Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte
Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
0912
2012
978-3-8233-7698-9
978-3-8233-6698-0
Gunter Narr Verlag
Franziska Sick
In literarischen Texten ist nicht nur die Handlung, sondern auch die Szene zu betrachten: Der Zugang zu Räumen, ihre Kodierung, ihre orientierende Funktion, oft auch ihre sperrige Verstelltheit bilden ein Widerstandsmoment, an dem Erzählen sich stets schon abarbeitete.
Auch wenn der Begriff der Karte, der die rezente Diskussion um Raumkonzepte mit bestimmt, methodisch moderner als der der Landschaft ist, stellt sich die Frage, wie Karte und Landschaft sich historisch in einzelnen Texten überschneiden, ergänzen und ersetzen. Der Band nimmt beide Aspekte - den hermeneutischen wie den raumtheoretischen - in den Blick. Mit Themen wie Luftbild und Internet eröffnen sich weitere Zugangsweisen und Bezugnahmen auf Städte und Räume.
<?page no="0"?> edition lendemains 27 Franziska Sick (Hrsg.) Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart <?page no="1"?> Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte <?page no="2"?> edition lendemains 27 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) und Andreas Gelz (Freiburg) <?page no="3"?> Franziska Sick (Hrsg.) Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: „Rahmenbau“. Ein Werk des Künstlerkollektivs Haus-Rucker-Co. für die documenta 6 in Kassel. Foto: Georg Engl. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6698-0 <?page no="5"?> Inhalt Franziska Sick Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte …………………….….………. 7 Kirsten Wagner La découverte aérienne de la ville. Der diagrammatische Blick auf die Stadt …………………………………….. 25 Kirsten von Hagen „Nous habitons notre page comme on habite une maison“ - Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake (2009) ………………………………………………………………………... 55 Eva-Tabea Meineke Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot ………………………………………………………………. 69 Franziska Sick Julien Gracq: Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne …………………………………………………. 81 Lydia Bauer Der Künstler als Kartograph. Wahrnehmung und Darstellung des Raums in Georges Perecs La Vie mode d’emploi ………………………… 121 Stephanie Müller Schreiben nach Plan. Paris als oulipistischer Raum in Texten von Raymond Queneau, Jacques Roubaud und Georges Perec ……………….. 145 Christina Horvath Cartographies parisiennes dans le roman contemporain …………………. 163 Sjef Houppermans JEAN ECHENOZ à l’endroit …………………………………………………. 175 Winfried Wehle Literatur als Bewegungsraum. Prousts kinästhetischer Ausgang aus der Krise des modernen Subjekts ……………………………. 191 <?page no="6"?> Fritz Nies Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum ……………………….. 211 Hans T. Siepe L’Emploi du temps, l’emploi de l’espace. Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor .………………………………………………………… 227 <?page no="7"?> Franziska Sick Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte. Der Titel enthält mit der Stadt eine thematische Eingrenzung, lässt jedoch offen, wie diese zu behandeln sei: mit dem neutralen Begriff des Raumes, mit dem vergleichsweise traditionellen der Landschaft oder mit dem der Karte. Dass die Karte titelgebender Weise nicht auf die Stadt bezogen ist, hat vorneweg sprachliche Gründe - gebräuchlich ist im Deutschen das Wort Stadtplan. Die Karte, ihr Gegensatz zur Landschaft, erwies sich jedoch als so zentral, dass sie nicht hinter dem Begriff des Stadtplans zu verstecken war. Der Titel ist in diesem Sinne auch so zu lesen: Stadtraum, Stadt-Landschaft Stadtraum, Stadt-Landschaft-Karte Anvisiert ist damit ein Untersuchungsfeld, das unter Begriffen wie spatial, pictorial, topological und topographical turn äußerst aspektreich zu betrachten ist, und das trotz oder aufgrund dieser jüngeren Differenzierung das ältere Konzept der Landschaft zumeist ausblendet. Zu betrachten ist deshalb nicht nur, wie eine geänderte Kartenwissenschaft in Literatur eingeht, sondern auch, wie Karten- und Landschaftsmodelle sich historisch verschränken bzw. einander beerben. Von solchen Verschiebungen sind bereits die historischen Groblinien geprägt. Während in der Frühen Neuzeit die Karte ein dominantes Paradigma ist, wird im 17./ 18. Jahrhundert das der Landschaft virulent. Obwohl dieser Umbruch hinlänglich bekannt ist - Untersuchungen zur Landschaft berücksichtigen ihn häufig ebenso wenig wie rezente Studien zu Topologie und Topographie. 1 Während Studien zur Landschaft zumeist kartenlos sind, sind solche zur Karte zumeist landschaftslos. Ein Stück weit bestätigt sich die rezente Vorliebe für die Karte auch im vorliegenden Band. Das Thema der Landschaft ist in ihm etwas unterrepräsentiert. Selbst mit der Verschränkung von Karte und Landschaft ist es nicht in jeder Hinsicht getan. Denn auch medienästhetische Beziehungen sind zu betrachten. Einen ungefähren Anhalt für diesen Aspekt kann das Titelbild Rahmenbau der Künstlergruppe Haus-Rucker-Co. geben. Es ‚zeigt‘ einen Ausschnitt aus der Topographie der Stadt Kassel wie durch einen Diarahmen hindurch. Gerastert ist Landschaft hier nicht im Sinne der Karte, sondern im Sinne der Aussicht, des Bildausschnitts. Fraglos ist eine solche Re- 1 So zum Beispiel Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink, 2007. <?page no="8"?> Franziska Sick 8 flexion auf die artifizielle Aussicht bereits früher zu verzeichnen. 2 Rahmenbau interpretiert sie unter medialen Gesichtspunkten neu, um zugleich den Aspekt der Begehbarkeit der Aussicht ins Spiel zu bringen. Denn man kann um den großen Rahmen im Vordergrund der Installation herumgehen und auf einer kleinen Brücke, auf einem Seitenweg gleichsam ins Bild, vor einen zweiten Rahmen oder aber auch in die eigentliche Aussicht eintreten, die sich damit freilich ironischer Weise als die zweite erweist. So sehr man im Gefolge Certeaus (in etwas verkürzender Weise) den Gegensatz von Weg und Karte betont 3 - auch Aussichten sind begehbar, auch sie besitzen wie die Karte ein spezifisches performatives Gegengewicht. Die Wege sind deshalb nicht bloß in Beziehung zur Karte, sondern auch zur Landschaft und deren medialer Zurichtung zu diskutieren. Nicht zuletzt setzt Rahmenbau Stadt und Landschaft in einem tiefgestuften Raum miteinander in Beziehung. Der Rahmen ist ein technisch-kühles Stadtmobiliar im Stil moderner Stadtarchitektur. Er eröffnet den (historischen) Blick auf die Orangerie in der Karlsaue, einen Blick, der sich schließlich in die Landschaft verliert. In kontrastreicher Weise wird ‚(Stadt)Landschaft‘ so durch ein artifizielles Stadtmobiliar hindurch sichtbar, das schon deshalb nicht bloß Teil der (Stadt)Landschaft ist, weil es seinerseits Stadt und Landschaft rahmt. 2 Die rezente Diskussion um den Raum ist so verzweigt, dass sie einleitender Weise nicht einmal ansatzweise wiederzugeben wäre. Ich begnüge mich deshalb mit einer stichwortartigen Charakteristik wesentlicher Grundbegriffe. Der topological turn 4 beruft sich auf abstrakte, mathematische Raummodelle. Deren Grundzug lässt sich wohl am anschaulichsten anhand von Konzepten der Netzwerktopologie erläutern. Diese unterscheidet zwischen sternförmigen, ringförmigen und linearen Topologien, um nur einige zu nennen. Wo und wie diese Topologien jeweils implementiert sind, bleibt da- 2 So etwa in den Wahlverwandtschaften. Das Haus, das Ottilie auf die Anhöhe setzen will, ist so etwas wie ein Aussichtslokal, das man zwar nicht dauerhaft bewohnt, aber zu dem man sich begibt, um die Aussicht zu genießen, cf. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, in: Id.: Sämtliche Werke, ed. Ernst Beutler, vol. 9, Zürich: Artemis, 1977, p. 7-275, hier 65. 3 Die grundlegende Unterscheidung bei Certeau ist die zwischen Raum und Ort, cf. Michel de Certeau: L’invention du quotidien, vol. 1: arts de faire, Paris: Gallimard, 1990, p. 172-175. Mit diesem Gegensatzpaar lassen sich, wenn man es recht bedenkt, auch begehbare Aussichten beschreiben. 4 Cf. Stephan Günzel: „Raum - Topographie - Topologie“, in: Id. (ed.): Topologie. zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2007, p. 13-29. <?page no="9"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 9 bei außer Acht. Topologien nehmen keine Rücksicht auf räumliche Gegebenheiten, sie diskutieren die grundsätzlichen Strukturalternativen der Anordnung. In vergleichbarer Weise gehen von der Topologie inspirierte kulturwissenschaftliche Ansätze vor. Sie abstrahieren von konkreten, sachhaltigen Ausprägungen, um hinter ihnen topologische Grundmuster zu erkennen. Zumal der Strukturalismus setzt in unterschiedlicher Ausprägung auf diese Option. 5 Eine im Grundansatz andere Position vertritt der topographical turn. 6 Er abstrahiert gerade nicht von den räumlichen Implementierungsverhältnissen, sondern nimmt diese zentral in den Blick. Sinnfällig wird die Differenz beider Ansätze bereits an ihrer Bezeichnung. Während der topologische turn namentlich auf Logik setzt, thematisiert der topographische eine Graphie, also ein Aufschreibesystem, und das heißt die mediale Ebene. Häufig fasst man (literarische) Topographien ungleich konkreter als kartographische Abbildung einer Gegend, die sich in unterschiedlicher Weise in Literatur reflektiert. Einen umfassenderen kulturgeschichtlichen Ansatz vertritt Hartmut Böhme: „Kulturen sind also zuerst Topographien, Raumkerbungen, Raumschriften, Raumzeichnungen. Karten sind älter als die Schrift […].“ 7 Unterstellt ist hierbei ein sehr weit gefasster universeller Kartenbegriff, der von Karten im landläufigen Sinne abstrahiert. In verwandter Weise plädiert Jörg Dünne dafür, Topographie nicht an das Paradigma der Karte im engen Sinne zu binden. In Abgrenzung vom topologischen turn bestimmt Dünne den topographischen als medienvermittelte Raumerschließung. 8 Orthogonal zu den rezenten Raumkonzepten verhält sich das der Landschaft. Landschaft ist (im 18./ 19. Jahrhundert) ein anschauliches Ganzes, eine objektive Bedeutungsanmutung, die als solche jedoch von subjektiven Bedeutungsprojektionen getragen ist. 9 In Rede stehen hierbei gleich mehrere 5 Cf. detailreich hierzu Stephan Günzel: „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen”, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (eds.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2008, p. 219-237, hier 224-229. 6 Cf. Sigrid Weigel: „Zum ‚topographical turn‘ - Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, KulturPoetik 2/ 2 (2002), p. 151-165. 7 Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie“, in: Id. (ed.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart: Metzler, 2005, p. IX-XXIII, hier XVIII. 8 Cf. Jörg Dünne: „Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum? “, in: Albrecht Buschmann / Gesine Müller (ed.): Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den Romanischen Kulturen, Universität Potsdam 2009, p. 5-26, hier 18. Im Internet: http: / / www.uni-potsdam.de/ romanistik/ ette/ buschmann/ dynraum/ duenne.html (15.04.2010, Zugriff am 10.11.2011). 9 Cf. Hilmar Frank: „Landschaft“, in: Karlheinz Barck et al. (eds.): Ästhetische Grundbegriffe, vol. 3, Stuttgart: Metzler, 2001, p. 617-646. Ich verkürze Franks Argumentation ins Definitorische. Dass der Begriff der Landschaft aufgrund seiner historischen Varianz kaum zu definieren ist, ist eine zweite Sache. <?page no="10"?> Franziska Sick 10 Begriffe, die für neuere Theorieansätze nicht in jeder Hinsicht assimilierbar sind: (1) Zumal Topologen müssen sich am Begriff des Ganzen stoßen, denn dieser impliziert keinen analytisch mathematischen, sondern einen subjektiven, oder - wie man später sagen wird - einen ganzheitlichen, gestalttheoretischen Ansatz. (2) Obwohl Landschaft mit dem Begriff des anschaulich Ganzen, wie vom topographischen Ansatz gefordert, eine Ebene der Konkretion anbietet, ist diese nicht in dessen Sinne eingelöst. Das Konkrete der Landschaft ist anschaulich. Sein Aufsatzpunkt ist das Erkenntnisvermögen des Subjekts, die rezeptive Anschauung von etwas Gegebenem. Demgegenüber geht der topographische Ansatz mit den Aufschreibesystemen von einem ungleich produktiveren Raumzugang aus. Mit anderen Worten: Beide Ansätze, der topographische und der landschaftsästhetische, sind weniger abstrakt als der topologische. Aber im einen Fall ist das Mehr an Konkretion im Blick beheimatet, im anderen Fall in der Schrift, in der Graphie, in unterschiedlichen medialen Überformungen von Raum. (3) Irritieren müssen nicht zuletzt die idealistisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Landschaftskonzepts. Dass die Verschränkung von objektiver Anmutung und subjektiver Projektion der Quell ästhetischer Erkenntnis sei, wird man heute nicht mehr in jeder Hinsicht aufrechterhalten wollen. Zumal, wie sich an Kants Diktum vom gestirnten Himmel exemplarisch zeigt, der seinerzeit moderne Idealismus an dieser Stelle auf alte kosmologische Vorstellungen zurückgreift. Methodisch stellt der Landschaftsbegriff, gemessen am heutigen Diskussionsstand, ein vergleichsweise traditionelles Theorem dar. Seinen ‚natürlichen‘ Ort hat er im Bereich der Kunstgeschichte, weil diese von anschaubaren Bildern handelt. Damit ist trotz der vorstehenden Einlassung nicht zwingend eine idealistische Landschaftsästhetik vorausgesetzt. Moderner sind Ansätze zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung (Husserl/ Merleau- Ponty), auf die sich Landschaftsästhetik bis heute gerne beruft. Auch wenn das Landschaftskonzept als traditionell, wenn nicht gar veraltet erscheinen mag - man spricht vom Tod der Landschaft 10 -, erweist es sich doch als vergleichsweise persistent und durchzieht in unterschiedlicher Form selbst mediengeprägte Diskurse, so etwa in der gebräuchlichen Metapher von der Medien- und Informationslandschaft. Instruktiv ist nicht zuletzt ein Beitrag Dünnes, in dem er für eine Topographie der Kulturgeschichte plädiert. 11 Dünne zufolge kommt der Literatur in ihr eine ausgezeichnete Stellung zu, da sie disperse Raumerfahrungen assimilierbar machen und so eine imaginative Entität stiften kann. Unter der Hand kehren in dieser Funktionszuschreibung von Literatur Begriffe wieder, die auf Begriffe 10 Cf. Gottfried Boehm: „Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei“, in: Manfred Smuda (ed.): Landschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, p. 87-110. 11 Cf. Dünne: „Geschichten im Raum und Raumgeschichte“ (wie Anm. 8), p. 21. <?page no="11"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 11 der Anschauungs- und Landschaftsästhetik, auf Imagination und Einbildungskraft, auf Einheit und Ganzheit zurückverweisen. 3 Wie wenig allein auf strikt kartographische Innovationen zurückzugreifen ist, lässt sich bereits daran ablesen, dass diese zwar prägend für die Frühe Neuzeit, in der Folge jedoch vergleichsweise rückläufig sind. Man verbessert die Reproduktionstechnik der Karte und trägt sie in die Fläche und Breite, indem man umfänglich Landstriche vermisst. Diese Phase lässt sich dahingehend beschreiben, dass das Kartenwesen spätestens ab dem 18. Jahrhundert weniger innovativ ist als vielmehr populär wird. Dieses Populärwerden der Karte bezeugt exemplarisch der Hauptmann in Goethes Wahlverwandtschaften, der zum Zeitvertreib das Gut Eduards vermisst, nicht ohne anzumerken, dass es ein heiteres, leichtes Geschäft sei, die Gegend mit der Magnetnadel aufzunehmen. 12 Dieser Tendenz entspricht, dass die wohl wirkmächtigste Innovation im 19. Jahrhundert mit Kartographie im strikten Sinne des Wortes wenig zu tun hat: Karten werden thematisch. Dass beides - das Thema und die Karte - zu trennen ist, zeigt sich bereits sprachlich im Gegensatz von kartographischer und thematischer Karte, aber auch technisch. Denn die thematische Karte ist lediglich ein Layer, 13 den man über die topographische Karte legt, so als wäre letztere so etwas wie eine Schreibtafel. Die Karte ist an dieser Stelle nicht mehr bloß ein Medium, mit dem man etwas abbildet - sei es die Stadt oder die Welt -, sondern ein Medium auf dem und mittels dessen man etwas Anderes abbildet. Mit anderen Worten: Die Innovation der Karte im 19. Jahrhundert besteht nicht darin, dass man die Projektionstechnik der Karte verbessert, sondern darin, dass sie in ersten Ansätzen zu einem universalen Organisationsmedium von Wissen wird. Deshalb ist eine Rede über ‚die‘ Karte nicht länger darauf zu beschränken, dass die Karte die Darstellung einer Gegend sei. 14 Wie sehr sich die Karte nach ihrem Thematischwerden von der Gegend löst, zeigen Ansätze des Mindmapping, aber auch solche der Netzwerktopographie. Zu verzeichnen ist dieser Funktionswandel auch literarisch, so etwa in Robbe-Grillets Roman La Jalousie. Obwohl die frühe Kritik Robbe-Grillet das Landvermesserische vorgehalten hat, ist unübersehbar, dass der ungenannte Ich-Erzähler in La Jalousie keine Landschaft, sondern mit Hilfe einer kartierten Landschaft 12 Cf. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (wie Anm. 2), p. 29. 13 Der Begriff Layer wird in diesem Sinne in computerbasierten Geoinformationssystemen verwendet. 14 Cf. Stockhammer: Kartierung der Erde (wie Anm. 1). Zur Kritik am Metapherntabu, cf. Zusammenfassend Bernhard Siegert: „Einleitung“, in: Böhme (ed.): Topographien der Literatur (wie Anm. 7), p. 3-11. <?page no="12"?> Franziska Sick 12 seine Beziehung vermisst. Er versucht seine Beziehungsprobleme zu klären, indem er auf dem topographischen Raster einen thematischen Aspekt abträgt. 15 Das ist im Grunde dasselbe Verfahren, mit dem Sozialgeographen Karten zur Anwendung bringen. Während diese aus der Karte die sozialen Brennpunkte herauszulesen versuchen, versucht der Erzähler in La Jalousie mit Hilfe der Karte zu klären, ob seine Frau ihn betrügt. In Blick zu nehmen ist jedoch nicht nur der intermediale Aspekt - in dem Maße, wie die moderne Karte thematisch, genrehaft wird, kann sie in unterschiedlicher Form an literarische Genres anschließen -, sondern auch der informationstechnische. Wie sehr thematische Karten zu einem Ordnungsprinzip sui generis werden, zeigt sich exemplarisch an Google Maps. Jeder kann dort seine persönliche Karte erstellen. Man kann Maps als Hotel- und Restaurantführer nutzen, sich Bilder anzeigen lassen und überdies zwischen einer Karten- und einer Landschafts- und Straßensicht hin- und herschalten. Gemessen an dem taxonomischen Webkatalog von Yahoo ersetzt Google damit das Verzeichnis, die Bibliothek durch die Karte. Die Karte wird so zu einer universellen Datenablage. Sie erfüllt die Funktion, die vordem Datenbanken besaßen. Der konzeptionelle Grundirrtum von Yahoo bestand eben darin, das neue Medium Internet mit alten, im Grunde bibliothekarischen Mitteln verwalten zu wollen. Nicht zu übersehen ist nicht zuletzt, dass bereits die plane Liste, die Google üblicher Weise anzeigt, nach netzwerktopologischen Gesichtspunkten erstellt ist. Denn um die Relevanz einer Seite zu ermitteln, bewertet Google im Pagerankverfahren die Anzahl der eingehenden und der ausgehenden Links einer Website. Grundlage eines jeden Suchergebnisses ist damit eine Beziehung von Knoten und Kanten - ein Ansatz, der von der Graphentheorie entwickelt wurde. Es bleibt anzumerken, dass die Graphentheorie mit dem Königsberger Sieben Brücken-Problem auf ein topographisches Problem, auf ein Problem von Weg und Karte zurückverweist. In den besseren Kreisen der Königsberger Gesellschaft war die Frage diskutiert worden, ob es einen Rundgang durch Königsberg gebe, bei dem jede der Brücken genau einmal benutzt wird. Leonhard Euler wies nach, dass es keine Lösung gibt. Er abstrahierte vom Stadtplan, reduzierte das Problem auf eine Beziehung von Knoten und Kanten und schuf damit die Grundlagen der Graphentheorie. 16 15 Cf. Franziska Sick: „Erzählte Karten, Erzählkarten. Morus, Novalis, Goethe, Robbe- Grillet, Gracq“, in: Ingrid Baumgärtner / Paul-Gerhard Klumbies / Franziska Sick (eds.): Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen: V&R unipress, 2009, p. 199-231, hier 217-223. Die Studie enthält noch nicht die Zuspitzung auf die thematische Karte. Zu ihr hat mich der Beitrag von Kirsten Wagner in diesem Band angeregt. 16 Die Abbildungen sind Wikipedia entnommen, http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Graphentheorie (Zugriff am 10.11.2011). Zum Sieben Brücken-Problem, cf. Wladimir Vel- <?page no="13"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 13 Die sieben Brücken auf der Karte Das SiebenBrücken-Problem als Graph Auf der Graphentheorie basiert nicht nur Googles Suchmaschine, sondern auch ihr mächtigster Konkurrent: die sozialen Netzwerke, die Kontakt- und Freundschaftsbörsen. Denn auch sie spielen mit den Knoten und Kanten und deren inbounds und outbounds. Die beiden ersten Beiträge des Bandes sind in diesem historisch-thematischen Umfeld zu verorten. Kirsten Wagner untersucht das Thematischwerden der Karte, sie weist auf den Funktionswandel der Karte hin und klärt dessen medien- und kartentechnische Vorgeschichte. Wie ihre Studie darlegt, verläuft der diagrammatische Blick auf die Stadt über die Verschaltung dreier Bild- oder aber auch Kartenebenen. Um thematische, statistische Aspekte auf einer Karte abbilden zu können, müssen diese im Idealfall so visuell sein wie die Karte selbst. Das leisten Diagramme, Visualisierungen statistischer Zusammenhänge, die man zeitgleich mit der thematischen Karte erfand. Ergänzt wird dieser Bildvorrat durch Luftbildaufnahmen, die man auf dem Kartenraster abträgt, um so ein ungleich anschaulicheres, um nicht zu sagen landschaftlicheres Bild der Karte zu erhalten. Über unterschiedliche Visualisierungstechniken entsteht so ein komplexes Analysebild, das einander kombiniert. Kirsten Wagner beschränkt sich nicht darauf, diese Geschichte der Kartographie der Stadt nachzuzeichnen. Sie legt dar, dass und wie die Situationisten auf diese Kartentechnik zurückgreifen, um mittels Kartencollagen einen eigenen Erzählraum zu entwerfen. In diesen Collagen wird die thematische Karte zum psychogeographischen Raum, der Weg durch ihn zur dérive. Auch wenn Kirsten Wagner keinen literarischen, sondern vorrangig einen bildnerischen Raum untersucht, erfolgt an dieser Stelle die Assimilation einer geänderten Kartentechnik in einen persönlichen Erfahrungsraum, der als mins hen Gedankenbrücken und Erfindungsufern: Leonhard Eulers Poetolo- Topologie (wie Anm. 4), p. 171-182. <?page no="14"?> Franziska Sick 14 solcher stets auch narrative Züge trägt. Stets schon reflektiert sich die Geschichte der Karte, die Geschichte des Raums in anderen Geschichten im Raum. 17 Wir werden dieser Grundbeziehung bei den einzelnen Beiträgen immer wieder begegnen. Anders als Kirsten Wagner verhandelt Kirsten von Hagen keine thematische Karte, sondern mit Giulio Minghinis Fake einen Internetroman, der von Partnerschaftsbörsen handelt. Im Blick steht damit eine gänzlich andere Topographie. Sie setzt nicht auf einer geographischen Basis, sondern auf der Topographie sozialer Netzwerke auf. Auch hier führt die Geschichte des Raumes - in diesem Fall die technische Erschließung neuer Kontakträume - zu geänderten Geschichten im Raum. Wie Kirsten von Hagen unter dem Stichwort Erographie zeigt, verändern sich im sozialen Netzwerk der Partnerschaftsbörsen die erotischen Beziehungsmuster: Sie werden virtuell, anonym, maskenhaft. Nur noch in einer so problematischen wie zugleich kompensativen Weise finden Begegnungen im realen Stadtraum statt. Dieser wird zum Ort der dates. Historisch beugt von Hagen Minghinis Erographie auf Madeleine de Scudérys carte du tendre sowie insbesondere auf Laclos‘ Liaisons dangereuses zurück. Verwandt ist Laclos‘ Roman mit dem Minghinis schon deshalb, weil er als Briefroman von medialen, räumlichen Distanzen handelt und diese mit sozialer Distanziertheit in Beziehung setzt. Wobei die Unterschiede nicht zu übersehen sind: Vor dem gemeinsamen Hintergrund zeigt sich, dass und wie unterschiedliche Verkehrsformen unterschiedliche Umgangsformen bedingen. Unter der Hand und um ein erstes Zwischenresümee zu ziehen, zeichnet sich ab, wie verflochten und dispers die Geschichten des Raums und die Geschichten im Raum sind. Bereits die Geschichte des Raums ist äußerst inhomogen. Die geographische Karte stellt dabei nur eine topographische Plattform unter anderen dar. Ihr ist zumindest die Topographie des Nachrichtenwesens oder, in älteren Termini, die Topographie des Postwesens und des Briefverkehrs einzuschreiben. Auch wenn man im Gefolge Certeaus die Wege in Opposition zur Karte setzt, so als wäre die Karte das Korsett der Kartographen und Stadtplaner und der Weg die subversiv performative Lektüre dieser Grammatik - zumal unter den Bedingungen des Informationszeitalters ist in Rechnung zu stellen, dass Informationswege nicht sind ohne Informationsarchitektur und das heißt zugleich, dass sie nicht sind ohne andere Topographien und ohne andere Karten. Es ist eine zweite Sache, dass die Certeau‘sche Opposition von Weg und Karte auch auf dieser Plattform zu verzeichnen ist. Das Moment der Wegehaftigkeit, des Wanderns - es ist im Surfen aufgehoben. 17 Zu dieser Distinktion, cf. Dünne: „Geschichten im Raum und Raumgeschichte“ (wie Anm. 8), p. 5-26. <?page no="15"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 15 Die Eigenständigkeit dieser Topographie mag folgendes Beispiel verdeutlichen. Es zeigt eine Netzwerktopographie basierend auf IPV6. 18 Abgebildet ist der Verknüpfungsgrad (als outdegree) unter der Voraussetzung der neuen Technologie. Er ist mit Mitteln der Farbkodierung dargestellt. Was genau technisch sich hinter diesen Darstellungen verbirgt, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht darzulegen. Vorrangig in Blick zu nehmen ist, dass formen zu tun haben. Die beiden ersten Darstellungen sind, obwohl sie die Netzwerktopographie abbilden, im Grundaufbau nach Maßgabe der thematischen Karte strukturiert. Man sieht dies bereits daran, dass sie die Knoten auf einen maßstabsgetreu nach Maßgabe netzwerkorientierter Topographien, d.h. nach Maßgabe der Knotenkantenbeziehung. In ihr ist dieser Aspekt so dominant gesetzt, dass der geographische Bezug im Wortsinn peripher wird. Man trägt ihn am Rand als Legende ab (siehe hierzu den vergrößerten Kartenauszug in Abbildung 4). Wie sehr in dieser Karte die Netzwerktopographie der geographi- 18 IPV6 (Internet Protokoll Version 6) regelt unter anderem die Adressen im Internet. Es wurde erforderlich, da die Adressräume von IPV4 nahezu ausgeschöpft waren. Engpässe bestehen im asiatischen Raum. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Seite aus China stammt, http: / / ipv6.nlsde.buaa.edu.cn/ (Zugriff am 11.10.2011). Grund für den Engpass ist aber auch das Internet der Dinge. <?page no="16"?> Franziska Sick 16 schen übergeordnet ist, lässt sich bereits daran ablesen, dass die Legende dieser Karte sich der Domainkürzel (z.B. MX für Mexiko) und nicht des Länderkennzeichens (MEX) bedient, aber auch daran, dass in der peripheren Legende Mexiko zwischen Kanada und den USA zu liegen kommt. Die vorstehende Topographie untersucht die Adressierbarkeit im Internet. Mit denselben Mitteln ließen sich die sozialen Netzwerke darstellen: als ein System von Verbindungen zwischen einzelnen Knoten. Kirsten Wagner berichtet, dass die Situationisten Stadtpläne zerschnitten und die einzelnen Fragmente mit Pfeilen verbanden, um so einen Emotionsraum, eine persönliche Psychogeographie darzustellen. Im Internet wird dieser Emotionsraum gleichsam kristallin. Man braucht deshalb nicht länger die Karten zu zerschneiden. Denn die Topographie der Freundschaften überlagert die Stadt ohnehin wie ein psychogeographischer Layer und überdeckt sie teilweise nachgerade, wie dem Beitrag von Kirsten von Hagen zu entnehmen ist. 4 Die Beziehung von Karte und Literatur, von Raum und Geschichte ist nicht bloß als Einbahnstraße zu denken, so als würde die Literatur der Karte in unterschiedlicher Weise bloß hinterherschreiben, indem sie die topographischen Beziehungen eines geänderten Kartenwissens reflektiert und hierbei selbst zu einem topographischen Medium wird. Dass diese Aspekte auf unterschiedlichen Niveaus ihr Recht besitzen, ist nicht in Abrede zu stellen. Wenn aber mit Foucault davon auszugehen ist, dass das 19. Jahrhundert historisch dachte und das 20. Jahrhundert räumlich, 19 wird man genauer abwägen müssen. Wie wir vorstehend gesehen haben, beeinflusst eine Geschichte des Raums (der Topographie) die Geschichten im Raum. Aufgrund der Foucault‘schen Differenzierung ist überdies in Blick zu nehmen, dass und wie diese Relation ihrerseits historisch variiert: Während in einem Zeitalter des Raums Geschichten im Raum an topographische Merkmale (und deren Geschichte) gebunden sind, ist in einem Zeitalter der Zeit, namentlich im 19. Jahrhundert, der Raum durch und durch verzeitlicht als historischer und als organologischer Raum. Es liegt im Zuge dieser Verzeitlichung des Raums, dass er in nur geringem Maße kartenhaft ist. Man konzipiert ihn wie ein Lebewesen, deshalb stehen diese Räume nicht unter dem Primat der Karte, sondern unter dem Primat aufwüchsiger oder aber auch später dekadenter, morbider Landschaften. 19 Cf. Michel Foucault: „Des espaces autres“ (1967), in: Id.: Dits et écrits II: 1976-1988, Paris: Quarto Gallimard, 2001, p. 1571-1581, hier 1571: „La grande hantise qui a obsédé le XIXe siècle a été, on le sait, l’histoire […]. L’époque actuelle serait peut-être plutôt l’époque de l’espace.“ <?page no="17"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 17 Deutlich wird diese spezifische Räumlichkeit etwa bei Balzac. Wie Eva- Tabea Meineke in Anlehnung an Stierle 20 anhand des Père Goriot aufzeigt, wandelt Balzac Merciers Tableau de Paris, das eine vergleichsweise statische, additive Struktur besaß, in ein dramatisches Tableau der Stadt um. Dramatisch ist die Stadt bei Balzac nicht nur, weil in ihr verschiedene Milieus interagieren, dramatisch ist sie bereits deshalb, weil die organologisch gefassten Tableaus narrative Züge annehmen. Dennoch kommt das organologische Modell bei Balzac nicht ohne einen Restbestand an Topographie und Kartenhaftigkeit aus. Die quartiers von Paris bilden ein Mosaik kleiner Welten. Deren Topographie prägt den Erzählverlauf - er ist nicht polar, sondern so polyvalent wie die quartiers -, aber auch die Topographie des Begehrens. Während die Situationisten den Stadtplan zerschneiden, trägt sich bei Balzac das Begehren auf der Topographie der quartiers ab. Meineke deutet selbst noch den Garten der Pension Vauquer als Miniaturkarte von Paris. Es ist zur Diskussion zu stellen, ob Balzac mit dem Pensionsgarten nicht im Gegenteil versucht, die irreduzible Kartographie der quartiers in zusammenfassender Weise in einem Garten- und Landschaftsbild aufzuheben. Die zeitliche Kodierung des Raums reicht herauf bis zur Décadence- Literatur. In dem Maße, wie in ihr das historische Denken perspektivlos wird, wertet die Décadence den Raum in zunehmendem Maße als Ersatzraum von Geschichte auf, nicht ohne ihm hierbei den Gegensatz von Moderne und Décadence, von ennui und Erwartung einzuschreiben. Anders als die polyvalenten quartiers bei Balzac begünstigt dieses Spannungsfeld polare, binäre Topologien. Der Beitrag von Franziska Sick ist diesem Umfeld entnommen. Er zeigt, dass Gracq in seinem Roman Le Rivage des Syrtes das Spannungsfeld von Décadence und Moderne auf einer Topologie von Peripherie und Zentrum (Lotman) abbildet. Selbst der späte ‚autobiographische‘ Roman La Forme d’une ville, in dem Gracq mit dem Nantes seiner Kindheit eine moderne Großstadt beschreibt, folgt dieser Topologie. Ungewöhnlich ist diese, weil sie anders als sonst der Großstadtroman die Metropole nicht länger als Hotspot der historischen Entwicklung denkt. Moderne findet - hierin sind Lotman und Gracq sich einig - nicht in der Hauptstadt, sondern an der Grenze statt. Im Blick steht damit eine Topologie, von der her sich, da sie strikt auf interkulturelle Begegnung setzt, die Historiotopologie 21 gängi- 20 Cf. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München: dtv, 1993, p. 339-519. 21 Man kann gegen den topologischen Ansatz zu Recht einwenden, dass er zu abstrakt sei. Es gibt keine Topologie ohne Topographie. Das lässt sich exemplarisch am Sieben Brücken-Problem belegen. Denn wie man an dieser Stelle sieht, ist der historische Ausgangspunkt der Topologie bzw. der Graphentheorie ein Kartenproblem. Und dennoch ist auch die Kehrseite zu betrachten: In dem Maße, wie der topographische Ansatz Topologie als zu abstrakt zurückweist, wird er strukturblind. Er kann die topologischen Vorentscheidungen, ohne die keine Rede über Raum organisierbar ist, nicht länger zur Diskussion und zur Disposition zu stellen. In diesem Sinne erscheint es mir ratsam, to- <?page no="18"?> Franziska Sick 18 ger Medientheorie und Medientopographie relativieren lässt. Denn diese optiert ausschließlich für den Topos einer Technomoderne. Bemerkenswert ist nicht zuletzt, wie Gracq in seinem Ansatz einer Décadence-Moderne das Thema von Karte und Landschaft verhandelt. Die Städte kodiert er überwiegend nach Maßgabe des organologischen Landschaftskonzepts als sieche, faulende Körper, während er den peripheren Grenzorten erwartungsräumliche Karten zuschreibt. Der Gegensatz von Landschaft und Karte bezeichnet so das Spannungsverhältnis von Décadence und Moderne, mit ihm vollzieht sich aber auch die Wende vom alten Landschaftsdenken hin zum modernen Kartendenken. Mit anderen Worten: Wir wohnen an dieser Stelle dem Umbruch vom zeitlichen zum räumlichen Denken bei. Auch wenn der Gegensatz von Landschaft und Karte bei Gracq mit einem gewissen unzeitgemäßen Aufschub eine Epochenschwelle kodiert, lässt er uns, wie dem Beitrag von Lydia Bauer über Perecs La Vie mode d‘emploi zu entnehmen ist, bis herauf zur Postmoderne nicht los. In vielfacher Weise sind in Perecs Roman Bild und Karte zu einem ‚Kartengemälde‘ verwoben. Das beginnt mit deren Verwendung: Karten dienen in diesem Roman wie sonst nur (Landschafts)Bilder als Wandschmuck, das setzt sich in der Abbildungstechnik fort, die zwischen landschaftstypischer Perspektivendarstellung und kartentypischem Distanzpunktverfahren schwankt, und das betrifft nicht zuletzt Erzählverfahren und Sujet des Romans. Der Erzählfortschritt ist von einem kartenhaften Raster organisiert, den der Erzähler wie ein Schachbrett im Rösselsprung abschreitet, wobei auch er der Königsberger Sieben Brücken-Regel folgt: Er darf jedes Feld nur einmal betreten. Inhaltlich handelt der Roman von einem Landschaftsmaler, dessen Bilder ein Kunstschreiner zu Puzzles zerschneidet. Wie Lydia Bauer zeigt, deutet auch dieses Motiv historisch und technisch auf die Karte zurück. Denn die ersten Puzzles waren Karten, die man zu pädagogischen Zwecken zerschnitt. So vielbesprochen das Puzzlemotiv in La Vie mode d‘emploi ist, das Bezugsfeld von Karte und Landschaft eröffnet auf es einen neuen Blick. Denn typischer Weise fasste man das Puzzle bloß als (Erzähl)Bild auf, um es dann nach Maßgabe von Bild und Text, und das heißt in wie abgewandelter Form auch immer vor den Hintergrund des Paragone zu verhandeln. Wie Lydia Bauer zeigt, ist im Vorfeld jedoch bereits die ‚Bildseite‘ hinsichtlich einer Verschränkung von Karte und Landschaft zu differenzieren. Um auch an dieser Stelle ein kleines Zwischenresümee zu ziehen: Obwohl Perec so wie auch Gracq Karte und Landschaft verschränkt, ist beider Darstellungskonzept gänzlich anders motiviert. Während es bei Gracq eine Epochengrenze, eine historische Topographie entfaltet, gerät es bei Perec zu pographische Ansätze zumindest topologisch zu reflektieren. Auf das Risiko der Führungslosigkeit einer reinen Topographie weist Stephan Günzel hin, cf. Günzel: „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn“ (wie Anm. 5), p. 224. <?page no="19"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 19 einem zitatreichen intertextuellen, aber auch interpikturalen Zitat- und Erzählbildraum. Während der Gegensatz von Landschaft und Karte bei Gracq (noch) eine historische Projektionslinie der Décadence-Moderne entwirft, wird er bei Perec synoptisch, er spielt ein vielfaches Spiel historischer Überlagerungen, von Palimpsesten oder aber auch sich archäologisch überlagernden Bildschichten durch. 22 Die Geschichte der Topographie reflektiert sich in Geschichten im Raum: Wie man vielfach angemerkt hat, führt im zeitgenössischen Erzählen die prononcierte Ausrichtung am Raum zu einem denarrativen Erzählen. In dem Maße, wie Großstadtliteratur den Raum der Geschichte vorordnet, wird diese brüchig, selbst und bereits dann, wenn sie noch historisch/ dramatisch im Sinne eines Tableaus konzipiert ist. Stephanie Müller hebt in ihrem Beitrag zur Lyrik der Oulipiens im Gegenzug hervor, dass Gedichte sich mindestens ebenso gut wie Erzählungen dazu eignen, kartographische Beziehungen zu reflektieren. Denn anders als Erzählungen setzen Gedichte (zumal die der Oulipiens), auf Nomen, Indexe, Toponyme. Sie sind insofern kartenaffin. Stephanie Müller arbeitet heraus, wie anders gelagert das Raumkonzept der Oulipiens gemessen an dem der Surrealisten ist. Während diese im Raum flanierend auf den Zufallsfund setzen, erscheint den Oulipiens eine solche Poetik als zu beliebig. Sie setzen auf contraintes, auf vorgegebene poetische Regeln. Unter dem gewollt mehrdeutigen Titel Schreiben nach Plan setzt Stephanie Müller diesen höchst eigenwilligen Raumzugang der Oulipiens in Szene. Schreiben nach Plan, das meint Schreiben nach einer Regel, es meint aber auch in unterschiedlicher Ausprägung ein Schreiben nach Stadtplan und es kann nicht zuletzt und in deutlichem Kontrast zum surrealistischen Flaneur eine Stadtbegehung nach Plan meinen. In Rede steht hierbei ein Stadt-parcours à contraintes des Formats, dass beispielsweise nach jeder dritten Kreuzung rechts abzubiegen sei. Wie ein roter Faden durchzieht das Thema des Weges den Band. So grenzt bereits der Beitrag von Kirsten Wagner die situationistische dérive von der Flanerie ab, sie ist mehr eine Drift als ein Herumschlendern. Und sie ist hierbei so getrieben wie zugleich vektorhaft. Anderweitig vektorhaft ist Gracqs Wege-, Landschafts- und Kartenkonzept vor dem Hintergrund einer aufbrüchigen Décadence-Moderne. Bei den Oulipiens schließlich wird der Weg in gänzlich anderer Ausprägung zu einer Regel der Begehung, die zugleich Gedichte (wie Stephanie Müller zeigt) und Erzählungen - man denke an den Rösselsprung in La Vie mode d’emploi - organisieren kann. 22 So prägnant wie zugleich signifikant ist ein Hafenbild, das Lydia Bauer in diesem Zusammenhang zitiert: Das Aquarell zeigt im Vordergrund einen Hafen und im Hintergrund - entgegen aller perspektivischen Gesetzlichkeit - ein Ruinenfeld, das stadtplanhafte Züge trägt. <?page no="20"?> Franziska Sick 20 5 Wie wir gesehen haben: Aus unterschiedlichen Geschichten des topographischen Raumes sind unterschiedliche Geschichten im Raum abzuleiten. Diese Relation ist überdies historisch gebrochen. Die Beiträge von Christina Horvath und Sjef Houppermans nehmen diesen Aspekt einer Geschichte des Raums nicht oder nur vergleichsweise nachrangig in Blick. Deutlich wird anhand beider Beiträge jedoch, wie unterschiedlich bereits am anderen Ende der Kette die Relation einer ‚Geschichte im Raum‘ sich interpretieren lässt. In diesem Sinne stellt Christina Horvath die Frage, worin sich die Balzac‘sche Stadtlandschaft von derjenigen zeitgenössischer Erzähler unterscheide und was diese, gemessen an diesem elaborierten Modell, zu bieten habe. Ihr Grundbefund ist zutiefst dialektisch. Sie konstatiert, dass der zeitgenössische Erzählraum, gemessen an Balzac, stereotyp sei, um dennoch die Spezifik dieser Erzählräume zu behaupten. Stereotyp sind die Räume des Rentner-Flaneurs in Philippe Delerms Il avait plu tout le dimanche und sie bezeichnen dennoch die ‚Topographie‘ seines Blicks. Mit stereotyp antistereotypem Gestus entwirft Horvath zufolge Daniel Pennac in seiner Saga Malaussène eine multiethnische Gesellschaft, die das bunte Völkchen im Stadtteil Belleville verortet. So stereotyp wie zugleich kartographisch genau gestalten sich auch der Krimi bei Eric Le Braz (L’Homme qui tuait des voitures) und die vielfachen städtischen Expeditionen in den Romanen von Jean Echenoz. Keine dieser Geschichten könnte in einem anderen Raum stattfinden. Im Kern ratifiziert Horvath damit das Balzac‘sche Modell, um es mit der Stereotypie modernen Raumerzählens in Beziehung zu setzen. Wobei eine Differenz zu verzeichnen ist: Bei Balzac ist jeder Raum spezifisch im Sinne der comédie humaine, bei den von Horvath genannten Autoren ist er vorwiegend spezifisch mit Bezug auf Sujet und Genre. Keine Geschichte könnte in einem anderen Raum stattfinden - im Grundansatz geht Horvath davon aus, dass der Raum eine Funktion der Geschichte sei. Sjef Houppermans unterstellt tendenziell eine inverse Relation. Er vergleicht die Räumlichkeit bei Echenoz mit der bei Beckett und betont, dass beider Geschichten von derselben Grundspannung von eremitenhaftem Rückzug und abenteuerhafter Vagabundiererei geprägt sind - beider Geschichten, und jede einzelne Geschichte bei ihnen. Womit im Grunde gesagt ist, dass alle Geschichten im selben Raum stattfinden oder aber auch, dass jede Geschichte dazu dient, das immer gleiche räumliche Grundverhältnis auszuarbeiten. Mit anderen Worten: Sjef Houppermans unterstellt nicht, dass der Raum eine Funktion der Geschichte (R=f(G)), sondern dass die Geschichte eine Funktion des Raumes ist (G=f(R)). Obwohl sich anhand der beiden Beiträge explizieren lässt, wie unterschiedlich die Relation einer Geschichte auslegbar ist, ist der Houpperman‘sche Ansatz nicht auf diesen Kontrast zu reduzieren. Denn die im Grundan- <?page no="21"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 21 satz topologische Hypostase G=f(R) ruft naturgemäß zu historiotopologischen Weiterungen auf. In diesem Sinne interpretiert Houppermans das Spannungsverhältnis von Verhocktheit und Abenteurertum vor dem Hintergrund von Moderne und Postmoderne. Ein strukturverwandtes Beziehungsmuster liegt bei Gracq in der Beziehung von Décadence und Moderne vor. 6 Wie im Titel mit dem Landschaftskonzept anklingt, versucht der Band, gemessen an topologisch/ topographisch orientierten Untersuchungen, auch Gegenakzente zu setzen. Dem Beitrag von Winfried Wehle über Literatur als Bewegungsraum (Proust) ist zu entnehmen, dass sich nicht nur die Raumparadigmen ändern - weg von der Landschaft und hin zur Karte -, sondern auch die Selbstinterpretation des Subjekts. Eben dies ist mit Kinästhesie gemeint. Dass man in der Zurückweisung traditioneller idealistischer Positionen beginnt, den eigenen Körper, seine Beweglichkeit und Bewegungsorientierung als ‚Medium‘ der Raumwahrnehmung zu begreifen, als etwas, das in einer so komplexen wie brüchigen und rückbezüglichen Weise Raum, Körper und Intellekt miteinander vermittelt. Was hat das mit Stadtlandschaften oder gar Karten zu tun? Erst einmal nichts. In einer beiläufigen Weise, die man jedoch auch programmatisch lesen kann, konstatiert Wehle: „Gänzlich ausgeblendet ist die Stadt.“ Adressiert ist damit der Ausgangspunkt von Prousts Recherche. Sie beginnt im Zimmer, im Bett, mit einem Halbwachzustand, mit einer Ausblendung der Außenwelt, die Wehle mit der Eröffnung einer phänomenologischen Reduktion gleichsetzt. Im Blick steht damit ein zweiter Traditionsstrang, der das Raumdenken des 20. Jahrhunderts prägt: die Phänomenologie der Wahrnehmung. Im Unterschied zum topographischen Ansatz, der auf die Schrift, auf die materielle Gegebenheit produzierter Räume setzt, ist deren Ausgangspunkt die Wahrnehmung oder der Blick. Schrift oder Blick: Das ist eben das Distinktionsmerkmal, auf das wir bereits bei der Abgrenzung von Topographie und Landschaft gestoßen sind. So divergent beide Ansätze - grob gesagt: der phänomenologische 23 und der topographische - sind, sie terminieren (man muss für den topographischen Ansatz einschränkend sagen: ab Certeau und in dessen Gefolge) in einem Modell dynamischer Räume. Wehle akzentuiert für Proust diesen dynamischen Raumaspekt, indem er Prousts Zeitrecherche als kinästhetischen Bewegungsraum deutet und abschließend die Kutschfahrt ins Zentrum seiner Interpretation stellt. Er deutet hierbei die Kirchtürme als Metapher 23 Die Differenzen zur Phänomenologie arbeitet Wehle in seinem Beitrag heraus. Sie bestehen vorneweg darin, dass das kinästhetische Projekt sich nur literarisch und nicht philosophisch umsetzen lässt. <?page no="22"?> Franziska Sick 22 der Metapher, so wie er auch - wohlgemerkt - Literatur als Bewegungsraum versteht. Der überraschenden Gemeinsamkeit von Proust und Certeau liegt ein durchaus verwandtes Spannungsfeld zugrunde. Prousts Kinästhesie ist, wie Wehle darlegt, gegen die Mechanik einer allzu starren Architektur der Erkenntnisvermögen gewandt. Certeau vollzieht eine vergleichbare Zurückweisung in anderem Feld. Unter der Vorgabe der Exzentrizität des Subjekts entwickelte der (Post)Strukturalismus ‚Architekturen‘ von Wissen und Praktik, die Certeau als zu starr erschienen. Wie Proust weist er diese ‚Architekturen‘ zurück, indem er nicht länger den Blick von oben, sondern den von unten bezieht, indem er wie Proust das Moment der Wege und Bewegungen ins Spiel bringt. Einen anderen Kontrapunkt als Wehle setzt Fritz Nies in seinem Beitrag Pariscope. Die Drehbewegung, die Nies vollzieht, lässt sich vielleicht am genauesten ermessen, wenn man ihr eine ältere Ikonographie beigesellt. Typischer Weise blicken Kartographen, da sie aufgrund von Zahlen und Projektionsverhältnissen eine ‚Gegend‘ darstellen, auf das, was vor ihnen liegt, auf die Karte, die sie erstellen, während Landschaftsmaler, da sie das Bild der Landschaft zu erfassen suchen, aus dem Fenster schauen. Eine ganz andere Konfiguration von Stadt und Blick arbeitet demgegenüber Nies heraus. Anhand eines breiten Korpus aus dem 19. Jahrhundert zeigt er auf, dass man in verbreiteter Weise im Stadtraum liest. An unterschiedlichen Orten - im Park, im Café, auf der Straße - sowie in unterschiedlicher Körperhaltung - im Sitzen, im Stehen und Gehen. Der Topos Raum definiert hierbei nicht länger die Tätigkeit des Abbildenden, sondern den Rezipienten, und dies in einer durchaus überraschenden Weise. Denn zumal im Gefolge der Romantik unterstellt man, dass Lesen eine intime Tätigkeit ist und deshalb in Zimmern statthat. Insofern sind wir auch an dieser Stelle, in wie vermittelter Weise auch immer, auf das Verhältnis von Raum und Subjekt zurückverwiesen. Während Wehle im Rückbezug auf Proust die ‚Innenräumlichkeit des Subjekts‘ am Leitfaden des Leibes untersucht, veräußerlicht Nies den Intimraum der Lektüre in den Stadtraum. Von einer Lektüre geht auch Hans T. Siepe in seinem Beitrag über Butors L’emploi du temps aus, auch wenn es sich hier nicht um eine Lektüre in der Stadt, sondern um die Lektüre eines Stadtplans handelt. Siepe weist auf einen Umstand hin, den man bisher übersehen bzw. sogar editorisch vernachlässigt hat: Der Stadtplan von Bleston ist kein Paratext, sondern integraler Bestandteil des Textes, er wurde nicht von Butor verfasst, sondern von dessen Protagonisten Revel. Deshalb ist er zu lesen wie der sonstige Text. Anders als ein paratextueller Plan dient er nicht bloß zur Orientierung. Vielfach überschneidet sich dieser - wie Siepe detailreich herausarbeitet - subjektive Stadtplan mit der écriture von Revels Tagebuch. Wie dieses ist er Erschließung eines Raums und einer Erinnerung, sofern zu unterstellen ist, dass die- <?page no="23"?> Einleitung: Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte 23 ser Plan nachträglich verfertigt wurde (zu welchem Zeitpunkt auch immer). Er ist ein emploi de l’espace, der gleichwertig neben dem emploi du temps des Tagebuchs steht. Damit enden wir, wie wir begonnen haben: mit einer subjektiven Karte. Während die Situationisten die Karte zerschneiden, zeichnet sie Revel selbst, mit subjektivem Zuschnitt. Unterschiedliche Schichtungen treten auf dieser Strecke zu Tage: (1) Die Überlagerung und die Varianz der Karte als solcher, als thematische Karte und (Beziehungs)Netzwerktopographie, (2) die historische Schichtung zeitlich und räumlich kodierter Räume und dort das Spannungsverhältnis von Landschaft und Karte, (3) unterschiedliche Bezugsrahmen im Verhältnis von Raum und Geschichte - R=f(G) bzw. G=f(R) -, (4) andere Räume, die vom Subjekt aus gedacht sind, mit Bezug auf kinästhetische Raumwahrnehmung, mit Bezug auf die Lektüre im Raum, aber auch auf die Lektüre und écriture einer subjektiven Karte. Das vorliegende Buch geht zurück auf eine gleichnamige Sektion auf dem 7. Frankoromanistentag in Essen (29.09.-02.10.2010). Ohne das große Engagement aller Beteiligten wäre es sicherlich nicht zustande gekommen. Ich danke insbesondere den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihr Interesse am Thema und die bereitgestellten Manuskripte. Wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Typoskripts und der Einrichtung der Druckvorlage kam von Anna Wenner, Christin Selent und Marie-Therese Mävers. Kathrin Heyng vom Narr Verlag besorgte mit Geduld und Umsicht die Betreuung des Bandes. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. <?page no="25"?> Kirsten Wagner La découverte aérienne de la ville. Der diagrammatische Blick auf die Stadt „Paris n’est pas une ville, c’est un monde.“ 1 Mit der institutionellen Herausbildung der thematischen Kartografie und der Statistik formiert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein diagrammatischer Blick auf die Stadt. In dieses neue Wahrnehmungsdispositiv von Stadt rückt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugleich die Luftfotografie ein, die, zusammen mit dem statistischen Kartenmaterial, die materiellen und sozialen Strukturen des urbanen Raumes in ihren Beziehungen zueinander sichtbar machen soll. Quantitative und grafische Methoden bestimmen bereits die Chicagoer Stadtsoziologie der 1920er Jahre und werden auch von Maurice Halbwachs herangezogen, um die soziale Morphologie der modernen Großstadt zu analysieren. Von dem Ethnologen und Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe werden sie im Rahmen einer Gemeinschaftsstudie über den Großraum Paris Anfang der 1950er Jahre systematisch in die Stadtsoziologie eingeführt. 2 Neben den Karten der Studie, die unter anderem auf den Kartografen Jacques Bertin zurückgehen, spielt auch die Luftfotografie in der Untersuchung des sozialen Raumes der Stadt Paris eine konstitutive Rolle. Während die Luftfotografie den sozialen Raum in seiner Totalität zur Anschauung bringt, legen die einzelnen Karten den demografischen, ökonomischen oder geografischen Raum dar, dienen also vor allem der Visualisierung einzelner Teilräume des sozialen Raumes von Paris. Die Studie über Paris et l’agglomération parisienne wird kurze Zeit später von den Situationisten aufgegriffen. Deren Aneignung des Bild- und Kartenmaterials von Paris und anderen Städten in Form so genannter psychogeografischer Karten ist mit einer radikalen Kritik nicht nur am Planungswillen im modernen Städtebau, sondern auch an den empirischen und quantitativen Methoden der Stadtsoziologie gleichgesetzt worden. Ob und inwieweit damit auch der diagrammatische Blick auf die Stadt aufgehoben worden ist, wird am Ende des Beitrages diskutiert. Zuvor jedoch geht es um die 1 Toussaint Loua: Atlas statistique de la population de Paris, Paris: L’École centrale, 1873. 2 Paul-Henry Chombart de Lauwe / Serge Antoine / Jacques Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 1: L’espace social dans une grande cité, vol. 2: Méthodes de recherches pour l’étude d’une grande cité (écologie, statistique, expression graphique), Paris: P.U.F., 1952. <?page no="26"?> Kirsten Wagner 26 Formation des diagrammatischen Blicks im Spannungsfeld von Kartografie, Statistik und Luftfotografie. Zur Formation des diagrammatischen Blicks Im Jahr 1830, zwei Jahre nach seinem Tod, erscheint in London An Historical Atlas in a Series of Maps of the World 3 des Londoner Rechtsanwaltes Edward Quin. Auf insgesamt 21 von Sidney Hall gestochenen Karten werden dem Betrachter nicht nur die Gebiete und Grenzziehungen der historischen Weltreiche vor Augen geführt, sondern überhaupt die Teile der Erde, die zu einzelnen Zeitpunkten der Schöpfungs- und Weltgeschichte bekannt gewesen sind. Quins historischer Atlas ordnet sich in eine Reihe vergleichbarer Kartenwerke ein, wie sie vermehrt seit dem späten 18. Jahrhundert aufkommen und die geografische Darstellung der Erde mit historischen, ökonomischen und bevölkerungsstatistischen Daten verbinden. 4 Und doch ist dieser Atlas von allen anderen durch die theatrale Inszenierung des Blicks auf die Erde unterschieden. Einem Bühnenvorhang gleich wird von Tafel zu Tafel ein mit einer dichten schwarzen Wolkendecke verhangener Himmel Stück für Stück weiter aufgerissen (Abb. 1). Zum Zeitpunkt der Sintflut, mit dem der Atlas im Jahr 2348 v. Chr. einsetzt, nimmt die monochrome schwarze Fläche, die terra incognita, nahezu den gesamten Bildraum ein. Wie durch ein Schlüsselloch erblickt der Betrachter ein geografisches Gebiet, das mit Eden und dem Berg Ararat einen zweifachen Beginn der Geschichte insinuiert: zum einen die Erschaffung des Menschen und seinen Auszug aus dem Garten Eden als Beginn der Besiedelung der Erde (1. Mose 2-3), zum anderen die Vernichtung sowie den Neuanfang des Menschengeschlechts verkörpert durch den Berg Ararat, in der Genesis dem Anlandeplatz der Arche Noah (1. Mose 8). 5 Von dieser doppelten Urszene der Schöpfungsgeschichte aus schreitet die weltliche Geschichte in großen Sprüngen voran (Abb. 2-3). Damit einhergehend wird der eurozentristische Blick immer weiter über die eigenen 3 Edward Quin: An Historical Atlas in a Series of Maps of the World as Known at Different Times, with an Historical Narrative, London: R.B. Seeley and W. Burnside, 1830. Von Quins Atlas erscheinen in den Jahren 1836, 1856 und 1859 drei Auflagen. Dem vorliegenden Beitrag liegt die in der Staatsbibliothek zu Berlin vorhandene zweite Auflage aus dem Jahr 1836 zugrunde. Zu Quins Historischem Atlas und seiner Rezeption cf. Walter Goffart: Historical atlases. The first three hundred years, 1570-1870, Chicago, London: The University of Chicago Press, 2003, p. 343-346. 4 Cf. hierzu ausführlich Goffart: Historical atlases (wie Anm. 3). 5 Die geografische Lokalisation von Eden in Mesopotamien geht mit Augustinus Steuchus und John Calvin auf das 16. Jahrhundert zurück. Cf. Alessandro Scafi: Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, London: The British Library, 2006, p. 261-264. <?page no="27"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 27 Grenzen hinausgeschoben, wird fortlaufend auch geografischer Raum erobert. Abb. 3 A.D. 1493. The Discovery of America, Kupferstich, Sidney Hall, 1830/ 1836. Mit dem Reich Alexanders des Großen im Jahr 323 v. Chr. zeigen sich bereits das gesamte Mittelmeergebiet, der Norden Afrikas und weite Teile Kleinasiens erschlossen. Die Welt zur Zeit Karls des Großen umfasst Europa, einen Großteil Asiens und reicht bis Zentralafrika. Der ‚Entdeckung‘ Ameri- Abb. 1 B.C. 2348. The Deluge, Kupferstich, Sidney Hall, 1830/ 1836. Abb. 2 A.D. 814. Exhibiting the Empire of Charlemagne, Kupferstich, Sidney Hall, 1830/ 1836. <?page no="28"?> Kirsten Wagner 28 kas durch Christoph Kolumbus 1493 ist eine eigene Tafel gewidmet. Auf dieser Karte ist der wolkenverhangene Himmel schon deutlich an die Bildränder gedrängt, die Erde weist kaum noch schwarze bzw. weiße Flecken auf. Endgültig sind sie mit dem symbolischen Datum der amerikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1783 vertrieben. Der opake Vorhang und mit ihm die terra incognita sind verschwunden, dem kartografischen Blick ist die Welt transparent geworden. Mit dem aufreißenden Himmel schließt Quin an eine lange ikonografische Tradition an. Wolkenkoronen geben seit dem Mittelalter den Blick auf die Schöpfung frei, indem sich mit ihnen der Körper des Pantokrators öffnet, der die irdische und himmlische Welt umfasst. Sie sind parergonaler Rahmen für die Erscheinung des Göttlichen, bieten Durchlass für Himmelfahrtsbewegungen von der Erde in ein Jenseitiges oder sind Attribut der personifizierten Winde auf kosmologischen und kartografischen Darstellungen. In Robert Fludds Geschichte des Makro- und Mikrokosmos 6 aus den Jahren 1617-21 findet sich zudem eine monochrome schwarze Bildfläche, das primordiale und unendliche Nichts, aus dem durch den Eintritt des göttlichen Lichts in Stufen der gesamte Makrokosmos hervorgeht; zu Beginn die vier Elemente: das Feuer, die Luft, das Wasser und die Erde. Sie sind die Grundlage, auf der sich ebenfalls der Mensch als Mikrokosmos ausbildet. Wo bei Fludd das göttliche Lumen die schwarze Fläche durchbricht, wird gleichsam Schöpfung freigesetzt. Edward Quins Historischer Atlas spart diesen primordialen Anfang aus, wenn er über die visuelle Argumentation der Kartenfolge auch indirekt gegeben ist. Der Blick durch die Wolkenkorona ist ein bidirektionaler Blick. Von der Erde, aus der Perspektive des Menschen, gewährt er Zugang in eine himmlische und transzendente Sphäre. Umgekehrt, von oben, eröffnet er die Welt als Ganzes, zeigt sie im Überblick. Diese Perspektive wird durch ein allsehendes, ein göttliches Auge eingenommen, das im Unendlichen angesiedelt ist. 7 Jahrtausende vor der modernen Luftfahrt- und Satellitentechnik ist dieser Blick in der kollektiven Vorstellung gegenwärtig gewesen; vielleicht auch, weil es zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört, aus den beschrittenen Wegen eine Art mentale Karte zu formen. 8 Helios und Apollo als Lenker des Sonnenwagens, Ikarus und Phaeton als hybride Himmelsstürmer durchqueren den Himmel und sehen die Welt von oben, noch bevor sich die spätantiken und frühneuzeitlichen Geografen daran 6 Robert Fludd: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica atque Technica Historia, 2 vol., Frankfurt a. M.: Johann Theodor de Bry, 1617-21. 7 Cf. Christine Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin: Merve, 1997, p. 31 (frz. L’œil cartographique de l’art, Paris: Galilée, 1996). 8 So etwa die Vermutung von Denis Cosgrove und William L. Fox: Photography and Flight, London: Reaktion books, 2010, p. 9-12, die durch Studien im Bereich der mentalen Kartografie gestützt werden. <?page no="29"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 29 machen, anhand von Projektionsverfahren jenen imaginären Standpunkt einzunehmen, der ihnen die Welt aus der Perspektive der Götter bzw. Halbgötter zeigt, 9 und der sich heute über Google Earth bietet. Ist es bei Robert Fludd noch das göttliche Auge, vor dem sich die Schöpfung ausbreitet, ist es bei Edward Quin im 19. Jahrhundert das Auge des Geografen und Historikers, dem sich die Weltgeschichte wie von einem hohen Rundturm 10 aus in ihren räumlichen Zusammenhängen erschließen soll. Abb. 4 Frontispiz, La découverte aérienne du monde, Paris 1948. Mit derselben Geste, in derselben ikonografischen Tradition reißt im 20. Jahrhundert noch einmal der Himmel auf (Abb. 4). So erscheint im Jahr 1948 in Paris das von dem Marcel Mauss Schüler und später bedeutenden Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe herausgegebene Buch La découverte aérienne du monde: die Entdeckung der Welt aus der Luft. Nicht mehr ein schwarzer Himmel, eine weiße Wolkendecke gibt den Blick auf die französische Insel Ouessant im Atlantik frei, auf der der Mensch deutliche Spuren 9 Cf. hierzu im Überblick Denis Cosgrove: Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination, Baltimore, London: The John Hopkins University Press, 2003, sowie Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick (wie Anm. 7). 10 Der genaue Vergleich ist der eines Beobachters auf einer Bake bzw. einem Leuchtturm; cf. Quin: An Historical Atlas (wie Anm. 3), p. 343-346. <?page no="30"?> Kirsten Wagner 30 hinterlassen hat. In die Tiefe des Bildraumes erstreckt sich ein Lineament aus Straßen, quer dazu liegen Flurgrenzen. Das Buch La découverte aérienne du monde bezeugt die Faszination an der noch jungen Luftfahrt und der Blickerweiterung, die mit ihr einhergeht. Der Blick aus dem Flugzeug wird von Chombart de Lauwe, der während seiner Zeit in der Résistance als Jagdflieger über Nordafrika und Europa unterwegs gewesen ist, 11 einem mikroskopischen Blick gegenübergestellt: Während der eine auf das unermessliche Kleine abzielt, über das Auge in die Materie eindringt und sie darüber zu kontrollieren versucht, hebt der andere auf das unermesslich Weite ab, das sich dem einzelnen Blick entzieht. 12 Beide, Mikroskop und Luftfahrt, machen etwas sichtbar, das mit bloßen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Über den Vergleich mit dem Mikroskop rückt die vision aérienne in jene Reihe optischer Instrumente auf, die in ihrer Eigenschaft, die anatomischen Wahrnehmungsgrenzen immer weiter zu verschieben, schon von Francis Bacon im 17. Jahrhundert als Erkenntnismedien gehandelt worden sind. 13 Denselben Vergleich hatte vor Chombart de Lauwe bereits Le Corbusier bemüht, mit dem er in den 1950er Jahren in einem Austausch über Fragen der Architektur und Stadt stand, dessen Schriften er möglicherweise aber schon eher rezipierte. 14 Nach Le Corbusier ist das Flugzeug sowohl Inbegriff der modernen Architektur als auch - analog zum Mikroskop - visuelles Instrument, das sich für die Stadtplanung einsetzen lässt. 15 Doch es ist nicht nur der Blick von oben auf die Welt, sondern vielmehr seine Fixierung, seine Aufzeichnung durch die Kamera, die zu neuen Einsichten führt. Tatsächlich rückt die Luftfotografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den verschiedensten Disziplinen zu einem Erkenntnismedium sui generis auf. La découverte aérienne du monde richtet sich entsprechend an den Ethnologen, den Anthropologen, den Archäologen und den Urbanisten. 16 11 Cf. dazu Paul-Henry Chombart de Lauwe: Un anthropologue dans le siècle. Entretiens avec Thierry Paquot en collaboration avec Sylvie Tailland, Paris: Descartes & Cie, 1996, sowie die Autobiografie: Chronique d’un pilote ordinaire, Paris: Félin, 2007. Erste Luftbildaufnahmen für das Pariser Musée de l‘Homme macht Chombart de Lauwe während seiner Feldforschungen mit Marcel Griaule in Kamerun 1936. 12 Cf. Paul Chombart de Lauwe: „La vision aérienne du monde“, in: Id. (ed.): La découverte aérienne du monde, Paris: Horizons de France, 1948, p. 19-52. 13 Cf. Francis Bacon: Neues Organon, 2 vol., ed. Wolfgang Krohn, Hamburg: Meiner, 1990, vol. 2, p. 469. 14 Mit seinen Mitarbeitern am Centre d’études sociologiques führt Chombart de Lauwe u.a. eine Befragung der Bewohner der Unités d’Habitation in Nantes und Marseille durch. Cf. Chombart de Lauwe: Un anthropologue dans le siècle (wie Anm. 11), p. 179-206. 15 Cf. Anthony Vidler: „Photourbanism: Planning the City from Above and from Below“, in: Gary Bridge / Sophie Watson (eds.): A Companion to the City, Oxford: Blackwell Publishing, 2007, p. 35-45. 16 Zur breiten Rezeption der Luftfotografie als ebenso heuristisches wie positivistisches Erkenntnismedium in den Humanwissenschaften; cf. die folgende Bibliografie von <?page no="31"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 31 Auf allen Feldern soll die Luftfotografie dazu dienen, Strukturen offen zu legen, und zwar sowohl Strukturen der Natur als auch solche, die aus der Bearbeitung und Gestaltung der Erdoberfläche durch den Menschen hervorgegangen sind. Gleichzeitig wird ihr ein ästhetischer Wert zugeschrieben, der in ihrem wissenschaftlichen, heuristischen Wert nicht aufgeht; 17 wie seit den Futuristen überhaupt eine eigene Ästhetik der Luftfahrt propagiert wird. Chombart de Lauwe selbst wird die Luftfotografie im Verlauf der 1950er Jahre systematisch in die französische Stadtsoziologie einführen, als deren Begründer er gilt. Und so finden sich auch schon in dem Buch von 1948 Strecken mit Luftaufnahmen von Städten (Abb. 5-6), welche deren historisch gewachsene oder am Reißbrett geplante Gestalt typologisch vergleichend vor Augen führen. 18 Abb. 5 Istres. Exemple de village radiocentrique, Luftbild. Laurence Kruckman: The Technique and Application of Aerial Photography to Anthropology: A Bibliography, Monticello/ Ill.: Council of Planning Librarians, 1972. 17 Der Luftraum wird so als ein Raum des Spiels und des Abenteuers eingeführt, dessen neue und eigene Ästhetik aus den schnellen Perspektivenwechseln, den Wolkenformationen und wechselnden Lichtverhältnissen wie -reflexen hervorgeht; cf. Chombart de Lauwe: Découverte aérienne du monde (wie Anm. 12), p. 25-26. 18 Diese sind einem Beitrag über den Nutzen der Luftfotografie für die „Wissenschaft der Städte“ zugeordnet. Cf. Michel Parent: „Les civilisations vivantes. Les villes et leurs structures“, in: Chombart de Lauwe: Découverte aérienne du monde (wie Anm. 12), p. 281-326. Neben der Luftfotografie führt Parent im Übrigen die Statistik als weitere heranzuziehende Quelle bei der Erforschung von Städten an, gerade auch, weil die statistischen Daten das Luftbild zum Sprechen bringen können, seiner Interpretation dienen. <?page no="32"?> Kirsten Wagner 32 Abb. 6 Calgary. Ville américaine definie par la voie ferrée, Luftbild Einen ähnlichen methodischen Einfluss hatte die Luftfotografie kurz zuvor auf die Geschichtswissenschaften genommen. An Marc Bloch hat Ulrich Raulff exemplarisch gezeigt, inwiefern der im Ersten Weltkrieg als Aufklärungsoffizier und Luftbildauswerter tätige Historiker „diese neuartige Technik der Sichtbarmachung“ aufgreift, um mit ihr im Sinne einer „optischen Archäologie“ eine Sicherung der auf der Erdoberfläche hinterlassenen Spuren zu betreiben. 19 Aus der militärischen Aufklärung geht eine Aufklärung über die Zeiten und Räume sozialer Gruppen hervor. Die Entdeckung der Welt aus der Luft bezieht sich in La decouverte aérienne du monde vor allem auf die Entdeckung von Strukturen der physischen und der Humangeografie. Mit ihrem Fokus auf derartige Strukturen aber folgt die Luftfotografie nicht nur einem göttlichen und kartografischen, sondern einem diagrammatischen Blick. Dieser richtet sich weniger auf die phänomenale Fülle der Welt. Hingegen sucht er nach den dieser Fülle zugrunde liegenden Ordnungen. Seine Repräsentation findet er im Diagramm als einem ikonischen Zeichen, das nicht die äußeren Erscheinungsmerkmale des von ihm dargestellten Gegenstandes oder Sachverhaltes wiedergibt. Es bildet vielmehr dessen innere Ordnung, die Beziehungen seiner Bestandteile untereinander ab. 20 Der diagrammatische Blick ist kein Produkt der Moderne. Wie kosmologische Schemata aus der Antike und der frühen Neuzeit, 19 Cf. Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M.: Fischer, 1995, insb. p. 92-124. 20 Zu dieser zeichentheoretischen Definition des Diagramms, cf. Charles Sanders Peirce: Naturordnung und Zeichenprozess. Studien über Semiotik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, p. 324-326. <?page no="33"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 33 unter anderem bei Robert Fludd, zeigen, hat er schon vor der Moderne eigene Darstellungsformen ausgebildet. Dazu gehören vor allem geometrische Figuren wie Kreis und Quadrat, über die der Aufbau der Schöpfung nachvollzogen, memoriert und vergegenwärtigt wird. 21 Dennoch verbindet sich der diagrammatische Blick gerade mit der Moderne auf eine besondere und neuartige Weise. Denn jetzt ist er nicht länger auf eine Schöpfungsordnung gerichtet, der mit der Säkularisierung ein verbindliches Zentrum abhanden gekommen ist und die unter dem Druck der empirischen Wissenschaften zusehends dynamisiert erscheint. Seine Aufmerksamkeit gilt fortan der Erfassung von Bewegungen und deren Ordnungen: Parallel zu Quins Historischem Atlas entstehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu alle der heute bekannten Formen des Diagramms: Kartogramme, Säulen-, Balken- und Tortendiagramme, 22 und sie alle werden dazu verwendet, Bewegungsstrukturen oder Ströme zu erfassen: Ströme der Bevölkerung, Ströme der Waren, Ströme des Kapitals, Verkehrsströme. Das Datenmaterial dazu liefert neben der Geografie und der Geschichte vor allem die neue Disziplin der Statistik, die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts die grafische Methode und Visualisierung ihres Datenmaterials anhand von Diagrammen selbst zu eigen macht. 23 Inwieweit die Statistik schon in ihren Anfängen mit der Geografie zusammengeht, verdeutlichen nicht nur die Cartes figuratives des Brückenbauingenieurs Charles Joseph Minard aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. 24 In seinem Handbuch über die Gesetzmäßigkeit im Gesellschaftsleben räumt der Münchener Ordinarius für Statistik Georg Mayr der „geographischen Methode“ eine bedeutende Funktion ein, insofern der geografische Raumausschnitt als Referenzrahmen der Daten notwendig zur statistischen Erhebung hinzuzutreten hat, und setzt sich bei der Darlegung der „graphischen Methode“, d.h. der grafischen Darstellung der statistischen Zahlen und Ver- 21 Cf. Andreas Gormans: Geometria et ars memorativa. Studien zur Bedeutung von Kreis und Quadrat als Bestandteile mittelalterlicher Mnemonik und ihrer Wirkungsgeschichte an ausgewählten Beispielen, Aachen 1999, http: / / darwin.bth.rwth-aachen.de/ opus3/ volltexte / 2003/ 551/ (2003, Zugriff am 15.08.2011). 22 Cf. H. Gray Funkhouser: „Historical development of the graphical representation of statistical data“, Osiris 3 (1937), p. 269-404; Joachim Krausse: „Information auf einen Blick. Zur Geschichte der Diagramme“, Form + Zweck 16 (1999), p. 4-23. 23 Zur Entwicklung der Statistik als einer eigenständigen Disziplin, cf. Libby Schweber: Disciplining Statistics. Demography and Vital Statistics in France and England, Durham, London: Duke University Press, 2006; sowie zur grafischen Methode in der Statistik am Beispiel der Niederlande H.H. de Gans / H. Maas (eds.): „Making things visible: the development and use of graphical methods in the Netherlands (1870-1940)“, in: Ida H. Stamhuis / Paul M.M. Klep / Jacques G.S.J. van Maarseveen (eds.): The statistical mind in modern society: the Netherlands (1850-1940), vol. 2: Statistics and scientific work, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2008, p. 199-230. 24 Cf. Charles-Joseph Minard: Des tableaux graphiques et des cartes figuratives, Paris: Impr. de Thunot, 1862. <?page no="34"?> Kirsten Wagner 34 hältnisse in Form von Diagrammen und Kartogrammen ausführlich mit letzteren auseinander. 25 „Das Kartogramm unterscheidet sich“ dabei für Mayr „wesentlich vom Diagramm, daß es nicht bloß eine sinnliche Veranschaulichung der in der Tabelle gebotenen Zahlennachweise, sondern darüber hinaus noch etwas Neues enthält, was die Tabelle nicht darstellen kann [i.e.] die Vorführung der t o p o g r a p h i s c h e n L a g e r u n g der statistischen Verhältnisse […].“ 26 Eben darin liegen auch das Eigene und der wissenschaftliche Mehrwert des Kartogramms. Von Seiten der Geografie ist das Verhältnis zur Statistik durchaus problematischer. So stellen die Kartogramme aus der Statistik zunächst eine Herausforderung an die eigene kartografische Praxis dar, insbesondere auch, weil jene den geografischen Raum zugunsten der grafischen Darstellung der Zahlenverhältnisse vernachlässigen oder sogar verzerren. Gleichzeitig bedient sich die entstehende Humangeografie zusehends selbst statistischer Erhebungen und bezieht sie in die kartografische Repräsentation von Territorien mit ein. Um Abgrenzung bemüht, macht die Geografie den zentralen Unterschied zwischen sich und der Statistik bzw. statistischen Kartografie am Verfahren fest: Verfährt die Statistik vor allem quantitativ und bleibt damit im Abstrakten der reinen Zahl, ist der Geografie mit ihrem unmittelbaren Raumbezug ein qualitatives Moment inhärent. Entsprechend kann die Statistik für die Geografie nicht mehr als eine dienende Wissenschaft sein. Demungeachtet setzt im ausgehenden 19. Jahrhundert eine verstärkte Rezeption der statistischen Kartografie in der Geografie ein. 27 Der diagrammatische Blick der Moderne hat sich also bereits ausgebildet und eigene Repräsentationen hervorgebracht, als die Luftfotografie aufkommt, und wird zu ihrem Wahrnehmungsdispositiv. Luftfotografie, Kartografie und Statistik bilden denn auch von Beginn an einen engen Zusammenhang. Gemeinsam dienen sie der der Aufdeckung sozialer Strukturen und ihrer räumlichen Ordnung. In der Gemeinschaftsstudie zum Großraum Paris, die Chombart de Lauwe im Anschluss an La découverte aérienne du monde und ein mehr technisches Handbuch zur Luftfotografie für Ethnologen vorlegt, 28 wird ein neuer methodischer Zugriff auf den sozialen Raum 25 Cf. Georg Mayr: Die Gesetzmäßigkeit im Gesellschaftsleben. Statistische Studien, München: R. Oldenbourg, 1877, p. 21-27, 71-92. 26 Ibid., p. 85-86. 27 Zur statistischen Kartografie und ihrem Verhältnis zur Geografie im 19. Jahrhundert, cf. ausführlich Gilles Palsky: Des chiffres et des cartes. Naissance et développement de la cartographie quantitative française au XIX siècle, Paris: Comité des travaux historiques et scientifiques, 1996. 28 Paul Chombart de Lauwe: Photographies aériennes: méthode, procédés, interprétation. L’étude de l’homme sur la terre, Paris: A. Colin, 1951. <?page no="35"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 35 der Stadt vorgestellt. 29 Er basiert auf der Verwendung statistischen Datenmaterials, der Luftfotografie und von Karten. Vorläufer dazu lassen sich zum einen in der Chicagoer Schule der Stadtsoziologie finden, die seit den 1920er Jahren mit quantitativen Methoden aus der Statistik arbeitet sowie Karten und Diagramme erstellt. 30 Zum anderen ist Maurice Halbwachs zu nennen. Bereits in seiner Thèse complémentaire pour le doctorat setzt er sich mit Adolphe Quetelets statistischer Methode und ‚Durchschnittsmenschen‘ kritisch auseinander und beschäftigt sich auch in späteren Jahren immer wieder mit quantitativen Methoden der Sozialforschung. 31 Inwieweit sie in die urbanistischen Studien von Halbwachs selbst einfließen, zeigt unter anderem seine Untersuchung Gross Berlin, die 1932 in den Annales d’histoire économique et sociale erscheint. 32 Darin greift er statistische Tabellen zum Bevölkerungszuwachs in den einzelnen Stadtteilen Berlins auf bzw. berechnet diese neu und setzt auch Karten zur Veranschaulichung der Stadterweiterung im 19. Jahrhundert oder den Verwaltungseinheiten Berlins ein. Ebenso greift er für die Untersuchung auf bestehende Kartogramme zur Bevölkerungsdichte und zur Verkehrsgeografie zurück. Luftfotografien Berlins tauchen in dem Beitrag nicht auf, gleichwohl liegen ihr solche zugrunde, wie aus dem Verweis auf Emmanuel de Martonnes Darstellung Deutschlands in der von Paul Vidal de la Blache und Lucien Gallois herausgegebenen Géographie universelle hervorgeht. 33 Der ausführlichen Beschreibung von Bevölkerung, Wirtschaft, Landschaften und ausgewählten Städten Deutschlands stehen bei Martonne topografische und statistische Karten wie Luftfotografien zur Seite, auf die Halbwachs unmittelbar Bezug nimmt. Derselbe Martonne wird nicht nur in das Buch La découverte aérienne du monde einführen, sondern 1948 seinerseits ein Buch zur Géographie aérienne 34 vorlegen. 29 Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne (wie Anm. 2), cf. hierzu insb. den Methodenteil im zweiten Band der Studie. 30 Zu dieser lange vernachlässigten Seite der Chicagoer Stadtsoziologie, cf. Martin Bulmer: The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research, Chicago, London: The University of Chicago Press, 1984, p. 151-189. In Frankreich wird die Chicagoer Stadtsoziologie vor allem durch Maurice Halbwachs bekannt. Cf. Maurice Halbwachs: „Chicago, expérience ethnique“, Annales d’histoire économique et sociale 4 (1932), 13, p. 11-49. 31 Cf. Maurice Halbwachs: La théorie de l’homme moyen. Essai sur Quetelet et la statistique morale, Paris: Félix Alcan, 1912. 32 Maurice Halbwachs: „« Gross Berlin ». Grande agglomération ou grande ville? “, Annales d’histoire économique et sociale 6 (1934), 30, p. 547-570. 33 Cf. Emmanuel de Martonne: „Europe Centrale, 2ème partie: L’Allemagne“, in: Paul Vidal de la Blache / Lucien Gallois (eds.): Géographie universelle, vol. IV, Paris: A. Colin, 1930, p. 131-370. 34 Emmanuel de Martonne: Géographie aérienne, Paris: Albin Michel, 1948. <?page no="36"?> Kirsten Wagner 36 Trotz dieser Vorläufer ist der Parisstudie von Chombart de Lauwe zuzuschreiben, die Luftfotografie in Verbindung mit der Statistik und der Kartografie systematisch in die Stadtsoziologie eingeführt zu haben. Im zweiten Band hält sie so auch einen Methodenteil vor, der sich mit der Anwendung der Luftfotografie in der Stadtforschung, der Erstellung und dem Vergleich von Karten sowie dem Gebrauch der Statistik beschäftigt. Für die entsprechende recherche graphique, welche sich im Einzelnen auf topografische und statistische Karten und ferner Diagramme bezieht, zeichnet der französische Kartograf Jacques Bertin verantwortlich. Bereits in ihrem Zusammenhang entwickelt Bertin erste Ansätze zu einer Zeichentheorie der Grafik - und der Karte als einer besonderen Klasse des grafischen Zeichens -, die 1967 als Sémiologie graphique. Les diagrammes, les réseaux, les cartes erscheint und zum Standardwerk der heutigen Informationsgrafik wird. Der diagrammatische Blick auf die Stadt Sich ein Bild von der Stadt zu machen, stellt in der Moderne ein neues Problem dar. Landflucht, Bevölkerungswachstum und Industrialisierung im 19. Jahrhundert entgrenzen die Stadt auf eine bisher nicht gekannte Weise. Die räumliche, ökonomische, kulturelle und soziale Ausdifferenzierung von Städten bringt eine Komplexität mit sich, die, um erfasst und beherrscht werden zu können, auf neue Formen der Visualisierung drängt. So stellen Richard Wohl und Anselm Strauss in einem stadtsoziologischen Beitrag von 1958 fest, dass „the complexity of the city calls for symbolic representation“. 35 Um die Stadt sehen, sehen im Sinne von begreifen zu können, erweisen sich Bilder der Stadt als unerlässlich. Doch nicht die Karte ist es, die Wohl und Strauss für besonders geeignet halten, sich ein Bild von der räumlichen Ordnung der Stadt zu machen. Es ist für sie ebenfalls die Luftfotografie: „The most common recourse in getting a spatial image of the city is to look at an aerial photograph in which the whole city - or a considerable portion of it - is seen from a great height. Such a view seems to encompass the city, psychologically as well as physically.“ 36 Wenn auch die Betrachtung und Interpretation der Luftaufnahmen von Städten aufgrund der Verzerrung des fotografischen Bildes erlernt werden müssen, erlaubten sie wie kein anderes Bild, die Stadt in ihrer Dichte und Masse zur Erscheinung zu bringen und gleichzeitig auf die wesentlichen Landmarken zu reduzieren. 37 35 R. Richard Wohl / Anselm L. Strauss (eds.): „Symbolic representation and the urban milieu“, American Journal of Sociology 63 (1958), 5, p. 523-532. 36 Ibid., p. 523sq. 37 „Such a picture (an aerial photograph, Herv. K.W.) really serves to reduce the image of the city to a suggestive expression of density and mass. Furthermore, it simplifies the city by blurring great masses of detail and fixing the observer’s attention on selected <?page no="37"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 37 Dem Blick von oben, ob vom Flugzeug oder von einem hohen Gebäude, zeigt sich die Stadt „like a diagram, pinpointed here and there by landmarks“. 38 Abb. 7 Jersey City from the South, Luftbild; The visual form of Jersey City as seen in the field, diagrammatische Karte. Die Ordnung der Stadt wird über ein visuelles, ein diagrammatisches Bild erfasst, das gleichzeitig zur Handlungsgrundlage wird und der Orientierung in der Stadt dient. An Wohl und Strauss anknüpfend bringt der amerikanische Städteplaner Kevin Lynch im Jahr 1960 seine Epoche machende Studie The Image of the City heraus. 39 Sie geht auf eine empirische Untersuchung der wahrnehmbaren Form dreier amerikanischer Städte zurück: von Boston, Jersey City und Los Angeles. Kennzeichnend für Lynchs Studie ist der Einsatz sowohl von Luftfotografien wie auch von Karten, die nicht mehr nur topografisch, sondern als Diagramm ausgeführt sind. Alle drei Städte werden zu allererst über eine Luftfotografie präsentiert (Abb. 7-8), und zwar jeweils aus landmarks that emerge out of the relatively undifferentiated background.“ (Ibid., p. 524). 38 Ibid., p. 525. 39 Kevin Lynch: The Image of the City, Cambridge, Mass.: MIT Press, 1960. <?page no="38"?> Kirsten Wagner 38 der Vogelperspektive. Es folgen Karten bzw. Diagramme zu den drei Städten, aus denen die wesentlichen Gestaltelemente hervorgehen, die nach Lynch überhaupt das Bild der Stadt kennzeichnen. Es sind dies Wege, Ränder, Knoten, Bereiche und Landmarken. Den Luftfotografien, topografischen Karten und Diagrammen kommt in Lynchs Studie zweierlei Funktion zu, eine repräsentative und eine operationale: Zum einen sind sie selbst Bilder von Städten, dies entspricht ihrer Repräsentationsfunktion. Zum anderen sind sie Arbeits- und Erkenntnisinstrumente, anhand derer die visuellen Strukturen der Städte erfasst werden sollen, worin sich ihr operationaler Status begründet. Die augenfällige Kombination von Luftaufnahme und Karte findet sich nicht erst bei Lynch oder Chombart de Lauwe. Bereits in den Anfängen der Luftfotografie, als sie innerhalb der Geografie zu einem Hilfsmedium des Kartografen bestimmt wird, tauchen Gegenüberstellungen von Luftaufnahmen und topografischen Karten auf. In eine von der American Geographical Society 1922 herausgegebene Studie zur Anwendung der Luftfotografie in der Geografie sind entsprechende Bildpaare aufgenommen (Abb. 8-9). 40 Ausrichtung und Ausschnitt von Luftaufnahme und topografischer Karte entsprechen sich, so dass sie unmittelbar miteinander verglichen werden können. Für die Luftaufnahmen kommen selbstauslösende Kameras zum Einsatz. Während das Flugzeug in einem begrenzten Radius über die Stadt fliegt, tätigen speziell für die Luftfotografie konstruierte „mapping came- 40 Willis T. Lee: The Face of the Earth as Seen from the Air. A study in the Application of Airplane Photography to Geography, New York: American Geographical Society, 1922. Abb. 8 Topografische Karte der Stadt Rochester. Abb. 9 Luftbildmontage der Stadt Rochester. <?page no="39"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 39 ras“ 41 automatisch Aufnahmen, auf deren Negativen zudem das Winkelmaß, die Höhe, der Zeitpunkt der Belichtung und eine Seriennummer verzeichnet sind. Diese Angaben erweisen sich als notwendig, um einen homogenen Satz an Einzelaufnahmen zusammenstellen zu können, aus dem später - im Übrigen auf Grundlage der topografischen Geländekarten - ein Gesamtbild des fotografierten Gebietes montiert wird. Der Begriff für die entsprechenden Fotomontagen ist der des „Mosaiks“. 42 Der synthetische Überblick, den die Luftfotografie bietet, hat also faktisch ein Tableau von Einzelbildern zur Voraussetzung. Aus dem Luftbild der Stadt Rochester (cf. Abb. 9) gehen die insgesamt 82 Bildplatten kaum noch hervor, lediglich an einzelnen Grauwertübergängen innerhalb des Gesamtbildes ist die Montage abzulesen. Deutlicher wird das Verfahren an dem folgenden Beispiel der Luftaufnahme eines Flussverlaufes (Abb. 10). Abb. 10 Luftbildmontage eines Flussverlaufes. 41 Dies ist in den 1920er Jahren vor allem die Eastman mapping camera. Cf. Lee: Face of the Earth (wie Anm. 40). 42 „In its simplest form, the mosaic is made by mounting overlapping prints so that the corresponding details coincide. This type of mosaic is quite adequate for relatively small areas or where a high degree of accuracy is not required. For larger areas and greater accuracy, an accurate outline map is used as a base upon which the prints are mounted so that recognizable features coincide with their location on the map. When the prints are properly arranged, the better print of each overlapping pair is selected, the excess paper removed, and the whole mounted and photographed.“ (Ibid., p. 20). <?page no="40"?> Kirsten Wagner 40 Der Mehrwert der Luftfotografie wird gegenüber der konventionellen Kartenherstellung in der Exaktheit, Konkretion und Geschwindigkeit gesehen, mit der Luftaufnahmen von geografischen Gebieten hergestellt werden können. Paris lässt sich Anfang der 1920er Jahre während eines Tages über 800 Fototafeln aus der Luft aufzeichnen, für Washington werden nur zweieinhalb Stunden und weniger als 200 Belichtungen benötigt. Abb. 11 Luftbildmontage der Stadt Paris. Mit einem montierten Luftbild von Paris setzt auch die von Chombart de Lauwe gemeinsam mit dem Kartografen Bertin und anderen Wissenschaftlern am Centre d‘études sociologiques durchgeführte Studie über den Großraum Paris ein (Abb. 11). Unmittelbar auf die Luftaufnahme folgen eine Reliefkarte der Region von Jacques Bertin sowie neun weitere thematische und statistische Karten (Abb. 12-13). Allen Karten liegt mit der flächentreuen Azimutalprojektion dasselbe Projektionsverfahren zugrunde. Bei diesem Projektionsverfahren ist das Kartenzentrum von Verzerrungen frei, diese stellen sich erst an den Rändern, dort jedoch sehr deutlich, ein. Insofern entspricht die Azimutalprojektion auf besondere Weise der Vertikalperspektive aus der Luftfotografie. 43 In der Geschichte der Kartografie vorzugsweise zur Darstellung der Erdpole verwendet, wird über die Azimutalprojektion nunmehr die Stadt Paris zum Dreh- und Angelpunkt der Welt. Dabei muten die 43 Noch in anderer Hinsicht orientiert sich die Kartenproduktion der Forschergruppe um Chombart de Lauwe an der Luftfotografie. Der für eine Reihe von Karten herangezogene Maßstab von 1: 80.000 „est un peu celui de l’aviateur volant à haute altitude.“ (Serge Antoine: „Morphologie générale de Paris“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol 1 (wie Anm. 2), p. 65-81, hier 65). <?page no="41"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 41 kreisrunden Karten mit dem im Zentrum grafisch hervorgehobenen Stadtkern von Paris wie Augäpfel an, so dass sich hier das die Stadt betrachtende Auge gleichsam selbst zu betrachten scheint. Abb. 12 Population active; un point pour 200 habitants; echelle : 1/ 300.000; elections de la Sécurite sociale juin 1950. Abb. 13 Densité de population; en gris noir : plus de 5.000 habitants à l’hectare; en gris clair : de 1.000 à 5.000; en pointillé : de 500 à 1.000; echelle : 1/ 300.000; d’après H. Sellier et R. Humery 1936. <?page no="42"?> Kirsten Wagner 42 Alle thematischen und statistischen Karten haben jeweils einen anderen Aspekt des Großraums Paris zum Gegenstand: von der bebauten Oberfläche des Stadtgebietes über die Einwohnerzahl, Bevölkerungsdichte und erwerbstätige Bevölkerung bis hin zu den Transportzeiten von den äußeren Stadtringen zum zweiten Arrondissement La Bourse im historischen Stadtkern und der Verteilung der Angestellten zweier großer Warenhäuser und Fabriken über die Stadt. Die Parisstudie hat weniger die wahrnehmbare Form der Stadt zum Gegenstand, sondern ihren sozialen Raum. Bei seiner Definition des sozialen Raumes orientiert sich Chombart de Lauwe unmittelbar an Maurice Halbwachs, 44 dem, wie auch Marcel Mauss, die Parisstudie gewidmet ist. Nicht nur in methodischer Hinsicht bestehen also Anknüpfungspunkte an Halbwachs, der seinen urbanistischen Studien bereits Statistiken, Karten und Luftfotografien zugrunde gelegt hatte, sondern auch in Bezug auf das Raumkonzept. Nach Halbwachs vollzieht sich jede Handlung einer sozialen Gruppe innerhalb eines räumlichen Rahmens, findet an konkreten Orten, in bestimmten Architekturen statt, die von ihr geformt werden und die ihrerseits auf die Handlungen und Vorstellungen dieser Gruppe zurückwirken: Lorsqu’un groupe est inséré dans une partie de l’espace, il la transforme à son image, mais en même temps il se plie et s’adapte à des choses matérielles qui lui résistent. Il s’enferme dans le cadre qu’il a construit. L’image du milieu extérieur et des rapports stables qu’il entretient avec lui passe au premier plan de l’idée qu’il se fait de lui-même. 45 Zugleich spricht Halbwachs nicht von einem einheitlichen Raum, sondern von verschiedenen Räumen, die sich überlagern, so von einem juridischen, einem ökonomischen und einem religiösen Raum. Von einer Reihe nebeneinander bestehender Räume, die sich zum Teil decken, zum Teil aller Überlagerung entziehen, zusammen jedoch den espace social bilden, geht auch Chombart de Lauwe aus. Neben den drei oben erwähnten Räumen führt er des Weiteren einen topografischen, biologischen, anthropologischen, tem- 44 Auch Kevin Lynchs Studie über die wahrnehmbare Form der Stadt bezieht sich auf Halbwachs. Für Lynch erweisen sich so Halbwachs’ Überlegungen zu den räumlichen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses als zentral. Unterstützen sie doch die The Image of the City zugrunde gelegte Orientierungsforschung aus der Physiologie, Psychologie und Ethnologie, insofern sie den materiellen Raum als ein „mnemonisches System“ kollektiver Vorstellungen ausweisen, das nicht nur der Orientierung zweckdienlich ist, sondern dem zugleich eine soziale Funktion hinsichtlich der Gemeinschaftsbildung zukommt. Cf. Lynch: Image of the City (wie Anm. 39), p. 126. Während Lynch aus dem Verhältnis zwischen dem materiellen Raum und den kollektiven Vorstellungen, die sich gleichermaßen in diesen Raum einschreiben und von ihm geprägt werden, jedoch keinen heuristischen Nutzen zieht, überhaupt die Frage nach der sozialen Bedeutung von Raumordnungen aus seiner formalen Untersuchung weitgehend ausschließt, steht diese Frage im Mittelpunkt der Parisstudie von Chombart de Lauwe. 45 Maurice Halbwachs: La mémoire collective, Paris: P.U.F., 1950, p. 132. <?page no="43"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 43 poralen, demografischen und kulturellen Raum an. Insbesondere der kulturelle Raum erscheint hierbei durch die kollektiven Vorstellungen geprägt, die im konkreten Raum ihren materiellen Ausdruck finden. Der aus all diesen Teilräumen hervorgehende soziale Raum wird damit durch die gebauten Symbole einer Kultur, etwa durch Kirchen, ebenso charakterisiert wie durch die Ansiedlung von Industrien, die Art der Wohnformen, die räumliche Verteilung einer bestimmten Berufsgruppe oder, auch das, von Menschen mit einer bestimmten Körpergröße. 46 Auf drei Ebenen wird der soziale Raum in der Parisstudie zum Untersuchungsgegenstand gemacht: erstens hinsichtlich der Verteilung und Überlagerung seiner Teilräume. Dazu werden zu jedem dieser Räume Karten angefertigt und gleichsam auf ihre Schnittmengen hin verglichen. Wenn dies ein Zerlegen des „espace total concret en une série d’espaces particuliers“ zur Voraussetzung hat, kommt es den Luftfotografien zu, den alle Teilräume synthetisierenden Blick wieder herzustellen. 47 Die von der Forschergruppe erstellte Kartothek mit rund 400 Karten zum Großraum Paris umfasst: Bevölkerungszahlen, -zuwachs und -dichte, ansässige und berufstätige Bevölkerung, Verkehrsnetze, Geburts-, Krankheits- und Sterberaten, regionale und nationale Herkunft der Stadtbewohner, Berufsgruppen, Freizeitbeschäftigungen, religiöse Praktiken, politische Wahlen, Jugendkriminalität, Selbstmorde, uneheliche Geburten, Leseverhalten. Vorbild für das umfangreiche Mapping-Projekt ist unter anderem der Atlas statistique de la population de Paris aus dem Jahr 1873. Er geht auf Toussaint Loua zurück, Generalsekretär der Société statistique de Paris, dem sich die Stadt Paris angesichts der Komplexität der erhobenen Bevölkerungsdaten als eine ganze Welt darbietet. 48 Neben einer Fülle statistischer Listen und Tabellen enthält der Atlas im letzten Drittel eine Folge an Karten, denen mit den 20 Arrondissements von Paris derselbe Raumausschnitt zugrunde liegt wie der Mehrzahl an Karten in Chombart de Lauwes Studie. Bezeichnenderweise hebt ein Mitarbeiter von Chombart de Lauwe, Serge Antoine, hervor, dass das Originäre der Parisstudie weniger in der Verwendung statistischer und thematischer Karten liegt, sondern einerseits darin, bestehendes und selbst erstelltes Kartenmaterial auf einen einheitlichen Maßstab und in eine verbindliche grafische 46 Cf. Paul-Henry Chombart de Lauwe: „L’étude de l’espace social“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 1 (wie Anm. 2), p. 19-26, hier 24. 47 Cf. Chombart de Lauwe: „L’étude de l’espace social“ (wie Anm. 2), p. 21. 48 Des Weiteren wird Jacques Bertillons: Atlas de statistique graphique de la ville de Paris, 2 vol., Paris: G. Masson, 1888-1989, erwähnt. <?page no="44"?> Kirsten Wagner 44 Form gebracht zu haben, und es andererseits systematisch auf soziale Phänomene anzuwenden. 49 Zweitens bedarf es einer historischen Perspektive auf die verschiedenen Teilräume, welche durch die Entwicklung der Wohnformen, die ökonomischen Transformationen und die sich wandelnden Kommunikationstechniken geprägt sind. 50 Die entwicklungsgeschichtliche Perspektive lässt sich ebenfalls über Karten, genauer über den Vergleich historischer Karten einnehmen. Ein drittes Element der Untersuchung sind die Verbindungen zwischen den materiellen Formen einer Gesellschaft und ihren Vorstellungen und Idealen. Ein Stadtviertel wird demnach nicht allein durch geografische und ökonomische Faktoren bestimmt, sondern auch durch die Vorstellungen, die sich sowohl die Bewohner dieses Viertel als auch die anderer Stadtteile von ihm machen. 51 Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wofür die Luftfotografie, die den Auftakt zur Parisstudie gibt, und die ihr folgenden Karten stehen: Bietet die Luftbildmontage einen Überblick über den gesamten sozialen Raum von Paris, dann zeigen die Karten im Einzelnen den topografischen, den demografischen und den ökonomischen Raum der Stadt. Eine solche Studie der Stadt, die wesentlich auf einer Übersetzung statistischen Datenmaterials in eine raumbezogene grafische Form basiert, soll zu einem neuen und besseren Verständnis der sozialen Morphologie der Stadt führen und darüber hinaus dem Fortschritt der von Chombart de Lauwe verfolgten Sozialethnografie dienen. 52 Auch in der Parisstudie kommen der Luftfotografie und der Karte eine repräsentative und eine operative Funktion zu. Sie bilden den 49 Cf. Serge Antoine: „Cartes comparatives à petite échelle“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 2 (wie Anm. 2), p. 38-47. 50 Cf. ibid. 51 Chombart de Lauwe nimmt damit eine wesentliche Fragestellung von Henri Lefebvre vorweg. Auf die Wurzeln dieser Fragestellung in der (deutschen) Geografie Bezug nehmend, führt Chombart de Lauwe aus: „Je me suis intéressé aux rapports entre l’utilisation de l’espace au sol et la représentation de l’espace chez les habitants de ce village; […] En étudiant plus systématiquement les villes, notamment Paris et l’agglomération parisienne, nous nous sommes rendu compte qu’il y avait deux aspects complémentaires à analyser, à savoir la pratique de l’espace, l’utilisation des objets dans cet espace, et la représentation de cet espace et de ces pratiques, ce qui permettait de mettre en évidence les structures sociales d’une société. J’avais très vite affirmé que la société était inscrite sur le sol de la ville, thème qui a été repris par la suite par Henri Lefebvre. C’était en réalité une remarque assez banale, que les géographes allemands avaient déjà formulée et que je n’avais pas moi-même présentée comme une chose extraordinaire, mais pour certains chercheurs elle est devenue la grande découverte de Lefebvre, ce qui m’a bien amusé! “ (Chombart de Lauwe: Un anthropologue dans le siècle (wie Anm. 11), p. 59-60). 52 Cf. Antoine: „Morphologie générale“ (wie Anm. 43), p. 65. <?page no="45"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 45 sozialen Raum nicht nur ab. Sie machen ihn überhaupt erst sichtbar und werden zum Analyseinstrument seiner Strukturen. Diese Interpretation wird durch die methodischen Ausführungen von Chombart de Lauwe zu den „Vues aériennes dans les études urbaines“ sowie von Jacques Bertin zur „Recherche graphique“ im Anhang der Studie weiter gestützt. Im Gegensatz zur Karte, überhaupt zur Grafik, die, will sie lesbar bleiben, eine Reduktion an Information vornehmen muss, ermöglicht die Luftfotografie für Chombart de Lauwe ein naturgetreues und detailliertes Bild des urbanen Gewebes (tissu urbain), einen Blick, der alle sich in diesem Gewebe überlagernden Schichten des Ökonomischen, Demografischen, Kulturellen synthetisiert. Vertikal- und Vogelperspektive als die Perspektiven der Luftfotografie sowie stereoskopische Ansichten der Stadt geben zudem vollkommen neue Einsichten in ihren sozialen Raum. Demgegenüber eignen sich die Grafiken - die Karten und die Diagramme - zur Darstellung einzelner Aspekte wie der Bevölkerungsdichte oder der historischen Stadtgrenzen, bringen also vor allem die einzelnen Schichten oder Teilräume des sozialen Raumes der Stadt zur Anschauung. 53 Für Bertin kommt die grafische Recherche im Rahmen der interdisziplinären Studie noch zu einem weiteren Recht. Die kartografischen Visualisierungen des Großraums Paris erweisen sich - wie die Grafik überhaupt - als eine Sprache, die gleich der verbalen Sprache eigenen Regeln gehorcht und der Kommunikation zwischen den an der Studie beteiligten Wissenschaftlern dient. Oder wie Bertin es formuliert: Vor einer ausgebreiteten Karte sehen alle zum selben Zeitpunkt dieselben Sachen, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln, so dass Fragen und Probleme, aber auch Lösungen auftauchen, die die weitere Arbeit anregen, zumal die Karte in ihrer Einfachheit, in ihrem Reduktionismus, jede Frage auseinanderlegt, jede Idee klärt. 54 Dies beschreibt, neben der repräsentativen und operativen, die kommunikative Funktion der in der Studie zum Großraum Paris versammelten Grafiken. Das Regelwerk der Grafik als Sprache umfasst sowohl die Anordnung der visuellen Zeichen, ihre Syntax, als auch ihre Bedeutung, ihre Semantik. Und keine Studie, die sich mit der Entwicklung von Phänomenen in Raum und Zeit befasst, kommt für Bertin ohne diese visuelle Sprache, kommt ohne Diagramme und Karten aus. Die weitere Untersuchung des Großraumes Paris folgt einer Untergliederung der Stadt in urbane Zonen, geografische Sektionen und Quartiere. 53 Cf. Paul-Henry Chombart de Lauwe: „Les vues aériennes dans l’étude urbaine“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 2 (wie Anm. 2), p. 8-11. 54 Jacques Bertin: „Recherche graphique“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 2 (wie Anm. 2), p. 12-37, hier 37. <?page no="46"?> Kirsten Wagner 46 Ein wesentliches Ergebnis wird die Zweibzw. Dreiteilung von Paris in einen bürgerlichen Teil im Westen und einen der Arbeiterklasse im Osten sowie einen tertiären Sektor in der Mitte sein. Kennzeichnend für die Osthälfte sind unter anderem ein deutlich geringerer Wohnkomfort, eine schlechtere medizinische Versorgung und damit zusammenhängend höhere Sterberaten durch Tuberkulose. Wie die verwaltungstechnischen Arrondissements von Paris erweisen sich die konzentrischen Zonen der Stadt vom Zentrum zu den Randgebieten, die auf die Chicagoer Schule zurückgehen, 55 lediglich als eine abstrakte Einteilung. Die gelebten Einheiten der Stadt, wie sie sich dem normalen, dem alltäglichen Blick von unten, aus der Feldperspektive bieten, werden von der Forschergruppe ebenfalls über Luftfotografien ermittelt: 56 Es sind dies geografische Sektionen und insbesondere einzelne Quartiere. Als geografische Sektion gilt ein durch das Straßen- und Schienennetz sowie Gebäude und Grünflächen mehr oder minder klar abgegrenzter räumlicher Bereich. Dieser kann, muss aber nicht mit einem Quartier als elementarer Einheit der Stadt zusammenfallen. Das Quartier, das in der Regel ein ökonomisches, ein kulturelles Zentrum oder einen Verkehrsknotenpunkt aufweist, wird zudem durch das Verhalten und den sprachlichen Ausdruck seiner Bewohner charakterisiert. Stellvertretend für ein solches Verhalten zeichnet die Forschergruppe um Chombart de Lauwe die Wege einer Studentin aus dem 16. Arrondissement, einem bürgerlichen Quartier, während eines Jahres auf. Gezeigt werden sollen die Anzahl und die räumlichen Entfernungen sozialer Kontakte sowie die damit verbundenen Aktionsradien innerhalb der Stadt, die für den bürgerlichen Westteil und den der Arbeiter im Osten deutlich unterschieden sind. 57 Daraus resultiert die folgende Karte (Abb. 14). Sie stellt zugleich den richtungsweisenden Versuch einer Aufzeichnung von Bewegung durch den urbanen Raum dar. 55 Chombart de Lauwe setzt sich mit dem auf Ernest W. Burgess zurückgehenden Schema ausführlich im ersten Teil der Studie auseinander. Cf. Paul-Henry Chombart de Lauwe: „L’expansion urbaine et les zones concentriques“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 1 (wie Anm. 2), p. 40-53. 56 Cf. Antoine: „Morphologie générale“ (wie Anm. 43), p. 65. 57 Cf. hierzu Paul-Henry Chombart de Lauwe / Serge Antoine / M. Alibert: „Exemple d’étude des rapports sociaux“, in: Chombart de Lauwe / Antoine / Bertin et al. (eds.): Paris et l’agglomération parisienne, vol. 1 (wie Anm. 2), p. 104-108. <?page no="47"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 47 Abb. 14 Trajets pendant un an d’une jeune fille du XVIe arrondissement. Sind Karten historisch aus Bewegungen von Nomaden, Pilgern und später Landvermessern hervorgegangen, ist es ein Kennzeichen der Kartografiegeschichte, diese Spuren von Bewegungen aus der Karte getilgt zu haben. Karten zeigen sich entsprechend als statische Tableaus. Ihre Ordnung ist die des gleichzeitigen Nebeneinanders. 58 Doch bereits im Rahmen der thematischen und statistischen Kartografie des 19. Jahrhunderts und der sie begleitenden Entwicklung des modernen Diagramms wird der Versuch unternommen, wieder Bewegungen im Raum abzubilden. Ähnliches lässt sich für die Militärkartografie beobachten. Die grafischen Zeichen, mit denen diese Bewegungen vorzugsweise repräsentiert werden, sind gerichtete Linien und Flächen sowie später Pfeile. 59 So am Beispiel der Kartogramme von Charles Joseph Minard aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu sehen, über die Bevölkerungs-, Truppen- und Warenbewegungen erfasst werden. 60 58 Cf. hierzu Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988 (frz. L’invention du quotidien, vol. I: Arts de faire, Paris: U.G.E., 1980) sowie Jan Lazardzig / Kirsten Wagner (eds.): „Raumwahrnehmung und Wissensproduktion. Erkundungen im Interferenzbereich von Theorie und Praxis“, in: Christina Lechtermann / Kirsten Wagner / Horst Wenzel (eds.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Erich Schmidt, 2007, p. 123-139. 59 Cf. hierzu auch Martin Warnke: „Raumgreifende Grafik“, in: Cornelia Jöchner (ed.): Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin: Akademie, 2003, p. 91-109. Allerdings werden dort nicht die parallelen Entwicklungen im Bereich der thematischen und statistischen Kartografie berücksichtigt. 60 Cf. Minard: Tableaux graphiques (wie Anm. 24). <?page no="48"?> Kirsten Wagner 48 Das Spiel mit dem diagrammatischen Blick Das kartografische Bewegungsprofil aus der Studie zum Großraum Paris taucht wenig später in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen wieder auf. Zum einen in Jacques Bertins Sémiologie graphique. 61 Dort ist es eines von mehreren Beispielen für die grafische Darstellung von unterschiedlichen Bewegungen im Raum und den sich dadurch ergebenden Beziehungen zwischen Orten. Zum anderen wird die diagrammatische Karte von Guy Debord, Vertreter der Lettristischen und später der Situationistischen Internationale, einer der letzten künstlerischen Avantgarden der Moderne, für seine Theorie der dérive herangezogen. 62 Unter Verweis auf Chombart de Lauwe hebt Debord hervor, dass das Quartier einer Stadt ebenso durch seine geografischen und ökonomischen Strukturen wie durch die Vorstellungen, die sich die Bewohner von ihm machen, geprägt ist. Mit Chombart der Lauwe bzw. Halbwachs spricht Debord in diesem Zusammenhang auch von einer sozialen Morphologie der Stadt. 63 Die zitierte Karte eröffnet hierbei vor allem, wie eng und zweckgerichtet der Bewegungs- und Handlungsradius der Bewohner eines Quartiers sein kann, denn er konzentriert sich wie bei der Studentin auf ein Dreieck zwischen ihrem Wohnort, dem Ort ihres Studiums und einem weiteren, an dem sie Klavierunterricht erhält. Weite Teile der Stadt bleiben damit brach liegen. Offensichtlich übt beides auf Debord eine Faszination aus: einerseits die in der Einseitigkeit der Wege sich ausdrückende Verhaltensbeschränkung und andererseits die Möglichkeit der grafischen Notation von Bewegungen im Raum über ein System von Linien. Er vergleicht die Karte einer modernen Poesie, welche affektive Reaktionen auslösen kann, und wird - auf Basis von alten Karten, Luftfoto- 61 Darin finden sich noch weitere Karten aus der Studie zum Großraum Paris. 62 Guy Debord: „Théorie de la dérive“, Internationale Situationniste (1959), 3, p. 19-23. Der Text erscheint bereits 1956 im Heft 9 von Les Lèvres nues. Eine deutsche Übersetzung dieser und anderer Schriften der Lettristischen Internationale, aus der durch den Zusammenschluss mit dem Imaginären Bauhaus die Situationisten hervorgehen, sowie der Situationisten selbst finden sich in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt und Roberto Ohrt, Hamburg: Nautilus, 1995, sowie in: Guy Debord (ed.): Potlatch. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale. Mit einem Dokumentenanhang, Berlin: Tiamat, 2002. 63 Cf. Debord: „Théorie de la dérive“ (wie Anm. 62), p. 19. Dass Debord gleichwohl hinter die beiden Soziologen zurückfällt und das Verhältnis zwischen Raum und Gesellschaft in einem geodeterministischen Sinn interpretiert, zeigt seine ein Jahr zuvor in Les Lèvres nues erschienene „Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie“. Dort spricht er davon, dass die „Geographie Aufschluß über den determinierenden Einfluß allgemeiner Naturkräfte - wie die Zusammensetzung des Bodens oder die klimatischen Verhältnisse - auf die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft und damit auch auf ihre Weltanschauung“ hat. (Guy Debord: „Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie“, in: Der Beginn einer Epoche (wie Anm. 62), p. 17-20, hier 17). <?page no="49"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 49 grafien und Streifzügen durch die Stadt - insgesamt eine Erneuerung der Kartografie fordern, die im Gegensatz zu den kartografischen Großprojekten der frühen Neuzeit nicht auf eine Verzeichnung dauerhafter Kontinente und ihrer Grenzen aus ist, sondern auf eine Veränderung von Architektur und Stadt. 64 Die Situationisten selbst werden mehrere Karten erstellen, die sowohl der Repräsentation als auch der Anweisung von Bewegungen durch die Stadt dienen. In Form der dérive haben diese Bewegungen kein anderes Ziel als sich selbst. Das französische Wort dérive wird im Deutschen gemeinhin als Umherschweifen übersetzt, eigentlich bezeichnet es jedoch die Abdrift, ein Begriff, der vor allem aus der Luftfahrt und Nautik kommt und eine bspw. durch Seitenwinde verursachte Abweichung vom Kurs meint. In dieser Hinsicht wird die dérive auch von Chombart de Lauwe in seinem technischen Handbuch zur Luftfotografie erörtert, 65 das eine mögliche Quelle für Guy Debord gewesen ist. Die dérive im situationistischen Sinne beschreibt eine nach bestimmten Regeln vollzogene Bewegung durch den urbanen Raum. Über den Zeitraum wenigstens eines Tages hinweg und nach Möglichkeit zu zweit oder zu dritt gilt es, den Raum der Stadt zu durchqueren, sich treiben und einzulassen auf die Begegnungen mit Passanten, aber auch auf die unterschiedlichen Charaktere der Stadtviertel. Die Praxis der dérive hat mit dem Flanieren aus dem 19. Jahrhundert und auch mit ihrer Fortsetzung durch die Surrealisten, die die Stadt als mythologischen und libidinösen Raum erkunden, nur mehr die Bewegung durch den urbanen Raum gemein. Bei den Situationisten vollzieht sie sich nicht nur als ein zielloser, sondern auch rascher Ortswechsel, um dabei die Atmosphären, die affektiven Stimmungen der einzelnen Stadtviertel und die Brüche zwischen ihnen erfahrbar zu machen. Die Stadt löst sich darüber in eine Anzahl von qualitativen Orten auf, in eine so genannte Psychogeografie, aus der der Einfluss der örtlichen geografischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen auf das Verhalten der Individuen hervorgeht. Distanzieren sich die Situationisten auch von der Flanerie des 19. Jahrhunderts und dem in ihren Augen ichbezogenen und insofern reaktionären Surrealismus, so zeigen ihre frühen Texte durchaus Anknüpfungen an diese Traditionen. In dem Formulaire pour un urbanisme nouveau von Gilles Ivain alias Ivan Chtcheglov, 66 dem ein montiertes Luftbild von Paris und eine didaktische Karte mit geografischen Bezeichnungen zur Seite gestellt ist, finden sich eine Reihe ambiger Ortsbezeichnungen wie „Bain-Douches des Patriarches“, „Scierie Main-d’or“, „Ambulance Sainte-Anne“ oder das „commissariat de police de 64 Cf. ibid., p. 23. 65 Cf. Chombart de Lauwe: Photographies aériennes (wie Anm. 28), p. 30. 66 Gilles Ivain: „Formulaire pour un urbanisme nouveau“, Internationale Situationniste 1 (1958), p. 15-20. Eine etwas unterschiedliche Ursprungsfassung des Formulaire geht auf das Jahr 1953 zurück. <?page no="50"?> Kirsten Wagner 50 la rue du Rendez-vous“. Neben diesen Anklängen an die eigentümlichen Ding- und Raumkonstellationen aus dem Pariser Landleben von Louis Aragon wird mit Philippe Pinel zudem auf eine Ikone der Surrealisten Bezug genommen. Und wie dem Benjaminschen Flaneur, den jede Straße in die Vergangenheit führt, erscheinen auch Chtcheglov alle Städte geologisch, d.h. geschichtete Zeiträume zu sein, „et l’on ne peut faire trois pas sans rencontrer des fantômes, armés de tout le prestige de leurs légendes. Nous évoluons dans un paysage fermé dont les points de repère nous tirent sans cesse vers le passé.“ 67 Der zentrale Unterschied liegt so weniger in der Bewegung durch die Stadt und den sich dadurch ergebenden neuen und anderen Raum- und Narrationsstrukturen, 68 sondern in der Dekonstruktion, die sich damit verbindet. Richten sich die Bewegungen des Flaneurs in ihrer zur Schau gestellten Langsamkeit gegen die beschleunigte Zeit der Moderne, dann die ungleich schnelleren der Situationisten gegen die Funktionalisierung und Ökonomisierung des Raumes der Moderne. Darüber hinaus verbleibt die Dekonstruktion des Flaneurs und der Surrealisten im Ästhetischen, die Situationisten zielen hingegen auf ein Politisch-Werden des Ästhetischen. Mit der Aneignung des urbanen Raumes durch die dérive verbindet sich eine Aufhebung der modernen Raumordnung und der ihr zugrunde liegenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Über die situationistischen Karten hinaus liegen einige wenige Beschreibungen der Streifzüge durch Paris vor. 69 Eine von ihnen geht auf eine psychogeografische Erkundung des Quartier des Halles im ersten Arrondissement durch Abdelhafid Khatib zurück. 70 Auffällig an dieser wie auch an der Beschreibung des Quartier Latin um die Place de la Contrescarpe im fünften Arrondissement ist zunächst die exakte Ortsbestimmung. Räumliche Grenzen, Hauptzugangsstraßen und Nebenwege werden ausführlich dargelegt. 71 Sie geben das Ordnungsraster für die verschiedenen Stimmungen innerhalb des Quartiers vor. So liest sich der auf Burgess und Chombart de Lauwe Bezug nehmende Text von Khatib über weite Strecken wie eine stadtplanerische Bestandsaufnahme, wären da nicht die Hinweise auf die mit den 67 Ibid., p. 15. 68 Zur Analogie von Raum und Text bzw. Gehen und Sprechen, cf. Michel de Certeau: Kunst des Handelns (wie Anm. 58). 69 Cf. hierzu die in Debord: Potlatch (wie Anm. 62) abgedruckten „Zwei Protokolle von Umherschweif-Experimenten“, p. 341-349, sowie ferner den darin aufgenommenen Beitrag „Position des Contrescarpe-Kontinents“, p. 350-354. Beide Texte erscheinen 1956 in Heft 9 von Les Lévres nues (wie Anm. 62). 70 Abdelhafid Khatib: „Essai de description psychogéographique des Halles“, Internationale Situationniste 10 (1966), p. 13-17. 71 Dazu führt Khatib aus: „Nous précisons d’abord les limites du quartier tel que nous le concevons; les divisions caractérisées du point de vue des ambiances; les directions que l’on est porté à prendre dans et hors ce terrain; puis nous émettrons quelques propositions constructives.“ (Ibid., p. 14). <?page no="51"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 51 Tageszeiten und Geschäftigkeiten sich wandelnden Atmosphären bis hin zu dem Aufruf, das zur Disposition stehende Quartier des Halles mit einer neuen ebenso labyrinthischen wie ludischen Architektur zu versehen. In methodischer Hinsicht basiert die psychogeografische Erkundung der Stadt Khatib zufolge auf zwei Verfahren: zum einen auf der dérive experimentale, die Handlung und Erkenntnismittel zugleich ist; zum anderen auf der Lektüre von Luftfotografien und Karten sowie dem Studium von Statistiken und Grafiken. Kommt letzteren aufgrund ihrer theoretischen Natur nicht derselbe Status zu wie der aktiven und unmittelbaren dérive, können sie dennoch einer ersten Repräsentation der Umwelt (milieu) dienen. Umgekehrt ermöglichen die Erkenntnisse der Streifzüge komplexere Formen der kartografischen und mentalen Repräsentation der Stadt. 72 Abb. 15 Guide psychogéographique de Paris. Discours sur les passions de l’amour, Guy Debord, Collage, 59,4 x 74 cm, 1957. Eine solche Form liegt mit der von Guy Debord und Asger Jorn erstellten Karte zur Psychogeografie von Paris vor. Ein zerschnittener Stadtplan von Paris ist zu einer Collage montiert (Abb. 15). Die insulären Stadtfragmente sind durch rote Pfeile miteinander verbunden. Mit dieser Wegekarte einer dérive, bei der die Vektorpfeile die Bewegungsrichtung und offensichtlich auch die Anziehungskraft der einzelnen Quartiere darstellen, wenden sich Debord und Jorn zugleich gegen den kartografischen Anspruch einer totalen Raumerfassung, den sie genauso kritisieren wie den Planungswillen im modernen Städtebau. Die für die Situationisten kennzeichnende Verfremdung 72 Cf. ibid., p. 13-14. <?page no="52"?> Kirsten Wagner 52 und darüber Aneignung vorgefundenen Karten- und Luftbildmaterials entspricht in dieser Hinsicht der Praxis der dérive als einer Verfremdung und Aneignung des urbanen Raumes. Dies hat - zusammen mit der späteren Kritik an Chombart de Lauwe und generell am Urbanismus durch die Situationisten 73 - die aktuelle Forschung dazu geführt, in der Adaptation besagten Bildmaterials aus der Stadtsoziologie und Geografie auch eine Kritik an deren Methoden zu sehen. 74 Das mag zum Teil berechtigt sein, wiegt aber den konstruktiven Einfluss der Parisstudie von Chombart de Lauwe kaum auf. Damit in Zusammenhang steht die Frage, ob die psychogeografischen Karten der Situationisten auch den diagrammatischen Blick auf die Stadt, wie er sich in der Parisstudie exemplarisch verkörpert, überwinden. Wird er bereits durch seine Verfremdung aufgehoben? Reicht es, Karten zu zerschneiden und die Fragmente neu und anders zusammenzusetzen? Sind nicht die dazu verwendeten Verfahren wie die Montage für die Luftfotografie selbst schon grundlegend, und stammt nicht das in den Karten der Situationisten wiederkehrende Symbol des Pfeils aus der thematischen und statistischen Kartografie, über die sich der diagrammatische Blick der Moderne allererst formiert? Es ist also vielleicht weniger von einer radikalen, einer absoluten Verfremdung der Luftfotografien und Karten durch die Situationisten auszugehen. Vielmehr sind die Strukturen, die sie mit ihrer Hilfe sichtbar machen wollen, andere. Es sind weder die Strukturen eines formalen oder sozialen Raumes, sondern die eines emotionalen und qualitativen Raumes. 75 Eines Raumes, der Geschichten erzählt und der mit Affekten besetzt ist; und eines Raumes des Zufalls, in dem unvorhersehbare Begegnungen und Ereignisse stattfinden. Nicht das diagrammatische Wahrnehmungsdispositiv der Moderne lassen die Situationisten damit hinter sich, so sehr sie es auch spielerisch zu nutzen und d.h. seinem Zweck zu entfremden scheinen, sie rücken lediglich andere Bewegungen in dessen Fokus (Abb. 16). Wie die 73 Insbesondere auch, weil Chombart de Lauwe in den 1950er Jahren mit Le Corbusier als dem Inbegriff eines rationalen und funktionalen Städtebaus kooperierte, cf. Raoul Vaneigem: „Commentaires contre l’urbansime“, Internationale Situationniste 8 (1961), p. 33-37. 74 Cf. hierzu Simon Sadler: The Situationist City, Cambridge, Mass., London: MIT Press, 1998; Anthony Vidler: „Terres Inconnues: Cartographies of a Landscape to Be Invented“, October 115 (2006), p. 13-20; Id.: „Photourbanism: Planning the City from Above and from Below“ (wie Anm. 15); Tom McDonough: The Situationists and the City, London, New York: Blackwell Publishing, 2009. 75 Eben darin wird den Situationisten die Carte du tendre aus dem Romanzyklus Clélie, histoire romaine der Madeleine de Scudéry aus der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Vorbild. Sie erscheint zusammen mit Ausführungen zum Unitären Urbanismus in Heft 3 der Internationale Situationniste im Jahr 1958. <?page no="53"?> Der diagrammatische Blick auf die Stadt 53 aktuellen Emotion Maps von Christian Nold zeigen, 76 auf denen neben den Wegen die Affekte von Stadtbewohnern verzeichnet sind, werden die Situationisten damit zukunftsweisend sein. Im Unterschied zu ihren Streifzügen durch die Stadt ist jedoch eines in den Emotion Maps und zahlreichen anderen Mapping-Projekten der Gegenwart nicht mehr möglich: Sich im Gewebe der Stadt zu verlieren. Die jüngste Generation an locative media sorgt dafür, dass jede Bewegung im Raum jederzeit geortet werden kann. Abb. 16 Stockport Emotion Map, Christian Nold und Daniela Boraschi, 2007. 76 Die Emotion Maps basieren auf der Aufzeichnung von Gefühlen bzw. von Hautwiderständen, wie sie bei affektiven Regungen gemessen werden können, durch einen Galvanic skin response sensor, wobei ein an diesen gekoppeltes General positioning system die Ausschläge des Sensors verortet, sie mit einem räumlichen Index versieht. Cf. hierzu die Webseite von Christian Nold, die eine Reihe solcher Emotion Maps zu verschiedenen Städten vorhält: http: / / www.softhook.com (Zugriff am 15.08.2011). <?page no="54"?> Kirsten Wagner 54 Abbildungsnachweise: Abb. 1-3: Edward Quin: An Historical Atlas in a Series of Maps of the World as Known at Different Times, with an Historical Narrative, Second Edition, London: R.B. Seeley and W. Burnside, 1836. Abb. 4-6: Paul Chombart de Lauwe (ed.): La découverte aérienne du monde, Paris: Horizons de France, 1948. Abb. 7: Kevin Lynch: The Image of the City, Cambridge, Mass.: MIT Press, 1960. Abb. 8-10: Willis T. Lee: The Face of the Earth as Seen from the Air. A Study in the Application of Airplane Photography to Geography, New York: American Geographical Society, 1922. Abb. 11-14: Paul-Henry Chombart de Lauwe / Serge Antoine / Jacques Bertin / Louis Couvreur / Jacqueline Gauthier : Paris et l’agglomération parisienne, tome 1, Paris 1952. Abb. 15: Antoine Picon/ Jean-Paul Robert: Un atlas parisien. Le dessus des cartes, Paris : Picard 1999. Abb. 16: © Christian Nold, www.softhook.com/ stock.htm (31.08.2011) <?page no="55"?> Kirsten von Hagen „Nous habitons notre page comme on habite une maison“ - Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake (2009) In Frankreich ist vergleichsweise spät eine Thematisierung der zunehmenden Medialisierung des Alltags zu beobachten. Erst 2009 hat das Thema mit Giulio Minghinis Fake - der Titel deutet bereits die Stoßrichtung an - Eingang in die französische Literatur gefunden. Wie wird hier eine virtuelle Realität evoziert und vor allem wie ändert sich die Raumerfahrung, die Wahrnehmung, Konstruktion und Repräsentation von Raum, wenn Begegnungen zunächst nur mediatisiert, im virtuellen Raum stattfinden? Wie Martina Löw schreibt, sind Netz und Raum in vielfältiger Weise verknüpft, räumliche Realitäten verändern sich über das Netz, da es die Möglichkeiten bietet, räumliche Entfernungen zu überwinden und zeitgleiche schriftliche Kommunikation ohne Nähe zu realisieren. 1 Techniken der Telekommunikation verändern in spezifischer Weise räumliche Bezüge, Wahrnehmungen und Konzeptionen von An- und Abwesenheit, Hier und Dort, Nähe und Ferne. 2 Topographie und Kartographie des Romans sind zugleich eng mit dessen Erographie verknüpft, wie die folgenden Ausführungen deutlich machen. 3 In Minghinis Roman ist zu beobachten, wie sich durch das zunehmende Leben im virtuellen Raum auch die Raumwahrnehmung verändert. Markus Schroer konstatiert, dass sich mit dem Einzug des Computerzeitalters nicht nur die Grenze zwischen virtuell und real immer wieder verschiebt, sondern dass es gerade durch das Internet zu einer Konstruktion neuer Grenzen und Räume kommt: 1 Cf. Christiane Funken / Martina Löw: „Einleitung“, in: Id. (eds.): Raum, Zeit, Medialität: interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, Opladen: VS, 2003, p. 7-20, hier 10. 2 Cf. Regine Buschauer: Mobile Räume: Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele- Kommunikation, Bielefeld: transcript, 2005, p. 9. 3 Der Begriff wurde von Gaëtan Brulotte geprägt, um damit erotische Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Brulotte legt einen sehr weiten Begriff von „érographie“ zu Grunde, um damit die Differenzierung von Pornographie und erotischer Literatur zu umgehen, aber er schließt auch Texte ein, die gemeinhin als libertine Literatur oder als Ehebruch- oder schlicht Liebesromane bezeichnet werden. Cf. Gaëtan Brulotte: Œuvres de chair: figures du discours érotique, Paris: L’Harmattan, 1998, p. 6sq. <?page no="56"?> Kirsten von Hagen 56 Es gibt ein Sich-Einrichten im Netz, eine Inbesitznahme von Räumen, einen Bau von Häusern (den ‚homepages‘) und damit den Aufbau einer vertrauten Nahwelt zu beobachten, die nach und nach eine eigene Geografie von begrenzten und umzäunten Räumen entstehen lässt. 4 Der Roman zeigt, wie zunehmende Grenzauflösungen im Zuge der Globalisierung zu einem verstärkten Bedarf an neuen Grenzziehungen im Privaten führen, die sich in bestimmten Körperpraktiken ebenso manifestiert wie in den hier im Zentrum stehenden Internetpraktiken, die Grenzbildungen des Realen im Virtuellen wiederholen und nachbilden. So reflektiert der Ich- Erzähler gleich zu Beginn: „J’apprendrai par la suite que pointscommuns est une famille [...] formée par un cercle assez restreint de membres visibles [...] et que tout cela fonctionne comme dans un village: private jokes, ragots, petites histoires.“ 5 Der virtuelle Raum, den die Partnerbörse Pointscommuns eröffnet, wird mit dem bekannten Toponym des global village umschrieben. Zentral für die Poetik des Romans ist die Überlegung Marshall McLuhans im Telekommunikationszeitalter schrumpfe die Welt zu einem „global village“, 6 d.h. das Netz wird unter Bezugnahme auf eine räumliche Metapher beschrieben. 7 Es gibt einen bestimmten Code, den es zu respektieren gilt, Regeln, wie in jeder Gemeinschaft. Man demonstriert Zugehörigkeit, indem man die richtigen Schauspieler zitiert, Filme oder Musikgruppen und andere gerade nicht. Auf Pointscommuns gibt man sich einen intellektuellen Anstrich, demonstriert linke Überzeugungen. Hier, so stellt es der Ich- Erzähler dar, sei kein Raum für das Marginale, alles will wohl abgewogen sein: „Ne pas être repoussant, ne pas faire trop de fautes d’orthographe, se déclarer athée ou agnostique, se la jouer éventuellement un peu ‚artiste’ [...] et, surtout, être blanc.“ 8 Wie im realen findet auch im virtuellen Raum eine Begegnung mit marginalisierten Gruppen nicht statt. Andererseits ist man auf der Suche nach einem allgemeinen Konsens, schreibt nur, was politisch korrekt ist. Es dominiert die Vorstellung vom virtuellen Dorf. Nach kurzer Zeit kennt der Erzähler seine neue Umgebung, seine neue Familie par cœur, wo sich Neuigkeiten so schnell verbreiten, wie im realen Raum und sein erstes Abenteuer ein jähes Ende findet, als er fünf Fotos der Auserwählten seinem virtuellen Album hinzufügt. Der virtuelle Raum erscheint hier gleichsam als Double des Realen, der den Erfahrungen im Alltag angepasst 4 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, p. 273. 5 Giulio Minghini: Fake, Paris: Allia, 2009, p. 35. 6 Martin Meyer: Kommunikationstechnik: Konzepte der modernen Nachrichtenübertragung, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 2002, p. 91. 7 Cf. Funken / Löw: „Einleitung“ (wie Anm. 1), p. 11. 8 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 19 (Herv. K.v.H.). <?page no="57"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 57 wird. 9 Intimität will in diesem Kontext indes nicht aufkommen. Das globale Dorf bleibt zu sehr dem Imaginären der Stadt mit ihren Flüchtigkeitserfahrungen verhaftet. Interessant ist in dem Kontext, dass der Ich-Erzähler sein neues virtuelles Leben zugleich ständig kommentiert und reflektiert. Indem er sich auf der Internetseite von Pointscommuns einschreibt, konstruiert er nicht nur eine neue virtuelle Identität und einen neuen virtuellen Raum, dieser wird auch den Praktiken des Realen gemäß ausgestattet: „Nous habitons notre page comme on habite une maison. Nous la décorons de mots et d‘images.“ 10 Diese Internetpraktiken sind durchaus mit solchen des Körpers, wie etwa dem cocooning, vergleichbar, das Schroer als Antwort auf zunehmende Grenzauflösung im Realen nennt. Andererseits sind die neuen Räume jedoch nicht nur virtueller Art, sie kreieren auch eine neue Raumerfahrung, indem sie eben nicht fester Natur sind, wie Schroer schreibt: [...] virtuelle Räume entstehen und erhalten sich durch die Kommunikationen der Netz-User [...]. Es sind Räume, die sich nicht leicht auf Karten einzeichnen lassen. Zwar bedürfen sie auch einer territorialen Verankerung, doch diese Verankerung ist es nicht, die den Charakter dieser Räume prägt. Sie entstehen vielmehr als Zwischenräume, als ‚dritte Räume‘, die sich der Dichotomie von entweder global oder lokal, hier oder dort, eng oder weit entziehen, weil sie immer schon beides sind. 11 Diese virtuellen Räume wachsen oder schrumpfen auch wieder in Abhängigkeit von den Aktivitäten ihrer Bewohner, ihre Grenzen sind demzufolge nicht festgelegt, sondern dehnbar. Die Nähe, die durch das Aufkommen der Computertechnologie angeblich zerstört wurde, wird im Netz selbst wieder hergestellt. Inszeniert wird eine virtuelle Nahräumlichkeit; nah ist, wer leicht zu erreichen ist, fern derjenige, den man nur schlecht erreichen kann. Jeder User schafft sich gleichsam seine eigene Topografie. 12 Es ist diese Erfahrung der dritten Räume, die sich eben nicht leicht auf Karten, Stadtplänen fixieren lassen, die die Erfahrungen des Ich-Erzählers im Umgang mit dem neuen Medium Internet prägen. Das virtuelle Ich ist außerhalb seiner virtuellen Community nur schwer zu lokalisieren. Bei Minghini heißt es: „Le corps, lui, n’a plus de domicile fixe.“ 13 Wie der reale Körper zunehmend an Bedeutung verliert, reflektieren auch die amourösen Praktiken, die mit dem Internet einhergehen. 9 Cf. Gabriele Sturm: „Der virtuelle Raum als Double oder: Zur Persistenz hierarchischer Gesellschaftsstruktur im Netz“, in: Christiane Funken / Martina Löw (eds.): Raum - Zeit - Medialität: Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien (wie Anm. 1), p. 237-256. 10 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 35 (Herv. K.v.H.). 11 Schroer: Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 4), p. 214. 12 Cf. ibid., p. 273sq. 13 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 35. <?page no="58"?> Kirsten von Hagen 58 Der Ich-Erzähler fühlt sich gleich von mehreren Profilen anderer (vorgeblich weiblicher) User angezogen. Sein Begehren ist virtueller Natur, vollzieht sich zunächst im virtuellen Raum, um von Zeit zu Zeit im realen fortgeführt zu werden: „Je traverse la ville pour me rendre chez l’enième spectre virtuel qui prendra bientôt chair.“ 14 Im virtuellen Raum entwirft er unterschiedliche Pseudonyme - darunter auch weibliche - um die anderen User zu täuschen und zu manipulieren. 15 Sein erstes pseudo ist zugleich entwie verhüllend, da es bereits einen bestimmten Code voraussetzt: Er nennt sich Delacero, ein Name, der aus dem Italienischen abgeleitet ist und voyeur meint. Derart scheint bereits sein Name flüchtige Begegnungen zu implizieren, die vor allem aus dem Voyeuristischen ihre Befriedigung ziehen. Gleichzeitig deutet das gewählte Pseudonym auf seine Freude an Maskerade und Spiel: „Ayant toujours préféré la fiction à la réalité.“ 16 Er täuscht ein Interesse nur vor, ist doch die Begeisterung für eine Frau im virtuellen Raum durch die standardisierte Verwendung der Icons sehr viel leichter zu simulieren: ‚Vibrer’ sur la fiche de quelqu’un - pratique que les habitués du site semblent prendre très au sérieux - signifie qu’on est attiré par sa photo ou son annonce. J’en abuse volontiers. Je vibre à tort et à travers, et, par ce geste automatique, j’attire la visite de quelques dizaines de femmes sur mon profil. 17 Ebenso leicht, wie es ist, ein Interesse nur zu fingieren, so schwer ist es, Gründe für das Scheitern oder den Erfolg einer Verführung im virtuellen Raum zu finden. Die Bewegungen der anderen auf den Seiten der Internetplattformen werden mit denen von Insekten verglichen, die ebenso wenig einer bestimmten Gesetzmäßigkeit zu folgen scheinen. 18 Die Mehrheit der Kontakte bleibt virtuell, flüchtig. Als Ziel - auf der Internetseite von Pointscommuns kann man zwischen „amitié, aventure, amour, échange“ wählen - gibt der Erzähler bezeichnenderweise das neutrale „echange“ - Austausch an. Was er tatsächlich sucht, ist Liebe, was er wie die anderen findet, sind Abenteuer. Die Flüchtigkeit des urbanen Lebens wiederholt sich in gesteigerter Form im Internet. Die Kommunikation im virtuellen Raum scheint eine neue Form des Libertinage hervorzurufen, die vor allem auf sexuelle Freiheit abzielt, tatsächlich aber ein Marktaustausch ist und fast nie wirklichen Genuss impliziert, auch wenn das Öffnen eines Profils den sexuellen Akt zu simulieren scheint: Je m’amuse à contempler les visages de toutes ces jeunes femmes épinglées tels des papillons sur mon écran. Il m’arrive de me demander si l’action d’ouvrir leur 14 Ibid., p. 33. 15 Cf. Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 103sq. 16 Ibid., p. 14. 17 Ibid., p. 17. 18 Cf. ibid. <?page no="59"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 59 fiche - parfois plusieurs fois de suite - engendrée par une petite pression du doigt sur ma souris, ne correspond pas à un début de pénétration. 19 Was dominiert, ist indes das Interesse des Sammlers, die objektivierende Sicht des Entomologen, die indes zunehmend von der subjektivierenden Darstellung des Internet-Afficionados ersetzt wird. Man könnte sich demzufolge fragen, inwieweit hier nicht das Muster des erotischen Romans gewählt wird, nur um es zugleich zu durchbrechen. Anders als in Nicholson Bakers Telefonroman Vox, in dem das Telefonat den sexuellen Akt imitiert und tatsächlich eine größtmögliche Nähe zwischen den Telefonpartnern generiert, 20 betont der Erzähler bei Minghini die Flüchtigkeit der Begegnungen und die stets zu spürende Distanz zwischen den Akteuren. Die Partnerbörsen im virtuellen Raum ähneln gigantischen Supermärkten der Gefühle. Immer wieder kommentiert der Ich-Erzähler den kommerziellen Charakter dieser Art der Begegnung und des Austausches: „Au bout de trois mois d‘abonnement à meetic, au prix de quatre-vingt-neuf euros et quatre-vingtsept centimes, j‘aurai rencontré trente-deux filles.“ 21 Die Partnerschaftsbörsen im Netz werden gar mit der bekannten Kette Picard verglichen, in deren Läden man Tiefkühlprodukte für die schnelle Zubereitung erwerben kann: „Des cœurs et des sexes qu‘on réchauffe au micro-ondes virtuel de sites de rencontres. Des ‚histoires Picard‘ en quelque sorte: des relations déjà préparées, à la dégustation aussi rapide que prévisible.“ 22 Neben dem Bild des globalen Dorfes ist es vor allem die Metapher des Warenhauses, die wiederholt im Kontext des virtuellen Raums evoziert wird: „Nous sommes des corps pourrissants qu‘on vend en ligne.“ 23 Wo der Körper des anderen sich so frei verfügbar präsentiert, die Körperströme 24 nur mehr Warenströmen ähneln, da vermag keine erotische Spannung mehr aufzukommen. Der Ich-Erzähler bewegt sich im virtuellen Raum, bewohnt ihn gleichsam, während er im realen die Stadt Paris kaum je verlässt, die banlieue ist für ihn gar eine terra incognita. Im Verlauf des Romans entwirft der Ich- Erzähler indes eine neue Kartographie von Paris, die auf amourösen Begegnungen basiert, die vom virtuellen in den realen Raum wechseln: „Au fil des rencontres, Paris devient une carte du tendre faite de souvenirs mélan- 19 Ibid., p. 14. 20 Cf. Brulotte: Œuvres de chair: figures du discours érotique (wie Anm. 3), p. 53. 21 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 91. 22 Ibid., p. 80. 23 Ibid., p. 95. 24 Koschorke versteht unter Körperströmen die Ersetzung stofflicher Ströme und Flüssigkeiten des menschlichen Körpers durch geistige, immaterielle Fluida, gleichsam den Wechsel von Säften zu Nerven und damit verbunden die völlige Entstofflichung menschlicher Kommunikationsmodelle: Es kommunizieren nurmehr Briefe, keine Körper. Zum Begriff, cf. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink, 1999. <?page no="60"?> Kirsten von Hagen 60 coliques, exaltants ou glauques.“ 25 Minghini rekurriert demzufolge auf ein Konstrukt, die Kartographie eines imaginären amourösen Landes, Tendre, wie sie sich in Madeleine de Scudérys Roman Clélie, histoire romaine (1654-60) findet (cf. Abb. Carte du tendre). Carte du tendre Im Roman ist es die Titelheldin Clélie, die dem galanten Herminius gleichsam als Antwort auf seine Frage, welche Fortschritte er bei der Eroberung ihres Herzens mache, die Karte des imaginären Königreichs Tendre zeichnet, wo jeder Ort eine Etappe auf dem Weg zur Eroberung der geliebten Frau symbolisiert, gleichzeitig aber auch aufzeigt, welche Wege buchstäblich zum Schiffbruch führen im „Lac d’Indifférance“ oder im „Mer d’Inimitié“. Derart schreibt sich Minghini zugleich ein in eine literarische Tradition, formt diese aber den Raumerfahrungen des elektronischen Zeitalters gemäß um. Konstruiert Madeleine de Scudéry in ihrem Roman eine imaginäre Landkarte eines allegorischen Reiches der Zärtlichkeit, in dem Leidenschaften kanalisiert und in gegenseitige Wertschätzung und Sympathie überführt werden, 26 so zeigt die carte du tendre bei Minghini, die ja auf den Erfahrungen mit Partnerschaftsbörsen im Internet basiert, gerade die vergebliche Suche nach 25 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 37. 26 Zu Scudérys carte du tendre, cf. Joan E. Dejean: Tender Geographies: Women and the Origins of the Novel in France, New York: Columbia University Press, 1991, p. 87-89. <?page no="61"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 61 einem solchen Reich auf, seine Destruktion. Zu diskutieren wäre in diesem Kontext, inwiefern nicht das Webdesign der Partnerschaftsbörsen eine Art aktueller carte du tendre darstellt. Diesem Aspekt möchte ich jedoch hier nicht weiter nachgehen, sondern mich vielmehr auf die Erographie des Romans konzentrieren. So ist eine weitere Parallele augenfällig: Führt der Weg bei der Eroberung der Frau in Scudérys Karte zu „Tendre-sur-Estime“ vorbei an den Orten „Jolis Vers“, „Billets-Galants“ und „Billets Doux“, so müssen sich die Internetverführer elektronisch basierter Kommunikationsformen, Techniken und Codes bedienen, die nur mehr Spuren eines amourösen Diskurses erkennen lassen und statt auf Verlässlichkeit auf Flüchtigkeit basieren. Gaëtan Brulotte zu Folge hat jeder Liebesroman seine carte du tendre, er schreibt: Les préliminaires qui préparent et organisent la sexualité sont de toute évidence déterminants pour des êtres humains [...]. Étant donné cette importance, sans doute pourrait-on classer les récits selon qu‘ils privilégient le Rendez-vous ou la Rencontre, le retard ou l‘impatience, la continuité ou l‘instantanéité. Chaque récit d‘amour aurait alors sa Carte du Tendre, c‘est-à-dire sa topographie des obstacles à franchir, son itinéraire des étapes ou des difficultés propres au commencement. 27 Diese carte du tendre könne sogar dazu herangezogen werden, eine Typologie unterschiedlicher Romane zu entwerfen. Legt man diese Betrachtungen von Brulotte zu Grunde, so könnte man argumentieren: Mobil wie die Räume 28 sind auch die Körper in Minghinis Roman. Wie es kaum noch Grenzen und Distanzen gibt, die mittels der neuen elektronischen Medien nicht in kürzester Zeit überwunden werden können, so sind dem erotischen Bestreben auch im sozialen Miteinander kaum Schranken gesetzt, wie der Roman sowohl auf der histoire-Ebene als auch auf der discours-Ebene deutlich macht. Der Roman beschreibt nicht länger linear den Ablauf einer Liebesgeschichte, sondern zeichnet die größtmögliche Beliebigkeit der pluralen Internet- Amouren nach. So spiegelt die écriture des Romans zugleich seine carte du tendre. Der Rekurs auf die carte du tendre impliziert zugleich auch die Kontrastierung unterschiedlicher Liebeskonzeptionen, die einander in dem Roman wie verschiedene Schichten überlagern. Sieht der galant-heroische Roman bei Madeleine de Scudéry eine feste Reihenfolge in der Annäherung zweier Menschen vor, so impliziert der libertine Roman à la Laclos, der ebenfalls vom Erzähler aufgerufen wird, eine ebenso festgelegte Reihenfolge, die nach der Eroberung der begehrten Frau den Bruch mit ihr vorsieht. 29 In Minghinis Roman herrscht die Sehnsucht nach einem längst 27 Brulotte: Œuvres de chair: figures du discours érotique (wie Anm. 3), p. 51. 28 Cf. Buschauer: Mobile Räume (wie Anm. 2). 29 Cf. René Pomeau: Laclos, Connaissance des lettres, Paris: Hatier, 1975, p. 112, und Kirsten von Hagen: Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses, Tübingen: Stauffenburg, 2002, p. 24sq. Als Referenzpunkt dienen <?page no="62"?> Kirsten von Hagen 62 der Vergangenheit angehörenden Modell der Vereinigung zweier Körper und verwandter Seelen ebenso vor, wie die Suche nach wirklichen Hindernissen, die es zu überwinden gilt, um zumindest, wie noch bei Laclos, einen größtmöglichen Genuss zu erzielen, wenngleich dieser nicht von Dauer ist. Stattdessen zeigt die carte du tendre bei Minghini die diversen vergeblichen Versuche, Liebe und/ oder Lust zu generieren. Selbst der neutrale échange, vom User selbst als Ziel festgelegt, gestaltet sich schwierig, wenn sich jeder hinter seinen diversen Pseudonymen wie hinter unterschiedlichen Masken verbirgt und ein Treffen im realen Raum häufig möglichst lange hinausgezögert wird. Lehnt sich die Kartographie von Madeleine de Scudérys carte du tendre an die Kartographie Frankreichs an, so orientiert sich Minghinis carte du tendre an der Kartographie von Paris. Der Roman schildert, wie der fiktive Erzähler nicht nur neue, virtuelle Räume und Identitäten konstruiert, sondern auch ein neues mapping von Paris entwirft. In dem Moment, wo die Begegnungen den virtuellen Raum verlassen, findet nach der Deterritorialisierung auch eine Art Reterritorialisierung 30 auf der Basis der Topographie von Paris statt. Viertel, in denen sich der Erzähler mit den Frauen trifft, werden präzise benannt und können auf einem Stadtplan von Paris genau verortet werden. Teilweise wird auch auf die Stadtgeschichte rekurriert, etwa wenn der Erzähler schreibt, Florica bewohne eine chambre de bonne in einem Gebäude in der rue Mazarine, wo die Nationalsozialisten 1944 Robert Desnos verhafteten und nach Theresienstadt deportierten. 31 Die Plakette in der rue Mazarine 19 ist Einwohnern wohlbekannt: „Ici vécut de 1934 à 1944 Robert Desnos, poète français. Arrêté par la Gestapo et déporté.“ Mit der genauen Lokalisierung und Benennung des Ortes schreibt sich Minghini zugleich in die französische Literaturgeschichte ein. Um die Frauen zu daten, deren Bekanntschaft er im virtuellen Raum gemacht hat, verlässt der autodiegetische Verführungsgeschichten allgemein, so legt der Roman auch Zeugnis ab von einem Aufweichen des klassischen Modells der Verführung v.a. im Hinblick auf die Geschlechterrollen, wie es im 19., v.a. aber im 20. und 21. Jahrhundert zu beobachten ist. (Cf. Frank Wanning / Anke Wortmann: „Einleitung“, in: Id. (eds.): Gefährliche Verbindungen: Verführung und Literatur, Berlin: Weidler, 2001, p. 7-14, hier 8sq.) 30 Die Begriffe von Deleuze und Guattari implizieren, dass das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. So argumentieren Deleuze und Guattari am Beispiel nicht verwandter Merkmale der Orchidee und der Wespe: „Jedes Werden sichert die Deterritorialisierung des einen und die Reterritorialisierung des anderen Terms“ (Gilles Deleuze / Félix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve, 1977, p. 16). Friedrich Balke erläutert: „Die Deterritorialisierung bezeichnet [...] einen Typ der inventiven Bewegung, die nicht einem vorgezeichneten Weg folgt und sich keine Ziele vorgeben lässt. [...] Ein Territorium wird verlassen, ein anderes gewonnen, die Deterritorialisierung ist keine Bewegung, die zur endgültigen Preisgabe des Territorialen führt, sondern zu seiner Neuschaffung.“ (Friedrich Balke: Gilles Deleuze, Frankfurt a. M., New York: Campus, 1998, p. 147.) 31 Cf. Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 26. <?page no="63"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 63 Erzähler die bekannten Künstler-Viertel von Paris, in denen er sich zumeist aufhält, wie Belleville im 20. Arrondissement, „la pente radieuse de Ménilmontant avec sa vue sur l‘infini, les terrasses sauvages de Belleville et Pigalle, pour la rive droite“ oder die Arènes de Lutèce im 5. 32 Stattdessen werden die neuen Orte, zumeist gesichtslose Metrostationen, mit individuellen Erinnerungen aufgeladen. Es entsteht eine neue Kartographie von Paris, die auf der eigenen Erinnerung basiert: Embrasser Chloé devant la station de métro Riquet, sur la sinistre avenue de Flandres, et boire ses larmes qui coulent sur une peau d‘une blancheur qui s‘obscurcit déjà dans le souvenir. Quitter l‘appartement d‘Annabelle en courant, dépité par mon échec, et me retrouver tout à coup encerclé par une foule d‘aveugles, à la sortie du métro Duroc. 33 Die Orte werden zugleich einem anderen Ordnungsschema unterworfen, wenn etwa gewisse Viertel bestimmten Frauen zugeordnet werden. Zugleich wird das eigene urbane Nomadendasein reflektiert, der Prozess der Deterritorialisierung, wenn sich der Erzähler als Heimatloser beschreibt, der jeden Tag mehr seine Muttersprache verliere und der nur in den diversen sexuellen Begegnungen eine neue Heimat finde: „Une nouvelle patrie, aussi amère et provisoire que toute autre patrie.“ 34 Auch von seiner Ex-Freundin, einem der wenigen Kontakte, die dem realen, nicht dem virtuellen Raum entstammt, bleibt ihm nach drei Jahren Beziehung nur eine Adresse: 9, Villa de l’Ermitage. Vergangene Bewegungen im nunmehr verlassenen Raum sind nur noch erahnbar. 35 Straßennamen von Paris dienen der Selbstvergewisserung des Erzählers, la rue Claude Bernard, la rue de Ménilmontant, la place Saint-Marthe, wo er auf dem Trödelmarkt eine alte Figur ersteht. An der Seite seiner Ex-Freundin hat er erstmals den Eindruck „de revenir à une vie réelle.“ 36 Doch der Eindruck ist nicht von Dauer. Sein Leben im virtuellen Raum scheint das im realen zunehmend zu verdrängen, so reflektiert er: „Comme si tout ça, ‚la vraie vie‘, ‚la vie réelle‘, c‘était un continent perdu.“ 37 Die Kartographie des Romans ist eng mit dessen Erographie verknüpft. Die Begegnung im neu umgrenzten Raum von Pointscommuns scheint vor allem flüchtige Begegnungen und Relationen zu begünstigen. Der virtuelle Austausch kreiert Phantasmen, die sich bei einer Begegnung im realen Raum häufig als verhängnisvoll erweisen. Anlässlich eines Treffens mit Rozenn notiert er, dass er nun niemals mehr die vielen imaginierten Rozenns wiedersehen wird, die dem Treffen vorausgegangen sind und die ihm schon im Moment des ersten Erblickens 32 Cf. ibid., p. 37. 33 Ibid. 34 Ibid., p. 85. 35 Cf. ibid., p. 29. 36 Ibid., p. 10sq., p. 106. 37 Ibid., p. 79. <?page no="64"?> Kirsten von Hagen 64 des anderen fehlen. 38 Im virtuellen Raum ist es möglich, seine Emotionen zu kontrollieren, wie auch den anderen. Anders im realen. Hier trifft er die Frauen zumeist nur einmal. Sieht der Kodex des Libertinage eine feste Reihenfolge vor, die nach der schnellen Verführung den ebenso schnellen Bruch mit dem Opfer fordert, so erfolgt hier, auch wenn ein solcher Kodex in der Form nicht existiert, meist ebenso schnell ein Abbruch der Beziehung via E-Mail oder SMS, neuen Formen der Telekommunikation: Souvent, mes histoires s’achèvent de cette façon brutale [...]. Je n’ai pas de sentiments ni encore moins de temps à accorder à chacune de ces rapides brûlures qui me traversent un moment et qui cicatrisent sans besoin d’explications. Le discutable avantage de vivre plusieurs histoires parallèles consiste à n’en vivre aucune pleinement. 39 Die feste Reihenfolge der Etappen der Verführung, wie sie die carte du tendre der Madeleine de Scudéry im 17. Jahrhundert aufzeigt, wie sie Choderlos de Laclos für das 18. Jahrhundert in seinem libertinen Roman Les liaisons dangereuses inszeniert, weicht hier einer größtmöglichen Beliebigkeit. So enden einige der Relationen schon vor dem ersten Date, andere spätestens nach dem ersten Treffen, nur wenige werden darüber hinaus fortgesetzt. Was Brulotte für Nicholson Bakers Vox konstatiert, dass hier eine Begegnung nicht stattfindet, es sei denn, man bezeichne das Telefonat selbst als solche, 40 gilt auch für viele der zahlreichen Internetbekanntschaften. Der medialisierte Diskurs hat hier die Face-to-Face-Begegnung zu großen Teilen ersetzt. Minghini vermittelt uns den Kontakt mit dem virtuellen Raum ausschließlich aus der Sicht des Internet-Users. Der Leser weiß stets nur so viel, wie der Ich-Erzähler, der ihn gleichsam mitnimmt in seine Welt und jeden Schritt minutiös festhält, dokumentiert und reflektiert. Mit ihm betreten wir das Labyrinth von Pointscommuns und anderer ähnlicher Vermittlungsplattformen und entdecken eine Art Paralleluniversum. Im virtuellen Raum entwirft sich der Erzähler selbst immer wieder neu, konstruiert stets andere virtuelle Identitäten, um den anderen zu täuschen: „Devant l’écran, j’apprends les rudiments de l’art de la manipulation, qu’avec le temps j’affinerai jusqu’à la maîtrise. A travers les mails, je peux annuler ou relancer, feignant l’enthousiasme ou prétextant un contretemps.“ 41 Als Internetroman erinnert der Text zugleich, wie bereits insinuiert, an eine Fortschreibung des Briefromans Les liaisons dangereuses von Laclos. Wie Valmont, der Held von Laclos‘ Medienreflexion von 1782, kontrolliert der Erzähler seine Gefühle, versucht den anderen zu manipulieren und kreiert Phantasmen. Zu Beginn seines Betretens des virtuellen Raumes schreibt er: „L’invisibilité réciproque 38 Cf. ibid., p. 68. 39 Ibid., p. 55. 40 Cf. Brulotte: Œuvres de chair: figures du discours érotique (wie Anm. 3), p. 53. 41 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 31. <?page no="65"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 65 favorise la procréation immodérée de fantasmes.“ 42 Man fühlt sich erinnert an den berühmten Brief 48 der Liaisons dangereuses, jene Epistel an die Présidente de Tourvel, die Valmont auf dem Rücken seiner Geliebten Émilie verfasst und die er wiederum einer Dritten zu lesen gibt, der Marquise de Merteuil: En effet, la situation où je suis en vous écrivant me fait connaître, plus que jamais, la puissance irrésistible de l‘amour; j‘ai peine à conserver assez d‘empire sur moi pour mettre quelque ordre dans mes idées; et déjà je prévois que je ne finirai pas cette Lettre, sans être obligé de l‘interrompre. 43 Auch bei Laclos werden Phantasmen kreiert, doch der Roman inszeniert im Fall des Verführers Valmont ein geschicktes Wechselspiel von Face-to-Face- Begegnungen und medialisierten amourösen Diskursen, während bei Minghini die Täuschung dem neuen Medium gleichsam eingeschrieben ist. Dank der neuen Technologie des Chat kann der Ich-Erzähler bei Minghini gleich mit mehreren Mitgliedern von Pointscommuns gleichzeitig in Kommunikation treten. Interessant ist in dem Kontext, dass der Chat einerseits Ähnlichkeiten zum Telefonat aufweist, da man gleichsam in Echtzeit - inklusive einer nur kurzen zeitlichen Verzögerung - miteinander kommunizieren kann, gleichzeitig aber auch mit dem älteren Medium des Briefes, da man sich dem schriftlichen Austausch annähert. Bei Minghini geht es jedoch vor allem - darin durchaus vergleichbar dem Briefkomplex 47/ 48 bei Laclos - um die perfekte Täuschung: Pendant que Marine me parle de son boulot de bibliothécaire à Sainte-Geneviève et de son enfance en Dordogne, Alice me dévoile son penchant pour le sexe en groupe. C’est extrêmement difficile à tenir, le double chat. Je dois faire attention à garder le bon rythme dans les réponses [...] et à ne pas gaffer. Surtout ne pas me tromper de fenêtre et envoyer la bonne réplique à la bonne personne. 44 Wie Valmont fingiert er ein Interesse und versucht gleichzeitig, sich nicht von seinen Emotionen steuern zu lassen: „[...] jamais je ne baisse la garde, jamais je ne me dévoile. Je vais vers l’autre en me rétractant de moi-même. J’investis très peu de ma personne.“ 45 Doch während im Briefroman von Laclos, der sich aus einer Vielzahl von Briefschreibern zusammensetzt, durch die Anordnung der Briefe die Aussagen der einzelnen Briefschreiber sich gegenseitig kommentieren, ist der Internetroman von Minghini bewusst als Autofiktion gestaltet, die bis auf wenige zitierte Aussagen der Verführten, wenige wiedergegebene Dialoge, nur das männliche Ich zur Sprache kommen lässt, uns nur seine Sicht präsentiert, das Geschehen aber nicht aus der Perspektive der verführten Frauen darstellt. 42 Ibid., p. 32. 43 Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses, Paris: Hatier, 2002, p. 137. 44 Minghini: Fake (wie Anm. 5), p. 32. 45 Ibid., p. 38. <?page no="66"?> Kirsten von Hagen 66 Der Ich-Erzähler bleibt kühl, analytisch. Gleichzeitig führt ihn sein neues - virtuelles - Heim in eine Analyse des Intimen. Die Mitteilungen auf der Seite von Pointscommuns avancieren zu einer neuen Art der Bekenntnisse, der Konfessionen à la Rousseau. Doch anders als in diesen Bekenntnissen - und vermeintlich bei anderen Usern - sind es bei dem Ich-Erzähler nur die Phantome seines selbst, die sich mitteilen: Comme si, pour eux tous, la première personne du singulier était synonyme de confession. Comme si j’avais vraiment envie de faire des aveux en public, de dévoiler les secrets de mon désastre. Ils semblent ignorer que chaque fois qu’il fait son apparition dans un texte, le ‚je’ n’est jamais autre chose qu’un tortionnaire de fantômes. 46 Sein wahres Gesicht enthüllt er nur dem Leser. Auch wenn der autodiegetische Erzähler zahlreiche Formen telekommunikativen Austausches wiedergibt, dominiert der Monolog. Sein intimes Tagebuch ähnelt derart dem Stil klassischer Autobiographien, ist jedoch inkohärenter geformt, vor allem von den zahlreichen Begegnungen, die im virtuellen Raum ihren Anfang nehmen. Einige Zeilen, stichwortartig formuliert, sind stets kursiv gesetzt, wahrscheinlich, so ist man versucht anzunehmen, um den Eindruck einiger schnell festgehaltener Notizen zu vermitteln, einen Effekt von Authentizität zu evozieren. So notiert der Erzähler eines Abends: „La sensation d’être avec des gens: jaugé par les visites à ma fiche, effleuré par les ‚vibrations’, apostrophé par les mails. Et en même temps isolé parmi ces ombres pulsantes et insaisissables, emprisonnées dans un espace parallèle.“ 47 Der Erzähler führt ein Leben auf der Schwelle, selten lässt er sich wirklich auf den Anderen ein, wie im Fall der erkrankten Catherine, die als eine Art Mutterfigur fungiert, oder bei Jade, die hier die Funktion der Marquise de Merteuil übernimmt. Sie ist, wie im Roman von Laclos die Marquise für Valmont, sein Double, Komplizin und Rivalin zugleich. Wie schon die Marquise ist sie es, die am Schluss über ihn den Sieg davontragen wird. Denn auch sie ist einfallsreicher, kühler, rationaler als er. Hier findet der Gender-Aspekt Eingang in den Roman, denn auch andere Frauen kreieren wie der Ich-Erzähler fakes, um den anderen zu manipulieren - die Gleichheit der Geschlechter im virtuellen Raum. So täuscht Camille den Erzähler ebenfalls mit einer Maskerade: „Elle m‘a piegé avec une fausse fiche, une fausse identité créée de toutes pièces pour me mettre à l‘épreuve: un ‚fake‘.“ 48 Und Corinne, die zahlreiche User mit unterschiedlichen Pseudonymen getäuscht und demaskiert hat, gesteht, fakes seien eine der perversesten Arten, den anderen zu kontrollieren. 49 Doch anders als im Briefroman 46 Ibid., p. 39. 47 Ibid., p. 47. 48 Ibid., p. 101. 49 Cf. ibid. <?page no="67"?> Topographie, Kartographie und Erographie in Giulio Minghinis Fake 67 des 18. Jahrhunderts zeitigt diese Transgression im Internetroman des digitalen Zeitalters keine unmittelbaren Konsequenzen: auch wenn die Internetcommunity einen User dadurch bestrafen kann, dass sie sein Profil nicht mehr aufruft, wird dieser erst bei einem Verstoß gegen das Reglement ausgeschlossen, kann sich jedoch jederzeit eine andere Vermittlungsplattform wählen. Auffällig ist zudem, dass der schriftliche Beweis für die Transgression, wie er bei Laclos in Form von Briefen zirkuliert, im flüchtigen Medium des Internets nur schwer zu erbringen ist. Während der Austausch im virtuellen Raum anders als bei Laclos ohne materielle Spuren bleibt, sammelt der Ich-Erzähler, wahrscheinlich um eben gegen diese Flüchtigkeit anzugehen, Erinnerungen an die Frauen im realen Raum: Eine Haarspange, Taschentücher, subjektiv aufgeladene Erinnerungsstücke, die gleichsam inventarisiert werden. Diese sollen dazu dienen, ihn seiner selbst wie seiner realen Umwelt zu versichern. Denn wie bereits Schroer konstatiert, verschwimmen die Grenzen zwischen dem realen und dem virtuellen Raum, ebenso wie zwischen Wachsein und Traum immer mehr: „Je navigue entre narcose et extase, entre veille et rêve.“ 50 Anders als im 18. Jahrhundert ist die neue Form des Libertinage keine intellektuelle Herausforderung mehr. Grenzen gibt es kaum mehr zu überschreiten, wirkliche Festungen nicht mehr einzunehmen: „Aucun raffinement intellectuell n‘est requis pour pousser la porte des Chandelles.“ 51 Was bleibt, ist eine Art „libéralisme sauvage diaboliquement déguisé en liberté“. 52 Während die Transgression bei Laclos fatale Folgen zeitigt, bleibt die Katastrophe bei Minghini aus - es sei denn, man bezeichnet die Gefahr des drohenden Realitätsverlusts selbst als solche: Der Protagonist lebt nur noch im virtuellen Raum und wird zunehmend unfähig, sich im realen zurechtzufinden. Jede tägliche Verrichtung wird zu einer Herausforderung: „Je vis à plein temps sur le site, un vrai déménagement mental a eu lieu.“ 53 Die serielle Verführung, die von steten Misserfolgen gekrönt ist, ruft schließlich nurmehr Widerwillen hervor und den Wunsch, das Leben im virtuellen Raum nicht weiter fortzusetzen, das er in Anlehnung an Henri Thomas als „ligne blanche de la fatigue“ bezeichnet. 54 Als die letzte Nachricht von Jade eintrifft, der Frau, so die Wahrnehmung des Ich-Erzählers, die er hätte lieben können, beschließt er lediglich, die Internetverbindung zu trennen - vermeintlich für immer: „Je me suis falsifié. J‘ai fabriqué une fausse monnaie de moi. Et jamais, en aucun cas, cette monnaie ne pourra me racheter. Plus jamais, je note, d‘une écriture enfin claire et appuyée, sur mon agenda. Puis 50 Ibid., p. 39. 51 Ibid., p. 82. 52 Ibid. 53 Ibid., p. 116. 54 Cf. ibid., p. 126. <?page no="68"?> Kirsten von Hagen 68 je clique sur ‚Déconnexion‘.“ 55 Von zentralem Interesse ist in dem Kontext der Hinweis auf die écriture. Der Stil des Romans ist von der Flüchtigkeit der Begegnung im virtuellen Raum ebenso gekennzeichnet wie von der neuen Topographie. Dies wird zugleich auf einer Metaebene des Romans reflektiert: „J‘imagine un roman où le personnage principal, comme enchaîné à l‘écran, voyagerait sans arrêt d‘un site de rencontres à l‘autre [...]. Voilà une vraie odyssée contemporaine.“ 56 Topographie, Erographie und Kartographie bedingen sich gegenseitig. So ähnelt auch der Roman einem Schreiben im Netz, ohne Anfang und Ende, mit zahlreichen Verästelungen, mäandrierend. An einer anderen Stelle verwendet der Erzähler selbst diese Metaphorik und spricht von einem „roman-fleuve“. 57 Minghini scheint dies, schaut man sich den Roman an, jedoch eher metaphorisch im Sinne einer geänderten écriture in Folge neuer Kommunikationstechnologien formuliert zu haben, als im Hinblick auf das Genre des roman-fleuve, das, mit Balzacs Comédie Humaine seinen Anfang nehmend, ein großangelegtes Romanwerk bezeichnet, gleichsam das Porträt einer Gesellschaft oder Epoche, wobei eine oder mehrere Figuren im Zentrum stehen. Minghinis Roman folgt der Chronologie der Begegnungen, die zunächst im virtuellen Raum auf pointscommuns oder meetic stattfinden und bisweilen in den realen wechseln. Diese Begegnungen konstituieren die Narration. Der Stil spiegelt die immer wieder mit einem Netz verglichene Struktur des World Wide Web, was gleichzeitig auf einer Metaebene des Romans reflektiert wird: „Bientôt, je commence à y griffonner des notes. Il devient ainsi un journal à la chronologie aléatoire, fait de phrases [...] en chat ou lors de mes rencontres.“ 58 Die Erographie, die sich mit dem Eintritt ins Internetzeitalter deutlich anders gestaltet als bei Madeleine de Scudéry oder in der libertinen Literatur eines Laclos, bestimmt in weiten Teilen auch die écriture des Romans. Was die écriture des Romans angeht, orientiert sich, wie ich gezeigt habe, Minghini an den klassischen Modellen der Autofiktion, dem Tagebuch und dem Briefroman, formt diese jedoch der neuen Internet-Technologie gemäß um, die der wahre Held dieser Geschichte ist. 55 Ibid., p. 138 (Herv. K.v.H.). 56 Ibid., p. 95 (Herv. K.v.H.). 57 Ibid., p. 273. 58 Ibid., p. 30. <?page no="69"?> Eva-Tabea Meineke Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot „Mit dem Père Goriot hat Balzac sich den Raum der großen Stadt endgültig erschlossen.“ 1 Man kann den Autor der Comédie humaine im Anschluss an diese These Karlheinz Stierles mit einem Kartographen vergleichen, der bedeutungsträchtige Orte in Paris ausfindig macht und schematisch erfasst. Bei Balzacs ‚Karte‘ handelt es sich allerdings um ein weitaus komplexeres Dokument, um einen Roman, mit dem der Autor das Paris der Restaurationszeit in seiner Totalität abzubilden sucht. Kartographische Elemente dienen ihm bei seinem Unterfangen jedoch als notwendiges Raster, innerhalb dessen sich sein ‚System‘ entwickelt. Insbesondere im Hinblick auf das Untersuchungsfeld Paris erweist sich die kartographische Erschließung als hilfreicher Bezugspunkt. Die französische Hauptstadt entzieht sich der ganzheitlichen Darstellung aufgrund ihrer multiplen, wandelbaren Gestalt, die sich von der Kontingenz des modernen Lebens bestimmt sieht. Balzacs Paris-Darstellung zeichnet sich durch die ausgesprochene Wirklichkeitsnähe und Detailfülle aus, die ihn laut Auerbach, neben Stendhal, zum „Schöpfer des modernen Realismus“ 2 macht. Den Ausgangspunkt für eine detailreiche, ganzheitliche Paris-Darstellung bildet Mercier mit seinem Tableau de Paris, das um immer neue Bände angereichert wurde. Stierle erklärt, dass „bei Mercier die Stadt als Ort der Widersprüche und Kontraste zum Thema der ins unerschlossene Detail vordringenden Betrachtung“ 3 wird. Balzac verwendet für seine Paris-Darstellung in der Tradition Merciers sogenannte tableaux, 4 doch integriert er sie in ein drame, von dem er sich die Möglichkeit verspricht, in der heterogenen 1 Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris - Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, Wien: Hanser, 1993, p. 493. 2 Erich Auerbach: Mimesis - Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), Bern, München: Francke, 7 1982, p. 437. 3 Stierle: Der Mythos von Paris (wie Anm. 1), p. 106. 4 Balzac selbst verwendet in der Comédie humaine immer wieder diesen Begriff, mit dem er sich in die Tradition Merciers und seines Tableau de Paris stellt. So z.B. Honoré de Balzac: Ferragus, chef des dévorants, in: Id.: La Comédie humaine, vol. V, ed. Pierre-Georges Castex / Roland Chollet / Rose Fortassier, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1977, p. 793-903, hier 815: „Le pauvre amant examinait ce tableau, l’un des milliers que le mouvant Paris offre chaque jour.“ <?page no="70"?> Eva-Tabea Meineke 70 Detailfülle der Stadt die Dynamik zu fassen, die dem gesellschaftlichen Wandel zugrunde liegt. Diese Entwicklung vom tableau zum drame beschreibt Stierle ausführlich in seinem Mythos von Paris: Balzac überführt das deskriptive Tableau de Paris in die narrative Form des Paris- Dramas. Mit diesem Wechsel der Darstellungsform gewinnt er grundsätzlich neue Möglichkeiten, die Erfahrung der Lesbarkeit der Stadt und ihrer Dynamik in imaginären Äquivalenten zu erfassen. 5 Aus dem Avant propos de la Comédie humaine geht Balzacs primäres Anliegen hervor, dem gesellschaftlichen Wandel auf den Grund zu gehen, der die Restaurationsgesellschaft trotz des Versuchs einer politischen Rückbesinnung auf die vorrevolutionäre Zeit bestimmt. Er setzt es sich zum Ziel, den „moteur social“ als den eigentlichen „sens caché“ zu erforschen. 6 Paris bietet ihm mit seiner Topographie (Stadtviertel, Straßen, Monumente, öffentliche Einrichtungen) das Koordinatensystem, innerhalb dessen sich die Handlung als Spiegel 7 der gesellschaftlichen Mobilität entfaltet. Auf seiner imaginären Paris-Karte gelangt das Netz an Verbindungen zur Anschauung, das sich im vorgegebenen Raster bildet und ganz Paris durchspannt. Doch gelangt die Dynamik, die jegliche Art von Stagnation durchbricht, auch deutlich im tableau zur Darstellung, wo man sie wohl am wenigsten erwartet. Gerade die tableaux, die bei einer auf die Handlung fokussierten Lektüre sperrig wirken, weil sie deskriptiver Art sind und damit das fortlaufende drame verzögern, bringen auf entscheidende eigene Weise die Lebendigkeit von Paris zur Darstellung. Am Beispiel des Père Goriot und seiner Pension Vauquer, die der Erzähler als „une de ces monstruosités curieuses“ 8 bezeichnet, die einem auf geheimnisvolle Weise Paris enthüllen, soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass das tableau in sich die Sinnstruktur bündelt, die sich auf der Ebene des drame im kartographisch erfassbaren Stadtraum zwischen den dort bedeutungsträchtig angeordneten Orten entfaltet. Gewisserweise fungiert die Pension Vauquer als „Karte von Paris“ in Miniatur, denn jedem einzelnen Bewohner ist ein bestimmtes Milieu und damit eine Gegend von Paris zugeordnet: „Une réunion semblable devait offrir et offrait en petit les éléments d’une société complète.“ 9 Zudem deutet der Erzähler des Père Goriot in dem tableau bereits das dynamische Potential an, das sich innerhalb der auf der Karte fixierten Spannungspole entfaltet und die Entfernungen 5 Stierle: Der Mythos von Paris (wie Anm. 1), p. 364. 6 Cf. Honoré de Balzac: Avant-propos de la Comédie humaine, in: Id.: La Comédie humaine, vol. I, ed. Pierre-Georges Castex / Pierre Barbéris / Madeleine Fargeaud et al., Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1976, p. 7-20, hier 11. 7 Cf. Stendhals Spiegelmetapher. 8 Honoré de Balzac: Le père Goriot, in: Id.: La Comédie humaine, vol. II, ed. Marcel Bouteron, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1951, p. 847-1085, hier 856. 9 Ibid., p. 860. <?page no="71"?> Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot 71 und sozialen Hindernisse innerhalb des Pariser Stadtraums zu überwinden versteht. Vordergründig wirkt die Pension Vauquer als trostloser Ort, von dem man eigentlich kaum etwas erwartet. Auerbach unterstreicht in seiner Interpretation der Pension Vauquer, dass die materielle Schilderung die moralische Atmosphäre impliziere, und er beschreibt sie in ihrer „trostlose[n] Ärmlichkeit, Abgenutztheit und Abgestandenheit“ 10 samt ihrer Wirtin als „dämonisch-organische Ganzheitsvorstellung“. 11 Dabei rekurriert er auf Balzacs „atmosphärische Realistik“, 12 die immer einen moralisierenden Hintergedanken hege. 13 Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass das tableau der Pension Vauquer wie auch die leitmotivische Animalisierung ihrer Bewohner 14 neben dem Hinweis auf den moralischen Verfall auch gezielt die gesellschaftliche Dynamik zur Anschauung bringt, die alle Hindernisse überwindet und Paris als Ganzes kennzeichnet. Die Stadt erscheint, wenn auch nicht so explizit wie in anderen Romanen der Comédie humaine, 15 auf beiden Ebenen des drame und des tableau als Organismus, der auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse ausgerichtet ist. Das Modell des Organismus löst im anbrechenden 19. Jahrhundert im Zuge der „Wende hin zum ganzheitlichen Denken“ den Mechanismus ab, „Materie und Geist [werden nun] als lebendige Einheit“ 16 begriffen. Im Père Goriot erscheint der Organismus als zweckgerichtetes Prinzip, das seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht, vor der Folie des Mechanismus, mit dem man im 18. Jahrhundert das Zusammenspiel einzelner „Elemente und Funktionsteile“ 17 beschrieb. Als ‚mechanisch‘ gelten im Père Goriot die Vorgänge, die nicht zum Wandel beitragen und in ihrer regelmäßigen Abfolge stagnierend wirken. 18 Im Gegensatz dazu erkennt Rastignac, dass er das gleichförmige 10 Auerbach: Mimesis (wie Anm. 2), p. 437. 11 Ibid., p. 439. 12 Ibid., p. 441. 13 Cf. dazu auch: Wolfgang Matzat: „L’image de la ville dans Le Père Goriot“, L’Année balzacienne (2004), p. 303-315, hier 315: „C’est ainsi que le travail imaginaire de Balzac ne semble pas être déclenché par l’aspect visuel de la ville. L’image de l’océan n’est pas suggérée par le spectacle de la foule, celle du bourbier n’est pas préparée par l’évocation de la saleté des rues. Il s’agit plutôt d’une élaboration imaginaire des mœurs de la capitale.“ 14 Cf. Léon-François Hoffmann: „Les métaphores animales dans Le Père Goriot“, L’Année balzacienne (1963), p. 91-105. 15 Cf. Balzac: Ferragus (wie Anm. 4). Hier wird Paris metaphorisch als „monstre“ bezeichnet, das „une vie toujours active“ führt (p. 794). Im Père Goriot wird die Pension Vauquer als „une de ces monstruosités curieuses“ von Paris bezeichnet (p. 856). 16 Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, p. 33. 17 Ibid. 18 Cf. Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 855: „Monsieur Poiret était une espèce de mécanique.“ Ibid., p. 859 [in Bezug auf die „personnes“ der Pension Vauquer]: „Il ne <?page no="72"?> Eva-Tabea Meineke 72 Räderwerk durch seine eigene Kraft bezwingen und zu seinen Aufstiegszwecken nutzen kann: „Sans trop s’expliquer les moyens, il devinait par avance que, dans le jeu compliqué des intérêts de ce monde, il devait s’accrocher à un rouage pour se trouver en haut de la machine, et il se sentait la force d’en enrayer la roue.“ 19 Dieser Aufbruch, der aus dem jugendlichen désir resultiert, stellt bei Balzac das elementare Prinzip des gesellschaftlichen Wandels seiner Zeit dar. Es ist bereits zu Beginn des Romans im tableau der Pension Vauquer angelegt. Balzac entwickelt somit nicht nur die neue Darstellungsform des drame, wie Stierle hervorhebt: Für Balzacs Stadtsemiotik wird die Konzeption des ‚Lebens‘ als geschichtliche Dynamik ebenso zentral werden wie die dynamische Vorstellung des Kampfs zwischen den aufeinanderprallenden Kräften, die das Merciersche Modell statisch erfassbarer Kontraste in eine neue Konzeption überführt, aus der Balzac eine neue Darstellungsform, die des drame, gewinnen wird. 20 Man kann hinzufügen, dass er auch das tableau im Sinne des drame weiterentwickelt, ja den Kern des drame darin in ganz verdichteter Form fasst. Möchte man den Vorgang mit den Termini der Kartographie beschreiben, so reduziert sich der Maßstab im tableau erheblich, die Synthese vollzieht sich in noch stärkerem Maße. Zunächst soll die Bedeutung der Kartographie für Balzacs Darstellung des Pariser Stadtraums anhand bereits existierender Forschung aufgezeigt werden. Die Karte vermittelt das Gefühl für die topographischen und gesellschaftlichen Distanzen, die auf der Ebene der Handlung durch jugendliche Mobilität überwunden werden. Unter Punkt 2 soll dann anhand einer detaillierten Textinterpretation nachgewiesen werden, dass das tableau der Pension Vauquer als Paris-Karte in Miniatur fungiert. Balzacs kartographische Erfassung des Pariser Stadtraums Dass die Topographie bei Balzac eine Schlüsselfunktion im Hinblick auf die Darstellung der Gesellschaft seiner Zeit erfüllt, erkennt bereits Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk. Er hebt hervor, dass die Topographie den Mythos von Balzacs Paris strukturiere. Balzac hat die mythische Verfassung seiner Welt durch deren bestimmte topographische Umrisse gesichert. Paris ist der Boden seiner Mythologie - Paris mit seinen zwei, drei großen Bankiers […], Paris mit seinem großen Arzte [...], mit seinem Unternehmer [...], mit seinen vier oder fünf großen Kokotten, mit seinem Wucherer [...], seinen paar Advokaten und Militärs. Vor allen Dingen aber sind es restait donc entre elles que les rapports d’une vie mécanique, le jeu de rouages sans huile.“ 19 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 954. 20 Stierle: Der Mythos von Paris (wie Anm. 1), p. 342. <?page no="73"?> Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot 73 immer wieder dieselben Straßen und Winkel, Gelasse und Ecken, aus denen die Figuren dieses Kreises ans Licht treten. Was heißt das anderes als daß die Topographie der Aufriß dieses, wie jedes, mythischen Traditionsraums ist, ja der Schlüssel derselben werden kann [...]. 21 Balzacs Syntheseleistung im Hinblick auf die Darstellung von Paris gründet demzufolge auf der Hervorhebung bedeutungsträchtiger Lokalitäten innerhalb der Stadt, denen bestimmte Figuren und Milieus zugeordnet werden. Darüber hinaus arbeitet Franco Moretti die Funktion der Topographie für die Handlung der Comédie humaine heraus. In seinem Atlante del romanzo europeo erkennt er Balzacs Paris in Anlehnung an Robert E. Park als „Mosaik kleiner Welten“, innerhalb dessen sich Abenteuer entwickeln, die meist von jungen Menschen initiiert werden. Bei Robert E. Park heißt es: The processes of segregation establish moral distances which make the city a mosaic of little worlds which touch but do not interpenetrate. This makes it possible for individuals to pass quickly and easily from one moral milieu to another, and encourages the fascinating but dangerous experiment of living at the same time in several different contiguous, but otherwise widely separated, worlds. […] It introduces, at the same time, an element of chance and adventure which adds to the stimulus of city life and gives it, for young and fresh nerves, a peculiar attractiveness. 22 Die kartographische Darstellung macht klare Grenzen sichtbar, sie trennt die einzelnen Nuklei der Gesellschaft von einander und ordnet sie unterschiedlichen Quartiers und Straßen zu. Dass sich innerhalb der Gesellschaft, die Balzac darzustellen bestrebt ist, deutliche Unterscheidungen auftun, bestätigt auch Pierre Barbéris, der in Le monde de Balzac schreibt: „Non pas société fraternelle donc, société unitaire, mais société fondée sur la haine et la division, société dure.“ 23 Die Trennungslinien machen selbst vor familiären Bindungen nicht Halt. Die rigide Topographie begünstigt die Auflösung der unvorteilhaften verwandtschaftlichen Beziehungen zugunsten neuer Vernetzungen - im Père Goriot bewegen sich die Schwestern Mme de Restaud und Mme de Nucingen beispielsweise in unterschiedlichen sozialen Milieus ebenso wie ihr Vater, le père Goriot, sich in einer wiederum gänzlich anderen Umgebung, einem niederen Milieu aufhält. In folgendem Textauszug erklärt Mme de Beauséant Rastignac, welch enorme soziale Unterscheidungen sich 21 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Id.: Gesammelte Schriften, vol. V.1, ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, p. 1- 654, hier 134. 22 Robert E. Park: „The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment“, in: Id. et al. (eds.): The City - Suggestions for Investigation of Human Behavior in the Urban Environment. Chicago: University of Chicago Press, 1925, p. 1-46, hier 40sq. 23 Pierre Barbéris: Le monde de Balzac, Paris: Kimé, 1999, p. 165. <?page no="74"?> Eva-Tabea Meineke 74 in Paris auftun, die Familien auseinander reißen. Sie verdeutlicht dies anhand der räumlichen Distanz: Il existe quelque chose de plus épouvantable que ne l’est l’abandon du père par ses deux filles, qui le voudraient mort. C’est la rivalité des deux sœurs entre elles. Restaud a de la naissance, sa femme a été adoptée, elle a été présentée; mais sa sœur, sa riche sœur, la belle madame Delphine de Nucingen, femme d’un homme d’argent, meurt de chagrin; la jalousie la dévore, elle est à cent lieues de sa sœur; sa sœur n’est plus sa sœur; ces deux femmes se renient entre elles comme elles renient leur père. 24 Bei diesem starren Gebilde und den unüberbrückbar scheinenden Entfernungen bleibt die Darstellung allerdings nicht verhaftet, denn in die Karte lassen sich neue Verbindungslinien einzeichnen, die sich durch die Handlung ergeben und ein enges Netz bilden. Selbst eine entfernte Verwandtschaftsbeziehung kann dazu dienen, die topographischen Grenzen zu überwinden, was Rastignacs Beispiel zeigt, der als Neffe der Mme de Beauséant in die adligen und reichen Pariser Viertel vordringt. Außerdem bleiben die Familienbande des alten Goriot im Verborgenen bestehen, denn die reich gewordenen Töchter bedienen sich weiterhin des Geldes ihres Vaters und begeben sich heimlich in die rue Neuve-Sainte-Geneviève, ebenso wie sich ihr Vater heimlich in die chaussée d’Antin und die rue Saint-Lazare aufmacht. An diesem Punkt setzt der erwähnte Franco Moretti erzähltheoretisch an und erkennt die notwendige Voraussetzung einander entgegen gesetzter Welten für die Handlung, die sich in ihrer Berührung ‚entlade‘. Moretti schreibt: „È la matrice elementare del racconto balzachiano (e in verità di ogni racconto): due poli in tensione, e una corrente narrativa che si scarica - parvenir! - da un estremo all’altro.“ 25 Das von Moretti verwendete Bild aus der Physik: zwei entgegengesetzte Pole ziehen sich magnetisch an und setzen Energie frei, verweist auf die Dynamik, die Balzacs Erzählungen innewohnt. Aus den Karten, die Moretti zu Balzacs Romanen anfertigt, 26 resultiert jedoch eine deutliche Erweiterung jener binären Struktur, die den Strukturalisten (Propp, Lévi-Strauss, Lotman, Greimas) zufolge jeder Erzählung zugrunde liegt. Moretti schließt daraus, dass Balzac den Roman genau an diesem Punkt erneuere, indem er auf eine mehrgliedrige Struktur ziele, die sich deutlich an den topographischen Koordinaten ablesen lasse, innerhalb derer sich die Dynamik verschärfe. Insbesondere hebt Moretti die wiederkehrende Dreieckskonstellation hervor, in der ein Vermittler die Geradlinigkeit der Handlung unterbricht und neue Möglichkeiten eröffnet, wodurch die Komplexität der Romane entscheidend gesteigert werde. Moretti schreibt: „Anziché proteggersi dalle complicazioni di Parigi, egli 24 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 912sq. (Herv. E.-T.M.). 25 Franco Moretti: Atlante del romanzo europeo 1800-1900, Torino: Einaudi, 1997, p. 99. 26 Cf. ibid., p. 100-103. <?page no="75"?> Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot 75 [Balzac] individua nelle molteplici forze della vita urbana una grande chance per il romanzo moderno: per il romanzo della complessità[…]“. 27 Ein Beispiel dazu aus dem Père Goriot: Rastignac scheitert bei der Comtesse de Restaud in der chaussée d’Antin, gelangt dann zur Vermittlerin, seiner adligen Cousine, der Vicomtesse de Beauséant, in den Faubourg Saint-Germain (rue de Grenelle), die ihm die Baronesse de Nucingen (Mme Restauds Schwester und Frau eines reichen Bankiers) als Liebhaberin vorschlägt, die in der rue Saint-Lazare wohnt. Dass das Begehren in unterschiedliche Richtungen wirkt und Entfernungen zu überwinden sucht, wird an der Tatsache deutlich, dass sich Delphine de Nucingen vornehmlich auf Rastignac einlässt, um in den Salon der Mme de Beauséant zugelassen zu werden. Die Vicomtesse de Beauséant erklärt ihrem Neffen: „[…] madame de Nucingen laperait […] toute la boue qu’il y a entre la rue Saint-Lazare et la rue de Grenelle pour entrer dans mon salon.“ 28 Innerhalb des topographischen Koordinatensystems erkennt Moretti das aufstrebende, einem jugendlichen Elan entspringende Begehren als richtungweisend, es übernehme die Funktion eines Kompasses und werde durch die wunderbare Vorstellung vom süßen Leben in den reichen Vierteln genährt. E il magnetismo di questo desiderio ‚orienta‘ come una bussola la città di Parigi disponendola lungo l’asse riconosciuto a suo tempo da Pierre Bourdieu: dalla rive gauche, a sud, verso ‚l’alveare pieno di miele‘ a nord-ovest. Il desiderio giovanile rende Parigi leggibile, insomma: selezionando dal suo complicato sistema un chiaro punto di partenza, e uno d’arrivo. 29 „Le désir“ als treibende Kraft versteht im Père Goriot die topographischen Distanzen und Grenzen zu überwinden. Er richtet sich auf materielles Wohlergehen, das von Anfang an in Motiven zutage tritt, die mit der Vorstellung vom gelobten Land, in dem Milch und Honig fließen, dem Brot und dem Mahl bzw. Festmahl in Verbindung stehen. Nicht umsonst führt der Weg Rastignacs über eine Reihe von Umwegen, die auch den Friedhof Père Lachaise nicht auslassen, vom Frühstück in der Pension Vauquer zu Beginn des Romans zum Abendessen bei Madame de Nucingen an dessen Schluss. Das tableau als Paris-Karte in Miniatur Neben der Handlung vermitteln Balzacs tableaux den Sinn des Romans und erfassen auf ihre Weise Dynamik und Wandel, die Paris in seiner Totalität ausmachen. Dies mag zunächst abwegig erscheinen, wenn man die Darstellung der Pension Vauquer betrachtet. Dort ist nicht vornehmlich das Leben 27 Ibid., p. 110. 28 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 913. 29 Moretti: Atlante del romanzo europeo 1800-1900 (wie Anm. 25), p. 99. <?page no="76"?> Eva-Tabea Meineke 76 zugegen, sondern vielmehr lebloses Dahinvegetieren und der Tod. Die Lage der Pension im Umkreis von Panthéon und dem Militärhospital Val-de- Grâce, mit denen sie ein Dreieck formt, weisen darauf hin, ebenso wie die düsteren Farben der Kuppeln dieser beiden dem Leben eher feindlich gesinnten Bauten, der gelbe, kränklich anmutende Schimmer, in den die rue Neuve-Sainte-Geneviève getaucht ist und der Wassermangel auf den Straßen. Die Häusermauern evozieren die Enge eines Gefängnisses, die befremdliche Ruhe Menschenferne und Langeweile. La maison où s’exploite la pension bourgeoise appartient à madame Vauquer. Elle est située dans le bas de la rue Neuve-Sainte-Geneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse vers la rue de l’Arbalète par une pente si brusque et si rude que les chevaux la montent ou la descendent rarement. Cette circonstance est favorable au silence qui règne dans ces rues serrées entre le dôme du Val-de-Grâce et le dôme du Panthéon, deux monuments qui changent les conditions de l’atmosphère en y jetant des tons jaunes, en y assombrissant tout par les teintes sévères que projettent leurs coupoles. Là, les pavés sont secs, les ruisseaux n’ont ni boue ni eau, l’herbe croît le long des murs. L’homme le plus insouciant s’y attriste comme tous les passants, le bruit d’une voiture y devient un événement, les maisons y sont mornes, les murailles y sentent la prison. 30 Dass man sich, um zur Pension Vauquer zu gelangen, steil bergab bewegen muss, kann gar als Abstieg ins Totenreich gedeutet werden, insbesondere weil ja auch die Katakomben als Metapher fungieren und der Verfall des Menschen in jeglicher Hinsicht (Kopf und Herz, Verstand und Gefühl, Körper und Seele) thematisiert wird: […] ainsi que, de marche en marche, le jour diminue et le chant du conducteur se creuse, alors que le voyageur descend aux Catacombes. Comparaison vraie! Qui décidera de ce qui est plus horrible à voir, ou des cœurs desséchés, ou des crânes vides? 31 Der Ausbruch aus der Totenstarre, den die Handlung zu vollziehen sucht, ist jedoch bereits im tableau angelegt. So besitzt das Panthéon beispielsweise auch noch andere Implikate: gloire, Nachruhm, Größe, die sich auf den désir von Rastignac beziehen lassen. Zudem symbolisiert insbesondere der Garten der Mme Vauquer als organischer Bereich innerhalb der ausgestorbenen Stadt Fruchtbarkeit und Leben. Die Mauern, die die Pension von der Straße und dem Nachbarhaus abgrenzen, sind teilweise ganz mit Efeu überwuchert, davor sind Obstspaliere und Rebstöcke aufgereiht. Dieser Anblick ist der „rêverie“ 32 förderlich, der Erzähler hebt hervor, dass es sich um einen 30 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 848. 31 Ibid. 32 Moretti: Atlante del romanzo europeo 1800-1900 (wie Anm. 25), p. 104: „Una Parigi orientata dal desiderio, e tenuta insieme dalla rêverie (fin quando l’eroe arriva e la tensione vien meno: figura 46d).“ <?page no="77"?> Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot 77 „effet pittoresque dans Paris“ 33 handele. Außerdem sind in dem Garten zahlreiche Gewächse zu finden, die dem leiblichen Genuss dienen (Sauerampfer, Lattich, Petersilie, Artischocken), Bäume, die das gesellschaftliche Beisammensein fördern wie die Linden, unter deren Blätterdach die Pensionsgäste ihren Kaffee einnehmen können, oder Pflanzen, die exotisch anmuten und auf Sinnlichkeit und Liebe anspielen (Oleander, Granatapfelbäume). Die Blumen antizipieren bereits den „grand escalier plein de fleurs“ 34 des Hôtel de Beauséant. Neben der Pflanzenist auch die Tierwelt mit Schweinen, Hühnern und Kaninchen vertreten, die in bunter Mischung im Hof hausen. In der Natur existieren zwar nicht die Verstrickungen, die sich im zufälligen Zusammentreffen der verschiedenen ‚Arten‘ innerhalb der menschlichen Gesellschaft ergeben, doch erstreben die Tiere ebenso wie die Menschen auf hartnäckige Weise die Befriedigung ihrer lebensnotwendigen Bedürfnisse. Darin besteht der Antrieb für ihr Handeln. Die Dynamik in Paris resultiert aus beiden Komponenten: Natur und Gesellschaft, von denen nicht umsonst die Natur als erste genannt wird. Balzac schreibt im Avant-propos de la Comédie humaine: „L’État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Société.“ 35 Außer Pflanzen und Tieren ist es allen voran die Kunst, die im tableau der Pension Vauquer Dynamik und Leben verheißt. Dies zeigen der Bogengang aus grünlichem Marmor, den ein Maler auf der hinteren Gartenmauer verewigt hat und der Ausbruch und Freiheit impliziert, die Amorstatue, die in ihrem bröckligen Zustand noch die Kraft der Liebe zu repräsentieren versteht und als Aufschrift ein Zitat Voltaires trägt: „Qui que tu sois, voici ton maître: Il l’est, le fut, ou le doit être“, und im Salon der Pension bildet das Bild des reichen Festmahls, das Kalypso dem Telemach spendierte, einen deutlichen Widerspruch zum ärmlichen Essen, das bei Mme Vauquer serviert wird. 36 Die Existenz von Kontrasten, die sich weiterhin in der Präsentation der einzelnen Bewohner manifestiert, zeigt innerhalb der Stagnation Spannungspotential auf. Das tableau der Pension Vauquer leistet in komprimierter Form, was auf der Handlungsebene durch die kartographisch erfassbaren Entfernungen innerhalb von Paris entsteht. In diesem Sinne fungiert die kleine Runde aus der rue Neuve-Sainte-Geneviève als Spiegelbild der ganzen großen Gesellschaft. Dort kann man in nuce das Leben beobachten, wie der Erzähler mehrfach verdeutlicht: „Qui n’a pas pratiqué la rive gauche de la Seine, entre la rue Saint-Jacques et la rue des Saints-Pères, ne connaît rien à la vie humaine! “ 37 oder: 33 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 849. 34 Ibid., p. 901. 35 Balzac: Avant-propos de la Comédie humaine (wie Anm. 6), p. 9. 36 Cf. Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 849sq. 37 Ibid., p. 928. <?page no="78"?> Eva-Tabea Meineke 78 Mais Paris est un véritable océan. Jetez-y la sonde, vous n’en connaîtrez jamais la profondeur. Parcourez-le, décrivez-le? quelque soin que vous mettiez à le parcourir, à le décrire; quelque nombreux et intéressés que soient les explorateurs de cette mer, il s’y rencontrera toujours un lieu vierge, un antre inconnu, des fleurs, des perles, des monstres, quelque chose d’inouï, oublié par les plongeurs littéraires. La Maison Vauquer est une de ces monstruosités curieuses. 38 Balzac gelingt es mit diesem tableau, eine Situation zu erfassen, die die Pariser Dynamik, den „moteur social“ in sich trägt, sich jedoch gleichzeitig als Einheit präsentiert. Beispielsweise fungiert die Wirtin Mme Vauquer, die sich perfekt in ihre Pension integriert, als Verkörperung der ganzen kleinen Welt: „[…] enfin toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne.“ 39 Dies hebt der Erzähler zudem auf kuriose Weise anhand der Darstellung ihres wollenen Unterrocks hervor. Kein Detail seines tableau ist überflüssig: „Son jupon de laine tricotée, qui dépasse sa première jupe faite avec une vieille robe, et dont la ouate s’échappe par les fentes de l’étoffe lézardée, résume le salon, la salle à manger, le jardinet, annonce la cuisine et fait pressentir les pensionnaires.“ 40 Auf der anderen Seite gibt es Bewohner, an denen man deutlich den Kontrast zum Milieu ablesen kann und die sogleich eine weitreichende Geschichte im Umfang eines eigenen Buchs implizieren. Victorine Taillefer, zum Beispiel, die auf den ersten Blick blass, krank und ärmlich wirkt und damit an die Pension angepasst erscheint, ist eigentlich jung und beweglich: „néanmoins son visage n’était pas vieux, ses mouvements et sa voix étaient agiles.“ 41 Nur durch einen ungünstigen Zufall ist sie in die Pension Vauquer gelangt, obwohl man sie sich viel besser in einem der eleganten Viertel von Paris vorstellen könnte: „Ce jeune malheur ressemblait à un arbuste aux feuilles jaunies, fraîchement planté dans un terrain contraire. […] Son histoire eût fourni le sujet d’un livre.“ 42 Auch Rastignacs Züge verraten deutlich andere gesellschaftliche Bereiche, die auf diese Weise ins tableau der Pension Vauquer eingeflochten sind und mit ihr kontrastieren. Auch hier wird die der Figur inhärente Widersprüchlichkeit wieder mit „néanmoins“ hervorgehoben: Sa tournure, ses manières, sa pose habituelle dénotaient le fils d’une famille noble, où l’éducation première n’avait comporté que des traditions de bon goût. S’il était ménager de ses habits, si les jours ordinaires il achevait d’user les vêtements de l’an passé, néanmoins il pouvait sortir quelquefois mis comme l’est un jeune homme élégant. 43 38 Ibid., p. 856. 39 Ibid., p. 852. 40 Ibid. 41 Ibid., p. 856. 42 Ibid., p. 856sq. 43 Ibid., p. 858. <?page no="79"?> Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot 79 Das Begehren als natürlicher Antrieb des Menschen gelangt im Père Goriot immer wieder durch Motive aus der Tierwelt zur Anschauung. In diesem Sinne wird vor Mme Vauquer ihre Katze als erstes Lebewesen in den ausführlich beschriebenen Speisesaal eingeführt, die auf die Anrichte springt, um die dort aufgestellten und noch abgedeckten Milchschälchen zu beschnuppern. 44 Mme Vauquers Nase hingegen erinnert an einen Papageienschnabel („nez à bec de perroquet“ 45 ), um sich ihrer Härte und Gewinnsucht in Vermögensangelegenheiten besser anzupassen. Auch Rastignac wird im Laufe des Romans mit mehreren Tieren in Verbindung gebracht und dies hinsichtlich seines Elans, Appetits und seiner Abenteuerlust. Als er von seiner Familie Geld geschickt bekommt, gleicht er einem „oiseau naguère sans ailes [qui] a retrouvé son envergure“ 46 und einem „chien qui dérobe un os à travers mille périls, il le casse, en suce la moelle, et court encore.“ 47 Vautrin weist zudem darauf hin, dass Rastignac ganz und gar nicht der Gattung der Weichtiere angehöre, sondern wie er selbst das heiße Blut der Löwen und großen Appetit besitze, die ihn immer wieder ins Geschehen treiben: „Si vous étiez pâle et de la nature des mollusques, vous n’auriez rien à craindre; mais nous avons le sang fiévreux des lions et un appétit à faire vingt sottises par jour.“ 48 Laut Rainer Warning gewinnt die Deskription bei den Realisten, von ihrer Rolle als bloßer ancilla narrationis befreit, innerhalb einer „grundsätzlichen Restrukturierung des Erzählens“ 49 an Bedeutung. Das paradigmatische Erzählen löse das syntagmatische seit dem Realismus weitgehend ab und die formale Bedeutungskonstitution werde durch Äquivalenzen thematisch-semantischer Art innerhalb des „Textraums“ erweitert. 50 Diese These können die hier erzielten Erkenntnisse nur unterstreichen. Im tableau zu Beginn des Romans ist bereits die Dynamik vorhanden, die sich in der Schlussszene noch nicht entlädt, aber zumindest eine eindeutige Richtung gefunden hat. Rastignac lässt auf dem père Lachaise den Tod hinter sich (extra muros), den Goriot als alter Mann verkörpert, der sich zu Gunsten der Jugend selbst aufgegeben hat. Von der Anhöhe des Friedhofs aus liegt Paris Rastignac zu Füßen, der das Objekt seiner Begierde fixiert („avidement“) und seine Herausforderung nun auf einen kartographisch genau eingrenzbaren Bereich richtet: die Gegend zwischen der Place Vendôme und dem Invalidendom wird auf der Karte von Paris als das topographische Zentrum der Stadt er- 44 Cf. ibid., p. 852. 45 Ibid. 46 Ibid., p. 927. 47 Ibid. 48 Ibid., p. 934. 49 Rainer Warning: „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“, Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), p. 176-201, hier 179. 50 Cf. ibid., p. 176sq. <?page no="80"?> Eva-Tabea Meineke 80 kennbar. Er weiß nun, wo genau im gefährlichen Bienenstock der Gesellschaft der ‚Honig‘ zu finden ist. Um sich dem hohen Adel des faubourg Saint- Germain anzunähern, muss er jedoch noch den Weg über Mme de Nucingen wählen, wo er zunächst sein Abendessen einnehmen kann. Rastignac, resté seul, fit quelques pas vers le haut du cimetière et vit Paris tortueusement couché le long des deux rives de la Seine, où commençaient à briller les lumières. Ses yeux s’attachèrent presque avidement entre la colonne de la place Vendôme et le dôme des Invalides, là où vivait ce beau monde dans lequel il avait voulu pénétrer. Il lança sur cette ruche bourdonnante un regard qui semblait par avance en pomper le miel, et dit ces mots grandioses: - A nous deux maintenant! Et pour premier acte du défi qu’il portait à la société, Rastignac alla dîner chez madame de Nucingen. 51 Dass Balzac die Dynamik der Stadt in den Winkeln aufspürt, die dem Tod und der Resignation anheimgefallen zu sein scheinen (in der Pension Vauquer ebenso wie auf dem père Lachaise), bedingt den besonderen Geheimnischarakter des „moteur social“, der als „sens caché“ ganz Paris innewohnt. Der Autor der Comédie humaine schafft dadurch eine Verbindung zwischen den auf der Karte deutlich voneinander getrennten Welten, zeigt auf, was nicht offensichtlich ist. In diesem Sinne kann auf formaler Ebene auch das statische tableau in sich die aus dem désir resultierende Dynamik verbergen. 51 Balzac: Le père Goriot (wie Anm. 8), p. 1085. <?page no="81"?> Franziska Sick Julien Gracq: Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne Vorüberlegungen Mit Le Rivage des Syrtes (1951) und La Forme d’une ville (1985) verfasst Gracq zwei Werke, die oberflächlich betrachtet kaum gegensätzlicher sein könnten. Während der frühe Text im Umfeld der Décadence spielt, handelt der spätere von Gracqs Kindheit in einer modernen Großstadt, von seiner Internatszeit in Nantes. Es stellt sich die Frage, ob und wie beides zu vereinbaren ist. Die vielleicht nächstliegende Gemeinsamkeit, dass beide Texte gleichermaßen denarrativ seien, hilft kaum weiter, weil hinter dieser formalen Kategorie sachhaltig mehr das Trennende als das Verbindende durchscheint. So vertritt Wolfzettel die Auffassung, der Décadence-Roman sei denarrativ, weil in einer festgefügten Gesellschaft Aneignung von Welt nicht länger möglich sei. 1 Smuda führt demgegenüber das - wie er es nennt - Anti-Narrative des modernen Großstadtromans auf die Erfahrung der Geschwindigkeit zurück. 2 Im einen Fall ist traditionelles Erzählen nicht länger möglich, weil zu viel, im anderen Fall, weil aufgrund verstellter Handlungsräume zu wenig geschieht. Während die moderne Großstadt für das Erzählen zu schnell ist, ist die dekadente für es zu inert. So konträr beide Modelle sind, lässt sich mit ihnen kein einheitlicher Erfahrungshintergrund formulieren. Eben diesen aber reklamiert Gracq für sein Schreiben. Er bekennt sich in La Forme d’une ville zur Erfahrung der Moderne und verweist mehrfach darauf, dass er sie seiner Internatszeit in Nantes verdanke, um zugleich anzumerken, dass er bei der Abfassung des Rivage des Syrtes seinen Aufbruch aus Nantes vor Augen gehabt habe. 3 Das ist ein bemerkenswerter Umstand: Die Grundlage für den Décadence-Roman ist die Erfahrung der modernen Großstadt. Wie beides zusammengeht, wird 1 Cf. Friedrich Wolfzettel: „Der › deambulatorische ‹ Roman. Überlegungen zu einer spezifischen Modernität des Romans im Fin de Siècle“, in: Rainer Warning / Winfried Wehle (eds.): Fin de siècle, München: Fink, 2002, p. 429-488, hier 432. 2 Cf. Manfred Smuda: „Die Wahrnehmung der Großstadt als ästhetisches Problem des Erzählens. Narrativität im Futurismus und im modernen Roman“, in: Id. (ed.): Die Großstadt als „Text“, München: Fink, 1992, p. 131-182, hier 141. 3 Cf. Julien Gracq: La Forme d’une ville, Paris: José Corti, 1985, p. 196. <?page no="82"?> Franziska Sick 82 in der vorliegenden Untersuchung vorrangig zu klären sein, und ferner, dass und wie dieses Spannungsverhältnis bei Gracq das von Karte und Landschaft grundiert. Ich setze hierbei weniger auf kausalhistorische Erklärungsansätze, sondern versuche in erster Linie diese ambivalente Topologie zu beschreiben. Methodisch greife ich dabei auf Ansätze von Bachtin und Lotman zurück. Inhaltlich stellt sich die Frage, inwieweit der Gracq’schen Verschränkung von Décadence und Moderne ein gemeinsamer, wenn auch durchaus ambivalenter Chronotopos zugrunde liegt. Einen ersten Anhalt kann das von Lotman entwickelte Modell von Peripherie und Zentrum geben. 4 Das Erzählen Gracqs verläuft zu wesentlichen Teilen über diese beiden Terme. Die dekadente Gesellschaft in Le Rivage des Syrtes überschreitet, so dekadent verhockt sie auch sein mag, in nachgerade revolutionärer Weise ihre Grenzen. Und wenn Gracq in La Forme d’une ville seine Prägung durch das moderne, weltoffene Nantes zu bestimmen versucht, kommt er nicht umhin, im Gegenzug auf bodenständig-bäuerliche Städte wie Angers, aber auch auf das zentralistische Paris zu verweisen. Der Bezug auf Lotman bietet sich nicht zuletzt deshalb an, weil in Le Rivage des Syrtes ein zentrales Theorem Lotmans anklingt. Lotman zufolge besteht ein Grundmuster sujethaltiger Erzählungen darin, dass ein Protagonist die Grenze zwischen einem erlaubten und einem verbotenen Ort überschreitet. 5 Durchaus in diesem Sinne lautet der Wahlspruch eines alten Adelsgeschlechts in den Syrten: „Fines transcendam“. 6 So passgenau das Lotman’sche Schema prima facie ist, sein Defizit besteht darin, dass es vergleichsweise starr und historisch wenig trennscharf ist. Denn mit dem Verweis auf die Überschreitung lässt sich kaum mehr thematisieren, als dass Le Rivage des Syrtes so transgressiv ist wie jegliche sujethaltige Erzählung vor ihr. Wobei nicht bloß die erzähltheoretische Dimension zu betrachten ist. Denn diese ist in Lotmans Theorieansatz, aber auch in Gracqs Roman durch ein kulturgeschichtliches Modell grundiert. Auch wenn die Akzentsetzungen nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich sind, lässt sich Gracqs Modell von Décadence und Moderne mit dem von Peripherie und Zentrum bei Lotman zumindest näherungsweise parallelisieren: Hier wie dort besitzt das Zentrum eine konservative Funktion, während die Peripherie für Information und Innovation steht. Naturgemäß sind bei dieser Parallelisierung einige Abstriche zu machen - zumal wenn man die Gleichsetzung von Zentrum und Décadence genauer betrachtet. Augenscheinlich ist der eine Begriff in einem primär semiotischen Sinn zu verstehen, während der andere ungleich konkretere, histo- 4 Cf. Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp, 2010, p. 163-290. 5 Cf. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink, 4 1993, p. 337-339. 6 Julien Gracq: Le Rivage des Syrtes, Paris: José Corti, 1951, p. 52. <?page no="83"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 83 rische und biologische Konnotate und Wirkungsbeziehungen aufruft. 7 Unterschiedlich ist ferner die Bewertung der historischen Dynamik: Während Lotman dem Zentrum vorrangig eine stabilisierende Funktion zuspricht - es kodifiziert die von der Peripherie her eindringende Information -, akzentuiert Gracq im Gefolge der Décadence, dass das Bestehende (das Zentrum) von innen heraus zerfällt. 8 Es stellt sich deshalb die Frage, ob Lotmans Begriff des Zentrums leistungsfähig genug ist, um die Décadence zu beschreiben. Das Lotman’sche Zentrum ist der schiere Gegenbegriff zur revolutionären Peripherie, es besitzt - anders als das dekadente - keine innere Eigendynamik. Erzähltheoretisch ist auf eine weitere Verengung bei Lotman hinzuweisen: Das Konzept von Peripherie und Zentrum setzt nur genau eine Beziehung zwischen Raum und Geschichte an: die der Überschreitung. 9 Nun ist diese Beziehung nicht bloß auf den Aspekt der Ereignisräumlichkeit zu beschränken. Räume können auch Erinnerungsräume, Gedenkorte oder Tatorte sein. Der Raum kodiert hierbei weder die Topologie der histoire noch erzeugt er im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum neue Information. Er besitzt eine Funktion, die einigermaßen genau mit dem discours des Erzählers korrelierbar ist. Denn eines haben Tatorte und Gräber/ Erinnerungsräume gemein: dass sie das Ereignis im Raum ‚konservieren‘. Sie sind stumme Zeugen dessen, was geschehen ist. In Blick zu nehmen ist hierbei vorrangig nicht das Ereignis der Überschreitung, sondern die Art und Weise, wie der Erzähler/ Autor Geschichten im Raum ablegt, und wie in abgeleiteter Weise Räume deshalb Geschichten erzählen. Aus den Veränderungen solcher Topologien lässt sich ein starkes historisches Kriterium für das Bezugssystem einer Décadence-Moderne entwickeln. Dass, wenn man das Thema der Décadence umfänglich würdigen 7 Wobei anzumerken ist, dass auch Lotman Überschneidungen zwischen der semiotischen und der rein faktischen Sphäre nicht ausschließt, cf. Id.: Die Innenwelt des Denkens (wie Anm. 4), p. 187: „In Fällen, in denen die Semiosphäre auch real-territoriale Züge hat, bekommt die Grenze eine wörtlich zu verstehende räumliche Bedeutung.“ 8 Zum Bedeutungsumfang des Begriffs Dekadenz, cf. Walter Wiora: „‚Die Kultur kann sterben‘. Reflexionen zwischen 1880 und 1914“, in: Roger Bauer / Eckhard Heftrich / Helmut Koopmann (eds.): Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1977, p. 50-72. 9 Wie sehr Lotman auf das Ereignis setzt, zeigt sich exemplarisch in Die Struktur literarischer Texte (wie Anm. 5), p. 338sq: „Der sujethaltige Text wird auf der Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation. Die Welt ist in Lebende und Tote eingeteilt und eine unüberschreitbare Linie trennt die beiden Teile. Der sujethaltige Text behält dieses Verbot für alle Figuren bei, führt aber eine Figur (oder eine Gruppe) ein, die ihm nicht unterliegt: Äneas, Télémaque oder Dante steigen ins Schattenreich hinab […]. Die Bewegung des Sujets, das Ereignis ist die Überwindung jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt ist. […] Das Sujet ist ein ‚revolutionäres Element‘ im Verhältnis zum ‚Weltbild‘.“ <?page no="84"?> Franziska Sick 84 wollte, weitere Aspekte zu berücksichtigen wären, ist unbenommen. 10 Im Folgenden ist vorrangig eine Topologie der Décadence-Moderne bei Gracq nachzuzeichnen. Auch wenn dieser Term paarig ist, soll er in erster Linie nicht die Décadence benennen, sondern eine andere Moderne, eine Moderne, die sich nicht aus moderner Technik und Fortschritt speist, sondern sie überschreiten wollend aus der Décadence. Einseitig ist deshalb das Etikett der Antimoderne, mit dem Compagnon Gracq belegt. 11 Außer Acht bleibt hierbei, dass und in welcher Weise Gracq sich dem Projekt der Moderne verpflichtet fühlt. Die Rede von der Décadence-Moderne ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen: Sie hält den Ausgangspunkt und die Energien einer anderen Moderne fest, die sich nicht nur als konservativ bewahrende „arrière-garde de l’avant-garde“ 12 versteht. Grabstätte und Erwartungsraum - zur Chronotopologie der Décadence Wie mächtig und variant Orte als Erinnerungsträger Geschichten strukturieren, zeigt sich dort, wo sie diese Funktion nicht oder nur in beschränkter Weise einlösen. So etwa bei den ersten Christen, als sie sahen, dass das Grab Jesu Christi leer war. Sie füllten diese Leerstelle mit einer großen Erzählung. Das ist ein durchaus ungewöhnlicher Chronotopos: eine Geschichte, die im Leeren verankert ist, die durch nichts als eine Absenz bezeugt ist. 13 Kaum weniger unorthodox als die biblische Zeitlichkeit des Grabes ist die dekadente. Der Décadence erscheint das Grab und genereller gefasst der historische Ort weder als Ort der Bewahrung und des Gedenkens noch als Vorweis auf die Erlösung, sondern als aktueller Ort, an dem der gegenwär- 10 Cf. Maria Moog-Grünewald: „Poetik der Décadence - eine Poetik der Moderne“, in: Warning / Wehle (eds.): Fin de Siècle (wie Anm. 1), p. 165-194. Bereits Moog- Grünewald plädiert dafür, die Décadence zum Ausgangspunkt einer Bestimmung von Moderne zu nehmen und begründet dies vorwiegend ästhetisch. Ich akzentuiere demgegenüber die Raumkonzepte. Deshalb verschieben sich die Gewichte, obwohl dasselbe Grundthema anliegt. 11 Cf. Antoine Compagnon: Les antimodernes de Joseph de Maistre à Roland Barthes, Paris: Gallimard, 2005, p. 372-403. Auch wenn Compagnon die plakative These von der Antimoderne historisch etwas abmildert - die Antimodernen besäßen kein grundsätzlich ablehnendes, sondern ein lediglich delikates Verhältnis zur Moderne -, fällt auf, dass er im Falle Gracqs nur dessen Zurückweisung der Moderne beschreibt. 12 Roland Barthes: „Réponses“ (Tel quel, automne 1971), in: Id.: Œuvres complètes, ed. Eric Marty, Paris: Seuil, 2002, vol. 3, p. 1038, zit. n. Compagnon: Les antimodernes (wie Anm. 11), p. 419. 13 Eine auf den ersten Blick gegenteilige Auffassung trägt Louis Marin (Sémiotique de la passion. Topiques et figures, Paris: Aubier Montaigne, 1971) vor. Er legt dar, wie sich der biblische Mythos auf Toponyme stützt, um die Glaubwürdigkeit der Geschichte abzusichern, und sich dann Zug um Zug von ihnen ablöst. Man kann die Geschichte jedoch auch vom Ende her betrachten: Sie nistet in dem finalen Unort des leeren Grabes. <?page no="85"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 85 tige Verfall abzulesen ist. So beschreibt Iwan Goll mit Bezug auf den Untergang des Abendlandes (Spengler) das zeitgenössische Paris als eine Stadt, die von der Eurokokke, einer Art Kulturvirus, zersetzt ist, sie hat bereits Notre Dame, aber sichtlich auch den Erzähler befallen. 14 So beschreibt Gracq die Städte am Ufer der Syrten als von Moder, Fäulnis und Fieber heimgesucht. Eine unübersehbare Zuspitzung findet diese Metaphorik anlässlich einer Totenehrung. Der Ich-Erzähler Aldo schildert, wie die Kränze, mit denen der Stadtstaat Orsenna seine toten Soldaten ehrt, verfaulen. Au pied du monument, je remarquai soudain, dans le silence ensommeillé, une longue coulure sale qui tachait la pierre et venait rejoindre une litière spongieuse de feuilles noircies. Les couronnes fanées glissaient d’une année à l’autre à ce coussinet absorbant, évoquant une douce continuité pourrissante où l’emblème se reconnaissait. […] Même en symbole, Orsenna continuait à fabriquer de la terre de cimetière. 15 So sehr man die Décadence primär dem historischen Denken zuschlagen mag, so wenig ist zu übersehen, dass der Chronotopos dekadenter Literatur nahezu geschichtslos ist. In diesem Sinne beobachtet Aldo den aktuellen Verfall und blendet das Totengedenken aus. Weil hier alles abgestanden ist und fault, will der Dekadente heraus aus diesem Unrat, ohne ihm freilich entkommen zu können. Man denke an Gides Voyage d’Urien, an des Esseintes’ Flucht ins Erlesene (À rebours), aber auch im weiteren Umfeld des Fin de Siècle an den Nexus von Abenteuer und ennui in Sartres La Nausée. Als einigermaßen ambivalent erweist sich damit der Chronotopos der Décadence: Er nimmt Gräber, historische Orte als aktuelle Orte des Verfalls wahr, um ihnen einen vergleichsweise leeren Erwartungsraum entgegenzusetzen. Beides hat miteinander zu tun. Weil die Décadence historische Orte nicht länger als einen retro-/ prospektiven Raum wahrzunehmen bereit ist, bleibt das Bild der Zukunft so erwartungsgeladen wie zugleich führungslos. Diese Perspektivlosigkeit schlägt auf die Erzählanlage durch. Da die Décadence sich am Nullpunkt der Geschichte befindet, hält sie tendenziell am Nullpunkt des Erzählens. Deshalb zeigt sich in ihr die konstitutive Funktion, die der Raum für das Erzählen besitzt. In dem Maße, wie der Raum nicht länger Geschichte bloß grundiert, wird er selbst zum Erzählproblem. Die Décadence sucht Geschichte im Raum gerade deshalb, weil sie den Ort als Träger von Tradition, aber auch von Utopie streicht bzw. letztere zu einem leeren Erwartungsraum eindampft. Diese Führungslosigkeit zeichnet sich u.a. daran ab, dass und wie der Begriff des Abenteuers im Umfeld der Décadence reüssiert und gemessen an älteren Modellen sich zugleich verschiebt. Während die antiken Helden sich in einem ereignisreichen Raum 14 Cf. Iwan Goll: Die Eurokokke (1927), Göttingen: Wallstein, 2002, p. 97-111. 15 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 67. <?page no="86"?> Franziska Sick 86 ohne Zeit bewegen - Bachtin hat hierfür den Begriff der Abenteuerzeit geprägt 16 -, sehen sich die Helden der Moderne einem Abenteuerraum ohne Abenteuer ausgesetzt. 17 Abzulesen ist die Führungslosigkeit der Décadence dort, wo mehr auf dem Spiel steht als bloß ein Abenteuer. Kurz vor Ausbruch des Krieges beerdigt man einen alten Frontbauern. Wie zu erwarten, dient das Begräbnis vor diesem Hintergrund nicht bloß dem Totengedenken. Es besitzt eine durchaus prospektive Funktion. Diese zeichnet sich bereits am Boden ab, in dem man den Frontbauern bestattet. Man beerdigt ihn in der Wüste am Ufer der Syrten. Während es sonst üblich war, dem Toten ein Stück Erde aus der Heimatstadt ins Grab zu werfen, ist diese bei dem Begräbnis des Frontbauern nicht zur Hand. In überdeutlichem Kontrast zur eingangs zitierten Totenehrung haftet diesem Begräbnis nichts Humoses an. Gänzlich anders ist es überdies sinnbildlich kodiert. Es deutet nicht auf den aktuellen Zerfall hin, sondern auf eine ungesicherte Zukunft vor. […] je sentais que le vieillard eût aimé sa demeure menacée. Ce sol qui bougeait comme les dunes sous ses plis de sable ne tenait pas sa proie pour jamais. Il y avait pour moi un symbole […] qui s’alliait à ce cortège nomade, à cette terre imperceptiblement remise en mouvement. Il n’y avait rien ici qui parlât du repos dernier, mais au contraire l’assurance allègre que toutes choses sont éternellement remises dans le jeu et destinées ailleurs qu’où bon nous semble […]. 18 Auch wenn der Ich-Erzähler das Spiel des Lebens unter dem Titel einer frohen Gewissheit affirmiert, ist nicht zu übersehen, dass diese Gewissheit im Grunde führungslos ist. Das Vermächtnis des Frontbauern ist ewige Unruhe, eine umtriebige Unruhe ohne Ziel, die in fatalistischer Weise jeglichem „où bon nous semble“ abschwört. In ersten Ansätzen deutlich wird in den beiden konträren Grabszenen die chronotopische Ambivalenz der Décadence-Moderne. Sie verkürzt das Totengedenken, und das heißt die retrospektive Dimension des Grabes, auf ein Bild des aktuellen Zerfalls und beschneidet am anderen Ende dessen prospektive Funktion. Faulende Kränze oder Wanderdünengräber - historisch dimensionslos sind beide Gräber, und dennoch oder aber gerade deshalb versucht die Décadence-Moderne, aus dem Raum die Geschichte herauszulesen. 16 Cf. Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2010, p. 9-36. 17 Während Bachtin mit dem Begriff der Abenteuerzeit den Chronotopos unter den Primat der Zeit stellt, akzentuiere ich in stärkerem Maße Aspekte des Raums. Von einem imaginären Abenteuerraum sind exemplarisch Gides Voyage d’Urien, aber auch weite Teile des Rivage des Syrtes geprägt. Zu verweisen wäre auch auf Karl Mays Reiseabenteuerliteratur. Anders als Gide versucht der Trivialschriftsteller die imaginären Abenteuer als reale auszugeben. Unabhängig davon sind beide Autoren von derselben Abenteuersehnsucht inspiriert. 18 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 260. <?page no="87"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 87 Großstadtversus Stadtstaatroman. Zur Topologie der Syrten Die Handlung in Le Rivage des Syrtes ist von dieser Geschichtssuche im Raum geprägt: Ein junger Adliger namens Aldo bewirbt sich, um dem dekadenten Treiben der Hauptstadt zu entkommen, auf eine Stelle als politischer Beobachter an der Syrtenfront. Jedoch ist die kriegerische Grenze Orsennas kaum weniger verschlafen als die Hauptstadt selbst. Der Krieg mit Farghestan, den Orsenna an dieser Front führt, ruht seit dreihundert Jahren. Die Festung ist verrottet, die Soldaten stehen als Knechte bei den ortsansässigen Gutsbesitzern in Dienst. Aufgrund seines Tatendrangs ist Aldo von den Front- und Seekarten fasziniert, die er in der Festung vorfindet. Er kann der Verheißung dieser ‚abenteuerhaften‘ Karten nicht widerstehen, er überschreitet die auf ihnen eingezeichnete Demarkationslinie, fährt in den Hafen von Farghestan ein, gerät dort unter Beschuss und löst damit zumindest mittelbar einen Krieg aus. Seine ‚heldenhafte‘ Ausfahrt, die im Grunde nur ein dummer Jungenstreich war, weckt das dekadente Orsenna auf. Es will den Krieg und lehnt die Verhandlungsangebote Farghestans ab. Wie sich bereits anhand dieser kurzen Skizze ablesen lässt, weicht Le Rivage des Syrtes in vielfacher Weise vom Schema des modernen Großstadtromans ab. Zum einen ist Orsenna eine rein fiktive Stadt 19 - Gracq referenziert nicht, wie häufig sonst der Großstadtroman, eine bekannte Stadt wie Paris, London oder Berlin -, zum anderen ist Orsenna keine moderne Großstadt, sondern nur ein kleiner Stadtstaat mit etwas Umland. Hinter dieser fiktiven Topographie verbirgt sich ein tiefer liegender Modellwechsel. Zumal die Großstadtromane der Surrealisten - Aragons Paysan de Paris, Golls Eurokokke, Bretons Nadja - sind, was die Erzählanlage betrifft, weitgehend zeitraum-diagnostisch. Sie versuchen das Neue, sei dieses nun das Neue der Technik, des kollektiv Verdrängten und Unbewussten oder aber auch das der Décadence, anhand kleiner, unscheinbarer Veränderungen im Stadtraum abzulesen. Geschichte ist hierbei nicht länger die große Geschichte der Ereignisse. Sie erschließt sich dem stadtgängerischen Flaneur in wie surreal skurriler Weise auch immer. Nach dem 2. Weltkrieg - Le Rivage des Syrtes antwortet auf diese historische Situation 20 - gelangt Gracq zu der Auffassung, dass der Untergang des Abendlandes nicht 19 Der Roman spielt mit leicht verfremdeter Geographie im südlichen Mittelmeer, irgendwo zwischen Sizilien und dem heutigen Libyen zu einer Zeit, zu der es zwar bereits Dampfschiffe gab, zu der man aber noch auf Pferden ritt. 20 Naheliegend ist der Bezug zur drôle de guerre. In einem weiteren Sinn, der sich freilich weniger textnah belegen lässt, lassen sich auch Beziehungen zu dem geopolitischen Bedeutungsverlust, den Europa nach zwei Weltkriegen erfährt, herstellen. Eine solche Ausweitung scheint mir zulässig, obwohl oder gerade weil der Roman nicht als Schlüsselroman zu lesen ist. Zur Zurückweisung des Schlüsselromans, cf. Siegfried Jüttner: „Gracq. Le Rivage des Syrtes“, in: Klaus Heitmann (ed.): Der französische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, vol. 2, Düsseldorf: Bagel, 1975, p. 261-280. <?page no="88"?> Franziska Sick 88 nur ein schleichender Prozess ist. In einem letzten Aufbäumen will der Dekadente aufrecht sterben und begeht so eine Art politischen Selbstmord. 21 Es ist dieser Einschätzung geschuldet, dass Gracq gemessen an Golls Eurokokke das Genre wechselt. Er bildet die Décadence nicht länger im Großstadtroman ab, sondern in einem historischen Stadtstaatroman. Im Vordergrund steht die politische Mechanik der Kriegsursachen, das letzte Aufbegehren einer dekadenten Gesellschaft. Sie tritt im kleinräumigen, historisch verfremdeten Stadtstaat wie in einem Miniaturmodell zutage. Unabhängig von dieser historischen Grundorientierung beschreibt Gracq durchaus auch Stadtlandschaften. Er greift hierbei auf die für die Décadence-Literatur typische Umdeutung des organologischen Modells zurück. Während das 18. Jahrhundert dieses idealistisch unterfütterte und den Begriff des Lebens aufwüchsig interpretierte, betont die Décadence dessen Falllinie: 22 Die Dekadenz, das Scheitern, den Tod. Im vorliegenden Kontext ist genauer zu betrachten, wie je unterschiedlich das Décadence-Motiv räumlich ausgeprägt ist. Während Goll auf das zeitraumdiagnostisch-medizinische Inventar der Großstadtliteratur aufsetzt - die Großstadt überreizt die Nerven, die Eurokokke sitzt unter der Fassade, sie erfordert den Arzt -, kodiert Gracq die Décadence vergleichsweise traditionell nach Maßgabe des Landschaftskonzepts. Die Städte der Syrten sind sumpfig, modrig, ruinenhaft von Bäumen überwuchert. 23 So vergleichsweise traditionell der Gracq’sche Bildvorrat ist - er erlaubt es ihm, die Ambivalenz der Décadence-Moderne zu kodieren, indem er der morbiden Stadtlandschaft transgressive Kartenlandschaften entgegensetzt. In der Grobanlage durchzieht den Roman folgende Dichotomie: Die Städte der Syrten sind weitgehend kartenlose, morbide Stadtlandschaften. Thematisch werden Karten im Umfeld der Landesgrenze. Sie bezeichnen dort Neuland, einen Raum des Aufbruchs und das heißt einen wie auch immer modernen Raum. Diese gegenläufige Topographie reflektiert sich im Lebensstil der Bewohner. Den Städtern gilt die Landesgrenze an der Syrtenfront als Unort, als verschlafenes Nest. Zum Ausdruck kommt hierbei ihre dekadente Grundhaltung. In ihrer selbstbezüglichen Fixierung auf die Hauptstadt vernachlässigen sie die Landesgrenze und verletzen damit ihre vitalsten geopolitischen Interessen. Nachdem Aldo, um der Dekadenz der Hauptstadt zu entkommen, sich freiwillig an die Syrtenfront gemeldet hat, folgen ihm Teile der besseren Gesellschaft nach: Sie wählen als Zweitwohnsitz Marem- 21 Cf. Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 317. 22 Diese Umdeutung des Lebensbegriffs zeichnet sich bereits in der Lebenskurve des Malers Frenhofer in Balzacs Chef-d’œuvre inconnu (1831) ab. 23 Auch diese Topographien sind fieberträchtig. Anders jedoch als in der Eurokokke und wie immer in Landschaftskonzepten ist die (Un)Ordnung, die (Des)Organisation nicht subkutan, sondern anschaulich, augenfällig. <?page no="89"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 89 ma, eine Hafenstadt in den Syrten. Maremma kommt in Mode, sie wird zur heimlichen Hauptstadt. Gemessen am Großstadtroman ist das eine vergleichsweise ungewöhnliche Topologie. Denn der Großstadtroman geht typischer Weise davon aus, dass die Hauptstadt der Hotspot der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung eines Landes ist. Sie ist das Zentrum des Warenverkehrs, der Technik und der gesellschaftlichen Eliten. An und in ihr sind die neuesten Trends ablesbar, die der Technikmoderne, aber auch die der Décadence. Gracq setzt diesem zentralistischen Modell ein dezentrales, polares entgegen. Der Antagonismus zwischen Décadence und Moderne findet ihm zufolge nicht innerhalb des Zentrums, sondern im Verhältnis von Zentrum und Peripherie statt. Vergleichbare Topologien beschreibt Lotman anhand der Hauptstädte Moskau und Petersburg. Während Moskau die typisch russische Stadt ist, ist Petersburg die westliche Stadt, die moderne Stadt, die Stadt am Meer, eine Grenzstadt, die gegen die Naturgewalten angebaut ist. 24 Die Admiralität Aldos und die Küstenstadt Maremma, aber auch Gracqs Nantes in La Forme d’une ville entsprechen dieser Topologie weitestgehend. Zugrunde liegt dieser etwas unorthodoxen Topologie der (Groß)Stadt eine kaum weniger unorthodoxe Topologie der Moderne. Typischer Weise verhandelt die Großstadtliteratur die Kehrseite einer gesellschaftlichtechnischen Moderne. Deren Eckpunkte sind hinlänglich bekannt: Die Verstädterung führt zu Vermassung und Anonymität. Neue Verkehrs- und Kommunikationsmedien überfordern ihre Nutzer. Ein gänzlich anderes Verständnis von Moderne vertreten demgegenüber Lotman und Gracq. Wenn sie die Moderne an der Peripherie ansiedeln, legen sie keine natur- 24 Cf. Lotman: Die Innenwelt des Denkens (wie Anm. 4), p. 269-288. Eine andere dezentrale Interpretation der Großstadt trägt Friedrich Kittler vor. Er liest die Stadt wie einen Schaltplan. Das ist eine durchaus zu beherzigende Alternative. Während der Semiotiker Lotman das Zustandekommen neuer Information nach Maßgabe unübersetzbarer und deshalb verrauschter Kodes denkt, untersucht der Medientheoretiker Kittler die technische Verschaltung der Informationskanäle, cf. Friedrich A. Kittler: „Die Stadt ist ein Medium“, in: Gotthard Fuchs / Bernhard Moltmann / Walter Prigge (eds.): Mythos Metropole, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, p. 228-245. Gemessen an früheren medialen Interpretationen und an der Stadtsemiotik Lotmans formuliert Kittler damit eine dritte Position. Er geht davon aus, dass die Stadt nicht bloß ein Verdichtungszentrum und Sammelpunkt moderner Medien ist, sondern weil sie diese wie ein Schaltplan verbindet, selbst ein Medium ist. Damit überholt Kittler zugleich das informationstheoretische Modell Lotmans. Im Kern basiert Lotmans Konzept von Peripherie und Zentrum auf einer ins Kulturgeschichtliche gewendeten Beziehung von Sender und Empfänger. Wie Kittler in unausdrücklicher Abgrenzung von Lotman zeigt, sind die modernen Informations- und Medienkanäle verschränkter als das am Rundfunk abgelesene Modell von Sender und Empfänger. Sie und insbesondere auch die Stadt sind so verschränkt wie sonst nur Chips. So zutreffend Kittlers Analyse ist - Gracq ist dennoch mit Lotman zu lesen, weil er, in wie abgewandelter Form auch immer, denselben topologischen Grundansatz vertritt wie dieser. <?page no="90"?> Franziska Sick 90 wüchsig sich entfaltende gesellschaftlich-technische Moderne zugrunde, sondern ein interkulturelles oder aber auch semiotisches Modell. 25 Während im einen Fall neue Kommunikation ein Effekt neuer Medien ist, gebiert im anderen Fall die Kommunikation mit anderen Kulturen das Neue. 26 Dementsprechend ist die Rolle des Intellektuellen bei Gracq anders als sonst im Umfeld der Großstadtliteratur kodiert. Typischer Weise ist der Flaneur Seismograph der gesellschaftlichen Entwicklung. Aldo ist demgegenüber, wie man ihm nachsagt, zuvörderst Dichter. Gemeint ist damit nicht, dass er sich mimetisch-seismographisch verhält, sondern dass er in kreativer Weise neue Räume erschließt. Auch wenn er durchaus Züge des Flaneurs, des Landschaftsbetrachters sowie die eines subkutanen Beobachters trägt, ist seine Rolle aktiver als sonst die des Flaneurs. Man sieht dies schon daran, dass er mit seiner Überfahrt nach Farghestan im Versuch den Feind zu beobachten einen Krieg auslöst. Nun ist im Gegenzug die Rolle zumal des surrealistischen Flaneurs genauer abzuschatten. Dieser ist nicht nur im Gefolge des Futurismus von der Technikmoderne inspiriert, sondern auch an der Peripherie interessiert. Es gibt deshalb mindestens einen prominenten Großstadtroman, der eine vergleichbare Topologie wie Le Rivage des Syrtes besitzt: Aragons Paysan de Paris. Nachdem Aragon im ersten Teil wenn nicht die Décadence, so doch die Hinfälligkeit des alten Paris beschrieben hat - die Passagen fallen der Hausmannisierung, einem Stadtplanprojekt amerikanischen Zuschnitts zum Opfer -, berichtet er im zweiten Teil, wie er gequält vom ennui mit seinen Freunden in den Park der Buttes Chaumont aufbricht. Dieser Park erscheint ihm als ein Ort des Verbrechens und der verkappten Sexualität. Mit aller programmatischen Schärfe fordert er, dass an der Stadtgrenze Freiräume, experimentelle, abenteuerhafte Räume zu errichten seien. 27 Sachhaltig ist dieser Raum deckungsgleich mit dem der Syrtenfront. Hier wie dort steht eine Raumerfahrung des ennui einem abenteuerhaften Erwartungsraum gegenüber. Auch wenn die Buttes Chaumont in Paris liegen, sind sie kaum weniger peripher als die Land- und Seekarten in Le Rivage des Syrtes. 25 Die zeitgenössische Diskussion um (inter)disziplinäre Zugänge hat dazu geführt, dass man den Begriff der Kulturgeschichte in Anlehnung an den Gegensatz von Natur und Kultur ausgeweitet hat. Man tut mitunter jedoch gut daran, nach wie vor zwischen Kultur- und Technik-/ Zivilisationsgeschichte zu unterscheiden. 26 In eine ähnliche Richtung deutet bereits Jüttner: „Gracq. Le Rivage des Syrtes“ (wie Anm. 20). Er fasst Kommunikation jedoch vorrangig im Geist der 1960er/ 70er Jahre: nach Maßgabe des Gesprächs. Sie ist mindestens ebenso sehr topologisch nach Maßgabe des Bezugspaars Peripherie und Zentrum zu denken. 27 Cf. Louis Aragon: Le Paysan de Paris (1926), Paris: Gallimard, 1972, p. 164-166. <?page no="91"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 91 Die Karten der Syrten Peripher sind die Karten der Syrten nicht nur deshalb, weil sie statt der Hauptstadt die Landesgrenze abbilden. Peripher ist auch ihr Fundort: Aldo findet sie in der Grenzregion der Syrten und dort in einem abseitig gelegenen Kartenzimmer. Nicht zuletzt definieren sie die Grenze in einer peripheren, da zonenhaften Weise. Es handelt sich bei ihnen um keine politischen Gebietskarten, sondern um militärisch-strategische Karten. Sie verzeichnen in diesem Sinne keine eindeutige Grenze, sondern eine gedoppelte: Eine Patrouillengrenze, die man kontrollieren muss, um sich vor Übergriffen zu schützen, und eine Demarkationslinie, die man nicht überschreiten darf, um den Gegner nicht zu provozieren. So klar die Grenzverläufe auf der Karte auch verzeichnet sind - sie sind nicht in einer plan kartenhaft-abbildlichen Weise zu verstehen. Sie definieren ein Operationsgebiet, einen transgressiven Raum. In diesem spreizt sich das, was man sonst von Karten erwartet - die eindeutige Linie - auf. Peripher sind die Karten der Syrten auch aufgrund dieser Aufspreizung. Denn die Peripherie ist nie bloß als distinkte Grenze zu bestimmen. Sie bezeichnet stets ein Gebiet, in dem sich die Transgression entfalten und entwickeln kann. 28 Wesentliche Teile des Romans bilden dieses topologische Spannungsfeld ab. Abgesehen von Gesprächen, in denen sich der Aspekt des Erwartungsraums artikuliert, entfaltet der Roman eine Raumdramaturgie der steten Näherung. Ein vorgeblich feindliches Schiff überschreitet die Demarkationslinie, Aldo unternimmt mehrere ‚Ausfahrten‘. Jede liegt näher zu Farghestan als die vorherige, bis er schließlich in den Hafen einfährt und anschließend von einem Abgesandten Farghestans Gegenbesuch erhält… Mit Bezug auf die Certeau’sche Unterscheidung von Strategie und Taktik 29 könnte man sagen, dass Aldo sich in dieser Näherung an Farghestan ohne jegliche Strategie anschleicht. Er will keinen Krieg, er benutzt und konsumiert nur die Karten und gibt ihnen hierbei einen neuen Sinn. Diese selbst- und kartenvergessene ‚Taktik‘ beginnt bereits mit seiner Kartenlektüre. […] à laisser glisser tant de fois mes yeux […] au long de ce fil rouge, comme un oiseau que stupéfie une ligne tracée devant lui sur le sol, il avait fini par s’imprégner pour moi d’un caractère de réalité bizarre: […] j’étais prêt à douer de prodiges concrets ce passage périlleux, à m’imaginer une crevasse dans la mer, un signe avertisseur, un passage de la mer Rouge. 30 28 Cf. Lotman: Die Innenwelt des Denkens (wie Anm. 4), p. 189sq. 29 Cf. Michel de Certeau: L’invention du quotidien, vol. 1: arts de faire, Paris: Gallimard (folio essais), 1990, p. 57-63. 30 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 32. <?page no="92"?> Franziska Sick 92 Kaum weniger erwartungsgeladen ist im Vorgriff sein Eintritt in das Kartenzimmer. […] je m’étais senti progressivement envahir par un sentiment que je ne saurais guère définir qu’en disant qu’il était de ceux qui désorientent (comme on dit que dévie l’aiguille de la boussole au passage de certaines steppes désespérément banales du centre de la Russie) cette aiguille d’aimant invisible qui nous garde de dévier du fil confortable de la vie, - qui nous désignent, en dehors de toute espèce de justification, un lieu attirant, un lieu où il convient sans plus de discussion de se tenir. 31 So sehnsuchtsvoll-romantisch sich Aldos Kartenwahrnehmung auf den ersten Blick auch darstellt, sie stellt das romantische Landschaftskonzept nachgerade auf den Kopf. Denn die Romantiker waren zuvörderst eines: Freunde der Landschaft und Feinde der Karte. Gracq pariert das romantische Ressentiment gegen die Karte in durchaus origineller Weise. Während die Romantik die Karte verwirft, weil sie hinter ihr nur allzu leicht die Lineatur gesellschaftlicher Macht erkennt, zeigt Gracq, dass auch diese Lineatur in einer romantisch subversiven Weise besetzbar ist, indem er die Lücken in der vorgeblich so exakten und kalten Kartenwissenschaft aufspürt. Ist nicht die Magnetnadel (aiguille d’aimant) - sie ist ein Zentralmotiv bei Gracq - ein Bild der Affinität, des Hingezogenwerdens und weicht sie überdies nicht von der Richtung ab, zumal in Grenzbereichen? Eröffnet sie hiermit nicht einen so affektiven wie zugleich undefinierten und im Wortsinn vielversprechenden Raum? Gemessen hieran erweist sich die romantische Ablehnung der Karte als nachgerade eskapistisch. Sie setzt den Karten als Ausdruck gesellschaftlicher Macht lediglich eine natürliche Ordnung entgegen und blendet aus, dass jede Grenze, die gezogen wurde, jederzeit überschritten werden kann. Eben hierauf setzt Gracq: Seine Kartenromantik steht, anders als Landschaftsromantik, für kein rückwärtsgewandtes, sondern für ein transgressives, grenzüberschreitendes und deshalb ungleich moderneres Geschichtsbild ein. Ähnliche Konzepte finden sich, wie bereits gesagt, im Konzept der Grenze bei Lotman, aber auch mit explizitem Bezug zur Karte bei Deleuze/ Guattari. Wenn Deleuze/ Guattari die Frage stellen: „Welche Karte machst du gerade? “, 32 fassen sie wie Gracq die Karte nicht als etwas gesellschaftlich Gegebenes auf, das zu akzeptieren wäre, sondern als etwas, das man selbst gestalten, in seiner Lineatur verändern oder aber auch überschreiten kann. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass sich bereits bei Gracq der Begriff des gekerbten Raumes oder der der Spalte einstellt. 33 Die „crevasse dans la mer“ 31 Ibid., p. 30. 32 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve, 1992, p. 278. 33 Nicht zu übersehen ist, dass verwandte Modelle sich bei Carl Schmitt finden. Sie dürften Gracq aufgrund seiner Freundschaft mit Ernst Jünger nicht gänzlich fremd gewesen sein. <?page no="93"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 93 im vorstehenden Zitat ist ein Versuch, den ungekerbten Raum zu kerben, ein kontrafaktischer Einschnitt in eine Landschaft, die so ungegliedert ist wie sonst keine. Sie verläuft deshalb als eine „réalité bizarre“ im Meer, als eine Grenze im Unbegrenzten. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sie transgressive Begehrlichkeiten weckt. Stadtlandschaft als Kriegslandschaft - Landschaft und Porträt Wie sehr Gracq den romantischen Landschaftsbegriff invertiert, zeigt sich nicht nur daran, dass er ihn an zentraler Stelle durch die Karte ersetzt, sondern auch dort, wo er noch mit ihm, wie gebrochen auch immer, operiert. Ich führe hierzu eine weitere zentrale Textstelle an und skizziere im Vorfeld kurz den Handlungskontext: Aldo ist bei Vanessa Aldobrandi zu Besuch. Die Aldobrandis sind ein aufrührerisches orsennisches Adelsgeschlecht. Bei seiner Visite sieht Aldo das Porträt eines ihrer Vorfahren, der zum Feind überlief und diesen - in welcher Weise auch immer - in den Untergang führte. 34 Der Hintergrund dieses Porträts zeigt ein Schlachtenbild, das Bild der brennenden farghestanischen Stadt Rhages, das Aldo jedoch über weite Strecken seiner Bildlektüre wie das Bild einer quasi natürlichen Kriegslandschaft deutet. Im Blick steht hierbei ein äußerst komplexes Arrangement, in dem sich Stadtlandschaft und Kriegslandschaft, Landschaft und Karte, aber auch Porträt und Landschaft miteinander verschränken: L’impression trouble que communiquait ce tableau de massacre tenait au caractère extraordinairement naturel et même reposant que la cruauté sereine de Longhone [i.e. der Maler des Bildes] avait su donner à sa peinture. Rhages brûlait comme une fleur s’ouvre, sans déchirement et sans drame: plutôt qu’un incendie, on eût dit le déferlement paisible, la voracité tranquille d’une végétation plus goulue, un buisson ardent cernant et couronnant la ville […]. - Tout ce que la seule distance prise peut communiquer de cyniquement naturel aux spectacles de la guerre refluait alors pour venir exalter le sourire inoubliable du visage qui jaillissait comme un poing tendu de la toile et semblait venir crever le premier plan du tableau. […] Mais la silhouette, tournant le dos à cette scène, la diluait d’un geste dans le paysage, et le visage tendu par une vision secrète était l’emblème d’un surnaturel détachement. 35 Auch wenn Aldo den außerordentlich grausamen Charakter dieses - wie man unterstellen darf - frühneuzeitlichen Porträts hervorhebt, ist nicht zu übersehen, dass es dem Grundaufbau solcher Porträts keineswegs zuwiderläuft. Man sieht im Vordergrund den Porträtierten, im Hintergrund eine 34 Der Roman gibt die Umstände des Untergangs nicht an. Jedoch legt das Porträt eine solche Lesart nahe. 35 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 107. <?page no="94"?> Franziska Sick 94 brennende Stadt. Traditioneller Ikonographie zufolge dienen die attributiven Bildbeigaben zur Identifikation der Figur. Longhone behält diese Anordnung bei - und dennoch besitzt der Hintergrund in seinem Bild einen ganz anderen Stellenwert. Er wird zum Handlungsraum des Porträtierten. Er zeigt deshalb nicht bloß, wer das ist - Aldobrandi, der Überläufer -, sondern auch, mit wem wir es zu tun haben. Auch wenn Gracq in diesem Bild auf das Renaissanceporträt anspielt, ist nicht zu übersehen, in wie hohem Maße er es rückprojektiv umdeutet und dabei die ursprünglichen Bildräume und Genres überlagert. Caravaggio malte zwar sprichwörtlich grausame Bilder, aber nichts lag dem frühneuzeitlichen Porträt ferner als ein zynischgrausames (Herrscher)Porträt. Eben so aber („cyniquement naturel“) stellt Longhone Aldobrandi dar. Anspielungsreich grundiert Gracq dieses historisch verfremdete Renaissanceporträt mit einer kleinen Kulturgeschichte der Décadence: Ist nicht der kräftige Renaissancemensch bereits so dekadent wie vordem Nero? Schreibt solche Décadence sich nicht in abgeschwächter Form im interesselosen Wohlgefallen fort, als dessen Überhöhung das „surnaturel détachement“ gelten kann? Unterstrichen wird diese Lesart durch den Handlungszusammenhang. Aldo erscheint die Vorgeschichte Orsennas zwar als renaissancehaft kraftvolle Zeit. Im Versuch eine zweite, in diesem Fall nicht ästhetizistische, sondern abenteuerhafte Renaissance einzuleiten, schließt er jedoch nicht an ihr kraftvolles, sondern an ihr dekadent-selbstzerstörerisches Erbe an. So wie Aldobrandi Raghes zugrunde richtet, so Aldo Orsenna. In dem Maße, wie Landschaft nicht bloß eine attributive Beitat des Porträts ist, in dem Maße, wie es ihr obliegt darzustellen, mit wem wir es zu tun haben, tritt sie ungleich stärker hervor als sonst im Porträt. Zugespitzt gesagt: Das Porträt wird bei Gracq landschaftlich. Im selben Zuge kann Landschaft weitere Funktionen übernehmen. Sie charakterisiert nicht bloß den Porträtierten, sondern ebenso den gleichsam naturgesetzlichen Hintergrund seiner Tat. Die Naturmetaphern, mit denen Aldo das modrige Orsenna beschreibt, kehren in abgewandelter Form im Bild der brennenden Stadt wieder. In doppelbezüglicher Weise klingt damit ein Grundmotiv des Romans an: Der Dekadente will aufrecht sterben. Décadence bedeutet in dieser Hinsicht nicht nur den schleichenden Verfall, sondern terminiert in einer Tat, die, weil sie selbstbestimmt ist, zumindest dem dekadenten Täter als schön erscheinen mag. Der Metaphernwechsel vom Moder hin zur Blume („Rhages brûlait comme une fleur s’ouvre“) ist hierin gegründet. Wie umfänglich das Porträt von der Landschaft her gedacht ist, lässt sich nicht zuletzt an Aldos Bildlektüre ablesen. Nach einer einleitenden Bemerkung setzt der Hauptteil seiner Interpretation mit dem Bild der brennenden Stadt ein. Damit stellt er die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung des Bildes nachgerade auf den Kopf. Im Zentrum seiner Lektüre steht nicht der Porträtierte, sondern die Kriegslandschaft, der natürlich-dekadente Zerfall Rhages’. Diese Inversion prägt selbst noch seine Wahrnehmung des Bildauf- <?page no="95"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 95 baus. Während Porträts häufig eine Beziehung zwischen dem Porträtierten und dem Betrachter des Bildes herstellen, bezieht Aldo alle Elemente des Porträts auf den Bildhintergrund. So etwa die zynische Selbstverständlichkeit von Aldobrandis Lächeln, so insbesondere die Blickrichtung des Porträtierten: Er wendet sich Aldo zufolge von dem Geschehen ab. Zumal an dieser Wendung ist ablesbar, in wie hohem Maße der Porträtierte mit dem Hintergrund interagiert. Es ist dieser komplexen Vordergrund-Hintergrund-Beziehung zuzuschreiben, dass das Lächeln Aldobrandis einerseits mit Bezug auf die Kriegslandschaft zynisch erscheint, und dass es andererseits mit Blick auf den Betrachter das Bild wie eine Faust durchstößt. Es ist nachzutragen, dass Aldos erster Bildeindruck - er umfasst nur eine vergleichsweise kurze Notiz - aus nichts als Augen besteht. Aber das ist eine zweite Bildebene. Sie untersteht nicht einer Ästhetik der (Stadtlandschaft als Kriegs-) Landschaft, sondern einer Ästhetik der Karte. Comme le regard qu’aimante malgré lui par l’échappée d’une fenêtre un lointain de mer ou de pics neigeux, deux yeux grands ouverts apparus sur le mur nu désancraient la pièce, renversaient sa perspective, en prenaient charge comme un capitaine à son bord. 36 Kartenhaft ist dieser Passus nicht bloß deshalb, weil er mit der Magnet-, und das heißt bei Gracq stets: mit der Kompassmetapher ein zentrales Kartenmotiv aufnimmt, sondern weil Aldobrandis Augen eine Funktion besitzen, die sonst nur Karten eignet: Sie orientieren, sie geben die Richtung vor. Sie geben dem Raum eine (neue) Perspektive. Anders als in Karten sonst ist die Raumordnung der Karte an dieser Stelle jedoch nicht als gegebene, fertige Grenze gesetzt. Wir wohnen vielmehr ihrer Entstehung bei. Wie in dem Diktum von Deleuze/ Guattari („Welche Karte machst du gerade? “) ist die Karte aktivisch: Der Blick des Kapitäns wirft die Perspektiven um. Wie prägend der Motivkreis von Décadence / Stadtlandschaft und Überschreitung / Karte und Meer für den Roman ist, zeigt sich daran, dass Gracq dieses Spannungsfeld selbst noch dem artfremden Genre des Porträts einschreibt. In subtiler Weise reflektiert die Narrativik des Porträts die Handlung des Romans, indem sie ihr ein kulturhistorisches und das heißt topologisches Drama der Décadence-Moderne unterlegt und zugleich das Porträt in diesem Sinne funktionalisiert. In Aldos Lesart besitzt der Porträtierte zwei Seiten: Den Rücken, den er, sich von ihr abwendend, der Décadence zuwendet, und das Gesicht, namentlich das Lächeln, das nicht dem Betrachter zugewandt ist, sondern in transgressiver Weise die Leinwand wie eine Faust durchstößt. 36 Ibid., p. 106. <?page no="96"?> Franziska Sick 96 Die Insel Vezzano - Landschaft und Landmarke Es liegt im Zuge der Kartenromantik Aldos, dass er selbst noch Landschaft als kartenhaft wahrnimmt. So auf seiner Ausfahrt zur Insel Vezzano. Aldo tritt diese Ausfahrt auf Einladung seiner Freundin Vanessa Aldobrandi an. Man kann von dieser Insel aus ins feindliche Farghestan hinübersehen. Während der Überfahrt beschreibt Aldo die Insel - es handelt sich um einen Tafelberg - mit zwar kühner, aber vergleichsweise traditioneller, da die Totale der Anschauung betonender Metaphorik. Auch wenn der Bildaufbau sich im Rahmen des Üblichen bewegt - hervorzuheben ist, dass und wie Gracq die Insel im Sinne eines peripheren Grenzortes kodiert. Sie steht wie gepanzert da, wie ein schartiger Bergfried und erscheint zugleich „léger sur l’horizon comme un voilier sous ses tours de toile […].“ 37 Benannt ist damit die Doppelkodierung der Peripherie: Bilder der Dynamik, des Aufbruchs wechseln sich mit statischen, wehrhaften ab. Diese Perspektive ändert sich grundlegend, als Aldo den Tafelberg bestiegen hat und einen Aussichtspunkt betritt. Zu sehen ist von dort aus erst einmal nichts als das Meer und eine Wolke. Traversé d’un pressentiment brusque, je reportai alors mes yeux vers le singulier nuage. Et, tout à coup, je vis. - Une montagne sortait de la mer, maintenant distinctement visible sur le fond assombri du ciel. […] pareil, dans son isolement et sa pureté de neige, et dans le jaillissement de sa symétrie parfaite, à ces phares diamantés qui se lèvent au seuil des mers glaciales. 38 Abzugrenzen ist diese Landschaft sowohl von der traditionell romantischen als auch von der dekadenten. Sie zeigt weder eine geordnete Mannigfaltigkeit in einem tiefgestuften Raum noch einen ungeordneten Zerfallsprozess, sondern nichts weiter als eine Land- oder Peilmarke. Aldo bringt diesen Umstand auf den Punkt, wenn er sagt, der Berg erscheine ihm wie ein Leuchtturm im Eismeer. Dieser Metapher korrespondiert die von der abweichenden Magnetnadel, die Aldo beim Betreten des Kartenzimmers aufruft - der Tängri weist ihm die Richtung -, und in ihr klingt zugleich das Motiv der Demarkationslinie an, die ihn im Kartenzimmer so sehr fasziniert. Während er dort noch auf die Grenze starrt, hat er sie hier auf der Insel Vezzano bereits überschritten, zumindest mit den Augen. Kartenhaft ist Aldos Landschaftswahrnehmung aufgrund dieser Bezüge, aber auch, weil hier wie dort die Wahrnehmung von Karte/ Landschaft, wie metaphorisch auch immer, einer Richtung, einem Vektor unterstellt ist. Während traditionelle Landschaftsästhetik Aussichten eröffnet, die man wie ein Gemälde betrachtet, ist die Gracq’sche ‚Landschaftsästhetik‘ von einem Im-Raum-Sein geprägt. Michel Collot hat diesen Umstand auf die 37 Ibid., p. 145. 38 Ibid., p. 150sq. <?page no="97"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 97 knappe Formel gebracht, dass Gracq das Bild einer Landschaft in visu durch das einer Landschaft in situ ersetze (und hiermit moderne Landart antizipiere). 39 So triftig diese Unterscheidung ist - denn augenscheinlich betrachtet Aldo an dieser Stelle nicht länger Landschaft in der Totale, der Tängri fasziniert ihn nicht als Bild, sondern als Ziel -, so wenig ist zu übersehen, dass das Konzept des in situ nicht in jeder - und zumal nicht in inhaltlicher - Hinsicht trennscharf ist. Das zeigt ein Vergleich mit Beckett. In einem Raum in situ befinden sich auch dessen Helden Wladimir und Estragon, Hamm und Clov. Während das Beckett’sche in situ jedoch geschlossen ist, ist das Gracq’sche offen. Bildlich erzeugt Gracq diese Offenheit, indem er einerseits Landschaft vernebelt und andererseits vektorisiert. Das ist die Kernkonstellation der vorstehenden Szene: Aus einer nebulösen Landschaft erwächst ein Berg, der wie ein Leuchtturm erscheint. Komplementär ist demgegenüber das Beckett’sche in situ kodiert. In Warten auf Godot ist die Landschaft nicht nebulös, sondern kahl, im Endspiel ist der Raum nicht vektoriell und offen, sondern bunkerhaft geschlossen. Wie sich ansatzweise zeigt, ist Gracqs Konzept von Landschaft und Karte so mehrschichtig, dass es weder landschaftsästhetisch noch epistemologisch einfach zu verbuchen ist. Autobiographisch abgestützte Rückversicherungen zur Epistemologie - Gracq räumte in einem Interview ein, dass er sich nicht nur als Schriftsteller, sondern durchaus auch als Geograph dem organologischen Modell verpflichtet fühle 40 -, greifen ebenso zu kurz wie methodische Vorgaben zu Topographie und Karte. Die Karte ist in den Syrten zwar die Darstellung einer Gegend, sie ist jedoch stets schon über diese hinaus. Binnenfiktional können wir zwar einigermaßen genau angeben, wo der Tängri liegt, aber ironischer Weise bezieht er seine Kartizität gerade daraus, dass Aldo ihn disloziert und, wenn auch nur metaphorischer Weise, ins Eismeer verschiebt. Es liegt auf derselben Linie, dass in den Syrten selbst die exakten Karten als maßstabsverzerrt und nebulös erscheinen. Als Aldo nach Farghestan übersetzt, ist er überrascht, wie nahe es liegt. Er führt seine ursprüngliche Fehleinschätzung darauf zurück, dass „le sommeil d’Orsenna et la prise détendue de sa main avaient fini par noyer ses frontières les plus proches dans des brumes lointaines […].“ 41 Verzerrt ist der Maßstab der Karte, weil er vom Maßstab des Zugriffs, und das heißt der (in diesem Fall unterlassenen) Aktion überlagert wird. Deshalb obliegt es dieser, die Verhältnisse im Gegenzug zu entzerren: „[…] il y a une échelle des actes qui contracte bruta- 39 Cf. Michel Collot: La Pensée-paysage. Philosophie, Arts, Littérature, Arles: Actes Sud/ ENSP, 2011, p. 245sq. Zur Differenz von in visu und in situ, cf. ibid., p. 162-168. 40 Cf. Julien Gracq: „Entretiens avec Jean-Louis Tissier“ (1978), in: Id.: Œuvres complètes, ed. Bernhild Boie, vol. 2, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1995, p. 1193-1210, hier 1195-1198. 41 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 199. <?page no="98"?> Franziska Sick 98 lement devant l’œil résolu les espaces distendus par le songe.“ 42 Womit sich zeigt, dass bei Gracq nicht nur die Wahrnehmung von Landschaft in situ ist, sondern auch die der Karte. Der vorstehende Passus fasst hierbei das in situ so präzise, dass man es zum Ausgangspunkt für eine genauere begriffliche Bestimmung nehmen kann: In situ sind Topologien, deren Struktur vorrangig von Handlungskontexten und -maßstäben bestimmt ist. Aldo deutet das in situ (oder aber auch die Situation) in einem äußerst aktivischen Sinne. Er bezieht es ausschließlich auf Handlungsmaßstäbe und blendet den vorgegebenen Handlungskontext nachgerade programmatisch aus. Man mag sich daran stoßen. Und dennoch: Obwohl man unter Situation nur allzu oft etwas versteht, in das man geraten ist - es gibt keine Situation ohne subjektive Handlungsmaßstäbe. Wollte man diese streichen, verbliebe nichts weiter als ein abbildlicher Darstellungsraum und das heißt, mit anderen Worten, ein Raum in visu. Anders als Collot mit Bezug auf die Landart herausarbeitet, bestimmt sich das in situ bei Gracq nicht bloß als ein In-Sein in der Landschaft, in dem sich diese synästhetisch erschließt. 43 Es ist vorneweg operationell gefasst. Im in situ treffen der Raum und die Handlung, der Raum und die Wertmaßstäbe und Aktionspotenziale aufeinander. Das in situ (die Situation) stellt mit anderen Worten eine herausragende chronotopische Schaltstelle dar. Sie ist dennoch nicht platterdings zu einer erzähltheoretischen Fundamentalkategorie zu überhöhen. Denn jeglicher Chronotopos trägt einen historischen Index. Zum Problem wird das in situ historisch erst im Umfeld der Décadence-Moderne und methodisch im Umfeld der Phänomenologie. Dass handelnde Menschen sich stets in Situationen befinden und dass Literatur solche Bezüge stets mit abbildet, ist unbenommen. Aber was ist damit im Grunde gesagt? Über die Figur des in situ lässt sich nicht zuletzt und einmal mehr die Wechselbezüglichkeit von Karte und Landschaft bestimmen. Das in situ der 42 Ibid. 43 Collot (La Pensée-paysage (wie Anm. 39), p. 179-186) argumentiert im Kern folgendermaßen: Während uns Landschaft in Museumsbildern als Objekt und aus der Distanz rein visuell entgegentrete, werde in Landart Landschaft sensorisch, mit allen Sinnen erfahrbar. Gracq habe diese sensorische Dimension der Landschaftserfahrung in seinen Werken vorweggenommen. Collot setzt dabei auf eine vergleichsweise schwache, da körpergebundene Ausprägung des in situ. Sie beruht darauf, dass der Geruchs- und der Tastsinn, anders als der Gesichtssinn, keine Distanz- und ‚Theorie‘-Sinne sind. Außer Acht bleibt jedoch die ungleich fundamentalere Beziehung von Distanz und Nähe, die sich in der Gegenstellung von ästhetischem und praktischem Bezug eröffnet. Auch wenn wir Landart oder, im übertragenen Sinne, die Gracq’schen Landschaften mit allen Sinnen erspüren, ‚betrachten‘ wir sie doch mit gebotener ästhetischer Distanz. Ein solcher Blick auf die Landschaft liegt den Protagonisten von Le Rivage des Syrtes fern. Das in situ in diesem Roman ist das von handelnden Figuren im Raum und nicht das von ästhetischen Subjekten. <?page no="99"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 99 Landschaft ist bei Gracq kein in situ überhaupt. Es ist vektoriell und damit kartenhaft. Es stützt und bezieht sich hierbei auf ein Kartenmodell, das seinerseits in situ ist. Nur unter der Voraussetzung einer Karte in situ lässt sich im Übrigen die vorstehende These vertreten, die Landschaft bei Gracq sei kartenhaft. Unterstellt ist damit ein zugegebenermaßen etwas ungewöhnlicher Kartenbegriff. Denn gängiger Weise geht man davon aus, dass die Karte das Starre sei und das in situ der Weg, der Ort der Subversion, der Sprache und der Kunst. Der Kartenromantiker Gracq entzieht sich diesem Kontrast von hier starrem Ordnungsrahmen und dort Leben und Handlung. Wie sich gezeigt hat, sind bei Gracq bereits die Karten nicht starr und abbildlich, sondern vektoriell, wege- und zonenhaft. Die Figur des in situ ist der Gracq’schen Karte so fundamental eingeschrieben, dass man nicht sagen kann, die Karte sei so etwas wie die Grammatik und der Weg ihre Rede oder auch die Performance, 44 denn wie wir gesehen haben, definiert die Performance der Überfahrt bei Aldo allererst den Maßstab der Karte. Da das in situ handlungsgeprägt ist, ist es nicht bloß räumlich, sondern auch zeitlich zu bestimmen. Es stellt sich in den vorstehenden Szenen durchaus so dar: Plötzlich entsteigt aus dem Meer ein Berg. Bei der Überfahrt merkt Aldo an, dass er den Eindruck habe, die Ufer Farghestans eilten ihm entgegen. In beiden Fällen ist der Raum mit unterschiedlichen Gewichtsanteilen nicht bloß Aktionsraum, sondern selbst Ereignisträger und Akteur. Dort wo Aldo selbst agiert - bei der Überfahrt -, tritt diese Funktion vergleichsweise gemäßigt und in konventioneller Metaphorik hervor (die Ufer eilen ihm entgegen), dort wo er bloßer Betrachter ist, auf der Insel Vezzano, wird der Raum im plötzlich erscheinenden Berg vollends zum Akteur und Ereignisträger. Dieser Umstand prägt nicht nur die kleine Episode der Überfahrt. Sie ist ein Grundzug des Romans. Die Räume der Syrten sind Räume der Plötzlichkeit. Diese gründet im Chronotopos der Décadence. Da die Décadence von Geschichte nichts anderes mehr erwartet als den Verfall, überantwortet sie dem Raum die Orientierung und den Fortgang der Geschichte. Nicht mehr die Geschichte gebiert die Ereignisse, diese sind vielmehr im Raum verborgen. Da der Raum, anders als die Geschichte, nicht kausal organisiert ist, treten die Ereignisse so unverhofft wie zugleich plötzlich ein. 44 Zum Bezug von Weg/ Gehen und Sprechakt/ Rhetorik, cf. Certeau: L’invention du quotidien, vol. 1: arts de faire (wie Anm. 29), p. 147-191. Die vorstehend behauptete Differenz zwischen Certeau und Gracq ist nicht zu verabsolutieren. Denn der Begriff der Karte ist bei Certeau systematisch zu nachrangig, als dass sich auf ihm ein fundamentaler Gegensatz aufbauen ließe. Certeau unterscheidet zwischen Orten, die eindeutig und festgelegt sind, und Räumen, die Effekte von Praktiken sind. Wollte man einen systematischen Gegensatz behaupten, wäre dieser dahingehend zu bestimmen, dass der Kartenromantiker Gracq im Grunde bestreitet, dass es überhaupt so etwas wie Orte gibt. Eine solche Position ist zweifellos extremer als die Certeaus. Gemeinsam aber ist beiden der Primat der Handlung. <?page no="100"?> Franziska Sick 100 Plötzlichkeit - der Raum als Ereignisträger Alles was in Le Rivage des Syrtes geschieht, bildet in diesem Sinne eine lose Abfolge plötzlich eintretender Ereignisse. 45 Dieser Umstand ist umso bemerkenswerter, als der Roman trotz seiner räumlichen Grundausrichtung streng linear erzählt ist. Er enthält kaum Vor- und Rückblicke. Trotz dieser Linearität, obwohl sich oberflächlich betrachtet alles aus dem Vorherigen ‚entwickelt‘, ist Gracq stets darum bemüht, jedes einzelne Ereignis als plötzliches Raumereignis darzustellen, so als wollte er unterstreichen, dass Zukunft etwas ist, das uns in unverhoffter Weise aus dem Raum zukommt. Unter der Hand zeigt sich an dieser Stelle, wie wenig dem Stereotyp von hier linearem Zeit- und dort verzweigtem Raumroman zu trauen ist. Was diese Kontrastsetzung vorneweg ausblendet: Zeitromane sind alles andere als linear. Da sie versuchen, eine Geschichte zu entwickeln, benötigen sie, um das Ursachengeflecht der Geschichte zu entfalten, vielfach erzählerische Vor- und Rückblicke. In dem Maße, wie Gracqs am Raum orientierter Décadence-Roman den Anspruch preisgibt, eine schlüssige kausale Geschichte zu erzählen, kann er auf die erzählüblichen Vor- und Rückblicke weitgehend verzichten. Er ist deshalb linearer als jeder Zeitroman - nicht deshalb, weil er eine monokausale Geschichte erzählen wollte, sondern weil er die Ereignisse, die seiner Auffassung zufolge aus dem Raum als Ereignisträger eintreten, auf der Zeitachse lediglich abträgt. Mit anderen Worten: Die lineare Erzählanlage der Syrten ist die Kehrseite der Plötzlichkeit. Sie entfaltet nichts weiter als eine lineare Folge plötzlicher Ereignisse, die der Raum birgt. Alle wesentlichen Ereignisse in den Syrten sind über diese Erzählfigur kodiert. Als Aldo im Kartenzimmer über den Karten brütet, tritt der Kapitän ein. Aldo hört einen schweren Schritt, versucht Haltung einzunehmen und wird doch in flagranti 46 ertappt. Markanter noch ist ein Besuch Vanessas gestaltet, die ihn ebenfalls bei den Karten überrascht. Er war eingeschlafen. Au sortir de ce sommeil bref, il me semblait retrouver la pièce inexplicablement changée. Dans un soudain retour de peur panique, sous mon regard bien réveillé, les murs de la salle continuaient à bouger légèrement […], et je devinai soudain que les ombres dansantes oscillaient sur les murs avec la flamme même de ma 45 Zur Kategorie der Plötzlichkeit, cf. Karl-Heinz Bohrer: Plötzlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. Bachtin (Chronotopos (wie Anm. 16), p. 15) zeigt, dass die Plötzlichkeit bereits seit der Antike ein Grundzug des Abenteuerromans ist. Sie verkettet in loser, nicht kausaler Folge die einzelnen Ereignisse. Das trifft im Grundansatz auch für Le Rivage des Syrtes zu - und dennoch ist die Plötzlichkeit hier anders ausgeprägt. Während sie im antiken Abenteuerroman eine Scharnierfunktion besitzt, dient die Plötzlichkeit bei Gracq vorwiegend dazu, vergleichsweise alltägliche Begegnungen zu überhöhen. Auf den Umstand, dass bei Gracq Plötzlichkeit Kausalität ersetzt, hat bereits Jüttner hingewiesen; cf. Jüttner: „Gracq. Le Rivage des Syrtes“ (wie Anm. 20), p. 263sq. 46 Cf. Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 33. <?page no="101"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 101 lanterne, et que la porte derrière moi s’était depuis quelques secondes ouverte sans bruit. 47 In vergleichbarer Weise leitet Gracq die bereits besprochene Porträtszene ein. Aldo nimmt das Porträt von Vanessas Vorfahren anfänglich gar nicht wahr. Dennoch lädt es den Raum bereits im Vorfeld mit Spannung auf. Et je compris soudain quelle gêne j’avais senti peser sur moi dès mon entrée dans la chambre et tout au long de mon entretien avec Vanessa. Il y avait eu un tiers entre nous. 48 Kaum weniger plötzlich stellt sich der Eintritt eines Abgesandten von Farghestan dar: Il pouvait être onze heures du soir lorsque ma porte battit doucement sur la nuit silencieuse, et j’avais à peine eu le temps de lever la tête que quelqu’un soudain fut devant moi. 49 Auch als Aldo bei einem der Stadtoberen zur Audienz geladen ist, leitet Gracq die Begegnung als tergale ein. Obwohl das Treffen verabredet ist, ist die Begegnung überraschend, unverhofft: J’entendis près de moi un pas glissant et étouffé […]; une main se posa sur mon épaule, ou plutôt l’effleura […]. 50 Selbst das Großereignis des Romans, die Einfahrt in den Hafen von Farghestan, folgt dieser Raumdramaturgie: Der Mond verschleiert die Wolken, ein Hagelschauer überzieht das Schiff. Es klart auf, das Schiff gerät unter Beschuss. Wenn der Raum die Sicht frei gibt, tritt das Ereignis ein. Das gilt, wie wir gesehen haben, auch für die persönliche Begegnung. Ereignisreich ist diese weniger als solche, so bedeutsam auch das sein mag, was man jeweils bespricht, sondern weil sie aus dem Raum zukommt. Ohne dass der Andere sich in ihm verbergen würde, (ver)birgt der Raum den Anderen und mit ihm das Ereignis. Begegnungen sind Gracq zufolge deshalb eine vorrangig räumliche Angelegenheit. Erwartungsraum versus Tatort: Zur Topologie blauer und grauer Nachkriegsliteratur So sehr Le Rivage des Syrtes überschlägig als Décadence-Roman zu lesen ist, so wenig ist die historische Konstellation auszublenden. Der Roman ist nach dem 2. Weltkrieg geschrieben. Er handelt von einem Kriegsausbruch und führt diesen auf die Dekadenz der Gesellschaft zurück. Auch wenn der 47 Ibid., p. 77. 48 Ibid., p. 105sq. 49 Ibid., p. 224. 50 Ibid., p. 302. <?page no="102"?> Franziska Sick 102 Roman jedes Einzelereignis als abenteuerhaft kodiert - sein wesentliches Spannungsmoment verdankt er dem Krieg. Ohne hiermit einem zynischen Ästhetizismus das Wort reden zu wollen - in spannender Weise erzählbar wird Décadence erst nachträglich. Erst vor dem historischen sowie binnenfiktional gesetzten Hintergrund des Krieges wächst dem Roman Bedeutung und Spannung zu. 51 Insoweit bestätigt sich Wolfzettels These, dass das Denarrative in einer Verstellung der Aneignung von Welt gründe, ex negativo. Wobei sich die Frage stellt, wie historisch trennscharf dieses Bezugssystem ist - zumal Wolfzettel unterstellt, das Modell des Denarrativen ließe sich auch auf den Nouveau Roman übertragen. 52 Dass die beiden Hauptmerkmale des Denarrativen, die verstellte Aneignung von Welt und die brüchige Erzählstruktur, auch im Nouveau Roman erfüllt sind, ist unbestritten. Und dennoch: Erst der 2. Weltkrieg zeigt, wozu das ideologische Versprechen einer Aneignung von Welt führen kann. Diese Zäsur führt dazu, dass sich die Erzählmodelle denarrativer, raumorientierter Literatur beträchtlich verschieben. Gracq hat diese Verschiebung folgendermaßen zusammengefasst: Cet après-guerre a connu sa littérature gris famine, comme la première avait eu sa Chambre bleu horizon - l’une et l’autre aussi parfaitement épisodiques qu’elles se sont crues souverainement missionnées. 53 Trotz aller kritischen Distanz gibt Gracq das Sendungsbewusstsein der Literatur nicht preis. Im dem Zitat vorausgehenden Absatz hält er Cocteau vor, dass ihm die Obsession einer langen Träumerei fehle, im nachfolgenden bekennt er sich selbst zu Wagner und Ernst Jünger, nicht ohne sich darüber zu beklagen, dass man ihn in die Schublade des Deutschfranzosen gesteckt habe. Wichtiger erscheint ihm sein langer Traum von den Energien Deutschlands oder aber auch von dem Blau der ersten Nachkriegszeit. Es ist diese Position, von der her Le Rivage des Syrtes zu verstehen ist: Gracq schreibt unzeitgemäßer Weise nach dem 2. Weltkrieg blaue Nachkriegsliteratur. Es lohnt, diese kurze Notiz Gracqs etwas zu verlängern. Die Verschiebung zwischen blauer und grauer Nachkriegsliteratur zeichnet sich nicht nur inhaltlich ab, sondern auch daran, auf welche Genres der (Trivial)Literatur die hohe jeweils zurückgreift. Während die Literatur im Umfeld der Décadence-Moderne auf den Abenteuer- und Reiseroman rekurriert - Gracq ist im selben Geiste ein bekennender Verehrer von Jules Verne -, orientiert sich die zweite Nachkriegsliteratur vorwiegend am Kriminalroman, nament- 51 Die dem Roman eingeschriebenen geopolitischen Spannungen arbeitet Yves Lacoste heraus, cf. Yves Lacoste: Paysages politiques. Braudel, Gracq, Reclus…, Paris: U.G.E. (Le livre de poche), 1990, p. 151-189. 52 Cf. Wolfzettel: „Der › deambulatorische ‹ Roman“ (wie Anm. 1), p. 439. 53 Julien Gracq: Lettrines (1967), in: Id.: Œuvres complètes, vol. 2 (wie Anm. 40), p. 139-245, hier 200. <?page no="103"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 103 lich der Nouveau Roman. Ablesbar ist an dieser Gattungsverschiebung, wie unterschiedlich und wie zugleich konstant der Chronotopos beider Nachkriegsliteraturen ist. Hier wie dort birgt der Raum das Ereignis. Während jedoch die erste Nachkriegsliteratur noch darauf setzt, dass der (Ereignis)- Raum Geschichte ersetzen könne - nichts anderes impliziert der Begriff des Abenteuers -, unterstellt die zweite Nachkriegsliteratur, dass im Raum ein schmutziges Geheimnis verborgen sei. Mit anderen Worten: Die graue Nachkriegsliteratur ersetzt den Abenteuerraum durch den Tatort. 54 Wolfzettel ist insofern zuzustimmen, dass wir es in beiden Fällen nicht länger mit einem geschichtsgläubigen und eben deshalb denarrativen Erzählen zu tun haben. In Blick zu nehmen ist jedoch auch, dass der Raum eine jeweils ganz andere Erzählstruktur befördert. Im einen Fall ist er trotz des Geschichtsskeptizismus der Décadence-Moderne noch vielversprechend, im anderen Fall wird er zum Träger einer Geschichte, die aus dem Raum in investigativer Weise herauszulesen ist. Der Topos des Tatorts ist nur ein Paradigma für dieses investigative Erzählmodell. Gracqs Vorliebe für die blaue Nachkriegsliteratur führt dazu, dass er sich zumeist auch thematisch auf diese Zeit bezieht. So in Le Rivage des Syrtes - auch wenn der Roman Handlungsort und -zeit verfremdet, ist das Klima das der Zwischenkriegszeit -, so in Un balcon en forêt (1958), in Le Roi Cophetua (1970), in La Route (1970), aber auch noch später in La Forme d’une ville (1985). Dass dieser thematische Bezug nicht zwingend ist, zeigt sich an der Erzählung La Presqu’île (1970). Sie spielt nach dem 2. Weltkrieg. Ihre Hand- 54 Eine Ästhetik des Tatorts inauguriert bereits sehr früh Walter Benjamin, wobei es durchaus signifikant ist, dass er nach dem 2. Weltkrieg zu einem der führenden Theoretiker avanciert. Es ist des Weiteren unbenommen, dass die Beziehung des Kriminalromans zur hohen Literatur teilweise bereits früher zu verzeichnen ist und deshalb genauer abzuschatten wäre. So sind die Surrealisten durchweg begeisterte Leser von Fantômas, so kleidet Philippe Soupault in Les dernières nuits de Paris eine surreale Geschichte in eine Kriminalhandlung ein, so kodiert Aragon in Le Paysan de Paris die Buttes Chaumont als Ort des Verbrechens. Diese Tradition setzt sich zu Teilen bei Robbe-Grillet, dem wohl surrealistischsten Vertreter des Nouveau Roman, fort. Sein Roman La belle captive enthält ein Bild von René Magritte, das Fantômas darstellt. Obwohl es also Überschneidungen gibt, obwohl bereits der Surrealismus auf den Kriminalroman zurückgreift, sind wesentliche Differenzen nicht zu übersehen. Für die Surrealisten ist das Verbrechen in einer geheimnisvollen Weise faszinierend, und das heißt im Grunde abenteuerhaft. In den 1950er Jahren überwiegt demgegenüber ein vorwiegend investigatives Erzählmodell, so etwa bei Nathalie Sarraute, die von einer Ère du soupçon spricht, bei Robert Pinget in L’Inquisitoire, bei Michel Butor in L’Emploi du temps, und selbst der frühe Robbe-Grillet setzt vorrangig auf dieses investigative Moment. - Gracq hält demgegenüber auch nach dem 2. Weltkrieg an der visionären Kraft der surrealistischen Literatur der ersten Nachkriegszeit fest, cf. Julien Gracq: „Le Surréalisme et la Littérature contemporaine“ (1949), in: Id.: Œuvres complètes, ed. Bernhild Boie, vol. 1, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1989, p. 1009-1033, hier 1024-1031. <?page no="104"?> Franziska Sick 104 lungskonstellation ist mit Butors La Modification (1957) weitgehend deckungsgleich. Da Gracq an dieser Stelle, wie zu unterstellen ist, den Butor’schen Text - einen Text grauer Nachkriegsliteratur - ironisch umschreibt, da er sich überdies, was die erzählte Zeit betrifft, auf das fremde Terrain der 1950er/ 60er Jahre begibt, steht zu erwarten, dass sich die Grundzüge blauer Nachkriegsliteratur nur umso deutlicher abzeichnen. Gracqs La Presqu’île verhandelt wie Butors La Modification die Geschichte einer problematischen Begegnung mit der Geliebten. Die Pointe beider Texte besteht darin, dass die tatsächliche Begegnung ausbleibt, also genau das, was man typischer Weise von solchen Geschichten erwartet: die unmittelbare persönliche Auseinandersetzung. Butor und Gracq begnügen sich damit, die Anreise zu beschreiben und laden auf ihr in einem erzählerischen Monolog die gesamten Beziehungsprobleme ab. Nichtsdestoweniger weisen beide Geschichten markante Unterschiede auf. In La Modification bricht der Handlungsreisende Delmont unverhofft auf, um seine Frau in Paris zu verlassen. Er fährt zu seiner Geliebten nach Rom, um sie nach Paris zu holen. Auf seiner Bahnreise wird ihm Station für Station klar, dass er, wenn er sein Vorhaben ausführt, eben dort enden wird, wo er herkommt: In einer festen Beziehung in Paris. Kaum in Rom angekommen, setzt er sich, ohne die Geliebte zu treffen, in den Gegenzug und fährt zurück. Anders gelagert ist die Reisebeziehungsgeschichte bei Gracq. Sein Protagonist Simon steht nicht zwischen zwei Frauen. Er will seine Geliebte, die ihm an seinen Urlaubsort nachreist, vom Bahnhof abholen. Da sie nicht mit dem Mittagszug kommt, fährt er durch die Gegend. Auch ihm wird bewusst, wie festgefahren die Beziehung zu seiner Geliebten ist. Er vertrödelt sich und verpasst sie beinahe bei ihrer abendlichen Ankunft. Die Erzählung endet damit, dass er auf der falschen Seite des Bahnsteigs steht. Als er seine Geliebte begrüßen und wohl auch umarmen will, stößt er mit dem Knie gegen eine Absperrung. „‚Comment la rejoindre? ‘ pensait-il, désorienté“ 55 lautet der letzte Satz der Erzählung. Bereits am Verlauf beider Geschichten zeigt sich die Differenz von blauer und grauer Nachkriegsliteratur. Die Butor’sche Geschichte thematisiert zwar keinen Tatort, jedoch hat der Raum in ihr eine klärende, detektorische Funktion. Delmonts Modifikation trägt sich auf der Wegstrecke der Reise ab. Dieser Beziehungsraumaufklärungsarbeit fällt bei Butor das Imaginäre - das heißt konkret: die Beziehung zur Geliebten - zum Opfer. Ganz anders bei Gracq: Simon hält am Imaginären fest, wissend, dass es imaginär ist. Das ist, wenn man so will, das notorische Blau der ersten Nachkriegsliteratur. Unterschiedlich sind deshalb die Erzähltopologie und der Spannungsverlauf beider Geschichten. Während der Butor’sche Erzählraum polar ist - 55 Julien Gracq: La Presqu’île, in: Id.: La Presqu’île, Paris: José Corti, 1970, p. 33-179, hier 179. <?page no="105"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 105 Delmont schwankt zwischen zwei Frauen und Städten, zwischen Paris und Rom, kaum ist er am einen Pol angelangt, schwingt er wie ein Pendel zurück -, ist der Gracq’sche vektoriell. Zumal die Schlussszene, in der Simon gegen die Absperrung stößt, hält diese Vektorhaftigkeit fest. Diese differente Erzähltopologie prägt sich auch sonst breitfältig aus. Man betrachte nur die Verkehrsmittel, diese chronotopischen Raumzeitgeräte par excellence: Delmont sitzt im Zug. Dieser trägt ihn seiner Geliebten unweigerlich zu - und er kehrt dennoch um. In einer nachgerade spiegelverkehrten Situation befindet sich Simon. Bei ihm sitzt die Geliebte im Zug, während er selbst mit dem Auto durch die Gegend fährt. Er könnte deshalb ausweichen - und kommt dennoch an, sei es auch nur an einer Schranke. Den unterschiedlichen Verkehrsmitteln korrespondiert ein kaum weniger gegenläufiges Landschafts- und Kartenmodell. Delmont bewegt sich im Zug in einem ungegenständlichen Leerraum vorüberziehender Toponyme, in einem reinen Zeitraumraster, das er wie eine Karte über seine Beziehung legt. Durchaus verwandt ist diese Beziehungskarte mit der des ungenannten Erzählers in Robbe-Grillets La Jalousie. Dort eröffnen Durchblicke durch die Lamellen der Jalousie und die Planken der Terrasse ein neutrales Untersuchungsfeld, das der Erzähler Quadrant für Quadrant absucht, um herauszufinden, ob seine Frau ihn mit Franck betrügt. Mit verwandtem Gestus inspiziert Delmont die Beziehung zu seiner Geliebten Station für Station. Hier wie dort zeichnet sich der investigative Charakter der Erzählung in einem qualitätslosen, rasterhaften Kartenmodell ab. Ganz anders, nicht kartenrasterhaft, sondern erwartungsräumlich ist demgegenüber die Landschafts- und Kartenwahrnehmung Simons. Wiewohl auch er auf einer Spazierfahrt Klarheit über seine Beziehung erlangt, betrachtet Simon die Landschaft nicht als Untersuchungsfeld, sondern als Projektionsraum seines Freiheitsbegehrens. 56 Die Offenheit und die Überraschung, die Simon von seiner Geliebten nicht mehr erwartet - er trägt sie in die Landschaft, aber auch in die Karte hinein. La carte routière écourta le déjeuner; les itinéraires le fascinaient; c’était un avenir clair et lisible qui pourtant restait battant, une ligne de vie toute pure et encore non frayée qu’il animait d’avance et faisait courir à son gré au travers des arborisations des chemins. 57 Es bleibt anzumerken, dass und in wie unterschiedlicher Weise beide Texte das Verdikt, mit dem die Romantik die Karte belegte, aufgreifen und abwandeln. Während Gracq der Romantik entgegenhält, dass auch Karten roman- 56 Dass und wie sehr gerade das Fortbewegungsmittel des Autos an dieser Erwartungsräumlichkeit von Karte und Landschaft teil hat, zeigt Jean-Yves Laurichesse: „Le vagabondage automobile dans La Presqu’île“, in: Patrick Marot (ed.): Les dernières fictions. «Un balcon en forêt». «La presqu’île», Paris: Minard (Julien Gracq; 5), 2007, p. 171-197. 57 Gracq: La Presqu’île (wie Anm. 55), p. 50sq. <?page no="106"?> Franziska Sick 106 tisch sein können - denn auch sie lassen sich als Projektionsfläche von Sehnsüchten und Erwartungen benutzen -, greift der Nouveau Roman das romantische Verdikt über die Karte auf, um darzulegen, wie antiromantisch er ist. Mit anderen Worten: Während für Gracq die Karte ein Sehnsuchtsraum ist, ist sie für den Nouveau Roman ein Raum, mit dem sich Sehnsüchte kartieren und das heißt in einer räumlich dekonstruktiven Weise hinterfragen lassen. Es ist nicht zu unterstellen, dass Gracq diese dekonstruktive Dimension übersieht. Er weigert sich lediglich, der Reflexion oder auch der Investigation das Begehren zu opfern. Aufgrund ihrer konträren Topologie besitzen beide Geschichten einen unterschiedlichen Spannungsverlauf. In einem strikten Sinne des Wortes ist La Modification alles andere als spannend. Nie befällt uns als Leser die Sorge, dass Delmont seine Geliebte nicht treffen oder nicht zu seiner Frau zurückkehren würde. Wir bewegen uns auf dieser Reise in einem reinen Reflexionsraum. Wir folgen Delmonts Assoziations- und Erinnerungsspuren, ohne dass uns diese, wie etwa ein Abenteuerroman, fesseln würden. In eine ganz andere Lage versetzt uns Gracq. Er bietet uns als Leser einen Wegeraum an. Er legt umfänglich dar, wo genau sich Simon jeweils befindet, wie spät es ist, wie sehr sich Simon zeitvergessen vertrödelt. Deshalb sorgen wir uns darum, dass er seine Geliebte verpasst. Erzählerische Spannung entsteht hierbei - und das ist typisch für Gracq - aus dem Raum. Gemessen an Le Rivage des Syrtes wählt Gracq in La Presqu’île jedoch ein durchaus neues Erzählmodell. Während die räumliche Erzählspannung in Le Rivage des Syrtes mehr behauptet als eingelöst ist - alle Räume sind in einer abenteuerhaften Weise hoch bedeutsam, ohne dass eigentlich etwas geschieht -, während deshalb der Fortgang der Ereignisse der Figur der Plötzlichkeit überantwortet ist, erzeugt La Presqu’île räumliche Erzählspannung ungleich homogener allein aus den Wegedistanzen, aus der Tageszeit und aus der Karte. Was das Verhältnis von Décadence und Moderne betrifft, wäre es sicherlich überzogen, bei La Presqu’île in einem strikten Sinne des Wortes von Décadence zu reden - und dennoch bleibt der wesentliche transgressive Impuls der Décadence-Moderne gegen das allzu Ein- und Festgefahrene erhalten. Nun ist damit vergleichsweise wenig gesagt. Lotman zufolge ist die Überschreitung ein Grundmerkmal jeglicher sujethaltiger Erzählung. Präziser und zugleich differenzierungsfähiger sind meines Erachtens Begriffe wie die der blauen Nachkriegsliteratur und des Erwartungsraums. Als Vanessa in Le Rivage des Syrtes in die Küstenstadt Maremma zieht, fragt Aldo sie, was ihren Umzug veranlasst habe. Sie antwortet: „J’attends.“ 58 In einem Warte-/ Erwartungsraum befindet sich auch Simon, der seine Geliebte vom Bahnhof abholen will. Über die Figur des Erwartungsraums lässt sich nicht 58 Gracq: Le Rivage des Syrtes (wie Anm. 6), p. 101. <?page no="107"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 107 zuletzt und einmal mehr die Differenz von blauer und grauer Nachkriegsliteratur bestimmen. Während der Erwartungsraum bei Gracq vektoriell ist, nimmt ihm Beckett, der sprichwörtlich für das Grau der zweiten Nachkriegsliteratur steht, seine vektorielle Spitze, indem er ihn in einen reinen Warteraum ohne Perspektive transformiert. Estragon: Komm, wir gehen. Wladimir: Wir können nicht. Estragon: Warum nicht? Wladimir: Wir warten auf Godot. Estragon: Ach ja. 59 Erwartungsraum und Genre - eine Topologie der modernen Großstadt unter den Vorzeichen einer anderen, randständigen Moderne Die Erzählung La Presqu’île ist im Werk Gracqs ein Ausnahmetext. Das Unterfangen, aus der Karte heraus Erzählspannung aufzubauen, ist so ungewöhnlich, dass es nur um den Preis des Selbstplagiats zu wiederholen gewesen wäre. Durchaus sprechend ist vor diesem Hintergrund der Umstand, dass La Presqu’île der letzte fiktionale Erzähltext Gracqs ist. Im Gefolge verfasst er neben Essays Reisebeschreibungen (Autour des sept collines, Carnets du grand chemin) sowie den autobiographischen Text La Forme d’une ville. Gemeinsam ist zumal den letztgenannten Textgruppen, dass der Raum in ihnen nicht länger Träger erzählerischer Spannung ist. Stattdessen begnügt sich Gracq damit, in autobiographischer Weise anzugeben, wieso Räume für ihn spannend sind. Oberflächlich betrachtet greift er damit auf Altbewährtes zurück, auf das Stilmittel einer unmittelbaren Thematisierung, das zumal in autobiographischen Texten gebräuchlich ist. 60 Wobei nicht zu übersehen ist, dass und wie Gracq die traditionellen Gattungsschemata bricht. So untergliedert er die Reisebeschreibung Autour des sept collines in die drei Abschnitte Autour de Rome, À Rome und Loin de Rome. Während Reisebeschreibungen typischer Weise einen homogenen Raumzeitverlauf besitzen - der Autor berichtet, was er jeweils vor Ort an Neuem sieht und erlebt -, spreizt Gracq die Reisebeschreibung, diese Vor-Ort-Literatur schlechthin, zugunsten des Erwartungsraums in eine Vor- und Nachbetrachtung auf und verleiht ihr so eine neue zeitliche Tiefendimension. Zumal die Annäherung an Rom beinhaltet mit der Anreise im Grunde denselben Erzählbogen, der uns bereits aus La Presqu’île bekannt ist - mit dem Unterschied freilich, dass er hier nicht länger unmittelbar Spannung erzeugt, sondern in die Gliederung des Textes 59 Cf. Samuel Beckett: Warten auf Godot, in: Id.: Dramatische Dichtungen in drei Sprachen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, p. 7-205, hier 103. 60 Cf. Michel Murat: Julien Gracq, Paris: Belfond, 1991, p. 244-246. <?page no="108"?> Franziska Sick 108 einwandert. In subtiler Weise ist die räumliche Erzählspannung im Aufbau des Textes aufgehoben. Dieses Gliederungsprinzip durchzieht in vergleichbarer Weise La Forme d’une ville. Vorrangig ist jedoch ein weiterer Gattungsbruch zu verzeichnen. La Forme d’une ville ist im weitesten Sinne des Wortes eine Autobiographie. Gracq beschreibt in ihr seine siebenjährige Internatszeit in Nantes. Ungewöhnlicher Weise erfahren wir in dieser ‚Autobiographie‘ jedoch fast nichts über Gracqs Leben im Internat. Stattdessen wartet der Text in umfänglicher Weise mit einer Beschreibung von Nantes auf. Gracq beschreibt nicht sein tatsächliches Leben dort drinnen im Internat, sondern einen Wunsch- und Erwartungsraum dort draußen. So wie in Autour des sept collines der Erwartungsraum den Vor-Ort-Charakter der Reisebeschreibung zeitlich zerdehnt, so disloziert La Forme d’une ville die autobiographische Geschichte in die Beschreibung der Stadt. In beiden Fällen bricht Gracq, indem er am Chronotopos des Erwartungsraums festhält, traditionelle Gattungsschemata. Die Stadt als Erwartungsraum des Internatsschülers, die ‚Autobiographie‘ als Beschreibung der Form einer Stadt. So wenig La Forme d’une ville als Autobiographie zu lesen ist, so sehr entzieht sie sich dem Genre der Großstadtliteratur. Das hat durchaus sachhaltige Gründe. Wie Gracq selbst einräumt, ist Nantes als moderne Großstadt vergleichsweise atypisch: Die bewegten 1920er Jahre, die Metropolen wie Paris und Berlin so nachhaltig prägten, hielten hier kaum Einzug, und selbst dieses etwas rückständige Nantes war ihm als Internatsschüler verwehrt. Nicht zuletzt ist Gracq, wenn man die Hochkonjunktur der Großstadttexte in den 1920er Jahren als Maß anlegt, als Autor für das Genre zu spät geboren. Aufgrund dieser mehrfachen Randständigkeit muss Gracq seine Großstadt allererst erfinden. Er schreibt deshalb in gattungsbrüchiger Weise eine höchst persönliche Großstadtautobiographie. In ihr verschränken sich Aspekte des Großstadtromans mit solchen des Bildungsromans. 61 Nantes ist Gracqs Großstadt. Sie prägt ihn wie sonst nur Goethes Meister die Lehrjahre. Bereits einleitend weist er darauf hin, dass er kein Porträt von Nantes zeichnen wolle. Nantes sei vielmehr sein persönliches Vademekum. 62 Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass La Forme d’une ville keine Autobiographie, sondern eine Autofiktion sei. 63 Es ist unbenommen, dass die vorstehend angeführten Gattungsbrüche sich durchaus auch hieraus erklären lassen. 64 Indem Gracq das vielleicht gar nicht so moderne Nantes 61 Explizit bezieht sich Gracq am Ende des Romans auf Goethe, cf. Gracq: La Forme d’une ville (wie Anm. 3), p. 211: „[…] toute impression se faisait empreinte, ou plutôt, au sens goethéen, forme empreinte, destinée en vivant à se développer.“ 62 Cf. ibid., p. 7sq. 63 Cf. Bernard Vouilloux: Gracq autographe, Paris: José Corti, 1989. 64 Cf. Philippe Gasparini: Autofiction. Une aventure du langage, Paris: Seuil, 2008. Gracq findet hier allerdings keine Erwähnung. <?page no="109"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 109 zur Großstadt schlechthin umdeutet, erschreibt er sich seine Teilhabe an der Moderne. Dass er dabei sein Ich vom Raum her aufbaut, rundet das Bild ab. Zuvörderst streicht das Konzept der Autofiktion den genieästhetisch aufwüchsigen Begriff des bios zugunsten von (räumlicher) fiktiv zusammengestückelter Kontingenz. Man wird diesem Befund nicht widersprechen wollen. Und dennoch stellt sich die Frage, ob das Konzept der Autofiktion im Versuch, den alten Subjektbegriff zu dekonstruieren, diesen nicht à contrecœur mit anderen Mitteln fortschreibt, um unter der Hand das autobiographische Grundschema in eine Form von Metagenre zu transponieren. 65 Eine chronotopische Untersuchung setzt andere Akzente: Sie untersucht nicht die Auto-Fiktion, und das heißt die Konstitution des Selbst im Text, sondern allenfalls dessen topologische Verortung oder aber auch, allgemeiner gefasst, die des Erzählens. Deshalb wähle ich für La Forme d’une ville als Bezugspunkt nicht das Gattungsumfeld der Autobiographie/ -fiktion, sondern das der Großstadtliteratur - so sehr auch die Erwartungsräume Gracqs sich von den Stereotypen der Großstadtliteratur unterscheiden mögen. Wie fern Gracq dieser steht, haben wir bereits an Le Rivage des Syrtes gesehen. Während dieser Roman vor dem Genre des Großstadtromans mehrfach zurückweicht - es ist kein Großstadtroman, sondern ein Stadtstaatroman, die Stadt ist nicht modern, sondern dekadent -, greift Gracq in La Forme d’une ville das Genre des Großstadtromans auf, ohne freilich die Topologie zu verändern. Sicherlich: Orsenna ist ein Sumpf, Nantes ist modern. Aber auch wenn die Ausgangsorte vordergründig anders kodiert sind, weisen beide Texte dieselbe ‚subjektive‘ Topologie auf. Der Protagonist ist nicht am Ort der Moderne, er erwartet das Neue von woanders her. Das ist die grundlegende Perspektive Gracqs auf die Topologie der Décadence, aber auch auf die Moderne und die moderne Großstadt. Aufgrund dieser Topologie setzen sich in La Forme d’une ville die Differenzen zum Großstadtroman, die wir bereits in Le Rivage des Syrtes verzeichnen konnten, in abgewandelter Form fort. Anders als bei den typischen Großstadtgängern ist die Erfahrung der Moderne und der modernen Großstadt bei Gracq nicht an technisch-medialen Gegebenheiten wie etwa der Geschwindigkeit abzulesen, sie ist ein imaginäres ‚Da-Draußen‘, etwas jenseits der Mauern des Internats. Sie erschließt sich nicht in der lockeren Ungebundenheit des Flaneurs, der in der Großstadt mit übergenauem, diagnostischem Blick die Zeichen der (modernen) Zeit erkennt, sondern ist vorrangig Neuland. Sie ist mehr Verheißung als Gegenstand der Analyse. Sie zerstört nicht die Aura durch Technik, sondern besitzt die Aura eines nächstliegenden Raums, der, so nahe er auch liegt, als kaum betretbar erscheint. 65 Cf. Alfonso de Toro / Claudia Gronemann: „Einleitung“, in: Id. (eds.): Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim: Olms, 2004, p. 7-21, hier 8-10. <?page no="110"?> Franziska Sick 110 Während den Surrealisten die Moderne sich am gefundenen Phänomen erschließt, die ihnen ein doppelbödiger Großstadtraum zuspielt, während die Karten, die Toponyme, die Fotografien von Orten - ‚das ist die Getränkekarte des Café Certa‘ 66 - im Surrealismus vorrangig dazu dienen, das Surreale, die Moderne oder aber auch die Décadence zu verorten - die Karte ist an dieser Stelle der Garant des Surrealen im Realen -, ist bei Gracq bereits die Großstadt und deren Karte imaginär. Karten und Landschaften des Imaginären Häufig verortet bei Gracq deshalb die Karte nicht die Moderne, sondern besitzt einen nachgerade autonomen, nicht-referentiellen Status, in dem sie selbst als Signatur des Aufbruchs und der Moderne figuriert. Das zeigt sich exemplarisch in einem Passus, in dem Gracq die Abgeschlossenheit seiner Internatssituation beschreibt, um dann das hieraus resultierende Verhältnis zu Nantes in einer Kartenmetapher zusammenzufassen: […] une ville où toutes les perspectives donnaient d’elles-mêmes sur des lointains mal définis, non explorés, un canevas sans rigidité, perméable plus qu’un autre à la fiction. Chacun des rhumbs qui étoilaient cette rose des vents fleurissait naturellement, indéfiniment, pour l’imagination. 67 Die Karte - und nichts anderes als die Karte klingt in dem „canevas sans rigidité“ und zumal in der „rose des vents“ an - ist, anders als bei den Surrealisten, nicht länger Beweisträger des Surrealen, 68 sie wird zum Nährboden der Phantasie. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass wir es im vorliegenden Fall mit einer Karte im strikten Sinne zu tun haben, wenn auch mit einer etwas ungewöhnlichen. Sie besteht aus nichts weiter als aus einem Gradnetz und der Windrose. Das ist eine Karte in Rohform, ein reines Kartenschema, 66 Cf. Aragon: Le Paysan de Paris (wie Anm. 27), p. 97. 67 Gracq: La Forme d’une ville (wie Anm. 3), p. 4. 68 Es ist durchaus einzuräumen, dass da und dort bereits die Surrealisten die Karten nicht bloß als topographische Beweisträger, sondern zugleich auch als Bild des Surrealen verwenden. So Aragon, wenn er die Buttes Chaumont mit einer Nachtmütze vergleicht (cf. Aragon: Le Paysan de Paris (wie Anm. 27), p. 169). Anders Max Ernst. Er zeichnet in Le jardin de la France (1962) in die Karte Frankreichs zwischen Loire und Indre einen Frauenkörper ein. Bereits Max Ernst definiert also die Karte als Raum des Begehrens und der Erwartung, jedoch handelt es sich hierbei um ein Einzelmotiv. Erst bei Gracq wird es zu einer topologischen Konstante. Nicht zu übersehen ist nicht zuletzt, dass Max Ernst zwar auf eine kartographische Darstellung zurückgreift, sein Bild jedoch als Garten betitelt. Das Objekt des (männlichen) Begehrens ist weiblich, Max Ernst sexiert in diesem Sinne die Karte und tauft sie in einen Garten um. Denn was wäre weiblicher als Gärten…! Durchaus in diesem Sinne lernt auch Aldo Vanessa in einem Garten kennen. Und dennoch steht in Le Rivage des Syrtes etwas ganz anderes im Blick. Nicht das Objekt des männlichen Begehrens, sondern dessen Struktur. Diese ist nicht gartenhaft, sondern in einer projekthaft-transgressiven Weise kartenhaft. <?page no="111"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 111 in das noch nichts eingetragen ist. Obwohl diese Karte leer ist, obwohl Gracq im Folgenden mit ungleich genaueren kartographischen Angaben aufwartet - der vorstehende Passus zeigt uns die Gracq’sche Karte von Nantes schlechthin: Ein unbeschriftetes Kartenschema, einen Erwartungskartenraum. In dem Maße, wie die Gracq’sche Karte imaginär ist, ist sie, wie alles Imaginäre, vielfach besetzbar. So grundlegend das vorstehende Beispiel auch sein mag, andernorts deutet Gracq alles, was die Karte nur an technischen Mitteln zu bieten hat, in eine Figur des Imaginären um. Während in dem vorstehenden Zitat die Lineatur der Karte, ihre Rasterung löchrig und durchlässig ist, sind Aldos Seekarten von scharfen Grenzziehungen geprägt, aber deshalb kaum weniger faszinierend. Klar umrissen ist auch die Karte in La Presqu’île. Sie enthält eine klare, ablesbare und dennoch pulsierende Zukunft, eine gänzlich reine und noch ungebahnte Lebenslinie. 69 Kaum anders, wenn auch einmal mehr im Detail variant, sind die Kartenträume Gracqs zu seiner Kinderzeit verfasst. Wie er in La Forme d’une ville berichtet, verbrachte er die Dürreperioden, in denen ihm die Lektüre von Jules Verne verwehrt war, vor einem veralteten guide Michelin, wobei er es nicht verabsäumt, auf eine Besonderheit dieser Kartenlektüre hinzuweisen. Interessant erschienen ihm aufgrund einer kindlichen Vorliebe für den Elitismus - man könnte auch sagen, aufgrund einer knabenhaften Vorliebe für den Superlativ - nur die Städte, die mehr als 100.000 Einwohner und überdies eine Straßenbahn besaßen. 70 Was auch immer zum Instrumentarium der Kartographie und der Geographie gehört - der Raster, die Magnetnadel, die Grenze, die Straße, die Einwohnerzahl einer Stadt -, all dies eröffnet für Gracq zuvörderst eines: einen Phantasieraum. Wobei nicht zu übersehen ist, dass Gracq stets auch den Gegenpol solcher Phantasie akzentuiert. So korreliert er die Grenze mit der Transgression, den Raster mit der Lücke, die schiere numerische Größe mit der Vorstellung der Großstadt und nicht zuletzt in La Presqu’île die vorgezeichnete Straße mit der ungebahnten Lebenslinie. Zumal in diesem Passus ist der Wechselbezug von imaginärem und tatsächlichem Raum, von Grenze und Entgrenzung deutlich gesetzt. Die Zukunft, die Simon aus der Straßenkarte herausliest, ist klar, ablesbar und dennoch pulsierend. Auch wenn diese Kartenbehandlung einmal mehr das Grundmuster der Transgression aufruft, besitzt sie eine etwas andere Orientierung. Sie definiert sich nicht über das horizontale Spannungsverhältnis von Peripherie und Zentrum, sondern steht vertikal zu ihm - so buchstäblich der Finger Simons, mit dem er die Karte abfährt. In Rede steht hierbei nicht die Überschreitung 69 Cf. Gracq: La Presqu’île (wie Anm. 55), p. 50. 70 Cf. Gracq: La Forme d’une ville (wie Anm. 3), p. 17-19. <?page no="112"?> Franziska Sick 112 kartierter Grenzen, sondern die Überschreitung der Karte durch Phantasie - einer Phantasie, die sich gleichwohl nicht von der Karte lösen kann. So fasziniert Gracq von Karten und Guides Bleus auch ist, so reserviert steht er ihnen da und dort gegenüber. Etwa wenn er sein Verhältnis zu Nantes während seiner Internatszeit beschreibt. Er legt Wert darauf, dass er in der Stadt gelebt hat und grenzt seinen persönlichen Zugang zu ihr von dem touristischen ab, den die Guides Bleus befördern. Diese versetzen einen, wie Gracq anmerkt, in die Situation eines Seemanns, der sich beim Ansteuern eines Hafens allein auf die Landmarken verlässt. 71 Auffällig ist, dass Gracq an dieser Stelle die sonst überwiegend positiv konnotierten Motivkreise Seemann, Hafen, Landmarke ins Negative wendet. Kaum weniger bemerkenswert ist, dass er trotz seiner erklärten Vorliebe für Karten seine Überlegungen mit einem nachgerade rousseauistischen Bekenntnis zur Landschaft abschließt. Über seine Stadtspaziergänge in Nantes berichtet er: J’allais à l’aventure, en petit sauvage, dans les rues d’une ville non triée, non étiquetée, non répertoriée, me laissant imprégner indistinctement de ses masses de pierre inégales, de ses trouées de lumière, de ses chemins d’eau, des tranchées ombreuses de ses rues encaissées, comme on s’imprègne d’un paysage sans le moindre souci d’en ranger les éléments par ordre d’excellence […]. 72 Man vergleiche diesen Passus mit dem über den kindlichen Elitismus! Gegensätzlicher können zwei Stadtbilder kaum sein: Im einem Fall untersteht die Stadt dem grobmaschigen Ranking der schieren Zahl, im anderen Fall ist alles in ihr ohne Rang. Man mag dafürhalten, dass die Gracq’sche Topologie stets schon zwischen dem Karten- und dem Landschaftsparadigma schwankt, und dass im Fall der vorstehenden Zitate die konträre Option Landschaft versus Karte sich aus den gegensätzlichen Perspektiven und Lebensaltern herschreibt. Eine solche Lesart entspricht durchaus dem Projekt Gracqs. Er versucht darzulegen, in wie vielschichtiger Weise ihn Nantes geprägt hat. Lesbar wird so ein polyphoner Raum, der sich beziehungsreich überlagert. Unter dem Blickwinkel Stadtlandschaft/ Karte stellt sich unabhängig davon die Frage, aufgrund welcher Topologie Gracq im einen Fall die Karte und im anderen Fall die Landschaft bevorzugt. Wie sich an dem Beispiel abzeichnet, unterliegen beide nicht nur der Dichotomie von Décadence/ morbide Landschaft und Moderne/ transgressive Karte, sondern überdies einem Distanzregulativ. Karten sind für Gracq genau dann attraktiv, wenn er nicht vor Ort ist. Vor Ort erweisen sie sich als hinderlich, weil sie das Hier auf das Bekannte reduzieren. Deshalb optiert er vor Ort für die Landschaftswahrnehmung. Ablesbar ist an dieser Distributionsbeziehung von Karte und Landschaft beider konzeptionelle Ausrichtung. Karten stellen bei Gracq, 71 Cf. ibid., p. 106. 72 Ibid., p. 108. <?page no="113"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 113 weil sie imaginär sind, nicht vorrangig eine Gegend dar. Sie bezeichnen mehr die Ferne überhaupt als einen konkreten Ort. Deshalb werden sie vor Ort, dort wo sie auf ihr Signifikat und das heißt auf das Reale treffen, wertlos. Tragfähiger erweist sich dort das Landschaftskonzept, weil es weicher, dehnbarer ist als die harte, alles vereindeutigende Karte. Von dieser Verteilung ist bereits die Erzählanlage in Le Rivage des Syrtes geprägt. Der Roman exponiert das Thema der Transgression mit dem Kartenzimmer, um dann im weiteren Verlauf, wenn Aldo sich seinem Ziel nähert - wie auf der Insel Vezzano - auf Landschaftsbilder zu setzen. Wobei selbst dieser grundsätzliche Schwenk von der Karte zur Landschaft genauer zu differenzieren ist. Denn wie wir gesehen haben, ist die Landschaft auf der Insel Vezzano ihrerseits kartenhaft. Sie enthält mit dem Tängri eine Landmarke. Eben diese verwirft der vorstehende Passus in La Forme d’une ville. Auch diese Differenz erklärt sich aus dem Regulativ von Distanz und Nähe. Während Aldo sich auf der Insel noch vor der Stadt befindet, ist der Internatsschüler Gracq bereits in der Stadt. Stadtraum versus Erwartungsraum, Nantes als Blaupause, literarische Topologien So zugespitzt dieser Kontrast auch ist, Gracq kann ihn nicht aufrechterhalten, weil er als Internatsschüler nicht ‚vor Ort‘ ist. Deshalb ist das Gracq’sche Nantes über weite Strecken alles andere als ein vektor- und schriftloser reiner Landschaftsraum („une ville non triée, non étiquetée“ 73 ). Zumindest aus der Rückbetrachtung, aus der heraus La Forme d’une ville geschrieben ist, stellt sich das Gracq’sche Nantes als ein durch und durch literarischer und deshalb überkodierter Raum dar. Exemplarisch zeigt sich diese Literarizität in einem Passus, in dem Gracq Apollinaire zitiert: J’ai vu ce matin une jolie rue dont j’ai oublié le nom Neuve et propre du soleil elle était le clairon Um dann folgendermaßen fortzufahren: Bien qu’Apollinaire situe sa rue expressément du côté de la porte des Ternes („J’aime la grâce de cette rue industrielle […]“) j’ai toujours tendance à imaginer que de telles voies, si fraîchement, si naïvement ensoleillées, devaient se montrer de son temps surtout aux lisières sud-ouest de Paris, là où, vers 1910, le moteur à explosion et déjà l’aéroplane faisaient pousser […] des bâtisses industrielles migrantes, aussi légères que les oiseaux de bois et de toile qu’elles abritaient […]. 74 73 Ibid. 74 Ibid., p. 34. <?page no="114"?> Franziska Sick 114 Trotz dieses Einwands, in dem Gracq gleichsam nahelegt, Apollinare habe sich in der Adresse für seine poetische Erfahrung geirrt, räumt er im Folgenden ein, dass eine solche Stimmung auch in einem ganz gewöhnlichen bürgerlichen Viertel aufkommen könne. Es reiche hierfür […] une déclivité de la chaussée qui s’ouvre tout à coup devant votre pas invitante et tentatrice […]. 75 Die Sonne bläst ins Horn, das Abschüssige verlockt: Benannt ist damit das für Gracq bestimmende Moment von Vektorhaftigkeit, aber auch ein äußerst wechselbezügliches Verhältnis von Karte, Literatur und Landschaft, das sich auf einer gegenläufigen Topologie der Moderne abträgt. Diese ist im Folgenden genauer zu betrachten. Die erste Topologie ist die einer Technik-Moderne, der zufolge die Moderne im Toponym kartographisch genau lokalisiert ist. Auch wenn Gracq Apollinaire widerspricht, auch wenn er nur eine persönliche Vorstellung und keine persönliche Erfahrung wiedergibt, im Grundansatz schließt er an seine Auffassung an: Die Erfahrung der Moderne ist an wohl definierten Orten und nur dort zu machen. Ganz anders ist die zweite Topologie verfasst. Ihr zufolge ist wenn nicht im strikten Sinne die Moderne, so doch das sie prägende Moment des Aufbruchs und der Verlockung weder an einen bestimmten Ort noch thematisch gebunden. Man kann diese Erfahrung überall machen, an Industriestandorten, aber auch im bürgerlichen Viertel, sofern der fragliche Raum nur hinlänglich vektoriell strukturiert ist. Topologisch stehen an dieser Stelle zwei konträre Modelle zur Disposition. Das erste ist nicht nur Apollinaire zuzuschreiben, es ist bestimmend für die Großstadtliteratur insgesamt. Das zweite ist prägend für den Gracq’schen Erwartungsraum. Während das eine den Ort der Moderne im Toponym kartiert, wartet das andere mit einem vektoriellen Schema auf, das man aufgrund seiner Vektorhaftigkeit zwar als kartenhaft bezeichnen kann, das jedoch keineswegs den Ort der Moderne bestimmt, sondern stattdessen deren erwartungskartenräumliches Schema. Auch wenn die surrealistische Großstadterfahrung bei Gracq literarisch vermittelt ist, ist sie nicht epigonal. Gracq entwirft aus seiner Lektüre eine höchst eigenständige Topographie. Deutlich wird dies etwa in einer Einlassung zur alten Sternwarte. 76 Die alte Sternwarte ist ein vergessener, verlassener Ort, auf den er während seiner Internatsausgänge traf. Gracq lässt offen, was genau ihn an diesem Ort faszinierte. War es die Anmutung des abgeschlossenen, verwaisten Raums - das Motiv der Transgression klingt an - oder war es nicht vielmehr bloß und bereits der Zauber der technisch überholten Messgeräte, die hier zu besichtigen waren? Gracq verweist darauf, dass das Toponym Ancien Observatoire auf handelsüblichen Karten verzeich- 75 Ibid., p. 35 (Herv. F.S.). 76 Cf. ibid., p. 70-72. <?page no="115"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 115 net ist, er verortet seinen Erfahrungsraum, um dann eine ganz andere Kartographie zu entwickeln. Er habe den Zauber dieses Ortes gleichsam auf alle seine Lektüren durchgepaust, auf das Haus Usher, auf Dracula und viele weitere Lektüren, sofern sie nur geheimnisvolle Orte aufzuweisen hatten. Damit kehrt er die Beziehung von Karte, Landschaft und Literatur um. Der Eindruck eines Ortes/ einer Landschaft verhält sich zur Literatur wie eine Blaupause, und das heißt mit anderen Worten, wie eine Karte. Die Literatur ist Gracq zufolge also nicht in jeder Hinsicht topographisch zu verankern (wie etwa im Großstadtroman) oder - ein Ansatz, den man heutzutage gerne verfolgt - in einer Epistemologie der Karte aufzulösen. In Blick zu nehmen ist stattdessen, wie fundamentale Raumerfahrungen Lektüren determinieren und sich wie ein Raster über sie legen. Geprägt davon ist nicht nur Gracqs Lektüre, sondern auch sein Schreiben. Die eingangs erwähnte Bemerkung, dass er bei der Abfassung des Rivage des Syrtes seinen Weggang von Nantes vor Augen gehabt habe, ist diesem Motivkreis entnommen. Weitere wären zu nennen. So verweist er darauf, dass in die Erzählung Le Roi Cophetua sein Besuch der Rennbahn eingeflossen sei, und man kann La Forme d’une ville insgesamt als einen Text lesen, dessen Ziel darin besteht, diese höchst persönliche Topographie zu entwerfen. Sie ist das zwar geoffenbarte, aber nichtsdestoweniger schwer bestimmbare Geheimnis seines lesenden Schreibens: 77 Für Gracq birgt jede Geschichte einen Ort. Lesbar wird dieser Ort erst, wenn die Räume, die in den erzählten Geschichten, sie grundierend, enthalten sind, ihrerseits in einer Raumerzählung erzählt werden. La Forme d’une ville leistet vorrangig dies. Man verwechsle das Buch deshalb nicht mit einer Autobiographie im herkömmlichen Sinne. Und selbst der Begriff der Autofiktion erscheint etwas problematisch, denn was La Forme d’une ville konstituiert, ist, wie bereits im Titel anklingt, weniger ein Subjekt als vielmehr ein Stadtraum, wenn auch ein durchaus subjektiver. Nantes: Die periphere, da verstellte Großstadt Wie sehr Gracqs Erfahrung der modernen Großstadt von der Peripherie geprägt ist, zeigt sich nicht nur in ihrer Literarisierung, sondern auch im Erzählaufbau sowie daran, welche Bereiche der Stadt Gracq jeweils wie gewichtet und behandelt. Bemerkenswert ist bereits der Erzähleinstieg. Nach einem ersten einleitenden Kapitel, 78 in dem Gracq sein Erzählvorhaben er- 77 Cf. Julien Gracq: En lisant en écrivant (1980), in: Id.: Œuvres complètes, vol. 2 (wie Anm. 40), p. 553-768. 78 Gracq hat seinen Roman in mehrere große Abschnitte untergliedert, diese aber nicht durchnummeriert. Zur besseren Übersicht bezeichne ich diese Großabschnitte im Folgenden als Kapitel und zähle sie durch. <?page no="116"?> Franziska Sick 116 läutert, versichert er uns im zweiten, er könne nur sagen, was Nantes für ihn bedeute, wenn er erkläre, wieso Angers nicht seine Stadt geworden sei. Angers ist, wie er umfänglich darlegt, eine verschlafene Provinzstadt, einerseits vom bäuerlichen Umland geprägt und andererseits ein inertes Verwaltungszentrum. Ganz anders sei Nantes, die moderne Stadt. Umso mehr muss die Einleitung des dritten Kapitels überraschen, in dem Gracq das Viertel beschreibt, in dem er während seiner Internatszeit wohnte. „Boulevard sans mouvement ni commerce“, cette notation d’un des poèmes des Illuminations auxquels je reviens de préférence, ranime pour moi le souvenir d’un quartier de Nantes que ne traverse aucun boulevard, mais que touche pourtant la torpeur cossue, l’atmosphère de sieste florale, le bâillement distingué propre en été aux beaux quartiers poussés à l’ombre des résidences officielles […]. 79 So sehr uns Gracq auch im zweiten Kapitel versichert, wie gänzlich verschieden Nantes und Angers seien, die Einleitung des dritten Kapitels kassiert ironischer Weise diese vorgeblich fundamentale Differenz. Gracq wohnt zwar in dem modernen, weltoffenen Nantes, aber das Viertel, das er tatsächlich bezogen hat, ist in seiner bürgerlichen Schläfrigkeit von dem Klima in Angers kaum zu unterscheiden. Wie sich ansatzweise abzeichnet, trägt sich der Gegensatz von Décadence und Moderne, Peripherie und Zentrum in La Forme d’une ville in einer Figur der Selbstähnlichkeit (Mandelbrot) ab. Angers ist das konservativ verhockte Gegenbild zum modernen Nantes, aber wenn man näher zusieht, ist das Viertel, in dem sich Gracqs Internat befindet, das konservative Gegenbild zum Zentrum. Und so schreitet der Text fort. Nach den drei einleitenden Kapiteln handelt Kapitel vier von den Ausflügen in die Vororte und den Ausfallstraßen dort. Kapitel fünf wendet sich dem Zentrum zu. Nach einem resümierenden Zwischenkapitel behandelt Gracq in Kapitel sieben, wie bereits in Kapitel vier, wieder das Umland, aber mit anderem geographischen Materialstand und mit geringerem biographischem Bezug. Thema sind nicht mehr die Ausfallstraßen und die Ausflüge dorthin, sondern landschaftliche Großformationen wie der Zugang zum Meer und die Flüsse. Kapitel acht und neun runden das Bild durch eine historisch-geographische Betrachtung ab, wobei Kapitel acht vergleichsweise persönlich gehalten ist - es entwickelt das Soziotop von Nantes zur Internatszeit Gracqs -, während das Folgekapitel stadtgeschichtliche Erwägungen anstellt: Wie ist die Stadt mit dem Umland verbunden? In unübersehbarer Weise verschränkt auch diese historische Vertiefung Motive konservativer Schläfrigkeit mit solchen der Moderne. Während das historische Nantes zur Zeit von Gracqs Internatsaufenthalt sich aufgrund der Kriegserfahrung innerlich befriedet hat und träge geworden ist wie Angers, erscheint Nantes unter globalhis- 79 Gracq: La Forme d’une ville (wie Anm. 3), p. 28. <?page no="117"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 117 torischem Gesichtspunkt als die moderne Stadt schlechthin. Sie ist, anders als Angers, nicht im Umland verwurzelt, sondern treibt Überseehandel. Durchweg ist an dieser Gliederung ablesbar, dass Gracq versucht, von der Peripherie ins Zentrum, aber auch - was nicht immer dieselbe Richtung ist - von der biographischen in eine verallgemeinerbare Erfahrung fortzuschreiten. Der große Weg, den er hierbei einschlägt, ist bereits daran ablesbar, dass er als Historiker und Geograph, der er ist, sich darauf versteht, in seinem autofiktionalen Text alle Kernkategorien einer Historiogeographie in geordneter Weise ins Spiel zu bringen. Wesentlicher scheint mir indessen die Dynamik zu sein, mit der er diese Kartenbegriffe entfaltet: Nach dem Schrittgesetz einer Denkbewegung und einer Kartenlogik, die zugleich zentrifugal und zentripetal ist. Vom randständigen Internat aus gesehen muss das Zentrum von Nantes das Zentrum der Moderne sein, aber ist das Zentrum nicht immer schon woanders? Alles, was Zentrum ist, hat für Gracq eine periphere Hinterseite, aufgrund derer es nur zum Zentrum werden kann. Die große Oper als Energiezentrum der Stadt - ihr Geheimnis sind heimliche Begegnungen mit Schauspielerinnen; das Hafenviertel der Stadt - es wird belebt durch die Seiten- und Hintergassen, in denen „les oiseaux de nuit“ 80 hausen, und überdies ist das Hafenviertel nur ein Hinterhafen, dem der eigentliche Seehafen vorgelagert ist. Selbst wenn Gracq die Stadt in toto in Blick nimmt, betrachtet er, wie sie mit dem Umland verbunden ist, untersucht er ihre Peripherie. Auffällig ist nicht zuletzt, dass Gracq zwar von der Peripherie zum Zentrum vordringt, aber alsbald wieder zur Peripherie zurückkehrt. Es wäre sicherlich überzogen, wenn man das soziale Umfeld Gracqs - seine Herkunft vom Land, sein Leben im konservativ geprägten Internat - einer Décadence im strikten Sinne des Wortes zuschlagen wollte. Selbst beim Rekurs auf Lotmans Konzept von Peripherie und Zentrum muss man zumindest für La Forme d’une ville einige Abstriche machen. Denn augenscheinlich ist die Gracq’sche Peripherie komplexer als das Lotman’sche Grundmodell. Sie ist im Sinne Lotmans als transgressiver Raum kodiert, aber auch als bäuerlich-internatsmäßige Randständigkeit. Deshalb ist im Gegenzug das Zentrum - bereits Metaphern wie das Herz und Energiezentrum der Stadt deuten darauf hin - nicht bloß ein Hort des Konservativismus. So sehr das Gracq’sche Denken von der Peripherie her bestimmt ist, so wenig kann es sich dem Zentralismus der Großstadtliteratur völlig entziehen. In einer changierenden Weise ist deshalb für Gracq sowohl das Zentrum als auch die Peripherie der Ort der Moderne. Über diesen changierenden und in der Grundorientierung nichtsdestoweniger eindeutigen Charakter ist nicht zuletzt das Verhältnis von Le Rivage des Syrtes und La Forme d’une ville zu bestimmen. Obwohl der frühe Text, 80 Ibid., p. 131. <?page no="118"?> Franziska Sick 118 sofern man die etablierten Raster aufruft, auf der Seite der Décadence und der späte auf der Seite der Großstadtliteratur zu verbuchen ist, sind die Überschneidungen beider Texte nicht zu übersehen. Fraglos ist die Internatswelt nicht so dekadent wie das vor sich hin faulende Orsenna, und dennoch gibt es beträchtliche Schnittmengen. Man beschreibt sie vielleicht am zutreffendsten mit dem Bildvorrat, den Gracq in La Forme d’une ville verwendet. Vorfindlich sind hier wie dort dieselben Stockungszonen der Gesellschaft, ein Klima der Schläfrigkeit, der Administration. Wesensverwandt reagieren Aldo und der adoleszente Gracq hierauf. Beide wollen zuvörderst eines: Sie wollen weg. Aldo bricht ins Feindesland auf. La Forme d’une ville endet damit, dass Gracq seinen Aufbruch nach London beschreibt. Bereits dieser Umstand lässt aufhorchen. Denn unter den Auspizien dieses Aufbruchs kann Nantes nicht länger als Ort der Moderne, als die moderne Großstadt schlechthin gelten, zu der Gracq sie stilisiert. Durchaus signifikant sind die weiteren Umstände dieser Passage. Gracq merkt an, dass er zwischenzeitlich ein Jahr in Paris gelebt habe und bei seinem Aufbruch aus Nantes im Grunde nur auf der Durchreise von Paris nach London gewesen sei. Den Erfahrungshorizont seiner damaligen Lebenssituation und -erwartungen - was macht die Modernität von Paris gemessen an Nantes aus? Was erwartet er von London? - blendet er nahezu vollständig aus, um zu beschreiben, wie er, nachdem er auf der Durchreise bei seiner Großtante in Nantes übernachtet hat, morgens zum Zug aufbricht: Quand je poussai une dernière fois derrière moi la porte du jardinet de la rue Haute-Roche, le jour qui se levait avait cette rémission limpide, bénigne, d’aprèsmatines, encore peuplée par le seul chant des oiseaux, qu’évoque toujours pour moi le titre d’un roman d’André Dhôtel que je n’ai pas lu: Les rues dans l’aurore. Un tramway descendait à vide la route de Rennes, avec le bourdonnement isolé d’une première abeille sur sa ligne de vol. Le vide des rues […] me paraissait magique; […] je marchais dans la ville comme on marche dans les allées mouillées d’un jardin, avant que la maisonnée se réveille. 81 Beschrieben ist damit ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Bild der modernen Großstadt: Anders als etwa bei Butor ist die Stadt kein Text, 82 sondern ein literarisch überformter Ort, geprägt durch einen Text, den Gracq, wie er einräumt, nicht einmal gelesen hat. Wie sich nebenläufig zeigt: Erwartungsräumlich sind bei Gracq nicht nur die Karten, sondern auch die Bücher. Die Erwartung, die Dhôtels Titel weckt, erübrigt in diesem Sinne die Lektüre. Kaum weniger ungewöhnlich sind die Kodes, mit denen Gracq seinen Aufbruch beschreibt. Das vorgeblich moderne Nantes ist in diesem Passus als landschaftlicher, dörflicher, ja sogar hausgemeinschaftlicher Raum kodiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich die häufig zitierte Selbst- 81 Ibid., p. 196sq. 82 Cf. Michel Butor: Die Stadt als Text, Graz / Wien: Droschl, 1992. <?page no="119"?> Stadtlandschaft, Karte im Spannungsfeld von Décadence und Moderne 119 deutung, mit der Gracq diesen Aufbruch kommentiert, neu lesen. Gracq merkt an, dass Nantes für ihn keine mütterliche, sondern eine gebärmütterliche Funktion besessen habe. 83 Auch wenn die Bemerkung darauf abzielt, die Weltoffenheit von Nantes zu betonen, erscheint Nantes zugleich als Ort der Geborgenheit. Das ist ein äußerst ungewöhnliches Epitheton für eine Großstadt. Den üblichen Stereotypen zufolge sind Großstädte fremd, betriebsam, vermasst. In Gracqs finalem Großstadtbild ist selbst die Straßenbahn leer. Es stellt sich die Frage, ob Gracq an dieser Stelle überhaupt das Bild einer modernen Großstadt, einer Großstadt als Ort der Moderne zeichnet. Und in der Tat: Wenn man genau zusieht, haben wir es nicht mit einer Großstadt-, sondern mit einer Aufbruchs- und Wegebeschreibung zu tun. So sehr Gracq auch seiner Großstadt Nantes das Attribut der Moderne einzuschreiben versucht, für ihn ist die Moderne nie ‚vor Ort‘, sondern immer Aufbruch zu einem anderen Ort. Wie sehr dabei der Wege- und (abenteuerhafte) Reiseroman den Großstadtroman überlagert, zeigt sich in der vorstehenden Passage. Sie ist die letzte im Roman, die ein situativ szenisches Gepräge besitzt. In signifikanter Weise endet La Forme d’une ville damit, dass Nantes eine Zwischenstation auf dem Lebensweg, also weniger eine Großstadt als vielmehr ein Bahnhof ist. Wenn auch im Provinzgewand kehrt dieser ‚Großstadt‘-Bahnhof in La Presqu’île wieder, und er bildet nicht zuletzt die Erzählvorlage für Le Rivage des Syrtes. Es war eben dieser Aufbruch zum Bahnhof, den Gracq beim Schreiben dieses Romans vor Augen hatte: […] je me souviens avec une netteté particulière de ce départ; je m’en suis souvenu quand j’ai écrit le début du Rivage des Syrtes. 84 83 Cf. Gracq: La Forme d’une ville (wie Anm. 3), p. 195: „[…] la fonction que remplit la ville [i.e. Nantes] fut pour moi moins maternelle que matricielle: passé mes sept années d’incubation réglementaire, elle me libéra pour un horizon plus large, sans déchirement d’âme et sans drame […].“ 84 Ibid., p. 196. <?page no="121"?> Lydia Bauer Der Künstler als Kartograph. Wahrnehmung und Darstellung des Raums in Georges Perecs La Vie mode d’emploi Einleitung „L’œil suit les chemins qui lui ont été ménagés dans l’œuvre.“ 1 Dieses der Präambel von La Vie mode d’emploi (1978) vorangestellte Zitat aus Paul Klees Pädagogischem Skizzenbuch (1925) verdeutlicht die enge Verbindung von Text, Bild und Karte in Perecs Roman, von der im Folgenden die Rede sein wird. Die Bedeutung von Raumwahrnehmung und Raumdarstellung zeigt sich bereits in den Listen, die Perec für La Vie mode d’emploi angefertigt hat und auf deren Grundlage der Roman konzipiert bzw. konstruiert worden ist. Zu den contraintes zählen unter der Rubrik activité: „se servir d’un plan“, und unter der Rubrik peintures: „cartes et plans“. Schon hier wird ein Zusammenhang zwischen Malerei und Kartographie hergestellt, der für die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts typisch war 2 und der sich in den Aquarellen von Bartlebooth wiederfinden wird. Von Anfang an ist der Roman La Vie mode d’emploi als eine Wegekarte angelegt, die den Leser durch den Text führen soll. Wie bei einer Karte müssen Zeichen und Symbole gedeutet und unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden. Bild und Text müssen in eine Beziehung gesetzt, fiktive Räume „gelesen“ und miteinander verbunden werden. Diesen komplexen Prozess symbolisiert Perec durch das den Roman dominierende Bild des Puzzles. In La Vie mode d’emploi begegnet dem Leser eine Vielfalt von Räumen, die vom Zimmer, über die Wohnung, die Stadt, das Land, den Kontinent bis hin zur gesamten Welt reichen und sowohl real, als auch virtuell, fiktiv und mental sind. Ausgangspunkt des Erzählens in La Vie mode d’emploi ist ein Pariser Wohnhaus in der fiktiven rue Simon-Crubellier Nummer 11, das vom Erzähler Raum für Raum nach dem Prinzip des Rösselsprungs im Schachspiel 1 Georges Perec: La Vie mode d’emploi, Paris: Hachette, 1978, p. 15. 2 Cf. Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln: DuMont, 1998, p. 249. <?page no="122"?> Lydia Bauer 122 durchwandert wird. Es handelt sich um eine Aneinanderreihung von simultanen Momentaufnahmen, die am 23. Juni 1975 kurz vor 20 Uhr festgehalten wurden. Ausgehend von diesem festgelegten Ort und Zeitpunkt eröffnet sich durch die Geschichten der Bewohner des Hauses ein Zeit- und Raumuniversum. Es ist vergleichbar mit dem Aleph (1949) von Borges, jenem Ort, an dem alle Orte der Welt simultan sichtbar werden und den Perec in Espèces d’espaces (1974) mit Portolankarten assoziiert (Abb. 1): Décrire l’espace: le nommer, le tracer, comme ces faiseurs de portulans qui saturaient les côtes de noms de ports, de noms de caps, de noms de criques, jusqu’à ce que la terre finisse par ne plus être séparée de la mer que par un ruban continu de texte. L’aleph, ce lieu borgésien où le monde entier est simultanément visible, estil autre chose qu’un alphabet? 3 Abb. 1 Salvator Oliva. HM 2515. Mediterranean. Portolan Atlas, Marseilles, 1619 (Ausschnitt) Perec war allgemein fasziniert von Landkarten. Bereits als Kind besaß er eine Portolankarte, die in seinem Zimmer hing 4 und vielleicht auch der Anlass war, dass er eine Zeit lang unter dem Titel Le Portulan die Idee verfolgte, Homers Odyssee neu zu schreiben. 5 Auf jeden Fall weckte diese Karte Perecs 3 Georges Perec: Espèces d’espaces, Paris: Galilée, 1974, p. 21. 4 Cf. David Bellos: Georges Perec. Une vie dans les mots, Paris: Seuil, 1994, p. 111. 5 Cf. ibid., p. 299; Jean-Luc Joly: „L’écriture cartographique de Georges Perec“, in: Jeanne Garanne (ed.): Discursive Geographies: Writing Space and Place in French. Géographies <?page no="123"?> Der Künstler als Kartograph 123 Interesse an historischen Land- und Weltkarten. Für Perec bildeten Karten nicht nur den Ausgangspunkt imaginärer Reisen und Fiktionen, sondern sie spielten auch eine wichtige Rolle bei der Konstruktion seiner Texte. Beispielhaft dafür ist eine von ihm angefertigte Karte, die sich in seinen Aufzeichnungen zu 53 jours (1989) findet (Abb. 2). Abb. 2 Georges Perec: 53 jours, Paris: P. O. L., 1989, p. 245. Text- und Kartenproduktion werden von Perec explizit in einen Zusammenhang gebracht. 6 Beide Medien beschäftigen sich mit der Vermessung, Ordnung und Darstellung der Welt und erzeugen eine Fiktion der Überschaudiscursives: l’écriture de l’espace et du lieu en français, Amsterdam, New York: Rodopi, 2005, p. 223-235, hier 224. 6 „La carte est un aleph.“ (Andrée Chauvin: „Cartes et plans: représentations de l’espace et conditions de lecture“, in: Jean-François Chassay (ed.): Cahiers Georges Perec 8: Colloque de Montréal, Bordeaux: Les Castor Astral, 2004, p. 237-253, hier 240). Joly vergleicht Perecs Listen im Cahier des charges mit Portolankarten: „On pourrait encore remarquer, si l’on s’attachait maintenant à la génétique de La vie mode d’emploi telle que le Cahier des charges nous la révèle, c’est-à-dire au laboratoire de l’écriture, que la page qui liste pour un chapitre donné toutes les contraintes à y respecter, ressemble étonnamment au ‚ruban continu de texte’ qui dessine l’espace cartographique sur les portulans.“ (Joly: „L’écriture cartographique de Georges Perec“ (wie Anm. 5), p. 233). <?page no="124"?> Lydia Bauer 124 barkeit. Sowohl Verfahren als auch Gegenstand der Darstellung sind fiktiv. 7 Eine Karte ist wie ein Text nur eine mögliche Interpretation der Welt bzw. eines Ausschnitts der Welt. Karten wie Texte „stellen die Welt selektiv - in Abhängigkeit vom intendiertem Gebrauch - dar.“ 8 So wie ein Text in der Vorstellung des Lesers plastisch entsteht, muss auch die Karte mittels der Imagination von einer zweidimensionalen Fläche auf einen dreidimensionalen Raum übertragen werden. Ihre Anfertigung setzt ebenso „die imaginäre Transposition von Landschaften, Städten und Gebäuden auf eine Fläche und deren materielle Repräsentation in einem Aufschreibesystem“ 9 voraus. Aspekte der Kartenproduktion Den in La Vie mode d’emploi erwähnten Karten wurde bisher kaum Beachtung geschenkt. Zwar wurde das Lesen von Karten in einen Zusammenhang mit dem Puzzlespiel gebracht, 10 die kartographischen Darstellungen selbst, die bis auf wenige Ausnahmen tatsächlich real existieren, wurden jedoch nicht in die Analysen mit einbezogen. 11 Bei den Karten handelt es sich überwiegend um historische Werke, die für die Romanfiguren einen antiquarischen und ästhetischen Wert besitzen und die sich mehr noch als aktuelle Landkarten durch die Kombination unterschiedlicher semiotischer Systeme auszeichnen. Die Nähe zwischen Kartographie und Malerei wird bei diesen Karten besonders deutlich, sowohl was die Darstellungsart angeht als auch ihren Gebrauch. Sie sind Teil von Sammlungen, sie werden von Wissenschaftlern als Dokumente der Zeitgeschichte herangezogen 12 und sie hängen in verschiedenen Zimmern des 7 Cf. Andrea Sick: Kartenmuster. Bilder und Wissenschaft in der Kartografie, Diss., Hamburg, 2003, p. 36. (http: / / deposit.ddb.de/ cgi-bin/ dokserv? idn=969873611&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=969873611.pdf. Zugriff am 14.03.2011). 8 Stephan Günzel: „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (eds.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2008, p. 219-238, hier 230-231. 9 Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München: Fink, 2004, p. 257. 10 Cf. Chauvin: „Cartes et plans: représentations de l’espace et conditions de lecture“ (wie Anm. 6), p. 237-253; Joly: „L’écriture cartographique de Georges Perec“ (wie Anm. 5), p. 223-235. 11 Eine Ausnahme bildet die Magisterarbeit von Simon Miaz, obwohl auch hier die einzelnen Karten nicht im Mittelpunkt der Untersuchung stehen (Simon Miaz: L’Atlas de la mémoire dans l’œuvre de Georges Perec, Neuchâtel, 2010; http: / / doc.rero.ch/ lm.php? url=1000,41,4,20100913082940-NI/ memoire_Miaz.pdf. Zugriff am 14.03.2011). 12 Ausführlich im 80. Kapitel, das sich mit der Frage der Erstentdeckung Amerikas beschäftigt. <?page no="125"?> Der Künstler als Kartograph 125 Hauses als „Gemälde“ an den Wänden. Neben Kartographen finden auch Pläne, Land-, Territorial-, Kontinental- und Weltkarten sowie Atlanten und Geographiebücher Erwähnung. Drei Aspekte, die für die Kartographie wesentlich sind - unabhängig davon, ob es sich um historische oder aktuelle Karten handelt -, spielen auch in La Vie mode d’emploi eine entscheidende Rolle: Auf einer Karte wird der Raum nicht in Originalgröße wiedergegeben, sondern auf eine maßstäblich wesentlich verkleinerte Darstellungsfläche gebracht. Ein Überblick über Städte und Länder kann nur mit Hilfe der Verkleinerung erzeugt werden. Flüsse, Straßen, Eisenbahnlinien und Wege werden typischerweise mit Liniensymbolen dargestellt. Diese Liniensymbole werden in der Legende in einer für die gesamte Karte festgelegten Stärke und Form dargestellt. Die Linienstärke ist somit keine maßstabgerechte Darstellung des Objekts. Will man beispielsweise das Nebeneinander eines Flusses, einer Straße und einer Eisenbahnlinie in einem engen Tal darstellen, so ist der Kartograph gezwungen, zugunsten der Lesbarkeit der Karte auf die maßstabgetreue Darstellung des Tales (der Landschaft) zu verzichten. Dieses Verfahren zählt in der Kartographie zu den Aspekten der Generalisierung. Die Dreidimensionalität des darzustellenden Raumes muss auf eine zweidimensionale Darstellungsfläche gebracht werden. Hierfür werden die geographischen Koordinaten auf ein kartesisches Koordinatensystem abgebildet. Die geographische Landschaft wird schematisiert und abstrahiert; die Karte ermöglicht somit dem Betrachter eine mentale Repräsentation des Raums. Betrachten wir zunächst den Aspekt der Verkleinerung. Der Titel von Perecs Roman verweist bereits auf das gigantische Anliegen des Textes, auf etwa 600 Seiten eine Gebrauchsanleitung für das Leben zu bieten. Der räumliche und zeitliche Umfang der in La Vie mode d’emploi erzählten Geschichten erschließt sich aus dem alphabetisch geordneten und fast schon enzyklopädisch anmutenden Index, der Teil des Paratextes ist. La Vie mode d’emploi ist eine Welt en miniature. Auf die Verkleinerung wird im Roman wiederholt angespielt: vom Puppenhaus von Madame Moreau, über die Miniaturfestung Madame Marcias, das Modell des tour Breidel von Anne Breidel, den Flakon im Badezimmer der Familie Rorschash in Form eines „jeune Atlas portant sur son épaule gauche un globe en réduction“, 13 bis hin zur Miniaturmalerei Marguerite Wincklers. Die Landschaftsbilder von Marguerite Winckler sind von besonderem Interesse, da auch hier kartographische Aspekte im Vordergrund stehen, wie an der Beschreibung des folgenden Bildes im 53. Kapitel deutlich wird: Dans un cadre long de quatre centimètres et large de trois, elles faisait entrer un paysage tout entier avec un ciel bleu pâle parsemé de petits nuages blancs, un 13 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 511. <?page no="126"?> Lydia Bauer 126 horizon de collines mollement ondulées aux flancs couverts de vignes, un château, deux routes au croisement desquelles galopait un cavalier vêtu de rouge monté sur un cheval bai, un cimetière avec deux fossoyeurs portant des bêches, un cyprès, des oliviers, une rivière bordée de peupliers avec trois pêcheurs assis au bord des rives, et, dans une barque, deux tous petits personnages vêtus de blanc. 14 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die frühen Kartenmaler künstlerisch ausgebildet und vor allem Miniaturmaler waren. Auch der zweite genannte Aspekt der Kartenherstellung ist für La Vie mode d’emploi von Bedeutung: die Übertragung des dreidimensionalen (und - schließen wir die Dimension der Zeit mit ein - des vierdimensionalen) Raums auf die plane Fläche der Leinwand bzw. der Buchseite. Um die Gegebenheiten des Raums maßstaborientiert auf eine zweidimensionale Karte zu projizieren, arbeiteten die Kartographen schon sehr früh mit der sogenannten Gitternetzeinteilung. 15 Durch das Gitternetz wird eine Ordnung etabliert und ein Rahmen gesetzt und somit ein Kontrast zur Unordnung und zur Natürlichkeit des festzuhaltenden geographischen Raums gebildet. 16 Alle Figuren des Romans, die mit der Konstruktion, De- oder Rekonstruktion von Bildräumen zu tun haben, arbeiten mit Hilfe einer Gitternetzeinteilung. Über Winckler heißt es, dass er bei der Herstellung der Puzzle mit einem Gitter arbeite, 17 Bartlebooth übt das Aquarellzeichnen zunächst mit Hilfe eines „châssis quadrillé“ 18 und über die einzigen Spuren, die auf der Leinwand Valènes am Ende des Romans sichtbar sind, heißt es: „La toile était pratiquement vierge: quelques traits au fusain, soigneusement tracés, la divisaient en carrés réguliers […].“ 19 Das Gitter stellt einen wichtigen Verbindungspunkt zwischen Malerei und Kartographie dar. In der Renaissance verwiesen emblematische Darstellungen des gerasterten Fensters, durch das der Maler schaut, auf die angewandte Fluchtpunktperspektive. Der Kartograph hingegen wendet dem Fenster den Rücken zu und erstellt „dasjenige Raster, das sich für den Zweck der Karte am besten eignet“. 20 Er orientiert sich an Vermessungsprotokollen und mathematischen Berechnungen. Wir 14 Ibid., p. 309. 15 Das Gitternetz findet sich bereits im 3. Jh. n. Chr. in der chinesischen Kartographie. Die Karten römischer Landvermesser beruhten ebenfalls auf einer Gitternetzeinteilung, die auf der Basis eines Koordinatensystems, das von einem Schnittpunkt zweier rechtwinkliger Achsen ausging, entstand (Knaurs Atlas der Welt, München: Lexikographisches Institut, 1987, p. 100). 16 Cf. Christian Jacob: L’empire des cartes. Approche théorique de la cartographie à travers l’histoire, Paris: Albin Michel, 1992, p. 165. 17 Cf. Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 253. 18 Ibid., p. 154. 19 Ibid., p. 602. 20 Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink, 2007, p. 17. <?page no="127"?> Der Künstler als Kartograph 127 werden im Folgenden sehen, dass das im Roman beschriebene Aquarell von Bartlebooth sowie das geplante Bild von Valène ebenfalls von einer Gitternetzeinteilung ausgehen, die jedoch nicht den Prämissen der Fluchtpunktperspektive, sondern dem kartographischen Distanzpunktverfahren 21 folgt. Sowohl Valène als auch Bartlebooth versuchen Räume auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren. Valène in Form des geplanten Bildes des Hauses und seiner Bewohner, Bartlebooth mit seinen 500 Hafenansichten. Beide legen für ihre Vorhaben einen räumlichen und zeitlichen Rahmen fest, den sie rigoros verfolgen. Schließlich spielt auch das Prinzip der Vereinfachung und das Phänomen der Wiedererkennbarkeit von geographischen Landschaften eine Rolle in La Vie mode d’emploi. Das Lesen und Memorieren von Karten gelingt durch eine Assimilation der geographisch gegebenen Formen mit den geometrischen oder empirischen. Ein Kupferstich des holländischen Kartographen Claes Janszoon Visscher aus dem Jahr 1648 zeigt beispielsweise die Niederlande in Form eines Löwen (Abb. 3). Abb. 3 Claes Jansz. Visscher, „Leo Hollandicus“, 1648. Auch heute sprechen wir vom „Hexagon“ in Bezug auf die Form Frankreichs oder vom „italienischen Stiefel“. Das heißt: Das Erinnern an abstrakte Formen gelingt nur durch die Einordnung einer Form in eine Kategorie 22 - und genau das ist das Prinzip der Gestalttheorie, das in der Präambel von La Vie mode d’emploi beschrieben wird. 21 Zum Distanzpunktverfahren cf. Alpers: Kunst als Beschreibung (wie Anm. 2), p. 126-128. 22 Cf. Jacob: L’empire des cartes (wie Anm. 16), p. 186-187. <?page no="128"?> Lydia Bauer 128 Sowohl Bartlebooth als auch Winckler arbeiten mit der Aufteilung und Klassifizierung des Raums sowie der abstrakten Darstellung wiedererkennbarer Formen und greifen somit auf ein für die Kartographie übliches Verfahren zurück. Winckler zerschneidet die Aquarelle nicht in standardisierte Puzzleteile, sondern beispielsweise in Formen von Ländern und Kontinenten, an denen sich Bartlebooth wiederum beim Zusammensetzen der Puzzles orientiert. Die Rekonstruktion der Puzzles wird somit in einen Zusammenhang mit der Lektüre von Karten gebracht: Au fur et à mesure que Bartlebooth se familiarisait avec les petits morceaux de bois, il se mettait à les percevoir selon un axe privilégié, comme si ces pièces se polarisaient, se vectorisaient, se figeaient dans un mode de perception qui les assimilait, avec une irrésistible séduction, à des images, des formes, des silhouettes familières: un chapeau, un poisson […] ou bien, justement, la découpe de l’Australie, ou l’Afrique, l’Angleterre, la péninsule Ibérique, la botte italienne etc. 23 Karten und Pläne in La Vie mode d’emploi Gleich im ersten Kapitel des Romans begegnet dem Leser zwischen der dritten und vierten Etage des Hauses eine Frau mit einem Plan in der Hand, der sich bei genauerem Hinsehen als aus drei unterschiedlichen Ansichten bestehend erweist. Der erste Plan ist ein Ausschnitt aus dem Pariser Stadtplan, um das Gebäude zu lokalisieren. Beim zweiten handelt es sich um einen Gebäudeschnitt, und der dritte Plan zeigt den Grundriss von Gaspard Wincklers Wohnung: Sur la feuille ont été en fait esquissés non pas un, mais trois plans: le premier, en haut et à droite, permet de localiser l’immeuble, à peu près au milieu de la rue Simon-Crubellier qui partage obliquement la quadrilatère que forment entre elles, dans le quartier de la Plaine Monceau, XVII e arrondissement, les rues Médéric, Jadin, De Chazelles et Léon Jost; le second, en haut et à gauche, est un plan en coupe de l’immeuble indiquant schématiquement la disposition des appartements, précisant le nom de quelques occupants […]; le troisième plan, sur la moitié inférieure de la feuille, est celui de l’appartement de Winckler […]. 24 Von diesen drei genannten Ansichten des Hauses finden wir lediglich eine ansatzweise im Paratext des Romans abgebildet wieder, nämlich den Querschnitt des Gebäudes mit der Angabe der Lage der Wohnungen und der Wohnungsinhaber bzw. Mieter (Abb. 4). Die rue Simon-Crubellier ist zwar eine fiktive Straße, die übrigen Angaben des Arrondissements und der Straßen sind jedoch korrekt, so dass sich das Haus auf dem Pariser Stadtplan 23 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 414. 24 Ibid., p. 20-21. <?page no="129"?> Der Künstler als Kartograph 129 verorten lässt (Abb. 5). Die Zeichnung des Grundrisses der Wohnung von Gaspard Winckler kann lediglich imaginiert werden (Abb. 6). Abb. 4 Perec: La Vie mode d’emploi, p. 603. <?page no="130"?> Lydia Bauer 130 Abb. 5 Abb. 6 Stadtplan von Paris (Ausschnitt). Fiktiver Grundriss der Wohnung von Gaspard Winckler. Schon an diesen ersten Plänen des Romans offenbart sich ein aperspektivisches räumliches Nebeneinander, das sich mit Hilfe der Karte darstellen lässt, sich jedoch dem natürlichen Blick entzieht. Der Betrachter wechselt zwischen Gesamt- und Einsicht sowie Drauf- und Ansicht. Das Erfassen des Hauses erweist sich als eine Fähigkeit zum Lesen von Plänen. Der Gebäudeschnitt lässt sich auch als eine anthropogeographische Karte bezeichnen, da der Einblick in das Haus und die Kenntnis der Tätigkeiten der Bewohner auch das soziale Gefälle innerhalb des Hauses offenbaren. 25 Obwohl Perec in La Vie mode d’emploi mit zahlreichen visuellen Elementen arbeitet, werden keine Bilder, sondern lediglich „Schriftbilder“ gezeigt. Konsequenterweise findet sich in La Vie mode d’emploi auch keine kartographische Abbildung. Die Karten und Pläne sind lediglich in Form von Schrift präsent, wie es an Sonnets Darstellung von La France et des colonies von 1878 und der Portolankarte von François Ollive aus dem Jahr 1664 deutlich wird. Wir haben es hier mit zwei Signaturen zu tun, durch die auf die Kartographen und die Entstehungszeiten der Karten verwiesen wird (Abb. 7, 8, 9, 10). Im Folgenden werden vor allem mittels dieser beiden Karten die Darstellungsformen herausgestellt, die für den Roman La Vie mode d’emploi von Interesse sind. 25 Franziska Sick spricht von einem „soziologischen Schnitt durch die Gesellschaft“ (Franziska Sick: „Stillgestellte Zeit, Tatort und Spur. Zum narrativen Stellenwert der Bildbeschreibung in Georges Perecs La Vie mode d’emploi“, in: Franziska Sick / Christof Schöch (eds.): Zeitlichkeit in Text und Bild, Heidelberg: Winter, 2007, p. 135-154, hier 135). <?page no="131"?> Der Künstler als Kartograph 131 Abb. 7 Perec: La Vie mode d’emploi, p. 259. Abb. 8 L. Sonnet, Nouvelle carte complète illustrée, administrative, historique et routière de la France et des colonies, 1878. <?page no="132"?> Lydia Bauer 132 Abb. 9 Perec: La Vie mode d’emploi, p. 408. Abb. 10 Portulan de François Ollive, 1664 (vue générale) © musée national de la Marine/ A. Fux. Der Wechsel von Perspektive, Maßstab und Darstellungsform Der Perspektivwechsel steht im Vordergrund der Karten von Sonnet und Ollive. Zunächst zur Karte Frankreichs und seiner Kolonien von Sonnet aus dem Jahr 1878 (Abb. 8). Gleich zu Beginn wird eine enge Verbindung von Karte und Schrift hergestellt, da diese Karte von dem Hausbewohner Monsieur Jérôme in einem Karton neben alten Schreibmaschinenfarbbändern entdeckt wird. 26 Die Karte, die uns lediglich durch die Abbildung der Signa- 26 Cf. Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 258. <?page no="133"?> Der Künstler als Kartograph 133 tur und mittels einer Ekphrasis visualisiert wird, verdeutlicht das Zusammenspiel von symbolischer, bildlicher und textlicher Darstellung. Im Zentrum ist eine kartographische Darstellung Frankreichs zu sehen. An den vier Ecken der Karte sehen wir ebensolche Darstellungen der Kolonien und auf der Karte selbst im größeren Maßstab Paris und Umgebung im oberen Teil sowie Korsika im unteren. Im Rahmen dieser einen Karte liegen also bereits sieben unterschiedliche Karten vor. Hierbei zeigt sich darüber hinaus auch die politische Bedeutung der Kartographie. Frankreich steht im Zentrum, während die Kolonien in einem kleineren Maßstab an die Peripherie gesetzt wurden. Die Platzierung der Kolonien in Relation zur Frankreichkarte folgt nicht der geographischen Realität: Tout le centre de la carte représentait la France avec, dans deux encarts, un plan des environs de Paris et une carte de la Corse […]. Aux quatre coins, les Colonies […]. En haut, les armes de vingt villes et vingt portraits d’hommes célèbres y étant nés […]. A droite et à gauche, vingt-quatre petits cartouches, dont douze représentant des villes, huit des scènes de l’histoire de France, et quatre des costumes régionaux […]. 27 Deutlich wird an dieser Karte aber auch das Zusammenspiel von bildlicher und kartographischer Darstellung. Der obere Rand der Karte stellt die Wappen der zwanzig bedeutendsten französischen Städte und - in Form von Miniaturporträts - deren berühmteste Bürger vor. Schließlich erkennen wir am linken und am rechten Zeichenrand zwanzig kleine Kartuschen, von denen zwölf Stadtansichten, acht Szenen der französischen Geschichte und vier regionale Trachten darstellen. Neben den sieben Kartenebenen gibt es demnach vier unterschiedliche Bildebenen, durch welche die Karte auch eine historische und kulturelle Dimension gewinnt. Mit Hilfe dieser Verquickung der Bilder gelingt es, eine gewisse Narrativität zu erzeugen. Die Karte offenbart sowohl einen Mikroals auch einen Makrokosmos. Es handelt sich um die Zusammensetzung unterschiedlicher Bilder, die aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und sowohl einzeln als auch als Ganzes gelesen werden können. 28 Momentaufnahmen in einer Pose erstarrter Figuren, Stadtansichten und Porträts sind wiederum die Elemente, aus denen sich auch der Roman La Vie mode d’emploi zusammensetzt. An dieser Stelle sei zur Illustration kurz das Miniaturbild von Marguerite Winckler erwähnt, welches ihr Mann für sein Probepuzzle zerschneidet. Es zeigt die letzte Entdeckungsreise von John Franklin und ist ähnlich aufgebaut wie die eben erwähnte Karte: […] en fait, le corps principal du dessin représentait un navire, le Fox, pris dans la banquise […]; aux quatre angles du dessin, quatre cartouches montraient respecti- 27 Ibid., p. 260. 28 Cf. Sick: Kartenmuster (wie Anm. 7), p. 49. <?page no="134"?> Lydia Bauer 134 vement la mort de Sir John Franklin […]; les deux navires de l’expédition […]; et la découverte […] du cairn contenant le dernier message laissé […]. 29 Gleiche Phänomene manifestieren sich auf der in La Vie mode d’emploi erwähnten Portolankarte von François Ollive (Abb. 10). Die Portolankarten, die Ende des 13. Jahrhunderts in vielen Ausfertigungen erschienen sind, zeigten das Meer und die Küsten auf einem Netzwerk konzentrischer Strahlen. Sie stellten für Seefahrer eine neue wichtige Orientierungshilfe dar. 30 Die Karten waren so aufgebaut, dass sie je nach Kurs des Schiffes gedreht werden konnten - aufgezeichnete Windrosen dienten der Ausrichtung. Auch die Karte von Ollive zeugt von solch mehrfachem Perspektivwechsel sowie einem Wechsel des Darstellungsmodus. Zunächst die Abbildung des Mittelmeerraums - eine Draufsicht. Dann sieben Perspektivkarten in Form von Hafenstädten und schließlich die bildliche Darstellung von Schiffen, Tieren und Personen - eine Ansicht. Hinzu kommt in der unteren Bildmitte und in einen eigenen Rahmen gesetzt die Signatur des Kartenmachers - ein Bild im Bild. Alle diese Bildräume sind wiederum in einem großen an den Ecken mit Ornamenten verzierten Rahmen vereint, so dass der Eindruck eines Bildes hervorgerufen wird. Es liegen hier somit nicht nur eine Änderung des Maßstabs und ein Perspektivwechsel vor, sondern ebenfalls ein Wechsel der Darstellungsform vom Geometrischen hin zum Figurativen. Beide Karten verdeutlichen somit die Transfiguration der Karte zum Bild, bei dem Maßstäblichkeit keine Rolle mehr spielt. Die Puzzles von Winckler setzen sich wie die Portolankarte von Ollive aus gegenständlichen, geographischen und typographischen Formen zusammen. Gaspard Winckler ist ein Kunsthandwerker, der sich auf Miniaturkunst spezialisiert hat. Gewissermaßen führt er in dem Roman die Arbeit eines Kartographen aus, da er sich nicht an den realen Gegebenheiten orientiert, sondern von den 500 Hafenbildern aus der ganzen Welt, die ihm von Bartlebooth zugeschickt worden sind, ausgeht, um ein großes Puzzle zu erstellen - vergleichbar mit einer Portolankarte, auf der die einzelnen Hafenstädte in eine Verbindung zueinander gebracht werden: „Gaspard Winckler avait évidemment envisagé la fabrication de ces cinq cents puzzles comme un tout, comme un gigantesque puzzle de cinq cents pièces dont chaque pièce aurait été un puzzle de sept cent cinquante pièces […].“ 31 Das letzte Puzzleteil, das Bartlebooth in der Hand hält, ist ein W wie Winckler - die Signatur des Kartographen. Die von Winckler angefertigten Kartenpuzzles aus Holz gab es wirklich. Mit zerschnittenen Landkarten begann 1763 die Geschichte des Puzzlespiels. Der Erfinder war der englische Landkartenzeichner und Kupferstecher John 29 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 252. 30 Cf. Knaurs Atlas der Welt (wie Anm. 15), p. 99. 31 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 418. <?page no="135"?> Der Künstler als Kartograph 135 Spilsbury (1739-1769). Er zerteilte eine auf eine Holzplatte geklebte Landkarte Englands entlang der Grafschaftsgrenzen. Das Puzzlespiel verfolgte zunächst pädagogische Ziele und wurde im Geographieunterricht verwendet. 32 Geert Bekkering verweist darauf, dass in England am Ende des 18. Jahrhunderts 50 bis 80% der Puzzlespiele auf geographischen Darstellungen beruhten. 33 Auch in Frankreich finden sich solche Kartenpuzzles. Der französische Geograph Philippe Buache (1700-1773) klebte die 1722 entstandenen Karten von vier Kontinenten seines Lehrers und Schwiegervaters Guillaume Delisle auf Holzplatten und verarbeitete sie zu Puzzles. 34 Diese enge Verbindung zwischen Puzzles und Landkarten zeigt sich schließlich auch in La Vie mode d’emploi. Die Vermessung des (Erzähl-)Raums oder der Maler als Kartograph Die Bezüge des Romans La Vie mode d’emploi zur Malerei wurden bereits vielfach und ausführlich untersucht. 35 Die Nähe von Literatur und Malerei zur Kartographie blieb dabei allerdings weitestgehend außer Acht. 36 Die Bedeutung der Malerei in La Vie mode d’emploi zeigt sich u.a. in der Tatsache, dass Perec mit Un cabinet d’amateur (1979) ein Buch geschrieben hat, in dem er die 99 Kapitel von La Vie mode d’emploi Gemälden zuordnet, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang zu dem Roman stehen. So wird beispielsweise dem 69. Kapitel von La Vie mode d’emploi, in dem von der Portolankarte im Arbeitszimmer von Cyrille Altamont die Rede ist, das Gemälde Jeune femme au portulan des Malers Carel Fabritius (1622-1654) zugeordnet. Ein solches Bild findet sich meines Wissens nach nicht im Werk von Fabritius, allerdings gibt es einige Gemälde Vermeers, auf denen Frauen vor Landbzw. Seekarten zu sehen sind, 37 wie auf dem Bild Die Malkunst (um 1666) (Abb. 11). Vermeer wird auch gleich in der Präambel von La Vie mode d’emploi erwähnt. Seine Genrebilder werden dort als typische Puzzlemotive bezeichnet. 38 32 Cf. Marcus Frese: Die Gartenkultur im Kinderspiel. Spielzeug und Kinderbuch als Tor zur Gartenwelt, München: Meidenbauer, 2006, p. 102. 33 Cf. Geert Bekkering: „Deutsche Bilder aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf Puzzlespielen“, in: Christa Pieske / Konrad Vanja / Detlef Lorenz et al. (eds.): Arbeitskreis Bild Druck Papier. Tagungsband Ittingen 2004, Münster: Waxmann, 2005, p. 71-85, hier 72. 34 Cf. Jacob: L’empire des cartes (wie Anm. 16), p. 120. 35 Cf. Cahiers Georges Perec 6: „L’œil, d’abord… Georges Perec et la Peinture“, Paris: Seuil, 1996; Jean-Luc Joly (ed.): Cahiers Georges Perec 10: „Perec et l’art contemporain“, Bordeaux: Le Castor Astral, 2010. 36 Darauf verweist auch Joly: „L’écriture cartographique de Georges Perec“ (wie Anm. 5), p. 223. 37 Officer and laughing Girl (1658), Woman in Blue Reading a Letter (1662-1664), Woman with a Lute (1664), Young Woman with a Jug (1664-1665), The Love Letter (1669-1670). 38 Cf. Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 16. <?page no="136"?> Lydia Bauer 136 Abb. 11 Jan Vermeer van Delft, Die Malkunst, um 1666, Kunsthistorisches Museum Wien. Nicht nur bei Altamont, sondern auch im Zimmer von Bartlebooth hängen Karten wie Bilder an den Wänden: eine Nordamerika-, eine Japan- und eine Süd-Pazifik-Karte: Amerika, Asien und Ozeanien finden sich im Zimmer verteilt. Bartlebooth befindet sich gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Karten. Die Verwendung von Karten als Wandschmuck geht auf eine holländische Mode zurück, 39 wie sie sich auf zahlreichen niederländischen Gemälden des 17. Jahrhunderts - so auch bei Vermeer - im häuslichen Bereich wiederfindet. Die Karten sind hierbei nicht nur ein malerisches Motiv, sondern verweisen auch auf ein kartographisches Prinzip, das der Malkunst zugrunde liegt. „Wie die Kartenmaler stellten [die holländischen Maler] zusammengesetzte Bilder her, die nicht aus einem einzigen Blickwinkel wahrgenommen werden konnten“ 40 - mit dem Ziel „einen großen Teil an Wissen und Information über die Welt auf einer Bildfläche zu sammeln.“ 41 39 Cf. Alpers: Kunst als Beschreibung (wie Anm. 2), p. 216. 40 Ibid., p. 219. 41 Ibid. <?page no="137"?> Der Künstler als Kartograph 137 Auf dem Gemälde Vermeers ist ein Maler zu sehen, der eine junge Frau porträtiert, 42 die vor einer Seekarte der Niederlande steht. Diese Karte (der Norden befindet sich rechts) nimmt zwar Bezug auf eine real existierende des Amsterdamer Kartographen Claes Janszoon Visscher aus dem Jahr 1635, erscheint im Bild jedoch als eine gemalte Karte, die im unteren linken Teil die Signatur „I Ver-Meer“ trägt. Dem alten Verfahren der Malerei, der Zentralperspektive, die durch das Schachbrettmuster auf dem Fußboden repräsentiert ist, wird in Form des Bildes das neue Distanzpunktverfahren der Kartographie gegenübergestellt. Diese Verbindung von Kunst und Wissenschaft bzw. von Mal- und Messkunst offenbart sich auch in der Kartusche auf Visschers Karte. Dort stehen sich zwei weibliche allegorische Figuren gegenüber: eine hält ein Lineal und einen Zirkel in der Hand, die andere Palette, Pinsel und eine Stadtansicht. Der Maler Vermeer erscheint durch seine Signatur auf dem Bild als Kartenmaler und Weltbeschreiber. 43 Descriptio und inscriptio sind in dem Bild gleichermaßen präsent. „Wie ein Landvermesser befindet sich der Maler mitten in der Welt, die er wiedergibt.“ 44 Genau das ist auch der Fall bei den Bildern von Bartlebooth und Valène. Die Kunstprojekte von Bartlebooth und Valène Bartlebooth und Valène bewegen sich bei der Durchführung ihrer künstlerischen Projekte auf unterschiedliche Weise, da Valène mental, Bartlebooth dagegen physisch den Raum durchmisst. Gleichzeitig können wir zwischen einer Bildbeschreibung des Mikrokosmos des Hauses und der des Makrokosmos der Welt unterscheiden. Ausgangs- und Endpunkt ihrer Reisen sind in beiden Fällen das Haus in der rue Simon-Crubellier und ein abstraktes Koordinatensystem von Raum und Zeit. Der zweite Leitgrundsatz des Projekts von Bartlebooth lautet: „[…] l’entreprise ferait fonctionner le temps et l’espace comme des coordonnées abstraites où viendraient s’inscrire avec une récurrence inéluctable des événements identiques se produisant inexorablement dans leur lieu, à leur date.“ 45 Nachdem Bartlebooth sich zehn Jahre lang beim Maler Valène in die Kunst des Aquarellmalens hat einführen lassen, reist er zwanzig Jahre lang mit seinem Diener um die Welt, um 500 Hafenansichten zu malen. 46 Als einziger Grund des Reisens wird das Malen der Aquarelle angegeben. 47 Im Roman wird Bartlebooth explizit als Maler bezeichnet. So heißt es über eines 42 Es handelt sich um eine Darstellung von Clio, der Muse der Geschichtsschreibung. 43 Cf. Alpers: Kunst als Beschreibung (wie Anm. 2), p. 219. 44 Ibid., p. 286. 45 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 157. 46 Bartlebooth’ Ziel ist es, „décrire […] non la totalité du monde […] mais un fragment constitué de celui-ci: face à l’inextricable incohérence du monde […].“ (Ibid., p. 156). 47 Cf. ibid., p. 84. <?page no="138"?> Lydia Bauer 138 seiner Aquarelle: „[…] la silhouette sombre d’un homme en cape montant trois marches menant à une jetée, à demi retourné dans la direction du peintre […].“ 48 Bartlebooth steuert wie ein Seefahrer die Häfen der vier Weltmeere an. Im 18. Kapitel spricht der Erzähler sogar von einer „circumnavigation“. 49 Lediglich ein Reiseweg von Bartlebooth wird etwas präziser dargestellt: seine Fahrt von Bombay nach Bandar, zu den Andaman-Inseln, zurück nach Madras, weiter nach Ceylon, Malakka, Borneo, Celebes, Mindanao, Luçon, Formosa und zurück nach Palawan (Abb. 12). Abb. 12 Der eingezeichnete Reiseweg von Bartlebooth auf der Basis der Karte des Indischen Ozeans von Uwe Dedering. Der Reiseweg von Bartlebooth ist nicht direkt. Ebenso wie die Zimmer des Hauses in der rue Simon-Crubellier nicht Etage für Etage und Zimmer für Zimmer durchwandert werden, sondern dem Rösselsprungprinzip auf einem aus 100 Feldern bestehenden Schachbrett folgen (Abb. 13), erweist sich die Reiseroute von Bartlebooth als Zickzackweg. Da Bartlebooth alle fünf Kontinente bereist, könnte man davon ausgehen, dass er pro Kontinent 100 Marinas malt und seiner Reise durch die Welt ein ähnliches Bewegungsmuster zugrundelegt wie der Erzähler von La Vie mode d’emploi. Dieser Erzähler ist wiederum der Maler Valène, wie es von Franziska Sick überzeugend nachgewiesen worden ist. 50 Somit führen beide Maler - der Amateur und 48 Ibid., p. 418. 49 Ibid., p. 95. 50 Zumindest im 8. Kapitel von La vie mode d’emploi wird deutlich, dass „der ‚wir‘ sagende Erzähler identisch mit dem Maler Valène ist.“ (Franziska Sick: „Bildbeschreibung als Signatur. Zur Verortung des Erzählers in La Vie mode d’emploi von Georges Perec“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 33 (2009), p. 147-168, hier 151). <?page no="139"?> Der Künstler als Kartograph 139 der Professionelle - im Roman für die Verwirklichung ihrer Lebenswerke die gleiche Bewegung aus. Die fertigen Aquarelle schickt Bartlebooth nach Paris, wo sie von dem Kunsthandwerker Gaspard Winckler zu Puzzles verarbeitet werden, die Bartlebooth nach seiner Rückkehr wieder zusammenzusetzen beginnt. Abb. 13 Der Parcours des Erzählers durch die Räume des Hauses in der Rue Simon- Crubellier Nummer 11. Während der Darstellungsraum von Bartlebooth die ganze Welt ist, wählt Valène als Darstellungsraum die Stadt Paris und konkret das Haus in der rue Simon-Crubellier Nr. 11. Valène erstellt ein Profil des Hauses, in dem er sich jeden einzelnen Raum vorstellt und sich an die Bewohner und ihre Geschichten erinnert. Sein Werk ist ein gigantisches Erinnerungswerk, in dem Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander verschmelzen <?page no="140"?> Lydia Bauer 140 und das am Ende des Romans in Form des Romans La Vie mode d’emploi vollendet ist, obwohl das geplante Bild nie fertig gestellt, ja nicht einmal wirklich begonnen wurde: Valène, parfois, avait l’impression que le temps s’était arrêté, suspendu, figé autour d’il ne savait quelle attente. L’idée même de ce tableau qu’il projetait de faire […] de cet immeuble éventré montrant à nu les fissures de son passé, l’écroulement de son présent, cet entassement sans suite d’histoires grandioses ou dérisoires, frivoles ou pitoyables […]. 51 Wie wir dem auf der Leinwand skizzierten Schachbrettplan entnehmen können, plant Valène sein Bild auf der Grundlage eines Gebäudeschnitts. Die einzelnen Zimmer werden erzähltechnisch vermessen und sollen auf der Leinwand wiedergegeben werden. Dieser simultane Blick auf die Räume zum selben Zeitpunkt ist ein virtueller. Wie bei einer Karte soll ein zweidimensionaler Bildraum geschaffen werden, den das Auge selbst nicht erfassen kann. Es gibt keinen feststehenden Beobachtungspunkt, sondern es werden unterschiedliche Blickwinkel eingenommen, ohne dass es zu Verzerrungen und toten Winkeln kommt. Alles zusammen soll wiederum eine Totalansicht bieten. 52 Das geplante Bild von Valène und die zum Teil realisierten Aquarelle von Bartlebooth können als Kartengemälde bezeichnet werden, d.h. als kartographische Darstellungen, die mit den Ausdrucksmitteln der Malerei ausgeführt werden, wie an dem im Folgenden angeführten Aquarell von Bartlebooth besonders deutlich wird. Beide Künstler signieren ihre Werke und sind somit abwesend und anwesend zugleich. Bartlebooth, indem er sie auf Papier mit seinem Wasserzeichen malt, Valène, indem er sich - ähnlich wie der Maler Vermeer in Die Malkunst - in das Bild mit einbeziehen möchte. Das letzte Puzzle von Bartlebooth Über die Aquarelle von Bartlebooth erfahren wir bis zum letzten Kapitel des Romans bis auf wenige Andeutungen nichts. Lediglich das Puzzle, das Bartlebooth kurz vor seinem Tod noch versucht zu Ende zu stellen, wird in Form einer Ekphrasis wiedergegeben. Die Tatsache, dass Bartlebooth Aquarelle malt, verweist bereits auf die alte Kartographie. Die Wasserfarbe ist ein Medium, „das es erlaubt, gleichzeitig zwei widersprüchliche Rollen zu erfüllen: Zeichnung als Beschriftung (die Wiedergabe auf einer Fläche) und Zeich- 51 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 168. 52 Zu dieser Unterscheidung zwischen kartographischer und malerischer Darstellung cf. Wolfgang Schäffner: „Topographie der Zeichen. Alexander von Humboldts Datenverarbeitung“, in: Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner (eds.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jh., Berlin: Akademie, 2000, p. 359-382, hier 361. <?page no="141"?> Der Künstler als Kartograph 141 nung als Bild (die Wiedergabe dessen, was man gesehen hat)“. 53 Doch nicht nur die Maltechnik, auch der Gegenstand des Bildes verdeutlicht die enge Beziehung zwischen Malerei und Kartographie. Bartlebooth’ Aquarell manifestiert den Übergang von einer Stadtansicht hin zur Landkarte und von einer Bildkarte wiederum zu einer topographischen Karte: Il représente un petit port des Dardanelles près de l’embouchure de ce fleuve que les Anciens appelaient Maiandros, le Méandre. La côte est une bande de sable, crayeuse, aride, plantée de genêts rares et d’arbres nains; au premier plan, à gauche, elle s’évase en une crique encombrée de dizaines et de dizaines de barques aux coques noires dont les mâtures grêles s’enchevêtrent en un inextricable réseau de verticales et d’obliques. Derrière, comme autant de taches colorées, des vignes, des pépinières, des jaunes champs de moutarde, de noirs jardins de magnolias, de rouges carrières de pierre s’étagent au flanc de côteaux peu abrupts. Au delà, sur toute la partie droite de l’aquarelle, loin déjà à l’intérieur des terres, les ruines d’une cité antique apparaissent avec une précision surprenante: miraculeusement conservé pendant des siècles et des siècles sous les couches d’alluvions charriées par le fleuve sinueux, le dallage de marbre et de pierre taillée des rues, des demeures et des temples, récemment mis à jour, dessine sur le sol même une exacte empreinte de la ville: c’est un entrecroisement de ruelles d’une étroitesse extrême, plan, à l’échelle, d’un labyrinthe exemplaire fait d’impasses, d’arrière-cours, de carrefours, de chemins de traverse, enserrant les vestiges d’une acropole vaste et somptueuse bordée de restes de colonnes, d’arcades effondrées, d’escaliers béants ouvrant sur des terrasses affaissées, comme si, au cœur de ce dédale presque déjà fossile, cette esplanade insoupçonnable avait été dissimulée exprès, à l’image de ces palais des contes orientaux où l’on mène la nuit un personnage qui, reconduit chez lui avant le jour, ne doit pas pouvoir retrouver la demeure magique où il finit par croire qu’il n’est allé qu’en rêve. Un ciel violent, crépusculaire, traversé de nuage rouge sombre, surplombe ce paysage immobile et écrasé d’où toute vie semble avoir été bannie. 54 Das beschriebene Bild gleicht zunächst einer topographischen Hafenansicht, wie wir sie häufig in der niederländischen Malerei des späten 16. und 17. Jahrhunderts finden, so zum Beispiel auch im Kartenbuch des Mittelmeeres von Willem Barentsz. (Abb. 14). Das Spezifische dieser Ansichtspläne war, dass sie nicht auf eine Linear- oder Zentralperspektive beschränkt waren, sondern sich aus unterschiedlichen perspektivischen Ansichten zusammensetzten und somit die „kontemplative Schau eines geordneten Ganzen mit der spielerischen Erkundung des Partikularen“ 55 ermöglichten. 53 Alpers: Kunst als Beschreibung (wie Anm. 2), p. 272-273. 54 Perec: La Vie mode d’emploi (wie Anm. 1), p. 596-597. 55 Christian Moser: „Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt“, in: Achim Hölter / Volker Pantenburg / Susanne Stemmler (eds.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, Bielefeld: transcript, 2009, p. 25-49, hier 33. <?page no="142"?> Lydia Bauer 142 Abb. 14 Titelblatt. In: Willem Barentsz., Kartenbuch des Mittelmeeres (Nieuwe beschryvinghe ende Caertboek Vande Midlandtsche Zee), Amsterdam 1595. Courtesy Het Scheepvaartmuseum, Amsterdam, The Netherlands. Das Aquarell von Bartlebooth weist ebenfalls keinen einheitlichen Standpunkt des Betrachters auf. Im Vordergrund seines Bildes befinden sich unzählige Boote und Masten. Wie auf einer Portolankarte sieht der Betrachter ein Strahlennetz aus Vertikalen und Schrägen. Die eingenommene Perspektive ist also zunächst die des Teilhabers am Hafengeschehen. Die antike Stadt, die weit im Innern des Landes liegt wäre aus diesem Blickwinkel nicht sichtbar. Es findet also innerhalb der Ekphrasis ein Perspektivwechsel statt. Das Aquarell offenbart die Kunst des Kartographen. Dieser nimmt einen virtuellen Standpunkt „außerhalb des gegebenen und darzustellenden Raumes“ 56 ein. Auch der Blick auf die Topographie der antiken Stadt, die sich in Form einer empreinte in die Landschaft eingeschrieben hat, ist ein virtueller. Die von Bartlebooth gemalten Überreste dieser Stadt verweisen auf die Form eines Labyrinths, d.h. auf eine organisch gewachsene Stadt im Gegensatz zum Topos der Städte, die auch als „Raster-, Gitter-, Schachbrett- oder Reißbrettstädte“ 57 bezeichnet werden. Das Bild von Bartlebooth ist ähnlich aufgebaut wie der eingangs erwähnte Plan des Hauses in der rue Simon-Crubellier. 56 Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte (wie Anm. 9), p. 257. 57 Ibid., p. 249. <?page no="143"?> Der Künstler als Kartograph 143 Hier wie dort wechselt der Betrachter zwischen Gesamt- und Einsicht sowie Drauf- und Ansicht. Wurde die Landschaft nur grob durch Farbkleckse wiedergegeben, wird im Anschluss auf die „überraschende Genauigkeit“ des maßstabgerechten Stadtplans verwiesen, in dem nun Kreuzungen, Sackgassen, Seitenwege etc. sichtbar werden. Das Labyrinth, in dem sich der Stadtbesucher verläuft, verliert seine Undurchschaubarkeit und wird übersichtlich. 58 Aus dem dreidimensionalen geographischen Raum entsteht ein zweidimensionales Bild. Die Karte rekonstruiert einen Raum, ordnet ihn und optimiert somit seine Lesbarkeit und Sichtbarkeit. 59 Zusammenfassend lässt sich dieses Aquarell als ein Kartengemälde beschreiben, da hier die topographische Darstellung mit den Ausdrucksmitteln der Malerei realisiert wird. Der Künstler Bartlebooth arbeitet mit unterschiedlichen Perspektiven und mit Generalisierungen. Die antike Stadt ist zwar maßstabgerecht dargestellt, dies gilt jedoch nicht in Relation zu der sie umgebenden Landschaft. Stadtplan, topographische Karte und Hafenansicht werden zu einem Bild zusammengefasst. Eine ähnliche Strukturierung und Optimierung des Raums erfolgt, wenn Valène versucht, die zahlreichen Geschichten, die sich in seinem Haus ereignet haben, in Form einer auktorialen Perspektive in das auf seiner Leinwand skizzierte Raster einzuordnen bzw. wenn Georges Perec den Roman La Vie mode d’emploi auf der Grundlage eines Schachbrettmusters entwirft und somit der Kontingenz des Daseins 60 die ästhetische Kunstform gegenüberstellt. Der Konstruktion eines Puzzles vergleichbar, handelt es sich um den Versuch, aus dem Chaos Ordnung zu erzeugen, sich zwischen Amorphismus und Struktur zu bewegen. 61 Schluss Bild und Text sind Bestandteile der Karte ebenso wie des Romans, in dem die Schriftzeichen mit einer bildhaften Typographie korrelieren. Der Linearität und Abfolge der Sprache steht die zweidimensionale Karte gegenüber, auf der unterschiedliche Elemente simultan präsent sind. 62 Die Raumgeschichten von Valène und die Raumbilder von Bartlebooth bilden zwei Seiten der descriptio; beide Künstler greifen auf Techniken der Kartographie 58 Cf. Michel de Certeau: L’invention du quotidien. I Arts de faire, Paris: Gallimard, 1990, p. 140-141. 59 Jacob: L’empire des cartes (wie Anm. 16), p. 49. 60 „Le monde, sans la carte, n’a pas de contour, pas de limite ni de forme ni de dimension.“ (Ibid., p. 51). 61 Cf. ibid., p. 121. 62 Cf. ibid., p. 44. <?page no="144"?> Lydia Bauer 144 zurück. Wie für die Gestalttheorie und für das Puzzle so gilt auch für die Karte, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. 63 La Vie mode d’emploi ist ein Kartenbuch, ein Atlas, 64 in dem sowohl das Ganze - die Welt, das Universum - als auch die Teile - Landkarten, Stadtpläne, thematische Karten etc. - vorhanden sind. Der Roman erfordert einen ständigen Perspektivwechsel. Zum einen steckt der Leser im Erzähllabyrinth, zum anderen ermöglicht ihm der „paratextuelle […] Plan“ 65 eine Orientierung. Romane und Karten sind Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben, sie zu begreifen, und sie stellen nicht zuletzt den Versuch dar, die Welt erneut zu erschaffen. Der Wechsel von Perspektiven, der Übergang vom Mikroskopischen zum Makroskopischen sowie die Verwendung von Zeichen und Symbolen ermöglichen es, Unsichtbares sichtbar zu machen und die Illusion einer Gesamtsicht zu erstellen. Wir können die Maler Bartlebooth und Valène als Kartenmaler bezeichnen, die - wenn auch aus unterschiedlicher Motivation - die Welt im Großen wie im Kleinen räumlich und zeitlich vermessen und auf einer Leinwand festhalten bzw. festhalten wollen. Wie eine Landkarte, so ist auch La Vie mode d’emploi nur ein Modell des Raums. Die Darstellung des Hauses entspricht nicht unserem natürlichen Wahrnehmungsvermögen, sondern ist wie eine Karte ein Artefakt, das uns die Orientierung in der Geschichte und der Literaturgeschichte ermöglicht. Der Erzähler von La Vie mode d’emploi ist nicht nur ein Maler der Welt, sondern auch ihr Kartograph. Wie der Künstler Vermeer mit seiner Allegorie der Malerei erzählt er Fremdes nach - so erfahren wir im Post-Skriptum von den Texten, die in La Vie mode d’emploi verarbeitet wurden - und versieht es mit der eigenen Signatur. Er tritt somit in einen Dialog mit Geschichte und Kunstgeschichte, verbindet Altes mit Neuem und thematisiert den eigenen Schaffensprozess. 63 Zumthor schreibt hierzu: „Semantisch gesehen, ähnelt die Karte […] einem ‚Text‘, indem die global produzierte Bedeutung sich nicht auf die Summe der verschiedenen Einzelbedeutungen reduzieren läßt, die durch jedes ihrer Teile oder jedes ihrer Elemente geschaffen werden.“ (Paul Zumthor: „Mappa Mundi und Performanz. Die mittelalterliche Kartographie“, in: Jan-Dirk Müller (ed.): „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1996, p. 317-327, hier 320). 64 Cf. Miaz: L’Atlas de la mémoire dans l’œuvre de Georges Perec (wie Anm. 11). 65 Sick: „Bildbeschreibung als Signatur“ (wie Anm. 50), p. 152. <?page no="145"?> Stephanie Müller Schreiben nach Plan. Paris als oulipistischer Raum in Texten von Raymond Queneau, Jacques Roubaud und Georges Perec Et sans un plan sous les yeux On ne nous comprendra plus Car tout ceci n’est que jeu [...] Raymond Queneau 1 Dass der Surrealismus für die Entstehung des Ouvroir de littérature potentielle, kurz Oulipo genannt, als Gegenmodell fungierte, ist gemeinhin bekannt. Die spezifische Arbeitsweise Oulipos lässt sich entsprechend erklären aus dem Versuch des oulipistischen Gründungsvaters Raymond Queneau, eine Wiederholung der Erfahrungen, die er während seiner eigenen, von 1925-29 dauernden surrealistischen Phase gemacht hat, systematisch auszuschließen. Der Surrealismus möchte den viel zitierten Formulierungen des Premier Manifeste zufolge unter Ausschluss jeder Kontrolle durch die Vernunft einen psychischen Automatismus freisetzen, der den Zugang zum wirklichen Funktionieren des Denkens und damit zur surréalité eröffnet. In literarischer Hinsicht mündet dieses Programm in die Technik der écriture automatique und setzt statt auf Intentionalität auf den Zufall als Quelle der Inspiration. Auch wenn diese knappe Darstellung den Surrealismus auf seine gängigsten Schlagwörter reduziert, kann sie als Erklärung dafür dienen, dass die Gruppe Oulipo der Auffassung ihrer Mitglieder zufolge für sich beanspruchen kann, „le plus grand ennemi de la démarche surréaliste“ 2 zu sein. Wo der Surrealist sich dem Unbewussten anheim gibt, will der Oulipien mit größter Bewusstheit agieren; anstelle des Zufalls soll die Notwendigkeit regieren; seine Freiheit opfert der Oulipien bereitwillig dem Gehorsam gegenüber der Regel. Er glaubt nämlich gar nicht an die Möglichkeit spontaner und absoluter Freiheit, eine Vorstellung, die geradezu als „intellectuellement 1 Raymond Queneau: „Amphion“, in: Id.: Œuvres complètes, vol. I, ed. Claude Debon, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1989, p. 41. 2 Hervé Le Tellier: Esthétique de l’Oulipo, Bordeaux: Le Castor Astral, 2006, p. 25. <?page no="146"?> Stephanie Müller 146 débile“ 3 verschmäht wird. Statt dessen gilt die beliebige, dafür aber bewusste, selbst auferlegte Regel - im oulipistischen Sprachgebrauch contrainte genannt - als das beste, weil einzige Mittel, um zu verhindern, dass der Schriftsteller statt dessen den vielen nicht durchschauten, unbewussten Regeln gehorcht und sich dabei noch frei wähnt. Es ist gerade die Einschränkung durch die Regel, die die Kreativität in Gang setzt, wohingegen eine vermeintliche Freiheit unweigerlich zur mechanischen Wiederholung des immer Gleichen führe. Soweit die Quintessenz der oulipistischen Ästhetik. Der hier deutlich hervortretende poetische Antagonismus zwischen Oulipo und dem Surrealismus lässt sich leicht auf deren jeweilige urbane Praxis übertragen. Paris gilt seit jeher als das Terrain der Surrealisten. In ihrem Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzulösen, favorisieren die Surrealisten eine Form des Stadterlebens, die analog zum Schreiben unkontrolliert verläuft. Weder zweckgebunden noch zielgerichtet bewegt der Surrealist sich durch den städtischen Raum. Statt sich in die streng kausal-logische Verkettung der Ereignisse einbinden zu lassen, ist er offen für die vom Zufall herbeigeführte Begegnung. Damit ist der Surrealist zweifellos ein Flaneur. Und umgekehrt kann Harald Neumeyer zufolge der Flaneur geradezu als „Agent der surrealistischen Ästhetik“ 4 angesehen werden. Im Surrealismus erfahre der Typ des Flaneurs eine spezifische Konkretisierung, denn, so Neumeyer, [d]ie programmatische Wertschätzung des Zufalls bei den Surrealisten treibt an der Flanerie gerade dieses Moment als zentrales hervor. Und insofern Gehen wie Sehen des Flaneurs vom Zufall bestimmt sind, erweist sich umgekehrt die Flanerie als ideale surrealistische Tätigkeit und der Flaneur als Idealtyp des Surrealisten. 5 Jacques Baron etwa beschreibt in L’an premier du surréalisme seine Stadterfahrung als eine in der Gruppe stattfindende „promenade interminable“, die ohne konkretes Ziel unternommen wird, auf der Suche nach einem undefinierten und undefinierbaren „objet perdu“, einem „secret perdu“. Der Verlauf dieser „pérégrinations citadines“ ist durch nichts determiniert, im Gegenteil: „Toute idée de système [était] exclue.“ 6 Als Träger oulipistischer Konzepte ist der Flaneur dagegen denkbar ungeeignet, ist doch der Grundsatz: „nous sommes essentiellement antihasard“ 7 aus dem oulipistischen Selbstverständnis nicht wegzudenken. 3 Jacques Roubaud: „L’Oulipo et l’art combinatoire“, Giallu. Revue d’Art et de sciences humaines (1994), n° 3, p. 5-16, hier 11. 4 Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999, p. 274. 5 Ibid., p. 275. 6 Jacques Baron: L’An premier du surréalisme suivi de l’an dernier, Paris: Denoël, 1969, p. 83sq. 7 Claude Berge zit. nach Le Tellier: Esthétique de l’Oulipo (wie Anm. 2), p. 29. <?page no="147"?> Schreiben nach Plan 147 „L’auteur oulipien est un rat qui construit lui-même le labyrinthe dont il se propose de sortir“, 8 lautet die vielfach zitierte Definition, die die Mitglieder der Gruppe sich selber gegeben haben. Stellt man nun die Frage nach einer spezifisch oulipistischen urbanen Praxis, bedeutet dies, die räumliche Metapher wörtlich zu nehmen, den Oulipien in das Labyrinth der Stadt zu versetzen und zu untersuchen, wie er sich darin bewegt. Jacques Roubaud, Oulipien seit 1966, der sich zudem selber als „marcheur“ portraitiert, unterscheidet zwischen zwei Verfahren, sich durch den Stadtraum zu bewegen: Dans la marche machinale, sans but assigné, les pas prennent machinalement les chemins routiniers, suivent les pas de la veille, des mois anciens. C’est l’écriture automatique du marcheur, à la surface des villes que l’on croit connaître, parce qu’on y vit [...]. 9 Wie die Surrealisten stellt auch Roubaud die zufallsgeleitete Bewegung durch den Stadtraum in ein klares Analogieverhältnis zum psychischen Automatismus, ebenso wie zur écriture automatique, nur dass das Verfahren in seinen Augen eben nichts Verborgenes zutage fördert, sondern in Mechanik und Routine mündet. Vorzuziehen wäre dagegen in seinen Augen eindeutig die oulipistische Variante: Le hasard dans la marche m’est peu attirant, comme il ne l’était guère en littérature pour mon maître Raymond Queneau. [...] C’est pourquoi j’ai un goût très vif pour les parcours obligés, où l’itinéraire, non prévisible à l’avance au sens où je ne le connaîtrais, est néanmoins nécessaire, dès lors que la ou les règles qui guideront mes pas auront été par moi choisies. 10 Auch und gerade im Raum erlaubt der Oulipien sich also kein laisser-aller. Dabei sind die Möglichkeiten, einen parcours à contrainte zu definieren, nahezu unbegrenzt. Der Fußgänger kann sich auferlegen, an jeder grünen Ampel die Straße zu überqueren, bei jeder dritten Kreuzung nach rechts abzubiegen, nur überdachte Wege zu gehen, nur Straßen zu wählen, deren Namen mit demselben Buchstaben beginnen oder eine thematische Einheit bilden, etwa die von Städten oder Komponisten. Damit überträgt der Oulipien seine Schreibtechniken auf urbane Praktiken und folgt gleichzeitig einer Tendenz zur Generalisierung, die der Gruppe schon immer inhärent ist, indem sie sich als spezielle Realisierung eines allgemeinen Ou-x-po begreift, wobei x zum Statthalter diverser Praktiken werden kann - und bereits wurde -, von der Architektur bis zur Kochkunst. Deutlich wird jedoch, dass bei der Bewegung durch den urbanen Raum wie auch in jedem anderen denkbaren Bereich, die Anwendung der Regel die Erkundung neuer Möglichkeiten mit sich bringt. Diese oulipistische Herange- 8 Roubaud: „L’Oulipo et l’Art combinatoire“ (wie Anm. 3), p. 11. 9 Id.: Poésie, Paris: Seuil, 1993, p. 125. 10 Id.: Le grand incendie de Londres, Paris: Seuil, 1989, p. 133-134 (Herv. S.M.). <?page no="148"?> Stephanie Müller 148 hensweise steht in auffälliger Nähe zu den Überlegungen, die Michel de Certeau in seiner Untersuchung Arts de faire über die Bedeutung von Alltagspraktiken angestellt hat. Certeau unterscheidet grundsätzlich zwischen den beiden Polen einer vorgegebenen Ordnung und einer tatsächlichen Performanz. Die Ordnung steckt den Rahmen ab, in dem die diversen Praktiken zur Anwendung kommen. Diese erschöpfen sich aber nicht darin, die Ordnung passiv zu bestätigen, sondern verfügen als performative Akte über ein eigenes kreatives Potential, in dessen Macht es steht, das System zu erweitern oder gar zu subvertieren. Bezeichnenderweise verdeutlicht Certeau diesen Gedanken am Beispiel des traditionellen poetischen Regelwerks. [...] cet ordre serait l’équivalent de ce que les règles de mètre et de rime étaient pour les poètes d’antan: un ensemble de contraintes stimulant des trouvailles, une réglementation dont jouent les improvisations. 11 Gerade in der hier gewählten Formulierung eines „ensemble de contraintes stimulant des trouvailles“ zeigt sich aber, dass auch Certeau eine Lektüre zulässt, derzufolge die Kreativität der Praxis sich nicht nur gegen die Ordnung behauptet, sondern sich ihr geradezu verdankt. Certeaus Vorgehensweise ist derjenigen Oulipos auch darin vergleichbar, dass er die Sprache, hier in ihrer Opposition zwischen dem System von Regeln und der Performanz im jeweiligen Sprechakt, als grundlegend betrachtet und in der Folge paradigmatisch auf andere Praktiken überträgt. Dies wird besonders deutlich in dem Kapitel, das der Autor den „Praktiken im Raum“ und hier vor allem dem „Gehen in der Stadt“ widmet. […] un ordre spatial organise un ensemble de possibilités [...] et d’interdictions [...], le marcheur actualise certaines d’entre elles. [...] d’un côté, il ne rend effectives que quelques-unes des possibilités fixées par l’ordre bâti (il va seulement ici, mais pas là), de l’autre il accroît le nombre des possibles (par exemple, en créant des raccourcis ou des détours) et celui des interdits (par exemple, il s’interdit des chemins tenus pour licites ou obligatoires). 12 Diese Wahl des Fußgängers, der mal mehr, mal weniger realisiert, als das System der Stadt ihm vorgibt, bezeichnet Certeau als die „rhétorique de la marche“. Spezifisch oulipistisch ist es nun, die Wahl der innerhalb eines Regelsystems - egal ob Sprache oder Stadtraum - realisierten Möglichkeiten selber wieder der Systematik einer Regel, nämlich der contrainte zu unterstellen. In oulipistischer Manier lässt sich also nicht nur schreiben; auch der reale Stadtraum kann nach Prinzipien erkundet werden, die aus dieser Schreibweise abgeleitet werden. Was passiert nun aber, wenn Schreiberfahrung und 11 Michel de Certeau: „Introduction générale“, in: Id.: L’invention du quotidien. 1. Arts de faire, Paris: Gallimard (coll. folio), 1990, p. XXXV-LII, hier L. 12 Id.: L’invention du quotidien (wie Anm. 11), p. 149. <?page no="149"?> Schreiben nach Plan 149 Stadterfahrung, die hier zu analytischen Zwecken zunächst getrennt wurden, sich miteinander verbinden? Etliche Arbeiten der Gruppe Oulipo oder ihrer einzelnen Mitglieder lassen sich als ein va-et-vient zwischen Text und Stadt beschreiben. Einerseits gehen oulipistische Texte in den konkreten Stadtraum ein und gestalten diesen; als Beispiele hierfür können etwa das oulipistische Gedicht an der Fassade der Universitätsbibliothek von Vincennes / Saint-Denis oder die Haltestellenschilder der Tram in Straßburg dienen, sowie seit 2010 die Esplanade Charles de Gaulle in Rennes, wo in Erinnerung an die Zeit, als le passage clouté - der Fußgängerüberweg - statt mit weißen Streifen tatsächlich noch mit den runden Köpfen der in den Boden eingelassenen Nägel markiert wurde, diese - hier mit Worten versehen - einen vorwärts wie rückwärts passierbaren Parcours über den Platz bilden, in dessen Verlauf ein Text entsteht. Andererseits geht natürlich auch die Stadt und vor allem Paris als Thema in diverse oulipistische Texte ein. Anhand der folgenden Analyse einiger Paris-Gedichte von Raymond Queneau, Jacques Roubaud und Georges Perec lässt sich zeigen, dass gerade die oulipistischen Verfahren eine Form der Stadtdarstellung favorisieren, die mit dem Begriff der Kartizität beschrieben werden kann. Raymond Queneaus Beschäftigung mit Paris beginnt schon lange bevor er zusammen mit François Le Lionnais im November 1960 die Gruppe Oulipo gründet, denn zwischen November 1936 und Oktober 1938 stellt Queneau unter dem Titel „Connaissez-vous Paris? “ den Lesern der Tageszeitung L’intransigeant täglich drei Fragen über Paris. Mehr als zwei Tausend Fragen kommen so im Laufe der Zeit zusammen, die aus den unterschiedlichsten Bereichen stammen und an ein kurioses Paris-Wissen der Leser appellieren: 13 „Y a-t-il un rapport entre l’eau de Javel et le quai du même nom? “; „Quelle est l’origine de l’observatoire du Parc Montsouris? “; „Trois automobiles dans Paris restent toujours à la même place. Où sont-elles? “ lauten etwa die Fragen, die am 24. November 1936 erscheinen und auf die der Leser in der nächsten Ausgabe die korrekten Antworten findet. Mit seiner 1967 erschienenen Gedichtsammlung Courir les rues setzt Queneau die Erkundung der Stadt Paris fort, nun allerdings nicht mehr primär unter dem Zeichen der - unterhaltsamen - Gelehrsamkeit. Schon der Titel der Sammlung deutet darauf hin, dass Queneau das Material für seine Gedichte nicht in Bibliotheken findet, vielmehr geht er entsprechend der von Benjamin einst für den Flaneur geprägten Formel „auf dem Asphalt botani- 13 Eine Auswahl der Fragen und Antworten, die noch für das heutige Paris ihre Gültigkeit bewahrt haben, liegt seit 2011 in Buchform vor: Raymond Queneau: Connaissezvous Paris? Choix des textes, notice et notes d’Odile Cortinovis, sur une idée d’Emmanuël Souchier, Paris: Gallimard (coll. folio), 2011. <?page no="150"?> Stephanie Müller 150 sieren“. 14 Der prière d’insérer zufolge ist Courir les rues aufzufassen als ein „récit d’allées et venues dans un Paris qui n’est ni le ‚Paris mystérieux‘, ni le ‚Paris inconnu‘ des spécialistes.“ Es sind vielmehr die im steten Wandel begriffenen „petits faits quotidiens“, denen Queneau in häufig humorvollem, sprachspielerischem Ton seine Aufmerksamkeit schenkt. Als Oulipien gibt Queneau sich vor allem in einigen Gedichten zu erkennen, die auf Straßennamen basieren. So etwa in Le Quai Lembour. 15 Le Quai Lembour Au bout du quai d’Austerlitz on crie: il faut se taire, Liszt au bout du quai de Béthune y a peut-être une bête, une! au bout du quai dit d’Anjou un sale type vous met en joue au bout du quai de l’Horloge frisonne qui dehors loge au bout du quai Arouet-Voltaire des pigeons qui volent errent au bout du quai de Passy on donne le la et pas si au bout du quai du Point-du-Jour aube, où duc est? aube, où duc est? Ausgerechnet der titelgebende „Quai“ wird in dem Gedicht zwar nicht mehr erwähnt, aber schon bei einmaliger Lektüre erschließt sich das zugrunde liegende Konstruktionsprinzip und sein Bezug zum Titel. Von den zu Paaren kombinierten Versen benennt jeweils der erste einen Quai und folgt dabei dem Muster „Au bout du quai [...]“, wohingegen der zweite den Namen des Quais in einer homophonen Wortfolge wieder aufnimmt. Diesem Prinzip verpflichtet könnte der Leser selber das Gedicht ergänzen um die beiden Verse „Au bout du Quai Lembour / on fabrique des calembours“, womit in selbstreflexiver Weise der formale Generator des Gedichts benannt wäre. Aber kaum eine contrainte ohne das dazugehörige clinamen, d.h. den absichtsvollen Regelverstoß. Denn am Ende weicht Queneau von diesem Konstruktionsprinzip ab. Der Quai du Point-du-Jour bleibt ohne homophones Echo. Statt dessen tritt „aube“ nun als Synonym für „point-du-jour“ ein, und erlaubt jetzt seinerseits die homophone Umschreibung des gewohnten 14 Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Id.: Gesammelte Schriften, vol. I/ 2, ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, p. 511-604, hier 538. 15 Raymond Queneau: Courir les rues, Paris: Gallimard, 1967, p. 97. <?page no="151"?> Schreiben nach Plan 151 Versanfangs zu „aube, où duc est? “, womit ein Kreis vom Ende zum Anfang des Gedichts beschrieben wäre, auch wenn offen bleibt, am Ende welcher Uferstraße der Herzog bei Morgengrauen tatsächlich zu finden ist. Es ist für Queneau also der im „Quai Lembour“ anklingende Calembour, der ihn dazu veranlasst, sich systematisch die Uferstraßen von Paris vorzunehmen und sie auf ihr homophones Potential hin abzuhorchen. Wo nicht die Toponyme einen Parcours motivieren, kann auch die Literatur den Plan abgeben, nach dem eine Stadt durchquert wird. Le Paris de Paroles 16 (inventaire) Une tour Eiffel un caveau caucasien une place Pigalle un Jardin des plantes un arc de triomphe une Seine une place de la Concorde un marché aux oiseaux un autre aux fleurs un autre à la ferraille deux cent vingt-deux rues de Vaugirard trente-trois rues de Ménilmontant un grand palais une gare Saint-Lazare une rue du dernier des Mohicans une rue de Tolbiac un canal de l’Ourcq les deux bassins des Tuileries une rue de Seine et encore un Vaugirard une caserne de la pépinière deux rues de Rome et encore une gare Saint-Lazare une rue de Rennes une rue de l’Echaudé un Luxembourg une porte Champerret et encore un grand palais un parc Montsouris une avenue des Gobelins une rue de Bercy un cours des halles un musée du Louvre une place Saint-Sulpice des enfants assistés un quai aux fleurs un métro aérien un gros caillou et encore des halles des innocents des blancs manteaux un roi de Sicile des rosiers une salpêtrière une maternité un carroussel une compagnie du gaz les bords de la Seine un vert galant et quelques ratons lavant 16 Ibid., p. 63sq. <?page no="152"?> Stephanie Müller 152 Queneaus Gedicht Le Paris de Paroles meint nicht nur ein aus Worten geschaffenes Paris. Vielmehr ist dem Titel des Gedichts bereits sein literarischer Ursprung eingeschrieben. Um diesen zu entziffern, genügt es, die Alliteration auf P fortzusetzen und hinter dem „Paris de Paroles“ die „Paroles de Prévert“ zu erkennen. Dem Untertitel entsprechend wird Paris hier in Form eines Inventars dargestellt. Da das Inventar im Gegensatz zum Index keine Ordnung impliziert, sondern nur die minutiöse Erfassung eines beliebigen Bestandes, gehorcht die Aufzählung keiner erkennbaren internen Systematik, sondern gibt überwiegend Toponyme wieder, so wie sie in der Sammlung Paroles erscheinen. Sinn und Zweck eines Inventars ist es aber nicht allein aufzuzählen, sondern auch zu zählen. Da nicht reale Straßen und Monumente inventarisiert werden, sondern das Vorkommen der Toponyme, die sie bezeichnen, sind die Einträge nicht notwendig singulär. Daher nicht „la tour Eiffel“, „la place Pigalle“ oder „la Seine“, sondern, wenn auch auf den ersten Blick irritierend, „une Tour Eiffel“, „une place Pigalle“, „une Seine“, sowie immer wieder als Nachtrag zum bereits Verzeichneten das am Strophenende wiederkehrende „encore“: „encore un Vaugirard“, „encore une gare Saint-Lazare“, etc. „Ceci n’est pas Paris“ müsste dieses Gedicht eigentlich mit einem Augenzwinkern an René Magritte und in Anbetracht des Unterschiedes zwischen der Stadt und ihrer Repräsentation unterschrieben werden. Nicht nur die Toponyme, sondern das Verfahren überhaupt hat Queneau sich von Prévert abgeschaut, in dessen Sammlung Paroles sich das zugrunde liegende Gedicht mit dem Titel Inventaire 17 findet. Dieses inventarisiert gerade keine Toponyme, sondern stellt stattdessen beispielsweise ein Dutzend Austern, einen Sonnenstrahl, eine Woge, sechs Musiker und eine Tür mit Fußmatte unverbunden nebeneinander und mag dadurch auf den Leser ebenso belustigend wirken wie seinerzeit Borges’ chinesische Enzyklopädie der Tiere auf Foucault. Indem Queneau seinem Inventar die thematische Kohärenz der Orte verleiht, kann der Lektüreparcours zum Parcours durch die Stadt werden. Lediglich am Ende des Gedichts scheint Queneau das Verfahren zu durchbrechen und vom Ortsnamen zum einfachen Nomen zu wechseln. Aber auch die „innocents“, die „blancs manteaux“, der „roi de Sicile“ und die „rosiers“ haben ihre Straße in Paris, selbst der „vert galant“ hat seinen Square. Übrig bleiben schließlich nur die Waschbären, bei Queneau „ratons lavant“, die hier zwar korrekt auf „vert galant“ reimen, aber dem Original entsprechend eigentlich „ratons laveurs“ heißen müssten und einen letzten deutlichen Hinweis auf das Inventar von Prévert liefern, welches sie leitmotivisch 17 Jacques Prévert: Paroles, in: Id.: Œuvres complètes, vol. I, ed. Danièle Gasiglia-Laster und Arnaud Laster, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1992, p. 1-157, hier 131-133. <?page no="153"?> Schreiben nach Plan 153 durchziehen, so dass in der Folge „il ne manque plus que les ratons laveurs“ zur stehenden Wendung bei disparaten Aufzählungen wurde. 18 Jacques Roubaud veröffentlicht 1999 seinerseits eine Sammlung mit Paris-Lyrik, die in Anlehnung an Baudelaires Gedicht Le cygne und dessen Wortlaut leicht modifizierend den Titel La forme d’une ville change plus vite, hélas, que le cœur des humains trägt. Wie viel diese Sammlung Queneau zu verdanken hat, macht bereits die am Anfang platzierte Gruppe von Gedichten mit dem Titel „Recourir les rues“ deutlich. Roubaud schreibt sich in die Tradition Queneaus ein, indem er mit einem zeitlichen Abstand von ca. dreißig Jahren eine Reihe von Orten, die bereits in Courir les rues behandelt werden, erneut aufsucht und den Wandel, der sich inzwischen an ihnen vollzogen hat, zum Gegenstand seiner Gedichte macht. Wenn eine parallele Lektüre der beiden Bände dem Leser auch zahlreiche Echos offenbart, scheint der Einfluss Queneaus im Falle des Gedichts „Il en a fallu“ 19 weniger offensichtlich. Il en a fallu il en a fallu du quai de Passy à la rue Lacuée, du bois de Vincennes à l’avenue de l’Opéra, du 5 de la rue Volta au quartier de l’Europe il en a fallu des minutes des jours des mois et des années des printemps des étés des hivers des automnes il en a fallu de l’Arc de Triomphe à la rue de Prague, du boulevard de Sébastopol (65) à la rue Abel, de la place de la Bastille à la rue Férou, il en a fallu des parapluies, pépins, impers et waterproofs casquettes et chapeaux, galures, couvre-chefs il en a fallu 18 Cf. ibid., p. 1086 (Notices, documents et notes zu Prévert: Paroles). 19 Jacques Roubaud: La forme d’une ville change plus vite, hélas, que le cœur des humains, Paris: Gallimard, 1999, p. 13sq. <?page no="154"?> Stephanie Müller 154 du quartier des Tuileries à la rue Biscornet, du square de la Trinité à la rue Pierre-Leroux, du carré Marigny à l’avenue Daumesnil il en a fallu des taxis des métros des bus et des ouatures des bateaux-mouches des funiculaires des tramways il en a fallu du pont Mirabeau à la rue du Congo, de Belleville à la rue de l’Abbé-Grégoire, du boulevard Haussmann à Saint- Augustin, il en a fallu des souliers des lacets des boutons des ceintures des lundis des mardis, mercredis et jeudis vendredis, samedis, dimanches et toujours lundi de la rue de l’Oratoire à la rue de la Bienfaisance, de la rue de Rivoli au boulevard Malesherbes, du BHV à l’impasse du Labrador il en a fallu et surtout, surtout qu’est-ce qu’il a fallu courir les rues! In regelmäßig alternierenden Strophen, die stets von der Formel „il en a fallu“ eingeleitet werden, verzeichnet Roubaud abwechselnd einerseits Wegstrecken, die durch den Pariser Stadtraum verlaufen und jeweils dem syntaktischen Muster „de...à“ folgen („du quai de Passy à la rue Lacée, du bois de Vincennes à l’avenue de l’Opéra“ etc.), sowie andererseits den konkreten Bedarf an Zeit („des minutes, des jours, des mois et des années“), Kleidung („des parapluies, pépins, impers et waterproof“) und Verkehrsmitteln („des taxis, des métros, des bus et des ouatures“), die benötigt werden, um das beschriebene Streckennetz zu bewältigen. Die Anfangs- und Endpunkte dieser kreuz und quer durch Paris verlaufenden Strecken sind dabei keineswegs beliebig gewählt. Wenn das Gedicht endet mit „Et surtout, surtout, qu’est-ce qu’il a fallu courir les rues“, meint dies natürlich das Ablaufen der Straßen ebenso wie Queneaus gleichnamige <?page no="155"?> Schreiben nach Plan 155 Gedichtsammlung, aus der die Wegstrecken des vorliegenden Gedichts gewonnen wurden. Sämtliche der von Roubaud verwendeten Ortsangaben sind nicht allein bei Queneau belegt, sondern werden einem spezifischen Regelmechanismus entsprechend zu Strecken kombiniert. Die in den ersten Gedichten von Queneaus Courir les rues aufeinander folgenden Straßennamen dienen Roubaud als Startpunkte, die Straßennamen der letzten Gedichte als Zielpunkte. Roubaud kombiniert diese nun zu Paaren, indem er sich wie auf einer Spirale von außen nach innen bewegt: der erste bei Queneau genannte Ort (quai de Passy) bildet zusammen mit dem letzten (rue Lacuée) eine Strecke, der zweite mit dem vorletzten, etc. Dabei erscheint die spiralförmig von außen nach innen verlaufende Bewegung durch Queneaus Text wie die Umkehr der von innen nach außen verlaufenden spiralförmigen Anordnung der Pariser Arrondissements. Durch den regeldefinierten Umgang mit Courir les rues wird Queneaus Gedichtsammlung nicht nur zum Plan für die Komposition von „Il en a fallu“, sondern ebenso zum geographischen Plan, der den Verlauf der Strecken zwischen den verschiedenen Orten nicht nur abbildet, sondern allererst definiert. In einem weiteren Paris-Gedicht Roubauds ist es nicht mehr eine literarische Vorlage, sondern die Lektüre der Straßen selbst, aus der ein Parcours abgeleitet wird. Nicht „Il pleut“, sondern kurz „Pleut! “ 20 mit einem Ausrufezeichen lautet der Titel des Gedichts, der sich mit seinem Plosivlaut durch den gesamten Text zieht und jede neue Strophe einleitet. Pleut! Pleut! Pleut! rue des Jeûneurs rue d’Uzès rue Méhul Pleut! rue des Vertus rue Eugène-Spuller Pleut! rue Budé rue de Turenne rue de Lutèce Pleut! 20 Ibid., p. 123-126. <?page no="156"?> Stephanie Müller 156 Pleut! rue de Chevreuse rue de Fleurus rue de Furstemberg rue Suger Pleut! [...] Pleut? Pleut! Noch reduktionistischer als die bislang untersuchten Beispiele, verwendet Roubaud in diesem Gedicht neben der nur einen Silbe des Titels ausschließlich Straßennamen, die an sich schon versbildend sind und zu Strophen verschiedener Länge kombiniert werden. Wenn, wie der Titel suggeriert, es sich hier um eine Aufzählung der Pariser Straßen handelt, in denen es regnet, liegt es nahe, nach einer möglichen Systematik der Darstellung zu fragen. Erst wenn man das Gedicht mit einem Stadtplan liest, wird man erkennen, dass die Straßennamen nach Arrondissements sortiert sind und dass keine der Straßen im ersten, fünften oder siebten Arrondissement liegt, so wie die erste, fünfte und siebte Strophe nur aus dem einen Vers „Pleut! “ bestehen. Mit der Ordnung allein ist es aber nicht getan, die Auswahl der Straßennamen ist ebenso bedeutsam, denn nicht der Zufall entscheidet darüber, wo es regnet, sondern der Name selbst. Schneller auf typographischer als auf lautlicher Ebene bemerkt der Leser, dass sämtliche der hier verzeichneten Straßen als einzige Vokale das „E“ und das „U“ enthalten, was sie mit dem Titelwort „Pleut“ verbindet. Diese Restriktion im Vokalgebrauch erklärt auch, warum es nur in einer „rue“ regnen kann, aber nicht auf einer „place“, einer „avenue“ oder einem „boulevard“. Offensichtlich basiert nicht nur die Lektüre, sondern auch die Herstellung des Gedichts auf dem Gebrauch eines Stadtplans und seines Straßenregisters, das systematisch auf die erforderlichen Qualitäten hin durchsucht wird und in der Folge zu einer Auswahl von Straßen führt, die ohne diese Regel kaum zustande gekommen wäre. Die Zusammenschau der bislang untersuchten Gedichte verdeutlicht einerseits, dass sie nach Plan verfasst sind, und zwar zunächst in dem allgemein oulipistischen Sinne, dass ihr Verlauf durch eine vorher bestimmte Regel definiert ist. Für unsere Fragestellung spezifischer lässt sich anhand dieser Gedichte jedoch zeigen, dass die Pläne, nach denen sie verfasst sind, im buchstäblichen Sinne Stadt-Pläne sind. Sie bändigen den Stadtraum und liefern einen möglichen Schlüssel zu seinem Labyrinth, indem sie Wege definieren, auf denen dieser Stadtraum zu durchqueren ist. Das gilt unterschiedslos für solche Gedichte, die erst eine Methode finden, die es ihnen erlaubt, Literatur wie einen Stadtplan zu lesen, wie für solche, die unter Zuhilfenahme eines tatsächlichen Plans entstehen. <?page no="157"?> Schreiben nach Plan 157 Im Alltag gehorcht der Stadtplan einem rein pragmatischen Gebrauch und verspricht Eindeutigkeit in der Anwendung. Er erlaubt nicht nur die Verortung im Raum und damit die Orientierung, sondern unterwirft das Gehen einer gewissen Ökonomie. Der Benutzer konsultiert den Stadtplan in der Regel nicht, um sich von der Vielzahl der Wege zu überzeugen, die ihn zum Ziel führen, er sucht den kürzesten Weg, der ihn von A nach B führt. Der Oulipien erkennt darin lediglich eine mögliche, und zwar die undurchschaute, meist selbstverständlich praktizierte Regel für die Bewegung durch den Stadtraum. Dagegen erlaubt erst die Vervielfältigung der Bewegungsregeln ihm, das von Stadtplanern und Kartographen nahe gelegte Verhalten kreativ zu erweitern und neue Wege zu beschreiten. Die untersuchten Gedichte verdanken sich einerseits den tatsächlich gegangenen Wegen - Queneau und Roubaud sind die Stadt für ihre Gedichte abgelaufen -, sie sind aber andererseits Aufforderung und Anleitung für künftig zu gehende Wege. Das verbindet diese Gedichte mit Plänen bzw. Karten allgemein, die - selbst als totalisierende Darstellung eines Geländes - in einem dialektischen Verhältnis zur Wegstrecke stehen, als „deren Ergebnis und deren zukünftige Möglichkeit“ 21 sie Michel de Certeau zufolge gleichermaßen anzusehen sind. Die Rede vom Text als einer Karte, der die Literaturwissenschaft sich in letzter Zeit vermehrt bedient, ist notwendig metaphorisch. Robert Stockhammer betont daher, dass jeder Vergleich von Text und Karte unweigerlich an den Punkt gerät, an dem beide Medien aufeinander irreduzibel sind. 22 Eine Verwendung der Kartenmetapher entgeht in Stockhammers Augen allein dann der Willkür, wenn sie sich auf den Nachweis spezifisch kartographischer Darstellungsweisen in Texten stützt, denen in der Folge Kartizität zugeschrieben werden kann. Die literarische Darstellung eines Raumes unterhält Stockhammer zufolge dort eine Affinität zu kartographischen Prinzipien, wo sie zum Indexikalischen tendiert, das heißt auf syntaktische Bindeglieder verzichtet, und von einer partikularen Perspektive abstrahiert. 23 Die Nähe zu diesen Prinzipien ist an den Gedichten von Queneau und Roubaud deutlich nachweisbar. Dass bislang - und auch bei Stockhammer - vor allem in Bezug auf Prosatexte mit dem Kartenbegriff operiert wird, ist insofern erstaunlich, als das Gedicht als nicht erzählende, sujetlose Form eigentlich von vornherein eine größere Nähe zum Indexikalischen mit sich bringt. Poesie beruht in erster Linie nicht auf Verben, sondern auf Substan- 21 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988, p. 225. 22 Cf. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink, 2007, p. 8. 23 Cf. ibid., p. 70-76. <?page no="158"?> Stephanie Müller 158 tiven, wie schon Gertrude Stein, die gerade Jacques Roubaud nie müde wird zu zitieren, in Poetry and Grammar hervorgehoben hat. 24 Die untersuchten Gedichte entsprechen dieser Regel in besonderer Weise, indem es sich bei ihnen um Listen handelt, und zwar um solche, die überwiegend Toponyme akkumulieren, also Eigennamen, deren Spezifik darin besteht, dass sie in indexikalischer Funktion auf einen Ort verweisen, ohne zu bedeuten. Dabei verzichten die Gedichte darauf, diese Toponyme syntaktisch zu verbinden oder einer partikularen Perspektive in der Erfahrung durch ein lyrisches Ich zu unterwerfen. Auswahl und Anordnung der Orte auf dem Papier gehorchen einem geregelten Verfahren, ebenso wie die Projektion der Karte auf der Anwendung von Abbildungsvorschriften beruht. Wenn jetzt noch abschließend nach der Darstellung der Stadt bei Georges Perec gefragt werden soll, dann nicht etwa ausgehend von seinen Werken Espèces d’espaces, Tentative d’épuisement d’un lieu parisien oder von dem autobiographisch verfassten Projekt Lieux, auch wenn diese Werke aus raumästhetischer Perspektive zweifellos interessant sind. Näher liegt in unserem Zusammenhang aber der Rekurs auf eine scheinbar marginale Form, die im umfangreichen Werk des Autors leicht übersehen wird. Georges Perec war ein leidenschaftlicher Liebhaber von Kreuzworträtseln, sowohl cruciverbiste als auch verbicruciste, wie die französische Sprache zwischen demjenigen, der das Kreuzworträtsel zu lösen versucht, und demjenigen, der es herstellt, zu unterscheiden pflegt. In den Jahren 1980 und 1981 veröffentlicht Perec im Magazin Télérama für jedes der zwanzig Pariser Arrondissements und zusätzlich für die Métro ein Kreuzworträtsel. Alle 21 sind inzwischen unter dem Titel Perec/ rinations 25 zu einem Band versammelt worden. Mit diesen Paris-Rätseln schließt sich in gewisser Hinsicht der Kreis zu der eingangs erwähnten von Raymond Queneau verantworteten Kolumne „Connaissezvous Paris? “, denn das enzyklopädische Wissen über die Stadt Paris, ihre Geschichte, Topographie, Verkehrsmittel, Kunst und Kuriositäten wird von Perec wieder aufgenommen, erfährt nun aber im Kreuzworträtsel seine eigentliche oulipisation, insofern dieses Wissen nun einem strengen Formzwang unterworfen wird. 24 „Poetry is concerned with using with abusing, with losing with wanting with denying with avoiding with adoring with replacing the noun. It is doing that always doing that, doing that doing nothing but that. Poetry is doing nothing but using losing refusing and pleasing and betraying and caressing nouns. That is what poetry does, that is what poetry has to do no matter what kind of poetry it is.“ (Gertrude Stein: „Poetry and Grammar“, in: Id.: Look at me now and here I am: writings and lectures, 1911-1945, ed. Patricia Meyerowitz, London: Owen, 2004, p. 123-145, hier 136). 25 Georges Perec: Perec/ rinations, Paris: Zulma, 1997. <?page no="159"?> Schreiben nach Plan 159 Gitter aus acht mal acht Feldern bilden das (fast) allen Rätseln gemeinsame Format, in dem es möglich sein soll, die Worte und Buchstaben zu kreuzen, ohne Ausflucht zu mehr als drei bis sechs schwarzen Feldern zu nehmen. Dabei sind es nicht selten die teils gelehrten, teils listigen Definitionen, die den Lösungen erst einen Sinn verleihen. Angesichts der beiden Buchstaben „RU“ beispielsweise braucht es den Perecschen Hintersinn, um diesen scheinbar unbrauchbaren Rest mit einer Definition wie „Une rue dont on ne voit pas le bout“ in eine raffinierte Lösung zu verwandeln. <?page no="160"?> Stephanie Müller 160 In Anbetracht des Unterschiedes von Kunst und Kunstfertigkeit stellt sich nun allerdings die Frage, was das Kreuzworträtsel, üblicherweise als „loisir du troisième âge“ diskreditiert, mit der Literatur und zudem mit der Darstellung des städtischen Raums verbindet. Erstaunlicherweise kommt die knifflige Spielerei, die allenfalls als illegitime Kunst gelten kann, in der Auffassung Perecs der ehrwürdigen Form der Poesie äußerst nahe, zumal der Autor, in einem Interview nach seinem Verhältnis zur Poesie befragt, antwortet: La poésie, c’était compter sur ses doigts jusqu’à douze. La chose ne se faisant plus innocemment depuis pas mal de temps [...] j’ai choisi d’appeler ‚poésie’ des textes engendrés par des contraintes difficiles. [...] L’intense difficulté que pose ce genre de production et la patience qu’il faut pour parvenir à aligner, par exemple, onze vers de onze lettres chacun ne me semble rien comparées à la terreur que serait pour moi d’écrire ‚de la poésie’ librement. 26 Bei Perec folgt auf den silbenzählenden Vers also nicht der freie, sondern im Gegenteil der noch schwieriger zu realisierende buchstabenzählende Vers. Dabei nimmt er im zitierten Beispiel eines Quadrats aus elf Versen zu je elf Buchstaben Bezug auf seine eigene Textsammlung Alphabets. Die darin versammelten „poèmes hétérogrammatiques“ ergänzen jeweils die zehn häufigsten Buchstaben im französischen Alphabet, hintereinander ESARTINULO gelesen, um einen elften und kombinieren diese anagrammatisch zu insgesamt elf unterschiedlichen Versen. In formaler Hinsicht kommen diese Bravourstücke der Kombinatorik den sich zu Quadraten kreuzenden Worten des Kreuzworträtsels aber so nahe, dass es mehr als gerechtfertigt erscheint, in der Konsequenz letztere ebenso der perecschen Poesie zuzuschlagen. Wenn Jacques Roubaud Perec als Verkörperung des oulipistischen Autors beschreibt und ihn für seinen Roman La Disparition charakterisiert als „oulipien radical qui vit avec la contrainte, l’investit entièrement“, 27 lässt sich das auch in unserem Argumentationszusammenhang insofern bestätigen, als der für die oulipistische Stadtlyrik behauptete spezifische Zusammenhang von Stadt, contrainte und Karte bei Perec gewissermaßen seinen Höhepunkt erreicht. Sicherlich verlangen Perecs Kreuzworträtsel vom Leser, dass er „um die Ecke denkt“, aber nicht in dieser Metapher erschöpft sich ihr Bezug zur Räumlichkeit. In der Verlängerung der untersuchten Textbeispiele von Queneau und Roubaud wird vielmehr deutlich, dass auch Perecs Rätsel die Prinzipien von Literatur und Karte in origineller Weise zur Anwendung bringen und verbinden. 26 Georges Perec / Jean-Marie Le Sidaner: „Entretien“, L’ARC (1976), n° 76, p. 3-10, hier 8. 27 Jacques Roubaud: „L’Auteur oulipien“, in: Michel Contat (ed.): L’Auteur et le manuscrit, Paris: P.U.F., p. 77-92, hier 88. <?page no="161"?> Schreiben nach Plan 161 Prinzipien des Kartographischen realisiert das Kreuzworträtsel etwa, indem es sich durch die horizontale und vertikale Lesbarkeit statt in linearer Abfolge deutlich in der Fläche entfaltet. Das Raster, das mit römischen und arabischen Zahlen versehen ist, erlaubt die Positionsbestimmung der einzelnen Einträge, die untereinander nicht durch syntagmatische Beziehungen verknüpft sind, sondern unverbunden nebeneinander stehen. Dennoch erfährt das Arrondissement im Kreuzworträtsel keine mimetische Abbildung. Die Darstellung ist nicht nur äußerst selektiv und beschränkt sich auf wenige Orte und Straßen, die Zeichen, mit denen sie operiert, sind auch hier und anders als auf dem Plan ausschließlich Buchstaben. Auch wenn das Raster und die Definitionen des Kreuzworträtsels also Analogien zur Karte und dem sie ergänzenden Index samt Positionsbestimmungen aufweisen, fehlt der Karte die Mehrdeutigkeit, die beim Versuch der Verknüpfung von Definition und Lösung die spezifische Schwierigkeit des Rätsels ausmacht und aus dem Umgang mit Texten nicht wegzudenken ist. Bei aller oulipistischen Vermessung des Pariser Stadtraums, die anhand der zitierten Beispiele vorgeführt werden sollte, bleibt der Oulipien nicht nur als Verfasser von Gedichten, sondern auch als Fabrikant von Kreuzworträtseln letztlich also Literat, statt Kartograph zu werden. <?page no="163"?> Christina Horvath Cartographies parisiennes dans le roman contemporain L’image de Paris est chargée de mythes accumulés au fil des siècles qui continuent à influencer la représentation de la capitale française dans l’imaginaire collectif. Cependant, il est force de constater qu’il existe dans la fiction non pas un seul, mais une multitude de Paris parallèles qui mobilisent autant les notions de la cartographie que les images du paysage urbain. Cet article se propose de passer en revue les différents usages faits de la cartographie dans les romans urbains contemporains. À partir d’une série d’exemples pris dans les romans de Philippe Delerm, Daniel Pennac, Éric le Braz et Jean Echenoz, nous aborderons les différentes stratégies que ces auteurs mettent en place pour inscrire leurs personnages dans un espace urbain concret, identifiable et dynamique. Indicateurs socioprofessionnels, ethnoculturels ou policiers, les adresses et itinéraires des personnages ont le pouvoir d’inscrire le texte littéraire dans le tissu extratextuel d’une ville en établissant un lien dynamique entre deux médias: le texte et la carte. Cette technique de l’ancrage des personnages romanesques dans une ville réelle et identifiable remonte à Balzac qui, selon Karlheinz Stierle, a révolutionné les représentations littéraires de la ville de plus d’un point de vue. Contrairement à ces prédécesseurs comme Mercier qui représentaient les villes comme des tableaux statiques, Balzac est le premier à les enraciner dans un contexte concret et à les doter d’une lisibilité historique. Il les peuple des types caractéristiques de son temps et non pas de caractères ayant une validité intemporelle comme Théophraste ou La Bruyère. Comme le constate Karlheinz Stierle, „[les] personnages [de Balzac] éclairent des aspects du temps présent dont Paris est le lieu propre“. 1 Une autre innovation balzacienne consiste à articuler la représentation de la ville de façon dynamique afin de capturer les traits de la métropole moderne et à révéler les spécificités de la réalité socio-historique du moment. Salué par Michel Chevalier comme un innovateur de génie, Balzac est également le premier à mettre „un terme, vers 1830, au tabou qui empêchait, dans la plupart des romans, de désigner les villes de province autrement que par 1 Karlheinz Stierle: La Capitale des signes, Paris: Maison des sciences de l’homme, 2001, p. 191sq. <?page no="164"?> Christina Horvath 164 une majuscule ou des astérisques“. 2 Écrits au moment où les villes prennent soudain des dimensions imposantes, ces romans de Balzac rendent compte de la transformation radicale de l’espace et font de la métropole moderne le lieu d’élection de toutes les aventures. Reconnaissant que le recul du temps et de l’espace ne sont plus nécessaires au décor épique, Balzac vise la peinture réaliste d’une cité bien définie. C’est la fin de l’anonymat du décor urbain: le concret gagne du terrain, non seulement avec la localisation précise de l’intrigue, mais aussi avec la description détaillée d’une topographie donnée pour concrète. „Sa géographie parisienne est infaillible“, constate Roger Caillois dans la préface d’À Paris, „c’en est fini des dithyrambes, des imprécations et des métaphores inspirées.“ 3 Doter la ville de l’assise stable d’une véritable topographie permet aux romanciers du 19 e siècle comme Balzac, Zola, Flaubert ou les Goncourt, de réaliser une visée documentaire et d’informer le lecteur d’une situation bien concrète en lui présentant des éléments précis. Mais comment cette technique fondée sur une vision documentaire et une cartographie précise continue à évoluer aujourd’hui? Fait-elle toujours partie de l’artillerie des romanciers contemporains et si c’est le cas, dans quel but précis est-elle exploitée? Sert-elle, comme chez Balzac, à documenter la mobilité sociale des personnages ou s’agit-il d’une nouvelle façon de concevoir et de représenter l’espace urbain parisien? Dans le roman urbain contemporain, l’inscription de l’intrigue dans une ville concrète pourvue d’une topographie exacte est loin d’être une nécessité. Comme le remarque Michel Chevalier dans un ouvrage fondateur de la géographie littéraire, 4 nombreux sont les auteurs qui se contentent d’une évocation sommaire des villes dans leurs œuvres où la localisation est souvent réduite à peu de choses: […] des quartiers urbains stéréotypés, des maisons […] qui, quelques détails pittoresques mis à part, pourraient se trouver aussi bien au Nord qu’au Sud […]. Très souvent, la ville fournit simplement un cadre: quelques repères, des silhouettes etc., ce qui rend bien des lectures décevantes. 5 2 Michel Chevalier: „Géographie et littérature“, in: Id. (ed.): La Littérature dans tous ses espaces, Paris: CNRS, 1993, p. 1-83, ici 38. 3 Roger Caillois: Préface [d’À Paris d’Honoré de Balzac], Paris: Editions Complexe, 1997. 4 Cf. Michel Chevalier: Géographie et littérature, Paris: Société de Littérature, 2001. La géographie littéraire qui remonte aux dernières décennies du 19 e siècle et à la tradition déterministe inaugurée par Taine, se fixe comme but l’étude d’un territoire donné à travers ses représentations littéraires. 5 Chevalier: „Géographie et littérature“ (voir note 2), p. 36 (mise en évidence C.H.). L’auteur qui fonde sa théorie sur une analyse des romans urbains français du 19 e et du 20 e siècle, tient à distinguer entre portraits de villes de provinces et représentations parisiennes. Malgré l’indéniable valeur historique qu’il reconnaît à ces dernières, il constate que la plupart des romanciers, de Balzac à Zola et de Jules Romains à Sime- <?page no="165"?> Cartographies parisiennes dans le roman contemporain 165 En effet, peu de choses suffisent pour esquisser un cadre urbain: il suffit de planter quelques blocs de maisons, un trottoir, un kiosque à journaux, une terrasse de café. Le romancier peut doser à sa guise les lieux publics (jardins publics, terrains de sport, marchés, arrêts de bus, gares et stations de métro), ajoutant divers bâtiments publics (des hôpitaux, des écoles, des commissariats, des bureaux de poste) ou même des espaces dédiés au commerce, à la consommation et aux loisirs (cafés, bars, restaurants, hôtels, discothèques, boutiques, supermarchés, magasins, cinémas, théâtres, piscines, musées, etc.). Il n’est point nécessaire de préciser le nom de la ville, ni celui des rues ou des établissements divers. Cependant, on peut constater que beaucoup de romanciers continuent à loger leurs personnages avec le souci d’un Balzac dans des quartiers qui correspondent à leur caractère, à leurs origines, à leur statut socioprofessionnel ou à leur orientation politique. Type caractéristique du roman urbain, le flâneur est un personnage qu’on rencontre souvent sur les pages des récits contemporains. On en trouve un excellent exemple dans le roman de Philippe Delerm, Il avait plu tout le dimanche, dont le personnage principal, Arnold Spitzweg, est un digne descendent des flâneurs du 19 e siècle. Le flâneur d’aujourd’hui semble avoir toujours besoin d’une immersion dans la foule pour atténuer sa solitude en observant les autres. C’est le passe-temps favori de Monsieur Spitzweg, vieux fonctionnaire originaire d’Alsace qui vit seul à Paris et trouve sa plus grande satisfaction dans les menus plaisirs que lui offre la capitale: marcher à l’aube, errer dans les passages du Palais-Royal, 6 déguster une bière en terrasse en fumant des cigares Nina ou s’inventer des itinéraires variés. Prendre des bains de foule sous divers prétextes, faire la queue pour une exposition au Grand Palais ou regarder des matchs de deuxième division tient lieu de liens sociaux à ce personnage solitaire pour qui le métro n’est pas un moyen de locomotion: il le prend pour rencontrer l’humanité et jouir d’un anonymat vivant et chaud: „[e]ntre le stress de la journée, la solitude de plus tard, entre la course des branchés, les vociférations lugubres des perdus nocturnes […] Monsieur Spitzweg prend le métro du soir pour aller nulle part.“ 7 Dans le roman de Philippe Delerm, toute la personnalité de Monsieur Spitzweg semble contenue dans la somme de ses trajets quotidiens: la marche matinale de la rue Marcadet au bureau de poste de la rue des Saintsnon, faisaient davantage œuvre d’ethnographe que de géographe: les grands tableaux chargés de symboles ont peu de valeur documentaire pour le géographe. 6 Philippe Delerm: Il avait plu tout le dimanche, Paris: Mercure de France, 1998, p. 52: „C’est plus que le début d’une promenade digestive: une flânerie voluptueuse et protégée qui va le mener de passage en galerie couverte, jusqu’au Palais Royal.“ On retrouve cette attirance du flâneur pour les passages couverts aussi bien chez Baudelaire que chez les surréalistes. 7 Ibid., p. 34sq. <?page no="166"?> Christina Horvath 166 Pères où il travaille, les pots pris à une terrasse du boulevard Saint-Germain, les flâneries dans les passages couverts du Palais-Royal, les haltes chez Chartier ou au restaurant berbère de la rue Lamarck et le sempiternel marché de dimanche, avenue de Saint-Ouen. Outre la routine quotidienne, les humeurs passagères du personnage participent aussi au choix de ces trajets: […] monsieur Spitzweg va marcher au hasard […]. Il a ses préférences, fonction de ses humeurs: le canal Saint-Martin quand il a le moral, et les Buttes-Chaumont, les jours de nostalgie. Mais il aime aussi […] arpenter l’anonymat des boulevards extérieurs, puis prendre une radiale et plonger tout à coup dans l’atmosphère d’un quartier. 8 Si Philippe Delerm exploite la topographie parisienne pour en faire le reflet de son personnage solitaire, Daniel Pennac au contraire cherche à tracer le portrait de tout un quartier parisien, celui de Belleville. Dans sa Saga Malaussène, il exploite une série de clichés tels que la voix omniprésente d’Oum Kalsoum, le grésillement des merguez et les canards laqués exposés dans les vitrines, dans le but de montrer Belleville comme un îlot multiculturel en plein Paris qui „même par moins quinze […] ne perd[ait] pas ses couleurs, [mais] jou[ait]e toujours à la Méditerranée“. 9 À l’instar de la population des pays du sud, les résidents du quartier passent beaucoup de temps à leur fenêtre 10 et tendent à faire de la rue le théâtre privilégié de leurs échanges quotidiens. Les voisins se saluent et s’arrêtent pour échanger des propos dans l’espace public et semi-public de la rue et du palier. Cette convivialité de quartier qui prend des proportions souvent exagérées, permet à Pennac de citer abondamment divers parlers locaux du quartier tels que l’arabe, le chinois ou le juif, reproduisant le vocabulaire et les accents spécifiques de chacun: Thérèse et moi descendions le boulevard de Belleville […] des mamas juives […], nous invit[e]nt à partager leur thé […]: ‚Allez, ma fille, ne dis pas non, sur la vie de ma mère c’est un cadeau de mon cœur! ’, ou nous grimpions la rue de Belleville jusqu’au métro Pyrénées, longue traversée de la Chine […], beignets de crevette, bouteilles de nuoc-mâm, ‚Yao buyao fan, Thérèse? (Tu veux du riz, Thérèse? ) tsi! tsi! , emborte, tsa me fait blaidsir! ’ 11 En mettant en avant le caractère multiethnique de Belleville, Pennac décrit la cohabitation paisible des résidents d’origines hétéroclites sur un mode fortement idéalisé dans ces romans où des liens quasiment familiaux se substituent systématiquement aux rapports habituels de voisinage. Les personna- 8 Ibid., p. 107. 9 Daniel Pennac: La Fée carabine, Paris: Gallimard, 1987, p. 212. 10 Daniel Pennac: Aux Fruits de la passion, Paris: Gallimard, 1999, p. 99: „C’était un de ces soirs de chaleur où, fenêtres ouvertes, Belleville devient sa propre caisse de résonance. En tendant l’oreille j’aurais pu participer à toutes les conversations qui se tenaient dans le carré Saint-Maur, Belleville, Pyrénées, Ménilmontant.“ 11 Ibid., p. 53sq. <?page no="167"?> Cartographies parisiennes dans le roman contemporain 167 ges vivent ainsi dans un réseau complexe de rapports familiaux et amicaux qui font de leurs déplacements à l’intérieur du quartier une suite quasi ininterrompue de rencontres et d’échanges. Le système des personnages est entièrement conçu pour faire de Belleville une utopie humaniste et généreuse. Organisée autour d’un noyau central composé de la famille Malaussène, gravite toute une tribu multiethnique haute en couleurs: les Ben Tayeb (Yasmina, Amar et leur fils Hadouch), propriétaires du restaurant le Koutoubia, Mo le Mossi et Simon le Kabyle, deux bandits au grand cœur et amis inséparables, l’inspecteur franco-vietnamien Van Thian, l’ex-partisan yougoslave Stojilkovicz et l’homosexuel Théo, protecteur des travestis brésiliens du Bois de Boulogne. Composée au départ de six frères et sœurs (Benjamin, Louna, Clara, Thérèse, Jérémy et Le Petit), la famille Malaussène ne cesse pas de s’agrandir dans chaque épisode, par naissances et adoptions successives. Plus caricaturaux que réels, les personnages sont constitués selon quelques principes simples: leur caractère se laisse ramener à quelques qualités de base (Thérèse voit le futur, Benjamin joue le bouc-émissaire, Coudrier est un lecteur ardent de Fénelon, etc.) alors que l’essentiel de leur personnalité se traduit par quelques attributs constants (comme le blouson d’aviateur de l’inspecteur Carrega, l’odeur de cannelle de Mo le Mossi, le bureau style empire de Coudrier). Mais surtout, ils incarnent tous l’antithèse d’un préjugé: la nonne Gervaise protège des prostituées, les bandits veillent sur les enfants et les vieilles dames du quartier, Cissou l’huissier restitue la nuit les meubles enlevés le jour. Tous les éléments des récits concourent pour célébrer la tolérance et la cohabitation harmonieuse des différentes ethnies, religions et métiers. Lenjeu majeur de la saga consiste à protéger le quartier contre les divers dangers qui le menacent de l’extérieur. Vente de drogues aux personnes âgées, trafic d’armes, spéculation immobilière et urbanisme raté sont autant de projets conçus dans les beaux quartiers, par des manipulateurs issus des classes aisées et sortis des grandes écoles, afin de déposséder les Bellevillois de leur quartier populaire idyllique. Le roman dont le héros s’affole à l’idée que sa sœur épouse un énarque issu de l’aristocratie française plutôt qu’un truand d’origine maghrébine, repose sur une inversion parodique du système habituel de valeurs et de préjugés. Truands, travestis et prostituées se serrent les coudes pour défendre leur Belleville multiethnique contre l’intrusion de politiciens corrompus, de spéculateurs immobiliers et d’administrateurs zélés. La lutte qu’ils mènent pour sauver le patrimoine bellevillois, trouve son incarnation dans le personnage de Cissou la Neige qui pour transformer son corps en lieu de mémoire, se fait tatouer tout le quartier sur le torse: Partant de la place des Fêtes, un réseau serré de rues anciennes parcourait le torse du pendu, son dos, ses bras, ses jambes, les rues traçaient leurs itinéraires entre une accumulation de maisons disparues. […] Silistri ne pouvait s’empêcher <?page no="168"?> Christina Horvath 168 d’égrener les noms des rues que les tatouages du pendu ressuscitaient: rue Bisson, rue Vilin, rue Piat, rue de la Mare, rue Ramponeau, rue du Pressoir et rue des Maronites, rue de Tourtille et rue de Pali-Kao. 12 La carte et le personnage se confondent ainsi pour attirer l’attention à la disparition d’un quartier authentique du vieux Paris populaire, victime de la promotion immobilière et de la boboisation également décrites par d’autres romanciers tels qu’Agnès Desarthe ou Éric le Braz. Riches en détails topographiques, les romans bellevillois de Daniel Pennac sont construits d’adresses précises, de descriptions réalistes et de la topographie exacte des déplacements quotidiens des personnages. La localisation qui dote les rues, les bars et les magasins de noms propres ne tient pas du hasard: ces textes cherchent à retracer la physionomie d’un quartier en voie de disparition, à peindre ses habitants multiculturels et leur mode de vie idéalisée. La localisation précise et l’abondance des descriptions expriment ici la volonté de représenter une réalité sociale concrète. Alors que chez Philippe Delerm les itinéraires ont pour unique fonction de caractériser le personnage de Monsieur Spitzweg, on trouve chez Daniel Pennac un autre type de déplacement qui a pour but de faire avancer l’intrigue. Les trajets uniques du héros Benjamin Malaussène contrastent nettement avec ses itinéraires de routine qui se limitent pour la plupart au quartier de Belleville. L’espace quotidien de Benjamin s’étend sur les 10 e , 11 e et 20 e arrondissements de Paris. Les trajets de routine qu’il entreprend relient la quincaillerie familiale de la rue de la Folie Régnault avec son lieu de travail, rue du Temple, ou le restaurant Koutoubia et le cinéma Le Zèbre, situés boulevard de Belleville. Le personnage s’adonne aussi volontiers à des promenades nocturnes à travers Belleville, en compagnie de son chien: „Comme chaque jour, Julius m’accompagne au métro Père-Lachaise [...] je descends à République, résolu à faire le reste du chemin à pied. Matin d’hiver, sombre, poisseux, glacial, encombré. Paris est une flaque où s’englue le jaune des phares.“ 13 Tandis que ces déplacements habituels se limitent à la peinture du quartier et de la vie quotidienne du personnage, les rebondissements dramatiques sont toujours à mettre sur le compte des itinéraires individuels qui conduisent le héros au-dehors du quartier. Dans La Petite marchande de prose, Malaussène, qui se rend au mariage de sa sœur dans l’Essonne (à une soixantaine de kilomètres de Paris), sera le témoin d’une rébellion dans la prison de Champrond. Ensuite, il sera chargé d’une mission dangereuse rue de la Pompe (Paris 16 e ), interviewé à l’hôtel Crillon, frappé par une balle au Palais Omnisports de Bercy (Paris 12 e ) et opéré par un chirurgien fou qui le vide de ses organes vitaux à l’Hôpital Saint-Louis (Paris 10 e ). Il n’est pas exagéré de dire que chacun de ces déplacements produit des tournures 12 Ibid., p. 205. 13 Daniel Pennac: Au Bonheur des ogres, Paris: Gallimard, 1985, p. 36sq. <?page no="169"?> Cartographies parisiennes dans le roman contemporain 169 rocambolesques qui mettent la vie du personnage en danger. Alors que par leur caractère répétitif, les trajets de routine donnent une image fidèle des activités quotidiennes, du métier et des habitudes des protagonistes, les trajets individuels sont plus fortement soumis au hasard. Ces mouvements sont souvent inattendus, rapides et surprenants: ils transportent les personnages au-dehors de leur espace habituel et sont souvent responsables des péripéties qui rendent l’intrigue haletante. On trouve une différente visée à l’origine de la précision topographique d’Éric le Braz, dans le roman L’Homme qui tuait des voitures. 14 Ce récit raconte l’histoire de Nicolas, un jeune père qui après avoir perdu son fils dans un accident de voiture, se transforme en tueur en série pour se venger sur les conducteurs en pédalant à travers Paris. Récit d’enquête policière, ce roman requiert une topographie précise dans une ville réelle. Il s’agit là d’un sousgenre romanesque généralement urbain que Jean-Noël Blanc 15 prend soin de distinguer des romans policiers du type whodunit, souvent situés dans des manoirs anglais ou des petits villages. Selon Blanc, le roman policier installe la métropole moderne au cœur du récit, fondant sa solide réputation de réalisme principalement sur l’évocation d’une ville précise et de ses lieux identifiables: Il est permis de voir là l’irruption de l’urbain dans l’écriture. […] La contemplation est remplacée par l’action, et la temporalité paisible et lente des saisons et des jours par le rythme saccadé et bruyant des villes. C’est l’écriture urbaine par excellence. 16 Qu’il s’agisse d’une ville réelle ou d’une cité inventée, le genre policier se plaît à multiplier les signes du vrai et les apparences du réel. Le réalisme des noms de rues, d’hôtels ou de cafés servent à crédibiliser l’histoire: ce sont des petits faits vrais que l’auteur brandit pour baliser le récit de repères concrets. L’intrigue de ce type de récit nécessite souvent un ancrage particulièrement précis: le roman a besoin de reproduire, avec exactitude, un plan de rues pour tracer les itinéraires des personnages en fuite et ceux de leurs poursuivants. Ainsi, dans L’Homme qui tuait des voitures, le lecteur est invité à 14 Éric Le Braz: L’Homme qui tuait des voitures, Paris: Pétrelle, 1999. 15 Cf. Jean-Noël Blanc: Polarville: images de la ville dans le roman policier, Lyon: Presses universitaires, 1991, p. 15. 16 Ibid. Notons cependant que l’auteur de cette brillante étude sociologique de la ville policière insiste sur l’importance secondaire de la réalité matérielle comparée à celle de l’écriture urbaine. Ce qui compte n’est pas l’évocation concrète d’une ville réelle, mais la forte présence de cette ville dans le texte: „À la limite la ville dont parle le polar peut être décrite de manière tout à fait imprécise. Elle peut même devenir abstraite. […] Lieu d’une écriture, sujet d’une vision plutôt qu’objet d’une description, espace de désignation d’une vérité plutôt que lieu de déploiement d’une réalité, la ville constitue l’univers du drame: émotions, sentiments, rêve, cauchemar. Elle déborde de sens.“ (p. 31-33). <?page no="170"?> Christina Horvath 170 suivre l’intrigue avec un plan de ville à l’appui. La stratégie du lieutenant Rossi qui est chargé de capturer le tueur en série, repose notamment sur la topographie du quartier situé à cheval entre le 11 e et le 20 e arrondissement de Paris. Selon Rossi „il y a aussi une proximité géographique entre l’assassinat de la conductrice de taxi, rue de l’Orillon, et celui du moustachu, dans le parking de la rue Saint-Maur. Pour [lui], tout se tient et la solution du problème se trouve à Belleville“. 17 Fort de cette conviction, le lieutenant entame la tournée des concierges dans la zone située entre la rue Saint-Martin et la rue de l’Orillon et réussit en effet à localiser l’assassin. La progression de l’enquête est abondamment documentée par l’auteur et la précision des noms de rue et des adresses citées permettent au lecteur de retracer l’itinéraire des personnages. Le roman d’Éric le Braz soulève aussi une autre question étroitement liée à la topographie: celle de la mobilité des personnages qui retraversent maintes fois la ville. Nicolas, le cyclokiller du roman se distingue par sa mobilité et sa vitesse extraordinaires. Il arpente la ville soit à vélo soit en chaussant des rollers et l’usage de ces moyens de transports légers le dote à la fois d’une vitesse supérieure à celle du piéton et d’une liberté supérieure à celle des conducteurs. Il circule en „maître du monde, surfer d’argent invulnérable, toréador esquivant les bovins pour planter ses banderilles“. 18 En se faufilant entre les voitures, il se moque des sens interdits et se délecte de la légèreté et de la souplesse de son véhicule qui lui permet de semer facilement ses poursuivants: Je me baigne dans mon propre corps en maîtrisant l’air qui m’encercle. […] Je prends le trottoir en tournant à gauche, rue Saint-Denis. Les bites automatiques qui empêchent les véhicules de rentrer dans le quartier Montorgueil se lèvent dans une synchronisation obscène. Les requins-flics restent bloqués une poignée de seconde devant l’interphone, à l’entrée du havre piéton. 19 Encore une fois, Le Braz convoque ici la topographie parisienne dont la connaissance intime permet à Nicolas de s’échapper aux forces de la police en choisissant des itinéraires qui sont praticables à vélo mais dont l’accès est interdit aux voitures. Les enquêtes et déplacements jouent aussi un rôle essentiel dans les romans de Jean Echenoz dont l’intrigue se divise entre un espace urbain parisien précisément décrit et des destinations plus ou moins exotiques, tantôt rurales tantôt exotiques, telles que des villages perdus dans la campagne bretonne, des hôtel de luxe en Australie ou en Inde ou encore le Pôle Nord. Dans des romans comme Les Grandes blondes ou Je m’en vais, Echenoz recourt à la technique balzacienne qui consiste à mettre en place un système de cor- 17 Ibid., p. 147. 18 Le Braz: L’Homme qui tuait des voitures (voir note 14), p. 205. 19 Ibid., p. 167-168. <?page no="171"?> Cartographies parisiennes dans le roman contemporain 171 respondances entre les êtres et les lieux. Ce système d’allocations spatiales qui est, selon Françoise Paul-Lévy, 20 essentiellement déterminé par rapport à l’intensité et au mouvement, permet au romancier de caractériser les personnages en leur attribuant des adresses précises. Dans Les Grandes blondes, Echenoz inscrit Gloire, la vedette déchue dans le 7 e arrondissement de Paris: descendue dans un hôtel proche de Montparnasse, elle fait ses emplettes entre la rue Grenelle, la rue de Rennes et Sèvres-Babylone, se fait teindre les cheveux dans le quartier des ambassades et rend visite à son avocat dans un bureau de la rue de Tilsitt. En revanche, le bureau de Salvador, le producteur qui se lance à la poursuite de Gloire pour la convaincre de participer à une série télévisée consacrée aux blondes incandescentes connues des médias, se situe dans un quartier beaucoup moins chic: le 12 e arrondissement, à l’intersection de l’avenue du Général-Dodds et du boulevard Poniatowski. Chef d’une agence de détectives privés, Jouve loge dans le 15 e arrondissement, dans un quartier tranquille et en somme assez bourgeois alors que son employé Personnettaz habite un appartement délabré dans une rue sordide (rue Yves-Toudic, Paris 10 e ). Dans le roman Je m’en vais (1999), le héros Ferrer réside rue d’Amsterdam (Paris 8 e ) et tient une galerie dans le 9 e alors que son collaborateur Delahaye mène une existence clandestine dans un appartement luxueux, boulevard Exelmans (Paris 18 e ). Comme Balzac qui attribue à ses personnages des adresses successives pour rendre compte de leurs mouvements sociaux, Echenoz met en scène une série de déménagements correspondant aux diverses phases de la vie de son héros. Ferrer qui quitte sa femme en lui laissant le pavillon d’Issy, déménage d’abord chez sa maîtresse, rue de l’Arcade, puis passe ses nuits à sa galerie, dans le 9 e arrondissement. De retour de son expédition arctique, il déménage dans l’appartement de la rue d’Amsterdam qu’il partage avec sa nouvelle compagne, Hélène. Le couple se fait construire un penthouse splendide dans le 8 e arrondissement mais, le jour où il redevient célibataire, Ferrer finit par retourner à Issy et frapper à la porte du pavillon de son ex-femme, habité par un nouveau propriétaire. L’inscription des personnages dans l’espace ne dépend pas uniquement de leurs adresses: leurs itinéraires en disent autant sinon plus sur ces êtres boulimiques de déplacements qui semblent avoir tout le temps la bougeotte. Plus le mouvement incessant et virevoltant qui caractérise ces récits rend l’intrigue insaisissable, plus le décor s’accapare le concret: les adresses privées et professionnelles des personnages, leurs rendez-vous et leurs itiné- 20 Françoise Paul-Lévy: La ville en croix: de la révolution de 1848 à la rénovation haussmannienne, Paris: Librairie des Méridiens, 1984, p. 67-68: „La vie est un itinéraire urbain dont les étapes et les qualités sont homologues à celles des lieux; les adresses des personnages de Balzac ne sont pas celles d’un bottin mais plutôt d’un recueil des humeurs, humeurs du corps et de l’âme, de la ville et des êtres qui donne accès à l’état de Paris et au secret de ses transformations.“ <?page no="172"?> Christina Horvath 172 raires sont reproduits avec un souci de fidélité extrême. Les Grandes blondes 21 regorge de lieux de passage et de rendez-vous: pris dans le tourbillon de leurs déplacements fiévreux, les personnages parcourent Paris de la Porte des Lilas à la Porte Dorée, de Bir-Hakeim aux Champs-Elysées, du métro Botzaris à la rue des Martyrs, en passant par la place d’Italie, le boulevard Sébastopol, le canal Saint-Martin ou la place de la République. Echenoz, qui a tendance à précipiter ses personnages, d’un geste brusque et imprévisible, d’une rue miteuse du 18 e arrondissement à un immeuble de standing situé dans le 16 e , maîtrise à la perfection la technique de créer des effets d’opposition. Ceux-ci naissent surtout de passages rapides d’un quartier à l’autre comme dans l’extrait suivant de Je m’en vais: Baumgartner est en train de remonter la rue de Suez […] C’est une de ces petites rues proches du boulevard Barbès où s’épanouissent les boucheries africaines, les marchands de poules vivantes, d’antennes paraboliques et de joyeux tissus polychrome de type bazin, wax et java, imprimés en Hollande. […] Plus tard, Baumgartner vérifie que nulle souillure, nulle misérable molécule dans l’atmosphère chez le Flétan ne se sont déposées sur ses vêtements […] [avant de] regagner son nouveau logement du boulevard Exelmans. 22 D’autres morceaux de bravoure opposent le nœud agité et bruyant du carrefour de l’Odéon aux zigzags silencieux de la rue d’Amsterdam ou à la rue du 4-Septembre, avec ses immeubles Napoléon III, ses banques internationales et ses sièges de compagnies d’assurance. Certains trajets mènent de l’ouest tranquille et aisé vers les quartiers populaires plus animés de l’est parisien (Paris 12 e ) dont la population „prend moins souvent de congé“ 23 et où „sur les trottoirs on peut surtout apercevoir, lents, solitaires et perplexes, des natifs du tiers-monde et des ressortissants du troisième âge“. 24 Ces itinéraires sont souvent accompagnés de commentaires portant sur les quartiers visités, jugés et comparés en vertu de leur morphologie ou de leur population. Différentes idéologies peuvent être inscrites ainsi dans le sol urbain, des théories peuvent jaillir des réflexions qu’inspirent aux romanciers les divisions de la ville. Si souvent Echenoz ne fait que constater des partages qui paraissent évidents au lecteur, parfois il attribue de nouvelles connotations aux différents quartiers. Il dénonce par exemple l’air austère et sinistre du 16 e arrondissement comme une façade inventée pour dissimuler „des domiciles étonnamment avenants. C’est qu’une des plus ingénieuses ruses des riches consiste à faire croire qu’ils s’ennuient dans leurs quartiers […] Tu parles. On a tout à fait tort.“ 25 21 Jean Echenoz: Les Grandes blondes, Paris: Minuit, 1995. 22 Jean Echenoz: Je m’en vais, Paris: Minuit, 1999, p. 86-93. 23 Ibid., p. 146. 24 Ibid., p. 147. 25 Ibid., p. 101-102. <?page no="173"?> Cartographies parisiennes dans le roman contemporain 173 Mais l’exploitation de la cartographie parisienne chez Jean Echenoz ne se limite pas aux visées documentaires des romanciers réalistes ou à la volonté de donner plus d’assise à une intrigue policière. Il cherche à révéler un côté insolite de la vie quotidienne à Paris, à montrer la présence de la magie même dans les quartiers les plus prosaïques et sans histoire. A l’instar des surréalistes 26 qui préféraient aux endroits considérés comme historiques ou littéraires, les lieux de passage (gares, métro, ponts etc.), les marchés aux puces, les quartiers banals, les jardins publics ou les cinémas populaires, Echenoz aussi recherche le contraste entre le concret d’un lieu banal et l’aventure, le mystère, l’extraordinaire. Ce désir de repérer le mystère dans la banalité du quotidien se concrétise tantôt dans la séance d’une secte qui se réunit dans un appartement parisien, tantôt dans la présence d’un macchabée dans une camionnette frigorifiée garée en proche banlieue parisienne, tantôt dans la mélodie nostalgique d’un tango qui retentit dans un immeuble de quartier populaire. Nous avons vu les principales visées de la mise en scène d’une topographie parisienne bien concrète: doter les personnages de lieux et d’itinéraires qui les caractérisent comme le fait Philippe Delerm, dessiner le portrait socio-ethnique d’un quartier menacé par les transformations urbanistiques ou démographiques comme chez Daniel Pennac, exploiter la topographie comme le support d’un récit d’enquête dont on a vu un exemple parfait chez Éric Le Braz ou encore, comme dans les romans de Jean Echenoz, créer des contrastes entre quartiers riches et pauvres, monuments et décors sans histoire, lieux insignifiants et exotisme redécouvert dans la banalité du quotidien. Dans aucun de ces textes, l’intrigue ne pourrait être transférée dans un autre quartier ou dans un décor anonyme puisque sa localisation témoigne des préoccupations spécifiques des personnages ou de la peinture ethnographique d’un milieu ou d’un patrimoine architectural. Il arrive rarement aux romanciers contemporains de chercher à développer une théorie sociologique ou ethnographique de l’espace urbain. Inscrivant leurs personnages dans les différents arrondissements de Paris, ils visent tout au plus à leur attribuer une identité sociale ou à décrire et de commenter les structures de la ville. On est loin de l’ambition balzacienne d’une conception, d’une vision ou d’une théorie explicite de Paris. Cependant, à travers le spectacle toujours 26 „C’est rue Saint-Martin, loin du Tout-Paris habituel des arts, que se déroulent en 1920 les fameuses matinées qui font scandale, et c’est l’église Saint-Julien-le-Pauvre, alors totalement inconnue des touristes, que les dadaïstes ont l’ambition de faire visiter pour inaugurer leurs ‚excursions’ parisiennes. […] [C]’est au café Cyrano, place Blanche, que se réunit le groupe, et au café du Globe, proche de la porte Saint-Denis. Un autre lieu de ralliement était, au carrefour Richelieu-Drouot, le café d’Angleterre. On était loin du quartier Latin, et de Montparnasse où se retrouvait ‚la bande à Picasso’ avant la guerre; loin aussi du Montmartre du Bateau-lavoir. Les cafés des jeunes écrivains étaient situés en des lieux qui apparaissaient comme passants et populaires, l’inverse de ‚coins pour initiés‘.“ (Marie-Claire Bancquart: Le Paris des Surréalistes, Paris: Seghers, 1972, p. 8). <?page no="174"?> Christina Horvath 174 renouvelé de la capitale française, le roman urbain s’efforce toujours de montrer la ville comme un réseau complexe, composé d’innombrables croisements de lignes de transport et d’itinéraires individuels. La représentation de cette métropole de la modernité, voire de la sur-modernité, reste sous le signe du dynamisme grâce à la mise en fiction de tout ce mouvement qui met en relation les différents personnages, milieux et quartiers. La structure complexe des quartiers qui communiquent entre eux, des itinéraires humains qui s’entrecroisent et des lignes de transport qui relient les quartiers les plus éloignés, traduit l’idée d’une ville dynamique, pratiquée et sillonnée par l’homme de haut en bas et d’un bout à l’autre. Le paysage urbain devient ainsi un espace humanisé, grâce aux personnages qui le peuplent et dont la perception contribue à le structurer et à le stratifier. <?page no="175"?> Sjef Houppermans JEAN ECHENOZ à l’endroit Dans son livre sur Jérôme Lindon, Jean Echenoz raconte qu’il voulait absolument faire part de la maison de Minuit, surtout à cause de la présence de Beckett chez cet éditeur. 1 Dans un premier moment il s’agit d’une réaction affective, émotionnelle. Aussi la rencontre unique entre les deux hommes laisse-t-elle plutôt „pantois“ Echenoz au moment où celui-ci vient d’obtenir le Prix Médicis. Le décès de Beckett le touche profondément aussi. Sur l’influence littéraire que l‘auteur d’En attendant Godot a pu avoir sur son œuvre à lui, Echenoz ne s’explique pas vraiment, mais on peut faire quelques suppositions. Si Beckett a inspiré plusieurs générations d’auteurs français et si ses pièces continuent à être jouées partout dans le monde (ce dont profitent concurremment ses autres textes), il est sans doute dans cette position entre autres à cause de la manière dont il combine le sérieux et le drôle, les Fratinelli et Pascal (selon Anouilh), l’exubérance et la sobriété, l’extase et l’ascèse. Beckett cherche sa voie entre modernisme et postmoderne, entre des situations marquées par une crise existentielle et le point de vue de Sirius, entre l’engagement et la reprise critique. Les pérégrinations de Murphy, de Camier et Mercier, de Molloy et de ses avatars ultérieurs en constituent les exemples les plus frappants. Beckett est un auteur de voyage, même si pour certains personnages c’est d’un voyage autour de leur chambre qu’il s’agit. Plus généralement ses ‚héros’ ne cessent de bouger tout en aspirant constamment au repos définitif. Leur pensum les entraîne, alors que leur charge les accable. Molloy notamment, c’est d’une part l’orphelin qui cherche le repos au bord de la mer et d’autre part il se comporte en tant que bâtard partant en randonnée. C’est cette même formule qu’on retrouve chez Jean Echenoz. Postmoderne si on veut par la vadrouille, les errances dans l’univers et parmi les signes, entre le maelstrom des villes et le désordre des rencontres, pour en arriver à une indécidabilité toujours plus nette. Moderne au sens où il veut se constituer un monde autonome, un espace privé qui garantit l’indépendance au-delà des crises d’identité, en deçà de l’éparpillement et de la fuite en avant. Là où les deux dimensions entrent en lutte, en collision, la notion d’unheimlich se dégage et donne son inquiétante ambiance aux textes. Je m’expliquerai plus en détail sur ce point pour ce qui regarde L’Occupation 1 Cf. Jean Echenoz: Jérôme Lindon, Paris: Minuit, 2001, p. 32, 46. <?page no="176"?> Sjef Houppermans 176 des Sols. Cette double orientation est pourtant présente dans l’œuvre toute entière et cela dès le début, mais partons ici de quelques considérations au sujet d’un texte plus tardif, Ravel, biographie romanesque 2 concentrée sur un choix précis d’événements clé. Cette méthode biographique et ses élaborations témoignent surtout aussi du désir d’Echenoz d’y insérer le reflet de ses propres principes artistiques et esthétiques. C’est une pareille intention qui nourrit la description de la vie d’Emile Zatopek dans Courir et celle de l’existence de Nikola Tesla dans Eclairs. Le style de Zatopek, c’est une maîtrise disruptive de l’espace à parcourir; pareillement Echenoz infléchit par son écriture l’espace de la ville et la montre par un angle spécifique. Les fulgurantes trouvailles de Tesla vont de pair avec son caractère de doux rêveur errant. Echenoz cite Marcel Schwob (Vies Imaginaires) qui pose que „le biographe ne doit pas avoir le réel comme objectif“ et il prolonge cette pensée en concentrant ses propres biofictions sur les „lignes accidentées“ des vies en question où la dimension dramatique remplace le mouvement linéaire. 3 Ainsi se rejoignent l’empathie affective et esthétique d’une part et l’anachronie diégétique de l’autre. Les voyages se constituent alors naturellement et rythmiquement comme événements conducteurs. 4 La petite taille de Ravel n’arrête de rivaliser avec l’espace. Ainsi il passe dans un premier chapitre de sa demeure miniature à l’univers clos d’un paquebot en partance pour l’Amérique en transitant par la gare Saint-Lazare. C’est un tour et un retour que décrit Echenoz, partant de la salle de bain dans la petite maison de Montfort l’Amaury pour longuement détailler les bains de foule en Amérique et le lent enfoncement dans les eaux de l’oubli. Et c’est peut-être dans un sens ce calme et ce repos qu’il cherche avant tout, raison pour laquelle Echenoz commence probablement par cette scène de la salle de bain (qui fait penser au livre de Jean-Philippe Toussaint portant ce même titre). Et ce récit commence sur un ton impersonnel avec comme phrase initiale modèle: „On s’en veut quelquefois de sortir de son bain.“ 5 Le premier paragraphe introduit quelques indications de type plus personnel dans un cadre où l’individu flotte toujours dans un milieu plus vaste. Ce bain dont il s’extrait contre son gré dans cette nuit d’hiver trouve son écho ultérieurement à la dernière page du livre quand Ravel repose sur son lit de mort. C’est cette traversée allant des eaux amniotiques au repos final qui mythiquement, comme une véritable dimension épique aussi, encadre et 2 Echenoz n’aime pas trop l’appellation biographie romancée (cf. Entretien avec Alain Veinstein dans l’émission „Du jour au lendemain“ - France Culture 25/ 11/ 2010). Biographie romanesque implique plutôt que le récit suit les principes du roman. 3 Cf. Entretien avec Alain Veinstein (voir note 2). 4 Comme c’est aussi le cas pour Le tramway de Claude Simon. 5 Jean Echenoz: Ravel, Paris: Minuit, 2006, p. 7. <?page no="177"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 177 procrée toute la gamme cinétique, l’ensemble des mouvements et des périples. Dans la maison de Montfort règne l’artifice de l’espace arrangé suivant les désirs de son occupant, mais elle ouvre de l’autre côté sur la terrasse qui permet une large vue sur la campagne. Pareillement le récit de la vie de Ravel ouvre l’espace de l’individu aux perspectives de l’univers. Maison de Maurice Ravel à Montfort l’Amaury (photo Guy Vivien) D’ailleurs, dans son premier roman publié Le Méridien de Greenwich Echenoz crée un même type d’opposition spatiale de manière spectaculaire. Le livre utilise tous les moyens du roman noir - forme particulière du récit d’aventures - pour peindre la lutte entre plusieurs bandes à la recherche d’une machine secrète. En alternance défilent d’une part les mystères de la ville de Paris régie par les machinations des gangs, et d’autre part les jouissances exotiques dans l’île du Pacifique où travaille l’ingénieur Caine. Cette île est l’oubliée de toutes les cartes. Elle est divisée par le méridien du titre ce qui permet que deux journées successives s’y déroulent ‚simultanément‘. Cette donnée couronne aussi magistralement le processus de perpétuelle scission qui se trouve à la base du récit. Comme pour pouvoir terminer l’histoire, les quelques survivants de l’interminable carnage échapperont finalement de ce lieu de toutes les déchirures en filant droit vers le nord. Les origines de cette fiction voulue comme un hommage se réunissent dans le personnage de Russel, qui indique l’inspiration fournie par La Poussière de <?page no="178"?> Sjef Houppermans 178 Soleils de Raymond Roussel. Les équations rousselliennes 6 déterminent l’allure du texte où la virtualité de la machine se propose en écho de la métropole combinant artifice et arbitraire. La grande métaphore des coïncidences spatiales implose finalement pour ouvrir sur une ligne de fuite métonymique (pareillement se conclut Nous trois 7 où la fin est particulièrement unheimlich ou encore Les Grandes Blondes 8 à l’issue plutôt euphorique). Je m’en vais peut être considéré comme le livre de tous les passages possibles et imaginables, et les lieux y correspondent à l’appel du titre: ce sont avant tout des endroits de passage, des espaces de transition, des points fuyants. Quelques années plus tard Au piano semble ouvrir un registre fort différent. Si Max Delmarc est une personne aussi indécidable et hésitante que les héros des romans précédents, à travers son regard se manifeste une certaine fascination des lieux qui seront l’objet d’une description minutieuse, voire maniaque. Ces deux tendances ne sont pas nécessairement successives, mais dépendent de focalisations différentes. Entre ces deux orientations spatiales, ces deux visions de Paris, s’encastrerait à notre avis la nouvelle qui plus spécifiquement prend l’écriture de l’espace comme point d’ancrage / encrage. Dans L’Occupation des Sols le lieu, le bâtiment du Quai de Valmy, qui figure comme un véritable endroit mythique peut ainsi indiquer une crypte onirique de l’œuvre. Je m’en vais, publié en 1999, raconte l’histoire de Félix Ferrer. Alternent les épisodes au sujet de ses amours (passagères, éphémères, fugaces) et de son commerce d’antiquaire qui le mène entre autres vers le pôle Nord pour en ramener un trésor d’art Inuit. La deuxième partie du livre sera d’abord de nature catastrophique: le trésor est volé et le cœur du protagoniste flanche. Heureusement le double jeu de Delahaye - Baumgartner, l’ancien aidegaleriste qui, en faisant succéder une cavale fantaisiste à son auto-enterrement, accumule les larcins et les mystifications, finit par être découvert. D’autre part le cœur se remet d’ailleurs à battre sensiblement, car Éros, qui s’incarne dans la belle Hélène, ne chôme pas. Toutefois à la fin Ferrer se retrouve seul et décide encore une fois de s’en aller tout doucement. Si au début du roman il part d’Issy où il revient à la fin après maints détours, c’est 6 Pour Roussel „les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard“ mènent inéluctablement „aux lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard“, voir Raymond Roussel: Comment j’ai écrit certains de mes livres, Paris: Pauvert, 1963, p. 11. 7 Ici encore la conception de l’espace et la dimension épique se combinent: ‚nous trois’, c’est entre autres le trio formé par la terre qui s’ouvre dans un terrible séisme où la ville de Marseille est engloutie, l’envol dans l’espace céleste par fusée exploratrice de toutes les virtualités, et le moi-sujet errant et indécidable qui murmure et bégaie son hésitante individualité en vadrouille (Remarque de l’auteur, cf. Jean Echenoz: Entretien avec Alain Veinstein (voir note 2)). 8 Gloire Abgrall, la vedette ressuscitée, transite de sa Bretagne-bercail aux envols de téléphérique en passant entre autres par les voies mystérieuses et ensorceleuses de l’Inde. (Remarque de l’auteur, cf. Jean Echenoz: Entretien avec Alain Veinstein (voir note 2)). <?page no="179"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 179 peut-être également ce lieu de transition absolu qu’est ICI qui entre de la sorte dans le collimateur et qui fait serpenter l’itinéraire en (pseudo) palindrome. Bande de Moebius qui enlace le destin pseudo-mythique du fabuleux Félix (autre ressuscité à récidive comme nous l’apprend Un an). Le départ initial de chez Suzanne se pratique par un des moyens de transport préférés de l’auteur, à savoir le métro, qu’il prend à la station Corentin-Celton. Autre lieu de transition, mais qui permet également de tracer un premier portrait de Ferrer en action, là où est noté par exemple au sujet de la rame: „En temps normal il se fût réjoui d’y trouver une cellule vide de banquettes face à face, comme un petit compartiment pour lui seul, ce qui était dans le métro sa figure préférée.“ 9 De regard fixe en catalogue feuilleté il en arrive ainsi à la station Madeleine d’où il rejoint la Rue de l’Arcade pour débarquer chez sa maîtresse Laurence. Ainsi il atteint le quartier de ses activités principales et le roman se crée de la sorte un cadre parisien caractéristique. Si le voyage vers le Grand Nord nous intéresse moins ici, il est pourtant important de voir qu’en procédant par chapitres alternatifs (1. Paris 2. Voyage 3. Paris 4. Voyage etc.) Echenoz construit de nouveau une confrontation réciproquement enrichissante. Et parfois une certaine transparence se manifeste quand par exemple une camionnette frigorifique est utilisée pour le vol des objets d’art et que l’on se défait du conducteur en le congelant sur place quelque part du côté de Charenton. Les activités commerciales et sociales de Ferrer se passent pourtant principalement dans le 9 e arrondissement et après avoir habité quelque temps dans sa galerie, il s’installe Rue d’Amsterdam. En bon voisin de Jacques Roubaud (peut-on supposer) il y vivra avec Hélène qui s’occupe de son cœur (au moment de la crise cardiaque) avant de l’occuper plus globalement. Et c’est bien le style de notre héros: „C’est le truc typique haussmannien, vous voyez, dit l’agent: moulures au plafond, parquet à chevrons, double living et double entrée, doubles portes vitrées, hauts miroirs sur cheminées de marbre, vastes dégagements, chambre de service et trois mois de caution.“ 10 Il ne s’agit pas seulement d’ailleurs d’un ensemble de signes en concordance avec le profitable commerce d’art: les indications de ‚paires’ constituent une obsession du roman où tout se redouble et se dédouble jusqu’à atteindre des dimensions de frayeur du genre unheimlich. 9 Jean Echenoz: Je m’en vais, Paris: Minuit, 1999, p. 8. 10 Ibid., p. 28. <?page no="180"?> Sjef Houppermans 180 Rue d’Amsterdam U n des thèmes qu’Echenoz développe dans son roman est la connexion inextricable de l’art et du commerce. Les succès et les déboires des artistes sont présentés avec une bonne dose d’ironie où l’originalité des concepts peut prendre des dimensions fortes bizarres; pareillement le goût des clients suit souvent des voies très particulières. Encore faut-il disposer d’une solide situation financière pour pouvoir se tailler une place de conquérant dans ce domaine. Après le vol, la caisse de Ferrer se vide effroyablement et il court de banque en banque pour y remédier. C’est ainsi qu’il arrive dans la rue du Quatre Septembre et ce parcours donne à l’auteur l’occasion de réfléchir sur la situation de l’immobilier à Paris actuellement: Cette rue du 4-septembre est très large et très courte et c’est l’argent qui la fait battre. Tous à peu près semblables, ses immeubles Napoléon-III contiennent des banques internationales ou pas, des sièges de compagnies d’assurances, des sociétés de courtage, des services de travail temporaire, des rédactions de revues financières, des bureaux d’agents de change et d’experts, des cabinets d’administrateurs de biens, des syndics de copropriétés, des officines de transactions immobilières, des cabinets d’avocats, des boutiques de numismatique et les débris incendiés du Crédit lyonnais […]. - Il y a d’ailleurs encore, rue du 4-Septembre, des milliers de mètres carrés de bureaux rénovés à louer et des chantiers de rénovation sous haute surveillance électronique: on vide les vieux immeubles dont on conserve les façades, colonnes et cariatides, têtes couronnées sculptées <?page no="181"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 181 surplombant les portes cochères. On restructure les étages que l’on adapte aux lois de la bureaucratique pour obtenir des locaux spacieux, passagers et doublement vitrés, afin d’y accumuler encore et toujours plus de capital: comme partout dans Paris l’été, les ouvriers casqués s’affairent, déplient des plans, mordent dans des sandwiches et s’expriment dans des talkies-walkies. 11 Rue du 4-septembre C’est dans le vaste hall d’une de ces banques que Ferrer a son malaise. Et que surgit Hélène en bonne Samaritaine (mais toute l’allure de la belle prédit également son futur éloignement). 12 D’autre part on peut suivre à Paris une partie substantielle des déplacements du faux compagnon, Delahaye, qui va s’appeler Baumgartner après la mise en scène de son enterrement. Cette mystification se concentre au cimetière d’Auteuil où le cercueil est transporté après un service à l’église d’Alésia. Ce lieu est présenté avec tous ses atouts: Il s’agit d’un petit cimetière parallélépipédique, bordé à l’ouest par un grand mur aveugle et au nord, du côté de la rue Claude-Lorrain, par un bâtiment administratif. Les deux autres côtés sont occupés par des immeubles dont les fenêtres, commandant le réseau d’allées croisées, jouissent d’une vue imprenable sur les tombes. Ce ne sont pas des immeubles de luxe comme il en pullule dans ces beaux quartiers, mais plutôt des espèces de HLM améliorées par les fenêtres desquelles, dans le silence du cimetière, divers lambeaux sonores tombent en volti- 11 Ibid., p. 158. 12 Certains détails sont mieux à leur place dans une note. Ainsi les précisions suivantes concernant Hélène: „[…] elle-même ayant l’air d’une actrice de film érotique dur pendant les scènes préliminaires au cours desquelles on dit n’importe quoi en attendant que ça commence à chauffer.“ (ibid., p. 160). <?page no="182"?> Sjef Houppermans 182 geant comme des écharpes, bruits de cuisine ou de salle de bain, de chasse d’eau, exclamations de jeux radiophoniques, disputes et cris d’enfants. 13 On dirait que l’auteur a choisi cet endroit à cause de l’étrange cohabitation des morts et des vivants qui facilite la subtile tactique de Delahaye. En errant dans les rangées du vrai cimetière d’Auteuil, on tombe sur des noms au son familier comme Deshayes, sur des caveaux mystérieusement vides, sur des plaques en marbre sans aucune inscription. Baumgartner plus tard se paye encore une visite du lieu de son enterrement: - Il est oisif, presque douloureusement oisif, il s’en va faire un tour au cimetière d’Auteuil qui est à deux pas et de dimensions modestes et où reposent pas mal d’Anglais, de barons et de capitaines de vaisseau. Quelques pierres tombales sont brisées, laissées à l’abandon, d’autres sont en réparation; l’un des monuments funéraires qui a l’air d’un petit pavillon, décoré de statues et du verbe Credo en place de paillasson, paraît en cours de ravalement. Baumgartner passe sans s’arrêter devant la tombe de Delahaye - quoique revenant sur ses pas pour y redresser un pot d’azalée renversé -, devant celle d’un inconnu sans doute malentendant - Hommage de ses amis sourds d’Orléans, crie la plaque - puis devant celle d’Hubert Robert - Fils respectueux, époux tendre, bon père, ami fidèle, murmure la plaque - et puis ça suffit comme ça: il sort du cimetière d’Auteuil et remonte la rue Claude- Lorrain vers Michel-Ange. 14 Cimetière d’Auteuil Ce que nous constatons c’est que tous ces lieux de passage (car le cimetière dans ce cas précis se transforme également en espace transitoire) sont exploités concurremment à d’autres fins. Ceci correspond à une caractéristique 13 Ibid., p. 76. 14 Ibid., p. 138sq. <?page no="183"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 183 générale du style d’Echenoz qui combine les longues lignes de la composition du roman avec les poses ponctuelles où l’auteur peaufine les paragraphes et les phrases. Pour ce qui concerne le cimetière, outre l’aspect ‚revenant’ du visiteur, se remarque l’ironie des inscriptions - genre de signes fort particulier - et le jeu avec les noms de peintres où les rues du quartier s’associent à ce Hubert Robert de la citation qui porte le même patronyme que le célèbre peintre des ruines. Si Baumgartner se promène par là c’est aussi qu’il habite le quartier depuis sa métamorphose. C’est plus précisément au début du Boulevard Exelmans qu’il s’est installé avec vue sur le jardin de l’Ambassade du Vietnam. Quartier de grand standing où les stars jouxtent les journalistes de prestige. Baumgartner y attend que le cambriolage et le vol s’oublient tout en profitant fort médiocrement de son temps libre. Or on n’imagine pas comme ça peut être joli vu de l’intérieur, le XVIe arrondissement. On aurait tendance à penser que c’est aussi triste que ça en a l’air, on a tort. Conçus comme des remparts ou des masques, ces austères boulevards et ces rues mortifères n’ont de sinistre que l’apparence: ils dissimulent des domiciles étonnamment avenants. C’est qu’une des plus ingénieuses ruses des riches consiste à faire croire qu’ils s’ennuient dans leurs quartiers, au point qu’on en viendrait presque à s’apitoyer, les plaindre et compatir à leur fortune comme si c’était un handicap, comme si elle imposait un mode de vie déprimant. Tu parles. On a tout à fait tort. 15 L’ambassade du Vietnam 15 Ibid., p. 101sq. <?page no="184"?> Sjef Houppermans 184 Au fur et à mesure de ses pérégrinations parisiennes Echenoz prend la mesure de la ville moderne et de ses particularités démographiques, en déchiffrant patiemment les signes, en variant ludiquement les perspectives. Dans Je m’en vais tout fonctionne par couples, oppositions, doubles et répétitions. De même pour ce qui regarde l’espace: les quartiers de prestige tels le 8 e et le 16 e arrondissement se voient contrastés avec le 18 e où crèche Rue de Suez le dénommé le Flétan, drogué à fond et à constamment à court d’argent. Acheté par Delahaye, ce halibut aux yeux exorbités va cambrioler la galerie de Ferrer avant de trouver la mort par congélation. Voici la description de son habitat: Du côté pair de la rue de Suez, la plupart des portes et fenêtres de vieux immeubles dépressifs sont aveuglés par des moellons disposés en opus incertum, signe d’expropriation avant l’anéantissement. L’un d’eux n’est pas entièrement obstrué: deux fenêtres au dernier étage respirent encore à peine. Protégeant des rideaux affaissé, leurs carreaux sont mats de poussière - l’un fendu de biais renforcé au chatterton, l’autre manquant remplacé par un sac-poubelle noir recadré. 16 Et le reste de ce site est à l’avenant. On peut noter en passant un trait typique du style d’Echenoz qui volontiers prête vie aux objets, aux bâtiments, tandis que l’être humain a tendance à se robotiser. Avant de s’en aller une ultime fois Félix Ferrer et Compagnie auront fait ainsi le tour de la ville pour le meilleur et pour le pire, sans trop se fixer surtout, mettant l’accent sur l’interminable dynamique urbaine. Au cœur de l’œuvre échenozéenne on trouve un lieu qui se détache d’une manière toute différente, comme endroit de fixage, espace obsessionnel, crypte sentimentale. L’auteur en dit: C’était un texte de circonstance. [...] Et puis j’avais, depuis longtemps, deux idées qui me travaillaient de façon récurrente, indépendamment l’une de l’autre. D’une part un souvenir d’enfance qu’on m’avait raconté, d’autre part un petit événement architectural dont j’avais été témoin, vers Stalingrad. Je ne sais plus très bien comment ça s’est passé parce que j’ai écrit ce texte assez vite, mais ces deux éléments se sont imbriqués d’eux-mêmes, comme s’ils attendaient mutuellement pour s’associer en une petite machine, comme s’ils se complétaient. Mais c’était un accident. 17 16 Ibid., p. 86sq. 17 Jean Echenoz dans une interview avec Claude Murcia dans Art Press 175 (1992) cité par Sjef Houppermans: „Pleins et trous dans l’œuvre de Jean Échonez“, dans: Michèle Ammouche-Kremers / Henk Hillenaar (eds.): Jeunes auteurs de Minuit, Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1994, p. 77-94, ici 86. <?page no="185"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 185 Le Canal Saint-Martin L’histoire commence ainsi: „Comme tout avait brûlé - la mère, les meubles et les photographies de la mère -, pour Fabre et le fils Paul c’était tout de suite beaucoup d’ouvrage [...].“ 18 Leur nouveau logis aura l’avantage de se situer près du Quai de Valmy où se trouve sur le mur d’un immeuble (le Wagner) la seule image qui reste de Sylvie, la mère, une gigantesque publicité pour une marque de parfum. Le père ainsi que le fils s’y rendent régulièrement. Un jour le bâtiment qui jouxte le Wagner doit être remplacé; la patine de l’image s’en intensifie, mais le gazon à ses pieds sera désormais négligé. Il s’avère que de la sorte pourra mûrir lentement le plan d’occupation consistant à élever un autre bâtiment moderne à côté du Wagner cachant cette fois-ci l’image de Sylvie. Après une longue consultation des plans, Fabre met tout en œuvre pour qu’il puisse occuper l’appartement situé à la hauteur du visage de Sylvie convaincant Paul après un certain temps de le rejoindre. Ensemble le père et le fils se mettent, un beau dimanche, à percer le mur. On les quitte en plein travail: „On gratte, on gratte et puis très vite on respire mal, on sue, il commence à faire terriblement chaud.“ 19 C’est ainsi que l’histoire se termine par une confusion complète du lieu et du désir. Le texte et ses mécanismes d’occupation édifient tenacement une crypte funéraire, un mausolée pour une dame et ses deux cavaliers. Si l’on compte les mesures et les niveaux tels que le récit les propose, on s’aperçoit d’ailleurs que l’endroit de la perforation ultime doit se situer plutôt au centre du corps, là où l’origine du monde invagine le désir. 18 Jean Echenoz: L’Occupation des Sols, Paris: Minuit, 1988, p. 7. 19 Ibid., p. 22. <?page no="186"?> Sjef Houppermans 186 La coïncidence souvenir-construction se matérialise donc Quai de Valmy sur les rives du Canal Saint-Martin et ce cadre aquatique convient bien à l’ambiance maternelle. 20 Pourtant, en flânant dans ces lieux il ne devient pas parfaitement clair comment les circonstances et les conditions se combinent. C’est „vers la Rue Marseille, la Rue Dieu“ 21 précise le texte et l’œil vigilant ne tardera pas à y détecter la Rue Beaurepaire. Le conte qu’est dans un sens L’Occupation des Sols illustre bien ce nom caché sous la page comme l’image de Sylvie. Rue Beaurepaire Ce genre de jeux onomastiques donne un air de gymkhana au récit parfois, ainsi dans Au piano où je ne relève que telle adresse du factotum Bernie: „le nouvel appartement de Bernie, au 42, était en effet plus spacieux que celui de la rue Murillo mais aussi beaucoup plus bruyant car donnant droit sur le boulevard.“ 22 Max Delmarc, le protagoniste de ce roman, va même s’y installer après avoir quitté le Montmorency, l’hôtel où il avait été affecté lors de son retour à Paris (boulevard Magenta). Le texte ne nous donne pas d’autres 20 Le souvenir de L’Hôtel du Nord plane dans les parages et Sylvie pourrait s’écrier avec Arletty: „Atmosphère? Atmosphère? Est-ce que j'ai une gueule d'atmosphère? “ 21 Echenoz: L’Occupation des Sols (voir note 18), p. 8. 22 Jean Echenoz: Au piano, Paris: Minuit, 2003, p. 213. <?page no="187"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 187 détails sur le 42 Boulevard du Temple, mais si l’on prend la peine d’aller voir le bâtiment en question on s’apercevra qu’un illustre prédécesseur y a habité. Il s’agit de Flaubert qui est pour Echenoz le prédécesseur par excellence, à cause de son raffinement stylistique bien sûr ainsi que pour ses exercices narratifs; mais ne constate-t-on pas aussi la même bipolarité que chez Echenoz pour ce qui concerne la tension entre le repaire de l’ermite et les vagabondages de l’aventurier? 42 Boulevard du Temple L’antagonisme entre déterritorialisation et reterritorialisation que L’Occupation des Sols expose sous forme d’allégorie, dessine la carte du territoire échenozéen où le désir oscille entre l’utopie des lieux de haute sécurité et les glissements progressifs du flâneur. Un dernier exemple concerne L’Équipée malaise, roman se présentant comme pseudo-pastiche de Balzac (Les parents pauvres) et qui exhibe le malaise existentiel à travers les périples dans l’espace des différents comparses. La Malaisie comme lieu de toutes les réactions instinctives mais Paris également où de Bob à Paul et de Paul à Justine on se manque irremediablement. Plutôt que la figure du jeune premier déboussolé est valorisée de manière ludique l’attitude de l’oncle Charles, clochard de service qui tout en grommelant cherche et trouve occasionnellement la baignoire et l’alcôve de sa Gina de Beer. Terminons toutefois par le regard que la nouvelle Justine, la jeune désirante et désirée du contexte livresque, jette sur la ville à partir de son cinquième étage, en attente d’une suite de sa vie trop peu romanesque à son goût: <?page no="188"?> Sjef Houppermans 188 Dehors, au-delà des arbres se développait un diorama d’ateliers vitrés, de petits commerces au rez-de-chaussée d’autres immeubles qui se dissolvaient dans la nuit tombée. Autour du square sinuaient des phares tels des poissons-torpilles, en quête d’une anfractuosité dans le roc parcmétrique. Les fenêtres étaient des carrés jaunes et des rectangles blancs, des cadres contenant d’autres cadres: à la télévision, une grosse machine aléatoire crachait des boules de couleur vive. 23 La dissolution dans la nuit, l’illusion omniprésente des lumières du diorama et de la télé qui absorbent les regards et manipulent les destins; puis entre ces éclairs et ces rutilances, entre chien et loup, la recherche de l’anfractuosité où l’on peut se caser. En 2010 la trilogie bio-romancée s’achève par la publication de Des Éclairs. C’est le récit de la vie mouvementée de Nikola Tesla que cette fois-ci Echenoz rebaptise Gregor. Ce serait plutôt un souvenir du Mac Gregor provenant des Trois Lanciers du Bengale que d’être un souvenir kafkaïen suivant l’auteur. 24 Pourtant cette dernière dimension pourrait ne pas être complètement absente si l’on pense à Amérique notamment, dit Echenoz à l’occasion de l’entretien avec Alain Veinstein. 25 Pendant l’interview en question l’intention qui se trouve derrière les trois ‚romans de vies’ se précise: il s’agit chaque fois d’une „vie volée par l’obsession“, d’une existence qui n’est pas linéaire mais qui connaît une dimension de drame suivant des „lignes accidentées“. L’exemple inspirateur serait les Vies Imaginaires de Marcel Schwob où l’on trouve l’affirmation que „le biographe n’a pas à se préoccuper d’être vrai“. 26 Il importe de dégager le mouvement essentiel qui porte une existence. Ce mouvement est donc dramatique et pour le cas présent se profile en tant que „grandeur et décadence“. Tesla est un scientifique né à Smiljan en 1856 et qui „a inventé tout ce qui va être utile aux siècles à venir.“ 27 Son inadaptation sociale en est la cause qu’il ne profite que modérément de ses affaires et qu’il meurt fort pauvrement. Ce dompteur du dragon électricité sera terrassé par le moloch capitaliste. Dans sa solitude „ne lui resteront que la compagnie des éclairs et le théâtre des oiseaux.“ 28 Ce théâtre, c’est le manège des pigeons qu’il héberge et dorlote (alors que par contraste le narrateur en misocolombe les conspue). Cette vie avec ses hauts et ses bas se projette sur le fond de la ville de New York laquelle spatialisation du drame nous fait retrouver notre fil conducteur. Comme tant d’autres jeunes gens, Tesla (Gregor) va chercher son salut en Amérique et il défiera le grand Thomas Edison en introduisant le 23 Jean Echenoz: L’Equipée malaise, Paris: Minuit, 1987, p. 18. 24 Film de Henry Hathaway datant de 1935. Echenoz en parle dans son entretien avec Alain Veinstein (voir note 2). 25 Cf. ibid. 26 Marcel Schwob: Vies imaginaires, Paris: Gallimard, coll. L’Imaginaire, 1994, préface. 27 Jean Echenoz: Des éclairs, Paris: Minuit, 2010, quatrième de couverture. 28 Ibid. <?page no="189"?> JEAN ECHENOZ à l’endroit 189 courant alternatif. Son triomphe se solidifie quand il peut faire son entrée dans le Waldorf Astoria, l’hôtel le plus luxueux de tout New York où il occupe en permanence une suite de grand prestige et se fait soigner avec une méticulosité toute roussellienne. Mais cette splendeur ne durera pas: avec l’âge et l’abandon des mécènes le cadre se dégrade. D’abord il peut encore se permettre le Saint Régis, mais la chute va s’accentuer: Il est vrai que son corps et le décor ont changé. L’espace hôtelier s’est rétréci autour de lui qui ne dispose plus que d’un galetas sur cour [...]. Quand il jette un coup d’œil par la fenêtre, son regard ne peut plus se poser sur l’immensité newyorkaise comme il était encore possible depuis son quatorzième étage au Saint Régis, qui commandait toute la ville jusqu’au fleuve. Fini le grand ciel peuplé d’éclairs par-dessus le skyline. A travers les vitres de l’hôtel New Yorker, où il réside maintenant, il n’a qu’un mur aveugle en face de lui et, derrière lui, fichée sur un trépied, la pigeonne empaillée. 29 Cette dramatisation de l’espace se manifeste encore par d’autres verticalités: par exemple la passion des tours dont Tesla fait édifier plusieurs exemplaires. L’une se dresse dans le désert du Colorado afin d’y provoquer les plus magiques détonations électriques. L’autre est construite à Long Island suivant un grand projet secret du visionnaire qui veut établir un réseau d’énergie autour de la terre dont tout un chacun profitera librement. L’idéalisme néoromantique du grand sorcier ne pourra bien sûr pas concorder avec l’âpreté au gain du grand capitaliste John Pierpont Morgan qui l’avait embauché. La tour sera abandonnée comme celle de cet autre illuminé que fut William Beckford. Après un accident de voiture sa santé décline de plus en plus et il s’éteint en 1943: Un matin, resté couché, Gregor demande instamment à cette femme [de ménage] de suspendre à la poignée de la porte, en sortant, un carton imprimé priant de ne pas le déranger. Malgré le piaillement croissant des oiseaux affamés [les pigeons qu’il héberge], affolés dans leurs cages tout autour de son lit, on attendra trois jours avant d’enfreindre la consigne. 30 Ce Christ de la colombophilie qui s’est élevé mythiquement à bord des fusées de l’esprit moderne termine ainsi son voyage en gisant. 29 Ibid., p. 162. Apprécions l’hommage à Flaubert (remarque de l’auteur). 30 Ibid., p. 174sq. <?page no="190"?> Sjef Houppermans 190 Nikola Tesla devant sa turbine à Colorado Springs (1893) <?page no="191"?> Winfried Wehle Literatur als Bewegungsraum. Prousts kinästhetischer Ausgang aus der Krise des modernen Subjekts Geht man von der Geschichte aus, die Proust sein erzählendes Ich vortragen lässt, so führt sie es in verschlungenen Wegen, Umwegen, Abwegen durch die selva oscura seines Lebens, hin- und hergerissen zwischen „souffrance“ und „joie“. Da ist auf der einen Seite das Bedürfnis des Ich, ihm als Schriftsteller eine Identität abzugewinnen - seine „vocation“ (IV, 478). Auf der anderen Seite aber lässt es sich dabei von einem Anspruch leiten, den es danach auf denkwürdige Weise annulliert: dass diese literarische Rekonstruktion seinem Lebensstoff ein „sujet philosophique“ im Rang einer „vérité abstraite“ abzugewinnen habe (I, 176). 1 Proust inszeniert hier eigentlich ein Problem, das er in seiner Vorstudie zur Recherche, in Contre Sainte-Beuve, bereits verworfen hatte. 2 Als Wiederaufnahme wird es hier aber gerade als notwendige Voraussetzung in Zusammenhang gebracht mit dem Gelingen seiner Recherche. Vom Anfang zum Ende vollzieht sich so ein Prozess, in dem sich exemplarisch die Ablösung einer zweiten von einer ersten Moderne ereignet. Die Recherche gibt sich dabei als ein grundsätzlicher Discours de la méthode zu erkennen. Zwar äußert sie sich nicht so lauthals, ungestüm und provokativ wie die umgebenden Avantgarden. Wie jedoch ihre Anziehungskraft gerade auf systematisch denkende Köpfe des 20. Jahrhunderts zeigt, hat sie nachhaltig eine grundlegende Umwertung der Zeit sprachmächtig werden lassen. Sie besagt, dass die Zeit von positivistischen wie idealistischen Anleitungen des Denkens um ist. Die Dekadenz ist voll von deren Abgesängen. Wie soll man fortan „connaître l’homme“, eine Frage, die Proust aus Contre Sainte-Beuve übernommen hat (CSB 220)? Sie kann jedenfalls nicht länger philosophisch, sie muss ästhetisch aufgeworfen werden. Anders gesagt: zuständig für Philosophie in der Zweiten Moderne wäre Kunst. Am langen Schreibweg der Recherche mag zu ermessen sein, wieviel Tradition dabei zu überwinden war. Der Aufwand hat sich in einer Reihe von 1 Ausgabe: Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, 4 vol., vol I, ed. Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1987. Zitate im Folgenden abgekürzt mit Band- und Seitenzahl dieser Ausgabe. 2 Marcel Proust: Contre Sainte-Beuve, éd. établie par Pierre Clarac / Yves Sandre, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1971, p. 211-213. - Zitate abgekürzt nach dieser Ausgabe: CSB und Seitenzahl. <?page no="192"?> Winfried Wehle 192 intellektuellen Vatermorden niedergeschlagen. Neben Sainte-Beuve traf es auch Mallarmé, Ruskin und manch anderen seiner Pastiches. Im Grunde gilt dies selbst für Henri Bergson. Wer dessen Essais sur les données immédiates de la conscience zusammen mit der Recherche liest, erkennt, wie intensiv Proust sich anknüpfend-abwendend auf ihn bezieht. Zwar verwirft auch Bergsons lebensphilosophische Kritik die Lebensbegriffe des 19. Jahrhunderts als uneigentlich. In letzter Konsequenz bleibt er aber noch immer einem erweiterten Begriff von philosophischer Wissenschaftlichkeit verpflichtet: „l’intelligence reste le noyau lumineux autour duquel l’instinct [...] ne forme qu’une nébulosité vague“ - um sich im gleichen Atemzug dennoch das Defizitäre dieser Selbstverpflichtung einzugestehen: „L’intention de la vie, le mouvement simple qui court à travers les lignes, qui lie les unes aux autres et leur donne une signification, lui [i.e. à l’intelligence] échappe.“ 3 Und dann formuliert er einen Satz, der ihn nicht nur gleichsam selbst überwindet, sondern zugleich eine Recherche ins Auge fasst, die im Grunde nichts Geringeres als das Schreibprojekt Prousts umreißt: „C’est cette intention que l’artiste vise à ressaisir en se plaçant à l’intérieur de l’objet par une espèce de sympathie, en abaissant [...] la barrière que l’espace interpose entre lui et le modèle [i.e. l’objet].“ 4 Früh bezieht Proust genau in diesem Sinne Position. Bereits die Préface zu Contre Sainte-Beuve hatte Bergsons psychologische Erkenntnislehre aufgenommen - um sie radikal zu vollenden: „l’intelligence ne mérite pas la couronne suprême [...]; l’instinct doit occuper la première place“ (CSB 63). Worauf stützt sich Prousts kapitale Umwertung der traditionellen Wertehierarchie? Für seinen Roman war sie, auch im wissenschaftlichen Sinne des Wortes, keine Frage der Anwendung mehr, sondern einer Recherche. Zumal vom Ende her gesehen erscheint der Anfang des Romans wie die Eröffnung einer phänomenologischen Reduktion in dieser Absicht. Ausgangspunkt ist ein Ich, allein, in einem allenfalls schemenhaften Raum, so gut wie situationslos, das seinen Erinnerungen nachgeht. Gänzlich ausgeblendet ist die Stadt, in der man das Ich biographisch situieren darf. Draußen ist Bewegung, die erst - raumsymbolisch - drinnen als bewegend empfunden wird; eine der Grunderfahrungen von La Prisonnière. Am Ende ist das Ich wieder in einem konturlosen Zimmer, aber jetzt, um schreibend festzuhalten, was es erin- 3 Henri Bergson: Œuvres, ed. André Robinet / Henri Gouhier, Paris: P.U.F., 3 1970, p. 645. - Zitiert als B und Seitenzahl. 4 Bereits in seinem ersten Werk Essais sur les données immédiates hatte er gleichsam das Konzept einer künftigen Kunst umrissen: „que si maintenant quelque romancier hardi, déchirant la toile habilement tissée de notre moi conventionnel, nous montre sous cette logique apparente une absurdité fondamentale (...), nous le louons de nous avoir mieux connus que nous ne nous connaissons nous-mêmes (B 88). - Proust selbst aus der Gegenperspektive: „nous avons peine à croire que la science [...], puisqu’il n’y a de science que du général, puisse jamais se confondre avec l’art qui a pour mission ce particulier, cet individuel, que les synthèses de la science laissent échapper“ (CSB 495). <?page no="193"?> Literatur als Bewegungsraum 193 nernd in Erfahrung gebracht hat. Proust hat lange um diesen Eingang gerungen. 5 Insofern ist er programmatisch ausgezeichnet. Wenn das Ich sich erzählend vergegenwärtigt, wie es sich früher dem Einschlafen und Aufwachen hingegeben hatte, dann um sich jetzt die Bedeutung dieser Schwelle bewusst zu machen. Eingelassen ist diese Ursprungsszene des Romans in einen Hell-Dunkel-Kontrast. Ganz offensichtlich sucht sich das Ich der therapeutischen Entlastung der Dunkelheit zu vergewissern - während es selbst, im Umkehrschluss, sich im belastenden Zustand der Helligkeit befindet. Der Wortlaut des Textes stattet diese Szene sogleich mit traditionsschweren Symbolwerten aus: das Ich weiß sich im Lichte des Verstandes („esprit“); da das Ich sich der Dunkelheit anzuvertrauen sucht, ist das helle Bewusstsein, der Verstand das Problem. Offenbar vermag nur diese dunkle Art der Wahrnehmung eine Denkweise zu suspendieren, die nach Ursachen fragt und verstehen will („cause“; „compréhensible“; I, 3). Dies scheint nicht das geringste Indiz für eine kritische Wendung gegen rationalistische Bearbeitungen unserer Wahrnehmungen. Warum aber seine Geschichte von einem geschlossenen Raum ausgehen lassen? Proust nimmt damit bildlich eine heftige Debatte auf, die die herrschende Anschauung von Raum grundlegend in Frage stellt, aber die positivistische Begründbarkeit einer „vérité logique“ (IV, 458) meint. H. G. Lewis hatte sie mit Problems of Life and Mind (seit 1870) in Zweifel gezogen. Ernst Mach (Eine biologischteleologische Betrachtung über den Raum, 1903) sie von der Seite physischer Psychologie unterlaufen; Georg Simmel gesellschaftstheoretisch („Soziologie des Raumes“, 1903); 6 Edmund Husserl phänomenologisch (Ding und Raum, 1907); Bergson lebensphilosophisch (Essai sur les données immédiates de la conscience, 1889) et al. 7 In diesen Kontext tritt auch Proust ein. Seine Auslassungen im Schlussteil Le Temps retrouvé führen nur explikativ aus, was bereits im Anfang, einer japanischen Papierblume gleich, bildlich angezeigt wird. Der methodische Zweifel hatte einen gemeinsamen Nenner: dass Raum nicht objektiv gegeben, sondern subjektiv, im Verhältnis zum eigenen Körper und seinen Bewegungen gemacht wird. Wie kam es zu der irrigen Auffassung? Weil man die Wirkung für die Ursache hielt. Die Diskussion 5 Cf. Winfried Wehle: „In der Arche Noah der Kunst - Prousts Roman als Recherche“, in: Reiner Speck / Rainer Moritz / Michael Magner (eds.): Proustiana XXII - Mitteilungen der Marcel Proust Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Insel, 2005, p. 9-43 mit den entsprechenden Belegen. 6 Georg Simmel: „Soziologie des Raumes“, in: Id.: Georg-Simmel-Gesamtausgabe VII, ed. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, p. 132-183. 7 Eine Diskussion, die seither kulturwissenschaftliche Fragestellungen bestimmt. Cf. etwa Dagmar Reichert (ed.): Räumliches Denken, Zürich: vdf Hochschulverlag, 1996; Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz: Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M.: Fischer, 2004; Jörg Dünne / Stephan Günzel (eds.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006; Kathrin Dennerlein: Narratologie des Raumes, Berlin: de Gruyter, 2009. <?page no="194"?> Winfried Wehle 194 der Zeit hat, verkürzt gesagt, das Verhältnis richtig gestellt, das heißt umgekehrt. Jetzt gilt: die sinnlichen Wahrnehmungen bieten nur das perzeptive Rohmaterial, aus dem die Räume sind. 8 Was sie uns unsprachlich, ungeistig, afferent mitteilen, wird doppelt, nach den anthropologischen Registern von Intellekt und Instinkt verzeichnet und in eigenen Gedächtnisorten abgelegt: in den beiden mémoires Prousts. Das Verstandesvermögen entnimmt den Sinnesdaten das, was sich allgemein durchhält, das Gleichbleibend-Konstante, Typen- und Gattungshafte und setzt es in Beziehung zu dem, was es schon weiß und identifiziert, so Begriffsräume der praktischen Vernunft. Nicht die geringste Rolle spielt dabei deren sprachliche Fixierung. Ein Name etwa legt jemanden auf ein Format fest, das ihn über alle Wandlungen eines Lebens hinweg festhält. Der Bal de têtes auf der Matinée de Guermantes entlarvt diese Vorurteilsstruktur unnachsichtig als „représentations spatiales“. 9 Sie können eine Persönlichkeit nur simulieren, weil hinter ihnen kein bindendes Original steht. Proust geht sogar so weit, der Realität selbst diesen Scheincharakter zu unterstellen: „la réalité ne se forme que dans la mémoire [i.e. de l’intelligence]“ (I, 182) und das heißt, nach ihren - habituellen - Kriterien. Andererseits formt sie ein Ich nach Bildern, mit denen andere auf mich reagieren: Fremdeigenbestimmung. Proust: „notre personnalité sociale est une création de la pensée des autres“ - also ebenfalls ein „acte intellectuel“ (I, 19) in seinem Sinne. Ich und der andere sind mithin psychophysische Projektionsräume, die wir mit der Festigkeit einer „notion immobile“ (IV, 153) ausstatten, wie sie im Umlauf sind. Unter diesem Aspekt betrachtet, weist der Verstand also unsere sinnlichen Wahrnehmungen in seine Speicherplätze ein. Sie gehorchen, wie Proust sagt, den „nécessités de la vie“ (I, 42). Dem steht deren ganz anders geartete Verarbeitung durch den Instinkt, das Begehrungsvermögen gegenüber. Es reagiert nicht denkend, sondern empfindend auf sie, sucht in ihrer Vielfalt nicht die Einheit, sondern das Einmalige des Eindrucks („impression“; IV, 477). 10 Es registriert mithin nicht, was über den Moment hinaus einer stabilen Identität zuarbeitet, sondern was einen momentan - zutiefst - bewegt. „Excitation“ ist, nach Bergson (B 295) und Proust (I, 4), sein Erkennungsmerkmal. Sie wiederum setzt die Imagination in Bewegung, „seul organe pour jouir de la beauté“ (IV, 450). Das Madeleine-Ereignis oder das der Kirchtürme von Martinville haben es erzählend umgesetzt. Sie sprechen das Ich, sonst im sedimentierten Zustand des Intellekts, nicht mit den Be- 8 Cf. allg. Michaela Ott: „Raum - ein heteronomisierender Relationsbegriff“, in: Karlheinz Barck et al. (eds.): Ästhetische Grundbegriffe V, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2003, p. 113-149. 9 Wie Bergson die Voraussetzung abstrakter Ideen qualifiziert (B 1285). 10 „L’impression est pour l’écrivain ce qu’est l’expérimentation pour le savant, avec cette différence que chez le savant le travail de l’intelligence précède et chez l’écrivain vient après“ (IV, 459). <?page no="195"?> Literatur als Bewegungsraum 195 griffen von anderen, sondern mit höchst individuellen Eindrücken an. Gewiss, es sind „instantanés“, sprachliche Momentaufnahmen, wie Proust sie nennt (IV, 444), 11 Inbegriffe für die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Zeit. Eine Erfahrung von Linearität, Kausalität oder Finalität lässt sich daraus nicht mehr ableiten. Als innere Bewegung sind sie für den Verstand unzugänglich: „tous les efforts de notre intelligence sont inutiles“ (I, 44). Dennoch können auch ihre Sinnesblitze in einer sehr elementaren Weise Platz finden in einem Gedächtnis eigenen Rechts. Dies vollbringt die berühmt gewordene „mémoire involontaire“ (I, 44sq.). Ihrem kreatürlichen Charakter gemäß ereignet sie sich „hors de son [i.e. de l’intelligence] domaine et de sa portée“; hat sich niedergeschlagen „en quelque objet matériel, dépourvu de valeur intellectuel et ne se rapportant à aucune vérité abstraite“ (I, 176), verzaubert wie die Prinzessinnen des Märchens. Nur eine gänzlich unmotivierte, absichtslose, weil dingliche Begegnung vermag sie deshalb wieder zu erwecken. Der Verstand würde es als Zufall, Arbitrarität abtun. In surrealistischer Umgebung wird es dann „trouvaille“ heißen, der Sesamöffne-dich für die nächtlichen Depots des Bewusstseins. 12 Früh schon hatte Proust selbst, im Temps retrouvé, diese unverfügbaren „impressions“ als den Tiefenraum des „inconscient“ (IV, 458) identifiziert. Hierhin habe sich „notre vrai moi“ zurückgezogen. Dessen ‚Wahrheit‘ konnte dem zurückschauenden Ich jedoch nur im Durchgang durch die negative Erkenntnis der „souffrance“ (IV, 477) aufgehen. Sie hatte ihm instinktiv sein ‚falsches Leben‘ zu Bewusstsein gebracht: „nous vivons détourné de nous-même; l’amourpropre, la passion, l’intelligence et l’habitude aussi [...] amassent au-dessus de nos impressions vraies [...] les nomenclatures, les buts pratiques que nous appelons faussement la vie“ (IV, 474sq.). Dies sind die Folgen eines Denkens, Fühlens und Wollens, das dem praktischen Imperativ des Intellekts unterworfen wurde. Der Angeklagte dieses enteigneten Lebensgefühls („clichés“, ibid.) ist, über die ganze Recherche hinweg, die „habitude“ (I, 8). Um ihrer „influence anesthésiante“ (I, 10) zu entkommen, sieht sich das Ich mit einer geradezu paradoxen Herausforderung konfrontiert: mit den Mitteln eben dieser instrumentellen intelligence und ihren Schutzvorrichtungen der mémoire volontaire zu versuchen, aus den Gemeinplätzen auszubrechen, die sie sich selbst zugelegt hat. Wie wir wissen, ist dies dem erinnernden Ich auf der Matinée de Guermantes auf dramatische Weise gelungen. Den Schlüssel dazu bot ein Wissen über die Natur des Menschen, auf das Literatur seit der Moderne der Romantik immer entschiedener eindrang und das Ende des 19. Jahrhunderts 11 Alain Robbe-Grillet hat daraus eine experimentelle photoliterarische ‚Gattung’ gemacht. Cf. Id.: Instantanés, Paris: Minuit, 1962. 12 Es besteht eine auffällige Genealogie zum „hasard objectif“ in der surrealistischen Poetik, der sich, wie bei Proust, an sprechenden Objekten entlädt und eine „trouvaille“ auslöst. Entwickelt in: André Breton: L’Amour fou, Paris: Gallimard, 1975. <?page no="196"?> Winfried Wehle 196 wissenschaftlichen Rang erlangte: die Kinästhesie, die Lehre von einer vorrationalen, unsprachlichen Bewegungsintelligenz des Körpers. 13 Sie verdankt sich ihrerseits einem großen Ablösungsprozess. Er hat sich zunächst von der Vorstellung verabschiedet, dass das, was die Welt und, anthropozentrisch, den Menschen im Innersten zusammenhält, transzendent zu garantieren wäre. Literarisch und psychologisch stand dafür lange Zeit der metaphysisch beheimatete Begriff der âme. Mit ihm war ein Menschenbild verbunden, das die Natur des Geistes auszuarbeiten hatte. Als jedoch Mallarmé dem Azur abschwor 14 und Apollinaire Apoll symbolträchtig den Kopf abschlug, 15 war auch von naturwissenschaftlicher Seite längst eine Gegengottheit in Stellung gebracht: sie hatte ihren Sitz im corps. Mit ihm aber war jenes andere Wissen aufgerufen, das sich im „Gedächtnis des Leibes“ (Gehlen) einlagert. 16 Namentlich medizinische und physiologische Psychologie hatten im Namen von Kinästhesie begonnen, hinter die unwillkürlichen Geheimnisse seiner bioenergetischen Bibliothek zu kommen. Denn je umfassender die Wissenschaften die menschliche Natur nach ihren Gesichtspunkten zubereiteten, desto mehr wurden ihre Anmeldungen aus der Tiefe zum 13 Die Verwissenschaftlichung dieser neuen Einsichten ging von verschiedensten psychologischen und physiologischen Seiten aus. Um nur einige zu nennen: Henry Ch. Bastian: The Brain as an Organ of Mind, London: Kegan Paul, 1880, auf den Bergson seinen Begriff der „images kinesthésiques“ mehrfach bezieht (z.B. B p. 951); Edmund B. Delabarre: Über Bewegungsempfindungen, Freiburg: H. Epstein, 1891; Carl Wernicke: Grundriß der Psychiatrie, Leipzig: Georg Thieme, 2 1906; Ange Ernest A. Ferrand: Le langage, la parole et les aphasies, Paris: Rueff, 1894. Von dieser Seite her cf. ergänzend die Bibliographie von Stefano Poggi: „Proust, Bergson und der aphasische Systemkomplex“, in: Ursula Link-Heer / Volker Roloff (eds.): Marcel Proust und die Philosophie, Frankfurt a. M.: Insel, 1997, p. 158-174, hier bes. 171sq. - Von der Seite einer „mémoire affective“ her cf. Paul Sollier: Le problème de la mémoire, Paris: Alcan, 1900, einer möglichen Inspirationsquelle Prousts, gewürdigt von Philipp Engel / Irene Albers: „Prousts Poetik der ‚affektiven Erinnerung’: Historische und aktuelle Perspektiven“, Comparatio 2/ 2 (2010), p. 199-218 (mit weiterer Literatur). - Cf. allg. auch Jean Starobinski: Kleine Geschichte des Körpergefühls, Konstanz: Universitätsverlag, 1987 sowie Alain Berthoz: Le sens du mouvement, Paris: Odile Jacob, 1997, bes. Kap II. und Christina Lechtermann / Carsten Morsch (eds.): Kunst in Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Bern, Berlin: Peter Lang, 2004. 14 Stéphane Mallarmé: „L’Azur“, in: Id.: Œuvres complètes, ed. Henry Mondor / G. Jean- Aubry, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1945, p. 37-38, hier 37: „Le Ciel est mort.“ 15 Guillaume Apollinaire: „Zone“, in: Id.: Œuvres poétiques, ed. M. Adéma / M. Décaudin, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1965, p. 39-44, hier 44: „Soleil cou coupé“, Anspielung auf Apoll / Apollinaire und seine Grundfigur des „malaimé“. 16 Gewissermaßen als eine Philosophie der Körpersprache aufgenommen und ins Recht gesetzt gegen wissenschaftliche Entwurzelungen der Sprache von Michel Serres: Les cinq sens. Philosophie des corps mêlés, Paris: Grasset, 1985, cf. etwa p. 117-119. (dt.: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998). - Eine andere Rückbindung des Denkens ans Wissen des Leibes schlägt etwa Richard Shusterman von psychosomatischer Seite her vor. Cf. Shusterman: Performing Life. Aesthetic Alternatives for the End of Arts, Ithaca, London: Cornell University Press, 2000. <?page no="197"?> Literatur als Bewegungsraum 197 Schweigen gebracht. Ende des 19. Jahrhunderts schien ein Zustand erreicht, den Nietzsche zugespitzt auf diesen Nenner brachte: „wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zu Grunde zu gehen.“ 17 Doch was hat der Rückgang auf den Körper zu diesem Unbehagen in der Kultur (Freud) zu sagen? Die Eröffnungsszene der Recherche bietet nun genau dazu eine grundlegende narrative Ausführung an. Das erzählende Ich befindet sich im Zustand des kulturellen Sündenfalls, wo raison und esprit, die Dinge um uns und damit unsere Gedankengänge immobilisieren: „l’immobilité des choses autour de nous; l’immobilité de notre pensée en face d’elles“ (I, 6). Ihr Idol, die „certitude“, weist ihnen einen festen Platz zu, der den „nécessités de la vie“ geschuldet ist. Das Ich erinnert sich deshalb an den Jungen, der es damals war und an die Erfahrungen, die er im abgedunkelten Zwischenraum von Wachen und Schlafen gemacht hat. Proust bereitet in dieser Szene nichts Geringeres als eine Flucht aus den Kategorien vor, in die uns die „mémoire volontaire, la mémoire de l’intelligence“ (I, 43) einschließt. Außerhalb, unterhalb, in der Welt des Halbschlafs, herrschen umstürzend andere Verhältnisse: ein „bouleversement complet“ (I, 5) der Wahrnehmung findet statt. Zeit- und Raumordnungen sind außer Kraft gesetzt. Die Eindrücke haben sich aus den festen Stellen losgerissen, die ihnen das Denkvermögen zugewiesen hatte. Nun zirkulieren sie wieder frei und unkontrolliert, einem Kaleidoskop, einer „lanterne magique“ (I, 9), einem „kinétoscope“ (I, 7) gleich und leben ihre assoziative Mobilität aus. Dem suchenden Ich scheint es, als ob es sich in einem ‚Zauberstuhl‘ („fauteuil magique“) befände. So ganz außer sich kommt es schließlich auf den Grund dieser Bewegtheit: jenseits aller verstandesgemäßen Bevormundungen herrscht das Körpergefühl und sein vegetatives Gedächtnis (I, 6). Es vertritt eine schlechthin antimetaphysische Position: dem Verstand erscheint es zwar als ein „néant“. Der Instinkt, dem es gehorcht, erkennt darin jedoch ein eigenes, urwüchsiges Prinzip: das „sentiment de l’existence“ ( I, 5 ). Es hat, mit Bergson zu sprechen, nichts anderes im Sinn als „l’attention à la vie“ (B 166) - mit anderen Worten: ein memento vitae, lebhaft leben zu wollen. Der Körper reagiert ständig auf neu eintreffende Sinneswahrnehmungen. Instinktiv weiß er, etwa in Glücks- oder Gefahrensituationen, sofort und unvermittelt, wie er auf einem Stimulus von außen zu antworten hat. Also muss er, so die Grundannahme der Kinästhesie, über ein eigenes, elementares Koordinatensystem verfügen, das blitzschnell seinen Standort zwischen einem hier und dort, nah und fern, oben und unten, lebenswichtig und -unwichtig, vor allem aber zwischen beglückend und zerstörerisch zu unterscheiden vermag. Es muss insofern über ein vitales Richtungs- und Raumbewusstsein verfügen, das sozusagen blind seinen Weg kennt. Möglich ist diese krea- 17 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Stuttgart: Kröner, 1954, p. 318. <?page no="198"?> Winfried Wehle 198 türliche Orientierungsleistung jedoch nur, weil der Körper die sensorischmotorischen Eingaben stets mit früheren Erfahrungen abgleicht, die er in seinem eigenen, bio-logischen Gedächtnis archiviert hat. Hier hat Proust angesetzt. Ihm kommt das überragende Verdienst zu, sich den Beginn seiner großen Recherche mit einer solchen Initiation erschlossen zu haben. Mehr noch: wie viel ihn dazu auch die zeitgenössische Fachdiskussion angeregt haben mag - das ganz eigene Wissen der Literatur über die menschliche ‚Seele‘ brachte ihn dazu, philosophische und wissenschaftliche Standpunkte und damit auch die Position Bergsons selbst zu überschreiten und den Orientierungssinn der Kinästhesie in einem kinästhetischen „Bewegungsraum“ 18 nachzubilden - dem Roman. Dazu musste er allerdings zunächst die Frage beantworten, nach welchem Kriterium das Körpergedächtnis sich seine Daten in seine vegetative Topographie 19 („simplicité première“; I, 5) einträgt. Proust lässt abermals keinen Zweifel: souffrance ist das Siegel dieser phatischen Wahrheitsfindung, das alogische Gegenstück zu Klarheit und Evidenz in der Welt des Intellekts. Alles, was wir leidend in Erfahrung bringen, geht uns deshalb zutiefst etwas an. Doch wie an diese kulturell verschüttete, aber gerade dadurch vital erhaltene mémoire vraie gelangen? Prousts Ansatz ist richtungsweisend. Er lässt das Ich seines Romans einen Weg gehen, der aus seiner Jetztwelt der habitude zurück zu den bewegenden Motiven führt, welche die praktische Vernunft verdunkelt hat. Erste Richtungsentscheidung ist demgemäß, aus der Helligkeit des Verstandes herauszutreten und bewusst der nächtlichen Seite unserer Gedankentätigkeit Raum zu geben. Eine verbürgte Kulturform dieser Rationalismuskritik repräsentiert der Schlaf. Was weiß er mehr als unsere Lebensgewohnheiten? Nicht nur, dass er im Traum alle vernünftigen Schranken überwindet, wie Proust es am Beispiel des lesenden Jungen zu Beginn vorführt. Er vermag auch an das Körpergedächtnis und seinen Orientierungssinn zu appellieren („mon corps“; I, 6). Für Momente durchdringt er den normativen Vorhang der habitude und lässt frühere Zimmer vorüber ziehen, in denen das Ich geschlafen hat. Sie wiederum geben den Anstoß für die „mémoire (volontaire)“ (I, 9), in den Wachphasen 18 Arnold Gehlen hatte den Begriff in anthropologischer Hinsicht verwendet, ihm aber die Eigenschaften der Kinästhesie zugeschrieben (Cf. Id.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: Quelle und Meyer, 12 1978, p. 175sqq.). Allerdings ging er nicht darauf ein, dass zumal ‚moderne’ Künste ihn bewusst in kulturtherapeutischer Absicht einsetzen würden. 19 Die Landschaftstypologie Prousts, namentlich der beiden Wege, die von Combray ausgehen, können als Wegekarte einer inneren Landschaft gelesen werden, die die Dimensionen von Intellekt und Instinkt kartographiert. Zu dieser Betrachtungsweise cf. Franziska Sick: „Erzählte Karten, Erzählkarten. Morus, Novalis, Goethe, Robbe-Grillet, Gracq“, in: Ingrid Baumgärtner / Paul-Gerhard Klumbies / Franziska Sick (eds.): Raumkonzepte: Disziplinäre Zugänge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, p. 199- 232. <?page no="199"?> Literatur als Bewegungsraum 199 danach sich dieser Räume zu vergewissern. Und so findet das Ich schließlich zumindest das topographische Gerüst seines Erlebens: Räume; Orte; Combray, Balbec, Paris, Doncières, Venedig, Tansonville. Warum gerade sie? In ihnen sind die wesentlichen Fixpunkte („point fixe et douloureux“; ibid.) wie Kreuzwegstationen seiner erotischen Leidensgeschichte festgehalten. Das erinnernde Ich erfährt dadurch erste Umrisse seines verschütteten Identitätsgebäudes. Jetzt kommt es darauf an, diese Räume, die es von Grund auf so bewegt haben, zu vertiefen. Für den, der aufbrach, das Schreiben zu lernen, hatte sich ein Aufbauschema verheißen. Wer - zumal verlorene - Zeit darstellen will, muss sie, mit einer zeitgenössischen Schrift von Friedrich Ratzel zu sprechen, im Raume lesen. 20 Insofern darf die Recherche ein Raumroman genannt werden. War dies aber nicht zeichenhaft unmittelbar in der Eingangsszene bereits gedeutet worden, ohne dass das erinnernde Ich es schon begriff, als der in die Nacht hinein lesende Junge in der allerersten seiner träumerischen Verwandlungen sich als ‚Kirche‘ wiederfand, die sich am Ende dann als die Hohlform des Romans erwies, der soeben anhob? Wäre es dabei geblieben, hätte die Recherche vor allem als Gesellschafts-, Sitten- und Dekadenzroman gegolten, vergleichbar den Buddenbrooks von Thomas Mann. Er würde nur den halben Weg auf der Suche nach einer authentischen Selbsterfahrung, jenseits seines anfänglichen sujet philosophique zurückgelegt haben. Von Anfang an war deshalb ein ursprünglicherer Einlass in den ‚Tresor‘ vorgesehen, den das Instinktvermögen verwaltet. Schon Bergson hatte, um seine lebensphilosophische Psychologie schlüssig herzuleiten, eine unterschwellige „mémoire vraie“ (B 292) angesetzt. Wahrhaftig wäre sie, weil dem Zugriff der Vernunft entzogen; wissenschaftlich gerade deshalb unzugänglich, weil an flüchtige, höchst intime Erlebnismomente gebunden. Ihre intensive Präsenz hat jedoch einen hohen Preis: den Verlust von Dauer. Sie gehen mithin dem Zeitbewusstsein verloren - le temps perdu. Ihr „processus vital“ (B 646) wahrt jedoch eine verborgene Anwartschaft auf Lebensgestaltung. Als ihr Agent tritt die mémoire involontaire auf. Sie ist Botin dessen, was das Instinktvermögen aufgezeichnet hat. Dieses inkarniert, wie Proust sagt, was ihm wichtig ist, in zufällig beteiligte materielle Objekte. Entsprechend groß muss der Zufall (CSB 211) sein, um auf ein solch unbewusst markiertes Objekt zu stoßen und die daran 20 Cf. Friedrich Ratzel: Raum und Zeit in Geographie und Geologie, Leipzig: Barth, 1907 - eine wissenschaftstheoretisch geprägte Untersuchung; bes. p. 36, 98. - Im Prinzip von Georges Poulet als einem der elementaren Wahrnehmungsübergänge detailliert nachvollzogen, in dem sich das sprachliche Nacheinander in der Zeit auflöst in „einer kohärenten Pluralität von Bildern“ (p. 109). Cf. Georges Poulet: Marcel Proust. Zeit und Raum, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1966. - Cf. ebenfalls Karl Hölz: Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust. Strukturelle Analyse der „mémoire involontaire“ in „À la recherche du temps perdu“, München: Fink, 1972, bes. Kap II,4: „Die Darstellung der Zeit in der Metaphorik des Raumes“ (p. 163sqq.). <?page no="200"?> Winfried Wehle 200 gebundene Empfindung wieder auferstehen zu lassen („ressusciter“; CSB ibid.). Plötzlichkeit („soudain“; „bruque hasard“), Erschütterung („tressaillir“; „ébranler“) sind die Kennzeichen dieser ursachlosen Epiphanie, die an die wahre Essenz unseres Selbst zu rühren vermag („cette essence [...] elle était moi“; I, 44). Das Modell dieser erlösenden Selbstfindung hat die Madeleine-Episode gestiftet (ibid.). Der sinnliche Appell, der von diesem Biscuit ausgeht, löst sich gerade nicht in einem Gedanken, sondern in einem „souvenir visuel“, einer vorrationalen Bildersprache. Dem meditierenden Ich erschließt sich damit nicht nur die Aussicht, wie es wahrhaft zu sich selbst kommen kann. Zugleich ist ihm, ohne dass es dies hier schon zu erfassen vermag, vorgezeichnet, wie diese Erweckung in ein „édifice immense du souvenir“ (I, 46) zu überführen wäre: mit einer Poetik des visuel, einem metaphorischen Diskurs. Und sinnbildlich steigt aus seinem wieder erweckten Tiefenblick sogleich die Kirche von Combray auf, die Ortsmitte seiner wiedergefundenen Zeit - dunkle Verheißung der Kathedrale im Temps retrouvé, in deren Bildnis schließlich die Suche des Ich wahrhaft zu sich kommen wird: im „livre“ (IV, 457sq.). Die Apotheose dieser Epiphanie findet dann auf der Matinée de Guermantes statt. Das Ich braucht diese Kulmination, um seine Glücksgefühle (ibid.) sichern zu können: „je m’efforçais de tâcher de voir clair“ (IV, 448). Mit anderen Worten: um eben die Klarheit der Intelligenz zu Hilfe zu rufen, aus deren Vorherrschaft ihn die mémoires involontaires freigesetzt hatten. Warum diese Rückumkehr? Das Ich machte auf dem Höhepunkt seiner erfolgreichen Suche nach sich selbst zwei erschütternde Erfahrungen. Was es sich selbst so nahe gebracht hatte, droht sich ihm auf fatale Weise wieder, und dann für immer, zu entziehen. Denn die Wunder seiner Resurrektionen ziehen ein fundamentales Raum-Zeit-Drama nach sich. Zunächst zeitlich: die aufgedeckte Tiefenidentität schlägt mit solch kinetischer Wucht in der Jetztzeit ein, dass sie alles Gegenwärtige und Vergangene auslöscht und etwas Drittes erzeugt, „beaucoup plus essentiel qu’eux deux“ (IV, 450), eine Identitätserfahrung „extra-temporel“, eben „affranchi de l’ordre du temps“ (ibid.). Und dann lassen die Eruptionen dieser Kinästhesie einen gewissermaßen intranszendenten Gegenhimmel aufleuchten, wo jeder Todesgedanke geleugnet wird, um, mit Anspielung auf André Gide, 21 eine himmlische 21 André Gide: Les nourritures terrestres (1897), in: Id.: Romans, ed. Yvonne Davet / Jean- Jacques Thierry, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1958, p. 151-250.- Zumindest im Ansatz eine - erfundene - Autobiographie mit dem Ziel, im Helden (Nathanael) das „désir de sortir de soi“ zu personifizieren, um durch eine „destruction de tout ce qu’il avait appris par la tête“ der wahren Identität auf den Grund zu kommen, d.h. einem bergsonianischen „s’intéresser à la vie“(! ). - Wieviel poetologische Selbstreflektiertheit sich in diesem weiten alimentären Bildfeld niederschlägt, hat Christine Ott offengelegt. <?page no="201"?> Literatur als Bewegungsraum 201 Speise („la céleste nourriture“; ibid.) zu gewähren: leibgebundene Momente der Ewigkeit (IV, 454; 613). Ihre untergründige Macht erfasst gleichermaßen auch die eingespielten Raumvorstellungen. Sie werden aus der topographischen Ordnung des Gedächtnisses entlassen und in einen Wirbel versetzt, den der „fauteuil magique“ am Anfang befremdlich angekündigt hatte. Räume und Zeiten werden dadurch gegeneinander durchlässig („perméable“; IV, 453) und geben ihre Logik des Neben- und Nacheinander auf. Drahtlos müsse die Imagination werden („immaginazione senza fili“) hatte neben Proust der futuristische Aufstand gegen rückwärtsgewandte Kunsttraditionen gefordert. 22 Doch diese beglückende Zeitlosigkeit und Raumenthebung der mémoires involontaires muss, wie alle Paradiese, wunschhaft bleiben. Der Roman schließt mit einer überwältigenden Schreckensvision („effroi géant“; IV, 624). Kaum setzt das Bewusstsein ein, macht es sich klar, dass sie, wie schon die Aufwachszenen angekündigt hatten („pendant quelques secondes“; I, 3), von ihrer Augenblickshaftigkeit gezeichnet sind. Flüchtig seien sie, könnten nur für einen Moment („pendant un instant“; IV, 455), eine Sekunde (IV, 613) die Absperrungen des Gewohnheitsdenkens durchbrechen. Ihnen fehlt gerade, was die mémoire volontaire für sich genommen bedrückend macht - Dauer, Kontinuität, die Festigkeit und Ich-Verhaftung verleihen. Würde es dennoch gelingen, die ekstatischen Momente der Selbsterfahrung zu verstetigen (IV, 454), sähe sich der Wahrnehmende total überwältigt, so dass er das Bewusstsein verlöre („je crois que j’aurais perdu connaissance“; ibid.). Denn dies ist die Kehrseite dieser leibhaften Erkenntnisse: sie sind an einen sterblichen Körper gebunden. Vergeht seine Materie, erstirbt auch die dort vorgehaltene Essenz des Lebens. Von daher die beschließende Einsicht des Ich: die Unterwelt der mémoire involontaire kann zwar nicht an die Stelle der oberflächlichen Welt der habitude treten und sie ablösen. An diesem Traum sind auch die Surrealisten gescheitert. Das Glück der Kinesiologie lässt sich nicht intellektuell festhalten, allenfalls anbahnen, indem es bewusst als unbewusst zugelassen wird. Mehr als einen solchen rapport einzuräumen - Proust lässt sein Ich es mehrfach betonen (IV, 468) - ist nicht möglich, um sein nach-metaphysisches Geheimnis nicht zu zerstören. Nicht ein ganz anderes Leben also, jenseits aller Realität, kann deshalb das Projekt sein, sondern die Revitalisierung des zivilisatorisch verdrängten. Dem Intellekt selbst kommt die Aufgabe zu, dem élan vital des Instinkts Platz zu schaffen in den Einfriedungen der gängigen Nomenklaturen. Cf. Id.: Feinschmecker und Bücherfresser. Esskultur und literarische Einverleibung als Mythos der Moderne, München: Fink, 2011, p. 327-459. 22 Cf. Filippo Tommaso Marinetti: „Manifesto tecnico della letteratura futurista (11.5.1912)“, in: Id.: Teoria e invenzione futurista, ed. L. de Maria, Milano: Mondadori, 1968, p. 40-48. <?page no="202"?> Winfried Wehle 202 Aber wie? Dies betrifft die höchste Implikation der Recherche, die Proust in seinem Roman unternommen hat. Sie steht unter dem Generaltitel einer vocation littéraire. Soll sie gelingen, hat sie eine schwerwiegende diskursive Paradoxie zu bewältigen: einerseits das höchst intime Erlebnis der wiedergefundenen Zeit nicht zu verfälschen. Um es andererseits aber auf Dauer zu stellen, sieht das Ich keinen anderen Weg als es der Sprache aller, damit aber der anästhesierenden Wirkung der habitude auszuliefern. Verlangt wäre deshalb eine Mitteilungsform, die mit gewöhnlichen Worten einen ungewöhnlichen Gebrauch zu machen versteht. Nur so ließe sich der élan vital erhalten, der die frei nach ihren kreatürlichen Affinitäten sich verschlingenden Erinnerungsbilder bewegt. Das Ich des Romans ist sich des Problems wohl bewusst. Den Schriftsteller nennt es in diesem Sinne „traducteur“ (IV, 469); er habe die instinktiven Bekundungen als „équivalents de l’intelligence“ (IV, 621) zu ‚transkribieren‘ (IV, 622). 23 Von Anfang der Recherche aber war angelegt, dass diese Sprache Sache der Literatur sein sollte: „La vraie vie, la vie enfin découverte et éclairée, la seule vie par conséquent pleinement vécue, c’est la littérature“ (IV, 474). Der ganze Entwicklungsroman des Ich spiegelt sich darin wider. Derjenige, der als Leser eines Buches sich träumend ins Bild einer Kirche versetzt sah, begreift jetzt im Bilde einer Kirche das Buch, in dem er sich schreibend aufheben möchte. Eine Art Anagnorisis seiner Berufung zur Sprachkunst hat stattgefunden. Die Stätte aber, wo dem Ich dies schließlich aufgeht, ist, sinnreich genug, die Bibliothek des Hôtel de Guermantes. 24 Inmitten des sich verausgabenden Stadtlebens von Paris totalisiert sie das Buch (IV, 458) als den Ort, wo sich die flüchtigen mémoires involontaires angemessen als équivalents d’intelligence anberaumen lassen. Die Matinée de Guermantes offenbart dem Ich dadurch zuletzt, wie die gegenseitig sich befremdenden Interessen von Intellekt und Instinkt auf höherer Ebene, im Raum der Literatur sich begegnen können - wie zuletzt die beiden Wege, die von Combray ausgingen. Wie sie aber dialogisch, dialektisch zusammenkommen können, das entscheidet sich nicht mehr im Bilde der Bibliothek selbst. Proust hat sich dies in den sakralen Zeichen von Kirche, Tempel und Kathedrale ausgemalt. Sie lassen gleichsam im Sinnlichen ein Übersinnliches erscheinen. Diesen geradezu liturgischen Umgang mit Sprache hat er der Metapher anvertraut (IV, 23 Andernorts verdeutlicht: „Il s’agit de tirer hors de l’inconscient, pour la faire entrer dans le domaine de l’intelligence, mais tâchant de lui garder sa vie [...], une réalité à la seule lumière de l’intelligence suffirait à la détruire“ („Réponse à une enquête“, 1922; CSB 640sq.). 24 Als einer der Zentralorte im allgemeinen Rahmen der Frage nach der Raumkonstitution von Angelika Corbineau-Hoffmann gewürdigt. Cf. Id.: „Reflexionen über Räume der Recherche“, in: Id. (ed.): Marcel Proust. Orte und Räume, Frankfurt a. M., Leipzig: Insel, 2003, p. 7-22. <?page no="203"?> Literatur als Bewegungsraum 203 468). 25 Sie ist das ideale „équivalent d’intelligence“ des Schriftstellers, das „seul peut donner une sorte d’éternité au style“ 26 sein Organonmodell, um es mit einem Begriff des Sprachtheoretikers dieser Zeit, Karl Bühler, zu sagen. 27 In ihrem Namen habe, wer ein großer Autor sein wolle, „religieusement“ wiederzugeben, was er den bildlichen Anmeldungen des Instinkts entnommen hat (IV, 472). Prousts Begriff einer solch übertragenen Redeweise geht weit über traditionelle Bestimmungen der Rhetorik und Stilistik hinaus. Ihm bietet sie gewissermaßen einen Veranstaltungsraum, wo sich die Psychomachia zwischen Sinnlichkeit und Verstand unvoreingenommen austragen lässt. Dabei hat Proust die Erkenntnisleistung der Metapher unmittelbar auf die Vollzugsformen der Kinästhesie verpflichtet: sie arbeite „ainsi que la vie“ (IV, 468)! Von daher die literarische Handlungsanweisung: „l’écrivain prendra deux objets différents“ - gegensätzlich wie Denken und Begehren - „posera leur rapport [...] et les enfermera dans les anneaux nécessaires“ - in die unumgänglichen „équivalents d’intelligence“ - „d’un beau style“ (ibid.). Solchermaßen verbinden sich zwei sprachliche Zeichen, die, jedes für sich, einerseits denotativ festgelegt, andererseits aber sich gegenseitig fremd sind, so dass sie einen Gegensatzzusammenhang bilden, der auf Auflösung, Synthese, auf ein tertium comparationis drängt. Sein jederzeit verlockendes Potenzial: es steht für etwas, das als solches gerade aber unausgesprochen bleiben kann. Proust kehrt jedoch hier im Grunde den herkömmlichen Dienst der Metapher um: als uneigentlich konnte ihre Rede so lange gelten, wie es noch verbindlich schien, was als eigentlich gelten sollte. Hier, wo die Sprache jedoch dem Instinkt zum Ausdruck zu verhelfen hat, wird ihre Mittelbarkeit gerade zur Botschafterin der Unmittelbarkeit, von der das moi profond weiß. So gesehen ist die Metapher die authentische Sprache des Begehrens. Allerdings liegt ihr kein rationales, philosophisches oder transzendentes Projekt mehr voraus. Sie soll zwar etwas auslösen, ohne es aber als ‚Etwas‘ einzulösen. Der Titel des Romans versteht sich mithin als Programm: seine Sprache kann sich nur als Recherche erfüllen; verfolgt damit keinen letzten Sinn, lädt vielmehr zu freibleibender Sinnbildung ein. Sie hat sich von der essentialistischen Frage verabschiedet, was der Mensch sei, um sich - modernistisch - darauf zu konzentrieren, wie seine Identität lebendig zu erhalten wäre. So gesehen ist Prousts Recherche ein Discours de la méthode, der der Literatur als Philosophie der Zweiten Moderne den Weg bereitet. Sie geht die instinktive Kommunikation der Kinästhesie ein, indem sie sie in ein viel- 25 Umfassend historisch untersucht von Roderich Billermann: Die „métaphore“ bei Marcel Proust, München: Fink, 2000, p. 255: „Proust ‚métaphore’ ist das Atom seines Stils.“ 26 Wie Proust früh, in Abgrenzung zu Flaubert, seiner eigenen ‚liquiden’ Poetik den Weg bereitet. Cf. CSB 586. 27 Cf. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer, 1934, seit etwa 1918 in der Diskussion. <?page no="204"?> Winfried Wehle 204 fältig verknüpfbares metaphorisches Netz übersetzt. Dieser Übergang ist epochal. Proust vollzieht damit, wie die historischen Avantgarden oder die Lebensphilosophie neben ihm, auf seine Weise radikal, die erkenntnistheoretische Wende, die statt in epistemologischer Evidenz nun Wahrheit primär in einer Kultur der Kontingenz und Performanz sucht, wo „l’instinct doit occuper la première place“ (CSB 216). Ein ganz anderer hat dies aus naturwissenschaftlicher Perspektive unterstrichen: der Atomphysiker und Nobelpreisträger Niels Bohr. Er hatte dem Verstand zugestanden, Klarheit zu schaffen; Wahrheit aber davon als nicht-rationale Erkenntnis so unterschieden, dass sie im Grunde mit den kontingenten Anmeldungen des Instinktvermögens kompatibel gemacht werden kann. Sie auszuarbeiten stünde dann auch von dieser Seite der ‚Wissenschaft‘ der Künste zu. 28 Der kinästhetische Art poétique, den Proust am Ende von Le Temps retrouvé aufdeckt - er war längst unausgesprochen präsent. Eine der Pointen der Recherche besteht darin, dass sie die Metaphorologie bereits von Anfang an auf sich angewandt hatte, die sie am Ende dann explizit ausführt. Wenn nicht alles täuscht, hat die berühmte Kutschfahrt um die Kirchtürme von Martinville die Funktion einer verhüllten, aber programmatischen Antizipation (I, 44 sqq.). Nicht nur dass sie auf das erlebende Ich dieselbe berauschende („ivresse“) Wirkung ausübt wie später das Madeleine-Erlebnis. Mehrfach wird sie in Le Temps retrouvé ausdrücklich als eine Schlüsselszene hervorgehoben (IV, 184; 445; 457). Im übrigen ist sie der einzige Fall, wo ein Erlebnis plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, also wie eine mémoire involontaire, in Sprache umschlägt („se formula en mots“; I, 178) und für einen Moment den Vorhang hebt („la vue“), wie das Ich zum Schriftsteller werden könnte. Anderes mehr weist darauf hin, dass diese Episode als große Metapher die Funktion der Metapher im Proust’schen Verständnis erläutern soll. Nicht zufällig findet sie auf dem Rückweg von einer Promenade Du côté de Guermantes statt (cf. Text im Anhang). Deren Verkörperung, Mme de Guermantes, war kurz zuvor als personifiziertes „assujettissment aux lois de la vie“ (I, 173) vorgestellt worden! Dem Ich erscheint sie deshalb demonstrativ als „forme de l’instinct“ (I, 174). Und die Kutschfahrt führt dann ihr Wesen gleichsam narrativ aus („apothéose de théâtre“; I, 173). Bemerkenswert: Proust hat die Szene doppelt inszeniert: als erlebt erinnert und schriftlich fixiert, der einzige, damit ausgezeichnete Fall eines Textes im Text. Dadurch 28 Auf allgemeine Weise hat Katharina Münchberg dieses erkenntnistheoretische Problem aufgeworfen und mit guten Gründen die Wahrheitsleistung (ästhetischer) Bildlichkeit, durchaus in der Intention Prousts, als Kritik an den Defiziten des philosophischen Diskurses umrissen. Cf. Id.: „Wahrheit und Bild. Zur Kunstphilosophie Heideggers und Derridas“, in: Heinz J. Drügh / Maria Moog-Grünewald (eds.): Behext von Bildern. Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, Heidelberg: Winter, 2001, p. 159-176. <?page no="205"?> Literatur als Bewegungsraum 205 soll die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede gelenkt werden. Der offensichtlichste betrifft den Kirchturm von Vieuxvicq. Im Fluss der erlebten Erinnerungen wird er einmal wie ein Begleitumstand („séparé“) abgesetzt, dann ausgeblendet. Im schriftlichen Nachvollzug allerdings spielt er beständig mit den beiden von Martinville zusammen, so dass sie einen rapport herstellen, der unverkennbar der Struktur einer metaphorischen Trias gleicht. Fundament bilden die beiden Türme von Martinville. Sie werden ‚technisch‘ - durch die Kutschenfahrt - in Bewegung versetzt, überspringen aber gerade dadurch ihre lebensweltliche Selbstverständlichkeit, in dem der ‚technische‘ Effekt das poetische Potential anschaulich werden lässt. 29 Erhaben („seuls“) setzen sie sich gegen die platte, horizontale Umgebung ab („perdus en rase campagne“). Bedeutung verleiht ihnen die Vertikale, ihre überragende Richtung himmelwärts. Poetologisch gewendet: sie stehen für die beiden Terme der Metapher, die zwar vom denotativen Boden der Gemeinsprache ausgehen, in literarischer Verwendung aber konnotativ über sich hinausweisen. Sie sind sich, wie die beiden Türme, zwar nahe, bleiben aber zugleich doch unnahbar getrennt. Was sie verbindet, ist ihnen äußerlich, außerhalb, im Turm von Vieuxvicq als ihrem Fluchtpunkt versinnbildlicht. Zusammen bilden sie einen syntagmatischen rapport. Denn nie fällt das dritte Element zuerst in den Blick; stets nur in der Sichtfolge der beiden anderen, als etwas von ihnen Ausgehendes, aber stets auf anderes fortweisend, das sie nur zögernd („retardataire“) einholt („rejoint“): er ist ihr tertium comparationis. Darauf kommt es an. Denn in unmittelbarer Nähe der Türme von Martinville selbst ist nichts zu erkennen („Vieuxvicq s’écarta“). Dies hatten ihrerseits schon die beiden Türme von Saint-André-des-Champs auf dem Korrespondenzweg der Côté de Méséglise demonstriert (I, 144). Das unmittelbar Gegebene weiß nur von Naheliegendem. Proust demonstriert es unnachsichtig: „effilés, écaileux, imbriqués d’alvéoles, guillochés, jaunissants et grumeleux“ seien sie, „comme deux épis“. Erst als sich die Kutsche wieder in Bewegung setzt, sich also aus Stillstand („arrêter“) und Distanzlosigkeit („au-devant“) löst, beginnt die metaphorische Konstellation der Türme wieder zu sprechen. Dieser bildliche Aufschluss meint Grundsätzliches: in der Nähe der Sprache, auf der Ebene („plaine“) ihrer habitude, gibt es nichts wahrhaft Erhebendes zu erkennen. Sie muss auf Abstand, auf das Niveau uneigentlichen Sprechens angehoben werden. Dennoch: ein definitives Ziel dieser metaphorischen Anhebung ist damit nicht beabsichtigt; Vieuxvicq selbst wird nie erreicht. Dies wäre „arrêter“. Auf Gedanken-Beweglichkeit als Wert eigenen Rechts („nous allions comme le vent“ - der Inspiration? ) läuft diese zeichenhafte Kutsch- 29 So die leitende These von Matei Chihaia: „Moderne Lebenswelt im Zeichen der Technik“, in: Patricia Oster / Karlheinz Stierle (eds.): Marcel Proust. Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung, Frankfurt a. M.: Insel, 2007, p. 249-266. <?page no="206"?> Winfried Wehle 206 fahrt also hinaus. Eine vérité abstraite zu verfolgen hieße ja, den metaphorischen Aufbruch der statischen mémoire volontaire auszuliefern. Die ‚wilde‘ Kutschfahrt setzt dagegen bildlich den „fauteuil magique“ in Narration um. Die unbeweglichen Objekte, die uns sinnlich begegnen, erscheinen dadurch ständig anders. Metapher, im Sinne Prousts, will mithin Wahrnehmung, nicht Erkenntnis generieren. Dies steht in Verbindung mit einer der weitreichendsten Errungenschaften der historischen Avantgarden, namentlich des Kubismus: die Ablösung der Zentralperspektive, der Subjektzentriertheit durch eine Wahrnehmungskunst der Vielansichtigkeit. In ihren Augen ist das Ich ein Pluraletantum; Proust hatte es u.a. an der multiplen Identität von Albertine studiert (IV, 125). Drastisch war es von Pirandello zum Ausdruck gebracht worden: Ich, das ist Einer, keiner, hunderttausend. 30 In Windeseile kehrt die Kutsche nach Combray zurück. Mit dem Tageslicht erlöschen auch die wechselnden Konstellationen der Türme. Dass Ich taucht ein in eben die „obscurité“ und „nuit“ (I, 180), in denen es später sich und sein Kunstwerk erhellen wird. Was hat ihn diese Fahrt Beglückendes („je me trouvais si heureux“) wissen lassen? In der schriftlichen Version, und nur in dieser, wird es aufgedeckt. Es sind bezeichnenderweise vier - selbstreflexive - Bilder. Sie bespiegeln jeweils die Trias der metaphorischen Türme metaphorisch. Das erste sieht in ihnen drei zum Aufflug - in übertragene Bedeutungen - bereite Vögel („trois oiseaux“). Das zweite deutet sie als „trois pivots d’or“, betont damit die funktionale Seite der Metapher: als edler Dreh- und Angelpunkt eines geistigen Bewegungsanstoßes, der mit der Goldfarbe chiffriert auf das Glücksversprechen verweist, das mit der Côté de Guermantes, Venedig und der Kunst verheißen ist. 31 Der dritte Vergleich steigert die Poesie der Türme zu „trois fleurs peintes sur le ciel.“ Sie sind zu Blumen der besonderen Art, zu flores retorici mutiert, die in der Erde der Gemeinsprache gründen, aber im weitesten Sinne in den Gärten des Kunsthimmels („ciel“) erblühen. Der vierte schließlich erweckt in den drei Türmen „trois filles de légende“ zu mythischem Leben. Sie erscheinen erst bei hereinbrechender, vorzeitlicher Dunkelheit, unter den Bedingungen also, unter denen der alternative Verstand des instinct zu sprechen beginnt. Bleibt man bei der metaphorischen Deutung der metaphorischen Redeweise, so entsteht aus den steinernen Zeichen der Türme, kraft der im Dunkeln einsetzenden imaginativen - metaphorischen - Unterschreitung realer Ansichten, ein anmutiges Menschenbild, wie die archaischen Tiefen der ‚Legenden‘ es aufbewahren. Spielen die drei Mädchen, in dieser Umgebung, dann nicht auf die drei Grazien an? Als Begleiterinnen der Venus verkörpern sie den Sinn für Schönheit, der in kreatürlicher Sinnlichkeit angelegt ist. Zeugen sie 30 1926 erschienen, aber bereits 1912 konzipiert. 31 Dazu Uwe Daube: Dechiffrierung und strukturelle Funktion der Leitmotive in Marcel Prousts „A la Recherche du Temps Perdu“, Heidelberg: Grosch, 1963, p. 136sqq. <?page no="207"?> Literatur als Bewegungsraum 207 damit nicht für eine Ästhetik, die ihr nach-klassisches, nach-mimetisches Heil in der dunklen Syntax des Begehrens sucht? Proust hat mit den Clochers de Martinville ein funkelndes literarisches Kleinod als mise en abyme seiner kinästhetischen Poetik geschaffen. Demnach erfüllt das Kunstwerk seinen - modernistischen - Auftrag, wenn es die Anmeldungen aus den Verließen der Körper-Sprache in einer ihr gemäßen Umschrift abbildet. Woran sie dabei Maß nehmen kann, hat Proust so erläutert: „la vie [...] tisse sans cesse (des fils) entre les êtres, entre les événements, [...] elle entrecroise ces fils, [...] elle les redouble pour épaissir la trame, si bien qu’[...] un riche réseau de souvenirs n’en laisse que le choix des communications“ (IV, 607). Er geht, wie später surrealistische Poetik oder J. Lacan 32 davon aus, dass sich bereits das unterschwellige Leben selbst wie ein ständig umgeschriebener Text ereignet. Die Inschrift auf der Oberfläche des Lebens ist in Wahrheit gerade verworren und unleserlich („grimoire compliqué et fleuri“; IV, 457). Diese unablässig sich durchdringenden, verschlingenden, sich paarenden, andrängenden, wuchernden Sinneseindrücke, die in der Unterwelt der souvenirs involontaires ihren Umtrieb haben - sie geben das Modell seiner Schreibweise vor. Ihrem Diktat habe der Schriftsteller zu folgen. Was soviel heißt wie den inneren Text in einen äußeren zu übersetzen, die „mouvements perpetuels et changeants“ (IV, 475) unseres Tiefen-Ich in einem schriftlichen Analogon anzuberaumen. Ohne es ausdrücklich zu sagen, äußert sich darin das eigentliche sujet philosophique, das Prousts Ich von Anfang an gesucht hat: Wahrheit - über den Menschen - stellt sich erst ein, wenn man ihn nicht in seinem Sein, sondern in seinem Werden sucht. Maurice Blanchot etwa wird dies zu einer bizarren philosophischen Ästhetik ausweiten, 33 die dann bei Foucault, Derrida oder Klossowski und anderen ‚postmodern‘ durchschlägt. Bisher galt es als ästhetische Tugend, sein Kunstwerk tektonisch anzulegen. Proust hingegen überführt es in eine offene Form mit einer rhizomatischen Textur. 34 Statt einem großen Sinn zuzuarbeiten, richtet es sich gleichsam intransitiv ein, um semantische Kettenreaktionen auszulösen. Sprachlich gesehen stärkt Proust damit das Eigenleben der Signifikanten gegenüber 32 Cf. Jacques Lacan: Le séminaire XI. Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse, ed. Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil, 1973, p. 23 u. ö. 33 Cf. Maurice Blanchot: L’Espace littéraire, Paris: Gallimard, 1955. 34 Vieles spricht dafür, dass Gilles Deleuze dieses Konzept einer antiphilosophischen Philosophie (Id. / Felix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve, 1977) der libidinösen Diskursbewegung Prousts abgewonnen hat (in: Deleuze: Proust et les signes, Paris: P.U.F., 1964 u. ö.), namentlich da, wo er sich zur Kritik des philosophischen Wahrheitsbegriffs äußert (p. 23-35). So wie das Rhizom umschrieben wird, trägt es so gut wie alle Eigenschaften der Proust’schen Metapher - und wird doch als alternatives Erkenntnisinstrument strikt zurückgewiesen, um eine Ontologie der Übergängigkeit durchzusetzen. Jedenfalls hat das Konzept des Rhizoms erhebliche poststrukturalistische und modernistische Entwicklungshilfe geleistet. <?page no="208"?> Winfried Wehle 208 der Vormundschaft der Signifikate. Nur so lässt sich die Bewegungsintelligenz der Kinästhesie ohne erhebliche rationale Abschläge erfahrbar machen. Entsprechend hat sich der Text des Romans in einen ‚Bewegungsraum‘ verwandelt. Auch dies ist eine seiner epochalen Inversionen. Damit emanzipiert er das menschliche Bewusstsein von mythischen Altlasten, idealistischen Sündenfällen und Fortschrittswahn. Sein Schriftsteller verrichtet zwar die Arbeit der drei Parzen, die des Lebens Schicksalsfäden spinnen; seine metaphorischen Verknüpfungen stehen jedoch unterm Patronat der drei Grazien und versprechen lust- und glückbringende Befreiung aus den Verstrickungen der habitude. Wirklich ereignen kann sich dies jedoch in letzter Hinsicht erst im Akt der Lektüre. 35 Prousts Discours de la méthode hat deshalb auch diese Konsequenz intensiv bedacht. Auf den Kopf gestellt sieht sich dadurch gleichermaßen die traditionelle Rolle des Lesers. Ein literarisches Kunstwerk, wie es die Recherche entwirft - und realisiert hat, werde den Leser zum Leser seiner selbst machen (IV, 489; 610). Es bietet ihm einen ästhetisch geschützten Raum („église“), wo er sein Gewohnheitsleben zu durchbrechen vermag („ce travail que l’art défera“; IV, 475), indem es ihm als mentales Ausland („dépayser“; IV, 467) zu Bewusstsein kommen kann. Dadurch soll er aus sich herausgehen („sortir de nous“; IV, 474), um zu sich zu kommen. An diese wahre Identität, Proust betont es immer wieder, rührt nur ein „retour aux profondeurs“ (IV, 475). Dort ist, was uns wirklich betrifft, in einem livre intérieur festgehalten, das, im Lichte des Verstandes gelesen, nur „signes inconnus“ (IV, 458) enthält. Der Leser ist damit integral in Prousts umfassende Buchmetaphorik einbezogen. Wäre dann aber der Akt der Lektüre zuletzt nicht selbst als metaphorische Konstellation aufzufassen? Wer sich auf dieses Buch einlässt: ist er nicht, wie das erlebende Ich des Romans, befangen in seinen trügerischen („mensonges“) Denkgewohnheiten? Wer liest, bildet also einen rapport zwischen sich und dem Gelesenen, der unter dem selben Gegensatzzusammenhang steht wie die beiden Basiselemente einer Metapher: „car les livres se comportent en cela comme des choses“ (IV, 464), die, wie die Madeleine, das versiegelte Buch der mémoire involontaire zu öffnen vermögen, wenn deren Welt der Buchstaben, durch befremdliche Zufallsbegegnungen veranlasst („choc“; „ébranlement“; IV, 491; 451), in der ausgeübten Identität des Lesenden eine kinästhetische Erweckung seiner verschütteten Eigentlichkeit auslösen. Im Sinne von Prousts Metapher gesprochen: er erlebt sie als sein tertium comparationis. Was er dabei erfährt, bleibt fraglos sein Privateigentum. Literatur, so verstanden, hat keine Botschaften mehr. Auf die Frage, wie sie unter den Bedingungen einer Zweiten Moderne dem connaître l’homme noch 35 Cf. Volker Roloff: Werk und Lektüre. Zur Literarästhetik von Marcel Proust, Frankfurt a. M.: Insel, 1984. <?page no="209"?> Literatur als Bewegungsraum 209 dienen könnte, radikalisiert Proust schließlich das faire voir Flauberts, nimmt ihm aber alle spekulativen Zumutungen und gibt ihm einen strikt instrumentellen Auftrag: sich als „instrument optique“ (IV, 490), als „verres grossissants“ (IV, 610) zur Verfügung zu stellen. Inmitten einer verhärteten Kultur des Denkens errichtet sie damit einen profanen Sakralbau, wo die Lektüre Anlass geben kann, um in seinem Halbdunkel mit anderen Augen wahrzunehmen, was in einem elementaren Sinn lebendig macht: das „bonheur mobile“, wie es an anderer bedeutsamer Stelle, ebenfalls metaphorisch verschlüsselt heißt (I, 168). Wer seine fließende Identität empfangen will, hat sich eben einem kinästhetischen Sprachfluss hinzugeben, der sich unablässig wandelt, um beständig in Einklang zu bleiben mit dem Tiefsten, Flüchtigsten, Geheimnisvollsten in uns. 36 Das Subjekt, wie es sich seit der Romantik entworfen hat, frei, autonom, selbstbestimmt, weil es glauben konnte, eine Identität sei in ihm selbst garantiert - ihm hat Proust ein Ende bereitet, aber nur, um ihm ein neues Leitbild für wahrhaftes Leben vorzuschlagen. Gegen die erdrückende „travail qu’avaient fait notre amour-propre, notre passion, notre esprit d’imitation, notre intelligence abstraite, nos habitudes“ (IV, 475), kann - nur noch - (literarische) Kunst vorgehen, 37 sofern sie die kreatürliche Bewegungsintelligenz aufnimmt und sie in geistige Beweglichkeit überführt und solchermaßen kinästhetische Kulturkritik übt. 38 36 Dieses „bonheur“ ist „changeant sans cesse pour rester toujours en accord [...] avec ce qu’il y a de plus profond, de plus fugitif, de plus mystérieux“ in uns (I, 168). 37 Mit bestechender Konsequenz geltend gemacht als Signatur der (Zweiten) Moderne von Helmut Heißenbüttel („Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichende Tätigkeiten“, in: Id.: Über Literatur. Aufsätze, München: Hanser 1979, p. 195- 204), mit den Leitbegriffen ‚multiples Subjekt’ und ‚Unauflösbarkeit des Offenbleibenden’. 38 Daran ließe sich auch die Frage anknüpfen: „Wozu (noch) Literaturwissenschaft? “ Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 29 (2005), p. 411-426. <?page no="210"?> Winfried Wehle 210 Anhang „Seuls, s’élevant du niveau de la plaine et comme perdus en rase campagne, montaient vers le ciel les deux clochers de Martinville. Bientôt nous en vîmes trois: venant se placer en face d’eux par une volte hardie, un clocher retardataire, celui de Vieuxvicq, les avait rejoints. Les minutes passaient, nous allions vite et pourtant les trois clochers étaient toujours au loin devant nous, c o m m e t r o i s o i s e a u x p o s é s s u r l a p l a i n e , immobiles et qu’on distingue au soleil. Puis le clocher de Vieuxvicq s’écarta, prit ses distances, et les clochers de Martinville restèrent seuls, éclairés par la lumière du couchant que même à cette distance, sur leurs pentes, je voyais jouer et sourire. Nous avions été si longs à nous rapprocher d’eux, que je pensais au temps qu’il faudrait encore pour les atteindre quand, tout d’un coup, la voiture ayant tourné, elle nous déposa à leurs pieds; et ils s’étaient jetés si rudement au-devant d’elle, qu’on n’eut que le temps d’arrêter pour ne pas se heurter au porche. Nous poursuivîmes notre route; nous avions déjà quitté Martinville depuis un peu de temps et le village après nous avoir accompagnés quelques secondes avait disparu, que restés seuls à l’horizon à nous regarder fuir, ses clochers et celui de Vieuxvicq agitaient encore en signe d’adieu leurs cimes ensoleillés. Parfois l’un s’effaçait pour que les deux autres pussent nous apercevoir un instant encore; mais la route changea de direction, ils virèrent dans la lumière c o m m e t r o i s p i v o t s d ’ o r et disparurent à mes yeux. Mais, un peu plus tard, comme nous étions déjà près de Combray, le soleil étant maintenant couché, je les aperçus une dernière fois de très loin qui n’étaient plus que c o m m e t r o i s f l e u r s p e i n t e s s u r l e c i e l audessus de la ligne basse des champs. Ils me faisaient penser aussi aux t r o i s j e u n e s f i l l e s d ’ u n e l é g e n d e , abandonnées dans une solitude où tombait déjà l’obscurité; et tandis que nous nous éloignions au galop, je les vis timidement chercher leur chemin et après quelques gauches trébuchements de leurs nobles silhouettes, se serrer les uns contre les autres, glisser l’un derrière l’autre, ne plus faire sur le ciel encore rose qu’une seule forme noire, charmante et résignée, et s’effacer dans la nuit.“ 39 39 Proust: A la recherche du temps perdu (wie Anm. 1), vol. I, p. 179-180 (Herv. W.W.). <?page no="211"?> Fritz Nies Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum Was tun, wenn seit geraumer Zeit angesagt ist, den Tunnelblick des Texthandwerkers zu weiten auf das gesamte kulturelle Universum hin, das Vorstellungen vom Funktionieren der Texte mitprägt? 1 Warum nicht zum Einstieg jene Zwischenzone wählen, die mir seit vielen Jahrzehnten vertraut ist: die Wiedergabe von Leseakten auf Bilddokumenten? Doch wie verknüpft man Lesethematik und augenfällig bestimmbare Stadtlandschaft? Gilt doch gerade ein Rückzug aus der urbanen Außenwelt, sei es in die freie Natur oder den Intimbereich der eigenen vier Wände, weithin als Prämisse ungeschmälerten Lesevergnügens. Das private Interieur als Leseszenerie wiederum verspräche nicht eben aussichtsreiche Perspektiven, wenn es darum geht, typische Züge einer Stadtlandschaft zu orten. Tests mit der leichter erkennbaren Stadtkulisse öffentlicher Raum wieder könnten sich als riskant erweisen. Droht doch dort, der Absonderungsthese zufolge, eine nennenswerte Belegzahl für Leseakte zu fehlen. Starten wir den Versuch trotzdem. Was die Fokussierung auf Paris als Paradigma betrifft, haben sie ja die meisten Sektionsteilnehmer ebenfalls gewählt. Und es macht Mut, wenn Karlheinz Stierle - wohl nicht grundlos - schon für das 19. Jahrhundert vermerkt, immer wieder werde in zeitgenössischen Beschreibungen „das Volk von Paris als ein Volk von Lesern“ 2 dargestellt. Um das Blickfeld nicht vorschnell zu verengen, werde ich auch Leseszenen betrachten, die nicht unter freiem Himmel angesiedelt sind, sondern Lektüre in öffentlichen (d.h. allgemein zugänglichen und frequentierten) Gebäuden und Einrichtungen verbildlichen. Auf diese Weise konnte ich, trotz anfänglicher Skepsis, als Basis meines Überblicks unschwer eine dreistellige Zahl einschlägiger Abbildungen sammeln, die vom Plakat bis zur Buchillustration reichen. 3 Man- 1 Jauß forderte schon vor zwei Jahrzehnten von Kulturwissenschaften eine Anthropologie, deren Zugänge u.a. auch „Werke der Kunst […] dem Verstehen erschließen“ (Cf. Wolfgang Frühwald / Hans Robert Jauß / Reinhart Koselleck (eds.) et al.: Geisteswissenschaften heute, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, p. 71). 2 Als Belege nannte er allerdings nur Victor Hugos Notre-Dame de Paris und Les Misérables (cf. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, Wien: Hanser, 1993, p. 209). 3 Aufgrund dieser hohen Belegzahl sind Einzelnachweise im Folgenden nicht möglich. Zur Anreicherung des hier benutzten Belegkorpus über die wiedergegebenen Abbildungen hinaus, cf. Fritz Nies: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der <?page no="212"?> Fritz Nies 212 che tragen die Signatur von Spitzenvertretern der Malerzunft (nennen wir nur Edouard Manet oder Adolf Menzel). Den reichsten Ertrag bringt, von den 1840er Jahren bis zum Ende der Belle Epoque, ein gutes Hundert Bildsatiren - geschaffen von Unbekannten und Vergessenen neben Meistern des Genres: Daumier, Gavarni, Cham und anderen. Sie erweisen sich als ungemein wertvoll, arbeiten doch Karikaturisten typische Züge durch Überzeichnung scharf heraus. Dazu kommen, seit dem frühen 20. Jahrhundert, zahlreiche Lichtbilder. Manche Bildtitel, vor allem aber Legenden der Karikaturen, liefern, wie wir sehen werden, oft nützliche Zusatzauskünfte. Halten wir als erstes Resultat fest: Den öffentlichen Raum von Paris war man für weithin lektürefrei zu halten geneigt. Und doch wurde Lesen, zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart, von Malern, Zeichnern, Fotografen verblüffend häufig als Tätigkeit evoziert, die dort alles andere als selten ihren Platz hatte und hat. Der sich dabei abzeichnende öffentliche Raum allerdings scheint - zumindest auf den ersten Blick - wenig geeignet zu kartographischer Vermessung. Denn beim Amateur-Geometer mag sich der Eindruck festsetzen, es mangele an den nötigen trigonometrischen Fixpunkten. Gleicht doch die moderne Stadt, manch namhaftem Gewährsmann zufolge, einer „sorte de liquide en ébullition“. 4 Schon in der Revolutionsdekade erinnerte das Hin- und Hergewoge ihrer Menschenmassen den Zeitzeugen Melchior Grimm an jene ständigen Wellenbewegungen, wie sie nicht wenige unserer Leserbilder prägen: im 17. Jahrhundert war es die Ansammlung der nouvellistes 5 vor den Gazettenhändlern am Quai des Grands Augustins. Zur Revolutionszeit ist es das Gedränge im Café de Foix, das 19. Jahrhundert hindurch im Gewimmel der Parks und auf den Boulevards mit ihren Zeitungskiosken (Abb. 1) oder vor den Haltepunkten der Pferde-Omnibusse (Abb. 2). 6 Nicht von ungefähr sind viele der seitdem beschworenen Lesertypen gekennzeichnet durch hohe Mobilität: etwa die péripatéticienne, der Droschkenkutscher und sein Kunde, der Fahrgast öffentlicher Verkehrsmittel, der Tourist aus der Provinz oder dem Ausland (Abb. 3, 19-20); schließlich die Clochards und Lumpen- Leserbilder, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991. Id.: Jedem seine Wahrheit, München: Fink, 2001. Id. / Mona Wodsak: Ikonographisches Repertorium zur Europäischen Lesegeschichte, München: Saur, 2000. 4 Robert Musil, zit. nach Daniel Roche: La culture équestre occidentale I: XVIe-XIXe siècle: L’Ombre du cheval, Paris: Fayard, 2008, p. 111. Folgende Grimm-Zitate nach Johannes Willms: Paris. Hauptstadt Europas (1789-1914), München: Beck, 1988, p. 18. 5 Neuigkeitshungrige, die (teils beruflich) auf der Jagd nach (teils ungedruckten) Untergrundschriften waren. Cf. etwa den anonymen Stich in einem Kalender für 1681 bei Sigfred Taubert: Bibliopola. Bilder und Texte aus der Welt des Buchhandels, Hamburg: Hauswedell, 1966, p. 61. 6 1855 gab es bereits 31 Pferdeomnibuslinien, 1900 wurden mehr als 318 Millionen Fahrgäste befördert (zit. nach Roche: La culture équestre occidentale I (wie Anm. 4), p. 119). Cf. auch Stierle: Der Mythos von Paris (wie Anm. 2), p. 209. <?page no="213"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 213 sammler aus dem Heer der Unbehausten, der Orts- und Ruhelosen (Abb. 4). Hatte schon im Mittelalter ein auf der Seine dahinschaukelndes Boot als Leseort gedient, wird in der Moderne das pulsierende Geäder der Straßen und neuen Haussmannschen Verkehrswege, der prächtigen Boulevards und Avenues, zur bevorzugten Bühne mobiler Lektüre. Doch bei aller Bewegtheit der Gesamtszenerie sind die Leseorte meist klar lokalisierbar. So ließe sich aufgrund der Bildbelege unschwer ein Plan zeichnen, der fast alle topographisch markanten Punkte des Stadtkerns 7 enthält. Dominant jedoch sind dort nicht Monumente, Paläste und Prunkgebäude (wie Louvre, Grand Palais, Tour Eiffel) oder die schon erwähnten Ruhezonen und Parks. Es sind vielmehr die von Menschenmassen und Fahrzeugen wimmelnden Verkehrsadern. 8 Wie dereinst schon ein Sonett Scarrons, 9 beschwören Karikaturen des Fin de Siècle erneut das völlige Chaos überfüllter Straßen: gestürzte Pferde, kollidierende Droschken, deren Kutscher die Peitschen als Waffen schwingen, Missachtung der Presse für cochers écrasés, oder den vom Gewirr der Bahnen, Autos, Radfahrer, Fußgänger vibrierenden „boulevard plein de couleur et d’imprévu“ (Abb. 1, 11). Dagegen mag überraschen, wenn einzig die (gern mythisch überhöhten) Ladenpassagen als verbildlichte Leseräume keine Rolle spielen. Doch offenbar galt die dort lockende Warenwelt als derart fesselnd, dass ihre Missachtung durch Lektüre unglaubhaft gewirkt hätte. Im Gegensatz dazu signalisieren gerade zeitunglesende Fahrgäste aus der Spätphase des 19. Jahrhunderts, dass die Faszinationskraft der von Omnibussen durchquerten Stadtlandschaften, zumindest für sie, längst verblasst war und weitgehender Gleichgültigkeit Platz gemacht hatte (Abb. 2, 5). Generell gilt Sitzen in der Ikonographie seit je als optimale Lektürehaltung. Im Gegensatz dazu werden Leser im Pariser Umfeld häufiger stehend dargestellt - etwa bei der touristischen Stadterkundung, dem Galeriebesuch oder schmökernd beim Bouquinisten. Während des Zeitungskonsums sind sie sogar nicht selten im Gehen abgebildet, obwohl sie dadurch Kollisionen mit anderen der zahlreichen Passanten riskieren (Abb. 6). Scheinen sie doch oft zu begierig, ihren Lesestoff zu verschlingen, als dass sie vorher behagliche Sitzgelegenheiten ausspähen möchten. Selbst beim Sitzen - im Café oder öffentlichen Park, beim Warten des Kutschers auf Kunden - wird meist deutlich, dass solch erholsame Zwischenstopps die vorherrschende Unrast nur kurzzeitig abgelöst haben. Die schon kurz erwähnte Skala vorgestellter Lesertypen erweist sich als ungemein breit. Sie reicht von den nouvellistes des Ancien Régime über musca- 7 Genauer: fast sämtliche „einstelligen“ Arrondissements. 8 Champs-Elysées, Avenue de l’Opéra, Boulevard Saint-Germain, Boulevard Saint- Michel, Quai Voltaire, Quai des Grands-Augustins, rue de Richelieu, rue Bonaparte, rue de Cluny, rue de Cléry, rue du Croissant, mehrfach der Pont-Neuf etc. 9 „Carrosses, chevaux et grand bruit“ (in: Paul Scarron: Œuvres, Paris: Bastien, 1786 [Slatkine Reprints 1970], vol. VII, p. 329). <?page no="214"?> Fritz Nies 214 dins und incroyables 10 des Directoire bis zu den Bourgeois und Börsenspekulanten der beiden letzten Jahrhunderte. Angesichts der damals noch lückenhaften Alphabetisierung französischer Unterschichten mag vor allem überraschen, dass in Paris schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deren unterschiedlichste Mitglieder, auch aus der älteren Generation, im Freien als Lesegierige vorgeführt werden - vom Lohnkutscher und concierge bis zum Maroni-Straßenhändler und Schuhputzer, dem chiffonnier und der petite ouvrière (Abb. 4, 7, 8, 11). Was andere Angehörige des weiblichen Bevölkerungsteils vergangener Zeiten angeht, wäre zu vermuten, dass ihnen eine primär häusliche Existenz zugeschrieben und ihre Lektüre folglich ins Interieur verbannt wurde. Doch entgegen auch dieser Erwartung zeigen viele Bildbelege schon seit den 1840er Jahren - früher als für andere Metropolen - eine stattliche Reihe in der Öffentlichkeit lesender Frauen aller Schichten (Abb. 8-10, 18). In ihrer Gesamtheit lautet die Botschaft der Bilddokumente: Im Paris von Restaurationszeit und Julimonarchie, vor allem aber des Zweiten Kaiserreichs und der Belle Epoque lesen alle und jeder an allen nur erdenklichen Orten - bis hinein in die Vorstädte, die Hinterhöfe (Abb. 10), den salon épilatoire und die öffentliche Badeanstalt. Eine reiche Bilderwelt will so vor Augen führen, dass kein einziger unter allen Hauptstädtern des Zeitraums, auch und gerade in der Öffentlichkeit, sich von seiner geliebten Lektüre abhalten lässt. Früher als für andere Weltstädte gerinnt selbst die Eroberung der Abend- und Nachtstunden als Lesezeit zu Bildbelegen: einerseits in der durch Wandspiegel vervielfachten, raffinierten Beleuchtung von Boulevardcafés und Theatern der Belle Epoque; zum andern schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Freien unter Straßenlaternen (Abb. 11) oder im Umkreis schmucker neuer kiosques lumineux 11 der Zeitungshändler auf den Boulevards (Abb. 12). All diese Bildvarianten mögen ihren Teil beigetragen haben zur Verbreitung des stolzen Pariser Beinamens Ville Lumière. Verweilen wir noch kurz bei weiteren typischen Orten von Lektüre im öffentlichen Raum. Unter freiem Himmel dominieren zwar, wie gesagt, Straßen und Boulevards. Doch daneben werden, seit dem frühen 19. Jahrhundert, auch Parks und Grünanlagen nicht selten zur Szenerie: vor allem der überfüllte Jardin des Tuileries mit seiner Kastanienallee - laut ironischem Begleittext einer Karikatur „le seul endroit de Paris où un homme sérieux puisse s’instruire en prenant le frais“ (Abb. 13); dann der Jardin du Palais Royal, der Jardin du Luxembourg, späterhin die grünen Lungen der Peripherie - Böschungen der Fortifs, Bois de Boulogne, Jardin d’Acclimatation und Bois de Vincennes. 10 Modegecken einer damals neuen jeunesse dorée. 11 Die ersten der achteckigen, beleuchteten Kioske wurden im August 1857 eröffnet. <?page no="215"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 215 Dutzende von Bildern zeigen Lesende in stark frequentierten Cafés und Restaurants. Bevorzugt wird natürlich der (vor Wetterunbilden geschützte) Innenraum, etwa 1797/ 98 an Treffpunkten von muscadins und incroyables wie dem Café de Foix, in der Folgezeit im Café des mille Colonnes, im Café des Algériennes, in Batignolles oder andernorts. Vorzüge dieser Anziehungspunkte von Lektürefans werden gerne vor Augen geführt: die Vielzahl dort ausliegender Zeitungen (Abb. 14), die Begünstigung sozialer Kontakte, die Steigerung des Lesevergnügens durch Gaumengenüsse und anregende Getränke. Doch nicht selten zeigen Bilder seit der Belle Epoque auch Lesende auf den Terrassen von Cafés und Brasseries der Boulevards, etwa des Café de la Paix oder um Mitte des 20. Jahrhunderts der Deux Magots (Abb. 15, 16). Der spezielle Reiz dieser Platzwahl lag wohl meist, für Straßenmädchen (Abb. 9) wie für distinguierte Herren, im Doppelvorteil von Sehen und Gesehenwerden, der Nähe zur ständig wechselnden Szenerie des Fahrzeugstroms und der Fußgängermassen. Der Pariser Kaffeehausleser erscheint so seit langem als Typus, der keineswegs immer die Umwelt vergisst oder gar seine Zeitung benutzt, um sich vor dem Störfaktor Umgebung wenigstens optisch abzuschirmen. Oft und gern nimmt er als Zuschauer regen Anteil am bewegten Umfeld, wirft über den Zeitungsrand dutzendfach interessierte Blicke auf das Geschehen ringsum. Als ebenso stark frequentiert wie die Lokale werden weitere Leseorte geschildert: die öffentliche Bibliothek, das Museum, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wiederholt auftauchende Gemäldegalerie. Dutzendfach scheinen sich Pariser Leser nicht mit einer bloßen Zuschauerrolle zu begnügen. Angeregt durch ihre Lektüre, suchen oder vertiefen sie über Gespräche den Kontakt mit Nachbarn oder Begleitern (Abb. 4, 9-11, 19- 21) - auf der Parkbank, im Café, im Theater, im Gemäldesalon und Museum, im cabinet de lecture. Alles andere als ungesellig, repräsentieren sie einen aufgeschlossenen Menschentyp, dem das Gelesene als sozialer Katalysator zum willkommenen Austausch von Ansichten und Empfindungen dient. Eine mindestens gleich starke Gruppe allerdings scheint von ihrem Lesestoff so sehr fasziniert zu sein, dass sie ihr Umfeld, die überreichlich präsenten Mitmenschen, allen Trubel und Lärm völlig vergisst. Das bringt uns zur Frage, was sich über derart fesselnde Lesestoffe sagen lässt. Was also konsumieren diese und andere verbildlichte Pariser sogar außer Haus? In immerhin einem Viertel aller Fälle sind es - wider Erwarten - Bücher, also Langzeitlektüren. Bei Leserinnen im Park - mehrfach jungen Müttern in Begleitung eines Kindes - dürfen sie als Emblem reichlich vorhandener Muße ihres Geschlechts gelten. Bei den (von Merciers Tableau de Paris bis in unsere Tage) vielfach evozierten Bouquinisten leisten sie ihren Beitrag zu dem Mythos, Paris halte mehr als andere Städte literarische Schätze vergangener Zeit zum Schnäppchenpreis bereit (Abb. 17). Seit Daumier tauchen karikierte Touristen auf als Konsumenten von Stadt- oder Museumsführern, <?page no="216"?> Fritz Nies 216 dann seit dem Zweiten Kaiserreich Besucher von Gemäldeausstellungen als eifrige Benutzer ihres Katalogs. Beide Spielarten von Neugierigen posieren als Bildungsbeflissene, die sich nicht mit bloßem Begaffen von Sehenswertem begnügen, sondern durch Hintergrundwissen vertieftes Verständnis suchen. Selbst beim schwindelerregenden Aufstieg auf die neue Tour Eiffel lässt so eine junge Dame nicht davon ab, eifrig ihren Parisführer weiterzustudieren (Abb. 18). Dennoch bleiben Reaktionen, der Bourgeois wie der Touristen, bei ihrer Konfrontation mit paristypischen Erfahrungen durch Unverständnis geprägt: „Voilà une composition qui est réellement insensée! et quelle couleur! “ mäkelt der Ausstellungsgänger im Begleittext einer Karikatur Daumiers. Eine weitere seiner Persiflagen spottet, ausgestellte revolutionäre Kunstwerke, wie Gustave Moreaus Oedipe et le Sphinx, drohten trotz Katalog viele Betrachter zu überfordern. Die dritte glossiert Kommentare einer englischen Familie vor der Fontaine Molière in der rue de Richelieu: „ − C’été Molière qui été sur ce monumente… − Non,…c’été LA FONTAINE. - Yes, Molière sur la fontaine.“ (Abb. 19). Bei der Venus von Milo im Louvre schließlich reklamiert ein chauvinistischer deutscher Studienrat, zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die Ergänzung ihrer fehlenden Arme (Abb. 20). Drei Viertel aller in der Öffentlichkeit Lesenden jedoch werden als gierige Konsumenten einer Zeitung oder gar mehrerer solcher Blätter dargestellt. Die frühesten Belege zeigen nouvellistes des späten 17. Jahrhunderts; die meisten indes stammen aus dem Zweiten Kaiserreich und der Belle Epoque. Vor allem diese Fokussierung auf ein der Tagesaktualität verpflichtetes Medium hat Paris, über drei Jahrhunderte hin, zum großen Markt und Umschlagplatz aller Neuigkeiten, zum Paradies aller Neuigkeitssüchtigen stilisiert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen dabei primär Meldungen aus der Hauptstadt selbst die verbildlichte Aufmerksamkeit auf sich (Abb. 4, 7, 11). Im Zweiten Kaiserreich und der Belle Epoque waren es auch Ereignisse in fernen Ländern, die zu Brennpunkten der imperialistischen Außenpolitik Frankreichs gehörten. Das Geschehen in den eigenen Provinzen dagegen schien damalige Hauptstädter fast völlig kalt zu lassen. Im Prisma der Leserbilder figuriert Paris nicht nur als wichtigste Börse gedruckter Tagesneuigkeiten. Beginnend mit dem 17. Jahrhundert entwickelte es sich zum Inbegriff des Neuen überhaupt: der neusten Sehenswürdigkeiten, Pläne und Großtaten der Ingenieurskunst (Molière-Denkmal von 1844, Métrobau 1886, Eiffelturm 1889), der literarischen Neuerscheinungen 12 und Neudrucke, der neusten Theaterinszenierungen; 13 der neuen Malerei und ihrer Ausstellungen (wie Salon d’Automne und Salon des Cent), aber auch von 12 U.a. 1637 La Mariane von Tristan l’Hermite. - Zum Folgenden cf. Léon Sazie / Ga Grison: Jacques l’Honneur. Roman dramatique [Paris: Geoffroy, 1895], als Feuilleton 1901. 13 Cf. Eugène Brieux: La Petite Amie, Paris: Stock, 1902. Inszenierung von Œdipe Roi 1904. <?page no="217"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 217 frischen Untaten und Verbrechen wie Entführungen oder „du plus récent assassinat“. Bei aller Überfülle an Brandneuem fungiert die bildgewordene Lesekulisse Paris - erwartbar - auch als Schatzkammer historischer Kostbarkeiten, ja des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit: architektonischer Monumente und Museen (Louvre, Notre-Dame, Pont-Neuf), von Skulpturen und von Denkmälern, nicht zuletzt in Buchform. Beim Buchhändler wurde der Wissbegierige gezeigt, wie er in der Galerie des Palais Royal schon um 1630, neben der letzten Neuerscheinung, Werke der alten Griechen und Römer oder der italienischen Renaissance finden konnte, auf dem Boul’Mich noch 1940 Erasmus. Beim Bouquinisten sah man ihn, wie er sich 1787 in Montaigne versenkte oder im 20. Jahrhundert in Stendhal, als rat de bibliothèque um 1890 in Mademoiselle de Scudéry oder Kant. Greifen wir aus mündlicher und journalistischer Überlieferung nur einen der vielen Gedenkorte heraus: Auf mehreren Karikaturen, von den 1860er Jahren bis zur Frühphase der Dritten Republik, beklagen Pariser im Jardin des Tuileries einen Mangel an historischem Pflichteifer, sei es bei aktualitätsgeilen Zeitungsschreibern oder gar bei einem mythischen Kastanienbaum des Parks selbst. Vermissen sie doch entweder das termingerechte Ausschlagen des marronnier du 20 mars oder aber einen Gedenkartikel über diesen in ihrem Journal (Abb. 21). Denn besagter Kastanienbaum sollte, dem Volksglauben gemäß und früher als seinesgleichen, jedes Jahr exakt am 20. März sein erstes Blatt entfalten - zur Erinnerung an die 1792 ermordeten und unter ihm verscharrten Schweizergardisten, anderen Traditionen zufolge an die Geburt von Napoléons Aiglon 1811 oder aber des Kaisers Ankunft 1815 in Paris bei der Rückkehr aus Elba. Damit will ich meinen kleinen Streifzug abbrechen. Es konnte und sollte bei der Deutung von Karikaturen und anderen Bildquellen nicht um die Faktizität sich wandelnder Stadtlandschaften und Lesegewohnheiten gehen, sondern um eine repräsentierte Welt im Sinne Bourdieus, um die von Künstlern an ihre Zielgruppen vermittelten Vorstellungen. Diese Bilderwelt hat, über drei Jahrhunderte hin, ein Kaleidoskop vielfältiger Facetten entstehen lassen: Paris als Riesenstadt in ständiger Bewegung mit wogenden Menschenmassen und atemberaubendem Verkehr, Ville Lumière und früh schon Tourismus-Magnet, Schatzkammer der Geschichte und ihrer Gedenkorte; aber mehr noch Inbegriff alles Neuen, unerhörter Neuheiten und Hauptumschlagplatz spannender Neuigkeiten; Stadt der Avenuen, der Boulevards und Parks, der Restaurants und Straßencafés, der Museen und Galerien. Nicht zuletzt figuriert Paris als Tummelplatz der Schaulustigen, Kontaktsuchenden und Bildungsbeflissenen, als Eldorado der Literatur und der vom Lesen Infizierten, wo alle bis in die Unterschichten allerorts der Lektüre frönen. <?page no="218"?> Fritz Nies 218 Zu klären bleibt, ob und wieweit die Ikonographie vielleicht sogar manche jener Charakteristika allein, früher oder stärker herausmodelliert als die Produkte der schreibenden Zunft. Zu vertiefen bleibt weiter die gelegentlich angeschnittene Frage, welche der verbildlichten Züge als Charakteristika oder gar Spezifika im Mythos von Frankreichs Metropole gelten können. Andererseits bliebe vergleichend zu erörtern, in welchem Maß die Parisbilder von Kunst wie Literatur dazu beigetragen haben, eine allgemeine Vision der modernen Megapolis zu entwerfen. Dem Forscherdrang auf diesem mythenhistorisch wie lesehistorisch unerwartet ertragreichen Terrain sind also vorerst kaum Grenzen gesetzt. <?page no="219"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 219 Abbildungen Abb. 1 [Nous avions autrefois la rue morne et triste.] Aujourd’hui c’est le boulevard plein de couleur et d’imprévu (Maurice Godefroy in Le Rire 401, 12.7.1902) Abb. 2 Auguste Vitu: Paris - 450 dessins d’après nature, Paris: Quantin, 1889. Abb. 3 Léonce Burret: „L’été à Paris“, Le Sourire Jg. 13, 24.8.1911. <?page no="220"?> Fritz Nies 220 Abb. 4 Cham: Les folies parisiennes. Quinze années comiques, 1864-79, Paris: Calmann-Lévy, 1833, p. 105. Abb. 5 Théophile A. Steinlen: Sur l’Impériale. Chanson. 1894. Abb. 6 Honoré Daumier: „Sur les boulevards de Paris“, Charivari 8.5.1848. Abb. 7 J. Belon: „Lecteurs de journaux“, Petit Journal pour rire 1888, n° 106, p. 7. <?page no="221"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 221 Abb. 8 Théophile A. Steinlen: „Petites Ouvrières“, Gil Blas illustré 6.8.1893. Abb. 10 Raoul Thomen in Le Sourire 27.4.1901. Abb. 9 Léonce Burret: „La traite des blanches“, L’Assiette au beurre 19.7.1902, p. 1028. Abb. 11 Ch. Huard in Cocorico n° 8, 1898, p. 74. <?page no="222"?> Fritz Nies 222 Abb. 12 L’Illustration 22.8.1857, p. 144. Abb. 13 Henri-Alfred Darjou: „Les journaux et leurs lecteurs, Petit Journal pour rire 1868, n° 641, p. 2. Abb. 14 Henriot Bertall: „Au Café“, Petit Journal pour rire 1859. <?page no="223"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 223 Abb. 15 Auguste Vitu: „La rive droite de la Seine“, in: Id.: Paris - 450 dessins d’après nature, Paris: Quantin, 1889. Abb. 16 Edouard Boubat: A la terrasse des Deux Magots, Postkarte 1955. <?page no="224"?> Fritz Nies 224 Abb. 17 Auguste Vitu: Paris - 450 dessins d’après nature, Paris: Quantin, 1889. Abb. 18 Albert Robida: „Paris-Exposition: Visite à la Tour“, La Caricature 3.8.1889. <?page no="225"?> Pariscope: Bilder vom Lesen im öffentlichen Raum 225 Abb. 19 − C’été Molière qui été sur ce monumente… − Non, .. c’été La Fontaine. - Yes … Molière sur la fontaine (Honoré Daumier: „L’Exposition universelle“, 1855.) Abb. 20 Hansi [Jean-Jacques Waltz]: Professeur Knatschké, Paris: Floury, 1915, p. 35. Abb. 21 Félix Nadar in Petit Journal pour rire n° 432, 1864. <?page no="227"?> Hans T. Siepe L’Emploi du temps, l’emploi de l’espace. Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor Wer den 1956 erschienenen Roman L’Emploi du temps von Michel Butor in der 1960 erschienenen deutschen Ausgabe (Der Zeitplan, übersetzt von Helmut Scheffel) gelesen hat, konnte bislang nicht wissen, dass dem Roman eine kartographische Darstellung der fiktiven Stadt Bleston als Raumplan zugeordnet ist, genauer: dass eine Karte am Anfang des Romans steht (so war es in der französischen Originalausgabe). Erst in der deutschen Neuausgabe von 2009 findet sich - allerdings am Ende des Buchs und außerhalb des Romans (damit aus einem genuinen Zusammenhang gelöst und sogar auf die Umschlagsinnenseite verbannt) - die Skizze des Handlungsortes Bleston. So war also (zumindest in Deutschland) eine Dimension des Wechselspiels zwischen topographischer Karte und Text lange Zeit ausgeblendet, während doch neben einem kompliziertem Zeitplan des Erzählens von Revel, dem Protagonisten, auch ein Raumbzw. Stadtplan ein besonderes Spezifikum dieses Romans darstellt. Zu dem Zeitplan gehört hier ein Raumplan, zur Thematisierung der Chronologie die Thematisierung der Topologie. 1 1 Von der topographischen Wiederaufnahme dieser fiktiven Stadt Bleston bei dem deutschen Autor W.G. Sebald bis zur Stadterkundung in Richard Wollheims Roman A Family Romance, dessen Erzähler seinerseits Butors Roman liest, wie der Erzähler in Butors L’Emploi du temps ja auch den fiktiven Roman Le Meurtre de Bleston eines gewissen J.-C. Hamilton gelesen hat, der in der Wirklichkeit (des Romans) aber George Burton heißt - und in „Burton“ steckt auch „Butor“ - soll hier keine Rede sein, wenngleich diese intertextuellen Verflechtungen eine besondere Betrachtung verdienen. <?page no="228"?> Hans T. Siepe 228 Von Butors Roman soll zunächst nur kurz festgehalten sein, dass als zentraler Gegenstand die Auseinandersetzung des Franzosen Jacques Revel mit der fiktiven (englischen) Stadt Bleston dargestellt ist, in der er sich ein Jahr lang aufhält und worüber er in einem Tagebuch berichtet, das zunächst zeitversetzt erinnernd erzählt, sich dann in einem ausgeklügelten und komponierten Verfahren verschachtelt in dem jeweiligen Vergangenheitsbzw. Gegenwartsbezug (dabei kann - was also den Zeitplan des Romans betrifft - von der Musik als Erzählmodell ausgegangen werden und von einer Kanon- Gestaltung, Fuge oder einer Polyphonie in komplexer Architektur gesprochen werden bzw. von unterschiedlichen Zeitserien). Butors architektonisch durchdachter Roman ist bestimmt - wie er selbst sagt - von der „Arbeit an Zeit- und Raumstrukturen“: 2 L’Emploi du temps / l’emploi de l’espace. Was ist nun ein Raumplan, ein Stadtplan? Heute meint dies: eine abstrakte, zweidimensionale Konstruktion als Versuch, eine Realität anschaulich zu machen mit einem Blick von oben („j’embrasse d’un seul regard toute 2 Michel Butor: „Lichter im Nebel“, in: Id.: Der Zeitplan, übersetzt von Helmut Scheffel, durchgesehen von Tobias Scheffel, Berlin: Matthes & Seitz, 2009, p. 391-399, hier 399. <?page no="229"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 229 l’étendue de la ville“ 3 ). So vermerkt auch der Erzähler Revel einmal: „[…] grâce à cette image, j’étais mieux renseigné sur la structure de Bleston que n’aurait pu l’être un aviateur la survolant.“ 4 Er spricht weiterhin von einer „énorme cellule cancéreuse“ und beschreibt seine erschließende Tätigkeit dann folgendermaßen: Ainsi, moi, virus perdu dans ces filaments, tel un homme de laboratoire, armé de son microscope, je pouvais examiner cette énorme cellule cancéreuse dont chaque encre d’imprimerie, comme un colorant approprié, faisait ressortir un système d’organes. 5 Lässt man einmal die Konnotationen von Stadt und Körper beiseite, dann kann man zum Stadtplan weiterhin allgemein festhalten: Ein Stadtplan ist die auf der Grundlage einer topographischen (in ihren räumlichen Relationen stimmigen) Karte dann weiterhin erstellte thematische Karte einer Stadt mit unterschiedlichen Farbgebungen; er dient zu einer möglichst schnellen Orientierung in einem urbanen Raum und stellt neben dem Verkehrsnetz auch andere Stadtelemente (wie Häuserreihen, Sehenswürdigkeiten, öffentliche Einrichtungen) dar, dies dann auch mit Bildsymbolen. 6 „Mit dem Stadtplan von Bleston ausgestattet, versucht Jacques Revel in das Herz dieser Finsternis vorzudringen.“ 7 Der Stadtplan markiert mit abstrakten Zeichen eine Welt voller Zeichen, deren Zusammenhänge zunächst für Revel undurchdringlich sind und ein Labyrinth darstellen. Mit dem Stadtplan in dem Buch muss sich auch der Leser orientieren, wenn die Stadt als feindliches Wesen „immer unwirklicher und labyrinthischer wird, was mit einem französischen Wandteppich im städtischen Museum korrespondiert, der Theseus im Labyrinth des Minotaurus zeigt. So wird nicht nur die Zeit, sondern auch der Ort zum Irrgarten.“ 8 Zur Stadt bei Butor und gerade in Bezug auf diesen Roman gibt es nun bereits eine ganze Reihe von Veröffentlichungen; ich erinnere nur an La Ville dans l’Emploi du temps de Michel Butor von Mireille Calle-Gruber (wozu Michel Butor selbst ein Vorwort beigesteuert hat), an Pierre Brunels Untersuchung des Romans unter dem Aspekt Le texte et le labyrinthe oder an ein 3 Michel Butor: L’Emploi du temps, Paris: Minuit, 2009, p. 53. 4 Ibid., p. 54. 5 Ibid. 6 So in ähnlicher Formulierung zu finden bei Wikipedia unter dem Stichwort „Stadtplan“ (Cf. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Stadtplan (2011, Zugriff am 11.02.2011)). 7 Rezension von Kurt Dasow: „Michel Butor, Der Zeitplan“, Buchrezension, WDR 3, http: / / www.podcast.de/ episode/ 1468940/ WDR_3_Buchrezension_Passagen%3A_Bu chrezension_WDR3_Passagen_von_Kurt_Darsow%3A_Michel_Butor,_Der_Zeitplan._ Roman,_%C3%BCbersezt_von_Helmut_Scheffel,_Mattes_%26_Seitz_Verlag,_Berlin_20 09_432_Seiten,_39,90_Euro (2010, Zugriff am 11.02.2011). 8 Rezension von Peter Urban-Halle: „Die Stadt als feindliches Wesen“, Deutschlandradio Kultur, http: / / www.dradio.de/ dkultur/ sendungen/ kritik/ 1039924/ (2009, Zugriff am 11.02.2011). <?page no="230"?> Hans T. Siepe 230 ouvrage collectif, das Analysen und Reflexionen zu diesem Roman bereitstellt mit der Fokussierung auf „la ville“. 9 Erstaunlich ist aber dabei, dass auf den Stadtplan am Eingang des Buches als inhärenter Bestandteil des Buches bislang selten eingegangen wurde, während dies Jürgen Ritte im Nachwort zur neuen deutschen Ausgabe tut, auch wenn dort der Plan typographisch an den Rand gedrängt und falsch platziert ist: Michel Butors Emploi du temps eröffnet - erstaunlicherweise - nicht mit einem Zeitplan oder Stundenplan, 10 sondern mit einem Raumplan oder, genauer gesagt, mit einem Stadtplan. 11 Zumeist wurde dagegen das Raumkonzept eher nur unter dem allgemeinen und mythologischen Begriff des Labyrinths verortet. Dabei ist es aber doch so, dass der fiktive Stadtplan der fiktiven Stadt mehr ist als nur eine Orientierungshilfe, mehr als nur ein Ariadnefaden für den Leser, denn ein genauer Blick auf den im Buch publizierten Plan - ohne ihn schon mit dem Roman in Verbindung zu stellen - verdeutlicht ein auch seinerseits streng strukturiertes Gebilde (von dem es vielleicht auf den ersten Blick nicht den Anschein hat). Bevor dies ausgeführt wird, muss aber noch festgehalten sein, dass in Bezug auf den Roman von mehreren Stadtplänen zu reden ist, von denen also einer in dem Buch abgebildet ist, aber zwei weitere eine besondere Rolle spielen, die von Jacques Revel in einem Schreibwarenladen gekauft werden. Auf diese wurde gelegentlich in der Forschung eingegangen, weniger (und auch oftmals falsch) auf den Incipit-Plan der - wie noch zu sehen sein wird - eine Phänomenalisierung von Wirklichkeit für ein Subjekt innerhalb der Konstituierung einer Welt von fiktionalen Referenzen darstellt. 12 Dem abgebildeten Stadtplan am Anfang des Buches kommt eine besondere Bedeutung zu. Dieser Stadtplan eröffnet den Text, unmittelbar der ersten Textseite gegenüberliegend, nachdem vorher bereits der erste Teil des insgesamt fünfteiligen Romans eröffnet wurde. Das heißt: der Plan ist - vielfach übersehen - Bestandteil des Textes, nicht Beigabe, und kann sozusagen auch als Romaneröffnung verstanden werden, was beispielsweise von Colette-Chantal 9 Mireille Calle-Gruber: La Ville dans L’Emploi du temps de Michel Butor. Paris: Nizet, 1995; Pierre Brunel: Butor, L’Emploi du temps. Le texte et le labyrinthe. Paris: P.U.F., 1995; Collectif: Analyses et réflexions sur Michel Butor L’Emploi du temps, Paris: Ellipses, 1995. 10 Dies wären die deutschen Entsprechungen zum französischen Allerweltsbegriff des emploi du temps. 11 Cf. Jürgen Ritte: „»… et aedificavit civitatem …«. Das Buch eine Stadt, die Stadt ein Buch. Michel Butors Zeitplan“, in: Butor: Der Zeitplan (wie Anm. 2), p. 408-419, hier 411. 12 „La fiction romanesque mobilise cette phénoménalisation du réel pour un sujet dans la constitution d’un monde de référence fictionnel“, so bei Nicolas Simard: Fiction de ville. Le phénomène urbain ou l’espace intersubjectif dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Mémoire de maîtrise, Université du Québec à Montréal, 1999, p. 25sq. <?page no="231"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 231 Adam übersehen wird, die eine étude littéraire des deux premières pages vorgelegt hat, dabei den Stadtplan nicht einbezogen hat, sondern nur die Textseiten heranzieht und zu dem Plan lediglich bemerkt: Butor [sic! ] a dessiné un plan de la ville, précis, indiquant le nom des rues, des trois gares situées aux alentours d’Alexandra Place, des espaces verts en périphérie, des maisons portant le nom de leurs propriétaires, l’emplacement de deux cathédrales, du Théâtre des Nouvelles, lieu de divertissement, et de la Slee, rivière traversant la ville du Nord au Sud. 13 Nein, nicht Michel Butor hat als Autor diesen gezeichneten Plan seinem Roman beigegeben (lediglich um den Leser, der das Buch gekauft hat, zu orientieren - wie den Abenteuerromanen oft eine Karte beigegeben ist zur Orientierung oder zur Schatzsuche); nein, dieser Plan ist keine paratextuelle Beigabe, sondern sein Protagonist Jacques Revel hat ihn erstellt, gestaltet, wie dieser ja auch der Urheber des Textes L’Emploi du temps ist, wie dieser also das journal verfasst hat, als welches sich der Roman darstellt: der Stadtplan ist Bestandteil des récit, trägt die Handschrift bzw. die Zeichenschrift dessen, der das Buch schreibt, nämlich der fiktionale Ich-Erzähler Jacques Revel. Und das macht schon einen Unterschied aus, denn von Anfang an gelesen ist dieser Roman zunächst multimedial, die visuell-räumliche Komponente des Stadtplans spielt neben der chronologischen Dimension des Zeitplans und des Erzählens eine nicht unerhebliche Rolle: „La réunion d’une chrono-logie et d’une topologie se fait en tout cas grâce à l’écriture qui est le centre“ 14 schreibt Pierre Brunel relativ unpräzise, weil er dabei nicht an den gezeichneten Stadtplan denkt, aber er hat Recht. Den Zeitplan schreibt Jacques Revel, den Stadtplan ebenfalls: „l’écriture est le centre“. Und der Leser / Betrachter beginnt seine Lektüre mit diesem Plan unmittelbar vor bzw. neben dem Texteinstieg: Gleich zu Beginn des Textes heißt es: „C’est à ce moment que je suis entré, que commence mon séjour dans cette ville“ 15 - und dieses „cette ville“ verweist auf die links stehende Karte ebenso wie weiter unten die Ortsangabe „Hamilton Station“ - was zusätzlich (davon gleich noch) einen Ausgangspunkt der Kartenlektüre markiert. 13 Colette-Chantal Adam: „L’Entrée. Étude littéraire des deux premières pages“, in: Analyses et réflexions sur Michel Butor L’Emploi du temps (wie Anm. 9), p. 115-118, hier 116. 14 Brunel: Butor (wie Anm. 9), p. 139. 15 Butor: L’Emploi du temps (wie Anm. 3), p. 9. <?page no="232"?> Hans T. Siepe 232 Es ist ein Plan, der dem betrachtenden Leser doch schon einiges mehr vermittelt, als lediglich das Versprechen, später eine Orientierungshilfe bei der Textlektüre zu sein (zu dem man sich vielleicht rückblätternd immer wieder begibt, wie auch der Protagonist immer wieder rückerinnernd die Stadt erkundet und rückblätternd berichtet). Diese Initialposition mag verwirren: als „image spatial du futur récit“ 16 muss der Plan vom Leser zu Beginn und im Verlauf seiner Lektüre dekodiert werden. Zunächst fällt auf, dass der Plan rudimentär ist, „représentation réduite“, 17 ein unvollständiger Stadtplan, bei dem nur Teilaspekte der Stadt Bleston zur Anschauung gebracht werden: so ist er gekennzeichnet von Auslassungen und Lücken, von Leerstellen und Löchern („cette région qui est comme un trou“ 18 ), von einem rudimentären Straßennetz, an dessen Adern sich Straßen anschließen, deren Namen nicht erscheinen bzw. die abgebrochen sind und nirgendwohin führen (hier sei eingefügt, dass neben diesem räumlichen Loch (trou spatial) auch ein zeitliches Loch (trou temporel) bei 16 Sylvie Peuchet: „Les Structures narratives“, in: Analyses et réflexions sur Michel Butor L’Emploi du temps (wie Anm. 9), p. 35-40, hier 38. 17 Brunel: Butor (wie Anm. 9), p. 163. 18 Butor: L’Emploi du temps (wie Anm. 3), p. 346. <?page no="233"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 233 fehlenden Datierungen im Tagebuch stehen wird; 19 dass es also Parallelen in der écriture und in der Zeichnung gibt). Mit diesen Lücken im Plan ist zugleich auch darauf verwiesen, dass das Netz viel größer ist und der betrachtende Leser hier mit den gezeichneten Linien vielleicht nur einen Ariadnefaden durch ein Labyrinth vorgelegt bekommt, les grands axes de la ville et les grands axes du récit. Die Stadt scheint - gerade aufgrund der Aussparungen, der vielen blancs - viel komplexer und verwickelter zu sein, labyrinthischer, als es den Anschein hat. Es fällt weiterhin auf, dass dies ein gezeichneter Plan ist, in schwarz-weiß und handgeschrieben, eine Plan-Skizze eher zum Teil jenseits aller Kartennormen (fehlende räumliche Exaktheit, nicht maßstabsgerecht, aber den Kartennormen entsprechend Zeichenelemente z.B. für Gebäudekomplexe), keine Abbildung, sondern eine komplexe Projektion aus der Perspektive seiner Erzählerfigur, die als Franzose in England den Plan auch zweisprachig verfasst (was übrigens in der englischen Ausgabe des Romans ganz anders ist). 19 Andrea Goulet: „Malet’s Maps and Butor’s Bleston: City-Space and Formal Play in the roman policier“, L’Esprit Créateur 48 (2008), 2, p. 46-59, hier 56. In diesem bislang wichtigsten Beitrag zum Stadtplan bei Butor ist die Rede von „spatial gap“ und „temporal gap“. <?page no="234"?> Hans T. Siepe 234 Dort ist diese Ambivalenz nicht markiert, und ein semantisch ambivalenter französischer Begriff wie z.B. der Name des Hotels L’Écrou im Revel-Plan 20 ist hier ins Englische transferiert und erscheint mit anderer semantischer Ausrichtung als Anchor (wobei intertextuelle Konnotationen zum Roman von Henry James Le Tour de l’écrou / The Turn of the Screw / Drehung der Schraube natürlich verlorengehen). Die Zweisprachigkeit im Original ist zunächst einmal als Abweichung von einem üblichen Stadtplan festzuhalten, sie markiert den Fremdheitscharakter und den Versuch, sich die Stadt einzuverleiben. So finden wir neben den englischen Benennungen dann in französischer Sprache - außer dem schon erwähnten L’Écrou - eine fortwährende Benennung von la foire, eine doppelte Benennung von la Slee, die Benennung von Institutionen wie la prison, l’Université, l’Institut Dentaire, le Musée, l’Hôtel de Ville, le Théâtre des Nouvelles, la Nouvelle Cathédrale / l’Ancienne Cathédrale - dann auch die Markierung einzelner Häuser wie la maison des Burton, la maison des Bailey, la maison des Jenkins, la maison d’Horace (was bestimmte Protagonisten des Romans benennt) und dann vor allem ma maison (was den subjektiven Charakter der Sicht dieser Stadt markiert und explizit verdeutlicht, dass Jacques Revel der Urheber dieses gezeichneten Plans ist). 20 Écrou = emprisonnement, incarcération / pièce de métal percée d’un trou fileté pour le logement d’une vis (Schraubenmutter). <?page no="235"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 235 Neben diesem Bilingualismus ist auf eine disorientation / désorientation zu verweisen, die aus dem Zusammentreffen zweier unterschiedlicher sprachlicher Kulturen herrührt: 21 So werden auch englische Ortsnamen durch die linguistische Brille eines Franzosen wiedergegeben, wenn es heißt: „le Royal Hospital“, „L’Oriental Perl / L’Oriental Rose / L’Oriental Bamboo.“ Es fällt auf, dass es in diesem subjektiven Plan, in dem eine referentielle Illusion einer Stadt namens Bleston erhalten bleibt, zentrale horizontale und vertikale Achsen gibt, sozusagen ein Grundgerüst: Ein Grundgerüst, in dem bei den Straßen nur wenige Schrägen auffallen, deutliche Schrägen aber markiert sind im Verlauf der Gleisführung. Und so liest man dann auch im Text: […] les rues dominées par deux grandes artères qui se croisent perpendiculairement, à l’angle sud-ouest de la place de l’Hôtel-de-Ville, horizontalement sur le plan: Sea Street, que prolonge Mountains Street qui traverse la Slee sur New Bridge, à peu près verticalement: Continent Street puis City Street qui devient, en obliquant vers Alexandra Place, cette rue qui débouche entre les rampes de Hamilton et de New Station, Brown Street […]. 22 21 Cf. Goulet: „Malet’s Maps“ (wie Anm. 19), p. 54. 22 Butor: L’Emploi du temps (wie Anm. 3), p. 55. <?page no="236"?> Hans T. Siepe 236 Ankunftspunkt der Reise (gleich zu Beginn heißt es: „C’est à ce moment que je suis entré, que commence mon séjour dans cette ville“ 23 ) und Ausgangspunkt der Erzählung (an deren Ende die Abreise steht: „maintenant mon départ termine cette dernière phrase“ 24 lautet der letzte Satz) sind deutlich markiert: in der - schon den ersten Blick anziehenden - markierten Dreiecksstruktur der drei an den drei Bahnhöfen ankommenden Linien - und hierauf fällt auch zunächst der Blick des lesenden Betrachters, ganz automatisch, als sei hier das Zentrum. Und hiervon handelt so zunächst auch der Text: […] en tournant autour de cette place en forme de triangle, à une distance équivalente, dans chacune des rues rayonnantes, à part celles qui mènent directement aux gares, et comme toutes ces arches ressemblaient à autant de portes dans une enceinte, j’imaginais être au centre de Bleston. 25 Unsere Erfahrungen mit der Karte gehen parallel zu den Erfahrungen des Erzählers, und wir vermerken: um den Innenraum, das Dreieck der drei Bahnhöfe, legt sich weiterhin ein Kreis der Zuggleise, eine Abschirmung, eine Ringmauer, was Jaques Revel eben veranlasst zu bemerken: „j’imaginais être au centre de Bleston.“ 26 23 Ibid., p. 9. 24 Ibid., p. 394. 25 Ibid., p. 18 (Herv. H.T.S.). 26 Ibid., p. 18 (Herv. H.T.S.). <?page no="237"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 237 Die Dreieck-Struktur ist nicht ohne Bedacht ein zentraler Ausgangspunkt und Fokussierpunkt, denn wir finden sie auf der Karte weiterhin in der Dreieck-Anlage der drei Restaurants „L’Oriental Rose“, „L’Oriental Perle“ und „L’Oriental Bambou“ in der Dreieckstruktur des Willow Park (im Süden), die im Text ebenso erwähnt ist: „Willow Park, triangle dont le troisième côté est est formé […]“ 27 und wir finden sie vor allem in der Struktur des für den Roman sehr wichtigen Kirchenfensters, das die Ermordung Kains durch Abel darstellt, und hier auch eingebettet in einen Kreis: „Le grand cercle où s’inscrit la scène du meurtre est une particularité assez rare. […] Dans les quatre triangles curvilignes qui le raccordent aux autres panneaux […].“ 28 Auch sind die zwölf Bezirke der Stadt in der numerischen Verteilung so gestaltet, dass sie in ihrer Abfolge auch wiederum vier Dreiecke ergeben. Wenn wir den Blick jetzt aber über diesen mit der Ankunft beschriebenen Kreis mit dem integrierten Dreieck hinaus richten, entdecken wir deutlich eine Nord-Süd-Achsenstrukturierung durch den Verlauf der Schienen, durch den Verlauf des Flusses und durch die zu dem Schwerpunktbereich Bahnhöfe hinführenden, sich einander anschließenden Straßen Continent Street, City Street und Brown Street in der Weiterführung durch die 27 Ibid., p. 66. 28 Ibid., p. 91. <?page no="238"?> Hans T. Siepe 238 Scotland Street; wir entdecken einen zweiten Schwerpunktbereich vor allem in den mit 4, 7 und 8 markierten (deutlich ausgefüllteren) Stadtbezirken, dem Zentrum (natürlich ist hier zu erwähnen, dass die zwölf Stadtbezirke strukturell komplementär sind zum 12-monatigen Aufenthalt - einem geschlossenen Jahreskreis - von Revel in Bleston, von dem er hier berichtet bzw. komplementär zu der von Butor orchestrierten zeitlichen Erzählstruktur des Romans). Man kann auf weitere strukturierte Kompositionen verweisen: So ist auf der Karte in allen Außenbezirken (bis auf den Bezirk 12: hier gilt „Plaisance Gardens“ inhaltlich als Äquivalent) ein Bereich diagonal ohne klare Abgrenzungen schraffiert markiert, der jeweils „la foire“ heißt. 29 Verbinden wir diese Orte miteinander, die ja nur in zeitlicher Abfolge jeweils als Jahrmarkt dienen, schließen wir deutlich einen Kreis um den zentralen Aktionsraum. Hier kommt in der Karte also eine zeitliche Dimension ins Spiel, zur Topologie gesellt sich die Chronologie und wir haben es mit einer simultanen Darstellung von zeitlichen Momenten zu tun, die in ihrem zeitlichen Ablauf hintereinander bzw. getrennt sind; so sind es „représentations simultanées des moments qui sont séparés dans le temps“. 30 Insofern kann man auch sagen, 29 Cf. Goulet: „Malet’s Maps“ (wie Anm. 19), p. 54. 30 Agota Frater: La Représentation dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Diss. Zürich, 1982, p. 77. <?page no="239"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 239 der Plan visualisiere eine Geschichte, indem er auf dem Raum einer einzigen Seite ein ganzes Jahr an Ereignissen erzählt (so Else Jongeneel, die auch von einer „carte narrative“ spricht bzw. von „une image codée du récit de l’aventure, image que l’aventure du récit va décoder“; 31 insofern kann man dann auch sagen, es handele sich dabei um eine Art Inhaltsverzeichnis). Andererseits kann man auch darauf hinweisen, dass hierdurch eine textuell-visuelle Referenz destabilisiert wird. 32 Die so eingerahmten Innenbezirke 4, 7 und 8 werden umgürtet von den Außenbezirken 1, 2, 3, 5, 6, 9, 10, 11 und 12, in denen jeweils ein Park angelegt ist. Verbindet man die Parks miteinander, so haben wir eine zweite Einkreisung festzustellen (erinnern wir uns an den ersten Eindruck von Revel). Während Revel allerdings - für die Zeit, bevor er sich einen Stadtplan kaufte - festhält: J’avais compris que Bleston, ce n’est pas une cité bien limitée par une ceinture de fortifications ou d’avenues se détachant ferme sur le fond des champs, mais que, telle une lampe dans la brume, c’est le centre d’un halo dont les franges diffuses se marient à celles d’autres villes 33 31 Else Jongeneel: Michel Butor. Le Pacte romanesque. Paris: Corti, 1988, p. 65. 32 Goulet: „Malet’s Maps“ (wie Anm. 19), p. 54; und weiterhin: „The uncanny juxtaposition of multiple icons with the singular article (la „foire“) signals to the reader the static instantaneity of visual - as opposed to narrative - representation“ (p. 55). 33 Butor: L’Emploi du temps (wie Anm. 3), p. 44. <?page no="240"?> Hans T. Siepe 240 stellen wir hier fest, dass es sich doch um eine deutlich geschlossene topologische Struktur handelt, die in ihrem Innern eine Fülle an Offenheiten aufweist. So kann man auch von einer ‚offenen Geschlossenheit‘ sprechen; 34 und damit mag auch manches anklingen, was die écriture nicht nur dieses Romans angeht, sondern auch dem Nouveau Roman programmatisch zugeordnet werden kann. Dass circularité hier auch ein strukturelles Merkmal des Textes ist, sei hier nur angedeutet. Fassen wir einmal auch auf der Grundlage bisheriger Forschungen, vor allem von Else Jongeneel, Sylvie Peuchet und Andrea Goulet, zusammen: Neben dem roman policier Le Meurtre de Bleston, im Roman selbst als Doppelung und als mise en abyme angelegt, fungiert auch dieser erste Stadt-Plan in Form einer mise en abyme. Dieser erste Plan (von dem klar ist, dass er keinerlei treue Reproduktion der Stadt darstellt, sondern „un schéma narratif et subjectif qui raconte, à la première personne l’aventure de Revel“ 35 ist) visualisiert die erzählte Geschichte und das Erzählen der Geschichte, ist damit metapoetisch, er konzentriert auf der Fläche einer einzigen Seite ein ganzes Jahr, er ist der auf einer Seite ausgebreitete Text. Man liest dort die Orte des Umherirrens durch die Stadt, und so hält Sylvie Peuchet zu dem Eingangsplan auch fest: On y lit ses lieux d'errance et rien d'autre. La position initiale de ce premier plan qui anticipe sur le récit jette le trouble. Cette image spatiale du futur récit devra être décodée par le lecteur au fil de sa lecture, autant que faire se pourra. Pour cela, il devra retourner sans cesse au début du livre. Ce geste contraignant n'est pas sans mimer celui de Revel remontant le temps de son récit au fil de sa plume et dans un mouvement inverse à celle-ci. Par conséquent, ce premier plan offre un aspect programmatique de la structure narrative. Il en offre aussi un second: étalé comme une table des matières spatiale, il offre un incontestable et déroutant partipris d'incomplétude, de non-conformité au Réel urbain. Par là il dit l'errance de Revel et l'impuissance du futur récit à représenter l'entier des aventures blestoniennes. Il dit le désir de planifier donc de maîtriser l'écriture du récit tout en stigmatisant l'impossibilité d'y parvenir totalement. Le décalage temporel viendra toujours gêner cette fouille archéologique de la mémoire. 36 So weit zu diesem ersten Plan, denn natürlich hat der Protagonist auch einen authentischen Stadtplan, wie man ihn in Geschäften kaufen kann und über den er sich lange auslässt als ein „image très imparfaite“, d.h. über einen Versuch, die Stadt in den Griff zu bekommen, die Stadt zu greifen und zu begreifen in einem Zeichensystem, in dem beispielsweise auch die Farben des Plans einen bestimmten Bedeutungswert haben, worüber er ausführlich nachdenkt bei der Frage der Repräsentanz oder Symbolhaftigkeit solch 34 „open closure“ heißt es bei Goulet: „Malet’s Maps“ (wie Anm. 19), p. 57. 35 Peuchet: „Structures narratives“ (wie Anm. 16), p. 38. 36 Ibid. <?page no="241"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 241 kartographischer Gepflogenheiten. 37 Als er merkt, dass der Plan ihn nicht weiterbringt, verbrennt er den ersten gekauften Plan (Brände spielen in diesem Roman übrigens eine besondere Rolle, sie erfolgen an mehreren Orten der Stadt) und beschließt, sich mittels des Schreibens der Stadt zu bemächtigen: „[…] ce texte que j’écris parce que j’ai brûlé le plan de Bleston.“ 38 Sein Schreibentschluss beruht also auf der Vernichtung topologischer Darstellungen, welche Bleston nicht fassen und erfassen können (ohne die er dennoch nicht auskommen wird und deshalb am nächsten Tag einen zweiten identischen Plan wieder in dem gleichen Geschäft kaufen wird, der allerdings eine inzwischen erfolgte zeitliche Veränderung nicht aufnimmt). „Alors j’ai décidé d’écrire pour m’y retrouver, me guérir, éclaircir ce qui m’était arrivé dans cette ville haïe, pour résister à son envoûtement, pour me réveiller de cette somnolence qu’elle m’installait avec […].“ 39 Über die Stadt als Text hat nicht nur Butor selbst geschrieben 40 und über seine Städte in Texten gibt es eine umfangreich erschließende Sekundärliteratur. 41 Die Verflechtungen von Stadtbzw. Raumerfahrungen in Bezug auf den von Revel gekauften, verbrannten und wieder erneut gekauften Stadtplan sind vielfach erörtert, während die abgebildete kartographische Raumdarstellung in L’Emploi du temps (vorgestellt im Incipit-Bild) noch nicht hinreichend erschlossen sind und so hier auch ein bildanalytischer Blick auf das Gesamtobjekt des Eingangsplans geworfen wurde. Die Relationen, die sich zu dem Erzähltext stellen, sind dabei nur angedeutet worden und das „Wechselspiel zwischen topographischer Karte und Text“ könnte noch vertieft werden als „ein Spiel, in dem sich beide wechselseitig erhellen (sollen) mit dem Ziel der Auflösung eines Rätsels.“ 42 Festzuhalten bleibt, dass in L’Emploi du temps „die Erzählung eines Abenteuers in feindlichem Gelände […] zum Abenteuer der Erzählung in einer nicht weniger feindlich gesinnten Welt“ 43 wird und Butor hier - was nur kurz angedeutet werden konnte - „mit seiner durch mehrere mythologische, literarische und historische Spiegelungen hindurchgehende Exploration des Phänomens Stadt […] so etwas wie eine Neubegründung unserer Lesart von Städten“ 44 leistet. 37 Cf. Butor: L’Emploi du temps (wie Anm. 3), p. 53-55. 38 Ibid., p. 304. 39 Ibid., p. 261 (Herv. H.T.S.). 40 Cf. Michel Butor: „La ville comme texte“, in: Annie Cazenave (ed.): L’Art des confins. Mélanges offerts à Maurice de Gandillac, Paris: P.U.F., 1985, p. 71-81. 41 Cf. u.a. Lino Gabellone: „La ville comme texte“, Lingua e Stile 2 (1976), p. 269-292. 42 Ritte: „»… et aedificavit civitatem …«“ (wie Anm. 11), p. 412. 43 Ibid., p. 413. 44 Ibid., p. 418. <?page no="242"?> Hans T. Siepe 242 Gewiss ist dieser Roman auch dadurch geprägt, dass er den von Michel de Certeau konstatierten Kontrast von Karte und Weg aufnimmt 45 oder, anders gesagt, dass eine doppelte Sicht von oben (die globale Organisation auf einer Karte) und von unten (das individuelle Herumschlendern durch die Stadt) den Text ausmacht. Die erste ist totalisierend, die zweite individualisierend und dabei stellt sich die Frage: Was ist die Stadt wirklich? So lässt sich zum Schluss aus einem Seminartext des Philosophen Pierre Macherey zitieren, in dem er sich mit Michel de Certeau beschäftigt: Quelle chose la ville est-elle au juste? Celle qu’on contemple à partir d’un point de vue fixe, en rejouant la métaphore du panoptique, ou celle qu’on explore en changeant sans cesse de point de vue, ce qui dote sa structure d’une mobilité, d’une souplesse et d’une charge de mystère qu’on ne lui soupçonnait pas lorsqu’on portait sur elle une vue surplombante, en n’en considérant que la surface pour mieux la maîtriser, et sans s’engager dans son épaisseur vivante au risque d’en affronter les imprévus? La ville appartient-elle à l’urbaniste ou au stratège qui vise froidement à en contrôler l’ensemble en en embrassant tous les aspects simultanément, ou au marcheur qui engage avec elle un corps à corps quasi amoureux obéissant à de tout autres intérêts, à de tout autres „mobiles“, - le mot est alors parfaitement approprié? Justement, il est impossible de trancher: la ville est les deux à la fois, la réalité objective qui se donne en totalité sous la forme d’une unité ordonnée, permanente et stable en droit, comme une ‚ structure’ dont l’économie d’ensemble est éventuellement modelable et modifiable, mais aussi les mille et une aventures singulières, impossibles à faire rentrer dans un système planifié, qui se trament dans l’ombre de ses recoins cachés, au quotidien. 46 Man könnte meinen, Pierre Macherey hätte hier von Butors Roman gesprochen, denn scheitert Revel nicht letztlich gerade daran, dass dieser Kontrast ihm zusetzt, zu schaffen macht? Dass - wie Michel de Certeau sagt - unter dem statischen „texte clair de la ville planifiée et lisible“ auch ein anderer beweglicher Raum liegt, den er „une ville transhumante“ nennt, „une expérience anthropologique, poétique et mythique de l’espace“, und damit verbunden von einer „mouvance opaque et aveugle de la ville habitée“ 47 spricht. 45 Cf. Catherine Annabel: „An application of the spatial theories of Michel de Certeau to Michel Butor’s L’Emploi du Temps“, Une Géographie de Michel Butor, Culture à Confine; nachzulesen unter http: / / www.cultureaconfine.org/ web/ content/ index.php? action =read_cnt&id_m=3093&id_cnt=3436#C.%20Annabel; cf. ausführliche Darstellung Nicolas Simard: Fiction de ville. Le phénomène urbain ou l’espace intersubjectif dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Mémoire de Maîtrise, Université du Québec à Montréal, 1999 (2003, Zugriff am 11.02.2011). 46 Pierre Macherey: Michel de Certeau et la mystique du quotidien, http: / / stl.recherche.univlille3.fr/ seminaires/ philosophie/ macherey/ macherey20042005/ macherey06042005.ht ml (2005, Zugriff am 11.02.2011). 47 Michel de Certeau: L’invention du quotidien, vol.1: Arts de faire, 1 e partie: „Une culture très ordinaire“, Paris: Gallimard (coll. folio essais), 2002, p. 141sq. <?page no="243"?> Stadt, Stadtplan und Text bei Michel Butor 243 Die Eingangskarte - von der man im Text nie erfährt, wann Revel sie angefertigt hat - verbindet beide Momente: sie ist gekennzeichnet sowohl von einer geographisch-statischen Sicht als auch einer persönlichen beweglichen Erfahrung; sie ist Erschließung eines Raums und Erschließung einer Erinnerung.