gegen die Esoterik: das paulinische Christentum hat gezielt gegen den platonischen Mythos von der Wanderung der menschlichen Seele optiert, da nach paulinischem Verständnis der Mensch nur als ganzer, mit Seele und mit Leib, verwandelt und damit gerettet werden kann. Die vom Orient inspirierte Verachtung für das irdische Leben hat immer wieder Einflüsse der Weltverachtung auf das Christentum ausgeübt, ohne es aber wesentlich prägen zu können (vgl. ZU S. 126). Doch auch der von Miłosz so hoch geschätzte Mickiewicz glaubte offenbar an die Seelenwanderung, und zwar nicht erst, nachdem er Mitglied im sektiererischen Zirkel um Towiański wurde. Hierzu stellt Miłosz klar, dass er zwischen der - nicht esoterischen - Kunst und der esoterischen Weltanschauung Mickiewiczs streng unterscheidet. Wie auch bei Dostojewskij mindern die kruden Überzeugungen des Künstlers den Wert der Kunstwerke nicht (ZU S. 131), da die Kunstwerke diese Überzeugungen nicht propagieren. Eine letzte Strategie der Kunst, das 20. Jahrhundert und damit ihre eigene Entwertung zu überleben, lag in ihrem thematischen Reflex auf die einschneidenden historischen Ereignisse von Krieg und Massenvernichtung. Darum beschäftigt Miłosz in Świadectwo poezji auch die Frage nach der Möglichkeit von Dichtung nach Auschwitz. 62 Er beantwortet sie nicht so apodiktisch negativ wie Adorno, aber doch vorsichtig skeptisch. Natürlich konnte man nach 1945 nicht einfach weitermachen, wo man 1939 aufgehört hatte - für Ästhetizismus war definitiv kein Platz mehr. Andererseits waren nur wenige Dichter der Last des Historischen gewachsen. Die bis auf Miłosz zur Mittlerin / zwischen mir und guten Menschen, / auch wenn ihrer zwanzig, oder zehn wären / oder sie noch nicht geboren sind.) In: Wiersze wszystkie, S. 594. 62 Ohne sich explizit auf Adornos Aussage „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ zu beziehen. <?page no="49"?> 49 selbst und Aleksander Wat neoavantgardistischen 63 polnischen Nachkriegsdichter waren es definitiv nicht. Sie setzten zwar nicht einfach die Vorkriegsavantgarde fort, aber sie stellten vor dem Hintergrund des Holocaust nunmehr jegliche Schöpfungen der Kultur radikal in Frage. 64 Ausführlich diskutiert Miłosz den Fall des Regisseurs Jerzy Grotowski. Grotowski inszenierte 1967 Stanisław Wyspiańskis 1904 geschriebenes Drama Akropolis. Das Besondere an diesem Stück von Wyspiański ist, dass in ihm keine lebenden Personen auftreten. Der in den kulturellen Artefakten enthaltene Geist der Geschichte spielt sich selbst. 65 Grotowski lässt das Stück nun aber von Auschwitz-Häftlingen spielen, die gleichzeitig eine Gaskammer zu bauen haben. Diese Inszenierung begründete Grotowskis Weltruhm und seinen Kultstatus als Regisseur. Für Miłosz wird in dieser Inszenierung „das gesamte Erbe der europäischen Kultur mit Misstrauen und Hohn bedacht“ (SP S. 82). Auf diese Weise wird jegliche Kunst ins moralische Zwielicht gestellt (S. 85). Das Thema überfordere die Möglichkeiten der Autoren (ebd.). Elisabeth Hardwick ist in ihrer Rezension des Stückes für den New York Review of Books anderer Meinung: Akropolis, a production by Jerzy Grotowski for the Polish Laboratory Theatre, takes the concentration camp at Auschwitz for its setting, and, for its plot, the building by the prisoners of the gas chamber in which they will be consumed. This work is of a transcendent pity and terror and is the only work of art I know that is in some measure aesthetically commensurate with the Nazi history it springs from. Akropolis stands alone, a strange, classical moment of genius, lyrical, painful, of a sublime seriousness, rooted in our forgotten life, in the tatters of the Hellenistic and Biblical culture that trembled there before the darkness of extermination. 66 Entscheidend für die Beurteilung von Grotowskis Inszenierung ist die Funktion, die die Elemente der europäischen Kulturgeschichte bei Wyspiański selbst haben. Das Stück spielt im Original in der Krakauer Wawelkathedrale, der letzten Ruhestätte der polnischen Könige und der größten Dichter des Landes. Dies ist der Aufbewahrungsort der kostbarsten Erinnerungen Polens, die Pilgerstätte des nationalen Selbstbewusstseins. Wie in seinen anderen politischen Dramen demonstriert Wyspiański auch in Akropolis den Illusionscharakter der nationalen Mythen. Die Statuen und Bilder, die in Akropolis lebendig werden, zeigen, wie die Kunst vergeblich versucht, 63 Nach Miłosz kam es zur erneuten Blüte der Avantgarde durch die „Erfahrung des Zerfalls“, SP S. 97. 64 Hierzu auch s.u. im Kapitel Wer rettet wen? der Vergleich zwischen Miłoszs und Różewiczs Nachkriegsdichtung. 65 Vgl. hierzu Matthias Freise, Historismus und Symbolismus in Wyspiańskis Dramen, in: Die Welt der Slaven 44, 1999, S. 255-270, hier: S. 269. 66 The Theater of Grotowski, in The New York Times Review of Books, vol. 14 Nr. 3, February 12, 1970, S. 3. <?page no="50"?> 50 in die Realität hinein zu wirken, und sie versorgen uns zugleich mit Illusionen über eben diese Realität. 67 Man kann also keinesfalls sagen, Grotowskis radikaler Wechsel des Settings von der Wawel-Kathedrale nach Auschwitz ersetze Wyspiańskis heiligen Ernst durch Ironie. Wyspiański ist bereits ironisch. 68 Grotowskis Ironie ist jedoch von anderer Art als die Wyspiańskis. Aus Wyspiańskis ambivalenter neoromantischer oder präpostmoderner Selbstironie zur fehlenden Macht der Kunst über die Wirklichkeit wird in Grotowskis Inszenierung eindeutiger und schwärzester Sarkasmus hinsichtlich ihrer Daseinsberechtigung. Die Kunst hebt sich selbst auf. Grotowski destruiert kein verlogenes Kulturpathos, weil Wyspiański dieses Pathos bereits destruiert hat. Destruiert wird von Grotowski die Kunst selbst, denn der „erhabene Ernst“, von dem Elisabeth Hardwick spricht, ist der Ernst der Realität, nicht der Kunst. Darum ist Miłosz zuzustimmen. Das Thema, in diesem Fall das thematische Setting im KZ, vernichtet bei Grotowski die Form. Die Kunst aber sollte nicht vor dem alles erdrückenden Thema kapitulieren, sondern ihm mit Hilfe ihrer Form Paroli bieten. Dass dies auch angesichts von Auschwitz möglich ist, zeigt z.B. Tadeusz Kantors Martwa klasa (Die tote Klasse), aber auch Miłoszs Gedicht Campo de fiori. 69 „Meine Kunst“ Zumeist betreibt Miłosz im Medium der Dichtung jedoch keine künstlerische Traumatologie sondern blickt in die Zukunft. Wesentliches Element der Poesie ist für ihn die Eschatologie, d.h. die Erwartung - ganz gleich ob sie freudig oder angsterfüllt ist. Miłosz bezweifelt, dass es eine nicht eschatologische Poesie geben kann. Der Verlust der eschatologischen Dimension ist für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust der Poesie in ihrer grundlegenden Funktion. Die Dichtung sinkt dann zu Unterhaltungskunst herab, und wo sie nicht zu unterhalten vermag, verschwindet sie einfach. Bei aller Ironie, die Gombrowicz seinen Kollegen und ihrem „Herdentrieb“ (owczy pęd, ZU S. 37) entgegenbrachte, sieht Miłosz auch bei ihm einen Funken Eschatologie. Sie wurde aber eher von der Aufklärung als von der Religion genährt, denn das „andere Ufer“ verheißt für Gombrowicz kein Glück, sondern lediglich ein geschärftes Bewusstsein. Miłosz selbst verdankt dieses geschärfte Bewusstsein nach seinen eigenen Worten (ZU S. 25-26) seiner Emigration. Getreu dem polnischen Sprich- 67 Vgl. Matthias Freise, Historismus und Symbolismus in Wyspiańskis Dramen, In: Die Welt der Slaven 44 (1999), S. 269. 68 Vgl. Mieczysław Jankowiak: Misterium Dionizosa. Ironiczny dialog Wyspiańskiego z romantyzmem. Bydgoszcz 1991. 69 Zu diesem Gedicht s. ausführlich u. S. 85-89. <?page no="51"?> 51 wort „nie ma tego złego, co by na dobre nie wyszło” 70 verschaffte ihm das Exil, die Heimatlosigkeit, die ihm alles andere als gleichgültig war, zugleich eine doppelte Distanz: als Pole zu der infantilisierten Zivilisation der Vereinigten Staaten, als Weltbürger zu den politischen Grabenkämpfen und nationalen Mythen der Polen. Die „polnische Frage“, die die polnische Literatur bis auf die kurze Zwischenkriegszeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beherrscht hatte, ist kein Thema für seine Dichtung. Zwar beruft er sich immer wieder auf Adam Mickiewicz, doch dessen politische Mission und die von Mickiewicz propagierte Erlöserrolle Polens sind ihm vollkommen fremd. Auch Wyspiański reduziere letztlich alles auf die nationale polnische Frage. Die Befreiung von dieser Frage durch die wiedererlangte politische Unabhängigkeit Polens wurde durch die Nazi-Okkupation und dann durch die sowjetische Bevormundung wieder zunichte gemacht. Miłosz definiert seine Dichtung durch die Distanz von der unmittelbaren Gegenwart, sie ist geprägt „von der Achse Vergangenheit - Zukunft“ (SP, S. 16). Doch worin besteht dann den Wirklichkeits- und Gegenwartsbezug seiner Dichtung? Er sieht ihn in der Sprache. Seine eigene Dichtung ist eine „leidenschaftliche Jagd nach dem Wirklichen“ (SP, S. 25). Diese Jagd besteht in der Benennung der tagtäglich neuen, komplexen, unerschöpflichen Dinge. Ungeachtet der gewaltigen Wörterlawine der Mediengesellschaft ist die Menge des Unbenannten im 20. Jahrhundert eher gewachsen, denn die Dichter haben in dieser Zeit ihre Wörter ganz überwiegend auf andere Wörter und nicht auf die Wirklichkeit bezogen. Diese Dichtung erklärt Miłosz nun für gescheitert. Es gibt für ihn keine Alternative zum ursprünglichen dichterischen Akt der Benennung, und in ihm liegt, allem Skeptizismus zum Trotz, der Glaube an das Sein begründet (SP. S. 58-59). Die konkrete, sinnlich wahrnehmbare Welt ist der Gegenstand der Dichtung, doch diese Welt wird nicht „abgebildet“, sondern durch das Benennen zum Teil unserer menschlichen Welt gemacht. Gottes Auftrag an Adam, jedem Tier auf der Welt einen Namen zu geben (1.Mose 2,19) ist letztlich ein Auftrag zu dichten. Die dichterische Sprache besteht jedoch nicht nur aus Wörtern, sondern auch aus ihren vielfach geformten Verbindungen. Miłoszs Lateinlehrer Różek lehrte ihn diese Kunst der Verbindungen und die Arbeit am Text. Durch das intensive Training, die römischen Dichter in einer angemessenen Sprache auf Polnisch wiederzugeben, begriff der Dichter nach seinen eigenen Worten, dass sich das Gesagte verändert, je nachdem, wie man es sagt (RE S. 74). Dabei charakterisiert er die Geschichte der polnischen Dichtung seit der Renaissance als ein fortgesetztes Ringen mit der lateinischen Syntax. 70 „Es gibt nichts schlechtes, was nicht auf etwas Gutes hinausläuft“. Nowa księga przysłów polskich, Warszawa 1972, Bd. 3 S. 879. <?page no="52"?> 52 Paradoxerweise liegt also auch der Wirklichkeitsbezug der Dichtung nicht in ihrem mehr oder weniger realistischen Inhalt, sondern in ihrer sprachlichen Form. In der Form verbindet sich das Geistige mit dem Materiellen. Für Miłosz ist es sehr wichtig, dass weder die Geistige noch die materielle Dimension der Kunst einseitig in den Vordergrund gestellt wird. Wenn die Natur das Böse verkörpert, dann heißt das nicht, dass das Paradies ein vollkommen immaterielles Reich des Geistes, ein platonischer Himmel der Ideen ist. Für ihn sind die Freuden des Paradieses wie für William Blake (vg. ZU S. 173) durch und durch sinnlich, auf die fünf Sinne des Menschen gerichtet, und Zugang zu dieser notwendig sinnlichen Dimension des Göttlichen verschafft die Kunst. Das Paradies ist hier, vor unseren Augen, und nicht in einem unsinnlichen Jenseits. Umgekehrt ist aber auch nur das schön, was eine geistige Dimension hat. Schönheit ist also für Miłosz weder reine Seelenschönheit, noch reine Sinnenschönheit, sondern nur vergeistigte Sinnlichkeit, sinnlich erfahrbarer Geist. 71 Miłosz beschwört effektvoll mit dem rhetorischen Mittel der Klimax, dass die dichterische Sprache diese Verbindung nicht als Ausdruck reiner Subjektivität, nicht als Diskursinstrument, nicht als Sprachexperiment und auch nicht als Transportmittel einer Idee leistet, sondern vermöge der menschlichen Einbildungskraft (wyobraźnia) (ZU S. 174). Tatsächlich ist nach Kant die „transzendentale Einbildungskraft“ neben Anschauung und Denken die dritte „unentbehrliche Funktion der Seele“, 72 die „als ursprüngliche reine Synthesis die Wesenseinheit von reiner Anschauung und reinem Denken“ bildet. 73 Nach Martin Heidegger ist sie darum „der Grund, auf den die innere Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis und damit die der Metaphysica generalis gebaut wird“. 74 Dieselbe Synthesis meint Blake, wenn er von der „menschlichen Form des Göttlichen“ (The Human Form Divine, ZU S. 174) spricht. Drei Welten, vier Elemente Damit sind wir bei der Metaphysik. Miłosz war, wie er mehrfach betont hat, kein Philosoph. So heißt es z.B. in Rodzinna Europa: 75 Nie byłem filozofem. To wypadki wtąciły mnie w wieżę filozoficznych ciśnień mojego stulecia, w najtrudnejsze i jedynie istotne kłębowisko zagad- 71 Vgl. ZU S. 153. 72 Kritik der reinen Vernunft, A 78, B 103. 73 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, vierte, erweiterte Auflage, Frankfurt/ Main 1973, S. 132. 74 Ebd. In seinem späteren Essay Der Ursprung des Kunstwerks (1935/ 36) und den Beiträgen zum Band Unterwegs zur Sprache (1959) hat Heidegger versucht, dieses ontologische „Urvermögen“ mit der poetischen Funktion der Sprache zu verknüpfen. 75 Vgl. zu dieser Frage auch Krzysztof Zajas, Miłosz i filozofia, Kraków 1997, S. 9ff. <?page no="53"?> 53 nień, co być może wykraczało poza moją możliwość i mobilizowało całe moje siły (RE S. 286). Ich war kein Philosoph. Die Ereignisse waren es, die mich in den philosophischen Druckspeicher meines Jahrhunderts, in die Rauchschwaden der schwierigsten und zugleich allein wesentlichen Probleme hineingestoßen hatten, und das überschritt vielleicht meine Fähigkeiten und mobilisierte darum alle meine Kräfte. Philosophie war für Miłosz keine Theorie, sondern ein Lebensgefühl, ein Wirklichkeitsbezug, die Grundlage für sein ästhetisches und moralisches Urteil und für seine menschliche Identität (RE S. 263). Sein Vorbild für ein solches lebendiges Verständnis von Philosophie war Tadeusz Kroński. 76 Darum war Miłosz anders als seine zeitgenössischen Dichterkollegen auf der Suche nach einer metaphysischen Grundlage für sein Dichten. Auf dieser Suche wurde er bei Blake, Swedenborg und Oskar Miłosz fündig und erspürte zwischen ihren Vorstellungswelten eine tiefe Gemeinsamkeit. Ein zentrales Anliegen von Ziemia Ulro ist es, diese Gemeinsamkeit explizit zu machen. Dabei tauchen Kants „drei ursprünglichen Quellen […] aller Erfahrung, […] nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption“ (Kr.d.r.V. A94) in den drei Welten wieder auf, in denen nach Oskar Miłosz jeder Gegenstand und jedes Faktum simultan existiert: in der materiellen, physischen Welt (= Sinn, d.h. Sinnlichkeit), der mathematischen, geistigen Welt (= Apperzeption, d.h. Denken) und der archetypisch-himmlischen Welt (= Einbildungskraft). 77 Als Produkte der Einbildungskraft sind sie genauso „real“ wie als Produkte der reinen Sinnlichkeit. In „makelloser“, d.h. nur durch die Einbildungskraft konstituierter Dichtung ist ähnlich wie im treffenden Gedanken (geistige Apperzeption) und wie in einem wahrhaftigen Erlebnis (Sinnlichkeit) alles „Phänomen“ und nichts „Bild“ (ZU S. 219). Das soll heißen, dass die Dichtung vermeiden sollte, literarische Bilder zu verwenden, denn mit diesen Bildern würde sie das „natürliche Antlitz“ der Welt, das in der Synthesis der Einbildungskraft direkt zur Erscheinung kommen soll, gleichsam zukleistern. Vor diesem Hintergrund versteht man Miłoszs Zurückhaltung bei der unter seinen Zeitgenossen beliebten Produktion von Metaphern. Seine poetische Sprache ist bilderarm, aber gerade dadurch „phänomenreich“. Bei Swedenborg und Blake haben wir es nicht mit drei, sondern mit vier Orten, Elementen, Geistern oder Musen zu tun. Miłosz erläutert in ZU die 76 Er taucht in Rodzinna Europa unter dem Spitznamen-Pseudonym Tygrys (Tiger) auf. Zum intellektuellen Dialog zwischen Kroński und Miłosz vgl. Aleksander Fiut: W objęciach Tygrysa, in: Teksty drugie 2001 Nr. 3-4, Nachdruck in A.F., W stronę Miłosza, Kraków 2003, S. 147-168. 77 Vgl. ZU S. 219. Miłosz zitiert hier aus Oskar Miłoszs Les Arcanes, Kommentar zu Vers 26. <?page no="54"?> 54 entsprechenden metaphysischen Konstruktionen. Es ist ihm sehr wichtig, dass wir sie nicht als kulturgeschichtliche Kuriositäten auffassen, sondern dass wir sie wie er selbst ernst nehmen. Doch worin unterscheiden sie sich von der von Miłosz gegeißelten Esoterik? Blakes vier mythische Gestalten Tharmas, Urthona, Luvah und Urizen sind keine abstrakten Konstrukte des Geistes, sondern elementare seelische Kräfte, die im Menschen miteinander ringen. Tharmas verkörpert die rein körperlichen Bedürfnisse und Empfindungen des Menschen, die Sexualität eingeschlossen. Urthona ist für Intuition, Phantasie und ästhetisches Empfinden zuständig. Luvah verkörpert die emotionale Seite des Menschen, seine Impulsivität, seine Aggressionen und emotionalen Bindungen. Urizen schließlich ist für die rationalen Fähigkeiten des Menschen zuständig, für sein Erkenntnis- und Urteilsvermögen sowie seine Fähigkeiten zu abstrahieren und zu berechnen. 78 Man sieht, dass hier ein ganz anderes Einteilungsprinzip waltet als bei den drei Welten des Oskar Miłosz. Der französische Verwandte des Dichters leitet, nach dem Vorbild der philosophischen Erkenntnistheorie, von der Beziehung des Menschen zur Welt drei logische Möglichkeiten ab: die Macht des Erkennenden (im Denken), die Macht der Welt (in der Anschauung) sowie einen offenen Dialog (in der Einbildungskraft). Blake dagegen unterscheidet ihrem Charakter nach grundverschiedene Beziehungskanäle. Die eine Einteilung ist nicht in die andere übersetzbar, und Miłoszs Versuch, sie in ZU in einen Zusammenhang zu bringen, funktioniert nicht so richtig. Dennoch sind beide Metaphysiken für ihn prägend - die von Oskar Miłosz für die Lösung seines Dilemmas zwischen einer weltabgewandten, „philosophischen“ und einer weltzugewandten, „empirischen“ Dichtung, die von Blake für sein Menschenbild und seine Eschatologie. Blake, und mit ihm Miłosz, postuliert grundsätzlich keine Hierarchie zwischen den seelischen Kräften des Menschen. Entscheidend sei die Harmonie zwischen den vier Elementen der menschlichen Psyche (ZU S. 177). Harmonie bedeutet nicht Einvernehmen oder friedliches Nebeneinander. Vielmehr ist die menschliche Seele ständig in Bewegung und zieht ihre Energie aus dem Zusammenprall der verschiedenen Kräfte. Diese Harmonie ist nun aber nach Blake seit geraumer Zeit, nämlich seit Beginn der Neuzeit, grundsätzlich gestört. Die vier Elemente der menschlichen Psyche waren untereinander zerstritten, bis Urizen die uneingeschränkte Macht übernommen und alle anderen Aspekte der Psyche unter- 78 Anthropologische und kosmologische Vierertypologien sind seit der Antike sehr beliebt. Reinhard Brand hat sie in D’Artagnan und die Urteilstafel: über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte, Stuttgart 1991, als unwissenschaftliches Bestreben des Menschen nach Vereinfachung des Unübersichtlichen abgetan. Vgl. jedoch die Diskussion des Sinns von Vierertypologien in Matthias Freise: Vier Weisen nach dem Text zu fragen, in: Bockholt, Freise, Lehfeldt, Meyer (Hgg.), Finis coronat opus, Göttingen 2006, S. 71-83. <?page no="55"?> 55 drückt hat. Unser Bild vom Universum wurde mechanistisch, die Religion wurde zu einem Moralkodex, die Natur wurde auf den Überlebenskampf reduziert, als den sie dann Darwin beschrieben hat. Der göttliche Funke der menschlichen Seele wurde auf „bloße Materie“ reduziert, und die Seele sehnt sich nicht mehr nach ihrer jenseitigen Heimat. Überhaupt wird Urizen von Blake und mit ihm von Miłosz für alle unversöhnlichen Dualismen und Grenzziehungen verantwortlich gemacht (ZU S. 177): zwischen Mann und Frau, Gut und Böse, Körper und Seele, Himmel und Hölle und auch für die Sprachverwirrung (Grenzen zwischen Sprachen). Die Machtübernahme Urizens ist nach Blake der eigentliche Fall (ZU S. 174: „stan Upadku“, „Upadek“ groß geschrieben) der menschlichen Gattung. Dazu schreibt Jenny Hollander: Blake explicitly links this predominance of ‘reason’ to the ‘fallen universe’ by making ‘your reason’, Urizen, preside over it: his sterile world of ‘dark desarts’ and ‘dim rocks’, created ‘in enormous labours’ (Blake 426) is an inversion of the bright and fertile world which Blake believed to have been constructed by his God, a deity embracing imagination and creativity. 79 Urizen ist für Miłosz vor allem eine Chiffre für die Mathematisierung der Welt. Er stimmt Swedenborg darin zu, dass bei den heutigen Gebildeten die Natur, verstanden als Komplex mathematischer Beziehungen, den Ort Gottes einnimmt (ZU S. 150). Allerdings sei nicht die Wissenschaft selbst daran schuld. In der Tat: gute wissenschaftliche Praxis ist nicht dasselbe wie ein wissenschaftliches Weltbild. Doch vielfach wird Rudolf Bultmanns Programm der „Entmytologisierung“ der Glaubenswahrheiten so verstanden, als könne man nicht zugleich elektrisches Licht benutzen und an die neutestamentliche Dämonologie glauben, als sei mithin ein wissenschaftliches Weltbild für einen intellektuell redlichen Menschen geradezu verbindlich. Gegen eine solche Bultmann-Deutung wendet sich zu Recht der Theologe Wolfgang Schoberth. 80 Moderne Wissenschaft ist immer und ausschließlich Praxis. Die scheinbar rein theoretische und selbstlose Betrachtungsweise der neuzeitlichen Naturwissenschaft dient bei näherem Hinsehen, wie Karl-Otto Apel festgestellt hat, 81 lediglich dazu, dass die Natur der menschlichen Hand lungsteleologie reibungslos zur Verfügung gestellt wird, dass die 79 Jenny Hollander: Exploring How William Blake Views The Sacred ‘Fall’ Of Judeo- Christianity As Triggering A Sacrilegious ‘Fall Of Man’, Utilising The Ideas of Friedrich Nietzsche. In: Forum. University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture and the Arts, Issue 14, spring 2012, S. 3. 80 Vgl. Wolfgang Schoberth, Das Universum und die Welt, in der wir leben. Systematisch-theologische Überlegungen zur Kosmologie. In: Theologie und Kosmologie. Hg. J. Hübner, I.O. Starnatescu, D. Weber, Tübingen 2004, S. 333-354, hier S. 342-343. 81 Kann es ein wissenschaftliches Weltbild überhaupt geben? In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1/ 1962, S. 26-57, hier S. 43. - <?page no="56"?> 56 „Dinge“ nur als bestellbare Folge von Ursache und Wirkung im Dienste der menschlichen Zwecksetzung in Erscheinung treten. Dies verrate schon der für das wissenschaftliche Denken grundlegende Lehrsatz des (von Blake für den Fall der Menschheit verantwortlich gemachten) frühneuzeitlichen Philosophen Francis Bacon „Natura enim non nisi parendo vincitur“. 82 Das Besiegen (vincere) ist das Ziel moderner Wissenschaft, nicht die interesselose Anschauung. Wenn aber das Besiegen für interesselos ausgegeben wird, dann wird Wissenschaft zum einseitigen Weltbild. Urizen reduziert, so Miłosz, durch die Mathematisierung der Welt das Verstehen der Natur auf das Feststellen quantitativer Beziehungen. Diese Feststellung ist nicht neu. Zumeist wird mit ihr die Unanschaulichkeit der modernen Naturwissenschaften kritisiert. Wissenschaft habe immer weniger mit unserer lebensweltlichen Erfahrung zu tun. 83 Blake und Miłosz geht es jedoch um etwas anderes. Der „Vampir des abstrakten Intellekts“ verwandelt die Erde von einem Garten in eine „infernalische Stadt“ (ZU S. 134). Miłosz beruft sich hier auf Dostojewskij, dessen Held es in Zapiski iz podpolja (Aufzeichnungen aus dem Untergrund) als ein Unglück bezeichnet, in der „abstraktesten und absichtlichsten Stadt des Universums“, d.h. in Sankt Petersburg zu wohnen. 84 Diese Umwelt zeitigt wiederum eine abstrahierende Rückwirkung auf den Geist der Menschen, die in ihr leben. Zu welcher Steigerung der Abstraktion der Mensch als Konstrukteur „infernalischer Städte“ noch in der Lage war, demonstriert indes erst die Architektur der Moderne. Im Vergleich zu ihr wirkt Sankt Petersburg geradezu verspielt. In Ulro zählt nur, „was allgemein, gesellschaftlich, statistisch“ ist (ZU S. 192). In einer großen Anstrengung hat ihn, so Miłosz, Urtona, die poetische Einbildungskraft, aus diesem Land der seelischen Selbstverstümmelung befreit (ZU ebd. und S. 48). Das Sakrale Miłosz ist kein Kulturpessimist, er hält den Menschen für fähig, seine Mission in der Welt zu erfüllen. Schon Goethe sah in seiner Farbenlehre das theoretische Fundament für ein anderes Verstehen der Natur, ein Verstehen, das von unserer sinnlichen Erfahrung, verstanden als Dialog mit der Welt ausgeht. In der Philosophiegeschichte erfolgte die Wende hin zu diesem anderen Verstehen durch die - von Miłosz nicht erwähnte - Phänomenologie, die versucht, den Dialog des Menschen mit der Welt deskriptiv zu erfas- 82 „Die Natur wird nur besiegt, indem man ihr gehorcht“. Ebd., Anmerkung 7. 83 Vgl. im Artikel „Lebenswelt“ der Theologischen Realenzyklopädie, Hg. G. Krause, G. Müller, Bd. 20, Berlin/ New York 1990, S. 595. 84 Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 4, Leningrad 1974, S. 99. <?page no="57"?> 57 sen und dabei auch seine lebensweltliche Bindung an die Welt zu berücksichtigen. Einen tiefgreifenden Wandel der Weltanschauung vermochten Husserl und seine Schüler Heidegger und Merleau-Ponty jedoch nicht zu bewirken. Aber vielleicht kann das die Kirche? Immerhin nennt Miłosz mögliche Wege aus der „mechanistischen Weltanschauung“ immer wieder in religiöser Terminologie: der Mensch soll sich an die „göttliche und wahre Natur“ erinnern (ZU S. 225), Liebe und Weisheit sollen eine „himmlische Ehe“ (ZU S. 164) eingehen. Man müsse sich auf die christliche Tradition besinnen, dass der Inhalt niemals von der Form zu trennen sei, die buchstäbliche nicht von der symbolischen Bedeutung. Noch im Mittelalter war es undenkbar, wie Zwingli zu sagen, das Blut Christi sei im Kelch der Eucharistie „nur symbolisch“ enthalten, wo doch die symbolische Wirklichkeit die allerwirklichste sei (ZU S. 218-219). Andererseits war der Dichter stets bemüht zu vermeiden, mit seinem Bekenntnis zum christlichen Glauben in die konfessionelle Ecke gestellt zu werden. Auch die Verknüpfung des polnischen Katholizismus mit der nationalen Identität ist ihm nicht geheuer (vgl. ZU S. 265). Für Miłosz ist die Grundlage des Glaubens nicht die kirchliche Tradition, sondern das bohrende Fragen und die unermüdliche Suche. Religion ist nach seinem Verständnis radikal internationalistisch, und aus diesem Grund bedauert er den vom Zweiten Vatikanischen Konzil verfügten Übergang von der lateinischen zur landessprachlichen Messe. Schlimmer ist für ihn noch, dass die Kirche es mit dem Konzil aufgegeben hat „sich der Welt zu widersetzen“ und dazu übergegangen ist, „sich anzupassen“, d.h. auf Jenseitsvorstellung, Metaphysik und Ritualismus radikal zu verzichten (ZU S. 256). Diese Einschätzung mutet zunächst extrem konservativ und traditionalistisch an, so als wäre Miłosz ein Anhänger der berüchtigten Pius-Brüderschaft gewesen. Doch der Dichter lässt sich nicht in das Schema „konservativ-fortschrittlich“ pressen. Der Bereich der Religion ist für ihn lediglich eine Region, in der in einer radikal antimetaphysischen Zeit metaphysische Probleme erörtert werden dürfen, ein Refugium für das Stellen existenzieller Fragen. Ob das Stellen solcher Fragen konservativ oder fortschrittlich ist, steht dabei gar nicht zur Diskussion. Eher, ob man es für relevant oder irrelevant, angebracht oder unangebracht, fruchtbar oder unfruchtbar hält. So scheint Miłosz weltanschaulich zwischen den Stühlen zu sitzen. Skeptiker und Agnostiker wird er mit den in Ziemia Ulro verwendeten Formulierungen kaum überzeugen. Den religiösen Eiferern und Evangelikalen steht er jedoch ebenso fern. Das seien Leute, die die Fähigkeiten zum symbolischen Denken verloren haben und deshalb dazu aufrufen, Mythen wörtlich zu nehmen (ZU S. 256). Wie schon im Falle des Gegensatzes zwischen Darwinisten und Kreationisten lehnt der Dichter beide Extrempositionen ab. Die Radikalisierung der Positionen in beiden Lagern und die scheinbare <?page no="58"?> 58 Notwendigkeit, sich für ein Lager zu entscheiden, erinnert ihn an die politische Situation im Polen der 30er Jahre: hier die faschistoiden Nationalisten, dort die radikalen Kommunisten, Intellektueller, entscheide dich! So beschreibt Aleksander Wat im vierten Kapitel von Mój wiek das geistige Klima jener Zeit. Miłoszs hat damals seine Lektion gelernt - die Radikalisierung bedeutete den intellektuellen Bankrott. Es scheint, als hätte Joanna Zach Recht, die in Darwin w Ziemi Ulro den Bewohner dieses „wüsten Landes“, so wie ihn Miłosz konstruiert, als innerlich zutiefst zerrissene Figur beschreibt: Człowiek Miłosza, mieszkaniec Ulro, jest rozpięty pomiędzy tradycyjnym obrazem życia, w którym jego miejsce określa wiara w indywidualne powołanie i ład opatrznościowy, a obrazem naukowym, w którym staje się on „formą przejściową“, określonym etapem w ewolucji materii organicznej. […] problemem człowieka współczesnego jest sytuacja, która uniemożliwia szczęśliwy wybór. 85 Miłoszs Mensch, der Bewohner von Ulro, ist zerrissen zwischen einem traditionellen Lebensstil, in dem der Glaube an seine individuelle Berufung und die Harmonie der Vorsehung seinen Platz im Universum bestimmt, und dem wissenschaftlichen Weltbild, in dem er eine „Übergangserscheinung“, einer bestimmte Etappe im der Evolution der organischen Materie ist. […] das Problem des zeitgenössischen Menschen ist, dass eine glückliche Wahl zwischen ihnen unmöglich ist. Mir scheint jedoch, dass Miłosz für den Konflikt zwischen einem wissenschaftlichen und einem religiösen Weltbild durchaus Antworten gefunden hat, auch in Ziemia Ulro. Er orientiert sich in dieser Frage an seinem berühmten Kollegen Adam Mickiewicz - nicht an seinen politischen oder metaphysischen Überzeugungen, sondern am Gehalt seiner Dichtung. Sie findet das Sakrale inmitten der sinnlich erfahrbaren konkreten Wirklichkeit, jenseits der Dogmen und Lehren der Kirche. Überall ist im Werk Mickiewiczs die sinnliche Welt präsent - nicht im Sinne der avantgardistisch verstandenen Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung, sondern im Sinne einer unmittelbaren Spiritualität von Raum und Zeit, den Formen unserer sinnlichen Anschauung. So werden in Pan Tadeusz die Zubereitung von Kaffee, das Pilze sammeln und das Gemüse im Garten zu sakralen Wirklichkeiten. 86 Wie? Der sakrale Raum und die sakrale Zeit funktionieren anders als die physikalische Zeit und der mechanische Raum, und sie werden auch anders wahrgenommen. Zum einen sind es menschliche Dimensionen, die wir durch die Bewegung unseres Leibes und durch Erinnerung und Erwartung für uns öffnen. Zum Göttlichen aber sind sie offen durch das, was Miłosz „ład “ nennt und was eher mit „Harmonie“ als mit „Ordnung“ übersetzt werden sollte. Diese 85 In: Świat i słowo 1 (14) 2010, S. 135-143, hier: S. 142. 86 Vgl. zur Spiritualität des Gemüsegartens in Mickiewiczs Pan Tadeusz unten S. 142f. <?page no="59"?> 59 Harmonie stellt sich her, indem alle Elemente untereinander korrespondieren und sich gegenseitig in Schwingungen versetzen wie die Saiten auf einem Instrument. Nur darum kann die Sprache, wie Blake sagt, aus Ulro befreien - durch sprachliche Harmonie. Nur so ist das Spirituelle nicht abstrakt, sondern mit den Sinnen wahrnehmbar - eben als Harmonie der Elemente. Diese in gewisser Weise pythagoreische Sichtweise der Welt hat Miłosz von seinem französischen Onkel übernommen, sie ist ein Erbe des französischen Symbolismus. 87 Die Kirche stand diesen pythagoreischen Vorstellungen, die sich „mit großer Dauerhaftigkeit in ihrem Schoß halten“, stets misstrauisch gegenüber (vgl. RE S. 175). Sakralität und Vernunft sind nach Miłosz durchaus miteinander vereinbar. So sei in Mozarts Singspiel Die Zauberflöte die Freimaurerloge das Heiligtum, das „dem menschlichen Geist auf seiner Suche nach Weisheit sakrale Eigenschaften verleiht“ (SP S. 14). Auch hier ist das Bemühen des Dichters spürbar, Vorstellungen, die einander auszuschließen scheinen, miteinander zu verknüpfen. Miłosz erscheint als katastrophistischer Euphoriker, als romantischer Klassizist, als moralisierender Erotiker, als spiritualistischer Aufklärer. Das gilt auch für die Gegensätze zwischen narrativer Distanz und Einfühlung, 88 zwischen „realen“ und „fiktiven“ Personen und zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Miłosz fragt: Existieren für uns nicht Don Quixote und Hamlet genauso wie reale historische Personen? (ZU S. 141). 89 Hier wie überall geht der Dichter von der kulturellen Existenz der Dinge aus. Was in der Kultur eine Funktion hat, ist „wirklich“. Funktionalistisch betrachtet besteht zwischen dem Napoleonbild und dem Hamletbild in unserer Kultur ebenso wenig ein Unterschied wie zwischen der übertragenen und der wörtlichen Semantik eines Wortes, denn: Sam akt nazywania rzeczy zawiera w sobie wiarę w ich byt, a więc w świat prawdziwy. Der Akt der Benennung der Dinge selbst enthält den Glauben an ihr Sein, also an die wahre Welt (SP S. 58-59). Auch den Gegensatz zwischen archaischen zirkulären Mythen und dem modernen linearen Mythos des Christentums löst Miłosz, so Lidia 87 Vgl. Charles Baudelaires Gedicht Correspondances. 88 Rede vor der Königlichen Schwedischen Akademie, Dezember 1980, In: Czesław Miłosz, Zaczynając od moich ulic, Kraków 2006, S. 488. Miłosz bezieht sich hier auf ein zentrales Gegensatzpaar in der Ästhetik Michail Bachtins, vgl. Matthias Freise, Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur, Frankfurt/ Main 1993, S. 254- 261. 89 Zu den verschiedenen Theorieansätzen der Beurteilung von fiktionalen Namen vgl. Dolf Rami, Name und Fiktion, in: Matthias Freise (Hg.), Namen in der russischen Literatur, Wiesbaden 2013, S. 23-47. <?page no="60"?> 60 Wiśniewska, in ein Bild der Spiralität als Synthese von Gerade und Kreis auf. 90 All diese Synthesen kann nach der Überzeugung des Dichters nicht die Philosophie leisten, sondern nur die Kunst, da nur sie unaufhebbar in der sinnlichen Anschauung wurzelt. Nur die poetische Kontemplation erhebt sich darum auch über den Gegensatz zwischen Dauer und Veränderung. 91 Geschichtlichkeit Damit sind wir wieder bei der poetischen Einbildungskraft angekommen. Sie führt jedoch die europäische Kultur nicht selbst an das rettende postapokalyptische Ufer, wohl weil sie nicht vielen Menschen gegeben ist. Miłosz ist jedoch von der Apokathastasis, d.h. der Möglichkeit der spirituellen Rettung aller Menschen überzeugt. Dass nur wenige Menschen den Weg ins Himmelreich finden sollen, ist für ihn unannehmbar. Auf der Ebene der Menschheitskultur muss es darum ein anderes Phänomen geben, das uns nach der Sintflut des 20. Jahrhunderts spirituell wieder Land sichten lässt. Dieses sich vor uns auftuende Phänomen ist die Geschichtlichkeit. Miłosz ist klar, dass die Vorstellung, die Zukunft der Menschheit liege „in der Vergangenheitsdimension unserer Gattung“ (SP S. 110) sich „hochgradig unwahrscheinlich anhört“ (ebd.), zumal ein wesentliches Merkmal der modernen Massenkultur das rasche Vergessen sei. Der Geschichtsunterricht ist rückläufig, die Kenntnisse von Latein und Griechisch und die ganze humanistische Bildung sind am Schwinden. Was macht Miłosz dennoch so optimistisch? Die Vergangenheit des Mittelmeerraums beginnt, so meint er, in unserem Bewusstsein auf eine ganz neue Weise und vielleicht sogar intensiver als bei den hochgebildeten Eliten früherer Jahrhunderte zu existieren. Miłosz nennt als Beispiele die massenhafte Verwendung mythologischer Stoffe aus der Antike und literarischer Stoffe vergangener Jahrhunderte wie Faust oder Hamlet. 92 Ein wenig gründet sich sein Optimismus auch auf eine polnische Besonderheit - keine europäische Kultur ist so vernarrt in die Geschichte, die Polen sind ein Volk von Hobby-Historikern. Miłosz stellt das zumindest für die polnischen Dichter fest: 90 Miłosz in filozofia (jedności) sprzeczności. In: Pamiętnik literacki 2011, zeszyt 2, S. 75- 84, hier S. 83. 91 Vortrag auf der World Poetry Conference, Montreal, September 1967, in: Czesław Miłosz, Zaczynając od moich ulic, Kraków 2006, S. 475-476. 92 Tatsächlich scheint das 21. Jahrhundert immer stärker durch die Populärgeschichtskultur geprägt zu werden - Mittelalterkult, ein Boom antiker Götter und Sagen in der Kinder- und Jugendliteratur, der weltweite Kampf um die Aufnahme historischer Stätten in die Liste des Weltkulturerbes und damit verbunden ein stetig anschwellender Geschichtstourismus sind die Symptome. <?page no="61"?> 61 Prawdziwym domem polskiego poety, gdziekolwiek przebywa, jest historia (SP 112). Das wahre Haus des polnischen Dichters, wo immer er sich aufhalten mag, ist die Geschichte. Die Erkenntnis, dass wir uns nur durch unsere Geschichtlichkeit von der Natur unterscheiden, verallgemeinert Miłosz in Rodzinna Europa zum „wesentlichen Gehalt“, den man aus seiner Dichtung „extrahieren“ könne: A przecie królestwo Natury nie jest naszym domem […]. W tym królestwie konieczność jest jedynym dobrem, inaczej niż dla nas. Stawanie się w naszym królestwie, Historii, podlega zupełnie innym prawom, wyrasta z nas, z naszych, nadrobnejszych nawet, czynów. (RE S. 289) Das Königreich der Natur aber ist nicht unser Haus […]. In diesem Königreich ist, anders als bei uns, allein das Notwendige das Gute. In unserem Königreich, der Geschichte, unterliegt das Werden ganz anderen Gesetzen, es wächst aus uns hervor, aus unseren Taten, selbst den kleinsten. Dies ist das Fazit nicht nur von Rodzinna Europa, sondern auch der Harvard-Vorlesung Świadectwo poezji, in der ganz am Schluss die Geschichte als Schatz bezeichnet wird, den nur der Mensch geerbt hat. In Ziemia Ulro wird Mnemosyne, die Muse der Geschichte, als „Mutter der Musen“ bezeichnet (ZU S. 28), und Miłosz bezweifelt in diesem Buch ganz zu Anfang, dass ein Verstehen jenseits gemeinsamer geschichtlicher Tradition möglich sei. Geschichtlichkeit ist das Alpha und Omega von Miłoszs Publizistik, und nicht zuletzt dadurch erweist sie sich als der Schlüssel auch zu seiner Dichtung. Zwei Dinge erheben uns über das grausame Gesetz der Natur, über ihr millionenfaches Morden. Zum einen unsere Menschlichkeit im emphatischen Sinne, also das moralische Gesetz in uns. Das „ökologische Anbeten unberührter Urwälder“, dessen sich der Dichter, wie es in Do natury 93 heißt, selbst einst schuldig gemacht hat, ist dagegen „sinnlos“ („na nic“, Zeile 14). Die Liebe des Dichters zur Natur blieb unerwidert. Göttlichkeit ist untrennbar mit Menschlichkeit verbunden (Zeile 13), diese Lektion hat Miłosz von William Blake gelernt. Zum anderen erhebt uns das Bewusstsein von Geschichte über die Natur. Diese Lektion hat der Dichter von seinem Philosophen-Freund Kroński gelernt. Kroński verkörperte diese Haltung seinem Bekenntnis zum Marxismus zum Trotz - wurde doch der Marxismus im 20. Jahrhundert zu einem „korrigierten Darwinismus“ (RE S. 283). In dieser Hinsicht erging es dem Marxismus nicht besser als der Literatur. Auch ihr Sündenfall bestand im 20. Jahrhundert wesentlich im Verlust des historischen Gedächtnisses. So sind die literarischen Helden der Moderne dezidiert geschichtslos - Miłosz führt hier als Beispiel die Figuren Samuel Becketts an. Doch man muss hier differenzieren. Die Helden der 93 In Wiersze ostatnie [Letzte Gedichte], 2006, S. 5. <?page no="62"?> 62 Moderne insgesamt und auch Becketts Helden verfügen durchaus über eine biographische Geschichte. Wem fiele nichts Prousts monumentaler Erinnerungsroman ein, und auch bei Beckett steht in Krapp’s Last Tape (1958) die biographische Erinnerung im Mittelpunkt. Miłosz sieht jedoch in der Rekonstruktion der vergangenen Momente des eigenen Lebens, die Krapp mit seinen Tonbändern zum Kult macht, nur die letzte und wichtigste Zerstreuung („divertissement“, ZU S. 247), bevor das Nichts diese Momente mit unserem Tod verschlingt. Individuelle Erinnerung ist nicht die Rettung, sie ist der letzte Strohhalm, an den sich der Ertrinkende klammert. Als Individuum hat sich der Mensch im 20. Jahrhundert ja gerade zum „Spielzeug dämonischer Kräfte“ gemacht, die „nicht von ihm selbst […] ausgebrütet waren“ (RE S. 278). Folgen wir Miłoszs Logik, dann waren diese Kräfte gerade nicht geschichtliche Kräfte, sondern die Kräfte der Natur (auch der Natur im Menschen). Der Mensch hatte sie durch die Preisgabe seiner geschichtlichen Dimension entfesselt. Wurde der Mensch im 20. Jahrhundert zum Objekt, dann nicht für die Geschichte, sondern für die Natur im Menschen, die immer sofort zur Stelle ist, wenn er sich von seiner Geschichte lossagt. Die bürgerliche wie auch die marxistische Philosophie des 20. Jahrhunderts begründete die Ohnmacht des Menschen vor der Geschichte mit dem Primat der „großen geschichtlichen Wirklichkeiten Gesellschaft und Staat“. 94 Hans-Georg Gadamer bringt dies auf den Punkt: In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. […] Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. 95 Doch sind wir nur Objekte von Staat und Gesellschaft und nicht auch ihre Akteure? Auf die frühere Illusion der absoluten Geschichtsmächtigkeit des Menschen folgte als extreme Gegenreaktion die Entmündigung des geschichtlich handelnden Subjekts. Aber wie vermeidet Miłosz mit seinem Begriff von Geschichtlichkeit die Antinomie von Geschichtsallmacht und Geschichtsohnmacht? Indem er den Blick von geschichtlichen Handeln zum geschichtlichen Verstehen wendet. Geschichtlichkeit - das ist der Blick in die Vergangenheit, der uns die Chance gibt, dass wir uns vom Augenblick lösen. 96 Der Blick in die historische Distanz ist gereinigt von allem unserem Lebenswillen, von der Gier zu besitzen und zu beherrschen (ZU S. 28). Er ist, wie der poetische Blick, reine Kontemplation. Damit ist durch ihn eine Beziehung möglich, die sogar größere Nähe schaffen kann als die Beziehung 94 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 2 1965, S. 261. 95 Ebd. 96 Vgl. RE S. 36: „Miarą [korzyści pochodzenia] jest zdolność do oderwania się od chwili“ (Das Maß [für den Nutzen der Herkunft] ist die Fähigkeit sich vom Augenblick zu lösen). <?page no="63"?> 63 zum Gegenwärtigen. Geschichte ist eine Nähe zur Vergangenheit, die Distanz zu den Trends und Moden der Gegenwart schafft. Das Besondere an der geschichtlichen Beziehung ist das Zugleich von Distanz und Nähe. Sie ist eine Distanz, die Nähe schafft, und sie ist zugleich eine Nähe, die Distanz herstellt. Nur darum kann die Bindung an die Vorfahren für den Dichter zum „Anker“ werden, „dessen Kette tief hinabreicht“ (RE S. 22). Mithilfe dieser Kette entwickelte er ein besonderes Organ, das er sein „teleskopisches Auge“ (oko teleskopiczne, RE S. 6) nennt. Es erlaubt ihm, verschiedene Zeitpunkte zugleich authentisch wahrzunehmen. Sein „Gefühl für Geschichte“ (intuicja historyczna, RE S. 22) ließ seinen Geist „wie ein Geschoss die Epochen durchlaufen“ (RE S. 259). Dies sind aber keine besonderen Fähigkeiten eines „Genies“ oder „Sehers“. Beginnt ein Mensch zu verstehen, dass und wie er mit der Vergangenheit in einen Dialog treten kann, dann ist er durch die Nähe zu ihr frei, und durch diese Freiheit steht er jeder Zeit nah. Der Dialog mit der Vergangenheit vollzieht sich natürlich nicht in spiritistischen Sitzungen, obwohl man durchaus versuchen könnte, Spiritismus als symbolische Interaktion mit der Vergangenheit zu begreifen. Miłosz hält nichts von Spiritismus. Er demonstriert den Dialog mit der Vergangenheit an der Dichtung. Derselbe Dialog ist aber in jeder Form von bildhaftem, d.h. analogem Zeichenaustausch möglich. Auf der digitalen Ebene kann die geschichtliche Vergangenheit dagegen nur entweder in ihrer evolutionären Funktion gewürdigt werden - dann wären wir wieder bei der grausamen Macht der Natur - oder man findet mit der Vergangenheit eine Assmannsche „Hypolepse“, einen gemeinsamen Problemkontext, aber dann verschwindet ihre Ferne und mit ihr die Distanz, nach der ich in ihr gerade suche, um mich von der Macht der Gegenwart zu befreien. Miłoszs dichterisches Werk ist in dem Sinne zutiefst geschichtlich, als es das leistet, was ihm als Ausweg aus den Antinomien der Kultur der Moderne erscheint. Es ruft Vergangenheit nicht nur auf, er spielt nicht nur raffiniert auf sie an, er illuminiert nicht nur die Vergangenheit als Präfiguration der Gegenwart oder lässt sie in gespenstischer Weise wieder auferstehen. In seiner Dichtung gelingt ihm das Kunststück, Geschichte sinnlich wahrnehmbar zu machen. Und damit erreicht er die höchste sinnliche Präsenz der Wirklichkeit gerade durch die Aktivierung ihrer geschichtlichen Dimension. Durch eine solche Verknüpfung von Sinnlichkeit und Geschichtlichkeit gelingt ihm etwas, was den Dichtern immer wieder in schwärmerischer Weise nachgesagt wurde, was aber im 20. Jahrhundert kaum noch jemand ernst genommen hat: Prophetie. Damit gehen wir zu Miłoszs schriftstellerischem Werk über. <?page no="65"?> 65 Geschichtlichkeit in Czesław Miłoszs Frühwerk Im Titelgedicht seines Gedichtbandes TO aus dem Jahre 2001 möchte Miłosz „endlich das sagen, was in ihm sitzt“. Jetzt erst, im Alter von 90 Jahren, kann er direkt und ohne Umschweife aussprechen, was ihn über all die Jahre zu seiner Dichtung befähigt hatte. Zugleich aber war das Schreiben für ihn ein Mittel, „die Spuren zu verwischen“. Das heißt, die Zeit der Mimikry und der versteckten, in die Dichtung eingeschmuggelten Botschaften, ist nun, nach siebzig Jahren Dichten, für Miłosz vorbei. Doch warum hatte es ein Dichter vom Rang eines Czesław Miłosz, dessen Werk es doch seit der euphorischen Rezension seines zweiten Gedichtbandes Trzy zimy (Drei Winter) durch Kazimierz Wyka 1937 an Wertschätzung und Anerkennung nicht gefehlt hatte, nötig, sich zu verstellen, was war dem Dichter, der zum Klassiker wurde, bis in die jüngste Vergangenheit offenbar verboten, noch dazu in einer Epoche, in der gerade den Dichtern formal wie thematisch nun endgültig aber auch gar nichts mehr verboten war? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns zurück in die ersten Schaffensjahre des Dichters begeben, in eine Zeit, in der die Welle der Ersten Avantgarde in Polen abzuebben begann, in der aber ihr fröhliches Zerstörungswerk der Sprachnormen, vor allem aber der thematischen Inhaltlichkeit von dichterischer Rede noch am Anfang stand. Auch nach Hugo Friedrichs Bilanz der modernen Lyrik, in der jegliche Ausrichtung auf Inhalt vermieden und dem Wortklang ein Selbstwert zuerkannt wird, also auch nach dem Ende der sogenannten Klassischen Moderne, wurde weiterhin nicht nur die private Person des Dichters, sondern auch die menschliche Dimension des Fühlens und Erlebens aus dem Kanon zeitgenössischer und zeitgemäßer Dichtung ausgeschieden. Die Dichter hatten in „Chiffren“ zu sprechen, in Bezug auf die jeder Versuch der Auflösung ins Leere geht. Mittel dazu war die Montage, d.h. die asyntagmatische und alogische Kombinatorik von Wörtern. Keine neue „Weiche“ 1 hat seit den Zwanziger Jahren die Lyrik vom damals eingeschlagenen Kurs der Sinn-Diffusion auf das Gleis der Verdichtung von Sinn zurückführen können. War die dichterische „Hermetik“ der Frühmoderne ihrer Bezeichnung entsprechend noch eine Sinn-Kunde für Eingeweihte, so verbirgt Hermes seit der Avantgarde nur noch Simulacren von Sinn. Er ist zu einem Boten geworden, der nichts mehr zu bieten hat außer dem Geraune der Worte. Auch Miłoszs Dichtung der Dreißiger Jahre wird hermetisch genannt. Sie ist dies jedoch noch im alten Sinne des Verborgenen, in das eingeweiht zu 1 Die von Tadeusz Peiper 1921 in Krakau gegründete Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche) war der Kristallisationskern der wichtigsten polnischen Avantgardeströmung. <?page no="66"?> 66 werden sich lohnen kann. Diese Verbindung zur Frühmoderne, oder, mit anderer Vergrößerungslinse, zum Spätsymbolismus, verdankt Miłosz seinem väterlichen Freund und Verwandten Oscar Venceslas de Lubicz Miłosz, dessen Dichtung und mystische Spekulation ein repräsentatives Beispiel für spätsymbolistische Hermetik abgibt. Die Vorbildfunktion, die das Werk des französisch schreibenden gebürtigen Litauers für den polnisch schreibenden Czeslaw Miłosz hatte, kommt in den autobiographischen Texten des polnischen Dichters erst sehr spät zur Sprache, in dem Zyklus Czeladnik (Geselle) von 2002. Sie müsste noch genauer untersucht werden, als das im Rahmen dieser Monographie möglich ist. Es gibt also zwei mögliche Antworten auf die Frage, was Miłosz bis zu seinem 90. Lebensjahr zu verbergen hatte: zum einen hatte der Sinn noch den Status von Geheimwissen, zu dem der Zugang nur „Eingeweihten“ gestattet ist, z.B. den Kennern der Texte, auf die angespielt wird. Zum anderen musste in Zeiten der sich immer mehr durchsetzenden und schließlich zur Norm werdenden Avantgarde die nunmehr verpönte Ausrichtung auf Sinn möglichst verschleiert werden. Dies erreicht Miłosz in den Dreißiger Jahren durch die Verwendung avantgardistischer Klang- und Montagetechniken, die indes nicht zu einer der Avantgardelyrik gleichen Undeutbarkeit führen, sondern, so meine noch zu belegende These, zur Mimikry, zum Verstecken des Sinns. Nach dem Krieg wird Miłosz vor allem die Technik der fremden Maske benutzen, des Pseudo-Rollengedichts, so z.B. im „Naiven Poem“ Świat (Die Welt) von 1943. Diese Gedichte sind keine echten Rollen-Gedichte, weil hier nicht, wie Jan Błoński meint, eine „moderne” Polyphonie der Stimmen einsetzt. 2 Vielmehr wird die eigene Stimme als Maske ausgegeben, um das Tabu der Persönlichkeit und der Menschlichkeit zu umgehen. Damit sind wir bei dem, was Miłosz all die Jahre verboten schien: die avantgardistische Norm des Normbruchs wirkte bis in die jüngste Vergangenheit ungebrochen. Bereits einige Gedichte in Trzy zimy galten den zeitgenössischen Kritikern als neoklassizistisch, und zwar keineswegs im damals noch „zulässigen “ Sinne der stilistisch rückwärts gewandten Skamandriten, sondern bereits im Sinne eines gegen die Avantgarde gerichteten Tabubruchs. Wenn man dem älter werdenden Dichter später fast alle antiavantgardistischen Eskapaden verzieh, dann aus zwei Gründen: zum einen, weil im 20. Jahrhundert auf einem Restgebiet noch Inhaltlichkeit toleriert wurde - auf dem Gebiet der politischen Opposition, des Dissidententums. Zum anderen 2 Jan Błoński, Miłosz jak świat, Kraków 1998, S. 19: „Von Anfang an charakterisiert Miłoszs Lyrik die Neigung zum Dialog, aber mindestens die Polyphonie der Aussage. Diese Vielstimmigkeit ist keineswegs nur ein leeres rhetorisches Verfahren. Sie deckt eher eine Unsicherheit, Zerrissenheit und innere Spaltung auf“. Kim Jastremski, Dialogiczny proces rekonstrukcji. Polifonia Czesława Miłosza jako krok w stronę poetyckiej apokatastazy in: Postscriptum polonistyczne 2011, 1 (7), S. 100 unterscheidet zu Recht die Dialogizität in Miłoszs Dichtung von einer „bunten” Polyphonie. <?page no="67"?> 67 aber, weil seine Dichtung eben als moderne Polyphonie missverstanden wurde. Miłosz war in Polen der Dreißiger Jahre kein Einzelfall. Wie kommt es, dass sich Surrealismus und Dada hier nicht durchsetzen konnten, dass ein Spätsymbolist wie Leśmian, ein psychologisierender Neoromantiker wie Schulz und ein Katastrophist wie Witkiewicz als die großen drei polnischen Autoren der Zwischenkriegszeit gelten können? Meine These hierzu lautet: die Experimente der klassischen Avantgarden haben rasch ihre kulturelle Relevanz verloren, ihre Spiele und Revolten müssen inzwischen als infantil gelten. Die polnische Kultur hat dies frühzeitig realisiert und Autoren der Zwischenkriegszeit auf den Schild gehoben, die den Bezug zur Geschichtlichkeit der Kultur nie verloren hatten. Nicht einmal der fröhlich-anarchistische Futurist Aleksander Wat verlor diese Dimension aus den Augen, zumindest legen dies seine nachträglichen Selbstinterpretationen und Kommentare nahe. 3 Diese These impliziert, dass ein wesentliches Merkmal der Avantgarde im Abwerfen der geschichtlichen Dimension des Menschen zu sehen ist. Die Tradition ist Ballast, die gewordenen Regeln sind Makulatur; Vitalismus, Verfremdungstheorie, Betonung des Handwerklichen und der sinnlichen Unmittelbarkeit in der Kunst, Epatismus und Präferenz für das entnarrativierte Oxymoron (im Unterschied zur „Mikrogeschichte“ des Paradoxons) sowie der politische Radikalismus treffen sich in diesem einen Charakteristikum: der Negation von Geschichtlichkeit. Nun ist die Dimension der Geschichte seit 1795 und zumindest bis 1989 eine Obsession der polnischen Kultur gewesen, und darum konnte es zu jenen kulturellen Interferenzen kommen, die die „großen Drei“ der Zwischenkriegszeit repräsentieren - der Avantgarde in den dichterischen Mitteln bei gleichzeitiger Geschichtlichkeit im strukturellen Sinn. Spätestens seit dem Erscheinen des Zyklus Dla Heraklita (Für Heraklit) innerhalb des Gedichtbandes Kroniki (Kroniken, 1987) ist die Geschichtlichkeit auch als Obsession Miłoszs offenbar geworden. 4 Doch sie findet sich bereits in Miłoszs Frühwerk, nur eben nicht thematisch, sondern versteckt im strukturellen Sinn, was zu derselben Interferenz führte, die wir auch bei anderen polnischen Dichtern der Zwischenkriegszeit beobachten. Er selbst wertet sie nachträglich als „Verstellung“, weil er, anders als die „großen Drei“, die Avantgarde und ihre Normen überlebt hat und zum Diskurs seines Spätwerkes einschwenken konnte. Jetzt durften sich Wort und Sinn wieder die Hand reichen. Mit der Feststellung solcher Unterschiede zwischen Früh- und Spätwerk ist kein Qualitätsurteil verbunden - wer die Komplexität von Interferenzen 3 Vgl. dazu meinen Beitrag Aleksander Wat und das Ende der Avantgarde in: Aleksander Wat und ‚sein‘ Jahrhundert. Hg. M. Freise/ A. Lawaty. Wiesbaden 2002, S. 251- 275. 4 Dazu s.u. S. 215ff. <?page no="68"?> 68 höher schätzt als in ihrer Einfachheit stimmige Kunst, der vergisst, dass sein Urteil selbst dem Diskurs der Avantgarde entstammt. Es scheint unmöglich und wirkt lächerlich, in einer „komplexen“ Epoche einfach zu schreiben. Dies gilt aber auch umgekehrt: wer jetzt noch avantgardistisch-postmoderne Verse zusammenmontiert, wirkt unfreiwillig komisch. Anders als im Roman, dessen narrative Struktur der Dekontextierung und Paradigmatisierung hartnäckig Widerstand leistet und darum immer noch zum Steinbruch der Dekonstruktion taugt, ist die Postmoderne in der Lyrik nicht mehr produktiv. Miłosz spricht also kein negatives Qualitätsurteil über seine frühere Lyrik, wenn er aus der Distanz von fast 70 Jahren meint, „endlich“ könne er jetzt ohne Umschweife dichterisch sprechen. Gedichte aus seine ersten Gedichtband Poemat o czasie zastygłym (Poem über die geronnene Zeit, 1933) hat er zwar nach dem Krieg nicht in seine Auswahlbände aufgenommen, aber nicht als unauthentische avantgardistische Experimente - formal ist sein zweiter Gedichtband Trzy zimy (Drei Winter) sogar avantgardistischer. Was ihn an den Gedichten in Poemat o czasie zastygłym später offenbar missfiel, war die voravantgardistische Rede ohne Umschweife, die allzu direkt sozial und politisch engagierte und darum im Kontext der Avantgarde peinliche Rede. Erst danach begann die Mimikry, die dann im Jahr 2001 mit TO (DAS) endete. Der Besuch bei Oscar Miłosz nach der Veröffentlichung des Gedichtbandes „über die geronnene Zeit“ und vor dem Entstehen der Sammlung Trzy Zimy hat ihn zweierlei gelehrt: den geschichtlichen Sinn in jedem Faktum zu erblicken und diesen in der hermetischen dichterischen Rede zugleich zu ver- und enthüllen. In der Dimension der Geschichtlichkeit, an der nicht nur Miłosz im geschichtsfremden Kontext der Avantgarde festgehalten hat, liegt der Schlüssel zum Verständnis der polnischen Literatur der Dreißiger Jahre, d.h. der sogenannten Zweiten Avantgarde. Auch der später verworfene erste Gedichtband des Autors ist dafür zu konsultieren. Obwohl oder gerade weil Miłoszs spätere Selbstkritik berechtigt ist, tritt hier in einzelnen Gedichten und zumal im Titel des Bandes noch ohne pseudo-avantgardistische hermetische Verhüllung der Impuls der Geschichtlichkeit zutage. Diese These soll nun am konkreten Material verifiziert werden. Besonders aufschlussreich ist hierfür aus dem Band Poemat o czasie zastygłym das Gedicht Dysk (Diskus). 5 Diskus Der erste Teil von Dysk (Diskus) ist recht themenlastig: die beschriebene Industrielandschaft präsentiert sich als verschmutzte Umwelt, die schlag- 5 In Poemat o czasie zastygłym, zitiert nach Dzieła zebrane, Wiersze tom 1, Kraków 2001, S. 16. m <?page no="69"?> 69 lichtartig in Asyndeta aneinandergereihten visuellen und akustischen Impressionen suggerieren revolutionäre Gärung, der im steilen Winkel auf die Erde zurasende Pilot eine unmittelbar bevorstehende Explosion. Hier werden Miłoszs kommunistische Sympathien aus der Vorkriegszeit greifbar. Der zweite Teil steht dazu in einem schroffen Gegensatz. Die Bewegung des lyrischen Ich ist iterativ, d.h. nicht auf ein Resultat gerichtet, was durch den imperfektiven Aspekt ausgedrückt wird. Das lyrische Ich wird also von der Gärung, von der nahenden Katastrophe selbst nicht mitgerissen, es erscheint als unbeteiligter Zuschauer, fast noch als Flaneur des 19. Jahrhunderts. Mit Hilfe einer Doppeldeutigkeit im Verb „przechodzić“ wird die Bewegung („przechodzę ulicami“) des lyrischen Ich in einen Gegensatz zur Bewegung der Polizeikompanien („Kompanie policji przechodzą“) gestellt. Im einen Fall (mit dem Instrumental ulicami) bezeichnet das Verb ein ungerichtetes Umherschlendern, im anderen (wenn es ein Objekt gibt, mit dem Akkusativ) ein gerichtetes Vorbeimarschieren. Eine andere Bewegung ist in dem Gedicht indes noch wichtiger. Die Beschreibungen des ersten Teils implizieren eine Vogelperspektive, also eine erhabene und überlegen urteilende Position des Betrachters. Im zweiten Teil befindet sich der Beobachterstandpunkt dagegen auf der Straße, d.h. auf Augenhöhe mit den Ereignissen. Zweischen den beiden Teilen liegt nun aber der Sturzflug des Piloten. Die Vermutung liegt nahe, dass der Dichter in diesem Piloten sein Dichten und seinen eigenen Perspektivwechsel in Szene gesetzt hat. „Er freut sich am Lärm des Flugzeugs, aber auch er ist nicht befreit“ - weil der Dichter zunächst noch von den Ereignissen befangen ist, weil er sich an ihnen noch berauscht. Genau das ändert sich im zweiten Teil des Gedichts. Nunmehr schaut und horcht das lyrische Ich mittendrin auf die Ereignisse seiner Zeit, um die Formen herauszufinden (wynaleźć), die der Zeit seiner Söhne würdig sein werden. Hier ist nicht die Rede von einer überzeitlichen Geltung dichterischer Form, sondern von der einer Zeit innewohnenden Form, von der Struktur dieser Zeit, die die Nachwelt beurteilen wird. Die Schlussfolgerungen aus den „Beobachtungen“ sind erstaunlich: „Vielleicht brennen in einigen Jahren die Städte vom Rhein bis zur Wolga“. Zu einer solchen Vision befähigt den Dichter kurz vor Ausbruch des II. Weltkriegs nicht die logische Verknüpfung der im Gedicht aufgezählten Fakten: Umweltverschmutzung, Ausbeutung, revolutionäre Parolen an den Wänden, politischer Rechtsruck in Polen, sondern das „Finden der Form“ für seine Zeit. Zum Propheten macht ihn das Modellieren eines „Diskus der schönsten Hymnen“ und nicht, wie die Fakten suggerieren würden, Gesellschaftskritik oder politische Anklage. Die „schöne Form“ erschließt sich in dem Gedicht Dysk über die geschichtliche Dimension - im Verweis auf die antiken Hymnen, v.a. auf die Hymnen Pindars auf die olympischen Sieger, im Verweis auf die antike <?page no="70"?> 70 Skulptur des Diskuswerfers als einer vollendeten Verbindung von Energie und Schönheit und schließlich in den meist sechshebigen Versen mit Paarreimen, die an elegische Distichien erinnern. Wenn das lyrische Ich den „glänzenden Diskus“ metaphorisch in die Zukunft schleudert, so nimmt es wie der Diskuswerfer die Energie dafür aus der weit ausholenden Rückwärtsbewegung in die Antike. Im Ergebnis ist diese Dichtung nicht klassizistisch und auch nicht überzeitlich, sondern sie ist im besten Wortsinne zeitlich, d.h. durchtränkt von dem Bewusstsein der eigenen Zeitlichkeit. Dem in dem Gedicht deutlich zu Tage tretenden Widerspruch zwischen der aus der Form gewonnenen „echten“ Zeitlichkeit und der thematischen Zeitgeschichtlichkeit aktuell beobachteter „Ereignisse“ und „Entwicklungen“ liegt kein avantgardistisches Oxymoron zugrunde. Dieser Widerspruch demonstriert vielmehr die Unvereinbarkeit von altem Thema und neuer Form, von der poetische Innovation ihren Ausgang nimmt. Die neue Form wird sich bei Miłosz erst in dem Maße durchsetzen, in dem er auf die alten Themen verzichtet, so aktuell und bedrängend sie auch scheinen. Vollendet hat der Dichter seinen Weg, wenn wie im Gedichtband TO die neue Form sich auch im Thema zu verwirklichen vermag, wenn also die avantgardistische Mimikry zuende ist. Die symbolische Handlung am Ende des Gedichts, an dem das lyrische Ich seinen Diskus in das Brausen der Wasserfälle der Zukunft schleudert, hat eine komplexe, aber sehr aufschlussreiche Semantik. Die Metapher „Wasserfälle der Zukunft“ könnte zunächst katastrophistisch gedeutet werden. Der Fluss der Zeit stürzt im Moment der Katastrophe ins Bodenlose. Doch der Wurf des Diskus in diese Wasserfälle hinein und über sie hinweg impliziert eine Zukunft, in die dieser Diskus über den Wasserfall hinweg zu fliegen in der Lage ist. Das Ufer jenseits der Katastrophe, von dem Miłosz später immer wieder sprechen wird, zeichnet sich hier bereits ab. Diskontinuität und Kontinuität von Geschichte stehen sich im Bild des Flusses mit Wasserfall dialektisch gegenüber. Der Wurf des Diskus stellt, vermittelt durch die Ausholbewegung in die Vergangenheit, eine dialogische Verbindung zwischen dem Jetzt und der Zukunft her - zwei Zeiten, die durch den Wasserfall unüberwindlich getrennt zu sein scheinen. Das ist Kultur. Es geht für sie nicht darum, Kontinuität herzustellen, sondern den Diskus der Dichtung über die Grenze hinweg zu schleudern. Die Verbindung zwischen den Zeiten wird so aktiv hergestellt. Die Zukunft kommt uns nicht entgegen, wir müssen unseren Diskus in sie hineinschleudern. Bekanntlich kann ein Diskus durch seine besondere Form und durch seine Drehbewegung von der Luft in große Entfernungen getragen werden. Damit konkurriert er als Symbol von Dichtung direkt mit dem auf die Erde zurasenden Flugzeug. <?page no="71"?> 71 Luli Das Gedicht Luli ist nicht in Verse gesetzt, doch die mit den Satzenden korrespondierenden Reime verraten hier Langzeilen von 25-35 Silben Länge. Die Reime haben eine deutliche semantische Funktion. So verknüpft sich durch den Reim das Firmament mit der Tiefe eines Schiffsbauches - ein Gegensatz, der sich als Hyperbel erweist: selbst in den höchsten Höhen unserer Erde befinden wir uns wie in den tiefsten Tiefen eines Schiffsbauches. Die Erde, ja unser Sonnensystem wird zum durch den Kosmos segelnden Schiff. Das Firmament verkörpert die Transzendenz, jedoch nicht mehr auf symbolistisch-abstrakte Weise, sondern im (avantgardistischen) Medium konkreter Sinnlichkeit. Wer als Maler Linien oder als Dichter Sätze verbindet, schließt nicht das Firmament ein. Hierin liegt eine Polemik sowohl gegen die avantgardistische Linien-Metaphysik Kandinskys als auch gegen die futuristische Sternen-Sprache Chlebnikovs. Das Firmament ist dabei nicht einfach der Himmel. Dieses Wort hat die Konnotationen von einer Ordnung des Kosmos, denn das Wort ist abgeleitet von lateinisch firmus - „fest“. Dieser egriff von Transzendenz als fester Hülle der Welt, auf der die Fixsterne (und die Werte) fixiert sind, ist Kandinsky und Chlebnikov verlorengegangen. Das zweite Reimpaar verbindet das schnell durch die Adern pulsierende Blut mit den finsteren Stadtvierteln am Fluss, die der im Gedicht apostrophierte Künstler besucht. Auch hier haben wir es mit einem semantischen Parallelismus zu tun. Beide stehen innerhalb ihrer Langzeilen in einer Opposition - das menschliche Schaffen ist nichts im Vergleich zur Geschwindigkeit des pulsierenden Blutes, und der Künstler flieht vor seinem Schaffen in die finsteren Stadtviertel. Der Gegensatz zwischen Intellekt und Vitalität wird parallel gesetzt zum Gegensatz zwischen Künstler und Arbeiterklasse. Dieser an sich konventionelle Vergleich verkompliziert sich durch eine Spaltung des Künstlers - der Intellektuelle, der abstrahiert und zergliedert, steht „wie eine primitive Geistervorstellung“ über einem Ich, das sich erkennbar mit den Arbeitern identifizieren möchte. Doch das gelingt nicht. Das Zergliedern wird, poetisch realisiert, zu einem Zerschneiden des menschlichen Körpers, ja der ganzen Erdkugel, die so auch zum Symbol vergewaltigter Weiblichkeit wird. Zwischen der metapoetischen Exposition und dem Zerschneiden menschlichen Fleisches durch den Künstler steht die Szenerie am Fluss, vom Künstler „von der Höhe der Uferstraße aus“ beobachtet. Ihre Botschaft ist widersprüchlich. Zum einen steht die Arbeit des Künstlers mit den beobachteten Arbeitern in einer Analogie, wie auch die Straße zum Fluss eine Analogie bildet. Zum anderen lässt der erhöhte Blickpunkt, wie schon der vermeintlich alles überschauende Standpunkt des Fliegers zu Beginn des Gedichts, den Künstler auf die Mühen der Arbeiter hinabschauen. Dieser <?page no="72"?> 72 Widerspruch entlarvt die avantgardistische Ästhetik als nur vordergründig egalitär, strukturell aber, wie jede aus der Abstraktion gewonnene „Ansicht“, als elitär und als verächtlich gegenüber den Mühen konkreter Arbeit. Betrachtet man die Szenerie am Fluss nun auf der symbolischen Ebene, die dem vom Dichter apostrophierten Künstler nicht zugänglich ist, so erscheinen die Arbeiter als die eigentlichen Künstler. Nicht nur sind sie es, die singen. Vor allem verfolgen sie mit ihrer Arbeit jene Linie, die der Künstler auf dem Papier oder der Leinwand nicht zustande bringt. Diese Linie findet, wer sich im Strom der Zeit hält, wer sich geschichtlich versteht. Hierbei steht der Fluss in Konkurrenz zum Fluss des Blutes in den Arterien im dritten Vers. Die Geschichte, nicht der Körper gibt dem Menschen seine zeitliche Dimension. Der vitalistische Versuch, dem Blut in den Arterien nachzujagen, zerstört das Leben sogar, verschüttet das Blut: die Hälse platzten, das Blut dampft. Dem „Künstler“ wird implizit empfohlen, sich statt an den Strom des Blutes in seinen Arterien an den Strom der Geschichte zu halten. Explizit werden die geschichtliche Dimension und ihr Gegensatz zur „Linie“ des avantgardistischen Künstlers in dem Gedicht auf zweifache Weise. Zum einen stehen Straße und Fluss in einer versteckten Konkurrenz. Dem bewegten Fluss als Symbol lebendiger Zeitlichkeit steht die starre Straße als verräumlichte Vorstellung von Zeit gegenüber. 6 Zwar scheint die Uferstraße dem Lauf des Flusses zu folgen, doch die dem Fluss und den Arbeitern auf ihren Kähnen hinderlichen Brückenpfeiler zeigen an, dass die Straße seinem Lauf nicht einfach folgt, sondern in dem Versuch, ihn zu durchkreuzen, dem Wasser und den Lastkähnen im Wege steht. Diesen Weg geht der im Gedicht apostrophierte Künstler (noch) nicht. Er steht am Ufer und macht keine Anstalten, über die Brücke zu gehen, wie ja auch seine Linie auf der Leinwand abbricht. Zum anderen wird die geschichtliche Dimension im Gedicht durch eine Parallele zwischen der Kindheit des Künstlers und der Frühzeit der abendländischen Kultur explizit. Das geschieht durch die archaische Form paarweise gereimter Langverse in hexameterähnlichen Daktylen, Amphibrachen und Anapaesten, die sich durch Verzicht auf den Druck in Versform als avantgardistisches Prosagedicht verkleiden. Durch ihre außerordentliche Länge treten diese Verse außerdem in eine ikonische Beziehung zum Fluss. Der Verweis auf die Kindheit des Künstlers „als die Mutter ihm ein Schlaflied (luli) sang“ ruft ebenfalls die Textgestalt des Gedichtes selbst auf. Seine intensive Lautinstrumentierung auch über die Reime hinaus und seine Rhythmisierung („po nadrzecznych ponurych dzielnicach “ ) wirken wie ein Schlaflied. Das zweifach erwähnte „luli“ am Schluss, dem als Titelwort be- 6 Zum narratologischen Phänomen der verräumlichten Zeit in der Avantgarde vgl. Joseph Frank, Spatial Form in Modern Narrative, in: Joseph Frank: The Widening Gyre. Crisis and Masterty in Modern Literature. New Brunswick 1963, 3-62. <?page no="73"?> 73 sonderes semantisches Gewicht zukommt, steht über eine Positions- und Lautäquivalenz mit dem Verbinden von Linien auf der Leinwand zu Beginn des Gedichts (Łącząc zdania lub linie na płótnie) in Verbindung. Die Verbindung, die der vom Dichter apostrophierte Künstler zu Beginn anstrebt, aber abbricht, realisiert somit der Dichter selbst mit dem Gedicht. LULI realisiert die Verbindung (als erstes Wort des Gedichts) der LInie na PŁÓtnie (auf der Leinwand). Der Reimpartner zu Luli ist die schon mehrfach thematisierte Erdkugel („ziemskiej kuli“), deren implizite Weiblichkeit sich auf diese Weise mit der mütterlichen Zuwendung verbindet. Dass diese LULI-Linie zudem den Index der Geschichtlichkeit in sich trägt, dokumentiert der redundante Zusatz „20 lat temu“ in dem Verweis auf die Kindheit des Künstlers. Was setzt der Künstler diesem Luli entgegen? Er ballt die Fäuste in der Tasche. Diese hilflose Geste der Wut angesichts einer unverstandenen und darum bedrohlichen Wirklichkeit ist infantil, - und mit ihr die avantgardistische vermeintliche Voraussetzungs- und Geschichtslosigkeit. Der Infantile ist gefangen im Jetzt und ihm darum hilflos ausgeliefert; der dichterische Rückgriff auf das Luli der Kindheit ist dagegen nicht infantil, sondern geschichtlich und damit „zukunftsfähig“. Der Dichter lenkt als Gegenüber und Gegenspieler des von ihm apostrophierten Künstlers, wie der Lastkahn den Sand, seine künstlerische Fracht sicher flussabwärts unter allen Brücken hindurch in eine Zukunft, in der die Worte wieder von den Dingen handeln dürfen. Diese Zukunft ist für Miłosz spätestens mit TO zur Gegenwart geworden. <?page no="75"?> 75 Drei Winter Mit dem Verzicht auf die im Poemat o czasie zastygłym allgegenwärtigen thematische Bezüge auf die historisch-politische Gegenwart zeigt Miłosz in seinem zweiten Gedichtband Trzy zimy (Drei Winter), dass die thematische Ebene der Dichtung weniger geeignet ist, die Formen und damit die Sinnstruktur einer Zeit zu erfassen. Aleksander Fiut verweist in diesem Zusammenhang auf den entscheidenden Einfluss des französischen Spätsymbolismus in der Gestalt von Oscar de Miłosz, zu dem Miłosz während seines Aufenthaltes in Paris 1934-35, also nach der Publikation von Poemat o czasie zastygłym und vor der Publikation von Trzy zimy, eine enge freundschaftliche Verbindung knüpfte. Wenn also die „an den Symbolismus erinnernde“ 1 schwer deutbare Dichte in Miłoszs zweitem Gedichtband auf seinen französischen väterlichen Freund und Verwandten zurückgeht, haben wir es dann mit einem späten Adepten, ja Epigonen dieser Richtung zu tun? Sind die oft festgestellten Analogien zur Dichtung der polnischen Romantik bei Miłosz nur dem französischen Symbolismus geschuldet? Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Oskar und Czesław Miłosz: der französische Symbolist und Mystiker sucht in der Tradition Rimbauds nach dem Ort des Menschen im Kosmos, sein poetisches und sein mystisches System sind statisch, allenfalls als Rückkehr aus einer Entfremdung zu verstehen, als Rückkehr aus der Vertreibung zurück ins Paradies. In aristotelischer Tradition hat im göttlichen Kosmos jedes Ding, jedes Individuum seinen Ort, an den es zurückstrebt. So hat Oscar Miłosz Litauen als „seinen“ Ort betrachtet, von dem er sich im absoluten, d.h. metaphysischen Sinn vertrieben fühlte. Gilt dasselbe nicht auch für Miłosz? Nein, denn in seine Dichtung und in sein - in Essays dokumentiertes - Denken hat eine Kategorie Einzug gehalten, die für den Symbolismus und damit auch für Oscar Miłosz keine Rolle gespielt hatte: die geschichtliche Zeit. Das Tor zur Geschichte Drei der Gedichte des Bandes Trzy zimy hat Miłosz in Paris geschrieben, eines davon fordert die Deuter bis heute mit seiner Assoziativität und seinem Bilderreichtum heraus: Bramy Arsenału. Józef Olejniczak nennt es „Miłoszs vieldeutigstes und verwickeltstes Gedicht“, 2 Für Wiesław Paweł 1 Aleksander Fiut: Moment wieczny. Poezja Czesława Miłosza. Dritte erweiterte Auflage Kraków 1998, S. 25. 2 Bramy Arsenału Miłosza. In: www.edupedia.pl words/ index/ show/ 492955_ slownik_literatury_polskiej-_bramy_arsenau_miosza.html. Abgerufen 2.10.2013. <?page no="76"?> 76 Szymański ist in dem Gedicht „alles unklar, geheimnisvoll“. 3 Stefan Napierski spricht von „Chiffren, Zeichen, die schwer oder gar nicht zu entziffern sind“, 4 und Stefan Kisielewski nennt es „das modernste Gedicht, das Miłosz je geschrieben hat“ und zählt es zur Avantgarde. 5 Wiesław Paweł Szymański sieht in dem Gedicht ein Beispiel „wahrer Dichtung“, einer Dichtung, die durch radikale Verfremdung eine reinigende, kathartische Wirkung erzielt. 6 Haben wir es hier mit einem avantgardistischen Gedicht des erklärten Avantgarde-Gegners zu tun? Die Methode der Verschlüsselung und Verrätselung muss nicht unbedingt avantgardistisch sein. Eine direkte Verfremdungsfunktion würde für die Zugehörigkeit zur Avantgarde sprechen, doch die Verrätselung provoziert hier kein „neues Sehen“ der Wirklichkeit, sondern ein tiefer Sehen, eine feine Wahrnehmung für auf den ersten Blick nicht wahrnehmbare Dimensionen. Dabei ist die sinnlich wahrnehmbare Welt nicht einfach transparent für die Transzendenz wie im Symbolismus, sondern sie ist zugleich mit ihrer geschichtlichen Tiefendimension sehr real da. Das Setting des Gedichts ist ein Spaziergang des Lyrischen Ichs in einem Park. Szymański vermutet, dass es sich um den Park Łazienki in Warschau handelt, oder aber um einen Park in Paris, da das Gedicht in Paris geschrieben wurde. Doch weder hier noch in Paris gibt es das immerhin titelgebende Arsenal. Das Warschauer Arsenal befindet sich am Krasiński-Park. Dort gibt es zwar keine Denkmäler, die im Herbst „mit Kastanienblättern bekränzt“ sein könnten, doch die gibt es im Sächsischen Park (Ogród Saski), 400m zur anderen Seite vom Arsenal. Das Arsenal ist wichtig, weil in dem Gedicht, wie Szymański zu Recht betont, 7 die Dimension der Geschichtlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Mit der Erstürmung des Warschauer Arsenals schaltete sich die Volksmenge in den zuvor von Kadetten initiierten Aufstand vom November 1831 ein. Auch wenn der Aufstand am Ende niedergeschlagen wurde, kann das Ereignis durchaus mit dem Sturm auf die Bastille bei der Französischen Revolution verglichen werden. 8 Bramy arsenału spielt im Spätherbst, und das Gedicht 3 Bramy Arsenału. In: Poznawanie Miłosza. Studia i szkice o twórczośći poety. Red. J. Kwiatkowski, Kraków 1985 S. 381-390, hier S. 186. 4 Czesław Miłosz, Trzy zimy (rez.), in: Ateneum, 1938 Nr.1. 5 „Bramy Arsenału”, in: Czesław Miłosz, Trzy zimy. Głosy o wierszach, London 1987, S. 71-74, hier S. 72. Miłosz selbst hat, so Kisielewski, die Unterstellung, er gehöre zur Avantgarde, empört zurückgewiesen. Als Kisielewski ihn 1943 darauf hinwies, Bramy Arsenału sei doch aber ganz avantgardistisch, habe dieser mit einem „wütenden Blick“ reagiert. Vgl. Kisielewski S. 74. 6 „Bramy arsenału“. In: Poznawanie Miłosza, Hg. Jerzy Kwiatkowski, Kraków-Wrocław 1985, S. 381-390, hier: S. 390. 7 Ebd. S. 389. 8 Assoziationen, die dem Dichter in Paris in den Sinn kamen? <?page no="77"?> 77 realisiert die geschichtliche Dimension in der Eingangsstrophe gleich auf mehrfache Weise: […] Posągi zbierały liść kasztanów na głowy i z kamiennym zwojem praw dawno przeminionych albo śladem miecza szły, oblepione nowych jesieni wawrzynem Statuen sammelten Kastanienblätter auf die Köpfe und mit steinernen Rollen längst vergangener Rechte oder gekerbt vom Schwert gingen sie, beklebt mit dem Lorbeer neuer Herbste 9 Der „Lorbeer neuer Herbste“ ist ein Verweis auf den Novemberaufstand, und ebenso wie bei den längst vergangenen (verwirkten? ) Rechten, die auf den Schriftrollen der Denkmäler verbrieft sind, ist dabei eine (Selbst-) Ironie gegenüber den historischen Heldentaten zu spüren - verwelkte Kastanienblätter als später Lorbeer für die Helden der Vergangenheit (des Novemberaufstands? ). Die „schweigsamen treuen Tiere“, die den Park bevölkern, werden entsprechend zu Vertretern einer gezähmten Bevölkerung 10 wie das Papierschiffchen im Teich zur Schwundstufe militärischer Aktionen. Letzteres bestätigt sich in der letzten Strophe - Jungen, die im Park gespielt haben, tragen ihre mit Blechsoldaten beladenen Schiffchen nach Hause. Reiter, Orchester und ordensgeschmückte Uniformen verweisen auf einen Feiertag, der in Polen 1918-1938 gefeiert wurde und erst wieder seit 1990 festlich begangen wird - die Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit am 11. November 1918. Bramy Arsenału gliedert sich thematisch in vier Teile. Eine Serie visueller und akustischer Eindrücke im Park (1) wird gefolgt von einer Reihe rhetorischer Fragen, die die visuellen Eindrücke in eine ländliche Idylle umdeuten (2). Dann erscheint im Park und parallel dazu im sonambulen Garten der inneren Welt des Lyrischen Ichs eine schöne junge Frau, deren Schicksal als Opfer einer Katastrophe, als Mutter degenerierter Kinder oder aber, Körner ausstreuend und mit Dornenkrone auf dem Kopf, als christusgleiche „Kore“ im Stil von Wyspiańskis Drama Noc listopadowa thematisiert wird (3). 11 Schließlich kehren wir in den Park zurück, auf den sich der Abend und schließlich die Nacht senkt (4). Auffällig sind die zahlreichen Partizipialkon- 9 Zitate aus Bramy arsenału nach Czesław Miłosz: Dzieła zebrane, wiersze tom 1, Kraków 2001 S. 70-72, hier S. 70. 10 Die „Streifen auf ihrem Fell“ (Zeile 9) wirft die Morgensonne, die durch Gitter oder Zäune fällt. Darum geht es hier nicht um gestreifte Raubtiere, sondern um den Schatten, den imaginäre Gitterstäbe von Käfigen auf sie werfen. 11 Zur Geschichtlichkeit in Noc listopadowa und zur Funktion des Kore-Mythos in dem Drama vgl. Matthias Freise, Historismus und Symbolismus in Wyspiańskis Dramen, In: Die Welt der Slaven 44 (1999), S. 265-266. <?page no="78"?> 78 struktionen, die in Verbindung mit Inversionen die syntaktische Zuordnung der Wörter erschweren, z.B.: Tocząc żółte obręcze, żaglowe okręty naładowane wojskiem blaszanych żołnierzy niosąc, szli chłopcy... Drehend gelbe Reifen, Segelboote beladen mit Armeen blecherner Soldaten tragend, gingen die Jungen... Die Schwächung der logisch fundierten Syntax verstärkt die assoziativen Verknüpfungen, hier zur Militärgeschichte sowie zur Zukunft der Jungen, die selbst bald werden Kriegsdienst leisten müssen. Spiel und der dahinter stehende Ernst, ein Spaziergang im Park und die in den Impressionen liegende historische Dimension - das ruft in der Gegenwart nicht einfach vergangene geschichtliche Ereignisse auf, sondern lässt uns unablässig das Wehen der Geschichte spüren: wieczny ruch zamąca gaje […] (Zeile 13) pod nieruchomym wichrem […] krążą podróżni, […] (Zeile 15-16) Szum burzliwy, huk fali, fortepianów wianie odzywa się z przepaści. […] (Zeile 21-22) ewige Bewegung trübt die Haine […] unter unbewegtem Sturm […] kreisen die Reisenden, […] Stürmisches Brausen, Wellen-Dröhnen, Schwingen der Klaviere erschallt aus dem Abgrund. […] Weil das Wehen der Geschichte sinnlich erfahren wird, obwohl es eigentlich nicht wahrnehmbar ist, fasst es der Dichter vorzugsweise in Paradoxien wie dem „unbewegten Sturm“, dem „Blasen stummer Flöten“ (ebd.) und dem „jungen Grün der von der Sonne versengten Wiesen“ (Zeile 54). Zu Recht weist Szymański auf die Lichtregie des Gedichtes hin. 12 Nach Szymański 13 hat sie eine katastrophistische Funktion. Betrachten wir die zahlreichen Hinweise auf den Einfall und die Wirkung des Lichtes jedoch im Detail, so gewinnt die zyklische über die katastrophistische Vision hier die Oberhand. Zunächst wirft das tiefe morgendliche Licht Schattenstreifen auf am Boden hockende Tiere und beleuchtet „vom Schaum des Tages bespritzte“ Kellergeschosse, die sonst im Schatten liegen. Damit erhellt es die verborgenen unteren Schichten der sozialen Wirklichkeit. Dann entfaltet die Mittagssonne einen „stechenden Glanz“, von dem „alles Lebende stirbt“, der „Busch der Haare brennt“ (dies ist zugleich der brennende Dornbusch der 12 In: Poznawanie Miłosza, S. 388. 13 Ebd. <?page no="79"?> 79 Anwesenheit Gottes) und die Kleider zu Asche werden. Schließlich wirft das Abendlicht, analog zu den Schattenstreifen auf den Tieren am Morgen, Dornen aus Schatten auf die Stirn der jungen Frau. Das Licht scheint dabei geradezu Klangwellen auszulösen: wieczór ciernie cieniste położy na czoło (Zeile 56) der Abend wirft schattige Dornen auf die Stirn Mit vom Abendlicht vergoldeten Treppenstufen versinkt der Tag, und Oczami mokremi jeźdźcy patrzyli prosto na zachód. Mit feuchten Augen schauten die Reiter gerade nach Westen. …d.h. sie schauen in den (Sonnen-) Untergang. Der Tageslauf wird hier dramatisiert und symbolisch überhöht. Eine ähnliche symbolische Lichtregie finden wir in der Erzählung Sierpień (August) von Bruno Schulz, die im selben Jahr publiziert wurde, in dem Miłosz sein Gedicht schrieb. Dieselbe Bewegung beschreibt aber auch Miłoszs 40 Jahre später entstandener Gedichtzyklus Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht), in dem räumliche, zeitliche und geistige Bewegung sowie Tages-, Jahres- und Lebenslauf parallelgeschaltet werden. 14 In Bramy Arsenału deutet sich in der Lichtregie das Menschheitsdrama von der Loslösung vom Tierreich über die Entdeckung der Geschichte, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, das Kommen des (hier weiblichen) Erlösers bis hin zu dessen Leiden und Tod an. Man könnte auch sagen, dass sich mit den Hunderotten, die am Schluss über die Beete jagen, der Bogen zu den Tieren am Anfang geschlagen wird - verwildern die anfangs noch treuen und wachsamen Tiere am Ende? Der „Friede auf Erden“ mit den (durch die Abendsonne) auf „vergoldeten Stufen“ sitzenden Liebespaaren verweist eher auf das nahende Himmelreich. Beides könnte man zu einem später zentralen Thema bei Miłosz verbinden - der Apokalypse als Untergang der Menschheit und zugleich als Ankunft des Erlösers. 15 Die Apokalypse aber ist keine Katastrophe, sie ist Erlösung und Offenbarung. 14 Dazu unten S. 177. 15 Nicht nur die Lichtregie spannt in dem Gedicht einen großen Bogen. Auch die Kastanienblätter, die am Anfang auf den Köpfen der Statuen liegen, tauchen wieder auf - in dem kastanienbraunen Haar, das der jungen Frau „von der Stirn fließt“ (Zeile 42- 43). Damit tritt dem falschen Lorbeer für weltliche Errungenschaften der natürliche Kopfschmuck der wahren Erlöserin gegenüber. <?page no="80"?> 80 Wolken In zwölf von einundzwanzig Gedichten des Bandes Trzy zimy ist von Wolken die Rede, mal als weiße obłoki, mal als dunkle chmury. In Bramy Arsenału haben wir beides - kleine Wölkchen (obłoczki) scheinen in der Idylle (Teil 2) von Birkenzweigen geläutet zu werden, während in der Abenddämmerung (Teil 4) eine finstere Wolke (chmurka) den aufgehenden Mond in zwei Hälften zerschneidet, was seinem Licht die symbolische Kraft zu nehmen scheint. Wolken ziehen aber durch das gesamte Werk des Dichters. Welche Rolle spielen sie in Miłoszs Poetik? Welche Bedeutungsbereiche, welche Symbolik aktivieren sie? Ihren ersten Auftritt in Miłoszs Lyrik haben Wolken in vier Gedichten unter dem Titel Ląd (wizje) [Das Land (Visionen)], die das Kernstück seines Gedichtbandes Poemat o czasie zastygłym bilden. In ihnen evoziert Miłosz, wie später noch oft, das Litauen seiner Kindheit. Dieses Land ist hier noch eine unwirtliche Heimat der kalten Winde, des Regens und Hagels. Die in Miłoszs Dichtung gleichfalls siebzig Jahre lang endemischen Wasservögel ziehen über die gleichfalls im Gesamtwerk leitmotivischen Seen. Über die Wolken heißt es in Ląd (wizje): Pamiętam ziemię gniecioną ciężkymi obłokami w dnie i nocy Ich erinnere mich an die Erde, Tag und Nacht bedrängt von schweren Wolken Hier sind die Wolken durch die „bedrängte Erde“ (ziemia gniecona) erkennbar mit der Symbolik des Drucks von oben, der Hinderung an der Entfaltung verknüpft. Mit dem Heimat-Topos kombiniert ergibt sich ein lyrisches Ich, das der Enge und dem Druck von Elternhaus/ Schule/ Heimat entkommen will. Im Band Trzy zimy gibt es dann ein Gedicht, in dem die Wolken Titel, Thema und Adressat der lyrischen Apostrophe sind - das Gedicht Obłoki (Wolken, 1935). Sind die Wolken hier immer noch Kindheitssymbol, oder werden sie zum Symbol für herannahende Katastrophen? Obłoki, straszne moje obłoki, jak bije serce, jaki żal i smutek ziemi, chmury, obłoki białe i milczące, patrzę na was o świcie oczami łez pełnemi i wiem, że we mnie pycha, pożądanie i okrucieństwo, i ziarno pogardy dla snu martwego splatają posłanie, a kłamstwa mego najpiękniejsze farby zakryły prawdę. Wtedy spuszczam oczy i czuję wicher, co przeze mnie wieje, palący, suchy. O, jakże wy straszne jesteście, stróże świata, obłoki! Niech zasnę, niech litościwa ogarnie mnie noc. <?page no="81"?> 81 Wolken, meine schrecklichen Wolken, Wie klopft das Herz von Trauer und Gram der Erde Wolken, ihr weißen und schweigsamen Wolken, Ich schau auf euch im Morgenlicht, voll Tränen und weiß, dass in mir Hochmut, Gier und Grausamkeit, und der Keim der Verachtung die Bettstatt flechten zum toten Schlaf, und meiner Lüge schönste Farben die Wahrheit verdeckten. Da senke ich den Blick und fühle den Windstoß, der durch mich weht, brennend und trocken. O wie seid ihr schrecklich, Wolken, Wächter der Welt! Lasst mich schlafen, mag die mitleidige Nacht mich umfangen. An dem Gedicht fällt zunächst die zweifache Apostrophe an die Wolken am Anfang und kurz vor Schluss auf - beide Male werden die Wolken mit dem Attribut „schrecklich“ versehen, beim ersten Mal sind es „meine schrecklichen Wolken“, beim zweiten Mal werden sie zusätzlich als „Wächter der Welt“ angerufen. Was macht die Wolken so schrecklich? Offenbar ihr Schweigen (Zeile 3) im Kontrast zum heftigen Herzschlag des Ich. Dieses Schweigen flößt dem lyrischen Ich Demut ein (Zeile 9). Zu Wächtern der Welt qualifiziert die Wolken ihre Erhabenheit, ihr majestätisches Schweigen. Wie unter Gottes prüfendem Blick fühlt sich das lyrische Ich angesichts dieser Wolken, sie lösen bei ihm Petrustränen der Selbsterkenntnis aus. 16 Das lyrische Ich erkennt seine Verdrängung, die durch zwei Metaphern ausgedrückt wird. Zum einen bereiten ihm die Laster ein bequemes Lager für seinen bewusstlosen Schlaf. Zum anderen verdeckt es selbst die Wahrheit mit schönen Farben der Lüge. Das Besondere an diesen Metaphern ist, dass sie dem lyrischen Ich Attribute verleihen, die eigentlich zu den Wolken gehören: etwas zu verhüllen, sowie das Bett (wie mit Wolkenkissen! ) bereiten. Damit sind die Wolken für das lyrische Ich nicht nur eine erhabene Wächter-Instanz, sondern insgeheim auch ein Spiegel seiner eigenen Seele. Durch die in Miłoszs Lyrik sonst seltene Inkongruenz von Verszeile und Syntax. 17 finden sich die Satzenden inmitten der Verszeilen. Das hebt „zakryły prawdę“ (verdeckten die Wahrheit) und „palący, suchy“ (brennend, trocken) besonders hervor, wodurch der Gegensatz zwischen Ich und Wolken unterstrichen wird. Die Wahrheit wird gerade nicht von den Wolken 16 Wojciech Karpiński weist in seinen Bemerkungen zu Obłoki (in Czesław Miłosz, Trzy zimy. Głosy o wierszach, London 1987, S. 122-124, hier S. 122) darauf hin, dass das Gedicht wie auch insgesamt das Motiv der Wolken bei Miłosz zu seiner (selbst-) verurteilenden Seite gehöre. Das kann man zwar für das Gedicht, jedoch nicht generell für das Motiv sagen. 17 Miłoszs Standardvers ist der Satzvers, poln. wiersz zdaniowy. <?page no="82"?> 82 verdeckt, sondern vom Ich, und anders als die feuchten, kühlen Wolken durchfährt das lyrische Ich ein trocken-heißer Wind. Das heißt, dass die Scham, die das lyrische Ich beherrscht, den Wolken fremd ist. Sie sind auch unbeweglich, der Wind treibt das lyrische Ich, nicht die Wolken. Die Reime unterstützen die Semantik des Gedichts. Zwischen „smutek ziemi“ (Gram der Erde)und „łez pełnemi“ (voll Tränen) besteht zunächst eine Analogie, doch die Tränen verknüpfen sich mit den (Regen-) Wolken und stehen so dem Gram der Erde gegenüber. Zwischen „ziarno pogardy“ (Keim der Verachtung) und „kłamstwa … najpiękniejsze farby“ (der Lüge schönste Farben) besteht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die Reimworte „jakże wy straszne“ (wie seid ihr schrecklich) und „Niech zasnę“ (lasst mich schlafen) bilden einen Gegensatz. Vor der schrecklichen Wahrheit, die die Wolken (paradoxerweise) offenbaren, flüchtet sich das lyrische Ich in den Schlaf. Fast gleichzeitig hat Miłoszs Freund und Dichterkollege Józef Czechowicz ein Gedicht gleichen Titels geschrieben. Czechowicz wird wie Miłosz dem polnischen Katastrophismus zugerechnet: obłoki przyjaciele pastuszego świtania nad wioską biały wieniec u strzech i kalenic umilknij mokre niebo dosyć modrego grania obłoki nam ukażą galop i uciszenie obłoki silą dźwiga spoza namiotów jodeł bór obalają rdzawy ku wodzie bruzdy szklącej biją jak cichy werbel powracającej roty obłoki czeremchowe chłodne płynne i rącze obłoki srebrny łopuch na firmamentów dunaju chłoną się drą i dzielą i rosną w zakosach te kamienie bez wagi skądś z fruwających krajów czy może tuman pyłu po niewidzialnych wozach obłoki ujrzeć z góry to ujrzeć niw rozłogi świat z białymi dziurami niby książka we śnie oczy się niepokoją wtedy szukają drogi bo oczy plam nie lubią ślepoty ani pleśni jest droga pod olbrzymim niebem nisko na którym obłoki obłoki obłoki drogą idzie staruszka tobołek niesie w ręce ciemnej spracowanej 18 wolken freunde der hirtenfrühe über dem dörfchen weißer kranz auf reet und firsten verstumme nasser himmel genug des blauen spiels wolken zeigen uns galopp und beruhigung wolken treibt mit gewalt hinter den zelten der tannen hervor sie fällen den wald, den rostfarbenen schmutz zum glasigen wasser 18 In: Józef Czechowicz, Poezje, Lubliń 1982, S. 175. Erstpublikation 1939. <?page no="83"?> 83 schlagen wie eine leise trommel der umkehrenden Rotte die kirschfarbigen kalten fließenden flinken wolken wolken silberne klette an den firmamenten der donau saugen sich voll zerreißen zerteilen und wachsen in den Kehren, diese steine ohne gewicht von wo aus fliegenden landen oder vielleicht eine staubwolke hinter ungesehenen wagen wolken von oben erblicken heißt die ausläufer der wiesen erblicken die welt mit weißen löchern wie ein buch im traum die augen sind unruhig suchen dann einen weg weil die augen weder blinde noch schimmel-flecke lieben da ist ein weg unter dem riesigen himmel dicht unter dem sind wolken wolken wolken eine alte geht auf dem weg ein bündel trägt sie im abgearbeiteten dunklen arm. Auffällig ist die Dynamik der Wolken bei Czechowicz im Vergleich zu ihrer Ruhe bei Miłosz. Das Setting ist ein plastisches Relief, während bei Miłosz Wolken und lyrisches Ich einander wie zwei Flächen gegenüberstehen. Die Wolken sind bei Czechowicz in die Landschaft integriert, sie verweisen nicht auf Transzendenz. Zudem unterliegen sie Metamorphosen, während Miłoszs Wolken starr und selbstidentisch sind. Die visuellen Täuschungen, die mit Wolken einhergehen, ihre unklaren Konturen spielen bei Czechowicz eine große Rolle, z.B. die paradoxale Metapher „Steine ohne Gewicht“. Damit symbolisieren sie bei Czechowicz die avantgardistische Orientierungslosigkeit und Perspektivverdrehung, während Miłoszs Wolken vor- oder nachavantgardistisch auf das ihnen gegenüberstehende Subjekt bezogen sind, das es bei Czechowicz wie überhaupt in der Avantgarde gar nicht mehr gibt. Nur das letzte Bild der Alten mit dem Bündel, die sich auf einem Höhenweg den Wolken nähert, evoziert noch die Transzendenz des Todes. Bei Miłosz spielt das Wolkenmotiv dann im Widmungsgedicht des Bandes Ocalenie wieder eine wichtige Rolle. 19 Auch im Gedicht Odbicia aus dem Band Światło dzienne (1953) 20 spielen Wolken eine prominente Rolle. Das Gedicht stellt die Grausamkeit der Natur den Verwüstungen gegenüber, die der Mensch im Krieg anrichtet. Dabei ignoriert der Mensch die Grausamkeit der Natur ebenso wie die Natur des Menschen Grausamkeit ignoriert: Mysz polna martwa i żuki-grabarze, […] W ogrodzie tęcza piłki, roześmiane twarze […] Plemię podbite, pancerni grabarze, […] Pole bławatków kwitnie po pożarze. Eine tote Feldmaus und Totengräber-Käfer, […] Im Garten der Regenbogen eines Balls, auflachende Gesichter […] 19 Dazu s.u. S. 95f. 20 Czesław Miłosz: Dzieła zebrane, wiersze tom2, Kraków2002, S. 47. <?page no="84"?> 84 Unterworfene Völker, Panzerfahrer-Totengräber, […] Ein Feld von Kornblumen blüht nach dem Feuer. Die Wolken schweben über alledem, im Wechsel mit dem Blau des Himmels. Die „Spiegelungen“ des Gedichttitels betreffen also nicht die Wolken, nicht sie spiegeln sich im Wasser, sondern die Menschenwelt ist zum Spiegel der grausamen Natur pervertiert. Ob darüber Wolken schweben oder aber der leere Himmel throhnt, ist in diesem Gedicht vollkommen egal. Der Himmel hat mit dieser von Grausamkeit regierten Welt nichts zu tun. Der Topos der sich im Wasser spiegelnden Wolken, Sinnbild für die Korrespondenz zwischen Himmel und Erde, wird hier merkmalhaft ignoriert. Später wird ihn der Dichter gleichwohl wieder aktivieren - als Leitmotiv für die litauische Heimat. So wird Miłosz in Dolina Issy wie Mickiewicz in Pan Tadeusz den lebendigen bewölkten Himmel Litauens dem leeren blauen Himmel Italiens gegenüberstellen, und schließlich werden die Wolken das Postscriptum des im Band TO enthaltenen Gedichts über die Liebe zum Haselstrauch (Do leszczyny) dekorieren, mit dem wir uns vorgreifend schon beschäftigt haben. Im Lauf der Jahrzehnte sind die Wolken immer mehr zu vertrauten Freunden des lyrischen Ichs geworden, und die Geborgenheit, die unter ihnen herrscht, wird allmählich nicht mehr als Bedrückung und auch nicht mehr als Ignoranz, sondern als Heimat erlebt. Und so kann der Dichter schließlich, wenn es im vorletzten Gedicht des Bandes TO unter dem Titel PO (1999, Nach) um Litauen geht, gelassen den Heimat-Topos aufrufen, indem er einfach nur noch feststellt: I obłoki. Jak zawsze w tamtych stronach, dużo obłoków. Und Wolken. Wie immer in jenen Gegenden, viele Wolken. <?page no="85"?> 85 Moralischer Widerstreit Perspektiven auf das brennende Warschauer Ghetto Das Gedicht Campo di Fiori ist eines der bekanntesten und zugleich umstrittensten Gedichte Miłoszs. Die in dem Gedicht beschriebene Szene hat Miłosz nach eigenem Bekunden selbst erlebt. Er war im April 1943 mit der Straßenbahn unterwegs zu seinem Freund, dem Schriftsteller Jerzy Andrzejewski, um mit ihm das Osterfest zu feiern. Die Straßenbahn blieb nahe der Ghetto-Mauer eine Weile stehen. Dort hat er die Szene mit dem Kettenkarussell beobachtet. Der Ghetto-Aufstand stand am Ostersonntag 1943 kurz vor dem Zusammenbruch. Viele Teile des Ghettos brannten, die Aufständischen mussten ihr Hauptquartier aufgeben. Das Gedicht entstand unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Szene und wurde 1944 vom Jüdischen Volkskommitee im Untergrund veröffentlicht. 1 In der umfangreichen Literatur, die dieses Gedicht kommentiert, wird vor allem sein dokumentarischer Charakter betont. Miłosz sei einer der ganz wenigen nichtjüdischen polnischen Autoren, die die Tragödie des Ghettos damals schon zur Kenntnis genommen und künstlerisch verarbeitet hätten. Gemeinsam mit Miłoszs in Ocalenie 1945 erstmals publizierten Gedicht Biedny chrześcijanin patrzy na getto (Ein armer Christ betrachtet das Ghetto) aus dem Zyklus Głosy biednych ludzi (Stimmen armer Menschen) gilt Campo di fiori als Zeugnis, wie Dichtung nach Auschwitz noch möglich ist. Gleichwohl hat Miłosz das Gedicht später nicht mehr öffentlich vorgetragen. Irena Grudzińska-Gross war in ihrem Vortrag „Mówię do ciebie milcząc “ 2 der Ansicht, er habe darauf verzichtet, weil er es für eine unangemessene Ästhetisierung des Todes halte. Daran sind Zweifel berechtigt, denn in diesem Falle hätte Miłosz das Gedicht aus dem noch von ihm selbst redigierten Lyrikband 1 der Gesammelten Werke ausgeschlossen. Nein der Verzicht gerade und nur auf den öffentlichen Vortrag erklärt sich durch einen naheliegenden und wiederholt auch geäußerten Vorwurf: Miłosz habe in dem Gedicht die Polen pauschal der Gleichgültigkeit und mangelnder Solidarität bezichtigt - dort sterben die verzweifelten Juden, und die Polen fahren Karussell. Darum ist unter anderem darüber diskutiert worden, ob das Karussell damals überhaupt in Betrieb war, ob also Miłosz nicht den Polen ganz zu Unrecht, vermittels einer unfairen Assoziation, eine solche Ungeheuerlichkeit unterstellt. Eine derartige sozial-politische Lesart bewegt sich jedoch auf der thematischen Oberfläche des Gedichts, und ge- 1 Dann in dem Sammelband Ocalenie (1945) und schließlich in Dzieła zebrane, Wiersze tom1, Kraków 2001, S. 191-193. 2 Vortrag, gehalten am 15.5.2011 auf der internationalen Tagung „Miłosz i Miłosz“. Publikation (Kraków 2014) in Vorbereitung. <?page no="86"?> 86 nau solch eine Lesart befürchtete Miłosz beim Publikum seiner öffentlichen Lesungen. Dabei enthält das Gedicht einen Kommentar, der die moralisch verurteilende Lesart ausdrücklich zurückweist: Moral ktoś może wyczyta […] Ja jednak wtedy myślałem […] (S. 192) Vielleicht wird mancher eine Moral herauslesen […] Ich aber dachte damals […] Was aber nicht der reale Autor, sondern das lyrische Ich dachte, wird erst durch die poetische Struktur des Gedichts verständlich. Um diese Struktur soll es nun gehen. Auffällig ist der Zeitpunkt - Ostern. Es war zwar ganz real Ostern, aber unausweichlich drängt sich das Osterfest in die semantische Struktur des Gedichtes hinein. Immerhin wird am Ende als Entstehungszeitpunkt nicht der 25.4., sondern ausdrücklich Ostern 1943 genannt. In welcher Weise sich Ostern semantisch bemerkbar macht, lassen wir zunächst noch offen. Wichtig ist nun nicht, ob das Karussell am Ostersonntag 1943 wirklich in Betrieb war. Auch für das Karussell geht es zentral darum, welche semantische Funktion es in dem Gedicht bekommt. Schließlich findet nichts seinen Weg in ein Gedicht, nur weil es tatsächlich da ist. Es handelt sich erkennbar um ein Kettenkarussell. Strukturell auffällig sind an dem Gedicht weiterhin das Verfahren der Parallele - zwischen dem Platz Campo dei fiori im Rom des Jahres 1600 und dem Warschauer Ghetto des Jahres 1943 - und das Verfahren eines scharfen Kontrastes - zwischen den sterbenden Menschen im brennenden Ghetto und den sich vergnügenden Menschen auf dem Karussell. Der Kontrast führt zu einer Groteske, einer als unpassend oder als Missverhältnis empfundenen Zusammenstellung. Die Parallele dagegen stellt einen Bezug zu einer als analog empfundenen Situation her. Das Zusammenspiel beider Verfahren ergibt die besondere semantische Struktur des Gedichts. Durch die Parallele werden semantische Bezüge hin und her übertragen. Der Brand des Warschauer Ghettos erscheint im Lichte der Hinrichtung Giordano Brunos anders, und die Hinrichtung Giordano Brunos erscheint aus der Perspektive des brennenden Ghettos ebenfalls anders. So fällt auf, dass der Platz in Rom, wo die Hinrichtung stattfindet, als Ort der Genüsse Italiens präsentiert wird: Zitronen, Oliven, Wein, Meeresfrüchte, Pfirsiche und natürlich Blumen - all dies wird wie auf einem Stillleben beschrieben, andere Eindrücke werden ausgeklammert. Das Warschauer Kettenkarussell und die dort zu hörende Tanzmusik scheinen eine Schwundstufe dieser üppigen Schönheit zu sein. Vor dem Hintergrund der überquellenden Früchte Italiens erscheinen sie wie der Versuch einer Flucht aus der unerträglichen Realität in eine andere Welt, in eine himmlische Transzendenz: <?page no="87"?> 87 I wzlatywały pary wysoko w pogodne niebo. (S. 191) Und die Paare flogen hinauf hoch in den heiteren Himmel. An dieser Flucht hindern sie aber die Ketten des Karussells, die sie in der Realität festhalten. Die dabei erzeugte Fliehkraft kann nur ein Schwindelgefühl des kurzzeitigen Vergessens hervorrufen. In Rom ist die Schönheit anwesend, in Warschau nur ersehnt. Die Warschauer auf dem Kettenkarussell werden also nicht als kalte und gleichgültige Menschen dargestellt, sondern als Menschen, die vergessen wollen. Das ist natürlich vor dem Hintergrund des Mordens auf der anderen Seite der Mauer immer noch eine ungeheure Verdrängung, aber es ist eben Verdrängung und nicht „böse“. Dagegen wird im Rom des Jahres 1600 nicht verdrängt, sondern der um den Scheiterhaufen herumstehende „neugierige Pöbel“ (S. 191) gafft. Ein weiteres Verfahren liegt bei der Beschreibung der Szene auf dem Campo de fiori in dem Parallelismus der dreifachen Beschreibung von Wein, Oliven und Zitronen sowie von Meeresfrüchten (bzw. Seesternen). Die Rolle des Weines verändert sich dabei. Erst Spritzer auf dem Straßenpflaster, dann findet er den Weg in die Tavernen, und schließlich wird er „hinuntergekippt“. Von den Blumen, immerhin namengebend für den Platz, werden nur abgebrochene Stücke erwähnt, und auch nur einmal, am Anfang. Hier, am Anfang, sind die „Genüsse Italiens“ auch auf der lautlichen Ebene des Gedichtes maximal ästhetisiert. Die „opryski“, die Spritzer, wirken auch im Polnischen onomatopoetisch, bilden mit „oliwki“ und „cytryny“ Assonanzen, worauf wir über die Zwischenstation auf -a- (odłamki kwiatów) lautlich und metaphorisch ins Meer eintauchen zu den rz- und O-Lauten der „Różowe owoce morza“. Schönheit also auf allen Ebenen. Welche Funktion hat die Beschwörung solcher Schönheit? Sollen uns die Oliven im Hals stecken bleiben, weil „neben ihnen“ gemordet wurde? Sicherlich nicht. Auch Miłosz war ein Genießer, sein lyrisches Ich bekennt das in zahlreichen Gedichten. Hier kommen zwei Welten miteinander in Kontakt, die meist weit voneinander entfernt sind und darum in ihrer Inkongruenz meist nicht wahrgenommen werden - die Welt von Schmerz und Tod und die Welt von Schönheit und Genuss. Beide Welten koexistieren, doch üblicherweise weit voneinander entfernt. Während in Syrien Demonstranten sterben, hören wir klassische Musik oder besuchen eine Kunstausstellung. Wenn das eine das andere ausschließt, ist Schönheit nicht mehr legitim, ist jeder Genuss ein Verbrechen. Gleichwohl bleibt der Widerspruch bestehen, und gelegentlich geraten die beiden Welten in eine räumliche Nachbarschaft. Dann zeigt sich, dass es zwischen ihnen keine Brücke gibt. Allerdingst gibt es hier wieder einen kleinen Unterschied zwischen den beiden Szenen: 1600 besteht die einseitige „Kommunikation“ zwischen den <?page no="88"?> 88 beiden Welten in dem Gaffen der Zuschauer, die zugleich Marktbesucher sind. Giordano Bruno findet „in die andere Richtung“ keine Worte, die aus der Welt des Todes in die Welt der Schönheit und des Genusses gelangen könnten, die er ihnen aus jener Welt, in die er nicht erst hineingeht, sondern in der er schon ist - der Welt der Gegenwart des Todes - „hinterlassen“ könnte: Nie znalazł w ludzkim języku Ani jednego wyrazu, Aby nim ludzkość pożegnać, Tę ludzkość, która zostaje. (S. 192) Er fand in der menschlichen Sprache Nicht einen einzigen Ausdruck Von der Menschheit Abschied zu nehmen, Von der Menschheit, die dableiben wird. Die brennenden Juden des Warschauer Ghettos dagegen werden nicht „begafft“ - eher wird weggeschaut. Aber der Wind trägt „schwarze Drachen“ (czarne latawce) über die Mauer zu ihnen herüber, und der Wind, der von den brennenden Häusern angefacht wird, bauscht die Kleider der Mädchen. Hier ist die einseitige Kommunikation umgekehrt - der Tod drängt sich den Lebenden auf dieser Seite der Mauer auf, und das Karussell muss sich schon gewaltig schnell drehen, damit man das verdrängen kann. Hier kommt nun der Dichter ins Spiel. Es wird zu seiner Aufgabe, mit seinem Wort der Dichtung („słowo poety“) die Mauer der Sprachlosigkeit zwischen der Welt des Todes und der Welt der Schönheit zu überwinden. Wie kann das Wort der Dichtung, als Wort aus dem Munde eines nicht involvierten Beobachters, leisten, was die Betroffenen selbst nicht leisten können? Weil nur er die beiden Welten miteinander verknüpfen kann. Die Menschen auf den Karusell schauen weg und verdrängen, die Juden im brennenden Ghetto haben andere Sorgen. Der Dichter aber vermag beides zu verbinden. Dies geschieht durch die dichterische Form, die die Assoziation, die sich zwischen den beiden eigentlich unvereinbaren Erscheinungen einstellt, in eine Äquivalenz, in eine semantische Beziehung transformiert. Dieser Beziehung können wir nicht mehr ausweichen - es sei denn, wir lesen das Gedicht nur thematisch und suchen irgendeinen Schuldigen. Aber dagegen ist kein Kraut gewachsen. Miłosz tat gut daran, das Gedicht nicht öffentlich vorzutragen. Sein eindringlicher syllabotonischer Vers, eine Kombination aus einem Amphibrach, einem Trochäus und wieder einem Amphibrach, wirkt zwar gerade im mündlichen Vortrag ungeheuer suggestiv, doch das Gedicht eignet sich nicht für den schnellen Konsum. Doch was ist mit Ostersonntag? Überall finden sich seine Spuren. Die abgebrochenen Blumen rufen Palmsonntag in Erinnerung. Der Tod - Karfreitag. Doch wir haben Ostern - wo ist die österliche Auferstehung? Für die <?page no="89"?> 89 Auferstehung von den Toten sorgt in dem Gedicht allein der Dichter. Das Wort des Dichters wird „nach vielen Jahren“ auf einem neuen Campo de fiori die „Revolte“ (bunt) „entfachen“ (wznieci). Das polnische Wort ist dabei ebenso doppeldeutig wie seine deutsche Übersetzung. So wie der Henker den Scheiterhaufen „anzündet“ (zażegnąć), so wird das dichterische Wort „entfachen“. Der Dichter schaut hin im Warschau des Jahres 1943, er verdrängt nicht, aber er gafft auch nicht wie die Zuschauer auf dem Campo dei Fiori. Er lässt sich ansprechen, und so erreicht ihn die stumme Botschaft Giordano Brunos, seines alter ego. Die „Sprache eines längst vergangenen Planeten“ (język dawnej planety), die Giordano Bruno spricht, vermag allein der Dichter zu verstehen, indem er die längst vergangene Szene nicht nur bildlich gestaltet - wie ein Stillleben, auf Polnisch „martwa natura“, tote Natur - (das würde nicht reichen), sondern sie auferstehen lässt in der Äquivalenz zum Sterben der Ghetto-Aufständischen. Dies führt nicht zu einer „Aktualisierung“ Brunos (die würde nur alte Grabenkämpfe zwischen Kirche und Aufklärung wieder aufleben lassen). Es verleiht umgekehrt der Liquidierung des Ghettos durch die SS eine historische Tiefendimension. Nicht die Häresie Brunos steht dann mehr im Vordergrund, sondern die Geschichtlichkeit des getötet Werdens. Giordano Bruno war ja nicht irgendein Opfer, auch nicht irgendein Opfer der Inquisition - er war ein „Freidenker“, der nicht umhin konnte zu provozieren, ein moderner Mensch, den die noch mittelalterlich denkende Kirche nicht tolerieren konnte, da er eine neue Zeit verkörperte. Dass auch das lyrische Ich „auf der sicheren Seite der Mauer“ sich schuldig fühlt - das thematisiert erst das zweite Ghetto-Gedicht Biedny chrześcijanin patrzy na getto (Ein armer Christ betrachtet das Ghetto). Hierbei handelt es sich zwar um ein Rollengedicht, bei dem das lyrische Ich sorgsam, nämlich zweifach, vom Autor abgegrenzt wird - einmal durch den Zyklustitel, der fremde Stimmen zu Sprechern macht, und durch den Gedichttitel, der einen „armen Christen“ zum Perspektivträger macht. Gleichwohl bleibt es durch die christlich-polnische Identität mit dem Autor-Ich verbunden. Aus seiner Perspektive wird das Werk der Zerstörung beobachtet. Viel später, im Theologischen Traktat, wird das Autor-Ich bekennen: Później zaznałem prawdziwych, nie urojonych, tragedii, tym trudniejszych do znoszenia, że nie czułem się niewinny. (Nr. 21, Zeile 10-11) Später lernte ich wahrhafte, nicht eingebildete Tragödien kennen, die umso schwerer zu ertragen waren, als ich mich nicht unschuldig fühlte. Die Beobachterperspektive wird durch zwei deutlich markierte Zeitstufen in Szene gesetzt („Es beginnt das Zerreißen…“ und „Zerrissen ist…“, die Serien von Asyndeta nach sich ziehen. Es sind dies Asyndeta von Verben der Zerstörung (zerreißen, zertrampeln, zerstampfen) und von Objekten dieser <?page no="90"?> 90 Zerstörung. Dabei werden auf der ersten Zeitstufe zunächst Materialien aufgezählt (Seide, Glas, Holz…), dann Formen dieser Materialien (Saiten, Trompeten, Kugeln, Kristalle). Dann dehnt sich die Reihe sowohl in der Sprache als auch in der Wirklichkeit auf das Lebende aus (Tierhaare, Menschenhaare). Auf der zweiten Zeitstufe gibt es dann nur noch Materialien, Haut und Haare sind in die Liste der Materialien eingegangen. Vom Menschen sind nur noch Materialien übrig. Diesen Prozess beobachtet der Christ. Er aber wird am Schluss des Gedichts vom „Wächter-Maulwurf“, der sich durch die Friedhöfe wühlt, zu den „Helfern des Todes“ gezählt - allein aufgrund des Merkmals, zu den „Unbeschnittenen“, also nicht zu den Juden zu gehören. 3 Bei dieser Verbildlichung des Gewissens, das sich durch unser Inneres wühlt, unterscheidet der Maulwurf die Asche verschiedener Menschen nach dem „Schillern ihrer Ausdünstung“. Jede menschliche Asche schimmert in einer anderen Farbe des Regenbogens. Hier wird zunächst einmal „tęcza“, Regenbogen, das Lieblingswort der polnischen Romantiker und Symbolisten aufgegriffen. Konnotierte es bei jenen, die göttliche Transzendenz, die ins Diesseits herüberleuchtet, so ist das Symbol hier weiterentwickelt zum göttlichen Funken im Menschen, der auch dann noch sichtbar bleibt, wenn er zu Asche verbrannt ist. Zugleich wird das Symbol realisiert - die Seele der Menschen erkennt der Weltenrichter an ihrer Regenbogenfarbe. Der Christ, der auf das Ghetto schaut, fühlt sich zweifellos schuldig, obwohl er selbst nicht der Zerstörer ist. Das „Augenmerk“ auf die Materialien aber suggeriert, dass genau sie es sind, die ihn interessieren. Papier, Gummi, Silber, Leinen, Bleche… das ist die Perspektive des Verwerters von übriggebliebenen Materialien, in der Situation von Krieg und Ermordung allerdings - die Perspektive des Plünderers. Nun muss unser Perspektivträger, der arme Christ, gar kein Plünderer im buchstäblichen Sinne sein. Das materielle Erbe der polnischen Juden fällt von selbst an die polnischen Christen. Sie sind wie die Bienen und Ameisen, die in dem von Wort- und Lautwiederholungen geprägten Refrain des Gedichts die biologischen Überreste der Menschen „verbauen“ (obudowują). Doch das Feuer vernichtet alles. Fast ist Enttäuschung zu spüren, dass all die Materialien verbrannt sind. Von den Menschen und ihren Taten ist dagegen keine Rede. Was bleibt, ist sandige, festgetretene Erde und ein blattloser Baum. Dies kann nicht der Baum des Lebens sein, sondern der Baum des Todes, jener Baum auf dem für alle Zeit unfruchtbaren Acker, den sich Judas von seinen Silberlingen gekauft hat. An diesem Baum wird er sich, überwältigt von seiner Schuld, erhängen. Das lyrische Ich erkennt: ich bin Judas. 3 Damit scheint auch der Rechtfertigungsversuch des lyrischen Ichs abgewiersen, das für sich reklamiert, „Jude des Neuen Testaments“ zu sein, der auch auf die Rückkehr des Messias warte, nur noch nicht so lange. <?page no="91"?> 91 Das Widmungsgedicht von Ocalenie (Rettung) oder wer rettet wen? Ty, którego nie mogłem ocalić, Wysłuchaj mnie. Zrozum tę mowę prostą, bo wstydzę się innej. Przysięgam, nie ma we mnie czarodziejstwa słów. Mówię do ciebie milcząc, jak obłok czy drzewo. To, co wzmacniało mnie, dla ciebie było śmiertelne. Żegnanie epoki brałeś za początek nowej, Natchnienie nienawiści za piękno liryczne, Siłę ślepą za dokonany kształt. Oto dolina płytkich polskich rzek. I most ogromny Idący w białą mgłę. Oto miasto złamane I wiatr skwirami mew obrzuca twój grób, Kiedy rozmawiam z tobą. Czym jest poezja, która nie ocala Narodów ani ludzi? Wspólnictwem urzędowych kłamstw, Piosenką pijaków, którym ktoś za chwilę poderżnie gardła, Czytanką z panieńskiego pokoju. To, że chciałem dobrej poezji, nie umiejąc, To, że późno pojąłem jej wybawczy cel, To jest i tylko to jest ocalenie. Sypano na mogiły proso albo mak Żywiąc zlatujących się umarłych ptaki. Tę książkę kładę tu dla ciebie, o dawny, Abyś nas odtąd nie nawiedzał więcej. Du, den ich nicht habe retten können, höre mich an. Begreif diese schlichte Sprache, denn der anderen schäme ich mich. Ich schwöre, es gibt keinen Zauber der Worte in mir. Ich rede schweigend zu dir, wie die Wolke oder der Baum. Das, was mich stärkte, war tödlich für dich. Den Abschied von der Epoche hieltest du für den Anfang der neuen, Den Einfall des Hasses für lyrische Schönheit, Die blinde Gewalt für vollendete Form. Das ist das Tal der seichten polnischen Flüsse. Und die Riesenbrücke zu den weißen Nebeln. Da ist die zerbrochene Stadt Und der Wind, der mit Möwengeschrei dein Grab beschüttet Wenn ich mit dir rede. <?page no="92"?> 92 Was ist Poesie, wenn sie weder Völker Noch Menschen rettet? Eine Komplizenschaft amtlicher Lügen, Eion Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle aufschlitzt, Ein Lesestück aus einem Mädchenzimmer. Dass ich die gute Dichtung wollte, ohne zu können, Und ihren erlösenden Zweck sehr spät verstanden habe, Das und nur das ist die Rettung. Mohn oder Hirse werden auf Gräber gestreut, Die niederfliegenden Toten - die Vögel - damit zu füttern. Ich lege das Buch hier für dich, Verflossener, nieder, Damit du uns nie wieder heimsuchst. 4 Viel ist in Polen und in den Exilzeitschriften über die Rolle Miłoszs in Polen gleich nach dem Ende des Krieges debattiert worden. So wurde ihm vorgeworfen, mit den neuen kommunistischen Machthabern kollaboriert zu haben. Miłosz selbst hat viele Jahre später in dem Band Zaraz po wojnie seinen Briefwechsel jener Zeit herausgegeben, um, wie er im Vorwort schreibt, unter anderem seine damalige gesellschaftliche und kulturelle Situation verständlich zu machen. Die eigentliche Instanz zum Verständnis eines Dichters aber bleiben seine Gedichte. Wie hat Miłosz als Dichter die Stunde null gestaltet? Welche literarischen Verfahren sind für ihn kompromittiert, und welche literarischen und kulturellen Topoi nimmt er in den Bezugsrahmen seiner Dichtung auf? Gibt es einen Neuanfang, einen Rückblick, einen Blick in die Zukunft? Wie hat sich überhaupt die Poetik Miłoszs verändert? Stanisław Bereś schreibt zu dieser Frage: Im Laufe von 2-3 Jahren verwandelt sich Miłosz von einem extatischen Gesetzgeber einer revolutionären Ästhetik, […] von einem Avantgardisten und Vertreter des extremen Rationalismus […] in einen Anwalt klassizistischer Formen und eines poetischen Mystizismus, den man als Neigung zur Metaphysik verstehen kann. 5 Dieser zugespitzten Formulierung kann ich nicht zustimmen und halte es in dieser Frage eher mit Jerzy Kwiatkowski, der schon im Gedichtband Trzy zimy die „neue Tendenz” am Werke sieht. 6 In Miłoszs eigenen autobiographischen Texten steht die Begegnung mit Oskar Miłosz für diesen Umbruch, und alles, was er vorher geschrieben hat, hält er für Juvenilia. 7 Gleich- 4 Deutsch von Karl Dedecius nach Miłosz, Gedichte, Frankfurt am Main 1982. 5 In: Ostatnia wileńska plejada. Szkice o poezji kręgu Żagarów, Warszwa 1990, S. 233. 6 Poemat o czasie zastygłym, in: Poznawanie Miłosza, pod red. J Kwiatkowskiego, Kraków 1985, S. 67 (urspr. Twórczość 1957 Nr. 12). 7 Vgl. die in den Dzieła zebrane, Wiersze, tom 1 aus Ocalenie ausgeschlossene erste Abteilung „Juvenilia“, dazu Wiersze tom 1, Kraków 2001, nota wydawcy, s. 293. <?page no="93"?> 93 wohl gehört auch Trzy zimy noch zum Katastrophismus, dem ja durchaus eine metaphysische, ja mystizistische Note eigen ist. Miłosz selbst nimmt eher eine überindividuelle Perspektive ein, wenn er über die Umbrüche in seiner Poetik spricht. In Zaraz po wojnie schreibt er: Wojna wtrąciła poezję polską w stan regresji. Oddalanie się od romantycznego patriotycznego wzorca odbywało się w międzywojennym dwudziestoleciu [...] a czwarty rozbiór 1939 roku dał początek szybkiemu powrotowi do form czucia i myślenia właściwych romantyzmowi. Sprawdziłem to na sobie (S. 9). Der Krieg hat die polnische Dichtung in die Regression getrieben. In den zwanzig Jahren der Zwischenkriegszeit hatte sie sich vom patriotischen Vorbild der Romantik entfernt […] aber die vierte Teilung [Polens] 1939 gab den Anstoß zu einer raschen Rückkehr gerade zu den Formen des Denkens und Fühlens, die für die Romantik charakteristisch waren. Ich hab das an mir selbst festgestellt. Der beißende Spott seines Freundes Kroński habe schließlich 1943 zu seiner, Miłoszs, Befreiung aus den Zwängen der vaterländischen Pflicht beigetragen. Als dichterische Produkte dieser Befreiung nennt er explizit die Gedichtzyklen Głosy biednych ludzi und Świat des Bandes Ocalenie. Insgesamt ist von dieser Befreiung, so Miłosz, nicht nur der Band Ocalenie, sondern sein Nachkriegsschaffen insgesamt betroffen: W tę samą linię wpisywały się późniejsze Traktat moralny i Traktat poetycki (Zaraz po wojnie, S. 11). In dieselbe Richtung gingen später das moralische und das poetische Traktat. Miłosz erklärt allerdings nur, wovon, aber nicht, wozu er befreit wurde. Letzte Instanz für Antworten auf diese Frage ist die Sinn-Struktur seiner Gedichte, die in dieser Zeit entstanden sind. Streng genommen müsste man hierfür aus dem Band Ocalenie außer den beiden genannten Zyklen noch den Zyklus Pieśni Adriana Zielińskiego sowie die 1944 in Goszyce sowie die 1945 in Krakau entstandenen Gedichte untersuchen. Es gibt in Ocalenie jedoch Schlüsselgedichte, die auch durch formale Kriterien herausgehoben sind. Zu Recht bezeichnet Stanisław Stabro das Gedicht Przedmowa als Schlüssel zur Interpretation des gesamten Gedichtbandes. Seine Beobachtungen an dem Gedicht beschränken sich jedoch auf inhaltliche Aspekte, auf die stilistische Klassifikation sowie auf die Selbstaussagen Miłoszs zu diesem Gedicht. Letztere sollte man problematisieren. Ein Dichter will und kann nicht zwischen seiner subjektiven Veranlassung zu einem Gedicht und dessen Sinn im synchronen und diachronen kulturellen Kontext differenzieren. Das ist sein gutes Recht, doch die Wissenschaft muss sich vorbehalten, diese <?page no="94"?> 94 Differenzierung doch vorzunehmen. 8 Was die beiden anderen Aspekte in Stabros Beobachtungen angeht, so laufen sie auf eine Trennung von Gehalt und Gestalt eines poetischen Textes hinaus, die im Zuge des slavischen Funktionalismus in der Literaturwissenschaft eigentlich überwunden sein müsste. Hier nun der Versuch einer formanalytisch fundierten Deutung des Gedichts. Mit der ersten Zeile des Gedichtes wird sofort klar, dass es sich nicht lediglich um ein Vorwort in Versen für den Gedichtband handelt, sondern um ein Widmungsgedicht. In einer großen Apostrophe widmet der Dichter in bewusst paradoxalem Widerspruch zum Titel den Gedichtband dem „nicht Geretteten“. Widmungsgedichte stehen in der Tradition der Barockdichtung. Ihre Funktion wird jedoch hier dem veränderten kulturellen Kontext entsprechend verändert. War im Barock der Herrscher oder Mäzen derjenige, der mich in der Zeit kultureller Unübersichtlichkeit verstand, mich stützte, mir antwortete, so ist hier die Widmung an diejenigen gerichtet, die mich nicht verstehen, ja nicht einmal verstehen könnten, selbst wenn sie noch lebten. Die Widmung ist eine Rechfertigung der Dichtung den Früheren zum Trotz, ist eine Lossprechung von ihnen, wie die Pointe in der letzten Zeile klarstellt, die die ganze Zweideutigkeit der Apostrophe enthüllt: ein Buch für oder gegen den früh Verstorbenen? Sowohl als auch! Die erste Strophe von Przedmowa erfüllt weitgehend eine phatische Sprachfunktion. Das macht sie aber nicht weniger aufschlussreich. Das lyrische Ich sucht den durch den Tod radikal Abwesenden zu erreichen, 9 und das Widmungsgedicht greift damit eine Kommunikationssituation auf, die wir aus der Tradition der Totenklage und dann aus der Friedhofspoesie des englischen Sentimentalismus kennen. Diese Friedhofspoesie evoziert auch das Ende der dritten Strophe: …twój grób, Dein Grab, Kiedy rozmawiam z tobą. Wenn ich mit dir spreche Die Funktion dieser Kommunikationssituation und damit auch der entsprechenden lyrischen Gattungen liegt darin, dass wir den Verstorbenen etwas schuldig geblieben sind, das uns zwingt, eine Kommunikation mit ihnen zu simulieren, um uns von dieser Schuld zu befreien. Insbesondere den Sentimentalismus charakterisiert eine schuldbewusste Haltung des Erzählers bzw. des lyrischen Ich. Ein solches Schuldbewusstsein bringt auch die erste Zeile zum Ausdruck: Ty, którego nie mogłem ocalić. Du, den ich nicht retten konnte 8 Ich selbst sah mich 2003 in einem Gespräch mit Miłosz über das Gedicht Campo de fiori dem Vorwurf der Überinterpretation ausgesetzt. Warum kann ein Dichter nicht sagen: Großartig, was alles in meinem Gedicht steckt, ohne dass mir das klar war! 9 Vgl. zur radikalen Abwesenheit des Anderen auch das Gedicht Kawiarnia im Zyklus Głosy biednych ludzi. <?page no="95"?> 95 In einem weiten Bogen wird im Verlauf des Gedichtes dieses Schuldbewusstsein abgebaut, bis wir in der letzten Zeile bei der Befreiung ankommen: Abyś nas odtąd nie nawiedzał więcej. Damit du uns von jetzt an nicht mehr heimsuchst. Die zweite Zeile der ersten Strophe spielt auf Konrads langen Monolog, die so genannte „große Improvisation“ in Dziady an, die lautet: Ty Boże, ty naturo! dajcie posłuchanie. 10 Du Gott, du Natur! Leiht mir euer Ohr. In ihr wird ebenfalls die Kommunikation mit einem radikal Abwesenden gesucht. Wie Konrads Monolog in Dziady ist der lyrische Monolog von Przedmowa durch und durch innerlich dialogisiert im Sinne Bachtins, d.h. das Lyrische Ich ringt mit einem imaginären Du, mit dessen impliziten Einwänden, mit dessen impliziter Sichtweise. So erwartet der imaginäre Adressat offenbar eine „verwickelte Rede“ (mowa zawiła), da sich das lyrische Ich für seine „einfache Rede“ (mowa prosta) rechtfertigt. Der imaginäre Adressat glaubt außerdem, dass das lyrische Ich über Wort-Zauber (czarodziejstwo słów) verfügen könnte. Diese imaginären Einwände verweisen auf einen Disput über die Form der poetischen Rede. Nach der Katastrophe ist Wortzauberei, ist die in Polen so beliebte barocke Stilisierung der Rede 11 ausgeschlossen. Das bedeutet jedoch keinen Verzicht auf rhetorische Mittel. Ausgeschlossen ist lediglich die Stilisierung als Selbstzweck, nicht das semantisch funktionale rhetorische Verfahren. Ausgeschlossen ist die poetische Rede um des Redens willen, nicht die kommunikativ an einen Adressaten gerichtete Rede. Gleichwohl wird die poetische Rede sogleich zum Problem, das durch das Paradoxon „ich spreche schweigend zu dir“ (mówię do ciebie milcząc) ausgedrückt wird. Poetische Rede spricht nicht im eigentlichen Sinne kommunikativ, sie transportiert keine „Botschaft“ zu einem „Empfänger“ sondern sie lässt, selbst schweigend, die Formen sprechen, die sie evoziert, Formen der Dinge, aber auch rhetorische Formen. Nicht zufällig wählt Miłosz hier als Beispiele gerade Wolken und Bäume aus - komplex geformte Phänomene, die durch Eigentümlichkeiten ihrer Gestalt Assoziationen hervorrufen. Die Wolken, die wir bereits als ein Leitmotiv in Miłoszs Werk kennengeklernt haben, evozieren hier sinnliche Fülle und die Semantik der Form. Diese Semantik wahrzunehmen, appelliert das lyrische Ich hier weniger an seinen imaginären als vielmehr an seinen realen Adressaten, den Leser des Gedichtes. 10 Adam Mickiewicz, Dzieła poetyckie, tom 3: Utwory dramatyczne, S. 155 (Dziady III, scena 2, Vers 25). 11 Zu dieser Tendenz in der polnischen Literatur s.u. S. 117-118. <?page no="96"?> 96 Die zweite Strophe wird von Antithesen beherrscht, die das lyrische Ich in einen Gegensatz zu seinem Adressaten stellen. Unterstrichen werden diese Antithesen durch Chiasmen der ersten und vierten Zeile: To, co wmacniało mnie, dla ciebie było śmiertelnie. Das, was mich stärkte, war für dich tödlich. Siłę ślepą za dokonany kształt. Blinde Gewalt für perfekte Gestalt. Die Chiasmen rahmen die Parallelismen der zweiten und dritten Zeile ein. Außerdem werden die Antithesen durch die Ellipse verstärkt, mit der „brałeś“ zweimal ausgelassen wird. In den Antithesen steckt der Vorwurf, dass die polnischen Dichter 1939 zu der in der Zwischenkriegszeit eigentlich bereits überwundenen Haltung der polnischen Romantik zurückgekehrt sind. Die nationale, gegen die fremden Unterdrücker gerichtete „engagierte“ Poetik der „Inspiration des Hasses“ (natchnienie nienawiści), die 1939 wieder aufflammte, war aber literaturgeschichtlich betrachtet nur ein letzter Abschied (von der Romantik) und kein Beginn einer neuen Epoche. Wir können nun in der fünften Strophe das Eingeständnis erblicken, dass das lyrische Ich selbst einst „keine gute Dichtung [schaffen] konnte“, dass es mithin selbst zu jenen - kritisierten - Dichtern zählt, die nicht zu retten waren, d.h. metonymisch gesprochen, deren Werk nicht zu retten war, weil es der Vergangenheit angehört. Dem Lyrischen Ich wurde jedoch im Unterschied zu jenen anderen, gestorbenen, die Erlösung (wybawienie) einer zweiten Geburt, die zweite Chance einer Identität als Dichter zuteil. Die Opposition „Siłę ślepą“ und „dokonany kształt“ kritisiert eine Geschichtstheorie, nach der wir (hegelianisch oder marxistisch) Objekte einer teleologischen Ordnung der Geschichte sind, doch wenn wir wirklich Objekte und nicht auch Subjekte der Geschichte sind, dann enthält die Geschichte keine Ordnung, sondern nur blinde Gewalt. Die dritte Strophe stellt Äquivalenzen durch Parallelismen her, die allerdings durch Enjambements phasenverschoben werden: sowohl „Oto“ als auch „I…“steht je einmal am Zeilenanfang und das andere Mal markiert es in der Mitte der Verszeile einen verstechnisch irregulären Satzanfang - irregulär, weil Miłosz allgemein zum Satzvers tendiert, also asyntaktische Zeilenumbrüche vermeidet. Durch die Phasenverschiebung entsteht eine Spannung zwischen Ordnung und Chaos, die wir auch auf der thematischen Ebene wiederfinden. Die Brücke, die verbindendes und damit Ordnung stiftendes Element ist, bricht am Versende ab und findet auch in der nächsten Zeile nicht das andere Ufer. „Miasto złamane“ ist hinsichtlich der Ordnung ein Oxymoron, denn „miasto“ impliziert zivilisatorische Ordnung. Das Enjambement wird an dieser Stelle durch eine Assonanz „übertönt“: „miasto złamane I wiatr skwirami mew“. <?page no="97"?> 97 „Skwirami mew“ ist ein onomatopoetischer Ausdruck, und die Assonanz suggeriert eine Ausdehnung der evozierten Geräusche auf den złamane miasto. Indem Wind und Möwen von der Stadt Besitz ergriffen haben, machen sie sie zu einer Felsenlandschaft, und dadurch wird die Stadt von einem zivilisatorischen Phänomen zu einem Phänomen der Natur. Die „dolina płytkich polskich rzek“ enthält nicht nur eine l-Assonanz, sondern spielt zugleich auf das Gedicht W mojej ojczyźnie an, in dem es heißt: „I płytkich wód szept…“. Miłosz evoziert hier wie dort einen Polen- Topos, die Synekdoche einer typischen polnischen Landschaft. Sie hat aber in den beiden Gedichten eine unterschiedliche Funktion. In W mojej ojczyźnie steht der Topos noch ganz in der Tradition der romantischen Anthropomorphisierung und Psychologisierung der Natur. In Przedmowa dagegen steht der Topos im direkten Kontext der zerstörten Stadt, der zerstörten Zivilisation und evoziert darum eine Renaturierung Polens: Warschau als Flusslandschaft! 12 Die in den Nebel verschwindende Brücke ruft den Topos des Weges ins Jenseits und damit erneut die Kommunikationssituation mit dem Verstorbenen auf. Das lyrische Du steht an der anderen Seite des Flusses, unsichtbar, und man könnte dieses Bild der kommunikativen Situation metapoetisch deuten - die Brücke über den Fluss zum entschwundenen Anderen ist die Dichtung. Weiterhin wird in dieser Strophe durch den Gegensatz zwischen dem Schrei des Tieres und dem menschlichen Gespräch, der durch die lautliche und positionelle Äquivalenz der Worte „I wiatr Skwirami mew…“ und „rozmawiam“ auch formal betont wird, die Opposition zwischen Natur und Kultur evoziert. Die Metaphorik und Metonymik der Zeile „I wiatr Skwirami mew obrzuca twój grób“ konkretisieren diese Opposition. Die Metapher „Wiatr…obrzuca twój grób“ antropomorphisiert den Wind, lässt ihn das lyrische Du beschimpfen wie eine höhnende Menschenmenge, zu der das Gespräch des lyrischen Ich die Alternative bildet. Die Metonymie „wiatr skwirami mew obrzuca“ konkretisiert die Beschimpfung als lautes Geschrei einer Menge, wobei die Möwe als Raubvogel evoziert wird. Die Äquivalenz akzentuiert also auch den Gegensatz zwischen dem öffentlichen Geschrei der Vielen und der intimen Zuwendung (rozmawiam) des Einzelnen. Die erste Zeile der vierten Strophe offenbart gemeinsam mit der ersten Zeile des Gedichtes eine Zweideutigkeit im Begriff der Rettung. Der Dichter konnte nicht retten, aber eine Dichtung, die nicht rettet, ist in einem dreifachen rhetorischen Parallelismus der Bürokratenlüge, dem Säuferlied und 12 Eventuell liegt auch eine Allusion auf das Gedicht „Epitafium Rzymowi“ von Mikołaj Sęp-Szarzyński vor. Dort ist das antike Rom eingeebnet, nur der Tiber zieht unverändert seine Bahn zum Meer. Vgl. dazu unten S. 197. <?page no="98"?> 98 dem Poesiealbum gleichgestellt, also in seiner kulturellen Funktion radikal in Frage gestellt. Der Parallelismus enthält eine semantische Äquivalenz, die eine Typologie schlechter Dichtung zum Ausdruck bringt: schlechte Dichtung ist entweder verlogen, weil offiziell-öffentlich (współnictwo urzędowych kłamstw), oder sie ist zwar ehrlich, aber naiv-unreflektiert (Czytanka z panieńskiego pokoju), oder sie ist ehrlich, aber degeneriert-nihilistisch (piosenka pijaków). Eine ehrliche, reflektierte, dabei aber nicht nihilistische Dichtung ist Miłoszs Ideal. Die Kritik der vierten Strophe richtet sich also nicht gegen Dichtung im Allgemeinen. Sie lässt aber die Frage offen, wodurch Dichtung zu retten vermag. Diese Frage wird durch die fünfte Strophe beantwortet. Hier wird auch die Zweideutigkeit im Begriff der Rettung aufgelöst, indem der Begriff „wybawienie“ eingeführt wird, der auf den ersten Blick mit „ocalenie“ synonym zu sein scheint. Die positionelle Äquivalenz der Wörter „nie umiejąc und „ocalenie “ , zwischen denen das „wybawczy cel“ steht, macht klar: das lyrische Ich war früher nicht in der Lage, zwischen wybawienie und ocalenie zu unterscheiden, denn es hielt gute Dichtung im pragmatischen Sinne für sein Ziel, Dichtung, die für das Gute ist. Doch das Werben für das Gute macht nicht nur keine gute Dichtung, sie kann auch die Welt nicht besser machen und niemanden retten. Damit offenbart sich die Ambivalenz im Begriff „Dobra poezja“ - wer das Gute will, schreibt noch lange keine gute Dichtung. Die fünfte Strophe ist durch den syntaktischen, lautlichen und semantischen Parallelismus to, że chciałem, to, że...pojąłem, to jest…ocalenie das, was ich wollte, das, was ich ... begriff, das ist … die Rettung rhetorisch geformt. Sein dreifaches, durch die Geminatio „to jest i tylko to jest“ eigentlich sogar vierfaches „To“ greift das „To“ der zweiten Strophe und das zweifache „Oto“ der dritten Strophe auf. In Bezug auf die zweite Strophe verweist es darauf, dass das Wichtigste und Wesentliche zwischen dem lyrischen Ich und seinem Adressaten strittig ist. Der Bezug auf das „Oto“ der dritten Strophe macht klar, dass das „Rettungsziel der Dichtung“ (wybawczy cel poezji) in keinem Gegensatz zu dem steht, was Miłosz als „objektive Poesie“ bezeichnet und was den Kern seiner dichterischen Sprache ausmacht - die sinnliche Wahrnehmung der dinglichen Welt. Wenn hier die „Rettung“ liegen soll, dann darf diese sinnliche Wahrnehmung kein Selbstzweck sein. Vielmehr muss erkannt werden, dass sinnliches Wahrnehmen bereits bedeutet, angesprochen zu werden, dass die Dinge gerade in ihrer sinnlichen Konkretheit zu mir sprechen, so wie die Wolke und der Baum in der ersten Strophe zum Adressaten. Darum heißt es am Schluss der dritten Strophe „Kiedy rozmawiam z tobą“ - denn eigentlich sprechen zu dir, wenn ich (dichterisch) zu dir spreche, die sinnlich wahrgenommenen <?page no="99"?> 99 Dinge, die meine Gedichte evozieren. Das „To“ bzw. „oto“ am Anfang der zweiten, dritten und fünften Strophe steht außerdem insgesamt dem „Ty“ am Anfang der ersten Strophe gegenüber. „To“ und Ty bilden hier ein phonologisches Minimalpaar, dessen semantische Opposition suggeriert: letztlich geht es nicht um dich, sondern um das. Nicht du musst gerettet werden, sondern das muss gerettet werden, und nur wenn das gerettet wird, dann bist auch du gerettet, nicht umgekehrt. Das Gedicht ist also voller Verfahren der klassischen Rhetorik. Die Rhetorik ist dabei aber kein Wirkungsverstärker für Redeinhalte. Sie ist selbst zutiefst semantisch. Der Parallelismus des vierfachen „To“ formt die fünfte Strophe wie einen philosophischen Syllogismus, der durch die Gegenüberstellung von „ich wollte“ (chciałem) und „spät begriff ich“ (późno pojąłem) eine zeitliche Dimension erhält. Die semantische Dimension der Assonanz zwischen „ocalenie“ und „cel“ unterstreicht den Gegensatz zwischen individuellem Wollen des lyrischen Ich und objektiver kultureller Funktion der Dichtung. Die Geminatio „to jest i tylko to jest“ schließlich verschafft dem „to“ jene maximale semantische Energie, mit der Miłosz 55 Jahre später den Titel seines fulminanten Gedichtbandes „TO“ ausstatten wird. Das substanzlose „To“, das seine Semantik nur noch aus seiner deiktischen Kraft gewinnt, verweist auf das Wirkliche und dennoch Unbenennbare, auf das zu zeigen die Aufgabe der Dichtung ist, ihre Rettungsaufgabe. Die sechste und letzte Strophe nimmt Bezug auf den slawischen Brauch, zu Ostern am Grab des Verstorbenen zu essen und die Krümel für die Vögel auf das Grab zu streuen. Der am Grab des lyrischen Du abgelegte Gedichtband tritt in eine Analogie zu diesen Krümeln, die als mak (Mohn) und proso (Hirse) konkretisiert werden. Hirse als ältestes Getreide der Menschheit und Mohn als Nationalblume Polens konnotieren dabei historische Tradition. Außerdem verweist mak hier auf das Gedicht Przypowieść o maku (Die Geschichte vom Mohn) aus dem Zyklus Świat (poema naiwne), in dem in Anlehnung an barocke Emblemata der Mikrokosmos einer Mohnkapsel zum Bild des Universums wird, das Mohnkorn zum Planeten, der Hund, der den Mond anbellt, zum Symbol des in seiner individuellen Welt befangenen Menschen und der Dichter zum Kind, das mit feinem Ohr die Hunde auf den verschiedenen Planeten des Universums bellen hört, also als einziger Mensch nicht auf sein „kleines Haus auf dem Mohnkörnchen“ (mały dom na ziarnku maku) beschränkt ist. Przedmowa greift diese Fähigkeit des Dichters auf - er kann mit den Seelen der Verstorbenen Kontakt aufnehmen. Dieser Kontakt ist jedoch ambivalent, und an dieser Stelle kehrt Miłosz zu Mickiewicz zurück. Die Zeile „Damit du uns nie wieder heimsuchst “ spielt auf die Wilnaer Dziady an und zieht eine Analogie zwischen der Situation des lyrischen Ich und dem Friedhofsritual zu Allerseelen. Die Ahnen werden beschworen, um sie zu erlösen, doch einem der Besucher aus dem Jenseits ist nicht zu helfen: <?page no="100"?> 100 Nie ma, nie ma dla mnie rady! Darmo podajesz talerze, Co dasz, to ptastwo zabierze. Nie dla mnie, nie dla mnie Dziady! Tak, muszę dręczyć się wiek wiekiem, Sprawiedliwe zrządzenia Boże! 13 Für mich gibt es keinen, überhaupt keinen Rat! Vergeblich stellst du Teller hin, Was du hinstreust, das fressen die Vögel. Nicht für mich, nicht für mich ist Allerseelen! So muss ich mich quälen jahrhundertelang, Gerecht sind die Fügungen Gottes! Das untote Wesen aus Dziady II, das die Friedhofsbesucher beschwören, wird in Przedmowa zum „nicht Geretteten“, der das Gewissen der Nachkommen belastet. Das lyrische Ich des Gedichtes will mit der Gabe des Gedichtbandes Ocalenie diese polnische Gewissenslast abwerfen, die bereits hundertzwanzig Jahre dauernde polnische Ahnenfeier soll endlich zu Ende gehen. Aufschlussreich ist der Vergleich von Przedmowa mit den Gedichten Ocalony und Do umarłego aus dem 1947 erschienenen Gedichtband Niepokój von Tadeusz Różewicz. Do umarłego thematisiert das psychologische Faktum der Verdrängung und inszeniert damit einen Akt der Selbsterkenntnis. Daran ist aber kein Moment des Dialoges, und so wird der dialogische Titel durch den selbstbezogenen Text des Gedichtes wieder aufgehoben. Die Verdrängung wird durch den Akt der Erkenntnis, den das Gedicht inszeniert, gerade nicht beseitigt, wie die Pointe des Gedichtes deutlich macht: Oto są moje sprawy. Żyję Das ist meine Sache. Ich lebe I nic mi nie jest tak obce Und nichts ist mir so fremd jak ty umarły Przyjacielu. Wie du gestorbener Freund. Man könnte meinen, hier sei das gleiche ausgesagt wie in der Pointe von Przedmowa: „Damit du uns von nun an nicht mehr heimsuchst“. Ich bin nicht dieser Meinung. Bei Miłosz ist die Haltung des lyrischen Ich auch in dieser Pointe noch dialogisch. Auf die „Heimsuchung“ (nawiedzienie) durch den „Früheren“ (dawny) antwortet das lyrische Ich mit dem Buch Ocalenie. Bei Różewicz dagegen soll das eigene Leben „nach der Katastrophe“ explizit nichts mehr mit der früheren Existenz und dem Tod des „Verstorbenen“ zu tun haben. Die Last der Erinnerung wird abgeschüttelt, das lyrische Ich stellt sich taub gegen die Stimme aus dem Jenseits. 13 Adam Mickiewicz: Dzieła poetyckie, t. 3, Warszawa 1982, Utwory dramatyczne S. 26 (Dziady II Vers 320-325). <?page no="101"?> 101 Różewiczs Gedicht Ocalony ist ähnlich stark rhetorisch geformt wie Miłoszs Przedmowa. Ocalony ist jedoch Ausdruck eines extremen Skeptizismus. Miłosz macht in Przedmowa einen Unterschied zwischen tierischem Geschrei und menschlichem Dialog, während Różewicz angesichts der Gräuel des Krieges zwischen Mensch (człowiek) und Tier (zwierzę) keinen Unterschied mehr sieht. Zweifellos ist die Haltung des lyrischen Ichs bei Miłosz reifer - gerade angesichts des tierischen Geschreis muss der Dialog wieder möglich werden. Auch sieht Różewiczs lyrisches Ich hinter den Worten keine Realität, während sich Miłoszs lyrisches Ich bemüht, für die ihn bedrängende Realität Worte zu finden. Różewiczs lyrisches Ich sucht nach einer Instanz, die für ihn den Unterschied zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Licht und Finsternis wieder herstellt. Miłoszs lyrisches Ich weiß, dass es selbst zu einer solchen Instanz heranreifen muss. Damit ist Różewiczs lyrisches Ich 1945 noch nicht erwachsen geworden, es ist unreif, während Miłoszs lyrisches Ich die Verantwortung der Stunde null auf sich nimmt, die Verantwortung einer Generation, die die Verstorbenen nur retten kann, indem sie selbst das Wort ergreift und in einen Dialog mit der Vergangenheit eintritt. Różewiczs lyrisches Ich verdrängt die Vergangenheit, während Miłoszs lyrisches ich sie im simulierten Dialog verarbeitet. Darum wird Różewiczs lyrisches Ich die Gespenster der Vergangenheit nicht so schnell loswerden, während die Toten bei Miłosz nicht mehr herumspuken müssen - sie dürfen am Ende in Frieden in ihren Gräbern ruhen. Das Moralische Traktat ( Traktat moralny ) im Kontext der Neoavantgarde Miłosz bezeichnet in einer kommentierten Edition in der Reihe Lekcja literatury 14 sein Moralisches Traktat (Traktat moralny, 1947) als Reflexion über die Geschichte, zugleich also über den kulturgeschichtlichen Kontext seines Werkes, seiner Überzeugungen, seiner Ideale. Ich mochte im weiteren Miłosz’ Zeitdiagnose etwas deutlicher machen - beklagen sich doch in Lekcja literatury selbst die Literaturwissenschaftler und Kenner seines Werks Aleksander Fiut und Andrzej Franaszek bei dem Dichter über die Dichte des Traktats, wodurch es sehr schwer zu verstehen sei, und löchern ihn mit Fragen von der Art, was er an verschiedenen Stellen des Traktats eigentlich habe sagen wollen, was indes auch nicht weiter hilft, denn ein Dichter interpretiert sich selbst nicht gern. Ferner möchte ich auch das nach der Diagnose ausgestellte Rezept des Dichters ergründen. Dazu ermuntert Miłosz selbst, der die Arzt- Metaphorik scherzhaft in Vers 390-94 bemüht. 14 Traktat moralny. Traktat poetycki. Lekcja literatury z Czesławem Miłoszem, Aleksandrem Fiutem, Andrzejem Franaszkiem, Krakow 1996. Diese Ausgabe enthält sowohl „Traktat moralny“ (1947) als auch „Traktat poetycki“ (1957). <?page no="102"?> 102 Die Auseinandersetzung um die Geschichte, das wird schnell klar, wird im Wesentlichen mit der Miłosz zeitgenössischen Avantgarde geführt, Avantgarde im weiteren Sinne, verstanden als die kulturelle Dominante des 20. Jahrhunderts von der klassischen Avantgarde bis zur Postmoderne. So bekennt Miłosz denn auch in seinem Autokommentar in Lekcja literatury, Traktat moralny sei wie auch das Poetische Traktat (Traktat poetycki, 1957) gegen die Avantgarde gerichtet. Implizit erscheint die Avantgarde in Traktat moralny als Krankheit der Epoche. Sie verbindet sich mit den Zeiterscheinungen der Massenvernichtung und der Schizophrenie, sie wird diagnostiziert an der Hypertrophie der reinen Form, an dem Verlust des Kontakts zur Realität und an der spitzfindigen Raffinesse als Selbstzweck. Explizit wird die Avantgarde in Vers 266 im Kontext von Motiven wie der Namenlosigkeit des Bösen, der Verharmlosung des Mordes, der Instrumentalisierung des Menschen und der Persönlichkeitsspaltung genannt. Schon durch die Wahl des Stils, der Gattung und des Versmaßes ist Traktat moralny eine Provokation für die ästhetischen Maßstäbe der Avantgarde. Wenn Miłosz des Neoklassizismus bezichtigt wird, dann aufgrund von Werken wie diesem: Mit der Gattung des versifizierten Essays, dem leicht humorvollen, leicht didaktischen Tonfall, mit den im vierfüßigen Jambus gehaltenen Versen und mit seinen Paarreimen wirkt Traktat moralny als reinste überhaupt mögliche Stilisierung des Klassizismus. Dafür gibt es zwei Erklärungen, die aber beide nicht befriedigen. Die eine führt Miłosz’ klassizistische Neigungen in dieser Zeit auf den Einfluss von Tadeusz Juliusz Kroński zurück, der eine ganze Theorie der sogenannten klassizistischen Revolution entwickelt hat. Doch offen bleibt dann die Frage, warum Kroński seinerseits eine solche Theorie entwickelt hat und warum sie bei Miłosz auf so fruchtbaren Boden fiel. Die andere Erklärung gibt Miłosz selbst. Die Avantgarde habe die Versdichtung auf die Gattung der Lyrik verengt, er wollte verlorenes Territorium für versifizierte Texte zurückerobern. Doch das muss auch funktionieren, die Gattungsgrenzen kann man nicht willkürlich verschieben, die Einheit von Form und Inhalt könnte verlorengehen, der Text könnte zur bloßen Stilisierung werden. Eine Stilisierung aber ist Traktat moralny nicht. Es ist, in der gewählten Form, eine Antwort auf die im Text selbst erhobene Forderung nach Einheit von Form und Botschaft, von sinnlicher Gestalt und Argument. So ist das Traktat selbst das Beispiel für die in Vers 49-54 geforderte „musikalische Wissenschaft“ (wiedza muzyczna). Darunter versteht Miłosz ein im Unterschied zur wissenschaftlichen Abstraktion an der Anschauung geschultes, von der Wirklichkeit sinnlich berührtes Wissen. Darum wird der sinnlich konkrete Kontakt zur Wirklichkeit in Traktat moralny nicht nur theoretisch gefordert, sondern durch den Reim von „styczna“ (Berührung) auf „muzyczna“ (musikalisch) in der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt des Traktats auch poetisch realisiert. <?page no="103"?> 103 Das Auseinanderfallen von sinnlichen und gedanklichen Qualitäten in Wissenschaft und Literatur ist in Miłoszs Diagnose eine der Folgen der allgemeinen Krankheit des 20. Jahrhunderts - der Schizophrenie. Ein Symptom dieser Krankheit ist die Spaltung in rein sinnlich wirkende Dichtung auf der einen und rein intellektuell argumentierende Manifeste auf der anderen Seite. Dies ist ein typisches Merkmal der klassischen literarischen Avantgarde, denn nicht nur die bloß theoretisch formulierte Methode unterliegt der Kritik, sondern auch ihre Kehrseite, die Miłosz in Lekcja literatury „Hypertrophie des Stils“ nennt. Im „Traktat moralny“ heißt es vom Stil, er verneble und verhülle die Wirklichkeit, das heißt das pure Ereignis. Der Stil als Sprachspiel erscheint metaphorisch als bloßer Kokon, der nach Miłosz’ Auffassung bis auf den Kern abgewickelt werden müsste, und den er „poczwarka zdarzeń“ (Puppe der Ereignisse) oder „gwiazda przeobrażeń“ (Stern der Wandlungen) nennt. Die Aufgabe, diesen Faden abzuwickeln, verknüpft Miłosz mit dem von den Parzen gesponnenen Lebensfaden: „Tu es, solange deine Tage noch nicht zu Ende sind” (Czyń, poki dni ci się nie skończą, V. 48), das heißt das Leben steht vor einer Aufgabe, es soll nicht lediglich „abgewickelt“ werden. Den Kern, der nach dem Abwickeln erscheint, konnte und wollte die Avantgarde nicht finden, ja, er ist bei ihr selbst gespalten, denn die sinnlichgedankliche Einheit des Menschen, die auch Grundlage von jeder Art moralischem Bewusstsein ist, ist verlorengegangen. Nicht durch die Atomkernspaltung droht die Menschheit unterzugehen, sondern durch die Persönlichkeitsspaltung. Oder, von der Ebene der Dichtung aus betrachtet: die Gefahr, die von der Atomkernspaltung ausgeht, ist zugleich ein Bild für die Dissoziation der Persönlichkeit. Miłosz verwendet dafür auch das Bild einer Trennung von Wurzel und Blüte. Dieses Symbol verweist philosophisch auf die Trennung zwischen dem, was uns vorausliegt, was wir mit den Wurzeln aufnehmen, worin wir mit unseren Wurzeln verhaftet sind, was uns nährt, und dem, was unseren Zielen, Absichten, unserem Gestaltungswillen nach von uns ausgeht, das heißt es verweist auf den avantgardistischen Kult um den Bruch, den Neuanfang, die Voraussetzungslosigkeit des Menschen. Kommunikationstheoretisch verweist es auf das Senden (Blüte) ohne zu empfangen (Wurzel), wie es von der klassischen Avantgarde vorgemacht und in der Massenkommunikation dann allgemein verwirklicht worden ist, einer Massenkommunikation, die von der Avantgarde-Dichtung zum Teil auch verherrlicht wurde. Moralisch verweist diese Schizophrenie auf die Trennung von Tat und Verantwortung - „das vollziehe nicht ich, sondern jemand anders“ (spełniam nie ja, a ktoś inny), wie sie im 20. Jahrhundert in der Kunst durch die Trennung von Autor und Werk und politisch im Stalinismus und Nationalsozialismus verwirklicht wurde. Aber warum ist die Schizophrenie eine Krankheit der Avantgarde? Die Zuordnung von psychischen Krankheiten zu <?page no="104"?> 104 Epochen, von psychologischen zu soziologischen Befunden erscheint zumeist als Metaphorik mit hohem Grad von Willkür, wenn ihr eine funktionale Begründung fehlt. Miłosz gibt uns jedoch einige Anhaltspunkte, wie die Verknüpfung von Kulturgeschichte und Persönlichkeitsstruktur begründet werden kann. So beginnt Miłosz’ Auseinandersetzung mit der Geschichte, nach einer kurzen „Invokation des Kritikers“, mit der Aufzählung alter Mythen, mit denen wir heute nicht mehr im alltäglichen Umgang und damit nicht mehr in der Selbstverständlichkeit ihrer Geltung leben. Sie eignen sich darum nicht mehr zur Erklärung des 20. Jahrhunderts. Miłosz empfiehlt in Bezug auf sie die „Disziplin der Eliminierung“, also im Grunde dasselbe, was die Praxis der Avantgarde war. Doch er verweist, anders als die Avantgardetheoretiker, auf die „menschliche Spur“ in den alten Legenden, das heißt auf die überzeitlichen menschlichen Konstanten als ihren unzerstörbaren Kern, und er verweist auf die „heutigen Märchen“, die nunmehr unserer Aufmerksamkeit würdig sind. Mit Skyles (sog. Barbarenzeit zum Altertum) Hypatia (Antike zum Mittelalter) und den Opfern der Hexenprozesse von Salem (Mittelalter zur Neuzeit) werden Opfer tiefgreifender kultureller Umbrüche aufgezählt. Der kulturelle Umbruch, mit dem wir es im 20. Jahrhundert zu tun haben, ist seiner Größenordnung nach mit diesen Zeitenwenden zu vergleichen. Er besteht bislang wesentlich in einem Funktionsverlust der alten kulturellen Mythen. Die dadurch heraufbeschworene Krise entlädt sich in Gewalt gegen die Träger des nunmehr „falschen“ Mythos. In der letzten Etappe des Abbaus der alten Mythen - Lyotard hat sie die „großen Erzählungen“ genannt - kommt es zum vorübergehenden Verlust von Weltbezug und Weltverstehen, analog zum Verlust der Bindung des Individuums an die Welt in der schizoiden Phase seiner Entwicklung. Das führt soziologisch zur Dissoziation der Gesellschaft, wie es individuell zur Dissoziation der Persönlichkeit führt. Wenn dies, wie Miłosz meint, ein historischer Prozess ist, dann weist er eine gewisse Zyklizität oder Regelkreisstruktur auf, deren notwendige letzte Phase jeweils die Einebnung, Vernichtung, die Liquidation ist - alles Umschreibungen von Miłosz für „unsere Epoche“. Die Einebnung der alten mythischen Ordnung zerstört die kulturellen Filter, die uns, wie die Ozonschicht der Erde unsere Haut, vor dem Terror durch die Wirklichkeit schützen. Die damit erreichte „sinnliche Unmittelbarkeit“ kann man wie die Avantgarde zunächst einmal als Befreiung feiern. Die Philosophen des Existenzialismus, die Miłosz in Traktat moralny in extenso zitiert und kritisiert, haben jedoch erkannt, dass wir damit der Welt total ausgeliefert sind. Was der Existenzialismus zur condition humaine erklärt hat, der Zustand absoluten Terrors durch die Wirklichkeit und der absoluten Vereinzelung des Menschen (Miłosz zitiert auf Franzosisch: „être pour soi“), ist jedoch ein Phänomen des Epochenübergangs. Er stellt sich <?page no="105"?> 105 zwar unumgänglich her, aber es ist dann die neue kulturelle Aufgabe, ihn zu überwinden. Der Existenzialismus sieht diese Perspektive nicht und wurde darum zur metaphysischen Rechtfertigung der Avantgarde. An dieser Haltestelle, so Miłosz sinnig, möchte er jedoch noch nicht aussteigen. Mit anderen Worten, die Avantgarde muss in seinen Augen nicht gerechtfertigt, sondern überwunden werden. Die ambivalente Rolle des Schriftstellers, der zugleich einebnen und wiedererschaffen soll, fasst Miłosz in das paradoxe Bild des fröhlichen, hoffnungsvollen Totengräbers. Damit parodiert er auch sein eigenes katastrophistisches Werk der Vorkriegszeit - seine eigene Spielart der Avantgarde. Eine Hoffnung auf den Frühling, der aus der eingeebneten kulturellen Welt neue Blüten wachsen lässt, war aus der damaligen Perspektive schimärisch: „Und Frühling gibt’s nicht. Immer Dezember“ (A wiosny nima. Zawsze grudzień) heißt es in Traktat moralny. Damit spielt Miłosz ironisch auf den Titel Trzy zimy, d.h. „Drei Winter“ seines letzten Lyrikbandes vor dem Krieg an, mit dem der (kulturelle) Winter gleichsam perpetuiert wurde. Wichtiger noch als der Winter sind zwei andere symbolische Umschreibungen für die Avantgarde. Zum einen die Sintflut. Hier ist Gott der fröhliche Totengräber, der alles einebnet für einen totalen Neuanfang. Der Neuanfang kann, so Miłosz, jedoch nicht voraussetzungslos erfolgen, und so lädt er seinen Adressaten auf die Arche ein, auf der „Der Schatz durch die Finsternis hindurch getragen wird, ein Schatz, über den dann von neuem Lieder geschaffen werden“ (Vers 79-80 und 101-102). Nach dem Ende der Sintflut gibt es keine Rückkehr, man landet an einem neuen Ufer, ein neuer Bund wird geschlossen - hier zitiert Miłosz das biblische Symbol des Regenbogens - und die Taube bringt den Ölzweig, das Symbol für neues Leben. Der überschwemmte Wald als neue Zutat zur biblischen Pictura evoziert Vorstellungen vom erdgeschichtlichen Altertum. Auf welche Weise der Dichter hier als Arche fungiert, möchte ich am Schluss dieses Kapitels andeuten, wenn Miłosz’ Anfangsfrage „Wo ist, O Dichter, die Rettung? “ erörtert wird. Hier sei zunächst auf die zweite symbolische Umschreibung der Avantgarde in Traktat moralny hingewiesen - die babylonische Sprachverwirrung. Babel und der babylonische Turm tauchen im Werk von Miłosz ebenfalls immer wieder auf. In Traktat moralny liegt der Akzent auf der inneren Sprachverwirrung des Menschen, auf die Miłosz auch in Lekcja literatury verweist. Unser „inneres Babylon“ heißt Allmacht der Wörter und wird mit Schizophrenie bestraft. Es fehlt nun nicht an Taktiken, der Avantgarde zu entgehen, die aber allesamt von Miłosz zurückgewiesen bzw. satirisch dargestellt werden. Da ist als erstes der Zynismus zu nennen (V. 347-350), die Gleichgültigkeit der inneren Reserve, die Miłosz vor allem den Schriftstellern unterstellt. Sie ist letztlich nichts anderes als Feigheit: „Aber mit guter Miene zum bösen Spiel / spazieren mit Sicherheit nicht die Löwen“ (A z dobrą miną do złej gry / <?page no="106"?> 106 Na pewno nie chadzają lwy). Die Flucht in die geistige Isolation, also ein Ausharren in einer Art modernem Eremitentum, empfiehlt Miłosz gleichfalls nicht. Der Versuch, auf diese Weise dem Wahnsinn zu entgehen, führt allererst in den Wahnsinn, den Miłosz als Begegnung mit dem Teufel umschreibt. Nicht von ungefähr werden in dem Traktat Dostojewskijs Karamasov-Brüder erwähnt, von denen Iwan in einer Doppelgänger-Szene dem Teufel begegnet. Dostojewskij ist für Miłosz eine kulturelle Leitfigur, der einzige russische Autor, mit dem er sich als Professor für Slawische Literatur in Berkeley überhaupt befassen mochte. Im Traktat wird sichtbar, wofür der polnische Lyriker den russischen Romanautor so über alle Maßen schätzte: Dostojewskij sah die schizoide Struktur der Avantgarde voraus, Miłosz versucht sie zu überwinden. Schließlich thematisiert Miłosz im Traktat ausführlich eine spezifisch polnische Taktik der Flucht vor der Avantgarde - die Flucht in die Idylle des Krähwinkels, in die sarmatische Selbstbeweihräucherung und in die romantische Schwärmerei. In einer Epoche, in der intellektuelle und mentale Stärke gefragt sind, wird man so immer zu den Verlierern gehören. Von der existenzialistischen Taktik, die Avantgarde metaphysisch zu rechtfertigen, war bereits die Rede, und so wird auch jede andere Form metaphysischer Rechtfertigung gegeißelt - der Historische Materialismus eher indirekt, passiv-ergebenes Gottvertrauen schon direkter - aus dem Leben, das hier und jetzt zu meistern ist, führt keine magische Hintertür. Wie aber sieht das Land aus, auf das die Arche stoßen wird? Verlegen wir es nicht in eine ferne Zukunft, meint Miłosz - wenn wir es nicht hier und jetzt schaffen, wird es dieses Land nie geben. Epochen kommen uns nicht aus der Zukunft entgegen, sie müssen jetzt gemacht werden, und der Aufruf zur Tat, der in Traktat moralny immer wieder erklingt, ist ein Aufruf zur kulturellen Schöpfung, die dann im Nachhinein als epochemachend erkannt werden wird. Man möchte ergänzen: Lasst doch Wladimir und Estragon warten, bis sie schwarz werden, lasst doch die Postmodernen das Ende der Geschichte und damit die endlose Dehnung der Jetztzeit verkünden, wir sollten inzwischen die neue Zeit einfach machen. Durch die Tat wird der Dichter zur Arche, und diese Tat ist für ihn der Blick, mit dem Sinn und Weltzusammenhang im wahrgenommenen Detail erfasst werden - so Miłosz kurz vor dem Ende von Traktat moralny, in einem Abschnitt, der mit der Zeile „Dies ist deine Welt“ (Oto twój świat) sowohl beginnt als auch endet. 15 Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um ein impressionistisches Stimmungsbild ohne konkrete narrative Funktion. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieser Abschnitt jedoch als subtil vernetzter symbolischer 15 Miłosz bezieht sich hier auf seinen Gedichtzyklus Świat. Poemat naiwny (Die Welt. Naives Poem) aus dem Band Ocalenie. <?page no="107"?> 107 Text. Sein charakteristisches Merkmal ist die Bewegung. Der Wirbel trockener Blätter verbindet die Bewegung mit dem Tod, die vom Dach aufflatternden Tauben mit dem neuen Leben. Der aufbellende Hund ruft erneut den Tod auf (Cerberus), das vorbeilaufende Kind das junge neue Leben. Miłosz fasst hier - nicht mehr in Traktatform, sondern in einem Beispiel reiner Lyrik - die in Traktat moralny thematisierte Bewegung zusammen - den Wechsel vom Alten zum Neuen, vom Sterbenden zu dem, was geboren wird. Das Kind ist schon vorbeigelaufen, das Neue existiert also bereits, es wurde inmitten der alten Welt geboren. Das Fazit dieses „Stimmungsbildes“ lautet: „Jemand gibt jemandem ein Zeichen mit dem Taschentuch“ (Ktoś komuś daje znak chusteczką). Der Urheber dieser Zeichen setzenden Bewegung ist der Dichter selbst - er ist es, der „jemandem“, das heißt seinem Leser, Zeichen gibt, nicht statische Zeichen, sondern solche, die aus Bewegung hervorgehen, womit wir erneut bei der „musikalischen Wissenschaft“ wären. Worin also liegt die Rettung? Mit dieser zu Beginn von Traktat moralny in Anführungszeichen gesetzten Frage zitiert Miłosz Dominik Horodyński, der 1945 Miłoszs Gedichtband Ocalenie rezensierte und darin das Bekenntnis zu einem konkreten Weg der Rettung vermisste. Traktat moralny ist auch eine Antwort an diesen Kritiker. Sie lautet: Es ging überhaupt nicht um den Krieg und seine Opfer. Es geht auch jetzt nicht darum, sich vor dem mörderischen 20. Jahrhundert irgendwohin durch Flucht zu retten. Vielmehr sind der Dichter und seine Dichtung als Arche der Sprache und der Kultur selbst die Rettung. Rettung wurde nicht thematisiert, sondern im Medium der Dichtung vollzogen. So auch in Traktat moralny. Nicht das Ausweichen vor der Avantgarde, nicht das über sich Ergehen-Lassen, nicht die Regression in die voravantgardistische Idylle bringt die Rettung, sondern das Erspüren der menschlichen Spur im Neuen. Das Traktat fügt diese Rettung als Thema und als Vollzug in Eins. Das ist der Kern dieses Textes, der sich nach dem Abwickeln des stilistischen Kokons namens „Neoklassizismus“ finden lässt. Die Leitmotivik des „Kerns“ zieht sich durch das ganze Traktat - von der Kernspaltung über die Nuss im Wasserfall bis zum Joseph-Conrad-Zitat „Kern der Finsternis“ (Jądro ciemności). Der Titel von Conrads Roman lautet im englischen Original „Heart of Darkness“, aber Miłosz spielt mit der polnischen Version des Titels, und mit dieser deutlichen Anspielung endet das Traktat. All diese Motive werden von Miłosz ihrer üblichen Assoziationsbezüge, ihrer mehr oder weniger konventionellen Bedeutung in Epitheta und Redewendungen entfremdet. So meint eine Nuss im Wasserfall im Polnischen redensartlich das Ausgeliefertsein an eine unbezwingbare und unbeeinflussbare Macht. Hier verweist die Nuss im Wasser über die Verbindung zur Sintflut (die Arche im schnellen Strom der Zeit verknüpft sich mit dem Wasserfall) und zu dem Kern, dessen Einheit es zu wahren und zu retten gilt, im Gegenteil auf die Möglichkeit der Rettung durch die Arche, auf <?page no="108"?> 108 die Möglichkeit entschlossenen Handelns und der Einflussnahme auf die Epoche. Auch die Kernspaltung wird „umfunktioniert“. Lässt sie sich für gewöhnlich mit einer Naturgewalt assoziieren, die vom Menschen kaum zu kontrollieren ist, verweist sie hier auf die vom Menschen unmittelbar selbst zu verantwortende Einheit der Persönlichkeit. Der Mensch wird vom Objekt zum Subjekt seiner Epoche, des 20. Jahrhunderts. Der Kern der Finsternis markiert in Joseph Conrads ausgesprochen kulturpessimistischer Weltdeutung das dem Menschen inhärente Böse, das sich hinter der Maske der Kultur verbirgt. Dieser Kern lässt sich bei Miłosz am Schluss des Traktats überraschenderweise mit einer optimistischen Sicht der Zukunft verbinden. Die Reise in die Finsternis der menschlichen Seele kommentiert Miłosz: „Gehen wir in Frieden, einfache Leute“ (Idźmy w pokoju, ludzie prości). So funktioniert er Conrads Symbolik um. Der Kern der Finsternis ist immerhin ein Kern, eine Substanz, eine Identität, der Mensch hat immerhin eine Seele, und da er, wie die Pflanze mit ihrer Wurzel, im Boden der Welt steckt, kann er dort nicht von der Vernunft erleuchtet, sondern muss zunächst einmal finster sein. Doch gerade aus diesem Kern der Finsternis, aus der in der Erde steckenden Seele des Menschen, sprießen die Blumen der neuen Kultur. Lassen wir - die Leser - uns also von Miłosz auf die Arche einladen und entdecken wir mit ihm das Land nach der Sintflut, das immer deutlicher werden wird in dem Maße, wie das Wasser sich verläuft, das Land, das also schon da und geschaffen ist und nicht in einer fernen Zukunft vermutet zu werden braucht. Darum weigert sich der Dichter, die Zukunft mit einem „trügerischen Zauber“ zu umgeben, darum beharrt er darauf, dass das, was jetzt geschaffen wird, bleibt - denn es wird schon der neuen Welt nach der Sintflut angehören, sofern sein Schöpfer der Einladung auf die Arche gefolgt ist. <?page no="109"?> 109 Der Roman Dolina Issy (Tal der Issa) und seine Prätexte Vorbemerkungen und Biographisches Literarische Meisterwerke werfen lange Schatten. Diese Schatten werden in Rezeptionsgeschichten untersucht, die epigonales Schrifttum verzeichnen und verfolgen, wie ein Text das Denken und die Vorstellungswelt nachfolgender Generationen geprägt hat. Andererseits haben herausragende Kunstwerke eine lange Vorgeschichte. Sie nehmen auf und fassen zu einem gültigen Ausdruck zusammen, was zuvor in vielen Generationen nur partiell oder unausdrücklich erlebt, gedacht und beschrieben worden ist. Die Vorgeschichten solcher Werke bestimmen den Inhalt von an der literarischen Produktion orientierten Monographien und Kommentaren. In beiden Fällen soll das Kunstwerk erklärt werden, doch es wird dabei am Kunstwerk selbst vorbeigeschaut, als könne man es nicht „direkt“ erklären. Das anscheinend Vollkommene wird durch das Unvollkommene erklärt, durch den Rohstoff oder durch den Abglanz, als wollte man ein schmiedeeisernes Kunstwerk durch das Erz oder durch den Rost erklären. Zu diesen beiden traditionellen Methoden der Erklärung trat dann eine dritte hinzu, mit der solchen Mängeln abgeholfen werden sollte - die immanente Textanalyse. Rigoros wird hier das Umfeld, werden das Vorher und Nachher ausgeblendet, um aus dem Textaufbau alleine das zu gewinnen, was die Meisterschaft des Kunstwerkes ausmacht und was aus ihm an Sinn zu gewinnen ist. Das führt auf wichtige und oft überraschende Erkenntnisse, doch es gibt Literaturen, die so stark von außerliterarischen Faktoren geprägt werden, dass ihre Werke immanent, ohne die historische Perspektive, nicht verstanden werden können. Eine solche Literatur ist die polnische. Ihre Geschichte weist aufgrund außerliterarischer Faktoren über alle Epochenschwellen hinweg eine solche Konstanz in den Themen und Methoden auf, dass für sie eine vierte Untersuchungsmethode angebracht ist, die die Vorteile der historischen Betrachtung nutzt, ohne die Mängel des Vorbeischauens in Kauf nehmen zu müssen. Es ist dies die Untersuchung zeitlich weiter auseinanderliegender Werke, die sich gegenseitig erhellen und häufig auch gegenseitig aufrufen. Sie sind füreinander Prae- oder Posttext, doch zugleich selbständige Kunstwerke. Sie werden auf einem so hohen Niveau rezipiert bzw. schöpfen aus einer so hochliegenden Quelle, dass hier nichts aus den Dorftümpeln und städtischen Abwassergräben der Gebrauchs- und Massenliteratur herausgelesen werden muss. Im Folgenden möchte ich diese Methode auf einige Aspekte von Czesław Miłoszs Dolina Issy (1955) anwenden. Es soll darin also nicht Miłoszs „Tri- <?page no="110"?> 110 but der Dankbarkeit gegen die vergessenen Autoren, die nicht zur sogenannten Literatur gezählt werden“ 1 aufgearbeitet werden. Dolina Issy soll auf zwei keineswegs vergessene Meisterwerke der polnischen Literatur - auf Mickiewiczs Pan Tadeusz (1834) und auf Eliza Orzeszkowas Nad Niemnem (1888) - bezogen werden. Dabei werden nicht nur wichtige Aspekte im Sinnaufbau von Dolina Issy deutlich - die Konfrontation mit Miłoszs Roman wie ergänzend auch mit seiner Essayistik vermag auch manches an jenen früheren Werken zu erhellen, was den Forschern bislang nicht aufgefallen ist. Die drei Autoren werden literaturgeschichtlichen Epochen zugerechnet, die einander im landläufigen Verständnis fremd sind. Mickiewiczs Werk soll zur Romantik gehören, das Werk von Eliza Orzeszkowa zum Positivismus, und Miłosz, in seiner Jugend der „zweiten Avantgarde“ zugerechnet, wird inzwischen als Neoklassizist geführt. Miłosz selbst wehrt sich entschieden gegen solche Etikettierungen. Im Gespräch mit Aleksander Fiut, das dieser unter dem Titel Czesława Miłosza autoportret przekorny publiziert hat, erklärt er „diese ganze Nomenklatur“ für sinnlos. 2 Nun kann man darüber streiten, ob Epochenbegriffe in der Literaturwissenschaft mehr schaden als nützen - im Falle der hier zu untersuchenden Werke helfen sie uns aber wirklich kaum weiter. Alle drei Werke fallen aus dem Rahmen der jeweils vorherrschenden literarischen Strömung. Pan Tadeusz ist aus solch einem Grund oft entweder noch dem Klassizismus oder schon dem Realismus zugerechnet worden. 3 Nad Niemnem verstößt gegen die erklärte Linie der Positivisten, nicht mehr mit der schmerzlichen jüngeren Geschichte Polens, mit den gescheiterten Aufständen, zu hadern, und Dolina Issy wird von Miłosz als ein Buch gegen jede Zeitströmung, gegen Stil und Geschmack der Nachkriegsliteratur bezeichnet (Gespräch mit Fiut, S. 121). Für die Autoren von Pan Tadeusz und Dolina Issy fallen einige Parallelen der Lebensumstände im Allgemeinen und der Entstehensumstände der jeweiligen Werke im Besonderen ins Auge. 4 Miłosz stammt wie Mickiewicz aus der litauischen Provinz, hat wie jener an der Universität Wilna studiert, gehörte dort ebenfalls einem Zirkel an, von dem zumindest ein Teil der Mitglieder auch politische Ziele verfolgten. Ähnlich wie Mickiewicz musste er aus politischen Gründen Wilna verlassen und kam dann wie er in der Hauptstadt (Mickiewicz in Petersburg, Miłosz in Warschau) mit führenden 1 Miłoszs Überlegungen zur zweiten, korrigierten Ausgabe von Dolina Issy in Prywatne obowiązki (Private Verpflichtungen), Olsztyn 1990, S. 147. 2 Kraków 1988, im Weiteren zitiert als „Gespräch mit Fiut“, S. 66f. 3 Beides macht wenig Sinn, da es sich nicht um ein Übergangswerk handeln kann. Den Klassizismus hatte Mickiewicz selbst lange vorher abgelegt, und die Romantik dauerte in der polnischen Literatur noch bis 1863. 4 Auf einige biographische Parallelen zwischen den Dichtern weist Wojciech Pogonowski hin in Miłosz i Mickiewicz, Poezja 1981 Nr.7, S. 3-18. <?page no="111"?> 111 Vertretern der literarischen Epoche zusammen. Als mit dem zweiten Weltkrieg die nationale Katastrophe über Polen hereinbrach, empfand Miłosz sein vorheriges Schicksal, d.h. seine Vertreibung aus Wilna aufgrund eines politischen Rechtsrucks in Polen, als signifikantes Vorzeichen. Auch Mickiewicz deutete in Dziady III (Die Ahnenfeier, dritter Teil) den Filomaten- Prozess, aufgrund dessen er Wilna verlassen musste, als Vorzeichen einer nationalen Katastrophe, der Niederschlagung des Aufstandes von 1830/ 31, die Polen den Rest seiner nationalen Unabhängigkeit gegenüber Russland kostete. Miłosz ging wie sein berühmter Kollege freiwillig ins Pariser Exil und traf wie jener dort auf Kreise gezwungener Emigranten. Wie Mickiewicz schrieb er dann ein aufsehenerregendes politisches Buch, das auch außerhalb der polnischen Emigrantenkreise sehr populär wurde - Zniewolony umysł (Verführtes Denken). Sah Mickiewicz im politischen Kampf gegen Polens Besatzungsmacht seine heilige Pflicht, so sah Miłosz die seine in der Aufdeckung der psychosozialen Mechanismen in den Köpfen von Intellektuellen, die sich mit dem kommunistischen Regime arrangieren. Zniewolony umysł (Verführtes Denken) ist Miłoszs Pendant zu Mickiewiczs Księgi pielgrzymstwa narodu Polskiego… (Bücher von der Pilgerschaft des polnischen Volkes…). Es ist, wie jenes publizistische Werk Mickiewiczs, ein soziales, politisches und psychologisches Dokument ersten Ranges. Miłosz übernahm dann wie Mickiewicz eine Stelle als Professor für slavische Literatur. Beide waren Amateure ohne einen philologischen akademischen Abschluss, die sich aber als führende Dichter ihrer Zeit für die Aufgabe empfohlen hatten. Beide nutzten ihren Lehrstuhl auch dazu, ihre mystischen und metaphysischen Ansichten darzulegen - Miłosz seinen Manichäismus allerdings etwas zurückhalter als Mickiewicz seinen Towianismus. 5 Das Verfassen von Dolina Issy schließlich fällt wie das von Pan Tadeusz in eine persönliche Krise ihres Autors. Mickiewicz fühlte sich mutlos und vereinsamt, er sah seine politischen Hoffnungen scheitern. Auch Miłosz fühlte sich vereinsamt zwischen den linken französischen Intellektuellen und den ultrakonservativen Emigranten, die ihm gleichermaßen fremd waren. Als Dichter sah er sich mit dem Entschluss zur Emigration am Ende. All das sind Parallelen, auf die Miłosz keinen Einfluss hatte und die man darum als zufällig bezeichnen muss. Für den Literaturforscher werden sie in dem Maße interessant, in dem der spätere Dichter diese Parallele wahrnimmt und in ihr sein Schicksal, d.h. einen Sinn erblickt. Eine solche Sicht hat Miłosz schon früh entwickelt. Er berichtet, er habe im Basilianerkloster in Wilna in jener Zelle gesessen, in der Mickiewicz nach der Aushebung der Philomaten gefangen war und die durch sein Werk Dziady in Polen allge- 5 Von seinen mehr schlecht als recht ins philologische Programm der Universität passenden Vorlesungen über Manichäismus berichtet Miłosz in Ziemia Ulro, S. 45. <?page no="112"?> 112 mein als „Konrads Zelle“ bekannt ist. Miłosz las in dieser Zelle Die Kartause von Parma und fühlte sich vom genius loci erfasst. 6 Nicht zuletzt weil er Mickiewicz als Dichter sehr schätzt, hat das Bewusstsein des gemeinsamen Schicksals auch sein Werk geprägt, und dieser Aspekt ist bei der Sichtung und Beurteilung der Bezüge zwischen Dolina Issy und Pan Tadeusz zu berücksichtigen. Miłoszs Entschluss, nach seiner Emigration ein längeres erzählendes Werk zu schreiben, das in ferner Vergangenheit, in seiner Heimat Litauen, vor dem Hereinbrechen der großen Katastrophe spielt, war kein Zufall - mag er dabei an Pan Tadeusz gedacht haben oder nicht. Es sei hier kurz auf die Entstehungsgeschichte von Dolina Issy eingegangen. Im Gespräch mit Aleksander Fiut nennt Miłosz Dolina Issy eine „Selbsttherapie“, durch die er die „verschlossenen Venen der Poesie wieder öffnen“ wollte (S. 36). Warum waren dem Dichter Miłosz 1954/ 55 die poetischen Venen verschlossen und warum erschien ihm gerade Dolina Issy als ein geeignetes Mittel, das Blut wieder zum Fließen zu bringen? Der Anfang 1951 vollzogene Bruch mit dem kommunistischen Regime in Polen und der damit erworbene Status eines echten Emigranten haben mit Miłoszs Schaffenskrise indirekt zu tun. Miłosz meinte, eine Schuld abtragen zu müssen. Er, kein überzeugter Kommunist, hatte sich als polnischer Diplomat im Ausland ein politisches Schweigen auferlegt, das ihm umso schwerer gefallen war, als die französischen Intellektuellen, mit denen er verkehrte, in kommunistischen Utopien schwelgten. Nun konnte er sein Schweigen brechen, umso mehr, als er sich frei von dem Haß fühlte, der die Opfer des Regimes (zu denen er nicht gehörte) zu blindwütig-einseitigen Urteilen drängte. So schrieb er Zniewolony umysł und war fortan im Westen zum politischen Publizisten gestempelt. Nicht zuletzt um „im Gespräch zu bleiben“ und durch die Publizistik seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können (Gespräch mit Fiut, S. 121), schrieb er weitere Essays und den Roman-Essay Zdobycie władzy (Machtergreifung) - an eine Zukunft seines Dichtens glaubte er nicht. Doch seine „neue Linie“ wurde ihm schnell unerträglich, und er wollte sich von ihr wieder losreißen. Warum dies nicht mit Gedichten geschah, sondern mit einem Prosatext, hat einen ganz „prosaischen“ Grund, der im Gespräch mit Fiut zwischen den Zeilen sichtbar wird. 7 Dolina Issy war der - offenbar nach Miłoszs eigener Einschätzung gescheiterte - Versuch, ein Publikum zu erreichen, das mit Dichtung, zumal mit unübersetzbarer polnischer Dichtung, nichts anfangen konnte. Seine Wiedergeburt als Dichter datiert er erst auf die Entstehung des „Traktat poetycki“ - geschrieben, wie er sagt, „ohne jede Rücksicht auf den ausländischen 6 Prywatne obowiązki, S. 147. 7 „Dolina Issy zu schreiben, war eine verrückte Sache, weil es so verrückt gegen die Mode war“ (Gespräch mit Fiut, S. 121). <?page no="113"?> 113 Markt“ (Gespräch mit Fiut, S. 121). Dolina Issy nennt er im Unterschied dazu eine „Polemik mit dem Etikett, von dem ich fühlte, dass man es mir anheftete“ (Gespräch mit Fiut, S. 37). Eine Botschaft an seine westlichen Leser also, dass sie sich aufgrund seiner ihnen allein bekannten politischen Publizistik ein falsches Bild von ihm machten. Soweit die Funktion dieses Buches für Miłosz selbst, mit der seine ostentative Geringschätzung für Dolina Issy erklärt werden kann. Miłosz würde sich sicher gegen einen Vergleich gerade dieses von ihm so gering geschätzten Werkes mit Pan Tadeusz verwahren - und doch: auch der Pariser Emigrant Adam Mickiewicz maß seinem Versepos Pan Tadeusz keine große Bedeutung bei. 8 Wie Dolina Issy war Pan Tadeusz gegen die literarische Mode geschrieben, und die Reaktion der Leser war zunächst verhalten. In welchem Umfang Pan Tadeusz später rezipiert wurde, wissen wir, doch auch Dolina Issy wurde international zu Miłoszs meistgelesenes Werk und in Polen von Tadeusz Konwicki mit prominenter Besetzung verfilmt. Man kann also von einem gewissen Ruhm dieses Buches sprechen. Aber ein Vergleich mit Pan Tadeusz und Nad Niemnem? Ist das nicht doch ein Sakrileg? Schon eine flüchtige Lektüre von Dolina Issy fordert indes die Parallele zumindest zu Mickiewicz heraus. Nichts macht Miłoszs Absicht deutlicher als die Episode von Tomaszs Diphterie als kleines Kind, die in einer Rückblende ganz am Ende von Dolina Issy erzählt wird (S. 188). 9 Wie die Mutter des Erzählers in Pan Tadeusz (I/ 8-12) 10 bittet die Mutter von Tomasz die Muttergottes vom Spitzen Tor (Matka Boska Ostrobramska), die Schutzpatronin Litauens, um die Rettung ihres todkranken Kindes und verspricht, im Falle der Heilung zum Heiligtum der Muttergottes nach Wilna zu pilgern. In beiden Fällen wird das Gebet erhört, doch der Ironiker Miłosz muss die Geschichte, die jedes polnische Kind in der Schule auswendig lernt, etwas verfremden - Tomaszs Mutter löst ihr Gelübde anders als die Mutter des Erzählers in Pan Tadeusz nicht ein. Das Zitat, die Abwandlung, die exponierte Stellung kurz vor Schluss des Romans - all das sind absichtliche Verfahren, nicht dagegen die Tatsache, dass der Vorfall in Miłoszs Kindheit, ebenso wie in der Mickiewiczs, authentisch ist. Das biographische Faktum ist nur eine der vielen merkwürdigen Übereinstimmungen im Leben der beiden Dichter, die aber für den durchaus mystisch gestimmten Miłosz einen Sinn haben und die darum im Sinnaufbau von Dolina Issy eine Rolle spielen. Miłoszs Verbindung zu Eliza Orzeszkowa ist nicht so offensichtlich und auch nicht so eng. Es verbindet ihn mit ihr die Liebe zur litauischen Heimat, vor allem zur Natur. Er teilt mit ihr manche Mythen über dieses Land und 8 Vgl. Miłosz, Ziemia Ulro, S. 133. 9 Zitate aus Dolina Issy nach der Ausgabe Paris 1980. 10 Hier wie im weiteren werden Zitate aus Pan Tadeusz mit einer römischen Zahl für das Buch und einer lateinischen Zahl für die Verszeile nachgewiesen. <?page no="114"?> 114 seine Bewohner, von denen noch die Rede sein wird. Vor allem aber hat er mit ihr den rigorosen Moralismus gemeinsam - einen ausgeprägten Sinn für Werte, der Eliza Orzeszkowa für viele, auch Intellektuelle, zu einer hohen moralischen Autorität gemacht hatte. Miłosz lebte in einer anderen Zeit, und er fühlte sich eher als ein Prediger in der Wüste, als lebender Anachronismus. Die Entstehungsumstände ihrer Bücher sind denkbar verschieden. Eliza Orzeszkowa hatte ihre Feder an einer langen Reihe von Prosaromanen unterschiedlicher Qualität erprobt, bevor sie an die Abfassung dieses Werkes ging, von dem sie sicher war, dass es sehr gut, ja ihr Meisterwerk würde. Man vergleiche damit die Zweifel Miłoszs, der, ohne Erfahrung im Schreiben künstlerischer Prosa, das Buch eigentlich nur für sich selbst schrieb und es seither ungern erwähnt. Bedeutsam ist dabei sicher der Unterschied, dass Orzeszkowa ihr Werk in Litauen schrieb, also wusste, dass sie das Setting und die Sprache richtig getroffen hatte, während Miłosz sich wie Mickiewicz auf seine Erinnerung verlassen musste. Die Tradition der polnischen Prosa Im Gespräch mit Fiut (S. 36) antwortet Miłosz auf die Frage nach seinen Romanen: „Moje powieści? Ale ich nie ma! “ (Meine Romane? Aber es gibt sie gar nicht! ). Diese überraschende Antwort erklärt sich zunächst dadurch, dass Miłosz - außer seiner Versdichtung natürlich - weitgehend Essays geschrieben hat, die, auch wenn sie z.T. fiktional gestaltet sind (Zdobycie władzy), nicht den Anspruch auf künstlerische Prosa erheben. Für Dolina Issy aber trifft das nicht zu. Miłosz hat sich wiederholt gegen die vor allem in deutschen Rezensionen immer wieder geäußerte Behauptung verwahrt, dass Dolina Issy nur eine Autobiographie sei. 11 Da dieser somit fiktionale Text auch keine direkte gesellschaftliche oder politische Botschaft transportiert, ist von seiner primär ästhetischen Funktion auszugehen. Warum soll es dann kein Roman sein? Auf Befragen bezeichnet Miłosz sein Buch außer als Selbsttherapie auch gern als ein „maskiertes theologisches Traktat“. Er beruft sich dabei auf einen Artikel von Lillian Vallee. 12 Noch ein in Fiktion verkleidetes Traktat also? Nein, wir haben es hier mit der Aussage eines Dichters zu tun, der zur Interpretation seiner Werke keine Angaben machen möchte und darum auf andere Deuter verweist. Der Unwille zur Selbstinterpretation kommt im Interview mit Fiut deutlich zum Ausdruck. Sicherlich gibt es in Dolina Issy den von Vallee bemerkten „manichäischen Zug“, doch wird das Buch 11 Vgl. Prywatne Obowiązki, S. 147; Gespräch mit Fiut, S. 343. 12 Lillian Vallee: The Valley of Issa: An Interpretation. In: World Literature Today 52, Nr 3, 1978. <?page no="115"?> 115 dadurch bei weitem nicht hinreichend charakterisiert. Die ästhetische Funktion bleibt dominant, das Buch ist kein „philosophisches Traktat“. Miłosz, der, wie er selbst sagt, nur ein durch Schmerz zur Philosophie genötigter philosophischer Amateur ist, hat es sicher gefreut, dass Vallee in seinem Werk ein ihm so wichtiges philosophisches Anliegen aufgedeckt hat. Es handelt sich gleichwohl um einen fiktionalen Prosatext, den man schon aufgrund seiner Länge als Roman bezeichnen muss. Zu dieser Bezeichnung ringt sich Miłosz in Ziemia Ulro durch. Nur einen Roman habe er geschrieben, Dolina Issy, denn das sei doch ein Roman und keine „Erinnerungen an die Kindheit“ (S. 40). Auch in Prywatne obowiązki entschlüpft ihm die Bezeichnung „Roman“ (S. 147). Miłoszs Zögern, Dolina Issy als Roman zu bezeichnen und sich zu diesem Werk zu bekennen, findet einen tieferen Grund in seinem Selbstverständnis als Dichter und in der funktionalen Unterscheidung, die er zwischen Prosa und Versdichtung macht. Fiut gegenüber bezeichnet er die Intonation als den entscheidenden Unterschied zwischen Dichtung und Prosa. Damit meint er weder Metrum noch Vers, sondern jene Dichte, die nach Jurij Tynjanov ein entscheidendes Kriterium der Versdichtung ist. An der Intonation könne man, so Miłosz, auch noch ein Prosagedicht von wirklicher Prosa unterscheiden. Echter Prosa fehlt die Dichte, sie hat dafür, was Miłosz in Anlehnung an Stendhal „Klarheit“ nennt. Stendhals Ideal von Prosa war der Code Napoléon, ein Gesetzestext. Es ist mit der clarté also kein Unterschied in der Intention von Dichtung und Prosa fixiert, sondern ein sprachlicher Unterschied. Prosasprache soll, so beruft sich Miłosz auf Stendhal, transparent sein für den Gedanken, auf den es allein ankommt. Da er, Miłosz, kein Philosoph sei, sei die Prosa nicht sein Ausdrucksmittel (Gespräch mit Fiut, S. 43). An anderer Stelle nennt er als ein wesentliches Kriterium für Romanprosa die „Ausbeutung der eigenen Biographie“ (S. 37). Ihn berühre so etwas unangenehm. Und es gibt ihn doch, den Roman von Czesław Miłosz. Steht er in einer Tradition polnischer Prosa oder stellt sich Miłosz mit diesem Werk außerhalb dieser Tradition? In einem kurzen Essay über Mickiewicz bestreitet er, dass es eine Tradition polnischer Prosa überhaupt gibt. 13 Mit dieser Auffassung steht er nicht allein. So meint Alina Witkowska zu der verbreiteten Ansicht, Pan Tadeusz sei der beste polnische Roman der damaligen Zeit, das sei in Hinblick auf den Zustand der polnischen Romanprosa kein großes 13 Włodzimierz Bolecki präsentiert in Proza Miłosza (in: Pamiętnik Literacki 1984 Nr.2) einseitig nur Miłoszs Aussagen zum „Niedergang der Prosa“, so als habe die polnische Prosa einmal eine Glanzzeit erlebt. Wo Miłosz von wirklich großer Prosa spricht, bezieht er sich aber durchweg auf die russische und die französische Romanprosa des 19. Jahrhunderts. <?page no="116"?> 116 Kompliment. 14 Auch Józef Wittlin ist der Ansicht, dass „die Gipfel der polnischen Literatur aus ihrer Versdichtung wachsen, nicht aus ihrer Prosa“. 15 Schon Henryk Kamieński hatte 1854 im Vorwort zu seinem einzigen Roman Pan Józef Bojalski geschrieben, einen polnischen Roman gebe es nicht und könne es unter den Bedingungen von nationalem Zusammenbruch und nationaler Bedrängnis nicht geben. Man könne Romane nicht auf Luft gründen und im leeren Raum aufhängen. 16 Kamieński vertritt hier nicht etwa die Auffassung, nur die Existenz eines polnischen Staates könne zu polnischen Romanen führen. Man muss seine paradoxe Feststellung folgendermaßen verstehen. Der Verlust der Staatlichkeit Polens hatte zwei wichtige Folgen für die Prosa. Die für die gesamte polnische Intelligenz traumatische Erfahrung des staatlichen Zusammenbruchs und der Emigration, die durch die immer wieder gescheiterten Aufstände von jeder weiteren Generation aktualisiert wurde, machte die Schriftsteller befangen. Sie konnten nicht anders, als dieses Trauma in ihrer Literatur zu verarbeiten. Anstatt über das zu schreiben, was ist, konnten sie nur darüber schreiben, was war (in der glorreichen alten Zeit), was sein wird (wenn das Joch abgeschüttelt sein wird) oder was sein sollte (wenn die Russen nicht wären). „Farbe und Leben“ (Kamieński) gewinnen Romane dagegen aus der Anschauung dessen, was ist - einer Anschauung, der sich die polnischen Schriftsteller weitgehend versagten. Bestimmte literarische Gattungen, zum Beispiel der realistische Roman, können im Zustand der Vertreibung nicht gepflegt werden, schreibt auch Miłosz in Noty o wygnaniu (Notizen über die Vertreibung). 17 Die zweite Folge war die Fixierung auf die Sprache. Ohne eine polnische Staatlichkeit war die Sprache zum Kern der nationalen Identität geworden. Dadurch wurde auch in der Literatur die Sprache, ihre Färbung, ihr Stil, ihr Wortschatz dominant gegenüber ihrem Denotat. Die Sprache verliert so ihre Transparenz, ihren Prosacharakter. Miłosz, Wittlin und Witkowska berufen sich mit ihren Thesen, es gebe keine polnische Prosa, die diesen Namen wirklich verdient, nicht auf Kamieński. Ist es nicht erstaunlich, dass sie noch über hundert Jahre später zu einer ähnlichen Diagnose kommen wie er? Polen habe sehr wenige gute 14 Mickiewicz, słowo i czyn, Warszawa 1986, S. 170. Auch Miłosz nennt in Mickiewicz and Modern Poetry als den besten polnischen Roman Pan Tadeusz (In: Adam Mickiewicz, Poet of Poland, Hg.: M. Kridl, New York 1951, S. 57-65, hier: S. 63.) Auch aus seinem Mund ist das kein großes Kompliment, wie seine Bemerkungen zu den Romanqualitäten von Pan Tadeusz zeigen. 15 Pan Tadeusz, in: Adam Mickiewicz, Poet of Poland, S. 66-88, hier: S. 67. 16 H. Kamieński: Pan Józef Bojalski. Warszawa 1955, S. 49. 17 Publiziert in der Aufsatzsammlung Zaczynając od moich ulic (Von meinen Straßen ausgehend), Paris 1980, S. 47. <?page no="117"?> 117 Romane geschaffen, und einen wirklich großen Roman wie Die Kartause von Parma oder Krieg und Frieden gibt es in der polnischen Literatur überhaupt nicht, schreibt Miłosz in Mickiewicz and Modern Poetry (S. 63). Die polnische Prosa hatte seiner Meinung nach mit zwei Problemen zu kämpfen. In einer der kurzen Notizen, die er in Prywatne obowiązki publiziert hat, kommt Miłosz auf das eine Problem zu sprechen. Wenn, so schreibt er, Lukács und Fichte Recht hatten mit ihrer These, die Gattung des Romans gehöre in das Zeitalter der Schuld, dann hatten die Polen überhaupt keinen Roman (S. 141). Die Nichtanwendbarkeit der an den Romanen der Hauptexponenten realistischer Prosa - Balzac, Dickens, Dostojewskij - durchaus verifizierbaren These vom Zusammenhang zwischen Schuldbewußtsein und Romanprosa auf die polnische Literatur bedeutet nicht, dass die Polen ein Volk ohne Schuld gewesen wären - es ging um das Bewusstsein von Schuld. Das aber konnte die polnische Intelligenz aufgrund des Zusammenbruchs der Nation und der Unterdrückung durch die Nachbarvölker nicht entwickeln. Sie suchten und fanden die Schuld bei den Russen und Deutschen 18 und stellten sich diesen „Mächten des Bösen“ kollektiv gegenüber. Sie konnten darum lange kein kollektives Schuldbewusstsein entwickeln. Das zweite Problem, mit dem die polnische Prosa zu kämpfen hatte, umschreibt Miłosz metaphorisch als „nicht gelungenes Einrichten der Stimme“ (nie-ustawienie głosu). 19 Immer, wenn die polnische Sprache auf dem Wege war, ihren grundlegenden Prosarhythmus, die Basis für alle stilistischen Abweichungen, zu finden, traten Faktoren auf, die dem entgegenwirkten. Schon Górnicki, Rej und Kochanowski hatten keinen normalsprachlichen Hintergrund, sondern fanden eine sprachliche Disziplinlosigkeit vor, die sie zu bändigen versuchten und die gleich nach ihnen, im sogenannten Sarmatischen Barock, wieder ausuferte. Den zweiten Versuch zur Disziplinierung der Sprache unternahmen Krasicki, Fredro und Mickiewicz, doch schon bei Krasiński, Słowacki und endgültig bei Norwid glitt die Sprache wieder in eine barocke Formlosigkeit hinüber. Auch die „realistische“ Prosa des 19. Jahrhunderts, in anderen Literaturen der Hort sprachlicher Normalität, verlor sich in Polen oft in einem unbezähmbaren Hang zur Stilisierung in einem ausufernden, altertümelnden Plauderstil, der sog. „Gawęda“, so bei Sienkiewicz und Reymont. Ein hemmungsloser Stilisierer der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts war, so Miłosz, Wacław Berent und sprachlich vollends wieder im Barock schwelgt seiner Meinung nach die künstlerische Prosa Gombrowiczs. 20 Zwar hatten auch andere Literaturen immer wieder Phasen eines sprachlichen Manierismus - so die russische Literatur mit der Orna- 18 Vgl. Prywatne obowiązki, S. 69. 19 Ogród nauk (Garten der Wissenschaften), Paris 1981, S. 139f. und Prywatne obowiązki, S. 96. 20 Gombrowiczs Tagebücher nimmt Miłosz von diesem Urteil ausdrücklich aus. <?page no="118"?> 118 mentalen Prosa der 20er Jahre. Diese wurden jedoch als erfrischende Auflockerungen eines in seiner Normalität erstarrten Prosastils erlebt. Zu einer solchen Normalität ist es in Polen, so Miłosz, nie gekommen, und darum hat es dort keine echte, keine prosaische Prosa gegeben. Zwei Einwände gegen dieses Argument Miłoszs sind in Erwägung zu ziehen - Einwände, die sich allerdings gegenseitig aufheben. Praktiziert Miłosz nicht selbst, so lautet der eine Einwand, einen Neoklassizismus, von dessen Warte aus jede nichtklassische, jede nicht formstrenge Literatur als „schlechte Stilisierung“ empfunden werden muss? Charakterisiert Miłoszs Urteil wirklich einen Grundzug der polnischen Literatur und nicht nur seinen eigenen Stil? Das Etikett des Klassizismus hat Miłosz im Gespräch mit Fiut zurückgewiesen. Man habe seine Skepsis gegenüber der experimentellen Avantgarde als Klassizismus missverstanden (S. 67). Doch so einfach ist dieser Einwand nicht zu entkräften. Miłoszs Skepsis gegenüber der Avantgarde gründet sich auf dasselbe Werturteil wie seine Problematisierung der Geschichte der polnischen Prosa, auf die Klage über den Mangel an sprachlicher Disziplin, und die kann durchaus mit dem Kampf der Klassiker mit den Romantikern zu Beginn des 19. Jahrhunderts verglichen werden, auch wenn Miłosz diese Parallele nicht ziehen möchte (Gespräch mit Fiut, S. 66). Hier interessiert daran v.a. die Frage, ob Miłosz nur in seinen Werturteilen oder auch in seiner schriftstellerischen Praxis für sprachliche Disziplin sowie für Normalität und Transparenz der Prosasprache eintritt. Das verneint S. Balbus, 21 der nicht nur Miłoszs „naives Versepos“ Świat, sondern auch Dolina Issy eine Stilisierung nennt. Darin liegt der zweite Einwand, der den ersten aufhebt: praktiziert Miłosz nicht selbst die Stilisierung, die er in der polnischen Prosa beklagt? Nun fasst Balbus diesen Begriff allerdings viel weiter als Miłosz selbst, er ist für ihn fast identisch mit Intertextualität. Für Miłosz bezeichnet Stilisierung nur einen uneigentlichen Sprachstil, durchgängige Fremde Rede, hinter der das sprachliche Bewusstsein der Autorinstanz überhaupt nicht mehr sichtbar wird. Keine Stilisierung ist für ihn dagegen die Einarbeitung fremder Texte in einen als eigenen noch erkennbaren Text. Dennoch hat, wie zu zeigen sein wird, Balbus grundsätzlich Recht, wenn er Dolina Issy eine Stilisierung nennt, nämlich insofern, als man diesem Roman ansieht, dass er aus der Feder eines Dichters stammt, denn er enthält für Versdichtung charakteristische Strukturmerkmale. Das verstärkt die Parallele zwischen Dolina Issy und Pan Tadeusz, denn auch dem Versepos von Mickiewicz wird eine Grenzstellung zwischen, oder, genauer, ein Zugleich von Dichtung und Prosa bescheinigt. 22 21 Intertekstualność a proces hystorycznoliteracki, Kraków 1990. 22 Vgl. den Anfang von Miłoszs Gedicht Ars poetica? (Poezje, Warszawa 1982, S. 337f.): „Zawsze tęskniłem do formy bardziej pojemnej, / która nie byłaby zanadto poezją ani zanadto prozą.” (Immer habe ich mich nach einer noch aufnahmefähigeren Form gesehnt / die weder allzusehr Dichtung noch allzusehr Prosa wäre). <?page no="119"?> 119 Wie stellt sich Miłosz zu der Frage der Sprachbehandlung bei Mickiewicz? Wenn es, so schreibt er, überhaupt einen Orientierungspunkt für ein stilistisches Gleichgewicht in der polnischen Literatursprache gebe, so sei das die Sprache Mickiewiczs. Mickiewicz hätte somit, wenn er, etwa wie Puškin in Russland, zur künstlerischen Prosa übergegangen wäre, zum Begründer der polnischen Prosasprache werden können: W przyszłość natomiast był wmierzony Puszkin. Od niego zaczyna się wielka rosyjska proza […] i dlatego, że „Eugeniusz Oniegin“ jest powieścią z „problematycznym bohaterem“. 23 Auf die Zukunft war dagegen Puškin ausgerichtet. Von ihm nimmt die große russische Prosa ihren Ausgang […] auch deshalb, weil „Evgenij Onegin“ ein Roman mit einem „problematischen Helden“ ist. Aber Mickiewiczs Pan Tadeusz, das so oft mit Evgenij Onegin verglichen wird, öffnete keine Perspektiven, es war nicht auf die Gattung der Zukunft, die Prosa, ausgerichtet, sondern auf die der Vergangenheit, die altpolnische Idylle. 24 Oder ist Mickiewicz doch zur Prosa übergegangen, wie Jan Lechoń meint, dem eine französische Prosaübersetzung die Romanqualitäten von Pan Tadeusz offenbart hat: […] owych dwana cie tysi cy najpyszniejszych wierszy polskich okaza y si zarazem bosk powie ci o elaznej konstrukcji […] - kiedy si je [szczegó y] czyta w prozie, nie sposób pomy le , aby mog y by te cudownym wierszem - powie ci , w której Mickiewicz z lekko ci mistrza ju nie sztuki, ale ycia, przechodzi od homerowego patosu […] do francuskiej lekko ci. 25 […] jene zwölftausend üppigsten polnischen Verse erwiesen sich gleichzeitig als ein göttlicher Roman mit stählernem Aufbau, […] - wenn man sie [die Einzelheiten] in Prosa liest, kommt man nicht auf den Gedanken, dass das auch zauberhafte Verse sein könnten - als ein Roman, in dem Mickiewicz mit der Leichtigkeit eines Meisters schon nicht mehr der Sprache, aber des Lebens vom Homerischen Pathos […] zur französischen Leichtigkeit überging. Schon T. Żeleński (Boy) hatte auf die Prosaqualitäten von Pan Tadeusz verwiesen, allerdings mit der Absicht, den Denkmal-Mickiewicz, den polnischen Homer mitsamt seinem Nationalepos vom hohen Sockel zu holen. 26 Welche Position nimmt Miłosz hier ein? Liegt in den Prosaqualitäten von Pan Tadeusz die Tradition, an die er mit Dolina Issy anknüpft? Keinesfalls. In Ziemia Ulro stellt er ausdrücklich fest, es seien nicht die Prosaqualitäten, die er an dem Werk schätze. Als Prosa gelesen sei Pan Tadeusz eine Erzäh- 23 Prywatne obowiązki, S. 96 24 Zu Mickiewiczs und Miłoszs Stellung innerhalb dieser Tradition s.u. S. 141-147. 25 O literaturze polskiej, New York 1946, S. 17. 26 T. Żeleński, Pisma, t. 4, Warszawa 1957, S. 277. <?page no="120"?> 120 lung wie von Walter Scott, mit einer recht dümmlichen Handlung. 27 Daher der Unglaube vieler Ausländer, die das Werk nur in Übersetzung lesen, dass es sich um ein Meisterwerk handeln soll (S. 134). Zudem versteht Miłosz unter „Prosa“, wie schon erwähnt, keine stringente Fabel mit psychologisch glaubwürdigen Figuren, sondern eine Transparenz der Sprache, die Dichtung nicht haben kann und darf. So stimmt er in den allgemeinen Tenor der Gattungsbestimmung von Pan Tadeusz ein - es sei eben das letzte Epos der europäischen Literatur. Miłoszs Desinteresse für die Prosaqualitäten von Pan Tadeusz hat jedoch noch ein tiefer liegendes Motiv. Mickiewicz hat in der Emigration immer wieder geäußert, seine Heimat könne nun nur noch die polnische Sprache sein, und Miłosz versteht das so, dass diese Heimat nur durch den Blick auf die Sprache selbst, mithin nur in der Dichtung zu bewahren war. Die Transparenz der Prosa macht die Sprache austauschbar und die notwendige Bindung an sie und durch sie an die Heimat geht verloren. Diese Sicht verrät Miłosz, wenn er den Unterschied zwischen sich und dem Emigranten und Prosaisten Vladimir Nabokov - der scheinbar spielend vom Russischen zum Englischen übergegangen war - herausstreicht. 28 Nur als Dichter konnte Miłosz in der Emigration Pole bleiben, und dasselbe nimmt er für Mickiewicz in Anspruch. Sprache und Stil von Dolina Issy im Vergleich mit den Praetexten Es ist auf den ersten Blick ein fragwürdiges Unternehmen, Sprache und Stil eines Romans mit denen eines Versepos vergleichen zu wollen. Doch ist zwar Pan Tadeusz kein Roman, so ist es für Miłosz gleichwohl einer der in der polnischen Literatur seltenen Fälle ausgeglichener Sprachbehandlung und darum möglicherweise doch ein sprachliches Vorbild für Dolina Issy. Wie hat Miłosz seinen Roman sprachlich gestaltet? Er verwendet eine schlichte Syntax, wenig Partizipialkonstruktionen, kurze Sätze. Deutlich ist die Nähe zur gesprochenen Sprache. Werden Wahrnehmungen oder Gedanken von Figuren wiedergegeben, dann wird die Unmittelbarkeit des Gedankens oder Eindrucks durch Einwortsätze und andere Sätze ohne Prädikat gesteigert: Pociąg, uległość. Może pociąg do tego co szorstkie i złośliwe? (S.61) Trieb, Willfährigkeit. Vielleicht der Drang zum Rauen und Bösartigen? Die Schlichtheit der Sprache ist dem kindlichen Erleben der Hauptfigur Tomasz angemessen. Es handelt sich weitgehend um personal perspekti- 27 Die Herkunft des Plot von Pan Tadeusz aus Walter Scotts Romanen Waverley und Rob-Roy hat zuerst K. Wojciechowski in ‘Pan Tadeusz’ Mickiewicza a romans Walter Scotta, Kraków 1919, beschrieben. 28 Prywatne obowiązki, S. 65. <?page no="121"?> 121 viertes Erzählen, ohne dass jedoch die erlebte Welt durch die Kind-Perspektive allzu sehr verfremdet würde. Gelegentlich wechselt die Perspektive zu einer Erzählerfigur, die mehr weiß und mehr versteht als der 12 bis 13-jährige Tomasz, aber auch dann bleibt die Sprache schlicht, bleiben die Sätze kurz. So verweist die Schlichtheit über das Bewusstsein des Hauptperspektivträgers hinaus auf eine objektive Qualität der beschriebenen Welt. Eine Ausnahme von dieser sprachlichen Grundqualität ist die Rekonstruktion der Gedanken des Vorfahren Hieronim Surkont im 30. Kapitel. Sie ist zugleich ein Bericht über die Auseinandersetzung zwischen Arianismus und Protestantismus im 16. Jahrhundert. Es wird gezielt im Unklaren gelassen, ob der hier ganz andere Sprachstil durch Tomaszs Lektüre eines alten Buches, das jenem Hieronim gehört hatte, durch das Bewusstsein des Hieronim selbst oder gar durch die manichäischen Interessen des Autors motiviert ist. Jedenfalls setzt hier massive Stilisierung ein. Biblische Sprache, gelehrte wissenschaftliche Abhandlung mit ihren typischen Wendungen (Ze szczupłych danych można wywnioskować…, S. 78 [aus den mageren Angaben kann gefolgert werden…]), sogar mit einer Fußnote - der einzigen des ganzen Buches -, thomistische disputatio quaestionis, lateinische Titel theologischer Streitschriften finden sich hier zu einer stilistischen Collage zusammen, die auf Miłoszs späteren Zyklus Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht) vorausweist. Dem stilistischen Kontrast entspricht der Kontrast im Setting. Über das ganze Buch haben wir es mit einer überschaubaren, abgeschlossenen Welt zu tun. Im 30. Kapitel rasen wir dann plötzlich kreuz und quer durch Europa. Der Spanier Servetus wird von Calvin in Genf verbrannt. Dann heißt es: Został po nim szept po różnych krajach i gęsie pióra skrzypiały w Bazylei, Tubindze, Wittenberdze, Strassburgu, Krakowie […] (S. 76) Es blieb nach ihm ein Flüstern in verschiedenen Ländern und die Gänsefedern kratzten in Basel, Tübingen, Wittenberg, Straßburg und Krakau und: Jakub Paleolog w Transylwanii i na Morawach układał wielkie dzieło swego życia już jawnie w obronę Hiszpana [d.i. Servetus] (S. 76). Jakobus Palaeologus ließ in Transsilvanien und Mähren sein großes Lebenswerk schon offensichtlich zur Verteidigung des Spaniers drucken. Durch diesen Kontrast macht Miłosz deutlich, dass Litauen im 16. Jahrhundert nicht der Krähwinkel mit stillstehender Zeit war, als der es sich in der Handlungsgegenwart präsentiert, sondern in den politischen und religiösen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielte. Auch die Schwedenwälle, Befestigungsanlagen aus der Zeit der Schwedenkriege (17. Jahrhundert) sollen daran erinnern, dass Litauen nicht von Anbeginn der Zeiten ein von <?page no="122"?> 122 Europa vergessener Winkel war, sondern in eine Art Dornröschenschlaf gefallen ist, aus dem es 1939 unsanft erwachen wird. 29 Im übrigen Text von Dolina Issy finden wir kaum Stilisierungen. Der Erzähler gibt eine Kostprobe des merkwürdigen Polnisch, das Litauer wie das Hausmädchen Antonina sprechen (S. 15), sowie einige Wörter Litauisch der Kinder, mit denen der kleine Tomasz spielt. Romuald spricht mit seinen Brüdern einige Sätze ostpolnischen Dialekt. Der Erzählertext selbst und die wörtliche Rede der übrigen Figuren sind normales Polnisch. Wie sorgfältig Miłosz auch einer archaisierenden Stilisierung aus dem Wege geht, zeigt ein Vergleich des Daches vom Pfarrhaus mit einer Arche, altpoln. „korab“. Miłosz braucht den Vergleich hier, mit genau dem Wort „korab“, für einen intertextuellen Bezug zu Mickiewicz. Um nicht den Eindruck einer Stilisierung zu erwecken, setzt er hinzu: […] podobnym do korabia na obrazkach (S. 11). […] der Arche auf Heiligenbildchen ähnlich (Hvh.: M.F.) Welche Vergleichsmomente finden sich nun zu den beiden anderen Werken? In Prywatne obowiązki hatte Miłosz den Hang der polnischen Prosa zur Stilisierung beklagt und ihr Pan Tadeusz als Vorbild hingestellt. Und in der Tat hat auch Mickiewicz sein Versepos trotz des regionalen Bezugs und der Ausrichtung auf die Vergangenheit nicht stilisiert. Sicher gibt es in Pan Tadeusz einiges an lokaler und archaischer Lexik, die jedoch nicht zur Stilisierung dient. An lokaler Lexik haben wir z.B. Pflanzennamen. Gerade Pflanzen aber werden in jeder Region anders genannt, hier gibt es häufig keine überregionale Norm. Die veralteten Wörter aber bezeichnen zumeist altertümliche Gegenstände, die gar keinen modernen Namen besitzen. Ansonsten ist Pan Tadeusz weitgehend normsprachlich, wobei man allerdings nicht vergessen darf, dass die Norm stark durch dieses Werk geprägt worden ist, so dass mancher Regionalismus zur Hochsprache und mancher Archaismus durch seine Verwendung in Pan Tadeusz wieder gebräuchlich wurde. Auch die Syntax ist in Pan Tadeusz eher schlicht. Trotz der Verssprache wird die natürliche Wortfolge weitgehend beachtet. Ansonsten wird in der Mickiewicz-Literatur häufig die vor dem Hintergrund des Klassizismus revolutionäre Niedrigkeit bzw. Alltäglichkeit des Wortschatzes hervorgehoben. Dem entspricht der fast umgangssprachliche Lakonismus in Dolina Issy. Hat Miłosz also doch die Transparenz reiner Prosa angestrebt? Eine Besonderheit seines Stils spricht dagegen. Die Intonation steigt und fällt aufgrund der kurzen Sätze regelmäßig. Oft beginnt der Satz mit dem Verbum des Hauptsatzes oder einem anderen semantisch besonders gewichtigen Wort. Damit befinden wir uns gleich zu Beginn des Satzes auf dem Intona- 29 Zu den intertextuellen Bezügen der Schwedenwälle s.u. S. 168. <?page no="123"?> 123 onskamm, von wo die Intonation dann bis zum Ende des Satzes abfällt. Das regelmäßige Atmen der Intonation nähert die Prosa von Dolina Issy der Verssprache an. In solcher Regelmäßigkeit ist eine poetische Qualität des Textes verborgen, die ihn dem regelmäßigen 13-Silber von Pan Tadeusz ähnlich macht. 30 Eine Besonderheit von Pan Tadeusz ist das extensive Realien-Lexikon. Die Namen von Pilz- und Baumarten, Kulturpflanzen, Haushaltsgegenständen und sogar Fliegenarten werden in kunstvoller Weise aneinandergereiht. Häufig sind sie durch Mikrosujets verknüpft. Berühmte Beispiele für solche Mikrosujets sind der Gemüsegarten mit den komplizierten nachbarschaftlichen Beziehungen seiner „Bewohner“ und die Pilze als unterschiedliches „Geschirr“ auf dem „grünen Tischtuch der Waldwiese“. Die weitgehende Antropomorphisierung dieser Realien darf nicht dazu verleiten, ihre Nennung nur durch ihre metaphorische Funktion zu motivieren. Diese Funktion besteht zwar, und sie ist in Pan Tadeusz wichtig für den Parallelismus zwischen Naturordnung und Gesellschaftsordnung. Deutlich ist aber auch die Lust zu erkennen, die vielen Namen überhaupt zu nennen. Das kann auf Mickiewiczs Ausspruch bezogen werden, nur noch die Sprache könne jetzt seine Heimat sein. Die Sprache im maximalen Umfang ihrer Lexik zu enthalten und dadurch zu bewahren, wäre damit eine Funktion von Pan Tadeusz. Diese Vermutung wird durch die folgende Überlegung bestärkt. Die Reihungen von Realien dienen nicht dazu und können auch gar nicht dazu dienen, die Landschaft zu beschreiben. 31 Das klingt paradox, doch erstens verhindern die langen Listen die Ausprägung einer die Landschaft visuell bestimmenden Dominante, und zweitens verhindern die Mikrosujets die Wahrnehmung der Landschaft als Landschaft. Auch die Verbindung zwischen Handlung und Realien, die die Konkretheit der Dinge durch den Umgang mit ihnen steigern könnte, ist nur schwach entwickelt. 32 Das hat zur Folge, dass die Aufzählungen von Realien keine wahrgenommenen Dinge evozieren, sondern als Wörter erscheinen. Es ist also nicht so, wie in vielen Monographien zu lesen ist, dass Mickiewicz die Realien in der Posener Gegend gesehen hat und darum einige von ihnen keinen Bezug zu Li- 30 Vgl. oben S. 115 zur Intonation als Kriterium für den Unterschied zwischen Dichtung und Prosa. 31 Vgl. Wacław Kubacki, Uwagi nad poetyką «Pana Tadeusza», in: ders., Lata terminowania, Kraków 1963. Kubacki ist der Ansicht, Mickiewicz habe mit seinen Antropomorphisierungen „die tote Trockenheit von Beschreibungen vermeiden“ wollen. 32 Pilze werden immerhin gesammelt. Aber noch im Pilzesammeln verrät sich die sprachliche Funktion der Realien, denn das Sammeln hat als Umgang mit Dingen eine gewisse Abstraktheit, wie das Sammeln von Wörtern. Auch war Mickiewicz die Liste der Pilze, die essbar sind und darum gesammelt werden, noch zu kurz. Die Bindung der Liste an die Tätigkeit des Sammelns von Pilzen schränkte den Sammler von Wörtern zu sehr ein. So musste der gedeckte Tisch als Mikrosujet für die nicht genießbaren Pilze dazukommen. ti <?page no="124"?> 124 tauen haben. Sie haben überhaupt keinen Bezug zu einer bestimmten Landschaft, denn sie stammen aus der Sprache. Als Wörter waren sie Mickiewicz teuer, und die Mikrosujets kaschieren das auf geniale Weise. Mickiewicz hat seinen Wortlisten durch die Mikosujets Leben eingehaucht. Die Realien haben also nicht in erster Linie die Funktion, eine bestimmte, nämlich die litauische Landschaft zu evozieren. Nun gibt es allerdings in Pan Tadeusz Naturschilderungen, deren Visualität Mickiewicz den Ruhm eines unerreichten Meisters der Naturbeschreibung eingetragen haben, z.B. die Schilderung des Gewitters im 10. Buch. Ist damit die obige Überlegung hinfällig? Nein, denn die dingliche Konkretheit, die zugunsten anderer Funktionen zurückgenommen ist, ist nicht identisch mit der Visualität des reinen sinnlichen Eindrucks. Man kann sogar sagen, dass die dingliche Konkretheit auch zugunsten der reinen Sinnlichkeit des Eindrucks zurückgenommen ist, und zwar gerade in Schilderungen wie der des Gewitters. So argumentiert jedenfalls Stanisław Witkiewicz in Mickiewicz jako kolorysta von 1885, 33 der Mickiewicz als einen Vorläufer des Impressionismus bezeichnet, eben weil er nicht Dinge, sondern sinnliche Eindrücke, v.a. Farbeindrücke, beschrieben habe. Auch das bedeutet aber nicht, dass Mickiewicz durch die Konkretheit des sinnlichen Eindrucks eine bestimmte Landschaft evoziert. Die poetische Kraft der Gewitterschilderung rührt vielmehr daher, dass er bis in die Lautinstrumentierung seines Textes hinein die sensuelle Essenz eines Gewitters erfasst. Es geht Mickiewicz also nicht um das konkrete So-Sein der Realien, sondern um den ihrer Sinnlichkeit innewohnenden Sinn. Das hat Miłosz erkannt, dessen Ärger über „unlitauische“ Realien bei Mickiewicz darum auch eher verhalten ist - darauf komme es nicht an, denn Pan Tadeusz sei ein durch und durch metaphysisches Epos (Ziemia Ulro, S. 133). 34 An anderer Stelle weist Miłosz allerdings darauf hin, dass Dolina Issy im Unterschied zu Pan Tadeusz botanisch absolut korrekt sei. Józef Mackiewicz, der in der Literatur ausschließlich nach sachlichen Ungenauigkeiten fahndet, habe ihm das bescheinigt. 35 Die suggestive Visualität der Natur, die den entsprechenden Passagen von Pan Tadeusz eine große Autonomie verleiht, hat er dagegen für Dolina Issy nicht angestrebt. Die Natur ist hier eng an die Handlung gebunden, und ihre Wahrnehmung läuft über den Reflektor Tomasz, das Erlebnis ihrer Schönheit erscheint als sein niemand anderem zugänglicher Privatbesitz. Das Urwalddickicht ist Tomaszs Reich. 36 Die präzise beobachtete Natur und ihre Einbindung in die Handlung läßt eher Nad Niemnem als Pan Tadeusz als Vorbild für Dolina Issy erscheinen. 33 Zuletzt in ders., Sztuka i krytyka u nas, Warszawa 1949, S. 112-147. 34 Näheres zu dieser anderen, metaphysischen Funktion der Realien s.u. S. 141. 35 Miłosz im Gespräch mit Ewa Czarnecka, in: dies., Podróżny świata, New York 1983, S. 106. 36 S. u. S. 144. <?page no="125"?> 125 Eliza Orzeszkowa hat, ganz im Geist der naturalistischen Bestrebungen ihrer Epoche, umfangreiche Feldstudien zu ihrem Roman betrieben, wie sie im Brief an L. Méyet vom 11.8.1886 schreibt. 37 Miłosz orientiert sich in seinen Naturbeschreibungen daran. Zweifel seien dagegen angemeldet an der Ansicht Julian Krzyżanowskis, Orzeszkowas Naturbeschreibungen seien „an Mickiewicz geschult“. 38 Zu groß sind hier die Unterschiede in der literarischen Verarbeitung der Naturanschauung. Die Erzählerrede in Nad Niemnem und Dolina Issy verbindet die sprachliche Normalität ohne den in der polnischen Prosa so häufigen Hang zum Stilisieren. Es trennt sie der Aufbau der Sätze. Orzeszkowas Erzähler drückt sich in Sätzen von „epischer Breite“ aus - in langen Perioden mit Einschüben, vermittels eines Semikolons angehängten Fortsetzungen und vielen Partizipien und Epitheta: Czarne koronki i gładkie pasma jasnych, siwiejących włosów żalobną ramą otaczały twarz jej o rysach wydatnych i prawidłowych, delikatną bladością okrytych i zmąconych ledwie dostrzegalnymi zmarszczkami, które zbiegały się w drobne snopy około wielkich, smutnych oczu i chłodnych, dumnych ust (S. 75). 39 Schwarze Spitzen und glatte Strähnen hellen, ergrauenden Haars umgaben als Trauerrahmen ihr Gesicht von ausgeprägten Gesichtszügen, bedeckt von zarter Blässe und getrübt durch kaum wahrnehmbare Fältchen, die in kleinen Garben um die großen, traurigen Augen und die kalten, stolzen Lippen zusammenliefen. Solche Sätze wären bei Miłosz undenkbar. Allerdings ist die Häufung der Epitheta an dieser Stelle auch ein Signal der Ironie, die der Erzähler gegen die hier beschriebene Person - die Witwe Andrzejs und Mutter Zygmunts - walten läßt. Miłosz muss als Dichter das sprachliche Material „transformieren“, das Lebens-Material „destillieren“ (Gespräch mit Ewa Czarnecka, Podróżny świata, S. 108). Ihm ist darum die Gesprächigkeit solch breiter Prosa zuwider: Przecież nie będę czytać tej bebechowości nie przedestylowanej (S. 108). Ich werde doch diesen undestillierten Plunder nicht lesen. In Dolina Issy besteht sein Ausweg aus der Geschwätzigkeit der Prosa im sprachlichen Lakonismus. Nicht nur der Erzähler, auch die Figuren sind 37 Bedenkt man, dass Miłosz solche Studien nicht machen konnte und sich ganz auf sein Erinnerungsvermögen verlassen musste, ist seine Fehlerlosigkeit bei der Wiedergabe der Realien erstaunlich. 38 Nachwort zu „Nad Niemnem“ in der Orzeszkowa-Gesamtausgabe von 1947, wieder abgedruckt in: ders., Tradycje literackie polszczyzny, Warszawa 1992, S. 470. 39 Zitate aus Nad Niemnem nach Warszawa (Czytelnik) 1962. <?page no="126"?> 126 geradezu mundfaul, werfen ein, zwei Worte hin, lassen Subjekt oder Prädikat weg: - Każdy Polak to nasz wróg. - Surkonty to Litwiny od wieku wieków. - Jaki on Litwin, jeżeli pan? Józef przysunął dzbanek i nalał sobie piwa. Zapytał: - Ty - w niego chciałeś? Chłopak miał minę obojętną. - Nnnie, mnie było wszystko jedno (S. 58). - Jeder Pole, das [ist] unser Feind. - Surkonts, das [sind] Litauer seit Jahrhunderten. - Was für ein Litauer, wenn ein Herr? Józef nahm den Krug und goss sich Bier ein. Fragte: - Du - wolltest auf ihn? Der Bursche hatte eine gleichgültige Mine. - Nnnein, mir war alles gleich. Orzeszkowas Romane aber gehören für ihn zur langen Liste polnischer Geschwätzigkeit, was etwas unfair ist, denn von den stilisierten Ergüssen anderer Positivisten ist sie zumindest in Nad Niemnem weit entfernt. Andererseits bringt Miłosz in Kapitel 6 von Dolina Issy einzelne Strophen von Volksliedern unter, was diesem Kapitel die Atmosphäre von Nad Niemnem verleiht, das ebenfalls von solchen Liedern durchsetzt ist. Sie dienen Orzeszkowa nicht nur als dokumentarisches Material, sondern erfüllen auch wichtige konstruktive und Sinn-Funktionen. Die leitmotivische Funktion mancher dieser Lieder beschreibt Krzyżanowski (Tradycje literackie polszczyzny, S. 604). Noch nicht beobachtet wurde, dass sie zugleich in einem thematischen und formalen Oppositionsverhältnis zu den Gedichten Alfred de Mussets stehen. Diese Gedichte, wie die Volkslieder im Block vom Textfluss abgesetzt, sind auf Französisch zitiert. de Mussets Ästhetizismus steht wie das snobistische Französisch in schroffem Kontrast zu den Volksliedern, so wie die romantische, von de Mussets Gedichten begleitete Jugendliebe Justynas zum snobistischen Zygmunt im Kontrast zu ihrer aufkeimenden Liebe zum bäuerlichen Jan steht. Bei Miłosz sind die Lieder dagegen nicht zur Entschlüsselung der Fabel zu gebrauchen. Sie prägen, wie schon gesagt, das sechste Kapitel, und das führt uns auf eine weitere Eigenart von Dolina Issy. Die ausgesprochen kurzen Kapitel haben aufgrund einer insgesamt weniger stringenten Fabel eine große thematische Autonomie. Ihre Abfolge ist mal assoziativ, mal anekdotisch motiviert. Dabei ist die Chronologie durchaus eingehalten, aber der Erzähler springt scheinbar mutwillig zwischen verschiedenen Handlungssträngen hin und her. So beginnt die Geschichte von Baltazar, der zweitwichtigsten Figur des Romans, in Kapitel 10-12, wird erst in Kapitel 38, dann in Kapitel 56 fortgesetzt und findet ihren Höhepunkt und ihr Finale in Kapitel 62-64 (von insgesamt 70). Die Autonomie der einzelnen Kapitel ist auch stilistischer Art. Jedes hat seine besondere Stimmung der Figuren und Atmosphäre des Setting, und so findet sich das Schauer-Melodram von Magdalena neben der vom Fabeldichter Afanas’ev geborgten Bären-Anekdote, der an Camus’ <?page no="127"?> 127 L’étranger erinnernde sinnlose Mord Baltazars neben Geschichten von der Jagd und vom Angeln. Die stilistische und thematische Autonomie der kurzen Kapitel sowie das Zerschneiden der Handlungsfäden geben Dolina Issy die „poetischen“ Qualitäten eines Montage-Sujets, während die im Vergleich zu Nad Niemnem ausgeprägtere Perspektivierung den Prosacharakter dieses Romans stärkt. Im sechsten Kapitel finden sich neben den Volksliedern Volksbräuche und Volksglaube, Wahrsagerei und die Nacherzählung eines weiteren Liedes, dessen Fabel Bürgers Leonore entstammt, sowie die wohl schönsten Naturbeobachtungen des ganzen Romans. Der breite Fluss wird thematisiert, und Tomasz, das herrschaftliche Kind, besucht immer häufiger die bäuerlich-litauische Familie Akulonis, spielt mit den Kindern, lernt von ihnen Angeln. Mit all diesen Details evoziert Miłosz in diesem Kapitel die Welt von Nad Niemnem. Tomaszs Ausflüge vom Herrenhaus zur Familie Akulonis sind ein Echo auf Justynas Besuche bei Anselm Bohatyrowicz und seinem Neffen Jan - allerdings ist die große Liebesgeschichte zwischen Justyna und Jan hier reduziert auf ein kindlich-erotisches Abenteuer mit Onuté Akulonis. Wie Justyna bei den Bohatyrowiczs lernt, mit der Sichel umzugehen, so Tomasz bei Akulonis, die Angel zu gebrauchen, allerdings auch hier nicht mit den wichtigen Folgen, die das in Nad Niemnem für die Fabel hat (Justyna wird Jan heiraten und wird bei ihm bäuerliche Arbeit tun müssen, was auch ihr Wunsch ist). Der Parallelismus zwischen Blumen und Kirche schließlich (Pfingstrosen, die Antonina für die Kirche pflückt) rufen die Eingangsszene von Nad Niemnem auf - Justyna, die auf dem Heimweg von der Kirche Blumen pflückt. Lechitismus Lechitismus ist ein Begriff, der sich vom Namen „Lech“ des sagenhaften Stammvaters der Polen herleitet. Słowacki porträtiert Lech und seine Krieger („Lechyci“) in Lilia Weneda als blutrünstige Barbaren, die das christliche Volk der Wenden unterwerfen. Bei Miłosz sind „Lechyci“ jedoch keine imperialistischen Aggressoren. In neuerer Zeit ist „Polentümelei“, wie man Lechitismus annäherungsweise eindeutschen könnte, eher in der Form eines regressiven Nationalismus zu finden, der, so Miłosz, das polnische Geschichtsverständnis, aber auch das thematische Material und den Stil der polnischen Literatur entscheidend geprägt hat. Dieser regressive Nationalismus ist eine besondere Spielart des Provinzialismus - eine Mischung aus Selbstmitleid, Groll und Anmaßung, ein Herausstreichen des eigenen Märtyrertums und ein Hausieren mit den eigenen Wunden. Miłosz unterscheidet in ihm zwei Komponenten - die Regression in die vermeintliche Idylle der Vergangenheit und die trotzige Geste der Aufleh- <?page no="128"?> 128 nung gegen die politischen Realitäten. Obwohl der so verstandene Lechitismus mit dem von Mickiewicz geprägten polnischen religiösen Messianismus manches gemeinsam hat, nimmt Miłosz Mickiewicz vom Vorwurf des Lechitismus ausdrücklich aus. Darin pflichtet ihm Irena Sławińska bei. 40 Die apokalyptischen Höhen, zu denen sich Mickiewiczs Dziady (Die Ahnenfeier) aufschwinge, seien zwar aus regional begrenzten Traditionen und Glaubensvorstellungen gewonnen, haben aber dennoch eine universale Reichweite. Der Lechitismus habe als Provinzialismus keine solche Reichweite. Bei ihm sei nicht nur das künstlerische Material, sondern auch das künstlerische Ziel nur im nationalen Bezug zu finden. Ein kleiner Ausschnitt analysierter Wirklichkeit kann dagegen nach Sławińska durchaus eine allgemeinmenschliche Problematik bergen (S. 105). Nach Miłosz waren im Unterschied zu Mickiewicz Słowacki und Norwid typische Lechitisten. Der Sinnbezug ihrer Werke tendiert zu spezifisch polnischen Anliegen wie dem Martyrium der geknechteten Nation, so weit diese Autoren den historischen oder geographischen Umfang vorgestellter Wirklichkeit auch wählen. Zur weiteren Geschichte des Lechitismus bis in die jüngste Vergangenheit seien noch einige Stichworte gegeben. Nach Miłosz huldigt von den Autoren des Positivismus v.a. Eliza Orzeszkowa dem Lechitismus. Doch auch die anderen, vermeintlich von der revolutionären Romantik geheilten polnischen Positivisten huldigten ihm: Prus in Omyłka, Żeromski in Mogiła und Echa leśne. In der Epoche des „Jungen Polen“ (Młoda Polska) verstärkt sich der Lechitismus noch (Wyspiański, Noc listopadowa), in der Zwischenkriegszeit schwächt er sich wieder ab. Interessant ist, dass Miłosz auch Gombrowicz nicht vom Vorwurf des Lechitismus ausnimmt. Hat sich nicht gerade Gombrowicz in seinen Tagebüchern immer wieder mit beißender Ironie über die „Polnische Krankheit“, über den Provinzialismus und das Selbstmitleid in der polnischen Kultur lustig gemacht? Ja, aber auch ein militanter Anti-Lechitist ist ein Lechitist. Gombrowiczs Spott, seine Stilisierung, sein Anti-Pan-Tadeusz (Trans-Atlantyk) zeigen, so Miłosz, seine negative Abhängigkeit von den alten polnischen Denk- und Schreibmustern. Doch wie steht es mit Miłosz selbst? In seinen katastrophistischen Gedichten aus den dreißiger Jahren hat man Lechitismus wahrnehmen wollen (Polens Untergang steht [wieder einmal] bevor! ). Miłosz verwahrt sich dagegen in Ziemia Ulro, S. 276f. Nie sei es ihm um Polen oder überhaupt um die politische Situation gegangen, sein Katastrophismus habe eine universale metaphysische Endzeitqualität. 41 Was Dolina Issy betrifft, so können wir uns erneut auf Irena Sławińska berufen, die in Obraz poety i jego gospodarstwo eine Parallele zieht zwischen Mickie- 40 Obraz poety i jego gospodarstwo, in: Poznawanie Miłosza, S. 99-112, hier S. 105. Die polnische Fassung dieses Aufsatzes weicht erheblich ab von dem gleichnamigen Beitrag in World Literature Today 52/ 3 (1978), dessen Übersetzung sie angeblich ist. 41 Zum Katastrophismus vgl. oben S. 21. <?page no="129"?> 129 wiczs Universalismus und der Tragweite des Sinns von Dolina Issy (S. 105). 42 Die hier im Weiteren anzustellenden Beobachtungen am Text des Romans werden diese Einschätzung bestätigen. In Pan Tadeusz vermeidet Mickiewicz die weinerlich-trotzige Geste des Lechitismus weniger durch die Universalität seiner Problemstellung als vielmehr dadurch, dass er seine beiden Komponenten, die bukolische Idylle und den Heroismus der Auflehnung, auseinanderzuhalten versteht. Sie sind zwar beide vorhanden, aber sorgfältig voneinander separiert. Die nostalgische Idylle, als die sich das Leben in Soplicowo präsentiert, wird durch die Napoleonischen Truppen, die doch die nationale Befreiung bringen sollen, nicht gerettet, sondern bedroht. Mickiewicz sah in Napoleon, wie Wiktor Weintraub herausstreicht, durchaus nicht nur den nationalen Befreier Polens, sondern auch den Bannerträger einer säkularen Nationalideologie, der Polen als von Russland unterworfene Nation selbst zum Opfer gefallen war. 43 In Nad Niemnem steht dem Symbol der großen harmonischen Familie von Bohatyrowicze - dem Grab der Gründereltern auf einer Anhöhe über dem Fluss - auf der anderen Seite, ebenfalls auf einer Anhöhe, das Symbol des brutalen Eindringens der Weltgeschichte in dieses entlegene Tal gegenüber. Dort befindet sich das gemeinsame Grab von mehreren im Aufstand von 1863 Gefallenen. In der Beschreibung dieses Heldengrabes hat der Lechitismus eine vollendete Formulierung gefunden. Von den gefallenen Helden des Aufstandes von 1863 heißt es: Albo w zamian nie otrzymanych wawrzynów otrzymywałyżby ich kości dar wiecznego pod ziemią gorzenia i wyrzucania na świat niewidzialnych iskier? (S. 291) Aber haben ihre Knochen anstelle der nicht erlangten Lorbeeren nicht die Gabe erworben, auf ewig unter der Erde zu brennen und unsichtbare Funken in die Welt zu senden? Der Lechitismus bringt aber den Sinnaufbau dieses sorgfältig durchkonstruierten Romans nicht in Schieflage, weil in der Handlung der Personen zwar der Aufstand von 1863, aber nicht der Konflikt mit der Besatzungsmacht, der sich in ihm entladen hatte, eine Rolle spielt. Das kommt im Setting schon dadurch zum Ausdruck, dass sich das Grab jenseits des Flusses befindet. Wie in Pan Tadeusz ist die Gegenseite des Konflikts praktisch ausgeklammert, und wie dort führt auch hier der (abwesende) gemeinsame 42 (1985) In: Jerzy Kwiatkowski (Hrsg.), Poznawanie Miłosza. Studia i szkice o twórczości poety. Kraków/ Wrocław, S. 99-112. 43 W. Weintraub, The Poetry of Adam Mickiewicz, ’S-Gravenhage 1954, S. 247f. Ähnlich schon Zygmunt Szwejkowski, Pan Tadeusz - poemat humorystyczny, Poznań 1949, S. 7-10. <?page no="130"?> 130 Feind schließlich zu einer Verbrüderung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auf dieser Seite. Orzeszkowas Wald mit dem Heldengrab findet ein komisches Echo in Dolina Issy, durch das Miłosz einen bissig-ironischen Kommentar zu der lechitischen Seite von Nad Niemnem abgibt. Auch in Dolina Issy ist im 7. Kapitel von einem alten, sagenumwobenen Grab die Rede. Der Wald des Orzeszkowa’schen Heldengrabes ist zu einem kleinen Wäldchen geschrumpft, und die im Freiheitskampf gefallenen Helden sind zu einem Oberhirten geworden, der an einem zu großen Stück Käse erstickt ist. Durften die Helden auf Anweisung des Zaren nicht auf einem richtigen Friedhof begraben werden, so wurde auch der Oberhirte wegen seiner ungewöhnlichen Todesursache nicht auf einem Friedhof beerdigt. Doch warum ist der Oberhirte gerade an einem Stück Käse erstickt? Weil der Käse wiederum in Pan Tadeusz eine wichtige Sinnfunktion hat. Wir haben es hier mit einer intertextuellen Dreierbeziehung zu tun. Das Haus des alten Matyjasz in Pan Tadeusz zeugt von einer kriegerischen Vergangenheit. Heute aber ist das Waffenarsenal des alten Haudegens und Aufständischen (Teilnehmer an der Konföderation von Bar 44 ) verdeckt durch ein Regal, auf dem Käselaibe gelagert werden. Dies und noch einige andere Details zeigen, dass „Maciej Królik“ (Maciej Kaninchen), so sein Spitzname, häuslich und friedlich geworden ist. Miłosz, der Orzeszkowas Aufständischengrab in ein Oberhirtengrab verwandelt, verweist mit dem „Tod durch Käse“ auf eben diesen Wandel von kriegerischer zu häuslicher Mentalität, die offenbar auch „tödlich“ sein kann. Doch damit ist die parodistische Intertextualität zu Nad Niemnem noch nicht zu Ende. Das Grab, das in Nad Niemnem die Fähigkeit hat, die Menschen mit unsichtbaren Funken fürs Heldentum zu entzünden, erschreckt in Dolina Issy Pakienas, einen alten Weber, mit nächtlichem Spuk. Als er spät von einer Feier heimkehrt, verfolgt ihn vom Wäldchen her eine Rauchsäule. Die Rauchsäule verweist auf die lechitische Adaption des jüdischen Mythos vom Auserwählten Volk, auf den Messianismus also. Die Rauchsäule, in der Jahwe dem Volk vorausgeht und den Weg weist - diese Funktion sollte in Orzeszkowas Roman das Grab der gefallenen Helden erfüllen. Die Blitze, die die Knochen bei Orzeszkowa aus der Erde senden, werden bei Miłosz zum bösen Spuk, der die Menschen nicht in Ruhe lässt. Pakienas kann das „traumatische“ Erlebnis nicht vergessen, wie Anselm in Nad Niemnem, der das Gemetzel von 1863 überlebte und mit Pakienas die Schwermut und das Alter-Kavalier-Sein (starokawalerstwo) gemeinsam hat. Darüber hinaus hat Pakienas einen ins Ausland emigrierten Bruder, dem die Erinnerung an jene Nacht schnell vergangen ist, weil er das Wäldchen nicht wie Pakienas jeden 44 Die Konföderation von Bar (1768) war der erste polnische Aufstand gegen die politische Bevormundung Polens durch Russland, kurz vor der ersten Teilung Polens. <?page no="131"?> 131 Tag sehen musste, wie es in Dolina Issy heißt (S. 22). Dieser scheinbar überflüssige Einschub findet seinen Sinn im intertextuellen Bezug zu der Geschichte des Bruders von Benedykt, dem Pendant zu Anselm auf dem Herrenhof in Nad Niemnem. Benedykt hütet die Erinnerung, die ihn nicht loslässt. Er will den Wald, der das Heldengrab birgt, nicht verkaufen. Sein Bruder dagegen, der nach Russland ausgewandert ist und sich dort eine bürgerliche Existenz aufgebaut hat, beschwört ihn, alles zu verkaufen und wie er auszuwandern. Dieser Bruder war in Nad Niemnem noch zum Verräter stilisiert. In Dolina Issy ist aus dem Verräter ein ganz normaler Mensch geworden, der in Brooklyn Hosen bügelt. Darin liegt eine Spitze gegen die Tendenz des Lechitismus zur politischen Polarisierung. Von Miłoszs bissigen Witz gegen den Lechitismus zeugen auch die Begleitumstände von Pakienas’ nächtlichem Spukerlebnis. Pakienas kehrt gerade von einem „geselligen Abend“ von der anderen Seite des Flusses zurück - dem „geselligen Abend“, den die Aufständischen 1863 jenseits des Flusses mit russischen Truppen hatten, verdankt das Heldengrab seine Entstehung… Der Russizismus „wieczorynka“ für „Abendgesellschaft“ unterstreicht, dass Pakienas’ geselliger Abend tatsächlich eine Travestie jenes Gemetzels ist. Ein Aufständischengrab finden wir in Dolina Issy zwar nicht, aber immerhin das Grab der „Witwe eines Aufständischen“. Tomaszs Großmutter Brońcia Dilibin hatte einen schon etwas älteren Mann geheiratet, Artur, den „der Nymbus durchlebten Märtyrertums“ umgab (S. 51), weil er am Aufstand von 1863 teilgenommen hatte, weswegen sein Gut konfisziert wurde. Der Bezug ist schon hier vollkommen parodistisch, denn Artur war ein leichtsinniger Schwerenöter, dem der Verlust des Gutes nichts ausmachte, weil er „über die Besitztümer seiner Verwandten verfügte“. An Großmutter Dilibins Grab schlägt Tomasz nun vor, auf den Grabstein meißeln zu lassen: „Wdowa po powstańcu 1863 roku“. Bo była z tego dumna (S. 149). „Witwe eines Aufständischen des Jahres 1863.“ Weil sie stolz darauf war. Der „Chronist“ schiebt hier einen seiner seltenen Exkurse in die Zukunft ein. Theatralisch „läßt er die Feder sinken“ und denkt an die Menschen, die diesen Ort nach vielen Jahren besuchen werden. Was werden sie denken? „Jaki śmieszny stary krzyż“. „Te drzewa warto wyciąć, po co one tu potrzebne.“ (S. 149). „Was für ein lächerliches altes Kreuz.“ „Diese Bäume sollte man abholzen, wozu sind sie hier nötig.“ Gnadenlos demontiert Miłosz das heilige Gedenken an die Aufständischen, an dem sich Generationen unterdrückter Polen aufgerichtet haben. Die Gleichgültigkeit und Belustigung der Nachfahren ist hart abgesetzt gegen die sentimentalistische Stilisierung der Erzählerrede, und die Bäume, die in <?page no="132"?> 132 sentimentalistischer Tradition das Grab beschatten, sollen entfernt werden - sie sind überflüssig. Der Topos „Das Grab im Wald“ ist in Dolina Issy noch in einer weiteren Schwundstufe zu finden. Das Grab des Gründerpaares und das Aufständischengrab, die bei Orzeszkowa die beiden Punkte des Sinnursprungs bezeichnen, sind in der Topographie von Dolina Issy in der Dimension geschrumpft zum Familiengrab von Tomaszs Vorfahren auf der einen Seite und dem Holzkreuz mit dem traurigen, moosbewachsenen Christus auf der anderen Seite der Schwedenwälle. Im Vergleich zu Nad Niemnem wird hier die objektive, auktoriale Sicht zum personalen Blickwinkel von Tomasz, und die Vorfahren „aller“ werden zu den Vorfahren von Tomasz. Der Fluchtpunkt nationaler Trauer schließlich wird, auch das nicht ohne Ironie, zum „moosbewachsenen, traurig dreinblickenden Jesus“ (S. 11). Doch es gibt in Dolina Issy auch einen ernsthaften Gedanken zum Lechitismus. Angesichts ihres Enkels Tomasz fragt sich Großmutter Dilibin, die „Witwe eines Aufständischen“: Wnuk. Dobra krew czy zła krew? Męskość i burzliwość Artura czy jej lęk przed ostrością wszystkiego, co tu na ziemi w nas uderza? Czy krew tych - dzikusów? (S. 126). Ein Enkel. Gutes oder schlechtes Blut? Die Männlichkeit und das aufbrausende Wesen Arturs oder ihre Furcht vor der Heftigkeit von allem, was einem im Leben einen Schlag versetzt? Ob er das Blut dieser - Wilden hat? Artur und Großmutter Dilibin vertreten hier die beiden Seiten des Lechitismus. Aufstand oder Regression in die Idylle, das ist die Alternative, vor der die Polen immer wieder standen, und vor der auch Tomasz stehen wird. Miłoszs Roman gibt auf Großmutter Dilibins Frage keine Antwort. Tomaszs Zukunft wird im Unklaren gelassen. Die Tradition der Idylle Eine Konstante der polnischen Literatur, die Pan Tadeusz wesentlich prägt, ist nach Miłosz die Idylle (polnisch und im Weiteren: Sielanka): A jest Pan Tadeusz najdoskonalszą destylacją i zamknięciem całej sielankowej poezji staropolskiej. 45 Aber Pan Tadeusz ist die vollkommenste Destillierung und der vollkommenste Abschluss der ganzen altpolnischen Idyllen-Dichtung. Allgemein äußert sich Miłosz zu dieser Konstante im Gespräch mit Fiut (S. 133f.), vor allem aber in Prywatne obowiązki (S. 69, 71, 96 und 141). Die gesamte polnische Kultur sei ihrem Wesen nach bukolisch (S. 71), der „Geist 45 Prywatne obowiązki, S. 96. <?page no="133"?> 133 der polnischen Poesie“ sei die Idylle (S. 141). Er beruft sich dabei auf Kazimierz Brodziński, der das „als einziger des gesamten Jahrtausends“, wie Miłosz pathetisch formuliert, erkannt habe (S. 141). Brodziński hatte 1818 in der Abhandlung O klasyczności i romantyczności tudież o duchu poezji polskiej 46 zwischen Klassik und Romantik vermitteln wollen und als Kompromiss vorgeschlagen, Werke zu schaffen, die den Geist der polnischen Poesie am besten auszudrücken vermöchten - Idyllen eben. Unter den Untersuchungen zur umfangreichen polnischen Tradition der „Sielanka“ 47 gibt es allerdings keine, in der Brodzińskis These affirmiert würde. Es überwiegen die vorsichtig distanzierten bis negativen Urteile. So nennt Manfred Kridl 48 die theoretischen Schriften Brodzińskis eklektisch und konfus; die These von der Idylle als dem Hauptzug der polnischen Seele begrenze und verenge die nationale Literatur. Doch Kridl, der Brodziński eine „Unfähigkeit, exakt zu argumentieren“ bescheinigt, argumentiert hier selbst ungenau. Nicht um den Hauptzug der polnischen Literatur soll es sich ja handeln, sondern um den Hauptzug der polnischen Seele, der in der Literatur auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen kann. Kridls Ungenauigkeit wird verständlich, wenn man sieht, welche praktische Schlußfolgerung Brodziński selbst aus seiner These gezogen hat. Er schrieb fortan gattungsmäßig strenge, an die antiken Vorbilder angelehnte Eklogen und Idyllen. Mit einem solchen Programm wären in der Tat die Entwicklungsmöglichkeiten der polnischen Literatur und die Perspektiven der in Polen eben aufblühenden Romantik verengt worden. Miłosz versteht Brodzińskis These nicht als poetisches Programm, sondern als Identifizierung einer Hauptströmung der polnischen Literatur. Das gilt zunächst natürlich für die Zeit vor Brodziński, d.h. bis zum Beginn der Romantik. Die Liste der Idyllendichtungen gerade unter den Hauptwerken der polnischen Literatur ist erstaunlich lang. Schon Rejs Wizerunek własny żywota człowieka poczciwego (Das getreue Bild des Lebens eines rechtschaffenden Menschen, 1558) mündet in das horazische Lob des Landlebens und enthält auch manche ilyllischen Landschaften. Kochanowskis Pieśń święto- 46 „Über Klassik und Romantik sowie den Geist der polnischen Poesie“, zuletzt als Nr. 10 der Biblioteka Narodowa, Ser. 1, Kraków o.J. 47 L. Kamykowski, Sielanka polska in: Prace historyczno-literackie ku czci I. Chrzanowskiego, Kraków 1938; R. Przybylski, Et in Arcadia ego. Esej o tęsknotach poetów, Warszawa 1966; T. Kostkiewiczowa, Klasycyzm, sentymentalizm, rokoko. Szkice o prądach literackich polskiego Oświecenia, Warszawa 1975; J. Sokołowska, Dwie nieskończoności. Szkice o literaturze barokowej Europy, Warszawa 1978; J. Olejniczak, Arkadia i małe ojczyzny, Kraków 1992. Z. Szwejkowski beruft sich dagegen auf Brodziński, wenn er in Pan Tadeusz - poemat humorystyczny in einer Reihe von Merkmalen den Idyllencharakter von Pan Tadeusz aufweist. Dieser Charakter verbinde Pan Tadeusz mit der Tradition der gesamten altpolnischen Literatur (S. 75). 48 A survey of Polish literature and culture, The Hague 1967, S. 209-211. <?page no="134"?> 134 jańska o Sobótce (Johannisnacht-Lied, 1586) ist eine Sielanka, 49 Szymon Szymonowicz schuf mit seinen Sielanki (1614) ebenso sein Meisterwerk wie Szymon Zimorowicz mit dem Idyllenkranz Roxolanki (Ruthenische Mädchen, 1654). Idyllen schufen die Barockdichter Samuel Twardowski, Maciej Sarbiewski (auf Latein), Stanisław Trembecki, Adam Naruszewicz; fast ausschließlich bukolische und georgische Dichtung verfaßten zur Zeit des Sentimentalismus Franciszek Karpiński und Dionizy Kniaźnin, im Klassizismus Kajetan Koźmian und schließlich Brodziński selbst. Allen Epochenschwellen zum Trotz blieb die Sielanka 350 Jahre lang die Dominante der polnischen Literatur. Innerliterarisch ist diese Dominanz vielleicht mit dem großen Einfluss der lateinischen Dichtung seit dem Humanismus zu erklären. Im Humanismus gewann die polnische Literatur ihre Dynamik und ihre europäische Wirkung, und die literarische Konstellation ihrer Geburtsstunde bestimmte fortan ihren Charakter. 50 Außerliterarisch ist die Dominanz der Idylle in der älteren polnischen Literatur mit der damals kaum städtischen und wenig zentralistischen sozialen Organisation des Adels und mit Polens wirtschaftlicher Prosperität als Agrarland zu erklären. Doch die Sielanka hatte schon zu Brodzińskis Zeit, wie seine Kritiker bemerken, ihre Dynamik verloren. Auf der Genre-Speisekarte von Romantik, Realismus, Symbolismus, Avantgarde und Neorealismus hatte sie erst recht keinen Platz mehr. Wie kann dann Miłosz Brodzińskis These aufgreifen und auf das 19. und 20. Jahrhundert ausdehnen? Der „bukolische Reflex“ der polnischen Kultur, nach dem das alte Polen „die prädestinierte gute Ordnung, den Garten des Schöpfers“ repräsentierte (Prywatne obowiązki, S. 69), ging nach der Zerstörung dieser Ordnung in den Untergrund. Er wurde zu einer Unterströmung, die die Gattungen in allen folgenden Epochen bukolisierte. Noch der Lechitismus ist, so Miłosz, ein Produkt dieses bukolischen Reflexes. Er ist die Empörung und das Weinen eines in die Kälte der politischen Realitäten ausgesetzten Paradieskindes. 51 Unsere Betrachtung 49 Die Sielanka steht allerdings nicht im Zentrum von Kochanowskis Dichtung - vielleicht weil er kosmopolistischer orientiert war als die meisten anderen polnischen Dichter. Zu Kochanowskis Verhältnis zur Idyllen-Tradition vgl. Janusz Pelc, Jan Kochanowski, Warszawa 1980 S. 387-395. 50 Die Treue der Nationalliteraturen zu ihrer „Taufepoche“ ist ein Faktor in der europäischen Literaturentwicklung, dem noch wenig Beachtung geschenkt worden ist. Die Philosophienlastigkeit der deutschen Literatur wurde durch Goethe und Schiller inauguriert, die clarté der französischen Literatur durch Racine, die Fixierung auf die innere Zerrissenheit des Individuums in der russischen Literatur durch Puškins Evgenij Onegin usw. 51 J. Olejniczak schreibt in Arkadia i małe ojczyzny, S. 102, Brodzińskis Urteil zwar keine universale Relevanz für die polnische Literatur zu, sieht ihn aber als einen Vorläufer von polnischen Autoren des 20. Jahrhunderts, die wie Miłosz aufgrund <?page no="135"?> 135 von Dolina Issy vor dem Hintergrund von Pan Tadeusz und Nad Niemnem zeigt diese Unterströmung der neueren polnischen Literatur in der Romantik, im Positivismus und in der Literatur nach dem Ende der Avantgarde. Die Idylle manifestiert sich hier in den Gattungen des Versepos und des Prosaromans, die den antiken Vorbildern und deren neuzeitlichen Imitationen ganz fremd sind, und zudem in Epochen, die sich anti-antikisierend und außer in Polen auch als ausgesprochen antiidyllisch präsentieren - in der Romantik und im Realismus. Das zeigt die Stärke und Langlebigkeit dieser Tendenz in der polnischen Literatur. Kein poetisches Programm ist die Idylle für Miłosz, sondern eine Tatsache, der man sich als polnischer Schriftsteller zu stellen hat. Die Grundlage der Idylle ist die Affirmation der Welt (Gespräch mit Fiut, S. 134). Arkadien ist ja dem Mythos nach bewohnt, an die Möglichkeit einer „arkadischen“ Welt unter Einbeziehung des Menschen wird also geglaubt. Mit der stofflichen und sinnlichen Konkretheit der beschriebenen Landschaft ist zudem verbürgt, dass Schönheit, Friede und Harmonie möglich und auch wirklich sind, getreu der Logik, nach der auch ein Traum seine materiellen Voraussetzungen in erlebter Wirklichkeit hat. Nun hat die polnische Gesellschaft über die Jahrhunderte ihre Unschuld nicht verloren oder zumindest kulturell nicht zur Kenntnis genommen, dass sie ihre Unschuld verloren hat. Der gemeinsame äußere Feind wirkte verbindend, so dass der polnische Löwe friedlich neben dem polnischen Schaf zu liegen scheint. 52 Kazimierz Wyka hatte Miłosz in einer Rezension zu dessen Gedichtband Ocalenie (Rettung, 1945) vorgeworfen, von Arkadien nur zu träumen, um einen Vorwand für seine Haltung der ästhetistischen Kontemplation und der egotistischen Isolierung zu haben. 53 In einer scharfen Replik dagegen betont Miłosz die Universalität des arkadischen Mythos, der sich nicht auf die falschen Schäferinnen des Rokoko reduzieren lässt. Mit ihrem Traum vom locus amoenus ziehen sich die Dichter durchaus nicht in eine private Glückseligkeit zurück, sondern geben der Menschheit ein Gesicht, indem sie ihr ihre Bestimmung vor Augen führen. 54 Damit ist der offensive, der gestalterische Sinn der „idyllischen“ Affirmation der Welt bezeichnet. ihrer persönlichen Situation (Emigration) und der allgemeinen politisch-sozialen Situation (Zerstörung und Versklavung ihrer polnischen Heimat) eine Neuauflage der Idylle inszenierten. 52 Darum die zahllosen Verbrüderungsgeschichten zwischen Volk und Adel, zwischen Bauern und Intelligenz in der polnischen Literatur bis hin zu Wyspiańskis Wesele. 53 Ogrody lunatyczne i ogrody pasterskie, abgedruckt in Poznawanie Miłosza, Kraków 1985, S. 15-41, hier S. 37. Zu den mehr politischen als künstlerischen Implikationen dieses Vorwurfs vgl. J. Olejniczak, Arkadia i małe ojczyzny, S. 198. Zum Gedicht Ocalenie und der Rettungsfunktion der Dichtung vgl. oben S. 98-107. 54 In List półprywatny o poezji (1946), abgedruckt in: Czesław Miłosz, Zaczynając od moich ulic, Paris 1985, hier: S. 87-89. <?page no="136"?> 136 Mythos Litauen „Niemand kann mich verdächtigen, dem snobistischen Litauen-Kult zu huldigen“, verkündet Miłosz in Prywatne obowiązki (S. 64). Das hat er wahrhaftig nicht nötig, denn er ist von dem Mythos Litauen, mit dem mancher Pole Eindruck schinden will, wahrhaft durchdrungen. Was hat es mit diesem Kult auf sich? Seit Mickiewicz gilt Litauen als der Prototyp der verlorenen Heimat. Die Westverschiebung Polens 1945 hat nur über ein ganzes Volk gebracht, was einige schon exemplarisch vorerlebt hatten. Die Zwangsumsiedlung aus dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen, das an die UdSSR fiel, in die ehemaligen deutschen Ostgebiete war für die Polen vielleicht noch traumatischer als die Vertreibung für die Deutschen, denn Groß-Litauen ist auch die Heimat des polnischen Werte- und Geschichtsbewusstseins - nicht nur als Geburtsland seiner großen Schriftsteller. So mussten Kmicic und Wołodyjowski, die Helden von Sienkiewiczs populärer Romantrilogie, unbedingt von einem Gutshof in Litauen stammen (vgl. Ziemia Ulro, S. 86). Seit Mickiewicz und Słowacki gilt der Osten auch als die Heimat der Propheten und Führer des Volkes (polnisch: Wieszcze). Das machte sich auch Polens Diktator Józef Piłsudski zunutze. Ein wichtiges Element des Piłsudski-Kultes im Polen der Zwischenkriegszeit war seine Herkunft aus Litauen. Miłosz geht auf die „Weihen“ der litauischen Herkunft halb ernst, halb scherzhaft in Ziemia Ulro ein (S. 84f.). Es gebe in Polen zwei Kastensysteme, ein gewöhnliches der mehr oder weniger adeligen Geburt und ein spezielles der Herkunft. Bei einem Treffen mit Gombrowicz, der sich gern auf seine adelige Herkunft berief, entgegnete Miłosz ihm, er komme doch aus Zentralpolen. Das war ein echter Schlag für Gombrowicz, berichtet Miłosz, und Gombrowicz hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihm die Herkunft seiner Vorfahren von den Ufern der Niewiaża, dem Herzen Litauens, darzulegen. In seinem Essay über Gombrowicz (Prywatne obowiązki, S. 110- 122) meint Miłosz belustigt, nach seinem Tod sei Gombrowicz selbst zu einem „Wieszcz“ erhoben worden - hatte sich dieser doch in Ferdydurke über den polnischen Propheten-Kult lustig gemacht. Jerzy Jarzębski schließlich macht in Być wieszczem - wiederum in scherzhaftem Ton - Miłosz selbst zum Konkurrenten Gombrowiczs um die Würde eines Propheten. 55 Offenbar entkommt man in Polen dem Mythos der Herkunft nicht. Für Miłosz ist Litauen tatsächlich der verlorene Ort einer glücklichen Kindheit, zu dem es keine Rückkehr gibt. Den Verlust der Heimat hat Miłosz gleich mehrfach, gleichsam in drei Stufen, erlebt und jedes Mal als eine menschliche wie dichterische Krise thematisiert: seine durch nationa- 55 In: Czesław Miłosz, Hg.: Wiesław Paweł Szymański, Warszawa u.a. 1987 (Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego 786), S. 97-118. <?page no="137"?> 137 listische polnische Kreise betriebene Vertreibung aus Wilna, die ihn 1937 nach Warschau führte, sein Bruch mit Volkspolen, vollzogen 1951 mit dem Austritt aus dem Diplomatischen Dienst, der ihn zu einem „echten“ Emigranten in Paris machte, und sein Abschied von Europa mit Antritt der Professur in Berkeley. So überlagerten sich drei geographische und kulturelle Räume: Litauen wurde zum Sinnbild für Polen, Litauen und Polen wurden zum Sinnbild für die Alte Welt, für Europa. 56 Umgekehrt ist Polen das Herzstück des mit der letzten Emigration zurückgelassenen europäischen Werte- und Geschichtsbewusstseins, und das Herzstück dieses polnischen Traditionalismus ist, wie gesagt, Litauen. Und Miłosz spitzt den Mythos der Herkunft noch zu. Das Herz Litauens ist das Tal der Niewiaża. Es ist damit für Miłosz zugleich der Prototyp des locus amoenus. Stolypin, der Kanzler des russischen Riesenreiches, habe das Tal der Niewiaża als den landschaftlich schönsten Ort des Reiches zu seiner Sommerresidenz erwählt. Den Bericht von L. Jucewicz, dem Etnographen und Folkloresammler Litauens, über die Schönheit dieses Tales müsse heutzutage jedes Kind in Litauen in der Schule lesen - in einer Übersetzung aus dem Polnischen ins Litauische! (Gespräch mit Fiut, S. 151). Damit verrät Miłosz zugleich, dass für ihn, wie schon für Mickiewicz und Orzeszkowa, die kulturelle Identität dieses Mittelpunktes der Welt polnisch ist, auch wenn er, anders als jene, in Dolina Issy immerhin echte Litauer auftreten lässt. 57 Er meint es den Litauern schuldig zu sein, den Mangel an ethnischer Realistik bei Mickiewicz und Orzeszkowa auszugleichen. Klar ist, und Miłosz spricht es im Gespräch mit Fiut auch aus (S. 35), dass das Tal der Issa das fiktionalisierte Tal der Niewiaża ist. Die besondere Schönheit des Tales der Niewiaża war ein gängiger Topos. Das zeigt die Erzählung Das namenlose Grabmal am Niemen des Reiseschriftstellers Teodor Tripplin. Tripplin reproduziert allgemein bekannte Litauen-Mythen und kommt dann auf das „schöne, fruchtbare und reiche“ Land an der Niewiaża zu sprechen. Man könne von der Schönheit dieses Landstrichs eigentlich gar nicht berichten, weil man der Übertreibung verdächtigt 56 Darum lautet der Titel von Miłoszs autobiographischem Essay Rodzinna Europa (heimatliches Europa). 57 Miłosz weist darauf hin, dass im Bewusstsein der in Litauen lebenden Polen - oder der polnisch sprechenden Litauer - zwischen ihrer polnischen und litauischen Identität kein Widerspruch bestand. Seine Generation sei die letzte, für die gelte: gente Lituanus, natione Polonus (Gespräch mit Fiut, S. 153). Daraus erklären sich auch die krassen Unterschiede in den nationalen Anteilen, die von den Volkszählungen von 1897 durch russische Behörden und 1923 durch litauische festgestellt wurden (vgl. L. Raschke-Raschkes, Die Bevölkerung Litauens nach ihrer nationalen Struktur, Berufsgliederung und gesellschaftlichen Schichtung, Berlin (Diss) 1931, S. 8-12) - die einen fragten nach gente, die anderen nach natione. <?page no="138"?> 138 würde. Die Wasser singen und klingen, die Berge sind von blühenden Hainen bekränzt usw. usw. Doch Litauen ist nicht nur der locus amoenus, es ist auch der locus metaphysicus. Diesen Mythos schürt Miłosz bei jeder Gelegenheit. Es beginnt mit der These mancher Linguisten, die litauische Sprache sei unter den lebenden indogermanischen Sprachen die archaischste und darum dem Latein sehr ähnlich. In die mystische Frühzeit der europäischen Kultur verweist auch die Tatsache, dass die Litauer die „letzten Heiden in Europa“ waren - daran knüpfen sich Vorstellungen vom unverbildeten Naturvolk, das Sonne und Mond zu Gottheiten hat und im Einklang mit der Natur lebt. Solche Archaik verbindet die Litauer erneut mit den antiken Vorstellungen vom Volk der Arkadier. Für die neuere Zeit hat v.a. Andrzej Niemojewski die metaphysischen Qualitäten Litauens dargelegt. Miłosz diskutiert sein Buch Dawność a Mickiewicz (1918) in Ziemia Ulro (S. 113-118) ausführlich, denn es ist für seine dort entwickelte Konzeption des locus metaphysicus wichtig. Niemojewski stellt dem nüchternen, rationalen Kronpolen das metaphysische, zur Phantastik neigende Litauen gegenüber. Und in der Tat bringt ersteres hervorragende Mathematiker und philosophische Logiker hervor, letzteres dagegen Propheten. Litauer sind mystisch gestimmt, Kronpolen aufklärerisch. Man sollte das nicht als Völkerpsychologie abtun. Es ist ein Mythos, den die Menschen sich selbst geben und der darum nach dem Gesetz der ‚self fulfilling prophecy‘ funktioniert. 58 Außerdem vertritt Niemojewski die These, der Zerfall der religiösen Spiritualität in Europa müsse den Winkel des Kontinents zuletzt erfassen, in dem das Christentum am spätesten Fuß gefasst hat - Litauen. Wenn Miłosz die Thesen Niemojewskis auch nicht ausdrücklich affirmiert, so entwickelt er sie in Ziemia Ulro doch weiter - zum Mythos der „spirituellen Heimat“. Er berichtet, wie Oskar Miłosz 1922 nach Litauen fuhr, um seine „spirituelle Heimat“ aufzusuchen. Für Miłosz bleibt, wo die religiöse Spiritualität nicht mehr greifbar scheint, als letzter Rest von Seele im Menschen seine Verwurzelung in der Heimat, in ihren Gebräuchen und ihrem Lebensrhythmus bestehen. Und so verbinden sich der Mythos Litauen und der Mythos Heimat zum Mythos von der Heimat Litauen. 59 58 Vgl. Miłosz im Gespräch mit Fiut, S. 157: „Zamiast rzucić prawo, które mnie obrzydło okropnie, skończyłem i dostałem dyplom, żeby nie narazić się na zarzut, że ja ‘koroniarz’“ (Statt Jura, das mir schrecklich verleidet war, zu schmeißen, habe ich es beendet und das Diplom bekommen, um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, ich sei ein ‘Kronpole’). 59 Zum Mythos Litauen vgl. jetzt auch: Maria Zadencka, W poszukiwaniu utraconej ojczyzny, Uppsala 1995. Auf den Seiten 123-139 referiert Zadencka einige kritische Äußerungen Miłoszs über den Ethnizismus. <?page no="139"?> 139 Litauische Idyllen Litauens Anspruch, der eigentliche locus amoenus Europas zu sein, hat bereits Mickiewicz angemeldet - im Wettstreit zwischen dem Grafen und Telimena auf der einen Seite und Tadeusz auf der anderen Seite um die größere Schönheit Italiens oder Litauens (III/ 530-653). Zitronenbäume, Zypressen und der blaue Himmel über dem „Garten der Cäsaren“ (III/ 536) markieren den antiken, den Vergilischen locus amoenus, dem die sentimentalistisch und im Geiste des Rokoko gestimmten Weltbürger Telimena und der Graf huldigen. Die Gegenposition vertritt Tadeusz - und hier begeht Mickiewicz bewusst einen Verstoß gegen das von ihm entworfene Bild der naiven und unbedarften Psyche seines Helden: Był on prostak, lecz umiał czuć wdzięk przyrodzenia I patrząc w las ojczysty rzekł, pełen natchnienia […] (III/ 578f.). Er war ein Simpel, aber er konnte die Anmut der Natur fühlen Und er sprach, auf den heimatlichen Wald schauend, voller Inspiration 60 Tadeusz scheint hier eine Erzähler-Apostrophe an den Leser aufzunehmen, in der es hieß: A przecież wokoło nich ciągnęły się lasy Litewskie! tak poważne i pełne krasy (III/ 548f.). Aber schließlich erstreckten sich um sie her die Wälder Litauens! so ehrwürdig und voller Schönheit. Die Natürlichkeit litauischer Bäume wird der Künstlichkeit italienischer Hartlaubgewächse gegenübergestellt. Der Paradigmenwechsel von „lieblich und glatt“ zu „herb und rau“ entspricht der nordischen, ossianischen Spielart der Romantik. So stellt Tadeusz auch den stürmischen und bewölkten Himmel Litauens über das eintönige Blau des Himmels über Italien (III/ 630- 653). Diesen Aspekt greift Miłosz vielfach auf. Wolken werden ihm zum Signum des belebten Himmels über Litauen, der die Phantasie anspricht, dem Raum eine Tiefenperspektive gibt und Geborgenheit vermittelt. 61 Zum antiken locus amoenus aber bleibt in Pan Tadeusz die Bindung insofern in Kraft, als hier statt dem lieblichen Arkadien Vergils das raue, von einem wilden und barbarischen Volk bewohnte Arkadien des Ovid und des Pausanias aufgerufen wird. Nun berichtet allerdings Miłosz im Gespräch mit Fiut, dass ihn schon in seiner Jugend geärgert habe, wie ungenau die Flora Litauens in Pan Tadeusz beschrieben sei. Als Beispiel führt er Rotbuchen (buki) an. Sie gebe es in 60 Die Inspiration muss ihm hier der Dichter einhauchen, damit er zu seiner porteparole wird. 61 Zu den Wolken als Motiv bei Miłosz vgl. oben S. 80-84. <?page no="140"?> 140 Litauen nicht, die Vegetationsgrenze für Rotbuchen verlaufe weiter südlich. Er sei, so fügt Miłosz scherzhaft an, damals eben eher auf die Natur als auf die Literatur gestimmt gewesen. Doch das von ihm gewählte Beispiel wird „unversehens“ zu einer Komponente des literarischen Sinns. Gleich zu Beginn von Dolina Issy, in der einleitenden Beschreibung der litauischen Landschaft, heißt es: […] brak całkowicie buków, granica ich zasięgu przebiega o wiele dalej na południe (S. 7). […] Rotbuchen fehlen ganz, die Grenze ihres Verbreitungsgebietes verläuft viel weiter südlich. Einzig von den Rotbuchen sagt der Erzähler von Dolina Issy ausdrücklich, dass sie nicht in Litauen wachsen - weil Mickiewicz sie in Pan Tadeusz dort wachsen ließ. Ein indirekter Hinweis darauf, dass Mickiewicz sein litauisches Arkadien versüdlicht hat. Das bringt Mickiewicz selbst in eine Analogie zu Telimena und dem Grafen, die die falschen, lieblich-südlichen Bäume preisen. Auch in Nad Niemnem gibt es eine Stellungsnahme zur geographischen Breite Arkadiens. Der Hausherr von Korczyn pflanzt seiner - nach der Besseren Gesellschaft und der Exotik ferner Länder dürstenden - Frau zuliebe in seinem Garten exotische Pflanzen, sogar Ananas an. In allen drei Fällen macht Litauen dem im doppelten Wortsinne klassischen Süden sein Recht, der locus amoenus zu sein, streitig. Der Mythos wird bestätigt und modifiziert. Ja, es gibt diesen Ort, doch er liegt nicht im Süden, sondern im Norden. Der Süden hat seine Rolle ausgespielt, seine Bewohner, vor allem aber die Touristen, die dorthin strömen, sind nicht mehr auf archaische Weise mit dem Boden ihrer Heimat verwurzelt wie noch der Bauer aus der Frühzeit der Römischen Republik, der schon für Vergil eine Figur aus einer verlorenen alten Zeit war. Exponent der Verehrung des falschen, des künstlichen südlichen Arkadiens ist in Nad Niemnem Zygmunt, der eingebildete, talentlose Künstler. Er behauptet, nur der Süden gebe ihm Inspiration. In Rom, in Florenz finde er die „Schönheiten einer herrlichen Natur“ (S. 436), in Litauen dagegen nur „Gewöhnlichkeit, Langeweile und schlechte Laune“ (S. 437). Seine Mutter, die sich weigert, ihr Gut zu verkaufen und damit ihre Verwurzelung aufzugeben, antwortet ihm mit einer Apologie der Natur Litauens, die der Tadeuszs in Pan Tadeusz ähnlich ist: Czy tu ziemia nic nie rodzi? czy tu słońce nie świeci? czy tu królewstwo trupów? że żadnego błysku piękna i życia dokoła siebie znaleźć nie możesz? (S. 441). Bringt die Erde hier nichts hervor? Scheint die Sonne hier nicht? Ist hier das Reich der Toten? Kannst du denn um dich herum keinen Funken Schönheit und Leben finden? <?page no="141"?> 141 Idyllen überhaupt Es gibt kaum einen Artikel zu Dolina Issy und kaum eine Monographie, in der nicht erwähnt würde, dass dieser Roman eine heile Welt, einen Garten Eden, eine Idylle entwirft. Doch niemand geht auf die metaphysischen Implikationen ein, die das für Miłosz hat. Miłosz mag seinen eigenen Roman nicht deuten, aber seinen Äußerungen zu den metaphysischen Qualitäten von Pan Tadeusz kann man entnehmen, welchen Stellenwert die Sielankowość, die Idyllik, auch in Dolina Issy hat. Angeregt von G.R. Noyes, der Mickiewicz mit dem englischen metaphysical poet Thomas Traherne verglichen hat, entwickelt Miłosz in Ziemia Ulro (S. 133) seine Vorstellung von Pan Tadeusz als metaphysischem Epos - allerdings eher in Andeutungen als in ausformulierten Gedanken. 62 Metaphysisch sei Pan Tadeusz, weil sein Gegenstand die gute, harmonische Ordnung des Daseins, d.h. „ład“ und nicht etwa „porządek“, was eher die deutsche Ordnung meint, sei. Dies sei, so Miłosz, keine Folge der patriarchalischen Gesellschaftsordnung. Vielmehr ist umgekehrt die patriarchalische Ordnung, wenn sie sinnerfüllt und nicht lediglich formalistisch ist, der Niederschlag einer Sakralität des Daseins. Man erinnere sich: Die Rangordnung „nach Amt, Alter und Geschlecht“ (bei Tisch, beim Spaziergang) wird in Pan Tadeusz von allen freiwillig eingehalten, aus dem Harmoniebedürfnis aller Personen heraus. Der Richter (Sędzia) steht für die Ordnung ein, weil man es „von alters her“ so gemacht hat, und so haben wir als zweiten Faktor der Metaphysik die Zeit. Nach Miłosz ist sie in Pan Tadeusz als zyklische Zeit verstanden. Zu Seweryn Goszczyński habe Mickiewicz 1849 gesagt, der Bauernkalender und das Brevier seien die wichtigsten Bücher des Menschen (ZU S. 133). Also sind Landwirtschaftsjahr und Kirchenjahr die Zyklen, in denen die menschliche Existenz ihre Ordnung, ihre Harmonie findet. Von der sakral geordneten Zeit unterscheidet Miłosz die sinnlose mechanisch gemessene Zeit der Uhren. Zeit als harmonische Ordnung ist nicht messbar, sondern nur erfahrbar. Dass dieses Konzept auch religiöse Implikationen hat, zeigt der Hinweis auf die Sakralität der Zeit. Der Bauernkalender allein reicht nicht, es muss der religiöse Ritus hinzukommen, der den Sinn der Zeit zur Anschauung bringt. Erst dann wird Ordnung zu Harmonie. Analoges sagt Miłosz - in Andeutungen - auch von der dinglichen Welt in Pan Tadeusz. Die Gurken und Melonen im Gemüsegarten seien nicht bloße Symbole, wie die „bloß-noch-Symbole“ in der degenerierten literarischen Form des „Symbolismus“, denn sie seien zugleich in ihrer ganzen Fülle sie selbst (ZU S. 133). Die symbolische Bedeutung des Gartens liegt dabei nicht allein in der Anthropomorphisierung der Pflanzen, deren „Zu- 62 Im Gespräch mit Fiut (S. 126f.) wiederholt er diesen Gedanken, verweist dabei jedoch weitgehend auf Ziemia Ulro. <?page no="142"?> 142 sammenleben“ zum Abbild der Gesellschaft wird. Entscheidend für den Parallelismus zwischen Gemüsegarten und Gesellschaft ist zum einen die Verwurzelung der Pflanzen im Boden und zum anderen die Etymologie des Wortes „ogród“ (Garten), ursprünglich „durch einen Wall geschütztes Stück Land“. 63 Garten bedeutet darum nicht nur „Obhut“, er ist sie auch, und er bedeutet nicht nur Harmonie, sondern ist angeschaute Harmonie. Und so liegt der Sinn nicht jenseits der sinnlichen Erfahrung, sondern in ihr. Harmonische Ordnung kann nur sichtbare Ordnung sein. Auch dieses Argument hat religiöse Implikationen. Darum bezeichnet Miłosz die Welt von Mickiewiczs Epos unter Rückgriff auf das Bild des Gemüsegartens als „Garten des Herrn“. 64 Man sieht, wie wichtig es ist, dass der Gemüsegarten bei Mickiewicz gerade von Zosia gehegt wird, denn sie erscheint als weiße, zarte Lichtgestalt, mithin als Engel. Die Anwesenheit des Sakralen im Garten kommt bei Miłosz in Dolina Issy, Kapitel 6 zum Ausdruck. Die „Himmelsschlüsselchen“ (pln. wtl.: Schlüsselchen des heiligen Petrus) und gleich darauf die Pfingstrosen, die Antonina schneidet, um sie in die Kirche zu bringen, schaffen einen markanten Parallelismus zwischen Garten und Religion. Miłosz versteht Pan Tadeusz als radikale Gegenposition gegen abstrakte Ordnungsbegriffe. 65 Man muss den Blick von der Sonne [des reinen Geistes, der Abstraktion] abwenden, weil sie alles und darum nichts ist, und weil man, in die Sonne schauend, die Erinnerung an die Dinge verliert, die man gesehen hat. Man muss sich zu den Dingen hinunterbeugen, wo der Strahl von der Erde zurückgeworfen wird, schreibt Miłosz in dem Gedicht Słońce (Die Sonne), das den Zyklus Świat (Poema naiwne) abschließt. Das hat schon Aleksander Fiut in Wygnanie z raju 66 als künstlerisches Programm verstanden. Macht die Aufforderung, sich der dinglichen Welt auf diese Weise zuzuwenden, die zu der Zeit Thomas von Aquins revolutionär war, heute noch Sinn? In Ziemia Ulro (S. 250f.) meint Miłosz - ja, denn Geschichte ist für ihn keine chronologische Bewegung auf etwas hin, sondern eine geistige Bewegung auf etwas zurück. Der geschichtliche Sinnursprung von Raum und Zeit ist universell, für die ganze Menschheit, formuliert im Mythos von Arkadien und im Mythos vom glücklichen Landleben. Das ist die metaphysische Botschaft der Idylle, und das ist der Grund, warum immer noch Idyllen geschaffen werden können, auch heute, wo viele meinen, wir lebten nach dem Ende der Geschichte. 63 A. Brückner, Słownik etymologiczny języka polskiego, Kraków 1927. 64 Der Titel von Miłoszs Essay-Sammlung Ogród nauk (Garten der Wissenschaft) ist, legt man einen modernen, antimetaphysischen Wissenschaftsbegriff zu Grunde, ein ironisches Oxymoron. 65 Der Towianismus war für Mickiewicz eine so verhängnisvolle Metaphysik, weil er einen abstrakten Begriff von der kosmischen Ordnung implizierte. 66 Abgedruckt in Poznawanie Miłosza, Kraków 1985, S. 311-338, hier: S. 335. <?page no="143"?> 143 Es ist also keine Verzerrung der Realität, wenn in Pan Tadeusz immer schönes Wetter zu sein scheint, wenn uns Mickiewicz „nur Spätsommer und Frühling darbietet, Soplicowo, vom Licht übergossen, mit Speisen und Trank in Fülle“, 67 sondern es ist die Heimat: da, wo der Sinn von Zeit und Raum ist. Die Bewohner von Mickiewiczs Arkadien leben zwar nicht auf der Insel der Seligen. Sie werden durchaus von der Weltgeschichte berührt. Doch alle zerstörerische Dynamik der Geschichte verstehen sie in eine Art Gesellschaftsspiel abzuleiten, in Kollisionen innerhalb eines Talons fest definierter Figuren und Funktionen, die immer neue, aber eingegrenzte und darum überschaubare Konstellationen ergeben, wie die Figurengruppen auf dem Tafelaufsatz („Arcyserwis“), der darum im letzten Buch von Pan Tadeusz so ausführlich beschrieben wird (XII/ 26-135). Der Tafelaufsatz ist als Kunstgegenstand ein „Bild im Bild“ von Pan Tadeusz, das die Intentionen des „letzten Epos“ zusammenfasst und anschaulich macht. Rousseauistische Assoziationen weckt in Pan Tadeusz das ‚Paradies im Paradies‘ - das Urwalddickicht, dessen Beschreibung einen großen Teil des 4. Buches einnimmt (IV/ 477-565). Hier hat die menschliche Zivilisation die Tiere noch nicht verdorben. Sie leben hier friedlich und in wohlgeordneten Verhältnissen zusammen. Wie im Garten Eden herrschen Liebe und Eintracht zwischen Raubtieren und zahmen Tieren, und „wie die Väter im Paradies lebten, so leben heute die Enkel“ (IV/ 547). Die Erwähnung von „Königreichen“ und „Hauptstädten“ der Tiere und Pflanzen zeigt an, dass es hier nicht nur um unberührte Natur, sondern auch um ein soziales Utopia geht - das Dickicht ist das Vorbild für die Menschen, die Mickiewiczs fiktive Welt bevölkern. Andererseits präsentiert sich das Dickicht durch eine Allusion auf Vergils Aeneis auch als Hades. Bei Vergil heißt es vom Eingang zur Unterwelt: Quam super haud ullae poterant impune volantes Tendere iter pennis, talis sese halitus atris Faucibus effundens supera ad convexa ferebat. Vögel nicht einmal können sich ohne Gefährdung mit ihren Schwingen darüber bewegen; so furchtbare Dunstmassen quollen hervor aus den finsteren Schlünden und stiegen zum Himmelsgewölbe. 68 Bei Mickiewicz lesen wir: A z wnętrza [jeziorek] ciągle dymi, zionąc woń plugawą, Od której drzewa wkoło tracą liść i korę (IV/ 498-99). Aber aus dem Inneren [der Seen] kommt ständig Rauch, abscheulichen Gestank ausdünstend Von dem die Bäume ringsum Blätter und Rinde verlieren. 67 Józef Kallenbach, Mickiewicz, Poznań 1918, Bd. 2 S. 176f. 68 6. Gesang, Vers 239-41. <?page no="144"?> 144 Dieses wenig idyllische Motiv bewirkt zusammen mit der Beschreibung des Tierfriedhofs nicht nur eine schauerromantische Färbung dieser Passage. 69 Es ist unmittelbar funktional für die Charakterisierung des Dickichts als locus metaphysicus. Hier, im Herzen der Natur, berührt sich, in der Tradition Vergils und Dantes, die sichtbare Welt mit der Transzendenz des Schattenreiches. Bei Orzeszkowa finden wir der Kulturlandschaft am Niemen gegenüber einen dunkel drohenden Wald, in dem sich das Grab der Aufständischen befindet. Zwar ist dieser Wald kein von Menschen unberührtes Dickicht. Gleichwohl kann man von der in ihm verborgenen Grabstätte eine Parallele ziehen zum Tierfriedhof im Herzen des Dickichts bei Mickiewicz. Das gemeinsame Grab für Angehörige zweier Gesellschaftsschichten, die nur in ferner Vergangenheit oder aber im Tod friedlich beieinander sind, erinnert an den gemeinsamen Friedhof der Tiere, die einander außerhalb des paradiesischen Dickichts Feind waren. In Dolina Issy kehrt das unberührte Dickicht des Mickiewicz’schen „Tierreservats“ wieder. Es ist in Miłoszs Roman eine für den Sinnaufbau wichtige Verbindung mit der Denk- und Erlebniswelt von Tomasz eingegangen, denn es existiert zunächst nur in seiner Phantasie. Die Anregung für sein Phantasiereich bekommt Tomasz durch eine auf dem Tisch ausgebreitete Karte der Besitztümer seines Großvaters. Auch hier gibt es also einen Parallelismus zwischen der „arkadischen“ Gesellschaft, die die fiktive Welt des Romans bevölkert, und dem „Reich“ (państwo, S. 101; vgl. „królewstwo“ [Königreich] bei Mickiewicz) des Dickichts. Es ist ein Parallelismus, der auf einen signifikanten Unterschied verweist. Es ist Tomaszs ausgedachtes Reich, und darum herrscht er in ihm allein - und einsam: Tomasz miał swoje państwo. […] sam w nim mógł wszystko urządzić (S. 101). Tomasz hatte sein Reich. […] er konnte in ihm selbst alles einrichten. 70 So hat zwar jeder locus amoenus in seinem Herzen noch einen locus metaphysicus, an dem die Fäden aus der Transzendenz, der er sich verdankt, befestigt sind. Dieser Ort aber wanderte in der Moderne in die Imagination des Subjekts. Die Metaphysik der Idylle nimmt Miłosz nicht nur für Pan Tadeusz, sondern auch für Nad Niemnem in Anspruch. Miłosz verweist in seiner Geschichte der polnischen Literatur 71 auf den Idyllencharakter von Eliza Orzeszkowas Roman. Die gütige und freundliche Welt der Orzeszkowa lasse 69 Für die aus dem stilistischen Rahmen von Pan Tadeusz fallende schauerromantische Note in der Beschreibung des Dickichts ist Mickiewiczs Freund Stefan Witwicki verantwortlich, der sie im Rohentwurf verfaßt hat. 70 „Rząd“ ist auch: Regierung, also Tomasz regiert sein Reich. 71 Deutsche Übersetzung Köln 1981. <?page no="145"?> 145 uns, Menschen einer industriellen Zivilisation, etwas neidisch werden (S. 249). Mit fast denselben Worten wie Józef Kallenbach die Welt von Pan Tadeusz, charakterisiert Julian Krzyżanowski die Welt von Nad Niemnem. Aus der Natur sind Schmutz und schlechtes Wetter verbannt, alles ist mit Sonnenlicht übergossen, Mensch und Natur sind vereint, mit einem Wort: Sielanka. 72 Krzyżanowski findet die Verbindung von Realismus und Sielanka in Nad Niemnem ungewöhnlich. Der Realismus stehe doch für Natürlichkeit und die Sielanka für Künstlichkeit. Er meint, das Problem zu lösen, indem er die „fast photographische Beschreibung“ dem Realismus und die folkloristischen Elemente der Lieder und Bräuche der Sielanka zurechnet. Zwischen beidem schaffe Orzeszkowa eine „untrennbare Einheit“. 73 Krzyżanowski zeigt die Dichotomie von Realismus und Idylle, ihre Einheit kann er nur behaupten. Wodurch wird sie möglich? Durch die, man verzeihe den unwissenschaftlichen Ausdruck, Güte der Orzeszkowa, durch das Wohlwollen auch für parodierte Figuren, dem die Erzählhaltung durchgängig verpflichtet ist. Selbst den nach Petersburg ausgewanderten Bruder Benedikts - er ist in der Axiologie des Lechitismus ein Verräter - bestimmt vorrangig die wohlmeinende Sorge um seinen Bruder. Das Menschenbild, das so entworfen wird, ist nicht unbedingt antirealistisch. Orzeszkowa verzichtet nicht darauf, die Schwächen und Fehler ihrer Figuren darzustellen, sie verzichtet nur darauf, die Figuren durch diese Fehler zu diskreditieren. Die daraus resultierende Idyllik ist nicht künstlich, weil in ihr die bitteren Tatsachen nicht unterschlagen, sondern aus einer einfühlenden Perspektive heraus dargestellt werden. Auch Miłoszs Idylle verdankt sich neben der Naturschönheit des Settings der Überschaubarkeit des sozialen Gefüges und der Familiarität der sozialen Beziehungen. Charakteristisch ist die gutmütig-schlitzohrige Art, in der Großvater Surkont die Abordnungen aus Pogiry, die strittiges Weideland fordern, mit Wodka und Würsten bewirtet, bis sie den Grund ihres Besuches vergessen haben. Großvater Surkont ist auch deshalb der Hauptexponent des locus amoenus in Dolina Issy, weil er an Vaters statt über die heile Welt des Haupthelden Tomasz wacht und weil ihn als Sonderling, aber auch als gutmütigem, weichherzigem Großvater die Konflikte des polnischen Kleinadels, die aus Standesdünkel bei Heirat und Erbschaft entstehen, nicht oder nicht mehr interessieren. In diesen Punkten gleicht er seinem Prototyp, dem Richter in Pan Tadeusz. Der Richter ist der Onkel, nicht der Vater des bei ihm aufgewachsenen Tadeusz, hat mit den Konflikten der Handlung nichts zu tun und hält die idyllische Welt in Ordnung. Das Äquivalent der beiden in Nad Niemnem ist Benedykt Korczyński. Ihm bleibt der Konflikt jedoch 72 Julian Krzyżanowski: Tradycje literackie polszczyzny, od Galla do Staffa. Warszawa 1992 (1. Ausgabe war Kraków 1928), S. 603. 73 Ebd. <?page no="146"?> 146 nicht erspart. Zwar ist auch er nicht der Vater der jugendlichen Hauptheldin Justyna, doch er führt mit seinem Sohn Witold, einem ungestümen Verfechter neuer sozialer Ideen, einen erbitterten Streit um die alte Ordnung. Die Ordnung nach Amt, Alter und Geschlecht, auf die der Richter in Pan Tadeusz so großen Wert legt und die von allen gern eingehalten wird, hält auch Benedykt Korczyński ein, wie das Fest zeigt, das alljährlich auf Korczyn gegeben wird: Gospodyni domu […] dała znak wstania od stołu. Z najstarszego przy stole miejsca powolnym ruchem podniosła się wdowa po Andrzeju Korczyńskim (S. 74). Die Herrin des Hauses […] gab das Zeichen, die Tafel aufzuheben. Vom ältesten Platz am Tisch erhob sich mit langsamer Bewegung die Witwe Andrzej Korczyńskis. Die Menschen, die zu diesem Fest eingeladen sind, sind solcher Wertschätzung jedoch gar nicht würdig. Das Fest auf Korczyn ist zum Ritual einander fremder Menschen erstarrt, es ist die leblose Imitation der geselligen Tafelrunden in Pan Tadeusz. Durch den Kontrast weist Eliza Orzeszkowa auf die Veränderung der polnischen Adelsgesellschaft hin. In Dolina Issy schließlich hat Großvater Surkont jede Behandlung nach Amt und Würde aufgegeben: Każdego kto przyjeżdżał Pan Surkont przyjmował świadcząc mu grzeczności zupełnie niedostosowane do rangi i stanowiska. Wiadomo, że inaczej trzeba odnosić się do szlachcica, żyda i chłopa, a on tę zasadę obchodził […] (S. 13). Jeden, der zu Besuch kam, empfing Herr Surkont mit einer Höflichkeit, die Rang und Stellung überhaupt nicht angepasst war. Bekanntermaßen muss man sich zu einem Adeligen anders verhalten als zu einem Juden oder zu einem Bauern, aber er umging diesen Grundsatz. Die drei Werke zeigen hier nacheinander Leben, Erstarrung und Aufgabe der altväterlichen Rangordnung. Wo aber bleiben in den drei Werken die typischen Familienkonflikte der ländlichen Adelsgesellschaft? Miłosz erwähnt im Gespräch mit Fiut die Memoiren von Frau z Puttkamerów Żółtowska, der Urenkelin der von Mickiewicz angebeteten Maryla (S. 164f.). In ihnen sei fast ausschließlich von solchen Konflikten die Rede. In Pan Tadeusz existiere diese Seite der alten Welt nicht, und auch für seine Großeltern habe sie nicht existiert, und in diesem Punkt seien sie in Dolina Issy getreu porträtiert. Doch sie existieren sehr wohl in Pan Tadeusz, und ebenso in Nad Niemnem und sogar in Dolina Issy. Im nächsten Kapitel wird von ihnen die Rede sein. Letztlich aber gefährden nicht die Familienzwiste die Harmonie der drei Idyllen. Es ist die Weltgeschichte, die über ihre Krähwinkel zwar immer erst nach dem Ende der Handlungsgegenwart hinwegrollt, doch als Geist der <?page no="147"?> 147 Zeit schon zuvor wie ein kalter Wind in sie hineinweht, ohne indes die Idylle schon zu zerstören. In Pan Tadeusz liegt die weltgeschichtliche Zukunft in Napoleons Einmarsch und seiner von Maciej prophezeiten Niederlage. Der Wind des Zeitgeistes für die Handlungsgegenwart ist hier der tragische Konflikt der düster-romantischen Figur Jacek Soplica. Mit seinem Auftritt kann von einer Sielanka keine Rede mehr sein, schreibt Józef Kallenbach. 74 In Nad Niemnem spielt die dumpf-gedrückte Stimmung im Lande nach der Niederlage im Freiheitskampf die Rolle des widrigen Zeitgeistes. Bei Miłosz schließlich ist in der tragischen Figur Baltazars der Zeitgeist des Existenzialismus eingefangen. Baltazar sieht sich mit der vollkommenen Sinnlosigkeit seiner Existenz konfrontiert, der weder heidnische noch christliche Beschwörung abhelfen kann. Er begeht einen sinnlosen Mord und zündet sein Haus an. Miłosz hing dem Existenzialismus in der Nachkriegszeit durchaus an, wie das Projekt eines existenzialistischen Filmes zeigt, den er gleich nach dem Krieg mit Jerzy Andrzejewski plante. 75 Zwischen den tragischen Figuren Jacek in Pan Tadeusz und Baltazar in Dolina Issy gibt es noch eine weitergehende Analogie, die allerdings nicht leicht zu entdecken ist. Baltazar wirtschaftet auf Grund und Boden, der eigentlich den Surkonts gehört, und diese Unsicherheit trägt einiges bei zu seiner existenziellen Haltlosigkeit. Auch Jacek gehört streng genommen Soplicowo nicht. Als Horeszko, der Widerstandskämpfer, von den Russen enteignet wurde, wurde Jacek der Besitz für seine schändliche Mithilfe bei der Eroberung des Schlosses übergeben. Der Enteignung durch die Russen in Pan Tadeusz entspricht die drohende teilweise Enteignung der Surkonts im Zuge der Litauischen Bodenreform. Baltazar soll die Enteignung verhindern helfen, so wie Jacek sie rückgängig machen wollte, indem er Tomasz mit Zosia verheiratet. Man könnte den Parallelismus zwischen den tragischen Helden deuten als Ausfaltung einer Möglichkeit, die das Sujet von Pan Tadeusz enthält, aber nicht realisiert. Jacek, der sich, wie bei Miłosz Baltazar, durch seine Mordtat selbst entwurzelt hat, hätte in seiner Verzweiflung wie jener den locus amoenus, der ihm gar nicht richtig gehört, zerstören können. Der Antagonismus zwischen reichen und armen Herrschaften Das Setting der Handlung ist in allen drei Werken ähnlich strukturiert. Es gibt einen ausgeprägten Dualismus zwischen einem Herrenhaus und einem Vorwerk, dem „Zaścianek“. Im Herrenhaus wohnt eine wohlhabende 74 Mickiewicz, Bd. 2, S. 161. 75 Gespräch mit Fiut, S. 110f. Andrzejewski schrieb in dieser Zeit an seinem existenzialistischen Roman Popiół i diament (Asche und Diamant). Die Verfilmung realisierte dann Andrzej Wajda, gleichfalls unter Beteiligung des Autors. <?page no="148"?> 148 Adelsfamilie mit Gesinde und Dienstboten, die die Hausbzw. Feldarbeit auf den ausgedehnten Gütern besorgen. Das Vorwerk ist ein Dorf, in dem verarmte Adelige leben, die alle Haus- und Feldarbeit selbst verrichten müssen auf einem Stück Land, das meist gerade zum Existenzminimum ausreicht. Miłosz weist im Gespräch mit Fiut, S. 166f. darauf hin, dass es in Litauen immer schon und noch bis 1939 dieses Gegenüber zwischen „Soplicowo“ und „Dobrzyn“ - so heißen Herrenhaus und Vorwerk in Pan Tadeusz - gab. In Nad Niemnem heißen sie „Korczyn“ und „Bohatyrowicze“, und in Dolina Issy „Ginie“ und „Pogiry“. In Pan Tadeusz liegt der locus amoenus am Herrenhaus. Hier wird gut und nach alter Sitte gewirtschaftet, hier werden, wie es sich gehört, zuerst die Pferde und dann die Gäste versorgt, hier gibt es Essen in Fülle und werden üppige Feste gefeiert, und hier herrscht der Geist von Friedfertigkeit und Versöhnung. Dobrzyn ist dagegen recht verwahrlost, die Balken der Häuser sind angefault (VI/ 437) und die Bewohner streitsüchtig. Allerdings ist man stolz auf seine Adelstitel, durch die allein man sich noch von den Bauern unterscheidet. In das Grundschema der Opposition zwischen Gut und Vorwerk haben Orzeszkowa und Miłosz jeweils sinnhaltige Modifikationen eingebaut. So hat Eliza Orzeszkowa die Zuordnung in wesentlichen Elementen ausgetauscht. Die Absicht dazu signalisiert sie schon im Namen des Herrenhofes Korczyn, das der Lautgestalt nach mit dem „falschen“ Äquivalent in Pan Tadeusz, dem Vorwerk Dobrzyn, assoziiert wird. Vor allem aber ist bei ihr das Herrenhaus in einem schlechten Zustand. Viele Zaunpfähle sind verfault. Das alte Haus versinkt von Jahr zu Jahr mehr im Boden, hat aber mit seinem Schindeldach und den hellen Fensterscheiben noch nicht das Aussehen einer Ruine. 76 Zwar wird alles sorgfältig ausgebessert, aber Neu- und Erweiterungsbauten gibt es nicht (S. 23.). Die Bewohner leben in Zwietracht, die aber nur im Untergrund schwelt und nicht offen ausgetragen wird. Geldsorgen und Intrigen vergiften das Leben. Das einzige Fest, das gefeiert wird, hat eine so beklemmende Atmosphäre, dass Justyna, die Hauptheldin, das Weite sucht. Dabei landet sie in Bohatyrowicze, dem Vorwerk von Nad Niemnem. Er ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Korczyn - Eliza Orzeszkowa liebt scharfe Kontraste - und darum eher dem Herrenhof von Pan Tadeusz ähnlich. In Anspielung auf dessen Eingangsszene versorgt Jan Bohatyrowicz, als er mit Justyna zu seinem Haus kommt, zuerst die Pferde, obwohl es ihn mit Macht zu der jungen Frau hinzieht. Seine Harmonie verdankt das Vorwerk von Nad Niemnem vor allem seiner Insellage. Eliza Orzeszkowa hat es geschafft, die beiden landschaftlichen Prototypen des locus amoenus miteinander zu kombinieren - das liebliche 76 Das ist eine Anspielung auf die Beschreibung der Schlossruine in Pan Tadeusz. Ihr Dach ist teilweise zerstört, von den trüben Scheiben hängen nur noch Scherben in den Fenstern. <?page no="149"?> 149 Flusstal und die einsame Insel. Nicht im wörtlichen Sinne leben die Bewohner von Bohatyrowicze auf einer Insel, sie haben aber über lange Zeit ein unberührtes Dasein inmitten einer kaum erschlossenen Wildnis geführt. Die Begründer ihrer Dorfgemeinschaft hatten sich im 14. Jahrhundert vor gesellschaftlichen Zwängen in die Wildnis am Niemen geflüchtet. Dieses Paar, Jan und Cecylia, stammte „aus dem Land an der Weichsel“, also aus Zentralpolen. Das entspricht dem historischen Faktum masowischer Einwanderung in die „Wildnis“ am Unterlauf des Niemen in jener Zeit. In Orzeszkowas Version leben sie und ihre Nachkommen in jahrhundertelanger Isolation wie eine große Familie. Die nachbarlichen Verhältnisse sind hier freundschaftlich-rau, und darin hat Orzeszkowa wiederum Merkmale des Mickiewicz’schen Vorwerks übernommen. Streit ist nicht selten, doch er wird offen und laut ausgetragen und danach herrscht wieder Eintracht. Noch augenfälliger ist die Namensgleichheit aller Bewohner. So wie in Dobrzyn alle „Maciej“ heißen, so heißen in Bohatyrowicze alle „Bohatyrowicz“. Wie bei Mickiewicz, so nennen sich auch bei Orzeszkowa die Bewohner darum gegenseitig nur mit phantasievollen Spitznamen. Es gehören also alle zu einer großen Familie, und Orzeszkowas Kombination von Kontrast und Übernahme hat eine klare Tendenz - der locus amoenus ist zum sozial unterprivilegierten und materiell schlechter gestellten Vorwerk hinüber gewechselt. Bei den einfachen Menschen, die von ihrer eigenen Hände Arbeit leben, die den Boden selbst bestellen, findet man die ursprüngliche Güte, die die von Geld und Nichtstun korrumpierten „Herren“ längst verloren haben. Wie zum Beweis hat auch der sorgsam gehegte Garten voller heimatlicher Pflanzen, das zentrale Symbol des „Gartens Gottes“ in Pan Tadeusz, zum Vorwerk hinübergewechselt. Die Beschreibung des Bauerngartens am Haus von Jan und Anselm Bohatyrowicz (S. 123f.) erinnert in vielem an den Garten in Soplicowo, während Benedykt Korczyński den Garten am Herrenhaus, wie schon erwähnt, mit den exotischen Pflanzen des „falschen“ Arkadiens ausgestattet hat. Telimena, die in Pan Tadeusz dem Grafen gegenüber von der exotischen Flora Italiens schwärmt, hat gleichsam das Herrenhaus übernommen. Das Äquivalent des nominellen Haupthelden von Pan Tadeusz, des etwas einfältigen jungen Tadeusz, ist in Nad Niemnem die kluge und herzensgute Hauptheldin Justyna. Die engagierte Frauenrechtlerin Orzeszkowa hat die Figur des jugendlichen Haupthelden also durch eine Frau ersetzt. Während Tadeusz willenloses Werkzeug für die Pläne seines Vaters und auch für die Ränke Telimenas ist, treibt Justyna die Handlung fast im Alleingang vorwärts. Vor allem strebt sie vom Herrenhaus nach Bohatyrowicze, zum neuen locus amoenus. Sie ist der Perspektivträger für diesen Wechsel und seine sozialen Implikationen. Die soziale Wendung der Fabel bei Eliza Orzeszkowa zeigt sich vor allem darin, dass sie den wesentlichen Handlungsimpuls von Pan Tadeusz, den <?page no="150"?> 150 Streit um Land (und das darauf liegende Schloss), zu einem Konflikt zwischen Herrenhaus und Vorwerk macht. Die Leute vom Vorwerk sind beim Streit um Weideland, der sich auf urpolnische Weise in endlosen Prozessen hinzieht, nicht mehr nur Hilfstruppe, sondern Partei. Doch es kommt zu keinem „Zajazd“ (Durchsetzung eines Rechtsanspruchs auf Land in Selbstjustiz), und das Herrenhaus bleibt Sieger, was dadurch abgemildert wird, dass man nun miteinander kooperieren will. In Dolina Issy ist das Gegenüber von Herrenhaus und Vorwerk zum Teil weiter modifiziert, zum Teil dem Setting von Pan Tadeusz wieder angenähert. Modifiziert ist es, weil das Vorwerk erstmals durch echte Litauer vertreten wird. Mit den landlosen Polen, so heißt es im Text, ist man ins reine gekommen - durch Orzeszkowas sozial optimistischen Roman, wie man vorwitzig ergänzen könnte. Die neuen Antagonisten leben im litauischen Dorf. Damit korrigiert Miłosz zunächst einmal das rein polnische Setting von Pan Tadeusz und Nad Niemnem, das aus litauischer Perspektive durchaus chauvinistisch erscheint. Zum zweiten baut er in den Konflikt eine ethnische Komponente ein und bringt damit nach dem Streit zwischen verschiedenen Adelsherren und dem Streit zwischen Arm und Reich die dritte Version von sozialem Sprengstoff ins Spiel. Auch der „kluge Wortführer des Vorwerks“, in Pan Tadeusz durch den alten Maciej und in Nad Niemnem durch Anselm vertreten, ist nun ein Litauer: Józef Czarny. Er ist wie Maciej in Pan Tadeusz ein Gegner des bewaffneten Konflikts mit dem Herrenhaus und stellt darum auch den jungen Masilius zur Rede, der eine Granate unter Tomaszs Bett geworfen hatte. Die Granate, die nicht explodiert, ist eine Schwundstufe des glimpflich ausgehenden Zajazd in Pan Tadeusz - in Arkadien sind alle Granaten Blindgänger. Gegen Gewaltanwendung ist Czarny, weil der Konflikt um Land, der uns auch hier wieder begegnet, diesmal ohnehin zugunsten des Vorwerks ausgehen wird. Hier bezieht Miłosz die litauische Bodenreform in seine Fabel ein, durch die den Herrenhöfen ein Großteil ihres Besitzes genommen und an die landlose Bevölkerung verteilt wurde. Wieder angenähert an Pan Tadeusz ist das Setting von Dolina Issy im Vergleich zu Nad Niemnem insofern, als der locus amoenus nun wieder am Herrenhaus liegt. Der Grund dafür ist eindeutig: Tomasz wohnt dort. Tomasz ist die zu Tadeusz - man beachte die Namenähnlichkeit - und Justyna analoge Figur des jungen Haupthelden in Dolina Issy. Er ist allerdings keine Figur, die Grenzen überschreitet wie Justyna in Nad Niemnem, er ist aber auch nicht das zentrale Objekt von Handlung wie Tadeusz. Er erlebt den Fall Magdalenas, die Blasphemie Domcios und die Dreiecksgeschichte zwischen Helena, Romuald und Barbarka, ohne selbst involviert zu sein, also nur als Betrachter. Das ist nicht nur eine Konsequenz aus dem episodischen Aufbau von Dolina Issy. Vielmehr enthält es eine zentrale Aussage zur Genese des locus amoenus. In Pan Tadeusz werden Glück, Friede, Freiheit und Harmo- <?page no="151"?> 151 nie aus fremden Händen empfangen, aus Händen, die großenteils (Jacek Soplica) oder ganz (Napoleon) im Hintergrund bleiben. 77 In Nad Niemnem werden dieselben „höheren Güter“ durch beherztes Handeln selbst errungen, gegen den Widerstand der Umgebung (Justyna) und um den Preis des eigenen Lebens (das Grab der Aufständischen). In Dolina Issy schließlich werden solche Güter nur noch durch Kontemplation erworben, durch Tomaszs Naturbeobachtung, durch seine Phantasievorstellungen und durch die direkte sinnliche Erfahrung: Szczęśliwość to także dotyk - bosymi stopami Tomasz przebiegał od gładkości desek podłogi, do chłodu kamiennej posadzki korytarza i do okrągłości bruku na ścieżce, gdzie obsychała rosa (S. 17f.). Glück, das ist auch Berührung - mit nackten Füßen lief Tomasz über die Glätte der Fußbodenbretter, zur Kälte des Steinfußbodens im Flur und zur Rundung des Kopfsteinpflasters auf dem Weg, wo der Tau trocknete. Ganz bewußt ist das Verhältnis der Hauptfigur zum locus amoenus jedesmal anders motiviert. Justynas Aktivität ist eine Antwort auf Tadeuszs Passivität und damit zugleich auf den politischen und sozialen Fatalismus, der in der passivischen Idyllenkonstruktion zum Ausdruck kommt. Tomaszs Kontemplativität ist eine skeptische Antwort auf den tolstojanisch anmutenden sozialen Optimismus von Eliza Orzeszkowa, die Justyna zur Sichel greifen läßt und meint, damit sei die Verwurzelung ebenso wiederherzustellen wie der soziale Friede. 78 Gleichwohl gibt es zwischen adeligen Großgrundbesitzern und verarmten Adeligen einen großen Standesunterschied, der in allen drei hier behandelten Werken eine Rolle spielt. In Pan Tadeusz und Nad Niemnem ist er der Auslöser des zentralen Konflikts, in Dolina Issy ist er zu einer Episode unter anderen geschrumpft. Harte Konflikte beschwörte der Standesunterschied immer dann herauf, wenn es ans Heiraten ging. Geheiratet werden musste standesgemäß. Das zwang die Beteiligten oft zu hartherzigen Schritten. So musste der alte Horeszko dem jungen Jacek Soplica die Hand seiner Tochter Ewa verweigern, obwohl die beiden sich liebten. Diese Entscheidung setzt all das Unheil in die Welt, von dem die Fabel in Pan Tadeusz lebt. Das meiste 77 Über die Passivität der Gesellschaft von Pan Tadeusz hat sich Norwid in einem vielzitierten Brief an J.I. Kraszewski lustig gemacht: „Jedzą, piją, grzyby zbierają i czekają, aż Francuzi przyjdą zrobić im Ojczyznę“ (sie essen, trinken, sammeln Pilze und warten, dass die Franzosen ihnen ein Heimatland machen). In: C.K. Norwid, Pisma wszystkie, Warszawa 1972, Bd. 9 S. 223. 78 Die Unterschiede der Motivierung sind zugleich Belege für die unterschiedlichen Poetiken. Justynas beherzte Grenzüberschreitung dokumentiert den Realismus von Nad Niemnem, die affirmative Sujetkonstruktion von Pan Tadeusz gehört in das literarische Biedermeier, und die Erlebniszentrierung von Dolina Issy weist zurück auf den impressionistischen Frühmodernismus der Jahrhundertwende. <?page no="152"?> 152 davon liegt allerdings in der nur indirekt mitgeteilten Vorgeschichte, und das ist ein Kunstgriff, mit dem Mickiewicz die große Tragik von Liebe, Mord und Reue aus der Idyllik der Handlungsgegenwart heraushält. 79 Die erzählte Geschichte ist dann nur noch dazu da, in der Generation der Kinder, vertreten durch Tadeusz Soplica und Zosia, die Tochter Ewas aus einer unglücklichen Ehe, die damals verweigerte Verbindung doch noch zustande zu bringen. Es ist das Einfädeln dieser Ehe für Jacek also nicht nur ein Akt der Versöhnung zwischen den seitdem verfeindeten Familien, sondern eine persönliche Genugtuung. Sein Sohn soll bekommen, was ihm verweigert wurde. 80 Der Antagonismus zwischen Herrenhaus und Zaścianek ist in Pan Tadeusz nicht mit der unstandesgemäßen Heirat gekoppelt. Er kommt dort durch den Zajazd nur zum Ausbruch. Anlaß für den Zajazd ist traditionsgemäß der Streit um Besitz, doch charakteristischerweise nicht zwischen Großgrundbesitzern und Landlosen, sondern zwischen zwei durchaus vermögenden Familien - Horeszko und Soplica. Das Vorwerk, obwohl sozial betrachtet der potentielle Opponent, stellt nur Hilfstruppen von Leuten, die keine Schlägerei auslassen. Entsprechend dem veränderten Frontverlauf wird in Nad Niemnem der abgelehnte Ehebewerber im Vorwerk angesiedelt. Es ist Anselm Bohatyrowicz, dem Marta einen Korb gab, weil man ihr eingeredet hatte, das harte bäuerliche Leben in Bohatyrowicze würde sie nicht ertragen können. Seitdem haben sich die Fronten wie in Pan Tadeusz verhärtet und wie dort ist dann die jüngere Generation aufgerufen, den Fehler von damals zu korrigieren, allerdings aus eigener Kraft. Immer wieder zeichnet Eliza Orzeszkowa den Kontrast zwischen Marta und Justyna, stellt Fehler und Korrektur einander gegenüber. Zur überscharfen Kontrastierung trägt bei, dass Marta eine alte Jungfer geworden und ihr damaliger Bewerber unverheiratet geblieben ist. Justyna hat dagegen gleich drei Bewerber. Als sie auch noch die beste Partie der ganzen Gegend, den reichen, aber Morphiumsüchtigen Różyc abweist, hat die Liebe endgültig über den Standesdünkel gesiegt. Auch in Dolina Issy taucht die Geschichte von der nicht standesgemäßen Heirat auf. In den Kapiteln 32, 40, 54-55 und 60 wird die Dreiecksgeschichte 79 Nach Zygmunt Szwejkowski, Pan Tadeusz - poemat humorystyczny, S. 27, wird dieser Effekt auf andere Weise erzielt. Die Zerstückelung der Vorgeschichte und und der späte Bericht über sie, am Ende der Haupthandlung, nehmen ihr, so Szwejkowski, die Schärfe. Zwar ist die Zerstückelung nicht allzu groß, wird doch das meiste im Zusammenhang der Beichte Jaceks in Buch X mitgeteilt. Der Verstoß gegen die natürliche Chronologie wirkt aber zweifellos ebenfalls entschärfend, wie Lev Vygotskij in Psichologija iskusstva am Beispiel von Ivan Bunins Erzählung „Legkoe dychanie“ (Leichter Atem) dargelegt hat. 80 Zur Zwiespältigkeit von Jaceks Motiven vgl. Szwejkowski, Pan Tadeusz - poemat humorystyczny, S. 18f. <?page no="153"?> 153 zwischen Romuald, seiner Magd Barbarka und Tomaszs Tante Helena erzählt. Helena wäre standesgemäß, doch sie ist schon verheiratet, und so muss es bei heimlichen Stelldicheins bleiben. 81 Barbarka, mit der Romuald auch ein Verhältnis hat, zu heiraten, würde Romualds standesbewußte Mutter nicht zulassen. Barbarka nimmt ihr Schicksal beherzt in die Hand. Sie ohrfeigt Romuald, verjagt Helena und setzt durch, dass Romuald seiner Mutter eröffnet, er wolle Barbarka heiraten. Die Alte tobt, ist aber machtlos. Wir haben es auch hier mit einer feinen Abstufung gegenüber den Praetexten zu tun. In Pan Tadeusz fädelt der Vater die nicht standesgemäße Heirat ein. In Nad Niemnem setzt die Vertreterin des höheren Standes sie durch, und in Dolina Issy gelingt das schon der Vertreterin des niedrigeren Standes. Barbarka ist so zugleich das Äquivalent Justynas und Jans, und Romuald sowohl Jans als auch Justynas. Das bestätigt sich darin, dass Romuald sein unverheirateter Bruder Dyonizy gegenübergestellt wird, genau wie seiner beherzteren Standesgenossin aus Eliza Orzeszkowas Roman die altjungferliche Marta. Beide, Marta und Dyonizy, hatten sich den Einwänden gegen den möglichen Ehepartner gefügt und blieben unverheiratet. Die Jagd Die Hauptbeschäftigung der Männer in Pan Tadeusz - die Welt von Pan Tadeusz ist weitgehend eine Männerwelt - ist, wie bekannt, die Jagd. Geht man nicht auf die Jagd, so bereitet man sich auf sie vor oder streitet über ihre Ergebnisse. Von allen Jagdszenen in Dolina Issy erinnert die von Kapitel 35 am meisten an Pan Tadeusz. Es ist wie die erste Jagd in Buch II von Mickiewiczs Epos eine Hasenjagd mit Hunden. Auch der Wettstreit der Hunde, der bei Mickiewicz ganze Kapitel füllt, kehrt hier wieder. Die wesentliche Erfahrung von Tomasz ist aber, dass die Jagd für viele Menschen keine größere Bedeutung als Wodka oder Kartenspiel hat, also nicht die existenzielle Bedeutung, die sie für Tomasz haben soll. Das ist als ein Kommentar zu Pan Tadeusz zu lesen, wo die Jagd nur Zeitvertreib ist. Wenn sie das für Tomasz nicht ist, was ist sie für ihn dann? Eins steht fest: Tomasz tut in der Handlungsgegenwart von Dolina Issy außer Beobachten und Lesen nur eins: er geht immer wieder auf die Jagd - auf Vipern, Hasen, Auerhähne, Birkhähne, Schneehühner, Enten, Habichte, Eichhörnchen und schließlich auf Hirsche. 82 Warum? Das erklärt uns eine unscheinbare Episode im 7. Kapitel: 81 Miłosz scheut sich nicht, mit dem Namen der Tante auf die älteste Dreiecksgeschichte der Weltliteratur anzuspielen. 82 Die Jagd-Episoden sind über den ganzen Roman verteilt. In Kapitel 34-35, 41-43, 47- 48, 53, 57-59 und 65 geht es um die Jagd. <?page no="154"?> 154 Tomasz, z otwartymi ustami, w osłupieniu gapił się na nią [łasicę] i męczyło go żądanie. Mieć. Gdyby w ręku trzymał strzelbę strzeliłby, bo nie można tak trwać, kiedy podziw wzywa, żeby to, co go wywołuje zachować na zawsze (S. 21). Tomasz vergaffte sich verblüfft, mit offenem Mund, in es [das Wiesel] und es quälte ihn die Begierde. Haben. Wenn er eine Schusswaffe in der Hand hielte, würde er schießen, weil es nicht so dauern kann, wenn das Staunen ihn nötigt, er möge das, wodurch es hervorgerufen wurde, für immer bewahren. Hier liegt der Keim für Tomaszs Jagdleidenschaft. Welche Gründe später auch immer dazukommen oder vorgeschoben werden - etwas anderes, als den Moment der Offenbarung von Naturschönheit („wenn das Staunen ihn nötigt“) zu verewigen, hat er nie gewollt. Er will für immer aufheben, und er kennt dafür kein anderes Mittel als das Besitzergreifen, und das heißt in bezug auf Naturschönheit: Töten. Miłosz baut schon sehr früh im Roman eine Gegenposition dazu auf, den Großvater Surkont mit seiner Liebe zu Pflanzen und seiner Bibliothek. Surkont verabscheut die Jagd, in seinem Haus gibt es weder Jagdhunde noch Schusswaffen (S. 13). Tomasz liebt zwar den Großvater und interessiert sich auch für Pflanzen, doch die Motive für die Abneigung des Großvaters gegen die Jagd kennt oder versteht er nicht. So meint er, die Menge der sich verbergenden Lebewesen nur durch die Jagd erreichen zu können, und er lernt von Herrn Romuald das Jagdhandwerk. Seine erste Jagd mit Stöcken auf giftige Schlangen ist recht erfolgreich, doch hier spielen noch andere Motive hinein. Nicht Aufbewahren durch Besitzen will er hier, sondern „wie der Ritter das Böse [„Zło“, groß geschrieben] vernichtet“ (S.90), will er Borkuny von den Giftschlangen befreien. Wie Georg der Drachentöter besiegt er die Schlangen, und dabei ist sein Stock das Äquivalent zur Lanze des Heiligen. Sobald er aber mit dem Gewehr auf die Schlangen schießt, verfehlt er sie, sie scheinen sich in Luft aufzulösen. Warum? Mit der Waffe hat er sich selbst zum Werkzeug des Bösen gemacht und darum das Recht verloren, das Böse zu besiegen. Seine Ähnlichkeit mit dem Heiligen verschwindet und mit ihr sein Jagdglück. Das ist der Auftakt zu einer Serie von Jagdepisoden mit weitreichenden Konnotationen. So zeigt Herr Romuald Tomasz, wie man Habichte mit einer Pfeife anlockt und sie dann abschießt (Kap. 34). Später versucht sie Tomasz mit seiner Stimme zu locken. Zweimal gelingt es ihm, ein drittes Mal nicht. Dann verliert er durch den Stimmbruch die Fähigkeit, mit seiner Stimme Habichte anzulocken (Kap. 53). Soweit die Fakten. Nun zum Hintersinn. Nur durch den Lockruf kann man Habichte zu Gesicht bekommen. Die von Romuald angelockten Habichte sind jung, 83 der Lockruf läßt sie nach einem Gefährten suchen. Statt ihn zu finden, werden sie erschossen. Das Fehlen eines Gefährten ist nun 83 Fast alle Tiere, denen Tomasz begegnet und/ oder die er tötet, sind Jungtiere - wie er. <?page no="155"?> 155 aber das große Problem des im Grunde seines Herzens einsamen jungen Tomasz. Der Lockruf erwirbt so die zusätzliche Bedeutung des Rufes eines einsamen Menschen auf der Suche nach Gefährten. Die zweite Episode der Habichtjagd bestätigt diese Vermutung. Die Habichtfamilie hat ihr Nest im Dickicht, sie fliegt zum Schlafen zusammen - eine Idylle, die darauf verweist, wie sehr Tomasz eine solche Familiengeborgenheit fehlt. Auf sein Locken kommt ein junger Habicht, ruft und wartet auf Antwort. Tomasz wird wie ein Artgenosse zum Dialog eingeladen. Er antwortet auf diese Geste der Freundschaft, indem er die Flinte ans Ohr hebt - sie tritt gleichsam an die Stelle des Ohres, seiner Kommunikationsbereitschaft - und schießt. Zwei Tage später ruft Tomasz erneut den Habicht-Ruf. Es schmerzt dabei in der Kehle - ein Hinweis auf den unbewußten anderen Schmerz, den zu töten, der - dem Sinn der Geste nach - sein Freund hätte werden können. Das zeigt sich auch in der Bedeutung, die er in dem Ruf zu verstehen meint: Sehnsucht, Aufforderung („tęsknota, wezwanie“, S. 150). Tomasz fühlt sich selbstvergessen in die Habichtseele ein und ruft wieder. Jener antwortet, kommt und wird abgeschossen: Zamiast towarzysza czy matki, których zaproszenie tak wyraźnie do niego się kierowało, olbrzymia istota pochylała się nad nim, porażonym niemocą (S. 151). Statt eines Gefährten oder der Mutter, deren Einladung sich so deutlich an ihn gerichtet hatte, beugte sich ein riesiges Wesen über ihn, den von Schwäche Gelähmten. Der Erzähler nimmt die Perspektive des durch den Ruf betrogenen Habichts ein. Betrogen ist aber auch Tomasz, ist seine Sehnsucht nach Gefährten, nach der Mutter, deren Urgeste des sich liebevoll über den Hilflosen Beugens hier die Geste des Mörders ist. Der verletzte Habicht streckt Tomasz seine Krallen entgegen. Ein drittes Mal gelingt es Tomasz nicht, einen Habicht anzulocken. Die möglichen Gefährten kommen nicht mehr. Warum durchläuft er gerade jetzt den Stimmwechsel? Hier ist keine Reife signalisiert, sondern der Verlust der Unschuld und der Offenheit für Freundschaft: „Seine Stimme vergröberte sich“ (Głos mu zgrubiał, S. 151) - ihm geht nicht nur physisch, sondern auch seelisch die Fähigkeit verloren, die jungen Habichte zu sich zu rufen. Viel ist geschrieben worden über Tomaszs dreifache Initiation in die Welt der Religion, des Todes und der Sexualität. 84 Zum Beleg werden Ereignisse angeführt, die Tomasz als Zuschauer erlebt: Magdalenas Liebe und Tod, der Tod von Großmutter Dilbinowa, das Liebesverhältnis von Tante 84 Vgl. A. Fiut: „«Dolina Issy» - przypowieść o wtajemniczeniu“ in Znak 1981 Nr. 4/ 5, S. 470-485, J. Olejniczak, Arkadia i małe ojczyzny, S. 208. <?page no="156"?> 156 Helena mit Romuald, Domcios Blasphemie. Doch wenn Tomasz das alles auch sieht und sich Gedanken darüber macht, so liegt darin doch insofern noch keine Initiation, als Initiation durch eigenes Handeln vollzogen werden muss. Als Handelnden aber erleben wir Tomasz fast ausschließlich bei der Jagd. Auch Tomasz selbst hat nur nach der Jagd den Gedanken, „nunmehr schon fast eingeweiht zu sein“ („teraz już wtajemniczony prawie“, S. 97). Ist damit die These von der dreifachen Initiation widerlegt? Nein, aber diese Initiation findet auf eine andere Weise statt als bisher vermutet. Sie ist als Hintersinn in Tomaszs Jagdabenteuern angelegt. So ist die Auerhahnjagd in Kapitel 41-42 eine verschlüsselte Initiation in die Welt der Sexualität. Die formale Brücke dorthin schlägt die Balz, während der allein der Auerhahn beschlichen werden kann. Die konkrete Gestaltung der Episode festigt und stützt diese Brücke. Schon die Vorbereitungen zur Jagd, ja sogar schon die Beschreibung der Jahreszeit ist von einer Atmosphäre der Sexualität geprägt. „Dieser Frühling war wie kein anderer“, 85 heißt es zu Beginn von Kapitel 41, „wegen der Plötzlichkeit der Schneeschmelze und der ungestümen Kraft der Sonne“ (S. 115). Diese Hitzigkeit und Leidenschaft der Natur ruft bei Tomasz die Lust hervor, mit seiner Umgebung zu verschmelzen, vor Entzücken zu schreien. Doch in das Reich der Vögel muss man leise hineinschleichen. Damit ist der Weg der Initiation bezeichnet. Tomasz darf mit auf die Auerhahnjagd, bei der das kunstvolle Anschleichen das Entscheidende ist. Seine Freude darüber wird mit der Freude eines Liebhabers verglichen, dem sein Liebesgefühl wichtiger ist als das Objekt seiner Liebe. Die Würde, an der Jagd teilzunehmen, erwirbt man sich nach Tomaszs Meinung durch „Passion“ und durch ein „Treuegelöbnis“ (ślubowanie, vgl. „ślub“ - Trauung). Als erstes nähert sich Tomasz Eiern in Vogelnestern. Nach Begutachtung dieser Fruchtbarkeitssymbole bringt er der von ihm heimlich verehrten Barbarka einen Blumenstrauß. Wer aber bei Barbarka das sexuelle Hausrecht hat, zeigt Romuald in dieser Szene - er begutachtet den Lauf seiner Flinte. Tomasz macht sich mit Romuald auf den Weg. Beim Waldhüter öffnet eine Frau: ihr Mann sei nicht da, er übernachte im Wald, und sie bittet sie herein. Doch das Angebot der Frau ist nach der Logik der Initiation eine Prüfung, eine Falle. Später hat das ironische Lächeln des Waldhüters - Tomasz geht auch ins Dickicht? - eine zweideutige Note. Was aber sieht Tomasz im Dickicht? Tomasz rozróżniał w jego wnętrzu jaśniejsze pnie i wijące się korzenie zwalonych drzew, plątawisko nagiej łozy, łomu i wykrotów (S. 119). 85 Mit diesen Worten beginnt Bruno Schulz’ Erzählung „Wiosna“, ein Text mit einer von Erotik geladenen Atmosphäre. <?page no="157"?> 157 Tomasz unterschied in seinem Inneren hellere Stämme und sich windende Wurzeln umgestürzter Bäume, ein Gewirr von nackten Weiden, Bruchholz und liegenden Bäumen. Geradezu unzüchtig liegen die „nackten“ Bäume ineinander verschlungen auf dem Waldboden. Dann nähert man sich dem Auerhahn. Sein Balzgeräusch klingt zunächst wie ein unterdrücktes Seufzen, dann wie das Entkorken einer Flasche. Nach einigen weiteren Details mit erotischem Subtext dringen wir mit der Balzbewegung des Auerhahns, seinem rhythmischen, sich beschleunigendes Klopfen zum Kern der Angelegenheit vor. Tomasz pulsiert es in den Schläfen, „bis der Rhythmus in der Brust damit ineins fließt“. Dann müssen die beiden sich dem Auerhahn mit Sprüngen nähern in den kurzen Momenten, in denen er taub ist. Die grotesken Bewegungen, die sie dabei machen, sind gleichsam ihr antwortender Balz-Tanz: er balzt, und sie hüpfen dazu. Schließlich schießt Romuald, und der Auerhahn ist tot. Damit ist das Initiationsritual beendet. Tomasz findet es nun schade, dass man sich einer anderen Kreatur nur tötend nähern kann. Auch in die Welt des Glaubens und des Todes wird Tomasz handelnd, bei der Jagd, eingeweiht. 86 Die Schlüsselkapitel hierzu sind die Entenjagd (Kap. 47-48) und der Abschuss eines Eichhörnchens (Kap. 58). Bei den Enten wird wieder eine Identifikationsbeziehung zu Tomasz aufgebaut. Es sind keine Küken mehr, sondern Jungenten, die im Begriff sind, flügge zu werden. Als ihnen Gefahr droht, verlieren sie ihre Schwimm-Ordnung hinter der Mutter, und gleichzeitig sagt Romuald zu Tomasz: „Pass auf, sonst nimmst du ein Bad! “, Vielleicht verliert der junge Tomasz auch gerade die Orientierung; der mögliche Fall in den Teich bringt ihn allerdings noch deutlicher in eine Analogie zu den Enten. Tomasz schießt dann blindlings in die auffliegenden Enten. Er stellt daraufhin fest, dass er Lebewesen in Dinge verwandelt, und überlegt dann, dass diese Dinge vielleicht vorher Philosophen-Enten oder Entdecker-Enten waren, dass sie eine individuelle Persönlichkeit hatten. Aufgrund dieser Überlegung kann sich Tomasz dann auch in die Persönlichkeit einer lebenden Ente einfühlen: […] lekkie wygięcie liścia kryje głowę ptaka. Zdradziło ją to, że nie siedziała nieruchomo, ale poprawiła się. Już podniósł lufę, ale rozmyślił się i ułaskawił. Bo tak umierająca ze strachu, a przy tym tak pewna że już się dobrze schowała (S. 135). […] die leichte Biegung eines Blattes verbirgt den Kopf eines Vogels. Es verriet sie, dass sie nicht unbeweglich saß, sondern sich zurechtsetzte. Er hob schon den Lauf, aber er überlegte es sich anders und begnadigte. Weil sie so vor Angst starb und außerdem so sicher war, dass sie sich gut versteckt hatte. 86 Die beiden Bereiche sind so eng miteinander verbunden, dass sie gemeinsam erörtert werden müssen. <?page no="158"?> 158 Die Einfühlung läßt ihn sie verschonen. Er schenkt ihr das Leben, und das macht sie „miteinander irgendwie für immer verbunden“ (S. 136). Damit ist der Weg gewiesen, wie anders, ohne Töten, Gemeinschaft mit anderen Wesen möglich wird. Der Ausspruch Dyonizys über Wiktor, „dem sich die Enten auf den Kopf setzen können, wenn er seine alte Flinte lädt“ (S. 136), ist in diesem Kontext durch die schlechte Flinte nur motiviert. In der Sinnstruktur hat er die Funktion, die Idee der Gemeinschaft mit Tieren zu evozieren. Wiktor erscheint als heiliger Franziskus. Nun läuten Kirchenglocken. Die religiösen Implikationen der Enten-Begnadigung kommen Tomasz in den Sinn. „Seine“ Ente freut sich nach der eben ausgestandenen Angst. Hat sie ihm, Tomasz, zu danken oder Gott, der ihn nicht hat schießen lassen? 87 Religiöse Implikationen hat auch eine Nebengeschichte, die Tomaszs Enten agd versteckt kommentiert. Am See steht eine Ruine, in der einmal eine heidnische Priesterin gelebt haben soll. Als die Kreuzritter kamen, hat sie sich lieber im See ertränkt, als sich zu ergeben. Durch ihre Todesart tritt die Priesterin mit den Enten in eine Analogie, und damit gerät Tomasz, der auf die Enten schießt, in ein Analogieverhältnis zu den Kreuzrittern. 88 Erneut findet er sich unversehens in der Rolle der Mörder. Die folgenden Kapitel sind wie ein Echo auf die Sinn-Implikationen der Entenjagd. Heidnische mystische Vorstellungen von der Natur, der vom Christentum inaugurierte Gegensatz zwischen Mensch und Natur, die Sterbesakramente für Großmutter Dilibin, ihr Tod - das alles liegt jenseits von Tomaszs Horizont oder wird von ihm nur beobachtet. Verstanden hat er aber, was er durch eigene Tat auf dem See erlebt hat, und das wird Folgen haben. Auch bei der Tötung des Eichhörnchens geht es nicht nur um Tod und Leben, sondern auch um den Glauben. Das Furchtbare am Tod des Eichhörnchens ist für Tomasz, dass es gebetet hat - es hatte in seiner Agonie die Hände gefaltet - aber von Gott nicht erhört werden kann, weil es keine Seele hat. Es wird zu Nichts, und das macht seinen Tod schrecklicher als den von Großmutter Dilibin. Es können hier nicht alle Implikationen dieser Überlegung erörtert werden. Es sei nur erwähnt, dass es auch hier eine kommentierende Nebengeschichte - eine Begegnung mit Rehen - und ein Echo gibt. Mit Macht überfällt Tomasz sein Gewissen, er fastet streng. Eine Art Oster- 87 Als Bindeglied zur Welt des Glaubens zeigt sich schon hier das Gewissen. Diese Verbindung wird in der Eichhörnchen-Geschichte konkretisiert. 88 Die balladeske Nebengeschichte verweist auf Mickiewiczs Ballade Świteź, in der die nach der Niederlage ihrer Männer schutzlosen Frauen lieber Wasserpflanzen im wite -See werden, als von den Siegern geschändet zu werden. Als Wasserpflanzen leben die Frauen und Töchter im See weiter. Wer aber die Arme ins Wasser streckt, um die Pflanzen auszureißen, muss sterben. j <?page no="159"?> 159 mahl bewirkt schließlich das Wunder seiner Auferstehung. So muss man die folgenden Zeilen deuten: […] osłabł zupełnie i kręciło mu się w głowie, kiedy wstawał. Zjadł kwaśnego mleka z kartoflami na kolację i nigdy ich zapach (polane masłem) nie wydawał mu się tak cudowny. Bóg zesłał mu na pocieszenie myśli, jakie dotychczas nigdy go nie nawiedzały. Lubił rozkraczać nogi, stojąc na trawniku, pochylać się i patrzeć przez ich bramę na drugą stronę: tak odwrócony, park okazywał się niespodzianką. (S. 169). […] er war völlig entkräftet und es drehte sich ihm im Kopf, wenn er aufstand. Zum Abend aß er Sauermilch mit Kartoffeln und nie war ihm ihr Duft (mit Butter übergossen) so wunderbar erschienen. Gott schickte ihm zum Trost Gedanken, die ihm noch nie zuvor gekommen waren. Er liebte es, auf der Wiese stehend die Beine zu spreizen, sich hinunterzubeugen und durch ihr Tor auf die andere Seite zu schauen: so umgedreht erwies sich der Park als eine Überraschung. Nach dem Sauermilch-Kartoffel-Mahl sieht Tomasz die Welt neu, mit anderen Augen. Äußerliche Motivierung dafür sind Bewusstseinstrübungen wegen zu strengem Fasten. Doch es hat wirklich eine innere Wandlung stattgefunden - nicht dass sich Tomaszs Charakter verändert hätte, aber er nimmt jetzt sein Anderssein an und schenkt sich damit die Welt neu. Das Anderssein ist keine der in Litauen so häufigen Schrulligkeiten, sondern ein Eigentlichsein: „vielleicht sieht ja auch Gott die Welt durch die gespreizten Beine, oder nach einem noch viel längerem Fasten“, denkt Tomasz (S. 169). Anders zu schauen ist er mithin nicht nur berechtigt, sondern geradezu religiös verpflichtet. Tomasz betet: laß mich Deine Welt erkennen, wenn es Dir gefällt, mich zu erleuchten. Und die wichtigste Erkenntnis, die Tomasz in Dolina Issy macht, stellt sich gleich darauf ein: […] musiał dbać o swoją pozycję wśród ludzi, a tę zdobywało się przez zręczność w zabijaniu (S. 170). […] er musste sich um seine Position unter den Menschen bemühen, und die erwarb man sich durch Geschicklichkeit im Töten. Was hier als eine logische Abfolge dargestellt wird, erscheint im Text weit verstreut - nicht nur in auseinanderliegende Episoden zerrissen, sondern in ihrer zwar nicht zeitlichen, aber logischen Folge umgestellt. So geschieht manches von dem, was aus Tomaszs „Einweihung“ folgt, schon viel früher als das eben Geschilderte. Miłosz verwischt seine Spuren und wird doch nicht unglaubwürdig, denn Tomasz trägt schon lange vorher in sich, was er erst viel später begreift und akzeptieren kann. Welche Folgen hat die „Einweihung“? Um sie darzustellen, greift Miłosz ein weiteres Jagd-Motiv aus Pan Tadeusz auf - das Verfehlen des Tieres im entscheidenden Moment, wenn es <?page no="160"?> 160 dem Jäger gegenübersteht. Tomasz ist wie Tadeusz jung und unerfahren. Tadeusz verfehlt auf der Bärenjagd gemeinsam mit dem Grafen das Tier und kommt dadurch gemeinsam mit dem Grafen in Lebensgefahr (IV/ 640). Beide rettet Jacek Soplicas gezielter Schuss aus dem Hintergrund. Hier ist die Jagd nur Hintergrundszenario für sujetwichtige Entwicklungen. Soplica, der den alten Horeszko durch einen erstaunlich genauen Schuss getötet hatte, muss nun durch einen ebenso erstaunlichen Schuss das Leben von dessen Verwandten, dem Grafen, retten. Das Sujet zeigt erneut, dass die Fäden aus dem Hintergrund gezogen werden, und Tadeusz ist wieder nur passiv in ezug auf das eigene Glück. Tadeusz schießt vorbei, und nach der Jagd heißt es nur: Hrabia też i Tadeusz jadą nieweseli Wstydządz się, że chybili i że się cofnęli: Bo na Litwie - kto zwierza wypuści z obławy, Długo musi pracować, nim proprawi sławy (IV/ 852-855). Der Graf und auch Tadeusz reiten mißmutig Sie schämen sich, dass sie vorbeigeschossen und kehrt gemacht haben: Denn in Litauen muss, wer bei der Jagd ein Tier verfehlt, Lange daran arbeiten, seine Ehre wiederherzustellen. Bei Miłosz ist das Verfehlen der Beute selbst sujetwichtig. Es geschieht dreimal, zweimal auf der Birkhahnjagd in Kapitel 57 und einmal auf der großen Hirschjagd in Kapitel 65, der letzten Jagd von Dolina Issy. Auf der Birkhahnjagd scheint Tomasz sein Ziel zunächst vor lauter Aufregung zu verfehlen. Stutzig macht nur, dass er überhaupt nicht richtig zu zielen scheint. Er erwartet, dass er „irgendwie durch ein Wunder trifft“ (S. 161). Wunder gibt Gott aber, wie wir seit der Jagd auf Vipern wissen, nur für seine, für die gerechte Sache. Dann schießt man auf Schneehühner. Ein Stoßgebet von Tomasz: „Gott gib! “, und Gott verweigert ihm erneut seine Unterstützung. Tomasz war sich so sicher, er will überhaupt nicht wahrhaben, dass das Schneehuhn ruhig weiterfliegt. Bei der Brotzeit spürt er plötzlich die Fremdheit der beiden Jäger, die er begleitet: W nich jest coś innego niż w nim (S. 163). In ihnen ist etwas anderes als in ihm. Dann versteht er: er konnte nicht schießen. Aber warum? Er weiß, er ist anders, aber wer ist er dann? - „kim jest? “ (S. 164). Schließlich die große Treibjagd mit Hunden, der Bärenjagd in Pan Tadeusz ähnlich, auch darum, weil Tomasz, wie damals Tadeusz, wohlweislich an einer Stelle postiert wird, wo das Tier am wenigsten zu erwarten ist. Tomasz ist guter Dinge, er beobachtet kleine Tiere. Umso unerwarteter ist für ihn das neuerliche Scheitern, als der Hirsch dann doch gerade bei ihm durchbricht. Tomasz gibt die Flinte B <?page no="161"?> 161 ab, seine Verzweiflung ist vollkommen. Doch er ist nicht an seinem Unvermögen gescheitert, sondern weil er eigentlich gar nicht töten will. Und wird er zwar in der Fabel für seinen Fehlschuss durch die Nichtachtung der Anderen bestraft, so wird er im Sujet der lose aneinandergereihten Episoden doch dafür belohnt. Die lang ersehnte Mutter kommt endlich und schließt ihn in ihre Arme. Diesen Trick läßt der Autor als Drahtzieher noch durch seinen Helden verwundert kommentieren: Tomasz miał skończonych trzynaście lat i dokonał odkrycia: że po prawdziwej rozpaczy przychodzi zwykle prawdziwa radość […]. (S. 186) Tomasz war jetzt dreizehn Jahre alt und machte eine Entdeckung: dass nach wahrhaftiger Verzweiflung gewöhnlich eine wahrhaftige Freude kommt. Eine klassische Entblößung des Verfahrens. Der lange Weg in die Bibliothek Was sich unbewusst längst geformt hat, muss zu Bewusstsein, und dies muss zu Handlung werden. Tomasz muss lernen, dass Aufbewahren nicht im Besitzen durch töten, sondern allein in der Erinnerung möglich ist. Großvater Surkont ist für ihn dabei die entscheidende Orientierungshilfe. Er liebt die Pflanzenwelt und verabscheut die Jagd. In seinem Haus gibt es kein einziges Gewehr. Die vegetarische Note von Dolina Issy korrigiert gleichsam das Arkadien Mickiewiczs - die Jagd, das Töten von Tieren, ist im Paradies fehl am Platze, und Tomaszs mehrfaches Scheitern bei dem Versuch, auf der Jagd ein Tier zu töten, gründet auch in Miłoszs strengerer Auslegung des locus amoenus. Aber das Beispiel des Großvaters weist nicht nur den Weg weg von der Jagd, es zeigt auch die Alternative - die Bibliothek, den Aufbewahrungsort der Erinnerung. Die Annäherung an sie mit Hilfe des Großvaters hat eine längere Vorgeschichte. Es beginnt beim Dreschen, mit der Entfremdung von den Altersgenossen (Kap. 27). Tomasz fühlt nun in der Gegenwart der anderen Kinder seine Fremdheit als „Herrensöhnchen“. Die anderen Kinder meiden ihn, und seine Versuche beim Mähen mit der Sense ernten spöttische Bemerkungen der Erwachsenen - ein Seitenhieb auf Nad Niemnem, wo es der Herrentochter Justyna allzu leicht gelingt, die Leute aus Bohatyrowicze von ihrem Geschick mit der Sichel zu überzeugen. Der zweite Schritt weg von den „normalen“ Menschen hin zum Großvater wird ausgelöst durch ein Gespräch Antoninas in der Gesindestube, das Tomasz mit anhört. In früherer Zeit hätten die Herren den Mädchen aus dem Gesinde manchmal befohlen, auf Bäume zu klettern und „Kuckuck“ zu rufen, um dann auf sie zu schießen. Diese Szene geht gleich drei Verbindungen ein. Erstens mit Sexualität - Tomasz erinnert sich, Mädchen, die auf Bäume kletterten, von unten unter die Röcke geschaut zu haben. Zweitens <?page no="162"?> 162 mit Vögeln, mit denen Tomasz immer wieder in Kontakt treten will, insbesondere mit dem Auerhahn, weil bei ihm auch Sexualität unterschwellig im Spiel war. Drittens mit der Jagd, genauer: dem Töten bei der Jagd. Es entsteht ein Zusammenhang, der besagt, dass er, der ja auch „Herr“ ist wie die, die damals auf die Mädchen schossen, im Grunde nichts anderes tut als jene, wenn er bei der Jagd auf junge Vögel schießt. Das grausame Spiel von früher ist ein verfremdetes Bild seiner eigenen Jagd und ein Bild der Perversion seiner Liebe zur anderen Kreatur. Tomasz hat das unterschwellig verstanden, denn er nähert sich „aus diesen und anderen Gründen“ (S. 69) dem pazifistischen Großvater an und beginnt sich für dessen „grünes Königreich der Pflanzen“ zu interessieren. Auf welcher Seite der Großvater steht, unterliegt keinem Zweifel. Tomasz soll lieber Bauer werden als „Soldat oder Pirat“, jenen verniedlichten Kinderversionen des Mordens. Der nächste Schritt zur Erinnerung ist nur symbolisch angezeigt. Tomasz bekommt einen Uhu geschenkt. Für ihn, der ja mit Vögeln besonders verbunden ist, ist dieser Eulenvogel geradezu ein Totemtier, nicht nur weil er Klugheit und Bildung symbolisiert. Tomasz identifiziert sich mit dem Uhu („utożsamiając się niejako z puchaczem“, S. 73), weil das Tier bei der Berührung mit einem Rentierfell Zuckungen bekommt: Widocznie dotyk do krótkiej sierści przywoływał wspomnienia wszystkich jego przodków […] (S. 73). Augenscheinlich rief die Berührung mit dem kurzen Fell die Erinnerungen an all seine Vorfahren herbei. Die Klugheit dieses Vogels besteht darin, dass er sich erinnert! Zwei versteckte Linien gehen von hier aus. Zum einen zum Beginn von Kapitel 6, wo von dem Glück die Rede ist, das Berührung bedeutet, Berührung der nackten Füße mit Dielen und Pflastersteinen. Erinnert und damit aufbewahrt wird also nichts Abstraktes, sondern konkrete sinnliche Erfahrung, die voller Bedeutung ist, wie für den Uhu. Die andere Linie führt zum Bärenfell, von dem kurz zuvor die Rede war: Kiedy [Tomasz] był zupełnie mały sadzano go na niedźwiedzim futrze i wtedy święty spokój […]. Skóra, zszargana i pogryziona przez mole, pochodziła od ostatniego chyba niedz´wiedzia w okolicy, upolowano go dawno, jeszcze w dzieciństwie dziadka (S. 71). Als er [Tomasz] noch ganz klein war wurde er auf ein Bärenfell gesetzt und dann war heilige Ruhe […]. Das Fell, abgenutzt und von Motten zerfressen, stammte vom wohl letzten Bären der Gegend, gejagt wurde er vor langer Zeit, als der Großvater noch ein Kind war. Im Unterschied zum Rentierfell erregt das Bärenfell den Uhu nicht (S. 73), wohl aber Tomasz. Ihn erinnert die Berührung an früheste Kindertage und indirekt auch an seine Vorfahren. Noch eine andere Dimension des Erin- <?page no="163"?> 163 nerns kommt hier ins Spiel. Das Signalwort „ostatni“ („der letzte“, d.h. der letzte Bär) verweist auf Pan Tadeusz, wo dieses Wort ein Leitmotiv ist. Und so ist es nicht abwegig, das Erbe des Bärenfells als literarisches Erbe zu verstehen. Die Bärenjagd „vor langer Zeit“ - sie fand auf den Seiten von Mickiewiczs Epos statt. Das Bärenfell „möge ein Andenken sein an die heutigen Vergnügen“, sagt der Kammerherr in Pan Tadeusz (V/ 548). Was geschieht dann eigentlich mit dem Bärenfell? Der Kammerherr spricht es dem Grafen zu, der es aber aus verletztem Stolz ablehnt, danach verliert sich seine Spur… bis es in Nad Niemnem wieder auftaucht, im Zimmer von Benedykt Korczyński. Dort hängt es neben ein paar alten Familienfotos an der Wand (S. 509). Darüber hängt ein Paar gekreuzter Flinten, wie zur Erinnerung an den Streit, ob der Bär in Pan Tadeusz mit der „Salagasówka“ des As essor oder der „Sanguszkówka“ des Rejent erlegt wurde. Schließlich landet das Bärenfell, alt und mottenzerfressen, in Dolina Issy, beim Großvater Surkont, und Tomasz liegt darauf, die Weihen der Familien- und der Literaturgeschichte empfangend. Diese Geschichte ist natürlich fiktiv, aber als Emblem der Familientradition soll das Bärenfell in Dolina Issy genau diese Assoziationskette auslösen. Jetzt ist Tomasz bereit für den entscheidenden Schritt. Er betritt die Bibliothek und holt sich Bücher, bis er mit dem Buch des Servetus aus dem Besitz seines Vorfahren Hieronim Surkont tief in die Familiengeschichte eintaucht. Hier schließt sich der bereits erwähnte Exkurs ins 16. Jahrhundert an, der die Geste des Erinnerns realisiert. Mit diesem Exkurs wird also Tomaszs Perspektive nicht verlassen, sondern gewaltig erweitert, so dass sie mit der des Erzählers verschmilzt. Hier eröffnet sich für Tomasz der Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Unmöglichkeit, so zu sein wie die „einfachen“ Kinder Domcio oder Onuté, und der Unmöglichkkeit, wie ein „Herr“, wie Herr Romuald, auf die Jagd zu gehen. Statt in eine Traumwelt zu flüchten, hat er nun einen Weg gefunden, wie man „für immer aufheben“ kann, ohne zu töten. Er kann auf diesem Weg seine Identität und vielleicht das Glück gewinnen, das ihm nicht, wie Tadeusz, geschenkt wird, das er sich aber auch nicht einfach nehmen kann, wie Justyna. Aufbewahren Das Aufbewahren des Vergangenen also ist der entscheidende Gedanke, auf den Tomaszs Einweihungen im Verlauf des Romans hinführen. Was wäre leichter, als die metapoetische Parallele zu ziehen und das Schreiben von Dolina Issy zum fernen Ergebnis von Tomaszs schmerzlichem Selbsterfahrungsprozeß zu machen. Doch Miłosz will nicht Proust kopieren, er bricht seinen Bericht ab mit einer Bemerkung, deren leichte Ironie nicht zu überhören ist: s <?page no="164"?> 164 Pozostaje ci życzyć szczęścia, Tomasz. Twoje dalsze losy pozostaną na zawsze domysłem, nikt nie odgadnie co z ciebie zrobi świat ku któremu dążysz (S. 196). Es bleibt, dir Glück zu wünschen, Tomasz. Dein weiteres Schicksal bleibt für immer Vermutung, niemand wird erraten, was die Welt, in die du strebst, aus dir machen wird. Auch ohne voreiligen Biographismus sind wir mit dieser Bemerkung wieder bei Miłosz selbst und seinem schriftstellerischen Tun angekommen. Wir wissen nicht, was Tomasz machen wird - Miłosz jedenfalls beschließt, sich zu erinnern. In diesem Punkt weichen sein Arkadien und das Mickiewiczs von dem Orzeszkowas deutlich ab. Die beiden Exilschriftsteller beziehen sich nachdrücklich auf die Vergangenheit, während Eliza Orzeszkowa eine gegenwärtige Idylle entwirft. Dabei hat sich diese Welt, wie Miłosz betont, vom 18. Jahrhundert bis 1939 kaum verändert (Gespräch mit Fiut, S. 157f.). Sie hat also noch lange nach 1811/ 12, der Handlungsgegenwart von Pan Tadeusz, ihre soziale Struktur und ihren Lebensrhythmus behalten 89 und auch nach Tomaszs Weggang - Magdalenas authentische Geschichte soll sich 1921 zugetragen haben - noch 18 Jahre existiert. Mickiewicz betont in Pan Tadeusz, dass die von ihm beschriebene Welt endgültig vergangen ist, wie bekannt, dadurch, dass er das Attribut „der/ die/ das letzte…“ leitmotivisch wiederholt. Der Vorabend des Einmarsches der napoleonischen Truppen ist eine Zeitenwende, die nicht nur als Völkerfrühling für Litauen, sondern auch als ein Untergang zu deuten ist. Wie oben erwähnt hegte Mickiewicz gegenüber Napoleon zwiespältige Gefühle. Auch diesen Keim möglichen Sinnes entfaltet Miłosz. Zunächst einmal übernimmt er von Mickiewicz den für das Funktionieren der Idylle wichtigen Kunstgriff, die Handlung am Vorabend umwälzender historischer Ereignisse abbrechen zu lassen. Damit schafft er wie Mickiewicz keineswegs eine falsche Idylle. Beide Texte spielen mit dem Wissen des Lesers von dem, was danach geschah. Sie steigern mit der Süße der Idylle zugleich den Schmerz über ihren Verlust, gerade weil sie ihn mit keinem Wort erwähnen. Allerdings spricht Miłosz den Einmarsch der Deutschen in Litauen 1941 an und durchbricht dafür zum zweiten Mal die strenge Beschränkung des Erzählberichts auf die Handlungsgegenwart: 89 Waren die Befürchtungen von Mickiewicz hinsichtlich der Umgestaltung Litauens durch die ussische Regierung in seinen Anmerkungen zu Pan Tadeusz I/ 148 -9 also unbegründet? Für begründet hält sie Alina Witkowska, Mickiewicz, słowo i czyn, S. 152. Miłosz betont dagegen die hartnäckige Dauer der Lebensart - bis 1939. Dadurch macht er Dolina Issy an Stelle von Pan Tadeusz, wenn schon nicht zum letzten Epos, so zumindest zur endgültig letzten litauischen Idylle. r <?page no="165"?> 165 […] dwadzieścia lat później, kiedy w generalskim samochodzie pełnym pledów i termosów[…] przejeżdżał [niemiecki oficer] ulicami jednego z miast Europy Wschodniej, zdobytego właśnie przez armię Führera (S. 25). […] zwanzig Jahre später, als im Generalsfahrzeug voller Plaids und Thermosflaschen [der deutsche Offizier] die Straßen einer der osteuropäischen Städte durchfuhr, die gerade durch die Armee des Führers eingenommen worden waren. Doch Miłosz will mit diesem Ausflug in die Handlungszukunft keineswegs auf die Zerstörung Arkadiens hinweisen. Nicht Hitlers Einmarsch markierte ja das Ende der alten Zeit, sondern schon mit dem Einmarsch der Roten Armee 1939 ist das alte Litauen gestorben. 90 Der Einmarsch der Deutschen ist jedoch geeignet, einen Parallelismus zwischen Napoleon und Hitler herzustellen, um rückwirkend an Mickiewiczs Schicksalsdatum 1812 den Gegensatz zwischen dem „metaphysischen Osten“ und dem „rationalistischen Westen“ herauszuarbeiten. 91 Darum hat Miłosz in Dolina Issy die Deutschen auch nicht als mordende Barbaren dargestellt, sondern als „Menschen des Handels, der Erfindungen und der Wissenschaft“ (S. 9). Die - anscheinend harmlosen - Teufel stellen sich die Menschen an der Issa in Kleidung und Gestalt wie Immanuel Kant vor (S.9). Warum, so fragt sich der Erzähler, sollten sie, die doch unsterblich sind, gerade Kleidung aus dem 18. Jahrhundert tragen? Der Teufel wird „niemczyk“ (kleiner Deutscher) genannt, „weil er auf der Seite des Fortschritts ist“ (S. 9). Auf der Seite des Fortschritts aber war auch Napoleon. Der philosophische Rationalismus des 18. Jahrhunderts, für den Napoleon und Kant stehen, hat im Westen jene alte Metaphysik zersetzt, deren letzte Zuflucht Litauen zuu sein scheint. Darum hat Oskar Miłosz in Litauen seine spirituelle Heimat gesehen und nicht im aufgeklärten Frankreich, in dessen Sprache er doch dichtete. Der letzte locus amoenus war auch der letzte locus metaphysicus. Das gibt dem Verlust des Vaterlandes, mit dem Pan Tadeusz anhebt, einen umfassenderen Sinn. Jetzt hat nicht mehr nur der Dichter, der Erzähler, das lyrische Ich die Heimat verloren und damit seine Verwurzelung, sondern Europa, das Abendland, hat mit Litauen den letzten Rest seiner „Heimatlichkeit“, 92 die Verwurzelung in seiner eigenen Geschichte verloren. Unter diesem Aspekt ist Dolina Issy die Umkehrung von Pan Tadeusz. Das individuelle Schicksal des Dichters ist zum kollektiven Schicksal Europas geworden, das kollektive Erinnern des polnischen Volkes ist dagegen zu einem individuellen, vereinzelten Erinnern geworden: 90 Die Nachkriegsgeschichte Litauens zeigt, dass dieses Ereignis auch das historisch folgenreichere war. 91 Darum kommen die Deutschen auch mit „Plaids“ und „Thermosflaschen“ - zwei Fremdwörter, eins davon französischer Herkunft. 92 Vgl. den Titel von MiŁoszs Autobiographie: Rodzinna Europa. <?page no="166"?> 166 Opowiadając nie wie się, jaki wybrać czas, teraźniejszy czy przeszły, jakby to co minęło nie było całkowicie minione dopóki trwa w pamięci pokoleń - czy tylko jednego kronikarza (S. 10). Erzählend weiß man nicht, welche Zeit man wählen soll, Gegenwart oder Vergangenheit, als ob das, was vergangen ist, nicht ganz vergangen wäre, solange es dauert im Gedächtnis der Generationen - oder nur des Chronisten allein. Nicht zufällig taucht kurz nach dieser Bemerkung im Text das Bild der Arche auf. Der Dichter sieht sich selbst, soweit er Chronist ist, als Arche, auf der die Welt des alten Litauen - in Sprache gefaßt - die Flut des Zweiten Weltkrieges überdauert hat. Zugleich ist der Vergleich des Pfarrhauses mit einer Arche eine Anspielung auf Pan Tadeusz. 93 Dort sah die alte jüdische Schenke „wie eine Arche aus“, und Mickiewicz spielt nicht nur direkt mit dem (alttestamentlich-jüdischen) biblischen Motiv der Arche Noah durch die Aufzählung der vielen Tierarten, die dort untergebracht sind („und Amphibien wenigstens je ein Paar“, IV/ 182). Vielmehr verallgemeinert schon Mickiewicz, wie später Miłosz, dieses Bild zum Motiv des kulturellen Aufbewahrens: Stara [karczma], wedle dawnego zbudowana wzoru, Który był wymyślony od tyryjskich cieśli, A potem Żydowie po świecie roznieśli: Rodzaj architektury obcym budowniczym Wcale nie znany; my od Żydów dziedziczym (IV/ 172-176). Die alte [Schenke], gebaut nach dem alten Muster, das einst von den Zimmerleuten aus Tyrus erfunden, Und später von den Juden auf der ganzen Welt verbreitet wurde: Eine Art der Architektur, die fremden Baumeistern Ganz unbekannt ist, wir haben sie von den Juden geerbt. Das Aufbewahren geschieht nicht nur mechanisch oder gewohnheitsmäßig - die Schenke sieht zugleich wie ein Heiligtum aus, sie erinnert an den Tempel Salomos auf dem Berg Zion (IV/ 183-186). Und so ist auch Miłoszs Erinnern, und aus seiner Sicht rückwirkend auch das Mickiewiczs, ein heiliger Akt. Das Aufzählen all der Gräser- und Pilznamen ist ein Gebet wie die Große Litanei der Osterliturgie, und die Zubereitung von Kaffee ist nicht weniger heilig als die Bereitung des Heiligen Abendmahls. Weil aber das Aufbewahren durch Erinnern bei allen drei Autoren eine so wichtige Rolle spielt, finden wir in allen drei Texten Menschen, die sich erinnern wollen. In Pan Tadeusz ist das Gerwazy, der Rächer der Horeszkos. In Nad Niemnem ist das Justyna, die die Menschen, die vergessen wollen - 93 Mit seinen umfangreichen Sammlungen von Flora und Fauna gleiche Pan Tadeusz der Arche Noah, schreibt Alina Witkowska, Adam Mickiewicz, słowo i czyn, S. 153. <?page no="167"?> 167 Benedykt in Korczyn und Anselm in Bohatyrowicze - zwingt, sich zu erinnern. In Dolina Issy ist das schließlich Tomasz, der das Erinnern jedoch erst mühsam lernen muss. Weiterhin finden wir in allen drei Texten in zentraler Sujetfunktion Gegenstände, die den Verweis auf die Vergangenheit in sich tragen und damit die Erinnerung wachhalten. In Pan Tadeusz ist es das verfallene Schloss, um das man sich streitet. In Nad Niemnem sind es die Gräber zu beiden Seiten des Flusses - auf der einen Seite das Grab der Gründer, auf der anderen das der Aufständischen von 1863. In Dolina Issy schließlich ist es das Buch aus dem Besitz des Hieronymus Surkont, das sich zwar in der Fabel nicht so in den Vordergrund drängt, dessen Sujetfunktion jedoch nicht geringer ist als die seiner Pendants bei Mickiewicz und Orzeszkowa. Schließlich finden wir in allen drei Texten Menschen, die durch ihr hohes Alter lebende Zeugnisse der Vergangenheit sind. In Pan Tadeusz hat der alte Maciej noch 1768 bei den Konföderierten von Bar mitgekämpft und verkörpert historische Kontinuität, was in Polen 200 Jahre lang immer nur heißen konnte: das Weiterreichen der Waffen an die nächste Generation von Aufständischen. In Nad Niemnem wird ein ganzer Apparat von geschichtlicher Kontinuität aufgefahren. Der Aufstand von 1863 ist im Bewusstsein der älteren Generation noch präsent und muss nicht gesondert erinnert werden. Doch er hat in der Familiengeschichte und Mentalität der drei Brüder Korczyński noch viel ältere Quellen wieder freigelegt: We wszystkich trzech ozwała się naraz krew żołnierzy spod Baru i Samosierry, to zaś, co w pokoleniu najbliższym zadrzemało było i tylko przez sen niekiedy płakało, w nich uderzone dzwonem czasu krzyknęło (S. 51f.). In allen dreien erwachte gleichzeitig das Blut eines Soldaten von Bar und Samosierra, das aber, was in der vorigen Generation eingeschlummert zu sein schien und nur im Schlaf manchmal aufweinte, schrie in ihnen auf, angeschlagen von der Glocke der Zeit Auch hier also, eine „eingeschlafene“ Generation überspringend, die Konföderation von Bar. Doch das reichte nicht, es musste auch noch erwähnt werden, dass Benedykts Großvater ein Legionär in Diensten Napoleons war (S. 49) - nach der Logik der literarischen Genealogie kann das nur Tadeusz Soplica sein. Damit nicht genug - Eliza Orzeszkowa musste auch noch den uralten, senilen Jakób auftreten lassen, „der schon fast neunzig ist und sich an die Franzosen erinnert“ (S. 121), also an den Feldzug von 1812, von dem er dann immer wieder dieselbe Anekdote erzählt, wie er als Kind den Vormarsch und später den Rückzug der Truppen erlebte. Wer denkt da nicht an Mickiewiczs Kindheitserlebnisse! Jakób ist sein Altersgenosse. Dass Orzeszkowa den Aufstand von 1830/ 31 überspringt, ist nicht weiter verwunderlich. Wer an ihm teilgenommen hat, ist emigriert, ihre Helden aber müssen in Litauen geblieben sein. <?page no="168"?> 168 Miłosz ist mit lebenden Reliquien zurückhaltender. Allerdings ist Hieronym Surkont, aus dessen Besitz das häretische Buch aus dem 16. Jahrhundert in die Bibliothek gelangt ist, zweifellos ein Vorfahr von Großvater Surkont. Der Großvater selbst hat dezidiert keine Aufständischen-Vergangenheit. Das entspricht seiner vegetarischen, friedliebenden und somit pazifistischen Persönlichkeit. In der anderen, der väterlichen Linie jedoch konnte sich Miłosz ein ironisches Anknüpfen an die Tradition der lebenden Reliquien nicht versagen. Tomaszs Großmutter hat einen Ex-Aufständischen von 1863, geheiratet. Dessen Vorfahr hat unter Napoleon in Spanien und Italien gekämpft - von 1812 ist hier nicht die Rede, die Anspielung auf Pan Tadeusz wäre zu offensichtlich. Zu seinen Vorfahren zählt angeblich auch Emilia Plater, die polnische Jeanne d’Arc des Aufstandes von 1831. Sein Vater und sein Onkel schließlich kämpfen zur Zeit der Romanhandlung unter Piłsudski gegen Russland. Miłosz verlängert also die Aufständischen- Genealogie noch in die Handlungsgegenwart hinein, allerdings mit einem Augenzwinkern - „alle Dilibins waren ein wenig Abenteurer“ (S. 52f.). Über die „lebenden Reliquien“ kann sich Miłosz nur noch lustig machen. Sein eigenes Aufbewahren ist, wie sein Roman, ohne jede Sentimentalität. Wenn alle persönlichen Erinnerungen schwinden und alle Inschriften verwittert sind, gibt es noch eine letzte Form des Erinnerns: die Archäologie. Sie ist allen drei Werken mit den Überresten der Schwedenkriege des 17. Jahrhunderts verbunden. Diese von Sienkiewicz so ausdauernd besungene glorreiche Zeit wird in Pan Tadeusz durch eine Kanonenkugel in Erinnerung gerufen. Sie dient bei dem alten Maciej als Türstütze und hat somit, ganz im Geist der sonstigen Veränderungen des Vorwerks in Pan Tadeusz, von einer kriegerischen zu einer zivilen Nutzung gefunden. In Nad Niemnem dienen die „Schwedenwälle“, Befestigungsanlagen aus jenem Krieg, als Zeugnis von Waffengängen, an die man sich 1863 gern erinnerte (S. 52). Eine pervertierte, weil nicht mehr von der Identifikation und vom Bewusstsein des Erbes getragene Beziehung zu den Schwedenwällen entwickelt Zygmunt, der nach dem Vorbild der großen Kulturnationen Ausgrabungen in den Schwedenwällen durchführen läßt (S. 217), an denen er allerdings bald das Interesse verliert. Und auch in Dolina Issy tauchen die Schwedenwälle auf. Sie grenzen den Friedhof, wo Tomaszs Ahnen begraben liegen, vom Park ab, in dem das merkwürdige Kreuz steht. Manchmal findet man hier noch Überreste von Rüstungen (S. 11). Auch hier also eine Schwundstufe des Verweises auf die heroische Vergangenheit, und eine winzige Korrektur: nicht unbedingt müssen diese Wälle auf die heroische Verteidigung Polens gegen die „ungläubigen“, weil protestantischen Schweden verweisen. Der Erzähler notiert, sie könnten auch von den Schweden selbst aufgeschüttet worden sein. Diese Korrektur ist angesichts der Sympathie für die protestantischen Häretiker, <?page no="169"?> 169 die in den historischen Kapiteln von Dolina Issy spürbar ist, nur allzu verständlich. Damit schließt der Vergleich von Miłoszs Roman mit seinen so viel höher eingeschätzten Praetexten. Es sollte deutlich geworden sein, dass Dolina Issy sich mit diesen Texten durchaus messen kann, auch wenn dieser Roman weder die poetische Vollendung von Pan Tadeusz noch das geradezu mathematische Konstruktionsgerüst von „Nad Niemnem“ hat. Miłosz kann und will Mickiewicz und Orzeszkowa nicht kopieren. Er schafft etwas ganz eigenes, und bezieht sich von dieser Position aus souverän auf seine Prätexte. Angesichts dieser Sachlage wird nun wohl niemand mehr behaupten wollen, Dolina Issy sei nur eine Autobiographie. Es ist ein höchst artifizielles Kunstwerk, und ich hoffe, mit meiner Analyse einen Teil der Schuld jener deutschen Rezensenten abgetragen zu haben, über die sich Miłosz besonders ärgerte, weil sie alle geschrieben hatten, Dolina Issy bestehe nur aus Czesław Miłoszs Kindheitserlebnissen. <?page no="171"?> 171 Der Lauf der Sonne als Gedichtzyklus Czeslaw Miłoszs 1974 erschienener Gedichtband Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wo [wörtl.: wohin] sie untergeht) enthält 22 Gedichte sowie eine Reihe von sieben durchnummerierten und mit je eigenen Überschriften versehenen Verstexten mit demselben Titel wie der Gedichtband. Ich möchte hier zeigen, dass und warum diese sieben durchnummerierten Texte einen Zyklus bilden. Der Text selbst liefert keine Gattungsbezeichnung. In der Sekundärliteratur zu Miłosz finden sich für Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada die polnische Bezeichnung ‚poemat‘ und das ihm weitgehend äquivalente englische ‚poem‘ - die Bezeichnung für einen verssprachlichen Text unbestimmter Länge. Die Sekundärliteratur favorisiert also den Einheitsaspekt der sieben Abschnitte bzw. Gedichte. Damit steht in Frage, inwiefern Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada ein Zyklus sein soll. Es erscheint nicht sinnvoll, die Deklarierung eines Textkorpus als Zyklus durch den Autor zu einer notwendigen Bedingung für Zyklizität zu machen. 1 Die strukturale Bestimmung am Textkorpus erscheint trotz gewisser Abgrenzungsschwierigkeiten (s.u.) möglich, zumal zumindest Gedichtzyklen in der Literaturgeschichte recht stabile Gattungsmerkmale aufweisen. Das größte Problem bei der Bestimmung von Gedichtzyklen nach textimmanenten Kriterien ist ihre Abgrenzung gegen das Verspoem. Dafür kann man die folgenden Punkte geltend machen: - Im Zyklus muss eine kohärente autonome Deutung des einzelnen Gedichtes möglich sein. - Während beim Versepos die Metastruktur im Text manifest ist und vom Leser nur nachvollzogen werden kann, ist der Zyklus davon abhängig, durch die Leseraktivität konstituiert zu werden. - Traditionell hat das Versepos eine stärkere Tendenz zum durchgängigen Versmaß als der Gedichtzyklus. Im 20. Jahrhundert werden jedoch auch die Versepen prosodisch immer heterogener, so dass hier eine Unterscheidung immer schwieriger wird. Wie steht es nun mit Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada? Die Zusammengehörigkeit der einzelnen Abschnitte oder Gedichte steht aufgrund der gemeinsamen Überschrift, der Durchnummerierung und des durchgängigen lyrischen Ich außer Frage. Doch ist diese Zusammengehörigkeit die eines Zyklus oder die eines Verspoems? Die prosodische wie auch stilistische He- 1 In Bezug auf die polnische Dichtung ist wie in Bezug auf die französische die Bezeichnung „Zyklus“ ohnehin erst sehr spät aufgekommen. <?page no="172"?> 172 terogenität wir finden gereimte Verse, ungereimte Verse, Prosa, Lexikonartikel, Liedhaftes u.a. - ist für zeitgenössische Texte kein Unterscheidungskriterium mehr. Wie steht es nun mit der Latenz des Gesamttextes? Dieser ist in der Tat im hohen Maße darauf angewiesen, vom Leser erst hergestellt zu werden. Die, wie wir sehen werden, ausgeprägte Diegesis (syntagmatische Bedeutungsebene) kommt nur mit Hilfe von intertextuellen Bezügen durch aktive Assoziationen zustande, und auch die unzeitlichen (paradigmatischen) Verknüpfungen funktionieren nur über gedankliche Transfers in der Rezeption. Das gilt allerdings auch für viele Verknüpfungen innerhalb der einzelnen Gedichte/ Abschnitte. Nehmen wir aber ein durchgängiges Montageprinzip für das Sujet des Gesamttextes an, so verschwindet die Differenz zwischen Zyklus und Poem erneut. Was schließlich die Autonomie der einzelnen Gedichte/ Abschnitte betrifft, so ist sie zumindest für Nr. 1 (Posłuchanie) von Miłosz selbst behauptet worden. Dieses Gedicht sei zunächst allein für sich, ohne den Plan einer Verknüpfung oder Fortschreibung entstanden, berichtet er im Gespräch mit Ewa Czarnecka. 2 Doch kann man den einzelnen Gedichten oder Abschnitten ein höheres Maß an innerer Organisiertheit zusprechen als dem Gesamttext, wo doch auch sie stilistisch heterogen und weitgehend assoziativ organisiert sind? Die Selbständigkeit oder Unselbständigkeit von unter einer gemeinsamen Überschrift publizierten künstlerischen Texten ist eine Frage der Interpretation. Der zentrifugale Versroman, das zentrifugale Versepos sind Grenzfälle zum Gedichtzyklus. Selbst eine vom Autor verantwortete Gattungsbezeichnung ist Gegenstand und nicht Mittel der Interpretation. Sorgfältig hat der Deuter abzuwägen zwischen den jeweils herrschenden Gattungskonventionen einerseits und dem mehr oder weniger starken Impuls eines Kunstwerks, sich solchen Zuschreibungen zu entziehen, andererseits. Mit anderen Worten, die Frage nach der Zyklizität ist eine doppelseitige: sie gilt nicht nur dem Zusammenhalt zwischen auf den ersten Blick selbständigen Texten, sondern auch der inneren Differenzierung eines größeren, integrierten Textes. Damit hängt es nicht von der Entscheidung der Alternative zwischen Zyklus und Versepos ab, ob wir die Zyklizität von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada untersuchen dürfen. Hier wie in vielen anderen Fällen der Versdichtung im 20. Jahrhundert ist die Frage nach der Gattung formal unentscheidbar. Beantwortet werden kann jedoch eine andere, letztlich wichtigere Frage: Muss einem Zyklus ein zyklischer Grundmythos zugrunde liegen, eine Wandlung in einem imaginären Raum und einer imaginären Zeit? Ich verschiebe damit den Fragehorizont von der Frage nach dem literarischen Zyklus hin zur Frage nach literarischer Zyklizität. Anstelle der kompositio- 2 Renata Gorczyńska (Ewa Czarnecka): Podróżny świata. Rozmowy z Czesławem Miłoszem. New York 1983, 163. - <?page no="173"?> 173 nellen Konstruktion des Zyklus kommt so sein Sinn-Fundament in den Blick. Doch die Konzeptionen von literarischem Sinn wie auch von ‚zyklischen Grundmythen‘ bedürfen der näheren Erläuterung. Michail Bachtin unterscheidet in Bezug auf die Form eines Sprachkunstwerks zwischen Komposition und Architektonik. Er knüpft dabei an den von Plotin bis Dilthey ausdrucksästhetisch, seit Potebnja dann eher apophatisch, d.h. durch die Negation des Gegenteils gebildeten Begriff der „inneren Form“ an. Bachtin wendet ihn wieder ins Positive. Architektonik ist für ihn die gedeutete Gestalt eines Textes. Sie kann nur im Zusammenhang mit einer Interpretation des Kunstwerks sichtbar werden. Die Architektonik ist das Bindeglied zwischen der künstlerischen Form und dem menschlichen Sinn, ohne den ‚Kunstobjekte‘ eben sinnlose Gebilde bleiben. Sinn ist das, um dessen Willen Kunstwerke sind. Die Funktion der Architektonik in der Ästhetik ist vergleichbar mit der Funktion der Einbildungskraft als Bindeglied zwischen der Gegenstandsform und dem menschlichen Sinn-Apriori der Räumlichkeit und Zeitlichkeit für die Erkenntnis (Kant, Heidegger). 3 Ich würde nun im Sinne Bachtins zwischen einer kompositionellen und einer architektonischen Zyklizität unterscheiden und sagen, dass die Herstellung eines kompositionellen Zusammenhangs zwischen zuvor selbständigen Texten noch keine Zyklizität im architektonischen Sinne herstellt, solange kein Bezug der Zyklizität auf Sinn erkennbar ist. Die Anordnung von Material zur Kompositionsform eines Zyklus ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass die künstlerische Form des Zyklus zu einer Architektonik im Sinne Bachtins wird. Zyklizität im architektonischen Sinne liegt nur dann vor, wenn der kompositionelle Zusammenhalt der Texte auf eine narrative Entfaltung des Sinns bezogen wird. Meistens, aber nicht obligatorisch, ist diese Sinn-Bewegung mit einer kontingenten Bewegung des lyrischen Ich oder des lyrischen Helden in Zeit oder Raum verknüpft wie z.B. reisen, altern, zu einer Einsicht gelangen, Illusionen verlieren. Diese kontingente Bewegung kann aber nicht allein die Einheit des Zyklus schaffen, denn auch ein latenter Text wie der des Zyklus gewinnt seine Daseinsberechtigung dort, wo die Kontingenz endet und Sinn beginnt. Was aber ist eine ‚Narrativität des Sinns‘, was ist architektonische Zyklizität? Das zu demonstrieren eignet sich kaum ein Text besser als Miłoszs Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada, weil dieser Textcorpus durch eine Narrativität des Sinns gleich mehrfach überdeterminiert ist, ja geradezu eine Hypertrophie von architektonischer Zyklizität entwickelt. Ich möchte an Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada diese zyklische Architektonik, d.h. die innere Zyklizität, vorführen und daran die allgemeinen und spezifischen 3 Vgl. dazu Matthias Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur. Bern/ Frankfurt 1983, Kap. 3. <?page no="174"?> 174 Implikationen einer solchen Architektonik diskutieren. Zyklische Architektonik ist ja mehr als nur gedeutete Zyklizität, sie ist Gestalt gewordener Sinn und somit eigentlich der Schlussstein für die umfassende Interpretation eines Textkorpus. Eine architektonische Bewertung verlangt Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada insbesondere darum, weil formale, also kompositorische Merkmale von Zyklizität kaum zu entdecken sind. Allenfalls ein durchgängiges lyrisches Ich ist auszumachen, aber auch das wird zeitweilig zum von außen betrachteten lyrischen Helden. Ansonsten sind die sieben Abschnitte oder Kapitel oder Gedichte von sehr unterschiedlicher Länge. Es sind in sie sogar komplette fremde Texte eingebettet, z.B. ein Gedicht von Teodor Bujnicki. Auch sonst sind sie ein Genre-Mix von Versen und Prosaabschnitten, von gereimten und ungereimten Versen, von Elegischem, Liedhaftem, Narrativem, Bukolischem, Realistischem und Phantastischem, auch ein Sprachmix von Polnisch, Litauisch, Latein und der der auf weißrussischen Dialekten basierenden Amtssprache des alten Großfürstentums Litauen vor der Realunion mit Polen, die als „Prostamowa“ bezeichnet wurde. In die Erarbeitung der zyklischen Architektonik von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada beziehe ich die straffe, aber äußerst knappe Darstellung dieses Werkes in der Miłosz-Monographie von Leonard Nathan und Arthur Quinn ein. Diese Monographie der beiden Übersetzer und langjährigen Kollegen Miłoszs in Berkeley wurde dank der kritischen Begleitung durch den Autor zu einer Art Autorkommentar. Weiterhin beziehe ich mich auf die materialreiche, aber etwas unstrukturierte Darstellung von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada in einer Monographie von Jolanta Dudek, die ausschließlich diesem Werk gewidmet ist. 4 Die Überschrift Gdzie wschodzi stonce i kędy zapada bietet bereits eine Reihe von Möglichkeiten an, einen Bogen zu ziehen. Wichtig ist dabei, dass wir solch einen Bogen von Anfang an von der Sinn-Seite her motivieren. So offenbaren die narrativen Passagen zwei Orte des Geschehens: Litauen im Osten und die kalifornische Pazifikküste im Westen. Die Wahl dieser Orte ist realistisch, nicht aber künstlerisch und damit auch noch nicht architektonisch durch den früheren und den späteren Wohnort des Dichters motiviert. Eher verleiht umgekehrt die Architektonik des Werkes dem Wohnortwechsel des Dichters einen Sinn. Zufällige biographische Fakten werden zu Sinn gebildet, und zwar auf zwei Ebenen: zum einen im geistig-seelischen Kosmos des lyrischen Ich und zum anderen in der kosmologischen Dimension des Sinns der Welt. 4 Leonard Nathan/ Arthur Quinn: The Poet's Work. An Introduction to Czestaw Miłosz. Cambridge, Mass. 1991; Jolanta Dudek: Europejskie korzenie poezji Czesława Miłosza. Krakow 1995. <?page no="175"?> 175 Zwischen den beiden Ebenen herrscht ein strenger Parallelismus, der keinesfalls in den Begriffen Innenwelt und Außenwelt beschrieben werden darf. Wie im Mythos, wie in der metaphysischen Dichtung des Mittelalters ist zwischen Mensch und Menschheit nicht geschieden, das lyrische Ich geht Wege exemplarisch für den Menschen überhaupt. Und so ist der Weg vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Fall, wie etymologisierend übersetzt werden könnte, im absoluten Raum des Sinns eine Vertreibung aus Arkadien, und in der absoluten Zeit der Weg vom Goldenen zum Eisernen Zeitalter, der Weg auch vom Einssein des Menschen mit Gott zu seinem Fall. Man wird vielleicht in der Reise vom Aufgang der Sonne zu ihrem Untergang nur eine Metapher für Kindheit, Alter und Tod sehen, aber Miłosz bewegt sich in der absoluten Zeit, in der das Altern und Sterben des Menschen umgekehrt die Folge seines metaphysischen Falls ist. Hier ist der Sinn primär, die Realität von Sonnenlauf oder Lebenslauf ist seiner absoluten Struktur nachgebildet. Einen wirklichen Weg, der eine Richtung und ein Ziel hat, gibt es nur auf der Ebene des Sinns, und wenn die Realität ihm nicht nachgebildet ist, finden wir in ihr nur Leere und Chaos. Mit Aufgang und Untergang ist also eine kosmische Ordnung inauguriert, und sie ist die Bedingung für echte Zyklizität des Sinnes, für eine Architektonik der Zyklizität. Miłoszs prominentestes Vorbild im Beharren auf einer Sinn-Ordnung in der Vorstellung vom Kosmos, der Kopernikanisch-Newtonschen Wende zum Trotz, ist William Blake. Wichtigster Unterschied zu Blake ist, dass der Bogen bei Miłosz wesentlich im Denken gezogen wird. Die Kosmologie ist nur mehr appräsent. Ist das das Zeichen eines Rückzugs in die Innerlichkeit, ein Zeichen von Defaitismus? Nein, es setzt nur eine neue Verteidigungslinie gegen den ortlosen Newtonschen Raum und gegen die physikalische Zeit, der nie eine Stunde schlägt. Das Bewusstsein ist hier nicht als ein Ort der Innerlichkeit oder der psychischen Vorgänge thematisiert, sondern als der Ursprung von Sinn. Der absolute Ort ist hier, d.h. dort, wo der Sinn entspringt, und ebenso ist die absolute Zeit dort, wo sie entspringt. Der Aufgang der Sonne ist nun zum einen ein Bild für den Ursprung von Sinn, zum andern ist die Sonne selbst, wie bei Blake, das kosmologische Analogon zum bewusstseinsphänomenologisch verstandenen Sinnursprung. Die Sonne ist der kosmologische Ursprung von Raum - den sie durch ihr Licht öffnet - und von Zeit, deren absolutes Maß sie ist. Wo die Sonne aufgeht, ist der Ursprung von Sinn, und wo sie untergeht, ist sein Fall ins Nichts. Dazu kommen dann die Begriffe Heimat und Fremde. Litauen ist nicht Heimat, weil Miłosz dort aufgewachsen ist - faktisch hat er in seinem Arkadien nur eine kurze Zeit verbracht -, sondern auch hier verhält es sich umgekehrt: Litauen ist für das aus sich selbst vertriebene Europa, für das Europa, das seinen Ort nicht mehr kennt, das verlorene Urbild. Um diese spirituelle Vertreibung geht es auch Czeslaw Miłosz, und seine eigene Emigration ist von ihr nur ein Abbild, keineswegs zufällig, sondern in notwendi- <?page no="176"?> 176 ger Entsprechung zum kosmischen Geschehen. Kalifornien ist der Ort der Entfremdung und Verleugnung, des Untergangs des Sinns, weil hier die Sonne untergeht und weil Amerika, weit davon entfernt, Blakes ersehntes neues Atlantis zu werden, ein ortloser Raum, ein Nirgendwo für Jedermann ist und schließlich auch, weil für Miłosz in Amerika das nachkopernikanische Denken den in seiner Inertia liegenden sinnentleerenden Relativismus schon am wietesten getrieben hat. Dort, wo die Sonne aufgeht, und dort, wo sie untergeht - die Grundlage dieses Gegensatzes ist eine Analogie, die mit dem Begriff „Horizont“ bezeichnet ist. Northrop Frye weist in seiner Blake-Deutung diesem Begriff einen prominenten Platz in William Blakes Kosmologie zu. 5 Die klangliche Analogie zwischen den Wörtern „horizon“ und der Blakeschen „Gottheit" Urizen erwähnt Frye nicht - vielleicht weil sie allzu evident ist. Wie dem auch sei, Miłosz greift diese Verbindung auf und macht den Horizont im Sinne Urizens, des Gottes des leeren Raumes und des blinden Willens, zum Symbol der sinnentleerten physikalischen Welt. Der Horizont, an dem die Sonne sowohl aufgeht als auch untergeht, verweist damit bei Miłosz auf die bereits gefallene Welt. Andererseits verweist der Titel bei Miłosz auf den Psalm 113 („Laudate, pueri, Dominum"), dem in der Struktur von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada eine Schlüsselstellung zukommt (vgl. den Titel des dritten Abschnitts Lauda sowie die Gebetsfolge des Vesper-Breviers). Den vierten Vers dieses Psalms hat Miłosz selbst in seiner Psalmenübersetzung mit „Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada“ wiedergegeben. 6 Aus diesem Verweis folgt, dass der gefallenen Welt der Bezug auf den echten, den Sinn-Kosmos nach wie vor offensteht, und zwar über das Wort Gottes einerseits und über das Gotteslob des Menschen andererseits. Als biblischer Text ist der Psalm Wort Gottes, als liturgischer Text ist er zugleich Gotteslob. Von Horizont zu Horizont ist die Welt zwar eine gefallene, sie ist aber über das menschliche Bewusstsein doch noch auf Sinn bezogen. Darum ist Miłoszs Versepos wesentlich ein Szenario des Bewusstseins und nicht wie bei Blake oder Milton ein rein kosmologisches. Heilsgeschehen ist nach Miłosz nur durch die Vermittlung des Bewusstseins möglich. Ich fasse das Bisherige zusammen: Natur- und Seelengeschehen werden als parallele, vom Sinn her begründete Vorgänge verstanden. Biographische Fakten erhalten von dort ihren Sinn und werden zum Exemplum des absoluten kosmischen und seelischen Geschehens. Mit der mathematischen 5 Northrop Frye: Fearful Symmetry. Princeton 1972. Miłosz hat diese Monographie gelesen und zitiert sie mehrfach in Ziemia Ulro. 6 Die Psalmenübersetzung ist später als der Zyklus entstanden (vgl. Podróżny swiata, S. 157). In den früheren polnischen Übersetzungen von Psalm 113 lautet dieser Vers wie folgt: - Kochanowski: „Gdzie zarze wschodzą i gdzie zapadają“; Biblia Tysiąclecia: „Od wschodu słońca aż po zachód jego“. <?page no="177"?> 177 Auffassung der Natur fällt nach Miłosz, der hier Blake folgt, der Mensch und damit zugleich die Welt selbst vom Sinn ab. Doch auch in der gefallenen Welt vermittelt das menschliche Bewusstsein einen Bezug auf den ihm nunmehr transzendenten absoluten Sinn. Dieser Rahmen des gesamten Poems ergibt sich aus dem Wortlaut der Überschrift, aus ihren intertextuellen Implikationen und ihrer Wechselwirkung mit dem Text des Poems selbst, vor allem den Psalmen-Zitaten und den Blake-Zitaten am Ende des letzten Abschnitts. Der durch die Überschrift gesetzte Rahmen markiert das Geschehen als einen zu durchschreitenden Weg durch den absoluten Raum und die absolute Zeit des Sinnes. Damit ist dieses Geschehen wesentlich zyklisch, und die dadurch konstituierte Architektonik ist ein Zyklus der Sinngestalt oder inneren Form. Grundlage des Sinnbogens ist die Unterteilung des Poems bzw. die Abfolge innerhalb des Zyklus von sieben durchnummerierten Abschnitten oder Gedichten mit je eigenen Überschriften, in denen sich ihrerseits viele Sinnbezüge verknoten, aber das betrifft schon die Interna der einzelnen Abschnitte, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Oben war bereits die Rede davon, dass der Bogen des Sinns in Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada mehrfach überdeterminiert ist, also mehrere Bedeutungen zugleich hat. Ich möchte nun die verschiedenen Wege, die der Sinn hier simultan geht, vorstellen. Angesichts des Parallelismus zwischen kosmischem und seelischem Geschehen muss jeder dieser Wege sich auf beide Ebenen zugleich beziehen, kann nicht bloß ‚objektives‘ kosmisches Geschehen und auch nicht nur ‚subjektives‘ Sinnerlebnis sein. Darum scheiden rein „objektive“ kosmologische Wege wie die „Sieben Orcs der kosmischen Geschichte“ von Blake ebenso aus wie psychoanalytische oder andere nur Ich-zentrierte Erkenntniswege. Neben diesem kosmisch-seelischen Parallelismus liegt die wichtigste Gemeinsamkeit innerhalb des Zyklus Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada darin, dass die verschiedenen, simultan nebebeinanderliegenden Wege, die von dem Sinn-Bogen erfasst werden, letztlich alle auf dasselbe Ziel hinführen. Ein Leitfaden zur Bestimmung dieses gemeinsamen Zieles ist erneut die Überschrift. Nach ihr ist das Ziel des Weges der Sonnenuntergang. In der absoluten Zeit des Sinns bewegt sich die untergehende Sonne auf einen Tiefpunkt, auf den Nadir des Sinns, auf den Tod zu. Der Nadir des Jahreskreises, der Winter, bestimmt denn auch Überschrift und Setting des letzten Abschnitts: Dzwony w zimie (Glocken im Winter). Dieser tiefste Punkt des Verlöschens von Sinn ist im liturgischen Jahr der Vorabend von Ostern, und das Glockenläuten „von allen Kirchtürmen“ in Abschnitt sieben setzt genau an diesem tiefsten Punkt die Heilsgewissheit, die Auferstehung, an. Die Auferstehung erfolgt nicht nach dem Nadir, sondern im Nadir: in der Mitte der Nacht. Auf der kosmologischen Ebene ist der Tod das Jüngste Gericht, das Miłosz ausdrücklich nicht als Vernichtungsorgie mit anschließendem har- <?page no="178"?> 178 ten, aber gerechten Urteilsspruch modelliert, sondern in der Tradition der griechischen Kirchenväter (Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor) als universale Wiedereinsetzung des Sinns (Apokatastasis). Ist das Ziel auf der kosmologischen Ebene die Apokatastasis, so ist es entsprechend auf der Ebene des Bewusstseins die Apokalypsis, d.h. die Ent-Hüllung des Sinns. Dem Abend, genauer gesagt dem Vorabend jenes Tief- und Wendepunktes, entspricht ein anderer sinnzentrierter Zyklus: die Vesper, eine Gebetfolge, die am Vorabend hoher Feiertage zu beten ist. Vor allem zur Eröffnung und zum Schluss sind die Parallelen zu Miłosz markant. Die Vesper beginnt mit „Herr, öffne mir meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkünde“. Dem entspricht das Hauptthema des ersten Abschnitts von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada - Posłuchanie (Anhörung) - die Berufung des lyrischen Ich zum dichterischen Sprechen. Den Abschluss der Vesper bildet das „Magnificat“, in dem es unter anderem heißt: „Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter" und „er erbarmt sich über alle“. Die Heilsgewissheit und der Jubel über die Erlösung prägen den Sinn von Dzwony w zimie. Offensichtlich wird die Parallele in der Zeile „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“. Ihr entspricht in Dzwony w zimie der Kirchgang der Magd Alżbieta 7 und ihre Mithilfe bei der Läuterung des lyrischen Ichs. Alżbieta hat als Fürsprecherin des lyrischen Ich die Funktion Mariens, der Sprecherin des „Magnificat“ (nach Lukas 1, 46-55). Ein noch radikalerer Sinn-Weg, auf den Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada gleichfalls bezogen ist, ist der ‚Weg nach innen‘ der Mystikerin und Kirchenlehrerin Theresa von Avila. Theresas meditativer Weg durch die ‚sieben Kammern‘ führt nach innen, aber nicht zu einem Ich-Kern oder einer Ich-Substanz. Nach Theresa begegnet uns in unserem Inneren vielmehr etwas, das nicht aus uns selbst stammen kann. Auch dieser Weg in die Festung des Ich entpuppt sich als Weg der Öffnung in Bezug auf den Sinn, als Weg zur unmittelbaren Gottes-Schau, d.h. zur Anschauung des Sinns. Ist der Weg in Miłoszs Poem diesem Weg eher allgemein durch seine Komposition äquivalent (Siebenzahl, Durchlaufen von Stadien, Ziel des Weges), so ist ein anderer Sinn-Weg sehr deutlich und in vielen Einzelheiten präsent: der existenzielle Weg von der Kindheit zum Alter, jedoch nicht biologisch oder biographisch, sondern dem Sinn nach verstanden. So ist Kindheit: in eine Welt hineingeboren werden und in ihr aufgehoben sein, dort sein, wo der Sinnursprung ist und darum in seinem eigenen Sinn ruhen. Kosmologisches Äquivalent dazu ist das Himmlische Jerusalem, dem in Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada Wilna, das „Jerusalem des Nordens“, entspricht. Alter ist demgegenüber: 7 „Alżbieta" ist weißrussisch statt poln. „Elżbieta" - die weißrussischen Dienstmädchen waren die niedrigste „Kaste“ im alten Wilna. <?page no="179"?> 179 Grenzen überschritten haben, vom Ort des Sinns vertrieben sein und auf ihn sehnsuchtsvoll zurückblicken, Schuld auf sich geladen haben und sich dem Nichts des Sinns, dem Tod, gegenübersehen. Kosmologisches Äquivalent dieses Seelenzustandes ist Babylon, und dem entspricht bei Miłosz San Francisco, die sündhafte Stadt, die Stadt des (babylonischen) Völker- und Kulturgemischs, die Stadt des Exils, der Naturkatastrophen (Erdbeben, vgl. den Fall Babylons in der Offenbarung Johannis) und des babylonischen Turmes (in Abschnitt sieben: Wieża San Francisco, d.h. „The Pyramid“). Auch der Weg von Jerusalem nach Babylon (und in der Imagination wieder zurück) ist ein seelischer und kosmischer Weg zugleich. Ein weiterer Sinn-Weg durch die absolute Zeit, der sich gerade aufgrund seiner Siebenzahl und offensichtlichen Zyklizität als Komponente der Sinn- Zyklizität von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada anbietet, ist der Mythos von den sieben Tagen der Schöpfung. Dieser Weg der Schöpfung reguliert zwar in gewisser Weise den spirituellen (Sabbat) und lebensweltlichen Rhythmus der Menschen, doch ein Weg auf der Ebene des Bewusstseins ist der liturgische Wochenzyklus zunächst nicht. Hier greift Miłosz auf Augustinus zurück. Augustinus zieht erstens in Civitas dei eine Parallele zwischen dem Schöpfungszyklus und der irdischen Pilgerschaft des Menschen - eine naheliegende Parallele vor dem Hintergrund der Begrenztheit von allem Irdischen, von allem Geschaffenen. Sie impliziert, dass die Schöpfung aus der absoluten Zeit heraus fortwährend die irdische Welt und ihre Zeitlichkeit erschafft. Zweitens zieht Augustinus in De doctrina christiana eine Parallele zwischen den sieben Tagen der Schöpfung und dem geistigen Weg des Menschen zu Gott. Dabei zeigt der Tag der Ruhe das spirituelle Einswerden mit Gott an. Ganz konkret als Weg zu Gott und Weg der Umkehr profiliert sich Miłoszs Poem zu Beginn des siebten Teils (Dzwony w zimie). Durch zahlreiche Anspielungen auf Paulus, durch Verweise vor allem auf den Ersten Korintherbrief, wird der Weg nach Siebenbürgen (Siedmiogród, erneut die Siebenzahl) für das lyrische Ich bzw. den lyrischen Helden zum Weg nach Damaskus. Zentrale Bedeutung kommt hier den häretischen manichäischsozianischen Vorstellungen Miłoszs zu, die unter anderem in Dolina Issy mit Siebenbürgen verknüpft sind. Der Entschluss, umzukehren und nicht nach Siebenbürgen zu reisen, kommt einer Abkehr, einer Wandlung vom Kritiker zum Prediger der kirchlichen Lehre gleich, enthält aber zugleich eine Kritik an Paulus vom Standpunkt der Apokatastasis aus. Im Unterschied zu Paulus’ Auffassung im Ersten Korintherbrief halten die griechischen Kirchenväter in ihrer Lehre von der Apokatastasis die Vergebung aller Sünden am Jüngsten Tage für eine immanente Notwendigkeit der Heilslehre. Diesen Aspekt der Apokatastasis profiliert Miłosz in seinen Paulus-Allusionen in Dzwony w zimie. <?page no="180"?> 180 Schließlich weisen Miłoszs Monographen und Übersetzer Nathan und Quinn in ihrer mit Hilfe des Dichters entstandenen Deutung von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada auf einen weiteren, sehr persönlichen Sinn- Weg hin. Es ist ein Weg der Sinn-Suche, wobei nacheinander verschiedene Seinsbereiche auf ihre Sinn-Fähigkeit hin befragt werden. Da sich ein Bereich nach dem anderen als nicht tragfähig für den Sinn erweist, bezeichnen Nathan und Quinn diesen Weg als ‚via negationis‘. Es wird demonstriert, dass alle Unterschiebungen für Sinn illusorisch sind. Damit ist die via negationis zunächst durchaus, da muss Nathan und Quinn widersprochen werden, skeptizistisch. So wird in Pamiętnik naturalisty die Inhärenz des Sinns in der Natur und in Bildern der Natur, wird die pantheistische Naturwie die in ihrem Kern paganistische Heiligenverehrung abgewiesen. In Lauda schlägt der Versuch fehl, den Sinn im Material der Sprache zu finden oder aufzuheben. Nad miastami bringt die Destruktion der Sinn-Welt der Ideen, der Universalien, und in Mała pauza scheitert die Absolut-Setzung der Heimat als Ort des Sinns. In Oskarzyciel schließlich wird das Ich als Hort des Sinns destruiert. Damit ist der letzte, der cartesianische Hort für Sinngewissheit gefallen. Die via negationis ist der Sinn-Weg der Philosophie, und zwar gleich in mehrerer Hinsicht. Ganz offensichtlich klingen in ihr Grundmotive der europäischen Philosophie an: die griechischen Naturphilosophen, Platos Ideenlehre, der Universalienstreit, Herders Sprachphilosophie. Strukturbildend sind für sie jedoch gerade die zwei philosophischen Konzeptionen, die sich selbst als Weg zum Sinn verstanden: Hegels Dialektik sowie der Weg des methodischen Zweifels von Descartes. Dialektisch ist die via negationis insofern, als in jedem Abschnitt eine Möglichkeit von Sinn angeboten wird, die bei konsequentem Verfolgen des Sinn-Ziels zusammenbricht, worauf dann aus der Negation des vorigen ein neuer, vermeintlich tragfähigerer Sinn ersteht, an dem sich das ganze Verfahren wiederholt. Miłoszs via negationis lehnt sich damit an die Argumentationskette der Phänomenologie des Geistes an, und das nicht nur formal, sondern stellenweise auch inhaltlich. Cartesianisch ist sie aber insofern, als auf der Suche nach einem wirklich tragfähigen Sinn-Grund alle nur vermeintlichen Substanzen, in phänomenologischer Radikalisierung des Cartesianismus auch die res cogitans, das Ich, beiseite geräumt werden. Doch was ist das Ziel der via negationis, sei sie nun dialektisch oder cartesianisch verstanden? Wir kennen es schon, es ist der Nullpunkt des Sinns, den wir durchschreiten müssen. Die Affirmation der Apokalypse, von der im siebten und letzten Abschnitt des Poems die Rede ist, meint genau dies. Der lyrische Held muss am Sinn verzweifeln und wird doch erlöst, indem der Sinn ihm nunmehr geschenkt wird. Wie Descartes in der Dritten Meditation, wie Theresa von Avila sieht er sich im Kern seines Ich als nicht sinnmächtig, wie jenen begegnet ihm dort etwas, das nicht aus ihm selbst stammen kann. Die einzig angemessene Haltung <?page no="181"?> 181 diesem geschenkten Sinn gegenüber ist das Staunen, von dem es am Schluss von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada heißt, es allein könne das Lyrische Ich vielleicht retten. Soweit die verschiedenen Aspekte der inneren, der architektonischen Zyklizität von Gdzie wschodzi słońce i kędy zapada. Ich zähle die verschiedenen Sinn-Wege noch einmal auf: Tages-, Wochen- und Jahreskreis als Sinn- Zyklen, der existenzielle, der liturgische, der meditative und der intellektuelle Weg sowie im Bild des Paulus der moralische Weg: die Kehre. Ich glaube, damit haben wir einen ziemlich vollständigen Katalog möglicher Zyklizität des Sinns, einen Katalog, an dem sich jede kompositionelle Zyklizität, sei es des inneren Zusammenhangs oder der äußeren Verbindung, messen lassen muss. <?page no="183"?> 183 Ein Epitaph auf Rom Das Gedicht Epitafium Rzymowi [Epitaph auf Rom] von Mikołaj Sęp- Szarzyński erschien gedruckt erst nach seinem Tod, 1601. 1 Entstanden ist es zwischen 1569 und 1580, genauer ist es nicht datierbar. Es handelt sich um die Nachdichtung einer unter dem Titel De Roma bekannten lateinischen Vorlage des italienischen Humanisten Janus Vitalis, die in zwei leicht voneinander abweichenden Versionen 1553 und 1554 erschienen war. 2 Die Vorlage ist früh auch von anderen Dichtern in ihrer jeweiligen Volkssprache nachgedichtet worden, so von Joachim Du Bellay (1558) in französischer, 3 von Edmund Spenser auf Englisch (vermittelt über Du Bellay, in den 1570er Jahren verfaßt), 4 von Francisco Quevedo in spanischer Sprache (vor 1614), 5 sowie von Martin Opitz (1634) auf deutsch. 6 Czesław Miłosz hat sich in mehreren Gedichten der achtziger Jahre sowie in seinen Harvard-Vorträgen, die 1983 unter dem Titel Świadectwo poezji (Das Zeugnis der Dichtung) publiziert worden sind, mit Sęps Gedicht, seiner Vorlage und seinem europäischen Umfeld wie auch allgemein mit dem Topos vom Tod und Fortleben Roms beschäftigt. Im Weiteren sollen zum einen die Renaissance- und Barockversionen des Gedichts einer komparatistischen Betrachtung unterzogen werden. Dann werden Czesław Miłoszs kulturgeschichtliche Bewertung dieser Versionen, seine lyrische Replik darauf sowie seine Auseinandersetzung mit dem Rom-Topos vor dem Hintergrund der Frage nach der kulturellen Identität Europas diskutiert. Der Topos der Reflexion über die Vergänglichkeit von Macht und Größe angesichts einer einst mächtigen, nunmehr zerstörten Stadt hatte im 16. Jahrhundert eine besondere Aktualität gewonnen. Der Humanismus identifizierte sich mit einem antiken Erbe, dessen reale Überreste in ihrer Dürftigkeit aber gerade das zu widerlegen schienen, was die Identifikation motivierte: die Überlegenheit der antiken Kultur. Vom Ruf dieser Überlegenheit angezogen, kommt der Humanist nach Rom und muss feststellen, dass das 1 Der Text wird zitiert nach: Rytmy albo wiersze polskie oraz cykl erotyków, Wrocław u.a. 1973 (Biblioteka Narodowa 36), S. 52. 2 Vitalis, Janus: Panormitani sacrosanctae Romanae ecclesiae elogia. Roma 1553. 3 Du Bellay, Joachim: Les Antiquitez de Rome. In ders.: Oeuvres poétiques, publ. par Henri Chamard. - Éd.critique. Paris 1970, S. 5f. 4 Spenser, Edmund: Ruines of Rome: by Bellay. In: The poetical Works of Edmund Spenser, hg. J.C. Smith und E. de Selincourt, London/ New York/ Toronto 1965, S. 509. 5 Quevedo, Francisco de: Obras compledas, Bd. 2: obras en verso. Madrid²1978 ( 1 1967), S. 515. 6 Opitz, Martin: Florilegium variorum epigrammatum. In: Weltliche Poemata 1644 Zweiter Teil, Mit einem Anhang: Florilegium variorum epigrammatum. Nachdruck Tübingen 1975, S. 34-35. <?page no="184"?> 184 Rom, nach dem er sucht, keine Realität hat. Rom in Rom nicht zu finden ist ein Paradox, das der Humanismus- und Renaissance-Kultur gleichsam als Geburtsfehler anhaftet. Diese Kultur musste bei aller Selbstvergewisserung ihr Selbst außer sich suchen, doch ihrem Identitätsgeber mangelte es an Wirklichkeit. Für die Barock-Kultur war der Topos nicht minder attraktiv. 7 Sie machte in ihm die Entfremdung, die der neuzeitlichen Kultur eigen war, zum Gegenstand. Verantwortlich war für diese Entfremdung, der wiedererwachten religiösen Gestimmtheit gemäß, die Hybris, in der der neuzeitliche Mensch dem antiken Menschen gleicht. Sęp-Szarzyński und seine zeitgenössischen Dichterkollegen Sęp-Szarzyńskis Version des Grabgedichtes auf Rom wird in der polonistischen Forschung als ein schwächeres Gedicht des Autors eingestuft. 8 Verglichen mit den aufwühlenden Konflikten, die Sęp-Szarzynskis Gedichte mit religiöser Thematik offenbaren, wirkt es thematisch eher leicht, und im Vergleich mit der sonst bewusst rauen Sprache und rohen Komposition wirkt es allzu glatt und gefällig. Es wird gleichwohl immer wieder gern in Ausschnitten zitiert, denn zum einen treten die literarischen Verfahren, derer sich Sęp-Szarzynski bedient, in diesem Gedicht besonders klar zutage, 9 und zum anderen scheint der anscheinend bis zum äußersten getriebene Concettismus von Epitafium Rzymowi ein Beleg für die Zuordnung des Dichters zum Barock zu sein - eine Zuordnung, die die Forschung gegen manche Vorbehalte erst durchsetzen musste. 10 Einer Analyse und Deutung als ganzes schien das Gedicht gleichwohl nicht wert zu sein, sei es wegen seiner scheinbaren poetischen Insignifikanz, sei es, weil es sich bloß um eine Nachdichtung handelt. Die Vitalis-Nachdichtungen Du Bellays und Quevedos werden jedoch in der Romanistik, wie die Spensers in der Anglistik, durchaus als Meisterwerke angesehen, und daraus ergeben sich für die polnische Version drei Möglichkeiten: entweder Sęp reicht an die anderen Nachdichtungen nicht heran, oder sein übriges dichterisches Werk steht über Epitafium Rzymowi 7 Ich betone hier und im Weiteren die Kontinuität zwischen Renaissance und Barock, die nicht im Formalen, sondern im Thematischen zu suchen ist. Thematisch war das Barock keine Rückkehr ins Mittelalter und auch keine Abkehr von der Antike. 8 Weintraub, Wiktor: The Style of M. Sęp-Szarzyński. In: Festschrift für Hans Vasmer. Cambridge (Mass.) 1956, S. 560-569, hier S. 563. 9 Vgl. Weintraub, a.a.o. S. 563: […] a short poem called Epitafium Rzymowi. The poem is not among Szarzyński’s best. But, for our purposes, it has the advantage of displaying the poet’s method of work especially clearly. 10 Vgl. Backvis, Claude: Some Characteristics of Polish Baroque Poetry. In: Oxford Slavonic Papers 6, 1955, S. 56-71; Pelc, Janusz: Tradycje literackie twórczości Sępa-Szarzyńskiego. In: Pamiętnik Literacki 1959, S. 719-722. <?page no="185"?> 185 und damit über dem Werk Quevedos, Du Bellays und Spensers, oder aber das Gedicht wird unterschätzt. Die erste Möglichkeit wäre zu prüfen, die zweite wird kaum jemand ernsthaft erwägen, und die dritte wäre eine der Thesen, die ich hier begründen möchte. Die Vitalis-Nachdichtungen haben immer wieder zu komparatistischen Studien angeregt. Verglichen werden v.a. Du Bellay mit Vitalis, 11 Quevedo mit Du Bellay, 12 Spenser mit Du Bellay. 13 Eine allerdings nur oberflächliche komparatistische Studie zu Sęp-Szarzyński und Vitalis gibt es von Graciotti. 14 Als gemeinsamer Zug der Vergleiche fällt die Apologie jeweils einer Version des Gedichts, meist der eigentlich fokussierten späteren, oder der aus der jeweils eigenen Kultur stammenden, auf. 15 Wie um dem Verdacht des Epigonentums zu begegnen, wird Du Bellay auf Kosten von Vitalis, Quevedo auf Kosten von Du Bellay und sogar Sęp-Szarzyński auf Kosten von Du Bellay gelobt. 16 Poetische Verfahren und kompositorische Besonderheiten werden namhaft gemacht, die die Vorlage „nicht hat“. Darum sei die Nachdichtung „gelungener“, „raffinierter“ usw. Heruntergespielt wird dagegen in der Regel, welches Potential der Vorlage die Nachdichtung nicht realisieren konnte. Die Komparatistik vergisst, wo sie apologetisch ist, was ihre Stärke sein könnte: Unterschiede nicht zu bewerten, sondern auszuwerten - zum einen, um die Sinnintention des jeweiligen Autors kontrastiv zu fixieren, zum an- 11 Quainton, Malcom: Du Bellay and Janus Vitalis. In: French Studies Bulletin Nr. 38 (1991), S. 12-15 ; Six, Andre: Explication francaise: Du Bellay, Antiquites de Rome. In: Romance Notes Bd 8 (1967), S. 281-284; Smith, Malcom: Looking for Rome in Rome: Janus Vitalis and his disciples. In: Revue de Littérature Comparée 51 (1977) S. 510- 527; Tucker, George H.: The poet's odyssey. Joachim DuBellay and the Antiquitez de Rome. Oxford 1990. 12 Gai, Mijal: El arte de imitar con ingenio. Análisis comparativo de un soneto de Quevedo. In: Revue Romane 21 Nr.2, 1986, S. 208-228; Sobejano, Gonzalo: El soneto de Quevedo „A Roma sepultada en sus ruinas“ (esencia y ascendencia). In: Filología (Buenos Aires) 22 Nr.1 (1987) S. 105-118. 13 Ferguson, Margaret: „The Afflatus of Ruin“: Meditations on Rome by Du Bellay, Spenser and Stevens. In: Roman Images. Hg.: Annabel Patterson. Baltimore 1984. S. 23-50. 14 Graciotti, Sante: La fortuna di una elegia di Giano Vitale, o le rovine di Roma nella poesia polacca. In: Aevum Bd. 34, 1960, S. 122-136. 15 Graciotti lobt die aus Italien stammende Vorlage auf Kosten der polnischen Nachdichtung. 16 Giovanni Maver betont Sęps „sehr geschickte Übersetzung von De Roma des Janus Vitalis“, verglichen mit der die Übersetzung von Du Bellay „nicht im mindesten besser ist“. Maver, Giovanni: Rozważania nad poezją Mikołaja Sępa-Szarzyńskiego. In: Pamiętnik Literacki 1957/ 2, S. 308-333, hier: S. 323 (Fn.). Malcom Smith (a.a.o. S.516) stellt fest, Du Bellay habe einiges von der Substanz der lateinischen Vorlage opfern müssen, da das Französische weniger ökonomisch sei als Latein. Auch Mijal Gai (a.a.o.) betont, in 14 Zeilen auf Französisch dasselbe zu sagen wie auf Latein, sei unmöglich. <?page no="186"?> 186 deren, um mögliche kulturelle, aber auch literatursprachliche Spezifika des jeweiligen Umfeldes der Versionen zu bestimmen. Der Vergleich, den ich hier anstellen möchte, dient darum nicht der Feststellung einer Abhängigkeit oder der Bestimmung, in welchem Umfang kulturelle Topoi und literarische Kunstgriffe aus einer „Vorbildkultur“ übernommen wurden. Vorbildkultur für alle genannten Versionen, auch und gerade für die neulateinische, ist ja die römische Antike. Alle Fassungen, auch die des Janus Vitalis, sind bewusstes Nachschaffen. Sie sind allesamt auch metapoetisch aufzufassen, weil die imitatio hier ihre Grundlage, den Mythos Rom, reproduziert und zugleich in Frage stellt. Das Paradox, Rom in Rom nicht zu finden, von dem das Gedicht in allen seinen Versionen seinen Ausgang nimmt, hat nun aber einen weiten Interpretationsspielraum. Der antike Mythos von der Größe Roms steht gegen die antike Realität des Bürgerkrieges und der degenerierten Kaiserzeit. Der antike Mythos steht zugleich gegen die neuzeitliche Realität des Verfalls, er steht weiterhin gegen den neuzeitlichen Mythos vom Rom der Christenheit. Dieser neuzeitliche Mythos steht wiederum gegen die neuzeitliche Realität der Glaubenskriege nach der Reformation und der damals moralisch degenerierten Katholischen Kirche. Dieser Spielraum wird von den Autoren je nach ihrer Sinnintention unterschiedlich und unterschiedlich weit genutzt. Das ändert aber nichts an der fundamentalen Gemeinsamkeit des kulturellen Europas, die uns von Spanien bis Polen, von England bis Sizilien (der Heimat des Vitalis) als Erben Roms ausweist. Dabei ist weniger wichtig, wer was von wem übernommen hat, wie z.B. Ramalho 17 und Malcom Smith (a.a.o.) akribisch verfolgen, sondern was jeder der Dichter an dem gemeinsamen Erbe profiliert, das ikonisch und synekdochisch in dem Gedicht selbst enthalten ist. Warum war die lateinische Vorlage des nicht übermäßig bekannten Vitalis bei erstrangigen europäischen Dichtern des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts so beliebt? Ramalho, der die lateinische Version als poetisch schwach einstuft, 18 um dann „leveza“ und „vigor“ der Quevedo-Bearbeitung zu loben, fragt sich, wie denn ein solches Gedicht so viele prominente Nachdichter finden konnte. Seine Antwort: […] „numa época em que a Europa tinha os olhos postos em Roma, para atacá-la ou defendê-la“ (S. 313). Er macht also den Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation für die Aktualität des Rom-Topos verantwortlich. Vitalis habe dieses Topos mehr zufällig als erster aufgegriffen. Der paradoxalen Formulierung, die Vitalis dem Topos gegeben hat, erkennt er keinen Vorbildcharakter zu. 19 17 Da Costa Ramalho, Américo: Poetas Humanistas. In: Ramalho, A.D.C.: Estudos sobre a época do renascimento. Coimbra 1969, S. 297-355. 18 Ramalho a.a.O. S. 313: „um epigrama cujo latim n-o é modelar“. 19 „Dois ou três conceitos felizes“, ebd. <?page no="187"?> 187 Janus Vitalis verwendet ein Topos, das sich bis in das augusteische Rom zurückverfolgen läßt. Wir kennen Vergils Apostrophe auf das zerstörte Troja, von dem nur noch der Fluß kündet, 20 wir kennen die Diskrepanz zwischen Roms Namen und seinem sittlichen Verfall bei Lukan und Properz 21 und Hildebert de Lavardins Rom-Elegien nach der Zerstörung der Stadt durch die Normannen 1084. 22 Vitalis fasst diese ganze Tradition in sein paradoxales Epigramm. Ist er damit ein Epigone? Nur insoweit die Renaissancekultur insgesamt epigonal genannt zu werden verdient. Ein originärer Beitrag zu dieser Kultur aber ist das Epigramm allein schon dadurch, dass Vitalis in ihm eine konkrete Position zur Religionskrise des 16. Jahrhunderts bezieht. Er spielt die spirituelle Identität Roms gegen die politische aus, die sich im architektonischen Prunk des Renaissance-Roms niederschlägt. Das Rom der päpstlichen Macht ist, so lehrt das Paradoxon, weniger spirituelles Zentrum der Christenheit als vielmehr doch Erbe des Imperiums. Des Weiteren zeigt das Epigramm, dass sich die Kirche in einer Identitätskrise befindet. Die prächtigen Gebäude, von denen der Pilger in Rom nur noch Ruinen vorfindet, sind als Allegorie der zerfallenden Glaubensgemeinschaft zu lesen, und die Bezeichnung der Kirche als „allgemein” (katholikós) ist nach der Reformation paradoxerweise zum Namen einer gerade nicht mehr allgemeinen Konfession geworden. Aber auch der Versbau des lateinischen Gedichts in elegischen Distichien kann durchaus als kunstvoll gelten. 23 Das Gedicht steht, obschon in der lateinischen Originalversion noch nicht wie später bei Sęp mit "Epitaphium" betitelt, durch die Getragenheit der ganz überwiegend aus Spondäen bestehenden Verse in der Tradition der lateinischen Grabrede z.B. bei Catull. Die Spannung zwischen dem getragenem Hexameter und dem schnelleren, spondäenärmeren Pentameter wird semantisch ausgenutzt: in Vers 11 bis 13 ist das Unwandelbare (11: restat [...] nominis index; 13: immota) jeweils im Hexameter, das sich schnell Wandelnde (rapidis fertur in aequor aquis) dazwischen im einzigen Pentameter ganz ohne Spondäen. Eine weitere Besonderheit der lateinischen Version ist das Ausnutzen jeweils sowohl der abstrakten, begrifflichen, als auch der konkret-sinnlichen 20 Dazu George Tucker, a.a.O. S.61. 21 Tucker, a.a.O. S.81. 22 Tucker, a.a.O. S.55-57. 23 L.G. Kelly: Room to move. Latin Elegiacs to Sonnet. In: Roman Languages Annual 6, 1994, S. 110-115, kritisiert massiv die Vitalis-Version: „Extensive and showy use of polyptoton“ (S.110); „horrenti adds little to situ“ (S.111), „In media Roma in the first two lines is there only for the meter“ (S.111). Zur Sinnfunktion des Polyptotons s.u. S. 198, zu horrenti S. 196, und zu media sei hier schon gesagt, dass Rom als Mitte der Welt, als imperiales und kulturelles Zentrum thematisiert ist, was die Emphase auf media rechtfertigt. Interessant sind Kellys Bemerkungen zur Transformation elegischer Distichien in die Sonettform. <?page no="188"?> 188 Bedeutung der Wörter. Diese Doppelbedeutungen, deren kulturgeschichtliches Werden Bruno Snell am Beispiel der frühen griechischen Literatur so überzeugend dargelegt hat, 24 illustrieren gleichsam den Weg vom konkreten Ort zum literarischen Topos, von der sinnlich erfahrbaren Größe Roms bis zur Größe Roms in den Köpfen seiner kulturellen Erben. So bezeichnet saxum seit Horaz metonymisch auch ein steinernes Gebäude, ursprünglich aber einen Fels, insbesondere den heiligen Fels des Aventin und damit das spirituelle Zentrum des alten Rom. 25 Praeruptum kann sich auf beides beziehen: im Sinne von „steil“ auf den Fels in seiner Erhabenheit, im Sinne von „abgebrochen“ auf die Ruinen in ihrer Dürftigkeit. Auf ähnliche Weise kann man obrutum sowohl sinnlich konkret auf die zerschmetterten und teilweise vergrabenen materiellen Überreste als auch abstrakt auf die vergessen gemachte Roma victrix beziehen, 26 ebenso horrentus auf die emporstarrenden Trümmer und zugleich auf die Schrecken verbreitende Weltmacht, und minae auf die emporragenden Mauerzinnen und zugleich auf die Drohungen, die diese Stadt selbst noch als Leiche auszustoßen scheint. Die meisten übrigen Merkmale des lateinischen Gedichts, insbesondere seine Paradoxien, wurden von Sęp-Szarzyński übernommen und können darum im Zusammenhang mit seiner Version erörtert werden. Darum wird Epitafium rzymowi in zwei Schritten untersucht - zunächst finden die Verfahren Berücksichtigung, die schon Vitalis anwendet, dann die, die bei Sęp- Szarzyński neu dazukommen. Grundsätzlich ist zur Funktion der rhetorischen Verfahren in Epitafium rzymowi folgendes zu sagen. Sei es durch Inversionen, durch Enjambements oder durch Alliterationen: der Effekt, den Sęp-Szarzynski immer wieder anstrebt, ist das Paradoxon. Nun könnte man die barocke Lust am paradoxen Formulieren rein rhetorisch - im engeren Sinne der Überredungskunst - auffassen als Herstellung eines scheinbaren Widerspruchs, der durch das Aufdecken der Wahrheit, d.h. durch die Widerlegung der Doxa, verschwindet. 27 In bezug auf die religiöse Dichtung Sęp-Szarzynskis wäre dieses Modell insofern inadäquat, als der Erkenntnisgewinn, der an den religiösen Grundparadoxien wie z.B. dem menschgewordenen Gott vollzogen werden kann, den Widerspruch nicht beseitigt. Nun ist Epitafium rzymowi zwar 24 Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946. 25 U.a. als Ort des Dianatempels. Vgl. Georges ausführliches Handwörterbuch Lateinisch- Deutsch, Hannover 8 1913 zu „saxum“ sowie den Kleinen Pauly zu „Aventinus mons“. 26 Darin liegt zugleich eine Reminiszenz an den Hector-Traum in der Aenaeis (Vergil, Aenaeis II, 290): „ruit alto a culmine Troia“. Vgl. zur Allgegenwärtigkeit der Aenaeis- Allusionen in Du Bellay’s Antiquitez Dorothy Gabe Coleman: Allusiveness in the Antiquitez de Rome. In: L’Esprit Createur vol. 19 Heft 3 (1979), S. 3-11, hier S. 8f. 27 Vgl. zu den verschiedenen Auffassungen des Paradoxons insgesamt Paul Geyer/ Roland Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox: Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen 1992. <?page no="189"?> 189 kein religiöses Gedicht, aber auch hier gilt, dass die logischen Inkonsistenzen letztlich auf eine unaufhebbare Inkongruenz von Logik und Wahrheit verweisen. Logik kennt weder die Zeit, noch kennt sie den Unterschied zwischen Vorgestelltem und Realem. Diese beiden Parameter werden in Epitafium rzymowi zur Erzeugung der Paradoxien ausgenutzt. Sie sind zugleich konstitutiv für den Sinn des Gedichts. So entstehen hier Paradoxien zum einen durch den Widerspruch zwischen der durchgängigen logischen Identität des durch den Namen eindeutig Bezeichneten und der realen Veränderung in historischen und natürlichen Prozessen und zum anderen durch Äquivokationen zwischen abstraktem und konkretem Wortsinn, zwischen epitheton ornans und faktischer Eigenschaft, zwischen der Idee und ihrer Verkörperung, zwischen Vorstellung und Realie. Wir werten nunmehr die Verfahren der literarischen Rhetorik aus, um sie für eine Deutung fruchtbar zu machen. Wie schon Vitalis, so verwendet auch Sęp-Szarzynski die doppelte Negation, d.h. die Litotes - nicht aus Understatement wie etwa moderne Rhetoriker, sondern weil der Verneinung in dem Gedicht insgesamt eine Schlüsselrolle zukommt. Rom ist darin der Topos der Negation, die ganze Kraft, die ganze Macht des antiken Rom wurde nur zur Verneinung aufgebracht, das imperialistische Rom verneinte im Namen der Macht den Raum, die Zeit und jede Identität außer seiner eigenen. Dieses Verfahren wird ja im Gedicht durch die Hyperbel der Autonegation und Selbstzerstörung Roms auf die Spitze getrieben und damit ad absurdum geführt. Vorgeführt aber wird es durch die im Gedicht ubiquitäre Negation, mit der Litotes als ihrem Gipfel. Die narzisstische Selbstbejahung und Fremdverneinung des Imperialismus vernichtet mit dem Anderen schließlich auch sich selbst. Sie ist an sich selbst verneinend. Du Bellay, Quevedo und Spenser verzichten auf die Litotes, aber nur Du Bellay schafft ihrer Sinnfunktion einen Ersatz: Die dreifache Wiederholung des seul („le seul monument“, „seulement“, „Le tybre seul“) in der ersten Terzine akzentuiert die Einsamkeit dessen, der alles verneint. Auch das Polyptoton übernimmt Sęp-Szarzynski von Vitalis. Roma, romae, romam, roma, romani bei Vitalis; rzym [nom.], rzyma, rzymowi, rzym [akk.], w rzymie bei Sęp. Die anderen Autoren haben schon mangels Flexionsendungen nichts Vergleichbares: Du Bellay und Spenser wiederholen ostentativ Rome (zehn bzw. neunmal). 28 Während aber bei Du Bellay das 28 Man kann darüber streiten, ob ein Polyptoton nur durch Flexionsendungen oder auch durch analytische Kasus konstituiert sein kann. Dass ein analytisches „Polyptoton“ aber eher Wiederholung und Identität suggeriert, zeigt sich bei Richard A Katz: The Collapse of the City: The „Vision“ of the Antiquités de Rome. In: L’Esprit Createur vol. 19 No3 (1979). Katz stellt (S. 12-20) zu Du Bellays Antiquitez 3 fest: „The word Rome is used ten times“ und dieses Stilmittel als Epizeuxis [nachdrückliche Wortwiederholung] identifiziert (a.a.O. S. 15). Auch Eric MacPhail: Echoes in Du Bellay’s Poetry. In: Neophilologus 79 (1995) S. 205-215, hier S. 210 identifiziert in der franzö- <?page no="190"?> 190 Wort Rome im Zentrum eines Geflechts von für den Sinn höchst wichtigen Assonanzen - nomme, comme, monde, mondaine, monument, consomme, donter, temps - steht, 29 bleibt Spenser nur die affirmative Wiederholung immer desselben Wortes. Quevedo reduziert diese Wiederholung auf fünfmal, so dass sie nicht zur Manier wird, und führt statt der übrigen Nennungen von Rom Synekdochen ein (Aventino, Palatino) - damit simuliert er gleichsam die Variationsbreite des Vitalis'schen Polyptotons, dessen Funktion es ist, den Topos zu variieren, ihn in unterschiedlichen Aspekten zu betrachten, ihn explizit als Subjekt, Objekt und Teil (gen. part.) vorzuführen. Vitalis' Polyptoton vicit, vincere, victum, victa, victrix kann Sęp- Szarzynski nur durch die lautliche Ähnlichkeit von zwalczyć [unterwerfen] (in drei Varianten) und zwyciężyć [siegen] (in zwei) imitieren, wobei aber die Funktion dieses Polyptotons erhalten bleibt -zwalczyć und zwyciężyć treten beide sowohl in aktivischer als auch in passivischer grammatischer Form auf, so dass das Verfahren bei Sęp-Szarzyński wie schon bei Vitalis das Paradox von gleichzeitigem Tun und Erleiden profiliert. Vitalis ist dieses paradoxale Polyptoton so wichtig, dass er, etwas unbeholfen mit atque einsetzend, in Vers 10 wiederholt, was schon in Vers 9 gesagt ist und zwar in einer chiastischen Konstruktion, die victrix und victa an der Zäsur einander gegenüberstellt. Darauf verzichtet Sęp-Szarzynski. Du Bellay und Spenser verzichten auf das Passivum und damit auch auf das paradoxale Polyptoton von vincere, Opitz reproduziert zwar mit „Siegerinn“ und „besiegte“ die Gegenüberstellung von victa und victrix, zuvor aber hatte er sich aus semantischen Gründen für eine Variation von „erlegen“ als Äquivalent für vincere entschieden. 30 Im engen Zusammenhang mit dem Polyptoton steht die Funktion des epitheton ornans Roma victrix bzw. Rzym niezwyciężony (unbesiegtes Rom). Es wird durch das Paradoxon ad absurdum geführt, denn es wird als bloßer Name, genauer, als leerer singulärer Term entlarvt. Nun ist der Verlust von Sachhaltigkeit bei epiteta ornantia ein bekanntes Phänomen und nur allzu leicht durch die „Realisierung“ ihrer Bildhaftigkeit bloßzustellen. Hier geschieht jedoch noch mehr. Die Invarianz des Namens suggeriert die Konstanz der Eigenschaft. Indem der Name die Eigenschaften in sich aufnimmt, werden accidentia scheinbar zu essentia. Die „Ewigkeit“ von Rom konnte aber in Wirklichkeit nie zur geistigen essentia werden; sie musste der Zeit abgekauft werden um den Preis der ständigen imperialistischen Expansion. Darum muss am Schluss Fortuna ins Spiel kommen: vom antiken Rom einst sischen Version nur Wiederholung: „The repetition of Rome hollows the name of ist significance“. 29 Dorothy Gabe Coleman: The Chaste Muse. Leiden 1980, S. 103 betont die Lauthäufung auf r-o-m bei Du Bellay: „this is emphasizing key words“. Dies sei für die Semantik des Französischen typisch. 30 Dazu s.u. S. 195. <?page no="191"?> 191 zur Schutzgöttin erhoben, wendet sich diese Herrin über die Zeit schließlich doch gegen ihr Lieblingskind und offenbart damit ihre wahre Natur. Sęp-Szarzyński steigert die Sinnfunktion des epitheton ornans, indem er es in eine negative sprachliche Form kleidet: aus Roma victrix (die Siegerin) wird Rzym niezwyciężony, das nicht besiegte Rom. Damit verschärft er das Paradoxon, indem er es auf den Syllogismus (non a = a) zurückführt: niezwyciężony = zwyciężony. Zugleich verlängert er die vielfache Negation der vorausgehenden Verszeile in das Epitheton hinein, so dass die Formel schließlich lautet: Prämisse: es sei nicht non a [ -(-a)] non a ist a; [(-a) = a] conclusio: es sei nicht a. [=>- (a)] Damit wird die Notwendigkeit des Nichtseins von Rom „erwiesen“. Vitalis’ Chiasmus aus Vers 10 (victrix/ victaque) ersetzt Sęp-Szarzyński durch den komplizierteren Chiasmus zwischen Vers 10 und 11: „w Rzymie...rzym.../ to jest ciało w swym cieniu leży pogrzebiony“ [Rom in Rom.../ d.h. der Körper in seinem Schatten liegt begraben]. Schon syntaktisch korrekt gelesen ist hier ein Paradoxon zu finden. Der Schatten hat das, was ihn wirft, unter sich begraben. Materielles - das, was Schatten wirft - und immaterielles - der Schatten selbst - haben die Plätze getauscht. Das läßt sich zunächst synekdochisch lesen als ein Verborgen-Sein, dabei aber doch Enthalten-Sein des konkreten Ganzen in seinem Überrest. Dann kann man es als Kommentar zum Mythos Rom lesen: Rom hat den Mythos seiner selbst geschaffen, der als sein Schatten allein noch existiert und in dem es „begraben liegt“. 31 Die chiastische Formulierung spielt nun zusätzlich die Verwirrung stiftende Ambivalenz aus, was nun an Rom der Körper und was der Schatten ist. Denn bei korrekter syntaktischer Zuordnung ist zwar das siegreiche (frühere) Rom der Körper, der im besiegten (jetzigen) Rom, dem Schatten früherer Zeit, begraben liegt, aber der Chiasmus suggeriert die Gültigkeit auch der umgekehrten Erklärung: ist nicht gerade das mit dem seiner Sachhaltigkeit verlustig gegangenen Epitheton bezeichnete Rom der Antike, die Roma victrix, und mit ihm das Epitheton selbst, ein Schatten, ein leeres Wort geworden? Und ist nicht das Trümmerfeld als das einzig noch materiell Vorfindliche Roms „Körper“, sein Leichnam, aus dem der Geist entwichen ist? Entspricht das nicht viel eher dem Topos des Epitaphiums, zu dem die Wendung gehört: wir haben hier nur noch den Körper, die Seele, die einst hier war, ist ins Schattenreich geflohen? Doch dieses Paradoxon läßt sich auflösen. Der Körper, die mächtige Stadt Rom, liegt in seinem Schatten begraben, insofern Rom in seinem Mythos, der durch das Epitheton victrix 31 Zum Schatten als Negation von Licht und damit zugleich als Negation des epitheton ornans Roma clara s.u. S. 200. <?page no="192"?> 192 zum Ausdruck kommt, erhalten blieb und für uns heute vorfindlich ist. Grabstätte für das alte Rom ist dann nicht mehr das Trümmerfeld, sondern der alles konservierende Mythos, der im Epitheton zum Ausdruck kommt. Als Metonymie bzw. Metapher aufgefaßt können Ruinenfeld wie Grabstätte sowohl Schatten-Seele als auch Körper, sowohl Hades als auch Mausoleum, sowohl im Humanismus wiederauferstandener Mythos als auch toter Leichnam sein. Das Ruinenfeld ist der zugleich materielle und immaterielle Zeitschatten, den Rom aus der Geschichte in die Gegenwart wirft. Die Akkumulation oder Diärese: „okrąg murów i [...] teatra i kościoły i słupy“ (der Ring der Mauern und [...] die Theater und Kirchen und Säulen) kulminiert bei Sęp-Szarzyński wie schon bei Vitalis in einer paradoxalen constructio kata synesin: „haec sunt Roma“ bzw. „to są rzym“. Akkumulation und constructio kata synesin haben zusammen die Funktion, die Identität zwischen dem Ganzen und der Summe seiner Teile sowohl zu behaupten als auch in Frage zu stellen. Der Widerspruch, der damit zum Ausdruck kommt, hat seine Wurzel in der Funktion von Namen überhaupt. Der Name verleiht Einheit, Singularität und Dauer, indem er unter Ausblendung der Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der dinglichen Wirklichkeit eine immaterielle Idee vom Ganzen schafft. Rom als Idee ist nun aber seither mit der Wirklichkeit in Widerspruch geraten und damit scheint der Name nicht mehr in der Lage zu sein, den aufgezählten Überresten Einheit zu gewähren. Darum der Plural. Zugleich aber lebt die Idee, aller dürftiger Realität zum Trotz, im Namen doch weiter und findet in Mauer, Theater und heiligem Fels zwar keine volle Repräsentation mehr, dafür aber einen gültigen zeichenhaften Ausdruck. Der Dreischritt von der Ansammlung dinglicher Realität über die Konstitution von Identität durch den ihr verliehenen Namen bis zur nur noch zeichenhaften Vertretung dieser Identität in der dinglichen Welt löst den Widerspruch von Einheit und Vielheit auf, den die constructio kata synesin zum Ausdruck bringt. 32 Du Bellay hat von allen Bearbeitern der lateinischen Vorlage diese Problematik am besten erfasst, denn er ergänzt: „C’est ce que Rome on nomme“, 33 und dieses „nomme“ reimt auf „Rome“ in Zeile 1. Dieses Paar steht nun seinerseits dem anderen Reimpaar der ersten Quadrine gegenüber: „n’apperçois“/ “tu vois“. So steht der Name, aus der Sphäre der Ideen, dem sichtbaren, aber ohne den Namen nicht als Rom identifizierbaren Gemäuer gegenüber. In allen Versionen des Gedichtes spielt der Tiber eine entscheidende Rolle. Bei Vitalis ist er „nominis index“, d.h. ein Zeichen, das auf keine materielle Realität, sondern nur noch auf einen Namen verweist. Der Fluss ist 32 Hier wird schon die Funktion der Zeit für die Lösung der Paradoxien bzw. umgekehrt die Leugnung der Zeit durch die Logik (die sich daraufhin mit Paradoxien herumschlagen muss) deutlich. Dieser Aspekt wird in der Version Sęp-Szarzyńskis am deutlichsten. 33 Hervorhebung hier: M.F. <?page no="193"?> 193 zum Zeichenkörper eines leeren singulären Terms geworden. Doch die lateinische Version lässt immer auch den sinnlichen Ursprung von „bloßen“ Zeichenmaterien aufscheinen. So auch hier: der Tiber verweist nicht nur auf den Namen. Er trägt ihn, metonymisch gesprochen, auch in die Welt hinaus („fertur in aequor aquis“), und er symbolisiert gleichzeitig durch Anspielung auf die Zeit-Paradoxie Heraklits die Zeit selbst als einzig wahre Herrin über Rom und damit als wahre Identität der von Rom als Schutzgöttin verehrten Fortuna. Schließlich fungiert der Tiber trotz des Gegensatzes, in den sein Fließen zu der unbeweglichen Stadt gestellt wird, auch als Gleichnis für die Stadt, insofern sie es eben doch verstanden hat, sich wie der Fluß zu verändern und dadurch zu bleiben: sie wechselte die Religion und wandelte sich vom imperialen zum spirituellen Zentrum, und gerade dadurch blieb sie, was sie war: Mittelpunkt der Welt. Die oxymorale Pointe des Gedichts - Oxymoron hier verstanden als verdichtete Form des Paradoxons - ist in allen Versionen gleich: das Unbewegte kommt ins Wanken, das ständig Bewegte aber bleibt. In Epimythionähnlicher Verallgemeinerung erscheint Rom als ein Lehrstück über die Macht der Zeit. 34 Diese Paradoxie läßt sich auf Zenos Paradoxien von Bewegung und Ruhe zurückführen. Dabei wird einerseits die Hybris des antiken Rom deutlich, bloße Dauer als Ewigkeit zu deuten und der Zeit selbst widerstehen zu wollen, andererseits aber zugleich die fortdauernde Existenz Roms als ein Ergebnis der Wandelbarkeit, des gelungenen Aufgreifens einer neuen Zeit und ihrer Idee, des Christentums. 35 Für den Untergang des alten Rom machen Vitalis, Opitz und Sęp- Szarzyński Fortuna verantwortlich, Du Bellay und Spenser die Unbeständigkeit der Welt, Quevedo niemanden. In der Verbindung mit der Apostrophe an Roms „grandeza“ und „hermosura“ forciert Quevedo damit den zuletzt genannten Sinn der Pointe. Du, veränderte christliche Roma, bleibst und dauerst, du, starre antike Roma, musstest untergehen. Du Bellays und Spensers Verweis auf die Unbeständigkeit (inconstance) der Welt ist logisch gesehen redundant, er rechtfertigt sich bei Du Bellay aber durch die Äquivalenzstellung als Reimwort zu résistance, an der sich wiederum Sinn entzündet. Gerade durch Wandel (inconstance) leistet man der Zeit Widerstand (résistance), man schlägt die Zeit mit ihren eigenen Waffen. Von Fortuna als Herrin der Zeit war schon die Rede, hier erscheint sie zusätzlich als die Erzeugerin von Paradoxien. Man muss beide Argumente verbinden, um zu verstehen: die Zeit ist wesentlich für das Entstehen von Paradoxien verantwortlich. Sie ist der Logik der Identität grundsätzlich inkongruent. 34 Die Funktion des letzten Verspaares als Moral betont Ingrid Daemmrich in The Function of The Ruins Motif in Du Bellay’s Antiquités du Rome. In: Neophilologus 59 (1975), S. 9-25, hier S.17. 35 Vgl. das noch heute für Rom gebräuchliche Epitheton ewige Stadt. <?page no="194"?> 194 Auch ein narrativ-perspektivisches Verfahren verwenden alle Versionen außer der Quevedos: wir betreten zu Beginn des Gedichts gemeinsam mit dem Pilger bzw. Fremden bzw. novus advena die Stadt, um sie am Schluss mit dem Lauf des Tiber in Richtung Meer, dem Sinnbild für die Weite der Welt, wieder zu verlassen. Diese Bewegung ist nicht unerheblich für die Deutung, denn sie profiliert das Verhältnis von urbs und orbis als ein wechselseitiges: nicht nur führen alle Wege nach Rom, sondern es gehen auch alle Wege von Rom aus. Warum bleibt Quevedo als einziger in Rom? 36 Der Fluss bekommt bei ihm eine ganz andere Funktion als bei den anderen Nachdichtern. Bei Quevedo führt er nicht hinaus aus der Stadt, er endet, indem er sie „bewässert“, gleichsam in der Stadt, um an ihrem Grab (sepultura) zu weinen. Sein Rauschen spielt das Requiem dazu. Zum allgemein stärker nekrologischen Charakter der spanischen Version kommt hier die Vorstellung vom Tod als dem Ende alles diesseitigen, als dem Ende der Zeit. 37 Darum muss auch der Fluss, der Fluss des Heraklit, hier enden. Das jetzige Rom ist ja nicht mehr zeitlich und damit diesseitig, es ist durch die christliche Spiritualisierung jenseitig und außerzeitlich geworden wie das Himmlische Jerusalem. Darum braucht der Tiber die Stadt auch in der diesseitigen Wirklichkeit nicht mehr zu verlassen. Doch nicht nur Quevedo nutzt den nekrologischen Charakter des Themas für die Sinnbildung. Das sepulta est findet sich in allen Versionen außer bei Du Bellay und bei Opitz. Es verweist auf die Gattung der Grabinschrift und macht die mit Inschriften bedeckten antiken Ruinen gleichsam allesamt zu Grabsteinen. Zusätzlich lädt die Metapher „Leichnam (cadaver, trup) der Stadt“ bei Vitalis und Sęp-Szarzyński den Topos mit antropomorpher, hyperbolischer und mythologischer semantischer Energie auf. Mythologisch verweist die Metapher auf den Titan, der nach dem Gigantenkampf unter der Insel Sizilien begraben wurde, durch den Ätna aber weiterhin atmet und mit Erdstößen immer wieder versucht, sich zu befreien (Ovid, Metamorphoses, V. 346-353). 38 Ziehen wir die Parallele, so ist an diesem Ort eine gewaltige Kraft und Macht verschüttet, die zu befreien zu einer Rückkehr in die Barbarei führen könnte, zu einer erneuten Unterjochung durch einst mühsam gebannte Kräfte, hier: den Imperialismus („imperiosa minas“). 36 Gonzalo Sobejano: El soneto de Quevedo „A Roma sepultada en sus ruinas“, a.a.O., verweist in bezug auf Quevedo auf „una conciencia registradora que se dirige […] al „peregrino“ inicialmente y sólo al final a Roma“ (S. 109). Die Aufmerksamkeit bleibt in Rom, der Fluß gehört zu den „personajes immanentes“ (S. 109) des Gedichts. 37 Zur Zeitlichkeit im Gedicht s.u. S. 197. 38 Vgl. zu diesem Motiv Ovids und seiner Verarbeitung bei Du Bellay Walter Pabst: Ehrfurcht und Grauen vor Rom. Zur Stilisierung des caput mundi in Les antiquitez de Rome. In: Romanistisches Jahrbuch 1973 Nr. 24, S. 77-91, hier S. 80f. Rom als „zerstückelter Leichnam“ weist bei Du Bellay auf barocke Motivik voraus. Die Vermittlung dieses Motivs über Vitalis erwähnt Pabst nicht. <?page no="195"?> 195 Opitz verwendet das Verb ligt, das auf den ersten Blick blasser zu sein scheint als sepulta est, das aber durch den Reim auf besiegt das Liegen auf dem Schlachtfeld akzentuiert. Roms Leichnam wurde also bei Opitz nicht begraben, sondern zerfällt vor unseren Augen zu „Abraum“. Darum nennt er Roms Überreste auch Aas. Auf einen eher tierischen als menschlichen Kadaver verweist auch das dreimalige erlegt. In der lautlichen und etymologischen Nähe zu diesem Wort liegt ein weiterer Grund für die Wahl des Wortes ligt für sepulta est. Rom liegt wie ein erlegtes Tier am Boden. Das Imperium hat erlegt und wurde schließlich erlegt - ist das bei Opitz schon ein Verweis auf die Wölfin, die als jagendes und immer auch von Menschen gejagtes Tier nicht nur zum Emblem, sondern auch zum Symbol für das unablässig kriegführende Imperium Romanum wurde? Bei Sęp-Szarzyński ist der Gedanke des sepulta est etwas abgeschwächt zur Würde bzw. Größe, die diesem Leichnam noch entströmt. Dafür setzt er hier eine Reihe neuer wirkungsvoller rhetorischer Mittel ein, so v.a. das harte Enjambement zwischen Vers 5 und 6, durch das das Subjekt des Satzes („trup“, d.h. Leichnam) von seinem attributiven Kontext getrennt und mit Hilfe einer äußerst kühnen Inversion einem eigentlich nicht ihm, sondern dem Objekt des Satzes gehörenden zweiten Genitivattribut - „szczęścia“ (des Glücks) gehört syntaktisch eigentlich zu „poważność“ (Würde) - zugesellt wird. Das Ergebnis ist die paradoxale Kontamination von trup und szczęście, also die grammatisch gar nicht fundierte Genitivmetapher „Leiche des Glücks“. Der Leichnam macht sich gleichsam selbständig, er löst sich aus dem konkreten Kontext von „miasto“ (Stadt) und verallgemeinert sich zum Sinnbild für das paradoxale Wirken der Fortuna, als deren Produkt das Hyperbaton „trup szczęścia“ hier verstanden werden muss. Die Wendung „vasta theatra situ“, d.h. der Verweis auf einen zentralen Bereich antiker Kultur mit großem Vorbildcharakter für die Neuzeit, begegnet uns außer bei Vitalis nur bei Opitz und Sęp-Szarzyński. Bei Vitalis findet sich hier eine raffinierte doppelte Verweisstruktur. Zum einen gebraucht er „situ“ metonymisch für „Bau“ und spielt damit auf Exegi monumentum des Horaz an: „regali situ pyramidum altius“. 39 Dann ist auch „vasta“ metonymisch zu verstehen im Sinne von ‚ungeheuer groß‘. In diesem Fall sind diese Monumente, wie die Pyramiden für Horaz, ehrfurchteinflößend als Dokumente einstiger kultureller Leistung, im Unterschied zu diesen aber eben kein Monument „aere perennius“, sondern dem Verfall preisgegeben. Zum anderen ist „situ“ gemeinsam mit „vasta“ wörtlich zu verstehen als „wüste, leere Orte“, an denen sich einst Theater befunden haben. In diesem Fall werden zusätzlich die Konnotationen von „situ“ im Sinne eines durch langes Liegen in Vergessenheit Geratens, im Sinne des Ansetzens von Rost oder 39 Zu Du Bellays Bezug auf das Horaz-Gedicht vgl. Richard A. Katz: The Collapse of the City, a.a.O. S. 12. <?page no="196"?> 196 Schimmel oder im Sinne des geistig eingerostet Seins („senectus vita situ“) aktiviert, die den Niedergang der antiken Dramatik anzeigen und ein neuzeitliches Ausfüllen des kulturellen Vakuums anmahnen. Bei Opitz stehen die „Lustspielhäuser“ 40 im „Scheine“, was sich effektvoll auf „Steine“ reimt. Das Massive, Materielle steht dem bloßen, leeren Anschein gegenüber. Beides bildet jedoch nicht nur einen formalen Kontrast - „scheine“ ist das immaterielle Echo (Echoreim! ) der einstigen „Steine“. Zugleich passt der bloße Anschein von Anwesenheit, wie er hier zum Ausdruck kommt, zum Lustspielhaus, der Produktionsstätte von bloßem Anschein, von Fiktionalem. So wird der Mythos Rom selbst zu einem fiktionalen Drama, das die Stelle der massiven materiellen und politischen Realität des antiken Roms vertritt. Bei Sęp-Szarzyński koexistiert in der Wendung „Teatra i kościoły“ (Theater und Kirchen) die antike mit der christlichen Epoche sowohl materiell (Gebäude) als auch geistig (Verweisfunktion der Gebäude als Inbegriff und Gefäß der jeweiligen Kultur) und sogar sprachlich (man beachte die alte Form „teatrum“, pl. teatra). Damit sind wir bei den Verfahren, die sich nur bei Sęp-Szarzyński finden. Insbesondere seine Reime sind sinnfunktional. Das sind sie zweifellos auch bei Quevedo, Du Bellay, Opitz und Spenser, aber auf eine je eigene Weise, die ich nicht in aller Ausführlichkeit für jede Version darlegen kann. 41 Nur so viel zum Vergleich: alle fünf Versionen weisen Echo- oder Inklusions-Reime auf: bei Sęp-Szarzyński ist das der Reim „pielgrzymie/ Rzymie“ [Pilger/ Rom], bei Quevedo „Palatino/ latino“, bei Du Bellay „comme/ consomme“, bei Opitz das eben erwähnte „Steine/ scheine“ und bei Spenser „funerall/ fall“. Das sind keine mutwilligen Sprachspielereien, sondern Verweise auf das dem Rom-Topos zugrundeliegende Verhältnis der Inklusion. Dieses Verhältnis aber deuten die Dichter verschieden. Für Spenser sind Teil und Ganzes, d.h. im Falle von „fall“ und „funerall“ geistiges und materielles, letztlich identisch. Für den Spanier Quevedo ist die materialisierte Äußerlichkeit sofort öffentliche politische Geste (Hügel als Regierungssitz; „reinaba Palatino“) und gerade dadurch zugleich geistig („blazón latino“). 42 Du Bellays Echo-Inklusion ist paradoxaler. Sie besteht zwischen der fortwährenden Identitätsvernichtung durch die Zeit („temps, qui tout consomme“) und dem Satz der Identität („comme“). Die Zeit schafft Identität - genauer, sie schafft ihre epistemologische Grundlage, die Dauer - und widerlegt sie zugleich. Sęp-Szarzyńskis Echoreim „Pielgrzym/ Rzym“ fungiert zum einen als metonymisch motivierte Volksetymologie - ein „pielgrzym“ ist einer, der nach „Rzym“ unterwegs ist - zum anderen verweist er auf das 40 Das Wort Theater hatte sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Deutschen noch nicht durchgesetzt. 41 Zur Sinnfunktion des Reims bei Du Bellay vgl. aber oben S.193. 42 Zu Verfahren und Bild der Inklusion bei Quevedo vgl. Mijal Gai: El arte de imitar con ingenio, a.a.O. S.210. <?page no="197"?> 197 Verhältnis von imperialem und christlichem Rom. Bei Quevedo präsentiert der Reim „peregrino/ Aventino“ dieses Verhältnis als einen Gegensatz - der Aventin ist seit Augustus der Sitz der Kaiserresidenzen gewesen. Die Echo- Inklusion bei Sęp-Szarzyński läßt dasselbe Verhältnis eher als eine Wandlung erscheinen. Auf Wandlung deutet auch Sęp-Szarzyńskis zweiter Echoreim „niezwyciężony/ zwyciężony“. Das antike Unbesiegte Rom als entleertes epitheton ornans trägt bereits das besiegte Rom in sich. In anderen Verfahren des Gedichts wird Sęp-Szarzyńskis Profilierung der Zeit und in ihr v.a. der Metamorphose, noch deutlicher. So in der bereits erwähnten Wendung „Teatra i kościoły“. Nicht nur wurden vielfach antike Theater zu Kirchen umgebaut, 43 es ließe sich auch an den Übergang von der Theaterkunst in den religiösen Bereich der Mysterienspiele denken, wie im Falle der polnischen Dramatik des 15. und 16. Jahrhunderts, oder an die sakrale Funktion der ursprünglichen griechischen Theaterkunst. Die Wendung „Teatra i kościoły“ profiliert darum keinen unversöhnlichen Gegensatz, sondern eine Metamorphose. Das Palindrom „mur-rum“ [Mauer- Schutt] und die Anapher „słupy stłucone“ 44 [zerbrochene Säulen] präsentieren Paradoxien von Aufrichten und Destruktion, von architektonischen Horizontalen („mur“) und Vertikalen („słupy“), die schließlich in Formlosigkeit übergegangenen sind. Palindrom und Anapher sind hier, im Sinne von Wandlung, als Metamorphose aufzulösen. Beide gehören ins Sinnzentrum, in dem sich die Raum- und die Zeitstruktur des Gedichts treffen. Der Bewegung vom Erblicken der Gebäude durch den eintreffenden Pilger bis zum Abfluss des Tiber ins Meer entspricht die Metamorphose Roms selbst, wie sie in unnachahmlicher Kürze das Palindrom zum Ausdruck bringt. Aus Gebäuden wird Schutt, und der Weg von der architektonischen (und zugleich künstlerischen? ) Form zur Formlosigkeit, zur a-morphe setzt sich fort in dem Sand, den der Tiber lt. Vers 12 ins Meer transportiert. Aus Schutt wird Sand. Und so ist es auch kein Zufall, dass der Fluß, seit Heraklit Sinnbild für die Zeit, den Sand schließlich mit sich in die Unendlichkeit des Meeres hinausträgt. Die Zeit ist der Gegner der Form. Wie der Tiber die antiken Trümmer schließlich zu Sand zernagt, so ebnet die Zeit jede vom Menschen geschaffene Form schließlich ein. Die von der Zeit gestiftete Metamorphose ist entropisch, ist man versucht zu sagen. Die Metamorphose Roms kann aber auch umgekehrt als eine Aussaat der Rom-Idee interpretiert werden. Rom wird vom Fluss zu Körnern zermahlen und in die Weite des Ozeans hinaustransportiert. Das Meer trägt diese Körner an alle Ufer der Welt und damit auch die Idee des Imperium Romanum an alle kulturellen Ufer. Rom als Brennpunkt des Imperiums existiert nicht mehr, dafür aber ist heute überall Rom. 43 Z.B. das römische Theater in Verona. 44 Man beachte zur Lautähnlichkeit die altpolnische Form stłupy. <?page no="198"?> 198 In den verschiedenen Versionen des Rom-Gedichts wird also einerseits von den kulturellen Erben in allen Teilen Europas viel Übereinstimmendes zum Mythos Rom gedacht, es wird auch vielfach analoges durch unterschiedliche literarische Verfahren realisiert. Zugleich aber werden in analogen Verfahren unterschiedliche Sinnstrukturen angelegt, und es werden sogar durch andere Verfahren ganz neue Sinnfäden geknüpft. In dieser „Einheit in Vielfalt“, um mit dem barocken Dichtungstheoretiker Sarbiewski zu sprechen, 45 gewinnen die bei aller kultureller Einheit des Raumes und der Epoche doch bestehenden Unterschiede zwischen den Nationalkulturen eine gewisse Gestalt. Janus Vitalis arbeitet v.a. mit Polyptoton, Chiasmus und Inversion, ferner mit konkret-abstrakten Doppelbedeutungen, also mit versteckten Realisierungen von Metaphern. Damit nutzt er besonders die syntaktische Flexibilität des Lateinischen. Für die Sinnintention bedeutet das: sein Gedicht unterstreicht die Vielgestaltigkeit und Vertauschbarkeit von Gegenstand und Begriff, problematisiert wird die Identität, Schlüsselwort im Gedicht hierfür ist „nominis index“. Du Bellays Fassung lebt von ihren rhetorischen Wiederholungen und ihren Antithesen. 46 Auf den Sinn wirkt sich das insofern aus, als die logische und die apellativ-rhetorische Funktion dominant werden. Du Bellay will das Paradoxon auflösen, es wird in eine „Wahrheit“ überführt, die die Doxa (die Größe und Überlegenheit der römischen Kultur) als Schein entlarvt. Schlüsselwort ist „quel orgueil, quelle ruine“. 47 Ferner ist das Gedicht stark durch Assonanzen geprägt, durch die die Homonymie-Tendenz des Französischen genutzt wird. So kommt ein dichtes Geflecht von durch lautliche Ähnlichkeit motivierten semantischen Beziehungen zustande, das die Alldurchdringung des Mythos suggeriert (zumal das Wort Rome als lautliches "masterpattern" figuriert). Die hier überaus reichliche Verwendung rhetorischer Mittel, die eher schon an den barocken Concettismus erinnert, ist ansonsten 45 Maciej Kazimierz Sarbiewskis barocke Dichtungstheorie, die übrigens früher entstand als die entsprechenden Theorien Gracians und Tesauoros, wurde lateinisch und polnisch ediert in: Wyklady z poetyki / praecepta poetica. Wroclaw [u.a.] 1958. Ihr Herzstück ist der Traktat De acuto et arguto. Vgl. dazu Renate Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede: rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen. München 1994. 46 Neu gegenüber der Vorlage ist bei Du Bellay z.B. die Antithese zwischen nouveau und vieux. Vgl. dazu Malcom Quainton, Du Bellay and Janus Vitalis Quainton, a.a.O. S.14. 47 Auch für Andre Six: Explication francaise: Du Bellay, Antiquites de Rome, a.a.O. S.282 bildet diese Antithese das Zentrum des Gedichts. <?page no="199"?> 199 für Du Bellay untypisch 48 und erklärt sich wohl aus der schon stärkeren Barockneigung der Vorlage. Quevedo verkettet v.a. Synonyme und Synekdochen. So betont er die kulturelle Kontinuität und das synekdochische Recht der Ruinen, Rom zu vertreten. 49 Viel deutlicher als bei den anderen Autoren ist bei ihm der Nekrolog-Charakter des Gedichtes. Sprachlich verschaffen Hyperbata und zahlreiche andere Klammerungen von Zeilenpaaren und Strophen dem Topos einen die Grabstätte umgrenzenden Rahmen, der ikonisch die Stadtmauer realisiert. Die Strophen des Sonetts werden auf raffinierte Weise abwechselnd durch Vertikalität und durch Horizontalität charakterisiert: auf die horizontale Pilgerreise (1. Quadrine) folgt die Vertikale der Hügel Aventin und Palatin (2. Quadrine); auf die horizontale Bewegung des Tiber (1. Terzine) folgt die (metaphorische) Vertikale der Größe und Schönheit Roms (2. Terzine). 50 Schlüsselworte bei Quevedo sind darum zum einen „cadáver son las que ostentó murallas“, zum anderen das vertikal-horizontale „yace donde reinaba el Palatino“. Opitz betont durch die Verwendung des sechsfüßigen Jambus mit symmetrischer Zäsur sowie durch semantische Oppositionen innerhalb von Reimen die Gegensätze innerhalb des Rom-Topos. Stehen und Liegen, Tod und Leben, Schein und Realität stehen bei ihm antinomisch und paradoxal einander gegenüber. Sein Schlüsselwort ist die Reimopposition „Aas der Stadt/ Der […] leben in sich hat“. Hauptmerkmal der englischen Fassung von Spenser ist das durchgängige semantische Analogieverhältnis zwischen den Reimwörtern, das umso erstaunlicher ist, als das Gedicht in den früheren Versionen von Gegensätzen lebte. Erst im Epimythion taucht der Gegensatz auch im Reim auf. So wird die Moral des Gedichts von der Narratio getrennt, in der der fließende Tiber - durch „fall“ - und die feste Stadt - durch „funerall“ - identisch bleiben. Eine solche affirmative Sinnbildung brandmarkt jede Abweichung von der Identität als Hybris. Sprachlich wird die Poetik der Identität durch das Fehlen von Flexionsendungen für „Rome“ suggeriert. So scheint hier aus der Variation eine affirmierende Wiederholung immer desselben zu werden. 48 Vgl. Richard A. Katz, The Collapse of the City, a.a.O. S.15: „There is incessant use of figures of classical rhetoric“. Katz leitet diese Besonderheit bei Du Bellay aus der Suggestion durch den Topos ab. 49 Zur Dominanz der Synekdoche in der spanischen Version vgl. Mijal Gai: El arte de imitar con ingenio, a.a.O. S.217. 50 Maria Litsardaki: Une ville onirique: étendue et verticalité dans les Antiquités de Rome de Du Bellay. In: Oevres et Critiques 21 Nr.2 (1996), S. 98-108. stellt (S.99) fest, die Stadt Rom besitze zwei wahrhaftig poetische Dimensionen, die Vertikalität und die Rundung. Demnach hat Du Bellay die Rundung der Bögen in die Poetik des Topos eingebracht und Quevedo die Vertikale sowie das Rund der Stadtmauer. <?page no="200"?> 200 Sęp-Szarzyński schließlich operiert ganz massiv mit der paradoxalen Seite des Topos, er läßt keine Gelegenheit ungenutzt, durch Enjambements und Inversionen Paradoxien zu erzeugen oder zu verstärken. Mit Hilfe von diachronen Verkettungen („słupy - rum - z piaskiem“) und dem Palindrom „mur - rum“ löst Sęp-Szarzyński die Paradoxie der gegenseitigen Inklusion von Rom-Mythos und Rom-Topos sowie das Identitätsproblem der neuzeitlichen Kultur grundsätzlich anders als die Autoren der anderen Versionen. Zeit und Identität verbinden sich bei ihm zu einem Verständnis von Kultur als Metamorphose, die alle Identitäten und Inklusionen durchdringt. 51 Sęp- Szarzyńskis Schlüsselwort ist „Rzym (to jest ciało w swym cieniu) leży pogrzebiony“. Das Gedicht von Sęp-Szarzyński hatte das Rom, das der Pilger heute vorfindet, als „Schatten“ bezeichnet. Daran kann man nun auch allgemeine Überlegungen zum Umbruch in der europäischen kulturellen Orientierung knüpfen. Auf die römisch-lateinische Rationalität, die claritas, folgte die christlich-lateinische Spiritualität, gleichsam Roma obscura. Dieser Dualismus funktioniert nicht nur in bezug auf die Opposition zwischen heidnischer Antike und christlicher Kultur, sondern auch in bezug auf den Übergang von der Renaissancezur Barockkultur, auf den die Gedichte anspielen. Das Barock zeigt eine Abkehr von der rationalen Erneuerung durch die Renaissancekultur und ist damit hinsichtlich der claritas eine „Schattenkultur“. Das Gedicht ist so gesehen auch ein Kommentar auf das Ende der Renaissance. So liefert die vergleichende Analyse der unterschiedlichen Versionen des Rom-Gedichtes Hinweise auf die kulturelle Einheit Europas und auf die Kontinuität der Kultur im Übergang von der Renaissance zum Barock. Es werden aber in den signifikanten Unterschieden zwischen den verschiedenen Versionen des Gedichtes zugleich spezifische Unterschiede in der Sprache, der Mentalität und dem kulturellen Selbstverständnis im Europa der „Diadochen“ Roms dokumentiert. Zur Renaissance bzw. zum Humanismus gehört das Gedicht durch den Topos und seine metapoetische Funktion für das Selbstverständnis des Humanismus. Schon auf das Barock verweist die Pilgerfahrt zum „Leichnam“ des Kulturvorbildes nicht zuletzt aufgrund seiner „Nekromantik“, wie sie besonders in der spanischen Version deutlich wurde. 52 Sie ist mehr als nur ein typisches Stilmittel, denn sie zeigt, dass die Kontinuität und das Fortleben der Kultur in dieser Epoche selbst in Frage stehen. Statt „ars longa vita brevis“ wird mehr und mehr die Sterblichkeit kultureller Entwürfe wahrgenommen, man erlebt die eigene Kultur als Ver- 51 Vgl. oben S. 196f. zur unterschiedlichen Sinnfunktion der Echoreime. 52 Mijal Gai stellt in El arte de imitar con ingenio (a.a.O., S. 215) fest, dass Du Bellay, anders als zuvor Vitalis und später Quevedo, die direkte Anspielung auf den Tod vermeidet. Die Frage nach dem Barockcharakter des Gedichts scheint mehr eine Frage des „wo geschrieben“ als des „wann geschrieben“ zu sein. <?page no="201"?> 201 fallskultur, die sich vom „Aas“ der Hochkultur ernährt. Kulturelles Erbe wird dann nicht mehr wie in der Renaissance als Apotheose, als grandiose Fortsetzung und Überhöhung des nach wie vor gültigen Paradigmas erlebt (tendenziell noch bei Du Bellay und Spenser), sondern zunehmend als Ausfleddern der Konkursmasse einer an ihren eigenen Voraussetzungen zugrunde gegangenen Kultur. Czesław Miłoszs Auseinandersetzung mit dem Rom-Mythos In den achtziger Jahren findet sich unter Miłoszs Gedichten eine neue Version, eine Reformulierung des alten Topos. In dem schon im Titel auf Epitafium Rzymowi Bezug nehmenden Gedicht Epitafium (1986) polemisiert Miłosz teils mit seiner Vorlage, teils deutet er sie. In dem Gedicht Rue Descartes (1980) greift er gleichfalls den Mythos vom alten und neuen Rom in seiner gesamten Paradoxie auf. 53 Er stellt in diesem Gedicht zudem aktuelle und biographische Bezüge her. In Świadectwo poezji (1983) gibt er einen kulturgeschichtlichen Kontext für die Gedichte, wobei er Rue Descartes eingehend kommentiert. Dabei wird deutlich, wie widersprüchlich das kulturelle Erbe für Miłosz ist. Miłoszs bezieht sich ganz ausdrücklich auf Sęp-Szarzyński und sein Rom-Gedicht. Zum einen stellt er seinem eigenen Epitafium-Gedicht die beiden ersten Zeilen des Barockgedichts als Motto voran. Zum anderen nimmt er es in Świadectwo poezji zum Beispiel für die „kulturelle Osmose“ in Europa, für die enge Verwandtschaft auch zwischen den entlegentsten Kulturen des Kontinents. 54 Mit diesem Beispiel will Miłosz nicht nur zum Ausdruck bringen, dass gerade das Rom-Gedicht des Vitalis in seinen verschiedenen nationalen Versionen die kulturelle Einheit Europas und die geistige Nähe seiner Eliten dokumentiert. Gerade die Version Sęp- Szarzyńskis soll auch dokumentieren, dass Polen zu dieser Kultur- und Wertegemeinschaft dazugehört, dass es aus dieser Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden darf. Es geht dabei zum einen um Polen als kleines Land, dessen Beitrag oft übersehen wird, 55 zum anderen aber auch um das östliche Mitteleuropa, das aus der Perspektive der „kulturellen Zentren“ wie Frankreich oder England als Niemandsland erscheint: Na wschód od Niemiec na białym tle mógłby figurować napis Ubi leones i ta dzielnica zwierząt leśnych oznaczała zarówno Pragę, jak Warszawę, Buda- 53 Rue Descartes zuerst in Hymn o perle, Ann Arbor 1983. Epitafium zuerst in Kroniki, Paris 1987. 54 Świadectwo poezji, S.12 (zit. nach: pierwsze wydanie krajowe, Warszawa 1987). 55 Unter diesem Aspekt nennt er in Świadectwo poezji, S.9, Polen gemeinsam mit Holland und Belgien. <?page no="202"?> 202 peszt czy Belgrad. Dopiero dalej na wschód pojawiała się na mapie Moskwa. 56 Östlich von Deutschland könnte auf weißem Hintergrund die Aufschrift Ubi leones figurieren, und diese Abteilung von Waldtieren bezeichnete sowohl Prag wie auch Warschau, Budapest oder Belgrad. Erst weiter östlich zeigte sich auf der Karte Moskau. Zugleich aber legt Miłosz gegen den politischen und kulturellen Imperialismus, die Hegemonie Roms, die diese Einheit doch anscheinend erst möglich gemacht hat, Widerspruch ein. Dem Gedicht Epitafium zufolge lohnt es sich nicht mehr, seine kulturelle Identität in Rom zu suchen; man solle sich eher auf die von Rom unterdrückten und vernichteten „kleinen“ Regionalkulturen besinnen. Das suggeriert schon der gegenüber der barocken Vorlage Sęp-Szarzyńskis signifikant veränderte Titel. „Rzymowi“ ist weggelassen, d.h. nicht Rom ist eines Totengedenken, eines Nachrufes würdig, sondern die von Rom vernichteten Regionalkulturen Europas. Damit verknüpft der Miłosz-Leser natürlich die Lobgesänge auf vorchristliche litauische Mythen und Riten, die der Dichter z.B. in Rodzinna Europa, Dolina Issy und Ziemia Ulro erklingen lässt. Ist Miłosz nun Kosmopolit oder Volkstümler, ist seine kulturelle Identität auf das litauische Dorf Szetejne oder auf Rom ausgerichtet? Bestimmt litauischer Volksglaube oder römischer Katholizismus seine spirituelle Orientierung? Miłosz weigert sich, sich auf die Regionalkultur auf der einen Seite oder aber auf die von regionalen Besonderheiten abstrahierende, durch das überregionale kulturelle Zentrum geprägte Gesamtkultur auf der anderen Seite festlegen zu lassen. Doch wie kann man dazugehören, ohne unterworfen zu werden; wie kann man kulturell Abendländer und zugleich Litauer sein? Schließt das eine das andere nicht aus? Die Stärke von Dichtung liegt darin, dass sie die Einheit von Gegensätzen paradoxal zum Ausdruck bringen kann. Nur paradoxal kann insbesondere die menschliche Identität verstanden werden, denn sie besteht nicht in einer in sich ruhenden Einheit, sondern in einem Bezugsgeflecht, in dem das Eigene nicht nur eigen und das Fremde nicht nur fremd ist. Das gilt gerade auch für kulturelle Identität. Ihre Voraussetzung ist die Berührung mit dem Fremden, das zugleich lockt und droht, die kulturelle „Schismogenese“, 57 der jede Kolonialkultur unterworfen wird und die man als mörderischen Konflikt oder aber als Dialog erleben kann. Nachhaltigen kulturellen Identitätsstiftungen ging oft eine solche Schismogenese voraus: der griechischen die Begegnung mit Persien/ Vorderasien, der römischen die Begegnung mit der griechischen Kultur usw. Nur wer sich als Mitte erlebt und darum niemandem begegnet, muss wie Narziss im eigenen Spiegelbild 56 Świadectwo poezji, S.9 57 Gregory Bateson: Culture Contact and Schismogenesis. In: G.B.: Steps to an ecology of mind, Chicago 1972. (Deutsch: Ökologie des Geistes, Frankfurt 1981). <?page no="203"?> 203 ertrinken, oder, nach Sęp-Szarzyński, im eigenen Schatten begraben werden. Das ist das Schicksal imperialer und kultureller „Zentren“. 58 Miłosz kommentiert in Epitafium, aber auch in Rue Descartes die ambivalente Begegnung des Provinzlers aus der Kolonie mit der geliebt-gehassten Vorbildkultur. Erläutert und um biographische Elemente angereichert wird diese Begegnung in Świadectwo poezji. Kulturell betrachtet verstehen wir heute unter Europa die Erbmasse Roms einschließlich der von den Erben ihrerseits politisch, wirtschaftlich oder kulturell kolonialisierten Länder. Mit den spanischen Conquistadoren, mit Napoleon, mit dem Britischen Weltreich ist darum Europa kulturell weit über seine geographischen Grenzen hinaus gewachsen. Das Zentrum dieser Kolonialisierung hat sich mit der Zeit verschoben, nicht aber seine Botschaft. Sie ist von der Dominanz der Rationalität geprägt. Zu Lebzeiten von Mickiewicz, als dessen Schüler sich Miłosz in Świadectwo poezji bezeichnet, hatte sich das geographische Koordinatensystem, in dem der Siegeszug der Rationalität sich bewegte, bereits verschoben. Zwar kennt noch Tadeusz in Pan Tadeusz den Süden als die geordnete, aber seelisch tote Heimat der Caesaren und stellt ihm den wilden, barbarischen, aber lebendigen Norden, d.h. Litauen, gegenüber. Zugleich aber wird in dem Versepos Napoleon als der Herold der Rationalität erlebt, der von Westen nach Osten zieht und Litauen zwar militärisch die Befreiung, spirituell aber den Untergang bringt. Eine ganz analoge Topographie findet sich bei Miłosz. In Świadectwo poezji sieht er sich in einem doppelten europäischen kulturellen Koordinatensystem: der Nord-Süd-Achse mit Bezug auf Rom und der Ost-West-Achse mit Bezug auf Paris bzw. Frankreich. Die Nord-Süd-Achse wird immer schwächer, aber Miłosz kannte noch das Latein der Liturgie und der Theologie, die lateinischen Dichter wurden bei ihm noch in der Schule gelesen und die barocken Kirchen von Wilna (Świadectwo poezji S. 6f.) verwiesen auf die kulturelle Kolonisierung Polens in der Gegenreformation durch den von Spanien aus operierenden Jesuitenorden. In der Ost-West-Achse, die die Nord-Süd-Achse ablöste, wurden manche ihrer Züge bewahrt, und einer verstärkte sich noch: die Dominanz der Rationalität. Der französische Klassizismus, die französische Philosophie, der französische Roman wirkten nun als Vorbilder, machten Paris zum Mythos der Intellektuellen im Osten Europas und Französisch nach dem römischen Latein zur neuen Weltsprache. Der avantgardistische Umsturz in der Dichtung und Malerei des 20. Jahrhunderts erscheint in Świadectwo poezji als letzte Etappe der „Romanisierung“ Europas, nach der seine „Rationalisierung“ an ihr Ende gekommen zu sein scheint: Teraz wydaje się już to być okres zamknięty albo dobiegający końca. (Świadectwo poezji, S.8) 58 Vgl. oben das zur Litotes und zum Wort „seul“ bei Du Bellay Gesagte. <?page no="204"?> 204 Jetzt scheint das schon eine abgeschlossene oder an ihr Ende kommende Periode zu sein. Wie ist es zu diesem Ende gekommen? Es fand in den Köpfen derer statt, die selbst als Pilger nach Rom, d.h. nunmehr nach Paris gekommen waren, um Rom, d.h. das kulturelle Europa des 20. Jahrhunderts, zu suchen. Sie fanden dieses Europa nicht mehr und wurden damit auf sich selbst, auf ihre eigene Identität zurückgeworfen. Dieses Erlebnis beschreibt Miłosz in dem Gedicht Rue Descartes. Das lyrische Ich erlebt sich in Paris, der „Hauptstadt der Welt“, als Barbar aus der litauischen Kulturprovinz, wie andere Parispilger aus den „Provinzen“: Marokko, Rumänien und Vietnam. Sie schämen sich ihrer „irrationalen“ regionalen Gebräuche und saugen begierig die an den Pariser Universitäten gepredigten universalen Ideen auf. Doch es zeigt sich, dass diese „römischen“ Ideen die Kulturprovinzler zuweilen zu Mördern machen. In Świadectwo poezji führt Miłosz diesen Gedanken näher aus. Die Pol-Pot-Mörder von Kambodscha waren Zöglinge der Sorbonne, ihre Lehrer die Pariser Salonkommunisten der fünfziger und sechziger Jahre. Und auch das lyrische Ich von Rue Descartes wird zum Mörder, zum Mörder an einer Wasserschlange, die in Litauen als heilig gilt. Wie ist das möglich? Verbietet nicht auch die „römische“ Identität das Morden, sind nicht die zivilisierten „Römer“ eher noch restriktiver in dem, was verboten und erlaubt ist? Die Heimat zu verlassen und Rom, das Zentrum, zu suchen heißt nicht nur, seine eigene kulturelle Herkunft zu verleugnen. Es heißt auch, einen inneren Bezug zur Menschlichkeit zu verlieren, denn in der Tiefe setzt dieser Bezug eine spirituelle Heimat voraus, die nicht auf rationalem Wege erworben werden kann. Das betrifft insbesondere die Fähigkeit zur Schuld, also zum moralischen Empfinden. Rationalität kennt keine Schuld. Sie findet für alles eine hinreichende Begründung. So konnten die Roten Khmer im Namen der Rationalität fast ihr ganzes Volk ausrotteten. Dem Lyrischen Ich aber ist nun die Gabe der Schuld zurückgegeben, einer Schuld, die vom rationalen Standpunkt aus gar nicht existiert: eine Schlange getötet zu haben, die dem litauischen Volksglauben nach heilig war. Und dieses Schuldgefühl ist, so Miłosz in Świadectwo poezji, tiefer als alle Schuldgefühle, die die Römisch-Katholische Kirche ihm in der Kindheit eingeflößt hat. Und darum findet Miłoszs Lyrisches Ich wie sein barocker Vorgänger, aber aus ganz anderen Gründen als er, Rom nicht in Rom, d.h. das Europa der Rationalität und der universalen Ideen nicht in Paris, seiner Hauptstadt. Die Identität von Paris präsentiert sich ihm ganz unrational, ganz sinnlich - in den langen Broten, dem Wein in Tonkrügen und dem kehligen Gelächter. Hier, im Herzen des Imperiums, in der Straße, die den Namen des einflussreichsten Erneuerers von Rationalität in der Neuzeit trägt, findet man nicht „Ehre, Größe und Ruhm“, sondern pure Sinnlichkeit. Wo aber ist das Impe- <?page no="205"?> 205 rium mit seinen Werten geblieben? Was ist aus Rom geworden? Die Trümmer Roms sind in Paris Trümmer im übertragenen Sinne, nämlich durch das avantgardistische Generalverfahren der Fragmentierung und Dekontextierung gegangene Kunstwerke. Denkmäler, von denen man nicht mehr weiß, wen sie darstellen, Arien, deren Text man nicht versteht, und Redewendungen, deren Ursprung im Dunkeln liegt. Derlei Kulturtrümmer von Ehre, Ruhm und Größe lassen sich in Paris von dem, der sie sucht, noch allenthalben finden. Im Weiteren wird in dem Gedicht auf zwei europäische Kulturmythen angespielt, auf einen älteren vom Besuch in der Unterwelt und einen jüngeren von Petersburg als der aus der Ratio seines Gründers geborenen Stadt. Zunächst zu letzterem. Ein Symbol Petersburgs und seiner die Natur bändigenden Ratio ist in der russischen Literatur das Granit der Ufereinfassungen, das das dort allgegenwärtige Element Wasser in seine Schranken verweist. Miłosz ist ein Kenner der russischen Literatur. Ihm ist dieser Mythos, den v.a. Puškin im Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter) verarbeitet hat, darum bestens bekannt. 59 Er führt mit der Anspielung darauf die Ost-West-Achse der Orientierung an der französischen Rationalität über Warschau hinaus bis nach Russland und verweist auf den rationalen Sündenfall gerade auch in Osteuropa. Er aktualisiert ihn für das 20. Jahrhundert durch das Beiwort szorstki (rau). Die sinnliche Qualität des Steins verweist auf eines der Hauptanliegen der literarischen Avantgarde, die Spürbarkeit des Materials wieder herzustellen. Dieses Anliegen drückte Šklovskij, dessen Theorie der Formalen Schule sich auf die Avantgardedichtung bezog, mittels der figura etymologica „den Stein steinern machen“ aus. 60 So erscheint die russische Avantgarde als Fortsetzung des petrinischen Rationalismus in Russland. Der Mythos vom Besuch in der Unterwelt wird im Gedicht als „Rückkehr aus unterirdischen Ländern“ gestaltet. Das Wort „podziemny“ verweist dabei weniger auf den politischen Untergrund (podziemie) als vielmehr auf die in den kulturellen Untergrund abgedrängte prärationale Kultur, zu der Dostojewskijs Paradoxalist aus den Aufzeichnungen aus dem Untergrund ebenso gehört wie die mystische Lyrik von Miłoszs (zur Zeit seines ersten Paris-Besuchs) in Paris lebenden und auf Französisch dichtenden väterlichen Freund und Verwandten Oskar Miłosz. Man kann aber auch umgekehrt sagen, der Dichter selbst tauche nunmehr aus dem Schattenreich der 59 Zur Deutung der Überschwemmung Petersburgs als Aufruhr des Elements Wasser gegen die ihm durch die Ufermauern aufgezwungene Rationalität in Puškins Verserzählung Mednyj vsadnik vgl. Matthias Freise, Ėdipalnost‘ pol’skogo i russkogo romantizma (Die Ödipalität der polnischen und russischen Romantik). In: Čeljabinskij gumanitarij. Naučnyj žurnal Čeljabinskogo otdelenija Akademii Gumanitarnych nauk. Nr. 3 (20)/ 2012, S. 55-62. 60 Viktor Šklovskij, Iskusstvo kak priem (Kunst als Verfahren), in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969 S. 2-35, hier S. 15 (Erstpublikation 1916). <?page no="206"?> 206 Rationalität auf, in dem er selbst lange Zeit zugebracht hat, und erblickt im Licht (w świetle), wie sich „das Rad der Jahreszeiten dreht, dort, wo die Imperien fielen“. Die Zyklizität der Welt erweist sich in diesem Bild, ähnlich wie bei Sęp-Szarzyński im Bild des Flusses, als stärker als alle vom Imperium zum Zwecke der Selbstverewigung aufgebotene Rationalität. Durch diese gleichsam mystische Vision erfährt das Lyrische Ich eine spirituelle Umkehr, in der sich auch die kulturellen Hierarchien umkehren: I nie ma już tu i nigdzie stolicy świata, I wszystkim obalonym zwyczajom wrócono ich dobre imię. (Zeile 28-29) Und es gibt schon weder hier noch irgendwo die Hauptstadt der Welt, Und allen gestürzten Gebräuchen ist ihr guter Name zurückgegeben. Identität wird nicht mehr vom Zentrum verliehen, weil es das Zentrum nicht mehr gibt. Es gab das Zentrum ja ohnehin nie real, sondern immer nur in den Köpfen der Pilger. Nun ist aller vom Zentrum diskreditierter „Aberglaube“ wieder in sein Recht gesetzt. 61 Was aber bedeutet die „Gabe der Schuld“ für das Lyrische Ich? Sie ist die Gabe der Identität, die erst nach der Erkenntnis der eigenen Verstrickung, nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies, empfangen werden kann. Auf den Sündenfall im Buch Genesis verweist in dem Gedicht schon die Schlange, auf die damit verbundene Lehre von der Erbsünde die Rede von der Sühne „im ganzen Leben“: I co mnie w życiu spotkało, było słuszną karą. (Zeile 34) Und was mir im Leben widerfuhr, war eine gerechte Strafe. Krieg, Vertreibung, Exil, die ganze brutale politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist nach Miłosz ein Produkt der totalen Hegemonie von Rationalität, von Rom. Das Lyrische Ich hat sich durch seine einstige Huldigung an dieses Rom, d.h. durch seine Pilgerfahrt nach Paris und seine anfängliche Orientierung an der Avantgarde, selbst dieser Rationalität schuldig gemacht. Darum ist das Erleiden ihres Produkts, des menschenverachtenden 20. Jahrhunderts, eine „gerechte Strafe“. In Świadectwo poezji fügt Miłosz kommentierend hinzu, „für uns aus Wilna, Warschau oder Budapest haben die universalen Ideen längst ihren Reiz verloren“ (S.11), noch nicht jedoch für die jungen Mörder aus Kambodscha. Er sieht also Ostmitteleuropa in einer Vorreiterrolle. Der Paradigmenwechsel kultureller Identität, die Abkehr vom Zentrum und Hinwendung zur Peripherie ging von hier aus. Ostmitteleuropäer waren die ersten, die Rom nicht mehr suchen, die sich von Rom aus kulturell auf den Heimweg in ihre Provinz gemacht haben. Die Rückkehr der Schuldfähigkeit, die in Rue Descartes thematisiert wird, ist ein 61 Vgl. Miłoszs Kommentar zum Volksglauben in Mickiewiczs Ballade Romantyczność in Ziemia Ulro. Dazu s.o. S. 22-23. <?page no="207"?> 207 wichtiges Indiz dafür, dass mit der Avantgarde und ihrem „alles ist erlaubt“ zugleich die Hegemonie der Rationalität, die Hegemonie von Descartes, zu Ende ist. Darum also lohnt es sich also nach Miłosz heute nicht mehr nach Rom zurückzukehren. Ist aber der Bezug auf den eigenen kulturellen Ursprung in Rom nicht auch heute noch notwendig für das Erringen einer kulturellen Identität? Schauen wir uns Miłoszs Gedicht Epitafium genauer an. Die Hauptthese der Vorlage, der Gedichte von Janus Vitalis, Sęp-Szarzyński und den anderen Nachdichtern ihrer Zeit war, dass der Pilger nach Rom kommt, kommen muss, zum übermächtigen Ursprung der eigenen Identität, und dass er diese Macht dann in ihrer der Zeit unterworfenen Körperlichkeit als so heruntergekommen und abgewirtschaftet erlebt wie das erwachsene Kind die greisen Eltern. So entstand für das alte kulturelle Denken Identität: nach dem Bruch mit den übermächtigen Eltern, und dem darauf folgenden kulturellen Exil, kommt man, erwachsen geworden, zurück, denn das Erbe muss angetreten werden, wenn die Macht der Eltern sich in Ohnmacht verwandelt hat, wenn die Metropole der Vorbildkultur zum Ruinenfeld geworden ist. Nicht im Festhalten und auch nicht im Lossagen wurde Rom zu meiner Identität, sondern im Erlebnis von Trennung und Rückkehr, einem Erlebnis, das nur die Zeit verschaffen kann, die Zeit, die der Logik nicht zugänglich und deswegen paradoxal ist. Dieses Erlebnis scheint nun nach Miłosz heute nicht mehr möglich, wenn man Rom in Rom nicht mehr suchen soll. In der Tat, es lohnt sich nicht mehr, wie früher das Erbe anzutreten, denn Rom, das Rom der Rationalität und planmäßigen Ordnung ist heute überall. Rom hat tatsächlich die ganze Welt besiegt. Im kulturellen Projekt der Neuzeit, das sich bis in das 20. Jahrhundert fortgeschrieben hat, unterlagen ihm alle nicht auf Rationalität ausgerichteten Kulturen. Nun ist die Epoche der von Rom inaugurierten Rationalität zuende gegangen, ein Ende, das die von ihr unterdrückten kleinen Völker sehnsüchtig erwartet haben. Zu dieser Deutung, die die Hegemonie Roms bis in die Gegenwart verlängert, sind einige Erläuterungen notwendig. Erstens spielt Miłosz auf den Mythos von der translatio imperii, von Moskau als dem Dritten Rom an. Die Sowjetunion, als letzter imperialer Nachfolgestaat des alten Imperium Romanum, war 1986 zwar noch nicht zerfallen, seine Hegemonie in Osteuropa geriet, zumal im Polen der Solidarność, aber schon ins Wanken. 62 Die kommunistische Ideologie als rationale Begründung menschlicher Identität (die Ökonomie bestimmt das Bewusstsein etc.) und die Überhöhung der Sowjet- 62 Die universale Botschaft des Vitalis und seiner Nachdichter betrifft nach Miłosz auch dieses Imperium. Malcom G. Smith fasst in Janus Vitalis revisited (In: Revue de Littérature Comparée 63, 1989, Nr.1, S. 69-75) die politische Botschaft des Janus Vitalis wie folgt zusammen: „The more strenuously a nation aspires to military supremacy, the more assuredly it consigns itself to ruin“ (hier S.75). <?page no="208"?> 208 union als Mutterland des Kommunismus, das die ganze Welt aus der Barbarei (des Kapitalismus) befreien muss, erscheint als letzte Transformation des römischen Staatsgedankens und des Kulturimperialismus. Auf Moskau und die Sowjetunion verweist in Epitafium insbesondere die Wendung „swoje przeglądy wojska, święta i parady“ (seine Truppenschauen, Feiertage und Paraden) an, mit der auf die Truppenaufmärsche auf dem Roten Platz zu hohen kommunistischen Feiertagen angespielt wird. „Przeglądy wojska“ enthält darüberhinaus noch eine Allusion auf Mickiewicz. In Dziady - Ustęp benutzt Mickiewicz die Beschreibung einer Truppenschau in Petersburg zur Demonstration des unmenschlichen Disziplin- und Ordnungswahns im zaristischen Imperium. Als Zwischenstufe zwischen Rom und Moskau erscheint bei Miłosz das Frankreich der Aufklärung, der napoleonischen Feldzüge, der Stadt Paris als Welthauptstadt der (rationalen) Kultur und der Salonkommunisten der fünfziger und sechziger Jahre. 63 Dieses Frankreich ist auch in Epitafium gegenwärtig: in den „Triumphbögen“ und dem „Imperatorenlorbeer“ ist auch das napoleonische Frankreich mitgemeint. 64 Auch „Ruhm“ (vgl. „chwała“ in Rue Descartes) taucht in Epitafium versteckt in der Redensart „chwała im (den Imperien) za to” wieder auf. Die Imperien fallen, und dafür sollte man sie nicht nur rühmen, wie Miłosz die gebräuchliche Lexik der Grabrede ironisiert, ihnen bleibt auch als Entschädigung für die verlorene Macht der Ruhm. Was aber verkörpert Rom für Miłosz? Er bezeichnet das Imperium mit dem gebräuchlichen allegorischen Bild der Wölfin, das sodann poetisch realisiert wird. Zunächst wird Rom damit zum unersättlichen Tier, dann gar zur Bestie. Die zur Bestie gewordene Rationalität unterwirft alles und besiegt so sich selbst. Der dann noch wahrnehmbare Atem, 65 und darin denkt Miłosz den Verweis der Vorlagen auf den Titanenkampf weiter, besteht nicht mehr aus den Ausdünstungen einer gebändigten Bestie, sondern aus den Schreien ihrer Opfer, die wir noch „in der Luft hören“. Die von Rom gehütete Macht der Rationalität hat Sinnlichkeit und Spiritualität verschüttet, aber die Schreie seiner Opfer sind noch hörbar und der bröckelige Lehm der Götterfiguren der vom (christlichen) Rom verdrängten Naturreligionen ist noch spürbar. Diese Spürbarkeit hat nichts mit der von der Avantgarde geforderten neuen Spürbarkeit zu tun, denn diese ist Selbstzweck und soll nur auf sich selbst verweisen. Lehm als Material von Götterfiguren verweist 63 Zur translatio imperii von Rom nach Paris vgl. Richard Cooper: Poetry in ruins: the literary context of du Bellay’s cycles on Rome. In: Renaissance Studies Vol. 3 Nr.2 (1989) S. 156-166, hier S.164. 64 Nicht nur Napoleon ist gemeint - für Miłosz stellt schon Du Bellays Gedichtversion diesen Bezug her: Du Bellay führt die arcz in den Kreis der erwähnungswürdigen Überbleibsel Roms ein. 65 vgl. bei Vitalis „spirent imperiosas minas“. <?page no="209"?> 209 dagegen auf die spirituelle Identität der alten Kulturen und über die Assoziation des Materials mit dem Stoff, aus dem Gott den Menschen formte, auch auf die Geschöpflichkeit des Menschen. Die Erwähnung der gleichfalls von den unterworfenen Völkern aufbewahrten Holzschilde verstärkt den Eindruck, die Mittel, die die von Rom unterworfenen Völker zu ihrem Schutz einsetzten, seien unzureichend gewesen, wie schon die bröckeligen Götterfiguren nicht gegen den übermächtigen Feind hatten schützen können. Das Holz der Schilde und der Lehm der Figuren werden in dem Gedicht jedoch als zwar vergängliche, aber dafür warme Materialien dem kalten, aber dauerhaften Marmor der imperialen Bauten gegenübergestellt. Auf diese Weise wird die Botschaft des Barockgedichts umgedreht. Nicht Roms Bauten verfallen, sie stehen fest und unverändert und bedürfen insofern keines Epitaphiums. Die Kultgegenstände der unterworfenen Völker dagegen zerfallen und bedürfen der Grabrede, die allein ihr Gedächtnis bewahrt. Und so kehrt sich auch die Funktion der Zeit um. Zunächst erscheint ihre Erwähnung bei Miłosz als deutendes Wiederaufgreifen des Bildes vom Fluss in den Versionen des Rom-Gedichtes aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Doch hier ist die Zeit auf der Seite des Vergänglichen. Sie urteilt vernichtend über das, was Dauer beansprucht. Darin trifft sich Miłosz mit seinen Vorgängern. Sie rehabilitiert aber zugleich - und das ist neu - das, was auf Dauer eigentlich nicht hoffen konnte, weil es dem schnellen Verfall preisgegeben war. War die Zeit bei Vitalis und seinen Nachahmern für den Verfall zuständig, so ist sie es bei Miłosz nicht mehr. Sie wandelt sich bei ihm vom keine Unterschiede machenden Allesvernichter zur metonymischen Bezeichnung der Nachwelt als Richter, der bestraft und belohnt. Damit wandelt sich die Zeit vom Gegner des Menschen zu seinem Verbündeten. Die Kultur im Wandel der Epochen, der Blickwinkel der Menschen im Wandel der Zeit führt zur Revidierung von Urteilen, die durch das blinde Wirken der Naturkräfte gefällt zu sein schienen. Gegen dieses Wirken hat sich die neuzeitliche Welt der Rationalität als Erbin Roms inzwischen gut gewappnet - weniger durch das Konservieren antiker Gebäude als vielmehr durch die Technisierung der menschlichen Lebenswelt. Gegen das Urteil eines neuen Denkens, einer neuen Kultur aber ist sie machtlos. Insofern ist Miłoszs Gedicht auch eine Grabrede auf die Neuzeit, und wie im Mittelalter auf dem Forum Romanum Ziegen geweidet wurden, so werden wir einst achtlos über die Götzenbilder der neuzeitlichen Kultur hinweggehen. Das vermag nach Miłosz die Zeit mit ihrem „verächtlichen, aber bedächtigen Urteil”. <?page no="210"?> 210 Janus Vitalis: Incerti Qui Romam in media quaeris novus advena Roma, Et Romae in Roma nil reperis media, Aspice murorum moles, praeruptaque saxa, Obrutaque horrenti vasta theatra situ: Haec sunt Roma: viden‘ velut ipsa cadavera tantae Urbis adhuc spirent imperiosa minas? Vicit ut haec mundum, nisa est se vincere: vicit A se non victum ne quid in orbe foret. Nunc victa in Roma victrix Roma illa sepulta est. Atque eadem victrix, victaque Roma fuit. Albula Romani restat nunc nominis index, Qui quoque nunc rapidis fertur in aequor aquis. Disce hinc quid possit fortuna: immota labascunt, Et quae perpetuo sunt agitata manent. 66 Sęp-Szarzyński: Epitafium Rzymowi Ty, co Rzym wpośród Rzyma chcąc baczyć, pielgrzymie, A wżdy baczyć nie możesz w samym Rzyma Rzymie, Patrzaj na okrąg murów i w rum obrócone Teatra i kościoły, i słupy stłucone: To są Rzym. Widzisz, jako miasta tak możnego i trup szczęścia poważność wypuszcza pierwszego. To miasto, świat zwalczywszy, i siebie zwałczyło, By nic niezwalczonego od niego nie było, Dziś w Rzymie zwyciężonym Rzym niezwyciężony (to jest ciało w swym cieniu) leży pogrzebiony. Wszystko się w nim zmieniło, sam trwa prócz odmiany Tyber, z piaskiem do morza so bieży zmieszany. Patrz, co Fortuna broi: to się popsowało, co było nieruchome: trwa, co się ruchało. 66 Antonii Termini Contursini Lucani, Iunii Albini Termini senioris, Molsae, Bernadini Rotae equitis Neapolitani, et aliorum illustrium poetarum Carmina, Venetiis M.D.LIII (Bibliotheque Nationale Paris Yc 7964), Folio 64 recto. <?page no="211"?> 211 Du Bellay: Antiquitez de Rome, 3 Nouveau venu, qui cherches Rome en Rome Et rien de Rome en Rome n’apperçois, Ces vieux palais, ces vieux arcz que tu vois Et ces vieux murs, c’est ce que Rome on nomme. Voy quel orgueil, quelle ruine: et comme Celle qui mist le monde sous ses loix, Pour donter tout, se donta quelquefois, Et devint proye au temps, qui tout consomme. Rome de Rome est le seul monument, Et Rome Rome a vaincu seulement. Le Tybre seul, qui vers la mer s’enfuit, Reste de Rome. O mondaine inconstance! Ce qui est ferme, est par le temps destruit, Et ce qui fuit, au temps fait résistance. Quevedo: A Roma sepultada en sus ruinas Buscas en Roma a Roma, ¡oh peregrino! , y en Roma misma a Roma no la hallas: cadáver son las que ostentó murallas, y tumba de sí proprio el Aventino. Yace, donde reinaba, el Palatino; y limadas del tiempo, las medallas, más se muestran destrozo a las batallas de las edades que blasón latino. Sólo el Tibre quedó cuya corriente, sí ciudad la regó, ya sepoltura la llora con funestro son doliente. ¡Oh Roma! En tu grandeza, en tu hermosura, huyó lo que era firme, y solamente lo fugitivo permanece i dura. <?page no="212"?> 212 Spenser: Ruins of Rome, 3 Thou stranger, which for Rome in Rome here seekest, and nought of Rome in Rome perceiv’st at all, These same olde walls, olde arches, which thou seest, Olde Palaces. is that which Rome men call. Behold what wreake, what ruine, and what wast, And how that she, which with her mightie powre Tam’d all the world, hath tam’d herselfe at last, The pray of time, which all things doth devowre. Rome now of Rome is th’onely funerall, And onely Rome of Rome hath victorie; Ne ought save Tyber hastning to his fall Remaines of all: O worlds inconstancie. That which is firme doth flit and fall away, And that is flitting, doth abide and stay. Opitz: Auff die verwüstete Stadt Rom Kom, der du Rom in Rom jetzt suchst o newer Gast, Und mitten doch in Rom Rom nicht zu finden hast, Schaw auf der Mawren Werck, die ungehewren Steine, Die Lustspielhäuser hier so bloß noch stehn im scheine. Diß ist Rom. Sihst du nicht wie noch diß Aas der Stadt, Der abraum gleichsam drewt, und leben in sich hat? Die Welt war nun erlegt, Rom wolt’ auch sich erlegen, Damit nichts unerlegt zu sehn sey allerwegen. Ach! Dass die Siegerinn in der besiegten ligt! Rom, ein Rom ist es nur das hat und ward besiegt. Die Tiber, die noch Rom vom Namen zeiget, bleibet, Der Fluß so diesen Tag sein Wasser Seewerts treibet. Was kann des Glückes macht! Was standhafft ist vergeht; Und was ohn unterlaß bewegt wird, das besteht. <?page no="213"?> 213 Miłosz: Epitafium Ty, co Rzym wpośród Rzyma chcąc baczyć, pielgrzymie, A wżdy baczyć nie możesz w samym Rzyma Rzymie... Sęp-Szarzyński (Według Ianusa Vitalisa z Palermo) W Rzymie, czy naprawdę warto szukać Rzymu? Imperia upadają i chwała im za to. Giną razem z przepychem marmurów ozdobnych I laurem nad czołami okrutnych cezarów. Wielbiła siebie samą niesyta wilczyca, Swoje przeglądy wojska, święta i parady, I słusznie, że jest popiół, i co nam do niego. My słyszymy w powietrzu płacz więzionych ludów, Które konania bestii widzieć nie zdążyły I niosą co zostało z drogich im pamiątek. Nie łuki triumfalne, nie okola murów, Dla nich drewniane tarcze, kruche bogi z gliny I czas, z jego wzgardliwym a nierychłym sądem. (1986) <?page no="214"?> 214 Miłosz: Rue Descartes Mijając ulicę Descartes Schodziłem ku Sekwanie, młody barbarzyńca w podróży Onieśmielony przybyciem do stolicy świata. Było nas wielu, z Jass i Koloszwaru, Wilna i Bukaresztu, Sajgonu i Marakesz, Wstydliwie pamiętających domowe zwyczaje O których nie należało mówić tu nikomu: Klaśnięcie na służbę, nadbiegają dziewki bose, Dzielenie pokarmów z inkantacjami, Chóralne modły odprawiane przez panów i czeladź. Zostawiłem za sobą pochmurne powiaty. Wkraczałem w uniwersalne, podziwiając, pragnąc. Następnie wielu z Jass i Koloszwaru, albo Sajgonu albo Marakesz Było zabijanych ponieważ chcieli obalić domowe zwyczaje. Następnie ich koledzy zdobywali władzę Żeby zabijać w imię pięknych idei uniwersalnych. Tymczasem zgodnie ze swoją naturą zachowywało się miasto, Gardłowym śmiechem odzywając się w ciemności, Wypiekając długie chleby i w gliniane dzbanki nalewając wino, Ryby, cytryny i czosnek kupując na targach, Obojętne na honor i hańbę i wielkość i chwałę, Ponieważ to wszystko już było i zmieniło się W pomniki przedstawiające nie wiadomo kogo, W ledwo słyszalne arie albo zwroty mowy. Znowu opieram łokcie o szorstki granit nabrzeża, Jakbym wrócił z wędrówki po krajach podziemnych I nagle zobaczył w świetle kręcące się koło sezonów Tam gdzie upadły imperia, a ci co żyli, umarli. I nie ma już tu i nigdzie stolicy świata. I wszystkim obalonym zwyczajom wrócono ich dobre imię. I już wiem, że czas ludzkich pokoleń niepodobny do czasu Ziemi A z ciężkich moich grzechów jeden najlepiej pamiętam: Jak przechodząc raz leśną ścieżką nad potokiem Zrzuciłem duży kamień na wodnego węża zwiniętego w trawie. I co mnie w życiu spotkało było słuszną karą, Która prędzej czy później łamiącego zakaz dosięgnie. (1980) <?page no="215"?> 215 An Heraklits Fluss Kein Essay- oder Gedichtband von Czesław Miłosz bringt so sehr das Staunen und Fragen über die geschichtliche Dimension unseres Lebens zum Ausdruck wie der 1984-1985 entstandene Gedichtband Kroniki und innerhalb dieses Bandes besonders der Zyklus Dla Heraklita (Für Heraklit). 67 Der Zyklus wirft Schlaglichter auf Erinnertes und Geschehenes, von dem den Dichter und uns die mörderische Geschichte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts trennt. Er gipfelt in sechs Vorträgen in Versen, die sich direkt an ein jüngeres Publikum wenden. Der Dichter kann seinen Blick nicht vom „Fluss des Heraklit“, der von jeher die Geschichte symbolisiert, losreißen, und er fragt sich, woher seine Passion für etwas, das es doch nicht mehr gibt, eigentlich rührt. Sein Versuch einer Antwort: Może […] wiara w inny wymiar minionego czasu, tak że cokolwiek raz minęło, zostaje przeniesione w ten inny wymiar i trwa tam na zawsze. (S. 36) Vielleicht […] der Glaube an eine andere Dimension der vergangenen Zeit, so dass, was auch immer vergangen ist, in diese andere Dimension übergeht und dort für immer andauert. Diese andere Dimension ist jedoch in keinem Fall die „große Geschichte“, die Geschichte der Verallgemeinerungen, Tendenzen und Ideen, der Gesetze, der Notwendigkeit und der Theorien. Eine solche Geschichte ist, so mahnt der Dichter im vierten Vortrag in Versen, der Feind des Menschen. Und Miłoszs Beispiele zeigen warum. Geschichte lebt in der menschlichen Beziehung zum Vergangenen, und eine solche Beziehung ist ausschließlich über das erlebte oder erfahrene Detail, über das Schicksal des konkreten einzelnen Menschen erfahrbar. Diesen Menschen und seine Situation kann es nur im Singular geben, doch die große Geschichte lockt uns mit der Mehrzahl. Sie suggeriert uns mit ihrer großen Zahl eine größere Bedeutsamkeit. 68 Dabei geht ihr jedoch genau das verloren, was die Vergangenen für uns zu Menschen, zu Dialogpartnern macht - deren Individualität, deren Einmaligkeit. Warum Anusewicz? So kommt dem Lyrischen Ich an der Bucht von San Francisco der draufgängerische, großspurige, urkomische Anusewicz aus der Gegend von 67 Erschienen im Gedichtband Kroniki, Paris 1987, S. 30-72. 68 Vgl. dazu das Gedicht Jedni i wiele aus dem Band TO. <?page no="216"?> 216 Minsk in den Sinn, der im Wilna des Jahres 1922 einer gewissen Nina den Hof machte. 69 Woher die Erinnerung? Wegen Anusewiczs fast durchsichtiger, rotgeäderter Ohren? Ist das Individualität? Nein, sondern weil sich in der Berührung zweier Schicksale Vergangenheit und Zukunft berühren. Anusewiczs Vergangenheit - als Gutsbesitzer von den Sowjets vertrieben - und Ninas Zukunft - vielleicht als Rotkreuzschwester im Weltkrieg - begegnen einander für einen Moment, und dieser Moment wird im Bewusstsein des Dichters zur Ewigkeit. In dieser Ewigkeit „segnet“ der Dichter sie beide mit einer „verspäteten Ehezeremonie“ (Zeile 35). Dabei geht es nicht darum, ob sie wirklich geheiratet haben oder auch nur theoretisch hätten heiraten können. Vielmehr kommt im metaphysischen Sinne eine Ehe gleich, dass ihre Begegnung zu einem Moment der Ewigkeit wurde. Warum Sigrid? Eine ebensolche Berührung der Schicksale hat sich in der Zwischenkriegszeit zwischen dem Lyrischen Ich und einer „germanischen“ Schönheit mit dem Namen „Sigrid 70 oder Inge“ am sommerlichen Adriastrand zugetragen. Davon handelt Gedicht Wykład II (Vortrag 2). Aus der Ewigkeit spricht der Dichter Sigrid an: „-Nie odjeżdżaj, szalona. W rzeźby hieratyczne Schroń się, w mozaiki katedr, złotobarwne zorze, Zostań echem na wodach o zachodzie słońca. Nie gub siebie, nie ufaj. Nie wzniośłość i chwała, Małpy cyrk ciebie wzywa, twój obrzęd plemienny! ”. Tak mógłbym jej powiedzieć. „Fahr nicht weg, Wahnsinnige. In heilige Schnitzereien Flüchte dich, in Kathedralenmosaike, in goldfarbene Morgenröte, Bleib als Echo des Sonnenuntergangs auf den Wassern. Stürz dich nicht ins Verderben, trau ihnen nicht. Nicht Erhabenheit und Ruhm, Ein Affenzirkus ruft dich zu sich, deine Stammes-Zeremonie“. So hätte ich ihr sagen können. Die verzweifelte Vorstellung, dass eine solche Schönheit sich später an die Nazi-Ideologie verschenkt haben könnte, anstatt in die ihr eigentlich bestimmte spirituelle Ewigkeit einzugehen, und dass man neben ihr stand und sie nicht daran hindern konnte, liest sich wie ein Kommentar zu den Sehnsüchten von Goethes Faust: 69 Anusewicz. In: Kroniki, S. 57-58. 70 Wie auch immer sie tatsächlich hieß - Miłosz kommt der Name Sigrid nicht zufällig in den Sinn, denn dieser Name für die blonde Schönheit mit dem Ruch der germanischen Herrenrasse leitet sich ab von altnordisch Sigríðr, einer Kombination von sigr "Sieg" und fríðr "schön, blond". <?page no="217"?> 217 Und Schlag auf Schlag! Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! (1698-1700) Es reicht für die Schönheit eben nicht, so könnte man folgern, die Zeit anzuhalten, damit sie zur Ewigkeit werde. Gehört die Schönheit zu den Verdammten, dann kann auch die Ewigkeit sie nicht retten. Verdammnis aber ist, Dante zum Trotz, kein individuelles, sondern ein kollektives Schicksal (Wykład II, Zeile 24-25). Sigrid wird aber doch gerettet, sie geht doch in die Ewigkeit ein. Der Dichter erlöst sie durch sein Gedicht, so wie der Guslarz in Mickiewiczs Dziady II die auf dem Friedhof beschworenen Geister erlöst. Das ist paradox, entspricht jedoch Miłoszs Konzeption der „Apokathasis“, der Erlösung aller Menschen am Jüngsten Tag. Jetzt wissen wir auch, wie sie funktioniert: wenn sich jemand in der Zukunft findet, der die Heldin wie der Prinz im Märchen erlöst, dann ist sie von der „ewigen Verdammnis“ freigesprochen. Der zweite Aspekt von unmittelbar erlebter Geschichtlichkeit, den Dla Heraklita zur Sprache bringt, ist das Wunder der Gleichzeitigkeit - und gar nicht so sehr, wie man meinen würde, die Verschiedenzeitigkeit. Die Verschiedenzeitigkeit des Verschiedenen ist normal - selbst wenn es „noch nichts gab was es geben sollte“ (Wykład I, Zeile 4-5), als der Dichter scheinbar ahnungslos durch die von Feen und Elfen bevölkerte Flusslandschaft Litauens streifte: keine Vernichtung, Krematorien, Videos, Menschen auf dem Mond. Hier wundert den Dichter nur, dass sein Leben Äonen zu umspannen scheint. Doch […] chorobliwość wieku pokwitania Odgaduje chorobę historycznej fazy, Która nie skończy się dobrze […]. (Zeile 22-24) […] die Kränklichkeit im Alter des Aufblühens Errät die Krankheit einer geschichtlichen Phase, Die nicht gut enden wird […]. Der Katastrophist vermochte den Keim des Zerfalls früh zu erspüren. Unfassbar erscheinen ihm dagegen die Gleichzeitigkeiten von überlebter Vergangenheit und bereits manifester Zukunft, z.B. die des Jahres 1913. Das ist erlebte Geschichtlichkeit - Pensionatserziehung für Mädchen als Wesenszug des 19. Jahrhunderts koexistiert mit der Entdeckung der körperlichen Lust als Dominante des 20. Jahrhunderts. Des zweijährigen Dichters Reise in eine ungewisse Zukunft in Ostsibirien koexistiert mit der Promenade seiner Kusinen am Strand von Biarritz. Die Feier der heiligen Eucharistie koexistiert mit der Uraufführung von Igor Strawinskys Frühlingsopfer. Mit dieser Komposition „trat der immer bleichere, immer körperlosere Galiläer ab“. Der „lange verbannte Dionysos“ kehrte mit einem „Schrei irdischer Wollust, den Tod zu preisen“ zurück (Pierwsze wykonanie (1913), Zeile 11). Das Bewusst- <?page no="218"?> 218 sein, dass all dies gleichzeitig war, macht eine unmittelbar sinnliche Anschauung von Geschichte möglich, ohne den Umweg der Abstraktion. Darum ist sie wahrhaftig, und darum ist sie im Medium der Kunst fixierbar. Warum der Garten des Bernhardinerklosters? Ein dritter Aspekt von unmittelbar erlebter Geschichtlichkeit ist die Anwesenheit verschiedener Zeiten an ein und demselben Ort. Um ihn geht es in dem Gedicht Bernadynka (Dla Heraklita, S. 59-60). Hinter dem Garten des Wilnaer Bernhardinerklosters, der die zeitlose Idylle der Heimat verkörpert, schäumt die Wilia vorbei als Sinnbild von Heraklits Fluss. Dahinter entfaltet der Dichter die folgende Topographie: Za nią strome góry: Trzykryska i Bekieszowa, Pierwsza tak nazwana od trzech zakonników Których w czternatstym wieku ukrzyżowali poganie.(Zeile 3-6) […] Bekieszowa góra, od Kacpra Bekiesza. Król Stefan Batory pochował tam przyjaciela, Arianina, i kazał budować grobowiec. Trzecia góra, bukiet starych drzew, Zamkowa. (Zeile 12-15) […] W 1863 wybrali tam miejsce żandarmi Żeby na zboczu cichcem grzebować powieszonych, Sierakowskiego wśród nich, dowódcę powstańczej Litwy. (Zeile 18-20) Hinter ihr steile Berge: Dreikreuzberg und Bekiesz-Berg, Der erste so genannt nach drei Mönchen Die Heiden im 14. Jahrhundert gekreuzigt haben […] Der Bekiesz-Berg, nach Kapcer Bekiesz. Könik Stefan Batory ließ dort seinen Freund bestatten, einen Arianer, und befahl ein Grabmal zu bauen. Der dritte Berg, ein Bukett alter Bäume, ist der Schlossberg. […] 1863 wählten die Gendarmen dort den Ort aus Um am Hang in aller Stille die Gehängten zu begraben, Auch Sierankowski, den Führer des Litauischen Aufstands. Die drei Berge verkörpern die drei wichtigsten Epochen der litauischen Geschichte. Der erste Berg steht für das heidnische Litauen und die späten Versuche seiner Christianisierung. Miłosz hat die Sonderstellung Litauens als letztem Heidenstaat in Europa immer wieder betont. 71 Der zweite Berg verkörpert die Glanzzeit der polnisch-litauischen Union als Großmacht, die 71 Vgl. oben S. 138. <?page no="219"?> 219 sich bis nach Siebenbürgen, der Heimat des ungarischen Fürsten Bekiesz ausdehnte, und außerdem die für Miłosz so wichtige - weil manichäistische - arianische Häresie. 72 Der dritte Berg repräsentiert den verlustreichen polnisch-litauischen Aufstand gegen die russische Besatzungsmacht und damit das zentrale polnische Trauma des 19. und 20. Jahrhunderts. Im simultanen Blick auf diese drei Berge wird die polnisch-litauische Geschichte unmittelbar sinnlich erfahrbar. Doch damit nicht genug. Dieser Ort war in der Zwischenkriegszeit kein musealer Ort geschichtlicher Abstraktion, kein Ziel des Geschichtstourismus. Vielmehr bildeten die drei Berge hinter Heraklits Fluss die Kulisse für die Lieblingsbeschäftigungen der Wilnaer Jugend - für Stelldichein und fürs Schule schwänzen. So sehr Miłosz immer wieder seine klassische Bildung am Wilnaer Gymnasium betont hat, wird hier doch augenfällig, dass die wesentliche Erfahrung der Geschichtlichkeit sich außerhalb des Klassenzimmers vollzogen hat und vollziehen musste. Die Abstraktionen des Geschichts- und Lateinunterrichts konnten nicht leisten, was der sinnlichen Wahrnehmung vorbehalten bleibt - das Erleben von Geschichtlichkeit. Dieses Erleben steht nicht in Konkurrenz zu den „unzähligen Berührungen“ der Bänke im Bernhardiner-Garten und zu der Gestalt der Mädchenbrüste“, die sich an diese Bänke schmiegten (Zeile 22-23), sondern verknüpft sich mit ihnen, da diese Brührungen in den unsichtbaren Spuren, die sie am Holz der Bänke hinterlassen haben, selbst zu Geschichte geworden sind. Warum Molche? Die komplexen Beziehungen, aus denen Geschichtlichkeit erwächst, führt Miłosz am Thema der Molche im Weckglas vor. Diese Molche sind die Helden von gleich zwei Gedichten in dem Band Kroniki - dem Gedicht W Słoju (Im Weckglas) aus dem Zyklus Sezon (Saison) und dem Gedicht Trytony (Molche) aus dem Zyklus Dla Heraklita. Warum Molche? Wie so oft bei Miłosz gibt es dafür einerseits einen Anlass (realistische Motivierung) und einen semantischen Grund (ästhetische Motivierung). Der Anlass besteht in Trytony in einer zufälligen Nachbarschaft. Neben der Fotografie, auf der der Vater mit dem berühmten Polarforscher Nansen im hohen Norden Sibiriens zu sehen ist, stand in der Küche der Wilnaer Wohnung von Familie Miłosz das Weckglas, in dem Miłosz als Schüler Molche beobachtete, die er im Teich gefangen hatte. Doch natürlich gibt es in der Welt der Dichtung keinen Zufall. So wird über die Nachbarschaft von Foto und Weckglas zunächst der passionierte Naturforscher Miłosz mit dem Polarforscher Nansen äquivalent. Der Vater, in Nordsibirien auf Jagd nach Maral-Hirschen, wird dem 72 Die manichäische Häresie verknüpft Miłosz auch in Dolina Issy und in Gdzie wschodzi sołńce i kędy zapada mit Siebenbürgen. Vgl. oben S. 121 und S. 179. <?page no="220"?> 220 Sohn über den Jagd-Instinkt äquivalent. „was upolowałem” (ich habe euch erjagt, W słoju, Zeile 7) und „niosłem do miasta, dumny s trofeum” (trug sie in die Stadt, stolz auf die Trophäe, Zeile 9). Auf der anderen Seite sind die Molche im Wasser lebende Verwandte und damit gleichsam das Gegenbild zum mythologischen Salamander, der nach Augustinus De civitate Dei und auch nach dem spätantiken Physiologus im Feuer leben kann: […] spokrewnia was Z alchemiczną salamandrą żyjącą w ogniu. (Zeile 5-6) […] macht euch verwandt mit dem alchemistischen Salamander, der im Feuer lebt. Das Gegenüber von Molch und Salamander thematisiert zum einen die „wiedza“, die Wissenschaft des lyrischen Ichs: Teraz ja z moją wiedzą, szanowne trytony (Zeile 1) zbliżam się do słoja […] Mit meiner Wissenschaft, verehrte Molche, nähere ich mich jetzt dem Weckglas […] Der Molch weckt das Interesse an Erkenntnis, 73 doch nicht nur an Erkenntnis des Naturforschers. Der Molch ist auch Salamander und damit Gegenstand des Forschers auch im Reich der Bedeutungen, der Alchemie der Worte und der Metaphysik. Doch die Äquivalenz zum Feuerwesen reicht noch tiefer. Der Salamander ist als Feuerwesen unsterblich. Und auch die Molche sind dadurch, dass sie gefangen und ins Glas gesetzt wurden, unsterblich, unsterblich wie das Bild auf der Fotografie, unsterblich wie alles, was aus dem bewusstlosen Sein in das Reich der Erinnerung und von dort in das Reich der Sprache hinübergetragen wird. Und so wird auch der Dichter dem Molch äquivalent, denn auch ihn wird eine „höhere Macht“ wegtragen. Die Komplexität, die das Gedicht W słoju vorführt, besteht nun zum einen in der Stufenleiter in der geistigen Existenz eines Wesens. Die erste Stufe führt von seinem unbewussten Leben im Teich zu seiner „Dislokation“ - es wird „in die Stadt“, also von der Natur in die Zivilisation weggetragen. Dann wird das Wesen zum Objekt der Beobachtung, daraus zum Objekt der Erinnerung, daraus zum Element der Sprache „mit einer Konjugation“, und die höchste Stufe dieser Leiter geistiger Existenz ist die Dislokation des Wesens in die Transzendenz der Ewigkeit, in den metaphysisch verstandenen Tod. 73 „Poznaję ich“, Trytony, Zeile 1 (ich erkenne sie) bezieht sich syntaktisch auf den viel später genannten Vater, auf Fridtjof Nansen sowie auf weitere Personen auf dem Foto. Zunächst bezieht der Leser aber dieses Wort unweigerlich auf die Molche im Weckglas: „Poznaję ich“ folgt unmittelbar auf das Titelwort „Trytony“, und der Leser nimmt aufgrund dieser Synchysis an, das Objekt der Erkenntnis seien die Molche, bis ihm klar wird, dass ein Foto beschrieben wird, von dem im Titel gar keine Rede ist. <?page no="221"?> 221 Die Komplexität, die das Gedicht Trytony thematisiert, liegt in der Form der Anwesenheit dessen, was war. Wie ist die Geschichte anwesend? 74 Das, was war, ist ja nicht (mehr) da, kann also nur vermittelt anwesend sein. Diese Vermitteltheit demonstriert Miłosz in Trytony durch eine Stufenleiter der Vermittlung. Das Gedicht enthält ein Erinnerungsbild, das wiederum eine Fotografie enthält. Das Foto, das für „Verewigung“ eines Moments steht, existiert nur in einem größeren Bild, das seine Umgebung, die Küche in Wilna, mit umfasst. Das Glas mit den Molchen, eigentlich Hauptgegenstand des Gedichtes, verdankt sein Aufbewahren in der Erinnerung dem Zufall, mit auf das „Erinnerungsfoto“ vom Vater gekommen zu sein, das sich eingeprägt hatte, gleichsam als Schmuggelware der Erinnerung. Komplex ist aber auch die räumliche Struktur. 75 Da ist zunächst die sibirische Tundra auf dem Bild in der Küche, die ländliche Idylle des schilfbewachsenen Teiches repräsentieren die Molche gleich daneben, beides befindet sich aber in Wilna, dem barocken „Jerusalem des Nordens“, und dies alles ist wiederum enthalten in der Erzählgegenwart eines „kalifornischen Frühlings“ (Zeile 15). Diese Komplexität löst beim Lyrischen Ich Unruhe aus, denn sie fügt sich nicht zu einer Einheit. Doch Einheit muss hier gar nicht sein, Beziehung vermag sie zu ersetzen. Alle diese Räume und Zeiten sind aufeinander bezogen, nicht nur durch das Bewusstsein des Lyrischen Ichs, sondern auch semantisch. Hier konkurrieren Versionen der Idylle miteinander - die Küche, der versteckte Teich, die unberührte Natur Sibiriens, die unberührte Natur Kaliforniens. Geschichtlichkeit wird angetrieben von der Dislokation, die eine nie endende Suche nach der Idylle nach sich zieht. Diese Idylle kann es wie jede Idylle aber nur geben, wenn in ihr schon der Keim der Gefährdung oder des Verlustes steckt, wie im Litauen von 1811 oder im Litauen von 1925. Geschichte muss im Bewusstsein nicht unbedingt, so kann man zusammenfassend aus den Gedichten in Kroniki folgern, als Last oder Ballast anwesend sein - nicht als Trauma, aber auch nicht in der Form von ideologielastigen Denkmälern oder Geschichtsbildern, die von Institutionen gehütet werden. Im Dialog, als Chance, ihm zu begegnen und an ihm zu wachsen, begegnet uns das Vergangene in Spuren, die man entdecken muss, in der Gleichzeitigkeit des Verschiedenzeitigen, die man sich klar machen muss, sowie als Bild im Bild, das man realisieren muss. Wenn wie uns auf diese Weise dem Vwergangenen zuwenden, „überfällt“ es uns nicht, sondern ist seinerseits offen für den Dialog. 74 Mit diesem Problem beschäftigt sich auch die Geschichtstheorie. Vgl. Eelco Runia: Presence. In: History and Theory 45 (1), 2006, S. 1-29. 75 „Jakie pomieszanie […] miejsc“, Zeile 14 (Was für eine Verwirrung […] der Orte). <?page no="223"?> 223 Miłoszs Vermächtnis DAS Von Gedichten aus dem Band TO (DAS) 1 war im Verlauf dieses Buches immer wieder die Rede. Diesen Gedichtband kann man als das Hauptwerk der deutlich abzugrenzenden Spätphase im Werk des Dichters ansehen, für die die folgenden Merkmale charakteristisch sind: - Eine geradezu gemeißelte Klarheit und Einfachheit von Lexik und Syntax, - Der Gestus der radikalen Unzeitgemäßheit, ohne Rücksicht auf literarische Trends oder politische Korrektheiten, - Eine Tendenz zur Selbstanalyse, allerdings ohne Selbstverurteilung - die eigenen Motive und Überzeugungen werden lediglich explizit als Motive und Überzeugungen gekennzeichnet, - Eine Tendenz zu expliziter Metapoetik, eine ins Ekstatische gesteigerte Sinnlichkeit, die auch Erotik einschließt, ohne aber ein sexuelles Begehren zu implizieren. Diese Merkmale geben dem Spätwerk des Dichters, und darin insbesondere den Gedichten in dem Band TO, eine große Intensität und Präsenz, die man dem 90-jährigen Schriftsteller gar nicht mehr zugetraut hatte. Aus dem Band TO wollen wir uns nun noch die Deutung des Titelgedichtes vornehmen. 2 Es handelt vom Verleugnen. Was hatte der Dichter, wie er in TO bekennt, siebzig Jahre lang verleugnet? Er gibt es auch in dem Gedicht TO zunächst nicht preis: A pod spodem było TO, czego nie podejmuję się nazwać. (Zeile 18) Aber darunter verbarg sich DAS, das ich nicht auf mich nehme zu benennen. Das rhetorische Verfahren, das worum es eigentlich geht, ausdrücklich zu verschweigen und durch ein Demonstrativpronomen zu ersetzen, hat einen großen Aufforderungscharakter. Man soll erraten, was sich dahinter verbirgt. In der Tradition dieses Verfahrens bieten sich mehrere mögliche Motivierungen an. Da ist zum einen das Rätselspiel, dem jedoch hier der bittere Ernst widerspricht, mit dem in dem Gedicht über DAS gesprochen wird. Zweitens kann die Motivation in gesellschaftlichen Tabus liegen. Dafür spräche die Zeile 1 Kraków 2001. 2 Ebd. S. 7-8. <?page no="224"?> 224 Bo nie może podobać się ludziom Ten, kto sięga po zabronione. (Zeile 11-12) Denn den Leuten kann nicht gefallen Der, der nach dem Verbotenen greift. Aber es wird nicht klar, um welches Tabu es sich handeln könnte. Warum also hat der Dichter DAS verleugnet? Das hängt zusammen mit dem nie gelösten Konflikt des Dichters zwischen seiner ekstatischen Begeisterung für das Dasein und seiner Beschwörung einer bösen Wirklichkeit, der wir uns als Menschen widersetzen müssen. In TO wird dieser Konflikt zum Paradoxon. Wir sehnen uns nach einem Sinn für unsere kurzlebige Wirklichkeit (die „leicht brennbare Städte“, die „kurzen Lieben“, den Schmuck, die weibliche Schönheit, die Liebe und den Krieg), und der Dichter soll uns diesen Sinn bereitstellen. Was wir nicht wissen oder nicht wissen wollen: unsere Wirklichkeit erwirbt diesen Sinn nur um den Preis der existenziellen Gefährdung. Das namenlose Entsetzen, mit dem TO in dem Gedicht verglichen wird, muss dabei nicht auf ein Erlebnis des Dichters zurückgehen. Es geht vielmehr um die generelle Fähigkeit des Dichters, angesichts der Wirklichkeit den Schrecken des Ausgeliefertseins zu erleben. Sinn ist nicht das, worin wir es uns gemütlich eingerichtet haben, sondern das, was neu entsteht, wenn wir den Schrecken der Wirklichkeit an uns heranlassen. Die Existenzialisten, denen Miłosz in TO sehr nahe kommt, identifizieren diesen Schrecken als das Bewusstsein vom unvermeidlichen Tod. Indem er alles, worin wir uns einrichten, in Frage stellt, schafft er die Voraussetzung für Transzendenz, die einzige Quelle wahrhaftigen Sinns. Gerade die „extatischen Lobgesänge des Seins“ gehen auf diese Quelle des Sinns zurück. Ohne Überwindung des Entsetzens angesichts der Welt kann es ihn und damit wahre Schönheit, die in Extase versetzt, nicht geben. Das nicht ausdrücken zu können, was „in einem sitzt“ (Zeile 1), ist ein alter literarischer Topos. Bekannt sind die lyrischen Ausrufe der russischen Dichter Tjutčev und Fet: „Ein ausgesprochener Gedanke ist Lüge! “ und „wenn sich doch die Seele direkt aussprechen könnte! “ Hier jedoch geht es, anders als bei den russischen Spätromantikern, nicht um die Unübersetzbarkeit des Seelischen in eine dafür ungeeignete oder zumindest unzuverlässige Sprache. Die Sprache ist im Gegenteil für Miłosz treue Begleiterin und Heimat, obwohl diese Sprache vom polnischen Volk mehr als einmal missbraucht und vergewaltigt worden sei. 3 Nein, hier geht es um eine Verdrängung, an der die Sprache ganz unschuldig ist, obwohl sie mit den Mitteln der Sprache erfolgt; eine kollektive Verdrängung von Angst. Diese Verdrängung 3 So äußert sich das Lyrische Ich in dem Gedicht Moja wierna mowo über seine Muttersprache. Entstanden ist das Gedicht 1968 in Berkeley, publiziert in Miasto bez imienia, Paris 1969. <?page no="225"?> 225 führt nun aber in die Idylle, die Miłosz in seinem Werk produziert. Die Voraussetzung dieser Idylle ist also der Schrecken. Flüsse, Seen und Täler, vom Lyrischen Ich als Zeugen aufgerufen, skizieren diese Idylle in TO. Doch wenn der Dichter bekennt, seine Extasen (angesichts der Schönheit der Natur) seien „vielleicht nur Übungen in hohem Stil“ (Zeile 16-17), welche Rolle spielt im Verhältnis dazu die idyllische Natur, die zuvor mit dreifacher Formel beschworen wurde? Ist sie ein trügerischer Schein? Um diese Frage zu beantwortern müssen wir die idyllischen Bilder an dieser Stelle analytisch aufschlüsseln. Flüsse, Stege im Schilf und Lieder, die im Tal erschallen, sind aus früheren Gedichten von Miłosz bekannt. Flüsse sind bei ihm immer auch Symbol der unumkehrbar verfließenden Zeit. Die Flüsse, in denen der Dichter „selbst schwamm“, stehen für seine eigene verfließende Lebenszeit. Man badet nicht zweimal in demselben Fluss. Die „Stege im Schilf der Seen“ sind Pfade und Brücken durch unwegsames Gelände. Auch hier wird der Lebensweg des Dichters evoziert. Im Schilf versteckte sich die Ente, die Tomasz in Dolina Issy mit seinem Gewehr verschonte. So wurde auch der Dichter von seinem mörderischen Jahrhundert verschont, um es zu durchleben und zu beschreiben. Das Tal mit dem Abendlicht und dem Echo der Lieder schließlich ist semantisch komplizierter als man vermuten würde. Das Abendlicht ist in diesem Satz Subjekt, 4 und so ist es der Sonnenuntergang, der etwas zurückwirft oder spiegelt (wtórzy). 5 Damit ist das Sonnenlicht hier das Echo eines Echos, nämlich des Echos der Lieder im Tal. Damit dreht Miłosz die Symbolik von Platons Höhlengleichnis genau um: [Wenn jemand aus der Höhle befreit] jene Dinge anschauen könnte, deren Schatten er vorhin zu sehen pflegte: was würde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, daß er vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen, daß er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man ihm dann nun auf jeden der vorüberwandernden wirklichen Gegenstände zeigen und ihn durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was er sei, - glaubst du nicht, daß er ganz in Verwirrung geraten und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche er jetzt gezeigt bekomme? 6 4 Nicht umgekehrt wie in DAS, aus dem Polnischen von Doreen Daume, München 2004 S.7. 5 „Wtórzyć” ist nach dem großen Wörterbuch von Samuel Bogumil Linde nicht die vollendete Form zum Verb „wtórować”, das das Begleiten beim musikalischen Vortrag zum Ausdruck bringt (Daume übersetzt „begleitet“), sondern bezeichnet als ebenfalls unvollendetes Verb einen sekundären Effekt wie Spiegeln oder Zurückwerfen. 6 Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 5 Der Staat, Leipzig 1920, S. 270. <?page no="226"?> 226 Bei Miłosz aber ist das Sonnenlicht das Echo, der Abglanz, und zwar wiederum von einem Echo, nämlich vom Echo der im Tal erschallenden Lieder. Schönheit entspringt im menschlichen Lied, die Schönheit der Natur liegt darin, dass sie dieses Lied wie ein Echo zurückwirft. In diesem Lied liegt der Ursprung für die Überwindung des Schreckens, den die Natur und auch die Menschen mit ihrer Macht, Gewalt und Grausamkeit hervorrufen. Die „Rettung“ der Welt liegt in der „Stilübung“ des Benennens. Wird damit die Grausamkeit der Welt verdrängt, ignoriert? Keineswegs. Sie ist ständig da, nur „pod spodem“, also unter der Oberfläche. Der Dichter überwindet sowohl die Banalität als auch die Grausamkeit, indem er die menschliche Existenz als Kampfplatz zwischen Gut und Böse, zwischen Banalität und „hohem Stil“ sieht. Wenn wir uns auf diese ideelle Topographie einlassen, verschwindet „DAS“ zwar nicht, aber es entsteht neben ihm, ihm zum Trotz eine Sphäre wahrhaft menschlicher Existenz. Das Theologische Traktat Der Gedichtzyklus Traktat teologiczny (Theologisches Traktat) ist das letzte umfangreiche Werk von Czesław Miłosz. Er erschien 2002 zunächst in einer Zeitschriftenversion mit einem Vorwort des Autors und dann im selben Jahr ohne das Vorwort in dem Gedichtband Druga przestrzeń (Der andere Raum), in dem er etwa ein Drittel einnimmt. Miłosz hat an diesem Traktat nach Auskunft von Aleksander Fiut, der in dieser Zeit gemeinsam mit dem Dichter an der Ausgabe der gesammelten Werke gearbeitet hat, jahrelang gefeilt. Obwohl Miłosz nach diesem Band noch eine ganze Reihe weiterer Gedichte verfasst hat, hat das Theologische Traktat aufgrund des theoretischen Anspruchs, der in dem Titel zum Ausdruck kommt und aufgrund der expliziten metapoetischen und metakulturellen Reflexionen den Charakter eines Vermächtnisses seines 2004 gestorbenen Autors. Es schließt an das Moralische Traktat und das Poetische Traktat an, die beide in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Die Intention eines solchen Traktats konnte für Miłosz nicht sein, katholische Dogmen zu verteidigen oder sich an innerkirchlichen Diskussionen über die christliche Lehre zu beteiligen. Er geht mit diesem Traktat aufs Ganze, er will demonstrieren, dass es eine dogmatische, eine autoritätsgläubige, eine infantile, eine nationalistische Religiosität zwar gibt, dass es aber für unser Nachdenken über unser Verhältnis zur Natur, zu anderen Menschen und zum Tod letztlich keine Alternative zum Glauben gibt. Hauptantagonist seiner Argumentation ist wiederum Charles Darwin, den er spöttisch als gescheiterten Theologen tituliert. Seine Hauptgewährsleute sind Jakob Böhme und Adam Mickiewicz, aber auch Schopenhauer. <?page no="227"?> 227 Im Weiteren soll es zunächst um die zyklische Komposition des Traktats gehen und dann um einzelne Gedichte. Zunächst könnte man eine Zyklizität der drei von Miłosz im Laufe seines Lebens publizierten Verstraktate vermuten. Bildet die Reihe von Moralischem Traktat (verfasst 1943, publiziert 1953), Poetischem Traktat (1957) und Theologischem Traktat (2002) ein Tryptichon? Als in Versen verfasste Traktate verbindet sie der etwas anachronistische Anspruch auf einen intellektuellen und zugleich poetischen Diskussionsbeitrag sowie der Verdacht einer klassizistischen Stilisierung. Doch schon das Moralische Traktat ist, wie oben erläutert, keine Stilisierung, und es ordnet sich ebenso wenig wie das Poetische Traktat dem klassizistischen Primat der Rationalität unter. Vielmehr lebt das Moralische Traktat vom Spannungsverhältnis zwischen Rationalität und Sinnlichkeit und das Theologische Traktat von der Spannung zwischen gut und böse. Das Poetische Traktat dagegen lebt von der Polemik, der Stilisierung vieler fremder Stimmen, der Abrechnung. So setzt Miłosz darin z.B. der kommunistischen Propaganda vom „siegreichen Oktober” eine große Oktober-Ode entgegen mit dem Ziel, dass die Namen der Monate von der ideologischen Vereinnahmung befreit würden: Nazwy miesięcy niech tylko to znaczą Co znaczą. W żadnej grom armat "Aurory" Niech nie trwa. 7 Die Namen der Monate sollten nur das bedeuten was sie bedeuten. In keinem soll der Geschützdonner der „Aurora“ mehr andauern. Miłosz greift hier Jan Lechońs bekannte Polemik auf gegen die Vereinnahmung des Frühlings für die polnische politische Befreiungsrhetorik: A wiosną - niechaj wiosnę, nie Polskę, zobaczę. 8 Im Frühling lasst mich Frühling sehen, nicht Polen. Wenn wir die drei Traktate nach ihrer kommunikativen Ausrichtung gruppieren, dann kommt somit dem poetischen Traktat eine Sonderrolle zu. Den im Titel genannten Gegenstandsbereichen nach zu urteilen steht dagegen das Moralische Traktat im Zentrum. Für Miłosz kann die Moral, also die innere Haltung des Menschen, einerseits poetisch und andererseits theologisch begründet werden. Allerdings enthält sowohl das moralische als auch das theologische Traktat viele metapoetische Argumente. Formal unterscheidet sich das Theologische Traktat von seinen beiden Vorgängern durch den Verzicht auf die starke kompositorische Einheit. Das 7 Traktat poeycki, Teil 4, Natura, in: Dzeła zebrane, Wiersze Band 2, Kraków 2002, S. 243. 8 Aus dem Gedicht Herostrates, in: Jan Lechoń, Poezje, Wrocław u.a. 1990, S. 3-5, hier S. 5. Miłosz zitiert diese Zeile im zweiten Teil (Stolica) des Poetischen Traktats. <?page no="228"?> 228 Theologische Traktat ist als Gedichtzyklus freier, zugleich aber auch thesenhafter als die durchkomponierten anderen beiden Traktate. Dabei ordnen sich die 23 Gedichte des Theologischen Traktats auf zweierlei Weise - nach dem klassischen rhetorischen Prinzip der Redeteile sowie nach einer inneren Logik der Argumentation. Dazu kommt die - auch symbolisch relevante - Durchnummerierung und das Prinzip der Titelgenerierung aus den ersten Worten des Gedichts. Dieses letztere Prinzip hat sein Vorbild in der Edition antiker Texte, die in der Regel ohne Titel überliefert sind. Dieser Kunstgriff dient nun aber nicht der Stilisierung der Gedichte als pseudoantik, sondern dem Verweis auf das semantische Gewicht der Eingangsworte in jedem Gedicht, also auf ein kompositorisches Prinzip mit Bedeutungskonsequenzen. Diese Funktion wird dadurch deutlich, dass das Prinzip bei Gedichten durchbrochen wird, bei denen das semantische Gewicht nicht ganz am Anfang liegt wie in Gedicht 6 mit dem Titel Na próżno (Vergebens), der erst zu Beginn der zweiten Zeile auftaucht, aber ganz offensichtlich größeres semantisches Gewicht aufweist als das „Sześcioletni” (als Sechsjähriger), mit dem die erste Verszeile beginnt. Ebenso in Gedicht 14, wo das „Coś się narodził“ (Etwas ward geboren) aus dem Motto den Vorzug erhält vor dem „Ktokolwiek“ (Wer auch immer) der ersten Zeile. Das große semantische Gewicht der Gedichtanfänge unterstützt den thesenhaften Charakter des Theologischen Traktats im Unterschied zu seinen Vorgängertraktaten. Als rhetorisches Schema des Traktats ergibt sich die nachstehende Abfolge der Redeteile: 1. Exposition (Gedicht 1-5) - sie besteht aus: Begründung des Themas, Anlass der Rede, Abgrenzung gegen andere Positionen, Begründung der Wahl des Stils, Benennung der Tradition, in die man sich stellt. 2. Präsentation der Themen (Gedicht 6-11) - hier werden Gedicht für Gedicht die Positionen vorgestellt, innerhalb derer sich das Traktat bewegt - Positionen, für die konkrete Vorbilder benannt werden: Swedenborg, Mickiewicz, Jakob Böhme. 3. Narratio (Gedicht 11-14). Sie wird mit dem auf klassische Weise Narration ankündigenden Wort „według“ (nach) eingeleitet. 4. Peroratio, d.h. „Überredung“ (Gedicht 16-22), angekündigt durch „Tak naprawdę” (Ja wirklich). Der Zyklus schließt mit einem Widmungsgedicht an die Jungfrau Maria (Gedicht 23). Das rhetorische Schema ist nicht so offensichtlich, wie es in dieser Rekonstruktion erscheint. Die Abfolge der Themen und Gedanken und die Form ihrer Verarbeitung erscheinen auf den ersten Blick locker, fast assoziativ, wie in einem Gespräch. Die Reihenfolge der Themen gehorcht darüberhinaus der folgenden Logik. Auf die objektive, philosophische Begründung für den gewählten Gegenstand im ersten Gedicht folgt im zweiten die Erläuterung der subjektiven <?page no="229"?> 229 Motivation des Dichters. Die Gegensätze zwischen der eigenen Intention und den Intentionen seiner Umwelt thematisiert der Dichter im dritten Gedicht. Deutliche Polemik gegen die Rhetorik der Kirche sowohl in ihrer Theologie als auch in ihrer Botschaft an die Gläubigen enthält das vierte Gedicht, während das fünfte den polnischen Umgang mit der eigenen literarischen und religiösen Tradition kritisch beleuchtet. In der Exposition versucht Miłosz insgesamt, die nach seinen eigenen Worten schwierige Aufgabe zu lösen, einen mittleren Stil zu finden zwischen frömmelnder und weltlicher Rede sowie den intellektuellen Anspruch des Textes in der Mitte zwischen hohem Abstraktionsgrad und Plauderei zu halten. Im zweiten Redeteil werden nacheinander die folgenden Themen exponiert: Das Verhältnis des Menschen zur Natur und ihrem unbarmherzigen Gesetz (Gedicht 6), die Distanz des Dichters zu literarischen Moden und seine Nähe zu Mickiewicz (Gedicht 7), das Verhältnis von Geschichte und Erinnerung (Gedicht 8), die Antworten der Gnostik und Mystik auf die Frage nach der Güte Gottes angesichts der physischen Beschaffenheit des Universums (Gedicht 9) sowie Erklärungen für die Existenz des Bösen und des Todes in der Welt (Gedicht 10). Das letztere Motiv, also das Auftauchen des Bösen in der Welt, entfaltet sodann die Narratio. Hier entfaltet der Dicher ein Thema, das er in Ziemia Ulro zum Programm erklärt, in jenem Buch aber nicht eingelöst hatte. 9 Die Narratio des Theologischen Traktats referiert zunächst den Mythos von der Erbsünde Adams und Evas (Gedichte 11 und 12). Diese Erbsünde wird sodann mit der Hybris des Menschen existenziell begründet (Gedicht 13). Das vierzehnte Gedicht demonstriert, wie der Mensch sich der Macht des Bösen ausliefert, indem er sich der diabolischen Gesetzmäßigkeit der Natur außer sich (dem Triumph der Starken über die Schwachen) und in sich (dem eigenen Willen) unterwirft, und was ihn davon erlöst - die christliche Botschaft, aber z.B. auch die buddhistische (Gedicht 14). Im fünfzehnten Gedicht schließlich wird die Fähigkeit des Menschen zu Mitgefühl, Barmherzigkeit und Mitleid der Kälte des Kosmos und der Unbarmherzigkeit der Natur entgegengestellt. Die Perorario stellt zunächst klar, dass solche Wahrheiten nicht der subjektiven Sicht des Dichters entspringen. Bilder, die ihm wie Bruchstücke eines hypothetischen Ganzen zuströmen, formen sich zu einem Tanz (Gedicht 16). Den Dichter verbindet mit Hiob, so Gedicht 17, die Frage, nach welchem Recht er Unglück zu erdulden hat, doch er geht über Hiob hinaus: das Leid ist die Strafe für die eigene Existenz. Allerdings, so Gedicht 18, ist der Tod eine unverhältnismäßige Strafe für ihre lächerlichen Übungen der Menschen in Selbstlob und Treulosigkeit. An kochenden Teer als Strafe für die Sünden glauben auch die Christen nicht mehr. Die Hölle sollte man sich 9 Vgl. oben S. 9. <?page no="230"?> 230 eher, so Gedicht 19, als schlechtes Karma vorstellen. Transzendenz als Grenzüberschreitung beschreibt Gedicht 20, die eigene Biographie wird in Gedicht 21 als unausweichliche Berufung gedeutet, die manches Unglück schuf, aber dennoch des Dichters Dankbarkeit verdient. Eine Geste der Versöhnung mit den Menschen schwachen Glaubens wie auch mit denen, die unreflektiert nur den religiösen Ritus vollziehen, liegt in Gedicht 22, und der Hymnus an die Jungfrau Maria schließt das Traktat ab. Mit der Zahl von 23 Gedichten symbolisiert der Zyklus insgesamt die Unvollkommenheit des dichterischen Schaffens angesichts der göttlichen Vollkommenheit, die im Vielfachen von zwölf zum Ausdruck käme. Czesław Miłoszs Theologisches Traktat hat insgesamt das Ziel zu demonstrieren, dass und wie der Wert des Menschen und seine Verbundenheit mit Gott sich gegenseitig bedingen. So hängt, wie das erste Gedicht demonstriert, Wirklichkeit von Wahrheit und von Sinn ab. Dieser Bezug ist im 20. Jahrhundert verloren gegangen und muss wieder hergestellt werden. Das Erste, das, so Gedicht 1, das Erste zu sein hat, ist die Wahrheit, die aber ebenso wie die Wirklichkeit nicht vernunftimmanent zu ermitteln ist. Wahrheit braucht einen absoluten Bezugspunkt außer sich selbst, braucht Sinn, und der muss dem Menschen geschenkt werden. Miłosz spielt in Gedicht 1 indirekt auf den Dialog zwischen Jesus und Pontius Pilatus an: Jesus antwortete: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“. Pilatus sagte zu ihm: „Was ist Wahrheit? “ (Joh. 18, 37-38). Das Zeugnis ablegen für die Wahrheit ist nach Miłosz auch Sache der Dichtung. Sie fliegt „wie ein erschrockener Vogel […] gegen eine durchsichtige Scheibe“. Dieses Bild kombiniert die zwei Dimensionen, die Miłosz sich immer hartnäckig geweigert hat zu trennen - sinnlich erfahrbare Wirklichkeit und metaphysisch erfahrbare Transzendenz. Das Realitätsprinzip, das für uns den Kontakt zur Wirklichkeit aufrechterhält, kommt in dem harten Aufprall des Vogels zum Ausdruck. Der Flug der Phantasmagorie endet abrupt in der Wirklichkeit. Die Transzendenz kommt darin zum Ausdruck, dass die Scheibe, gegen die wir prallen, durchsichtig ist, dass es also einen Raum jenseits der Scheibe gibt, den wir sehen und zu dem wir streben. Miłosz lässt keinen Gegensatz zu zwischen seinem Sinn für die Wirklichkeit und seinem Hang zur Metaphysik. Der direkte Bezug zur Wirklichkeit ist metaphysisch, und die Metaphysik verschafft überhaupt erst Zugang zur Wirklichkeit - diesen Grundsatz schreibt Miłosz all jenen ins Stammbuch, die einen platten Gegensatz zwischen Realismus und Metaphysik propagieren. Das Theologische Traktat thematisiert jedoch auch die Anmaßung, die man darin sehen könnte, mit einem Traktat andere Gläubige zu belehren, sie herabzusetzen oder den Glauben der polnischen Landsleute zu kritisieren. <?page no="231"?> 231 Diesem möglichen Vorwurf setzt der Dichter das zweite Gedicht entgegen. Es appelliert an den Internationalismus des katholischen Glaubens und an sein intellektuelles Potential. Beides schützt den Glauben auch vor einer nationalen Vereinnahmung: Łatwiej było powtarzać z innymi modlitwy po angielsku w kościele Świętej Magdaleny w Berkeley. (Gedicht 2, Zeile 11-12) Leichter war es mit den anderen die Gebete auf Englisch zu wiederholen in der Kirche der Heiligen Magdalena in Berkeley. Das Englische als Weltsprache verweist auf den Internationalismus der Kirche, Berkeley als Universitätsstadt auf das intellektuelle Potential innerhalb der Kirche. Dort, an der Bucht von San Francisco, fiel die Entscheidung, ein theologisches Traktat zu schreiben, sie hatte mit dem polnischen Katholizismus und seinen Besonderheiten nichts zu tun. Dies illustriert Miłosz auch mit Hilfe des Scheideweg-Topos: der Dichter musste sich am Autobahndreieck für die Spur nach San Francisco oder die Spur nach Sacramento entscheiden. Nach der Etymologie der Ortsnamen also zwischen einer Religiosität, die die heiligen Sakramente der Kirche in den Mittelpunkt stellt, und einer Religiosität, die wie die des Heiligen Franz von Assisi vor allem im intensiven Dialog mit den und in der Barmherzigkeit gegenüber den Mitgeschöpfen lebt. Wie wir wissen, ist Miłosz auf die Spur nach San Francisco eingebogen. Der Zyklus spart nicht mit Kritik an einer Religiosität der leeren Rituale, der Verniedlichung des Jesukindleins, der Erziehung des Kirchenvolkes zur Unmündigkeit und der Neigung zum Prunk innerhalb der Kirche. Er führt vor, dass christlicher Glaube durchaus eine Option für Intellektuelle ist, jedenfalls für solche, die ihre Existenz von mehr bestimmt sehen als von der Biologie. Ein theologisches Traktat in Versen zu schreiben ist natürlich nicht nur unzeitgemäß, es ist eine Provokation des Leserpublikums. Dieses Publikum hat sich, zumindest in Polen, tatsächlich provozieren lassen. Es stieß sich an dem elitären Gestus des Traktats, der z.B. im dritten Gedicht zum Ausdruck kommt: Może byłem jak mnich w śródleśnym klastorze, który patrząc przez okno na rozlewiska rzeki, pisał swój traktat po łacinie, w języku niezrozumiałym dla wieśniaków w baranich kożuchach. (Zeile 7-10) Vielleicht war ich wie ein Mönch in der Waldeinsamkeit des Klosters, der durchs Fenster auf das vom Fluss überschwemmte Land schaute und sein Traktat auf Latein schrieb, in einer unverständlichen Sprache für Dörfler in Schafpelzen. <?page no="232"?> 232 Zwar suggeriert die Vergangenheitsform eine nicht mehr aktuelle Einstellung, aber die Verwendung des Wortes „Traktat“ macht klar, dass der Dichter hier auch seine aktuelle Kommunikationssituation thematisiert. Einige Rezensenten in Polen verwahrten sich dagegen, als ungebildete Dörfler tituliert zu werden. Es geht hier ja nicht um Lateinkenntnisse. Nun ist tatsächlich Hochmut (pycha) die Sünde, derer sich das lyrische Ich im zweiten Gedicht des Zyklus für schuldig befindet. Allerdings will der Dichter diese Sünde, so heißt es weiter, durch das Verfassen des Traktats sühnen. Allerdings ist das Traktat dennoch Ausdruck der elitären Haltung seines Autors. Doch der Dichter bekennt sich nicht der elitären Haltung gegenüber den Menschen, sondern des Hochmutes gegenüber Gott, also der Hybris, für schuldig. Das dritte Gedicht der Exposition ist außerdem geprägt von markanten semantischen Oppositionen am Verszeilenende. Der Dichter markiert damit seine Differenz zur „Volksreligion“ in Polen. Er stellt seine „Häresie“ dem vermeintlichen Besitz der Wahrheit gegenüber, sein religiöses Suchen, das in der Häresie zum Ausdruck kommt, der selbstzufriedenen Glaubensgewissheit und den Formeln der Liturgie die wissenschaftliche Theologie. Der Dichter stellt sich in die sprachliche Tradition sowohl des Lateins der Mönche des Mittelalters als auch des Französisch der Gedichte Baudelaires. Damit hebt er die Opposition zwischen Ethik und Ästhetik, zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen kirchlichem und weltlichem Intellektuellen auf. An ihre Stelle tritt die Hierarchie zwischen geistiger Unbildung und geistiger Bildung. Geistige Bildung ist aber ausdrücklich weder dem Fortschritt zu verdanken, d.h. die mittelalterliche Bildung ist der modernen Bildung ebenbürtig, noch haben Bildung und Unbildung etwas mit dem Gegensatz zwischen Stadt und Land zu tun. So steht das Kloster im Wald mit der urbanen Dichtung Baudelaires gegen die Dörfler in Schafspelzen und auch gegen staubige Straßen in der Stadt. Die praesentatio, der zweite Redeteil des Traktats, ist geprägt von Gegensätzen. In einer Zeit, in der die „Manifestation des eigenen Ich“ (Gedicht 10) der einzige noch verbliebene Maßstab des Menschen zu sein scheint, zeigt man paradoxerweise durch Demut gegenüber Gott Hochmut gegen die Menschen, während man durch Hochmut gegenüber Gott dem Menschen seine Reverenz erweist. Die Selbstanalyse ergibt hier: wenn man den Menschen als einen Wert betrachtet, dann muss man sich dieses Wertes als würdig erweisen, und daraus folgt die „strenge Hierarchie im geistigen Leben“, auf die der Dichter, wie wir gesehen haben, in dem Gedicht „Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt“ insistiert. Die Tatsache, dass in dem Traktat der Mönch eine Sprache verwendet, die der Dörfler im Schafspelz nicht versteht, scheint den Dörfler herabzusetzen. Theologie jedoch, verstanden als Definieren der Beziehung des Menschen zu Gott, setzt eine Perspektive der radikalen Selbstanalyse voraus - einen Meta-Blick, der auch die Perspektive Got- <?page no="233"?> 233 tes auf den Menschen zu berücksichtigen hat. Die Schafspelze, in denen die Dörfler herumlaufen, verweisen nicht nur auf Primitivität, sondern auch darauf, dass die Menschen in ihrer biologischen Natur verhaftet bzw. an sie verloren sind. Im Schafspelz ist ein intellektueller Meta-Blick nicht möglich und bei einem Anderen auch nicht nachvollziehbar. Er ist aber notwendig. Die polnischen Dörfler werden in Gedicht 22 dann aber doch auf eine subtile Weise gerechtfertigt. Zwar sieht der diagnostische Blick von Gedicht 2 ihre Verdrängung, ihre „Stammesmythen“ und ihre Komplexe. In Gedicht 22 fühlt sich der Dichter aber dennoch als Teil der betenden Menge, und das mit der folgenden Begründung: Ponieważ oni wierzą, pomogają mi wierzyć w ich własne istnienie, istot niepojętych. (Zeile 4-5) Weil sie glauben, helfen sie mir zu glauben an ihr eigenes Sein, unbegreiflicher Wesen. Miłosz spielt hier mit einer Interferenz zwischen Verszeile und Syntax. Die Verszeile suggeriert zunächst einen kollektiven Charakter des Glaubens, ein für Sekten typisches sich gegenseitig Bestärken. Dann realisiert man, dass das zweite „glauben“ ein eigenes Objekt und damit eine ganz andere Bedeutung hat als das erste. Der religiöse Glaube der Masse verhilft dem Dichter zur Anerkennung von deren Sein. Allein dieser Glaube vermittelt ihm, dass sie nicht bloß aus Ressentiments und dumpfen Nationalismus bestehen, sondern dass es ein göttliches Geheimnis bleibt, wie sie außerhalb meiner selbst als Menschen existieren. Elitär ist das Traktat also notwendigerweise, da hier Fragen gestellt werden, die Andere nicht stellen können oder wollen, obwohl sie die Bedingungen ihrer Existenz mit dem Fragesteller teilen. Doch nicht nur der Elitarismus des Traktats provoziert, sondern auch seine Unzeitgemäßheit. Dichter können zwar inzwischen fast alles schreiben was sie wollen, es gibt keine Tabus, aber ein theologisches Traktat irritiert heutige Leser dennoch, weil der Dichter sich in eine Tradition stellt, die die meisten Menschen mit Scholastik, spitzfindiger Stubengelehrsamkeit und einseitiger Tendenz assoziieren. Will der alternde Dichter uns mit theologischen Dogmen traktieren? Nein, mit den Dogmen des Katholizismus will er sich nicht befassen. Erstens sind ihm Dogmen „gleichsam ein paar Zentimeter zu hoch“ (Gedicht 4), d.h. sie geben sich unermesslich hoch und sind dabei doch nur groteske Streckübungen des Geistes, und zweitens sind sie „gegen die Vernunft gepanzert“ (ebd.), d.h. sie sind gerade nicht für die theoretische Erörterung, für ein Traktat geeignet, weil sie nicht argumentieren, sondern nur behaupten. Es geht Czesław Miłosz in dem Traktat nicht um kirchenwissenschaftliche Lehrmeinungen, sondern um Fragen, die sich ein Mensch stellt, der glaubt, der aber auf den Gebrauch seiner Vernunft nicht verzichten bzw. ihn sich nicht verbieten lassen will. Die erste und wichtigste dieser Fragen ist für <?page no="234"?> 234 Miłosz die Frage der Theodizee. Sie befasst sich mit dem Problem, wie angesichts des Bösen und des Leidens in der Welt die Güte Gottes mit seiner Allmacht in Einklang zu bringen ist. Um dieses Problem kreist der Dichter gedanklich seit Jahrzehnten, und in dem autobiographischen Gedicht 21 thematisiert er die Antwort, die er für sich selbst gefunden hat. Sie liegt im manichäischen Denken, d.h. in der Vorstellung, das Böse sei ebenso mächtig wie das Gute. Ein solches Weltbild tauchte in der Geschichte des Christentums immer wieder auf, ist aber aus kirchlicher Sicht häretisch, weil das Christentum wie schon das Judentum und auch der moslemische Glaube monistisch ist. Manichäistisch war z.B. die in der slavischen Welt, v.a. im alten Bulgarien und später in Bosnien verbreitete Lehre der Bogomilen, aber auch der Glaube der Katharer und Albigenser, den Miłosz im Gedichtzyklus Czeladnik (Handwerksgeselle) thematisiert, seiner Huldigung an den französischen Dichter Oscar Miłosz, die den Band Druga przestreń abschließt. Im Theologischen Traktat spricht Miłosz die Theodizee in den Gedichten 4 und 6 an, in Gedicht 9 formuliert er angesichts der „Schrecklichkeit der Welt“ (okropność świata) ihr zuerst von von David Hume fixiertes zentrales Paradoxon: Jeżeli Bóg jest wszechmocny, może na to pozwalać tylko jeżeli założymy, że dobry nie jest. (Zeile 4-5) Wenn Gott allmächtig ist, dann kann man das zulassen nur wenn wir voraussetzen, dass er nicht gut ist. Der Dichter überspitzt hier die Form des Syllogismus, indem er den Satz geradezu mit Konjunktionen spickt - zweimal jeżeli, dazu tylko, und że - und dazu das logische Schließen durch zalożymy und może explizit macht. Alle diese Wörter außer tylko verbindet außerdem der Konsonant „ż“, der so zum Signalklang für das syllogistische Schließen wird. Miłosz stellt diesem logischen Bemühen in einem Asyndeton gezielt das „außerlogische“ Bemühen verschiedenster Richtungen der Mystik gegenüber: hermetycy, kabaliści, alchemicy, rycerze Różanego Krzyża. (Zeile 8) Hermetiker, Kabbalisten, Alchemisten, Rosenkreuzritter. die auf ganz andere Weise nach der „Ordnung der Schöpfung“ (Zeile 7) suchen. Das Asyndeton suggeriert dabei eine Vielfalt, die der logische Syllogismus nicht kennt. Aus dem dualistischen Charakter der manichäistisch verstandenen Welt folgt für Miłosz, dass mit der Schöpfung von Himmel und Erde am ersten Schöpfungstag zugleich schon die Teilung in gut und böse vollzogen wurde. In Gedicht 9 wird diese Sicht mit der physikalischen Beschreibung vom Anfang der Welt in Verbindung gebracht. Die Astrophysiker, so heißt es dort, haben bestätigt, dass Raum und Zeit einen Anfang hatten. Mit dem Urknall (błysk) „erschienen Ja und Nein, Gut und Böse“ (pojawiło się Tak i <?page no="235"?> 235 Nie, dobro i zło, Zeile 15). Diese metaphysische Deutung macht die Physik zum Kronzeugen für eine Sinn-Geschichte, die vor der Seinsgeschichte spielt (d.h. bevor mit dem Urknall Raum und Zeit überhaupt entstanden sind), und für eine dualistische Konstruktion gerade auch der physischen Wirklichkeit. Dieser Dualismus ist der Philosophie inzwischen suspekt, und selbst für die Theologie ist er nicht mehr selbstverständlich. So warnt Miłosz in Gedicht 14 das Christentum davor, so zu tun, als sei es der irdischen Welt wohlgesonnen. Die Ordnung der Natur ist eine Ordnung des Todes, Darwins Prinzip der natürlichen Auswahl dient der Theologie des Teufels (Gedicht 6). Die Natürlichkeit des Menschen und seine Göttlichkeit schließen sich aus. Philosophie und Naturwissenschaft haben keine Mittel, die Göttlichkeit und damit den Wert des Menschen zu erweisen oder zu verteidigen, hier ist allein die Theologie gefragt. Die Menschenrechte wie auch die Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen sind ohne sie nicht begründbar. Der Mensch ist darum im Kosmos, so Gedicht 15, nicht aufgehoben. Mit seiner Barmherzigkeit erscheint er in ihm als Fremdkörper. Aber auch im Jenseits wird er sich nicht recht zu Hause fühlen, so Gedicht 20. Hier das grüne Sofakissen des Waldes, über das wir wie Vögel dahingleiten, dort - nichts anzuschauen, nichts zu berühren, nichts zu schmecken (Zeile 7-11). Der Mensch, besonders der Dichter, kann den Verzicht auf die Fülle der sinnlichen Wahrnehmung nur als Exil begreifen. Das Dilemma eines Diesseits, das sowohl unbarmherzige Hölle als auch Paradies der Sinne ist, kann der Dichter nicht auflösen. Das Fazit des Traktats bleibt darum auch zwiespältig. Der private Glaube durchlebt immer wieder Zweifel. Diese werden aber geheilt durch den Ritus des gemeinsamen Singens und der gemeinsamen Anbetung, wie es in Gedicht 22 heißt. Doch der gemeinsame Ritus des Volksglaubens weckt seinerseits immer wieder Zweifel. Dieser wird aber geheilt durch den privaten Glauben des Intellektuellen. Das Diesseits weckt die Sehnsucht nach der Transzendenz, doch die Vorstellung von der „leeren“ Transzendenz weckt die Sehnsucht nach dem sinnlichen Diesseits. Glaube verbindet und trennt, erhöht und zieht hinab. Doch ohne Glauben entkommen wir der mörderischen Natur nicht. Der Marienhymnus, der den Zyklus abschließt, sucht die sinnliche Schönheit mit der Transzendenz zu versöhnen - war nicht die Muttergottes von Lourdes als „unaussprechliche Schönheit“ erschienen? Was wiegt dagegen der Missbrauch der Muttergottes als nationale Schutzpatronin in Polen? Hier wird der Volksglaube mit dem intellektuellen Glauben versöhnt - war die Muttergottes nicht Kindern erschienen? Und sind in Lourdes nicht alle Marienattribute vereint - das Gedicht erwähnt den Mantel, den Mond, die Höhle, die Quelle und den Baum? Was zählt dagegen der individuelle Zweifel eines Dichters, der meint, dass er „den Volksvorstellungen nicht schmeicheln sollte“ (Zeile 20-21)? <?page no="237"?> 237 Schluss Und so bleibt als Fazit, dass hier ein Dichter wie kaum ein anderer die Widersprüche der menschlichen Existenz im allgemeinen und des 20. Jahrhunderts im besonderen nicht nur aushalten will, sondern sie auch immer wieder zur Grundlage sowohl seines „jenseitigen“ Glaubens als auch seiner „diesseitigen“ Extasen nimmt. Sinnlichkeit und Metaphysik schließen sich nicht aus, ebensowenig wie Glaube und Zweifel sich ausschließen. Sie bedingen einander. Hässlich ist die Natur für sich, nach ihrem eigenen Gesetz. Für den Menschen ist die Natur jedoch schön, weil der Mensch sie mit Augen zu sehen vermag, in denen sich Gott spiegelt, wie es in den Gedichten Kufer und Oczy im Band Druga przestrzeń heißt. Nicht jede erotische Liebe ist Gier, nicht jede Schönheit ist Verführung. Doch die Differenz ist immer wieder zu prüfen - sei es in Bezug auf ein Eichhörnchen, auf eine Hasel oder auf eine schöne Frau. Das ist das Paradoxon, das Miłosz entdeckt und immer wieder aufs Neue formuliert hat: werde ich zum Jäger, dann unterwerfe ich mich dem Gesetz der Natur. Lasse ich mich jedoch von ihr ergreifen, dann banne ich sie mit göttlichem Blick. Die kulturelle Katastrophe, die Miłosz gewärtigte, war da, vielleicht geht es auch noch tiefer hinab, doch der Mensch wird es auf die Dauer nicht aushalten ohne eine spirituelle Existenz, ohne Glaube, Liebe und Hoffnung. Die alte spirituelle Heimat des Dichters ist zwar für immer dahin, doch seine von ihm nie für möglich gehaltene Rückkehr an das Ufer der Nieważa ist das realistische Gegenstück zu der historischen Idee, dass er vielleicht wie Noah seinen Fuß als erster auf neues, aus den Fluten der Vernichtung aufgetauchtes Land einer zukünftigen Kultur zu setzen vermochte. Zumindest aber ist es ihm gelungen, klassizistische, romantische, realistische und modernistische Traditionen der polnischen Literatur aufzunehmen und sie gegen das in Stellung zu bringen, was aus seiner Perspektive als literarische Barbarei erschien - die Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts. Miłosz war nur nominell ein Dichter des 20. Jahrhunderts. In Wahrheit hat er, wie er im 8. Gedicht des Theologischen Traktats verrät, nicht etwa 1930, sondern 1820 „in der größten Bibliothek Litauens gesessen, gebeugt über L’aurore naissante von Jakob Böhme, Ausgabe 1802“. Miłosz als Reinkarnation Mickiewiczs? Immerhin war es für ihn eine Genugtuung, anders als Mickiewicz, der Litauen nach Verbannung und Emigration nie wiedersehen konnte, triumphal heimzukommen. Schon reklamiert ihn die Literaturgeschichtsschreibung Litauens für sich, wie mehrere Vorträge litauischer Literaturwissenschaftler auf der Zentenniums-Konferenz des Dichters in Krakau demonstriert haben. Und auf jeden Fall fühlte sich Miłosz dem großen Litauer näher als allen seinen Zeitgenossen. Die Ge- <?page no="238"?> 238 schichte wiederholt sich nicht, aber es gibt Wahlverwandtschaften und Schicksalsverwandtschaften. Allerdings bleibt zu hoffen, dass Miłosz das Schicksal Mickiewiczs erspart bleibt, zur „Requisite des Patriotismus zur Belehrung der Jugend“ (Traktat teologiczny, Strophe 5, Zeile 2) zu werden. Die Geschichtlichkeit der Kultur lebt nicht von Denkmalssockeln, Jubiläen und Traditionsvereinen, sondern vom fortgesetzten, lebendigen Dialog der Künstler und Denker mit ihren Vorgängern - so wie Miłosz es selbst mit seinen Gesprächspartnern aller früheren Epochen getan hat. Wir haben uns hier auf die polnischen Gesprächspartner konzentriert, doch auch mit der französisch- und englischsprachigen Literatur, ja selbst mit der vermeintlich ungeliebten deutschen blieb er, wie das Beispiel Jakob Böhmes zeigt, im Dialog. Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, dass wir Deutsche auch unsererseits mit ihm ins Gespräch kommen. Es ist ihm und uns zu wünschen. <?page no="239"?> 239 Liste der Gedichtbände von Czesław Miłosz 1933: Poemat o czasie zastygłym (Poem von der geronnenen Zeit) 1936: Trzy zimy (Drei Winter) 1945: Ocalenie (Rettung) 1953: Światło dzienne (Tageslicht) 1957: Traktat poetycki (Poetisches Traktat) 1962: Król Popiel i inne wiersze (König Popiel und andere Gedichte) 1965: Gucio zaczarowany (Der verzauberte August) 1969: Miasto bez imienia (Stadt ohne Namen) 1974: Gdzie słońce wschodzi i kędy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wo sie versinkt) 1982: Hymn o perle (Hymne über die Perle) 1984: Nieobjęta ziemia (Unermessliche Erde) 1987: Kroniki (Chroniken) 1991: Dalsze okolice (Weit entfernte Gegenden) 1994: Na brzegu rzeki (Am Flussufer) 1997: Piesek przydrożny (Hündchen am Wegesrand) 2000: TO (DAS) 2002: Druga przestrzeń (Der andere Raum) 2002: Orfeusz i Eurydyka (Orpheus und Eurydike) 2006: Wiersze ostatnie (Letzte Gedichte) <?page no="240"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! C e aw o Geschichte der polnischen Literatur Mit einer Einleitung von Karl Dedecius und dem Do umentar lm es a Mi os Die Geschichte der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts« 2013, VI, 450 Seiten, €[D] 49,99/ SFr 64,40 ISBN 978-3-7720-8456-0 es aw i os (1911-2004), Dichter, obel reistr ger nd Do ent für slawische iterat ren an der ni ersit t erkele , schrieb seine eschichte der olnischen iterat r 1969 i a erikanischen xil für das dortige blik . In olen erregte das erk gro es fsehen, weil es die traditionelle Sicht a f die olnische iterat r eine ers nliche ensicht erg n te. ereits die erste, leicht gekür te olnische age on 1993 erfre te sich gro er ertsch t ng nd o larit t. I ahre 2010 erschien die erste ollst ndige sgabe des erks in olen. f r ndlage dieser dition w rde die de tsche sgabe d rchgesehen nd den bislang in de tscher S rache n- g nglichen ilog erweitert. Dieses Standardwerk erscheint n n erg n t den Dok entar l es aw i os Die eschichte der olnischen iterat r des 20. ahrh nderts, in de i os als eit e ge seine Sicht a f das literarische 20. ahrh ndert darlegt. Schlüsseltexte der olnischen iterat r werden i Fil on er ad iwi owic nd nna adwan i Original rezitiert. Die inleit ng z r e a age des chs erfasste arl Dedeci s, der gro e bersetzer nd Ver ittler olnischer iterat r in De tschland, a f nreg ng der Filiale ei zig des olnischen Instit ts erlin. <?page no="241"?> Mit diesem Buch erscheint die erste deutschsprachige Monographie zum Werk des polnischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz. Der Autor Matthias Freise, Professor für Slavische Literaturen an der Universität Göttingen, nimmt die Verantwortung eines Dichters für die Beziehung zum kulturellen Erbe - sowohl für die Überwindung von Klischees als auch für die Rückbesinnung auf Vergangenes - zum Ausgangspunkt. Miłoszs Werk zeigt sich in den Textanalysen als „Arche“ kultureller Epochen und geistiger Strömungen. Doch auch als moralischer „Leuchtturm“ des Exils auf das kommunistisch beherrschte Polen kommt der Autor zur Sprache. Ursprünglich beheimatet in der polnischen Avantgarde der 1930er Jahre, prägen drei fulminante Comebacks Miłoszs Dichterkarriere: 1945 wird er zur Leitfigur der Nachkriegsgeneration, die Verleihung des Literaturnobelpreises 1980 lässt ihn zu einer der Symbolfiguren für die Sołidarnośc-Bewegung werden und im Jahr 2000 überrascht er mit einem ausdrucksstarken und kämpferischen Spätwerk.