Spiele und Ziele
Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und Belles lettres
0717
2013
978-3-8233-7723-8
978-3-8233-6723-9
Gunter Narr Verlag
Stephanie Bung
Von Sainter-Beuve stammt der Ausspruch, dass es nicht genüge, seinen Salon mit Menschen zu füllen, um ihn zu erschaffen. Dieseen Hinweis darauf, dass der Salon kein ´Behältnis`, sondern ein relationaler Raum ist, der durch eine spezifische soziale Praxis erst entsteht, hat die Forschung bislang jedoch kaum beherzigt. Die vorliegende Untersuchung setzt sich daher kritisch mit einem Salonbegriff auseinander, der die Performativität der Quellen sowie ihre strategische Funktion weitgehend ignoriert. Erst so lässt sich klären, ob die verspielte Gestalt der poésie de circonstance wirklich belegt, dass im französischen Salon des 17. Jahrhunderts soziale Hierarchien außer Kraft gesetzt worden seien.
<?page no="0"?> BIBLIO 17 Stephanie Bung Spiele und Ziele Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres <?page no="1"?> Spiele und Ziele Biblio17_204_s01_04End.indd 1 11.06.13 10: 07 <?page no="2"?> BIBLIO 17 Volume 204 · 2013 Suppléments aux Papers on French Seventeenth Century Literature Collection fondée par Wolfgang Leiner Directeur: Rainer Zaiser Biblio 17 est une série évaluée par un comité de lecture. Biblio 17 is a peer-reviewed series. Biblio17_204_s01_04End.indd 2 11.06.13 10: 07 <?page no="3"?> Stephanie Bung Spiele und Ziele Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres Biblio17_204_s01_04End.indd 3 11.06.13 10: 07 <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567 · D-72015 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Printed in Germany ISSN 1434-6397 ISBN 978-3-8233-6723-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Umschlagabbildung: Recueil botanique sans titre, dit „Recueil de cent planches de fleurs & d’insectes“; Bibliothèque nationale de France, Paris. Biblio17_204_s01_04End.indd 4 11.06.13 10: 07 <?page no="5"?> In memoriam Ursel Niehüser Biblio17_204_s005-419End.indd 5 11.06.13 10: 10 <?page no="6"?> Biblio17_204_s005-419End.indd 6 11.06.13 10: 10 <?page no="7"?> Dank Die vorliegende Studie wurde im Dezember 2011 vom Fachbereich für Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Mein erster Dank gilt Margarete Zimmermann, die das Entstehen dieser Arbeit ermöglichte und maßgeblich förderte. Sie hat mein Vorhaben mit Aufmerksamkeit und Wohlwollen bis zum erfolgreichen Abschluss meiner Habilitation begleitet. Für ihre Unterstützung sei auch den Mitgliedern meiner Habilitationskommission - neben Margarete Zimmermann insbesondere Doris Kolesch, Joachim Küpper, Ulrike Schneider, Anne Eusterschulte, Peter Burschel und Philipp Jeserich - sowie Andrea Grewe herzlich gedankt. Meinen Recherchen und Überlegungen zu diesem Thema durfte ich an verschiedenen Orten und im gedanklichen Austausch mit den Menschen nachgehen, denen ich dort begegnet bin. Ihnen sowie den Institutionen, die mir diese Aufenthalte ermöglicht haben, möchte ich hier meinen Dank aussprechen. An erster Stelle ist das Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin, vormals der Technischen Universität Berlin, zu nennen, an dem ich insgesamt sechs Jahre lang als Wissenschaftliche Assistentin tätig war. Dafür, dass ich diese Zeit voll ausschöpfen durfte, schulde ich Jörg Steinbach meinen aufrichtigen Dank. In diese Zeit fällt auch meine Aufnahme in das ProFiL- Programm der Berliner Universitäten, der ich ein äußerst stimulierendes und intensives Jahr sowie wertvolle Anregungen bis zum heutigen Tag verdanke. Vom Frühjahr 2009 bis zum Herbst 2010 förderte die Alexander von Humboldt-Stiftung mit einem Feodor Lynen-Forschungsstipendium meinen Aufenthalt in Paris, wo ich am Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) als Gastwissenschaftlerin tätig war. Mein besonderer Dank gilt Catherine Viollet und Pierre-Marc de Biasi für den in so vieler Hinsicht freudvollen und ertragreichen Aufenthalt am ITEM. Delphine Denis danke ich ebenfalls für ihre Unterstützung, insbesondere für die Möglichkeit, regelmäßig an ihrem Forschungskolloquium an der Université Paris-Sorbonne (Paris IV) teilnehmen zu dürfen. Meinen persönlichen Dank möchte ich außerdem Elena Gretchanaia, Christian Jouhaud, John D. Lyons, André Magnan, Myriam Maître, Véronique Porra, Nicolas Schapira und Susanne Zepp aussprechen, die auf so vielseitige wie Biblio17_204_s005-419End.indd 7 11.06.13 10: 10 <?page no="8"?> 8 Dank substantielle Weise dazu beigetragen haben, dass meine Forschungen in Paris zu dem vorliegenden Ergebnis führen konnten. Der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz danke ich vielmals für die Entscheidung, meine Habilitationsschrift mit dem Preis der Kurt-Ringger-Stiftung zur Förderung des romanistischen Nachwuchses auszuzeichnen. Für die Aufnahme dieser Schrift in die renommierte Reihe Biblio 17 des Narr Francke Attempto Verlages bedanke ich mich herzlich bei Rainer Zaiser, und bei Kathrin Heyng für ihre gute und geduldige Betreuung auf dem Weg zum Buch. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften bin ich dankbar für die großzügige Publikationsbeihilfe. Der Bibliothèque nationale de France danke ich für die Überlassung der Bildrechte. Meine Dankbarkeit gegenüber meiner Familie sowie meinen Freunden und Kollegen lässt sich unmöglich beziffern oder aufschlüsseln. Dennoch sei an dieser Stelle insbesondere Roswitha Böhm und Béatrice De March für die schöne gemeinsame Zeit „in der Villa“ herzlich gedankt. Ulla und Peter Bung danke ich von Herzen für ihre spontane Bereitschaft zum Korrekturlesen. Mein tiefer Dank gilt außerdem meinen Eltern, auf deren grenzenlose Unterstützung ich immer zählen durfte, Monika Appmann für ihr unverbrüchliches Vertrauen in meine Arbeit sowie Leonhard Horowski. Ihm verdanke ich nicht nur entscheidende Hinweise und richtungsweisende Gespräche, sondern vor allem auch die Freude, die mir das Schreiben dieses Buches bereitet hat. Biblio17_204_s005-419End.indd 8 11.06.13 10: 10 <?page no="9"?> Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 TEIL I Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts. Eine Problemskizze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs . . . . . . . . 27 1.1 Sainte-Beuves Causeries du Lundi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.1.1 Die Galerie de femmes célèbres: Sainte-Beuve als moderner champion des dames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.2 Die Galerie de femmes célèbres: Eine Literaturgeschichte der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.2 Der Salon als paradigmatischer Ort der société polie . . . . . . . . . . . . . 43 1.2.1 Die Chambre bleue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.2.2 Les précieuses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1.3 Roger Picard und die salons littéraires des 17. und 18. Jahrhunderts . 65 2 Ein ‚konkreter‘ Raum? Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.1 Der Gegenraum der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.2 Der Salon als weiblicher Gegenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.3 Liminale Räume der figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.4 Liminale Räume der Distinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.5 Liminale Räume der mémoire mondaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3 Fazit: Der Salon des 17. Jahrhunderts als heuristische Figur . . . . . . . . . 98 TEIL II Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts: Alba amicorum und/ oder Stammbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Biblio17_204_s005-419End.indd 9 11.06.13 10: 10 <?page no="10"?> 10 Inhalt 1.1 Das Album amicorum: Eine ‚deutsche Angelegenheit‘? . . . . . . . . . . . 106 1.2 Alba amicorum in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1.2.1 Zwei Alba amicorum aus den Universitätsstädten Orléans und Angers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.2.2 Das Album amicorum der Familie La Chambre aus Paris . . . . . . . 118 1.2.3 Das Album amicorum von Marc Vulson de La Colombière . . . . . . 122 1.3 Salonspezifische Gästebücher im Frankreich des 19. Jahrhunderts . . 131 1.3.1 Drei ‚Alba amicorum‘ aus der Bibliothèque de l’Arsenal. . . . . . . . . 131 1.3.2 Vergleich des salonspezifischen Gästebuchs mit dem Album amicorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts: recueils und portefeuilles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.1 Die Mode der recueils galants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.1.1 Recueils de Sercy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.1.2 Recueil La Suze-Pellisson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.1.3 Recueil d’Octavie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.2 Galante Gelegenheitsdichtung in portefeuilles und Handschriften . . 152 2.2.1 Zwei Handschriften aus der Bibliothek von Chantilly . . . . . . . . . . 154 2.2.2 Der Kreis um Claude Bosc, Sieur du Bois, prévôt des marchands de Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3 Fazit: Alben und recueils galants als Formen salonspezifischer Relationalität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 TEIL III La Guirlande de Julie Die Handschrift und der ‚Salon‘ der Marquise de Rambouillet . . . . . 171 1 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue. . . . . 174 1.1 Märchen, Metamorphosen und Gazetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1.2 Der Recueil Montausier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1.2.1 Die galanten Briefe des Recueil Montausier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1.2.2 Die Briefe an Mademoiselle Paulet, Mesdemoiselles de Clermont und Mademoiselle de Rambouillet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1.2.3 Die Briefe an Mademoiselle de Rambouillet im Verhältnis zur Guirlande de Julie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2.1 Von der Ghirlanda zur Guirlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2.1.1 La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria . . . . . . . . . . . . . . 196 2.1.2 La Guirlande de Julie: Ein Huldigungsspiel nach italienischem Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Biblio17_204_s005-419End.indd 10 11.06.13 10: 10 <?page no="11"?> 11 Inhalt 2.2 Eine imaginäre Girlande für ‚Julie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.2.1 Tallemant und die ‚Ur-Girlande‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.2.2 Die satirischen Verse der „Guirlande de Julie“ . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2.2.3 Die „Guirlande de Julie“ in den Recueils Conrart (Ms 3135) . . . . . . 213 3 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.1 Überlieferungsgeschichte(n) der Guirlande de Julie . . . . . . . . . . . . . . 220 3.1.1 Eine Handschrift in zweifacher Ausführung: Das Exemplar in-folio und das Exemplar in-8° . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3.1.2 Das polymorphe Vorwort von 1784 und seine Metamorphosen im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3.2 Text, Bild und Schrift: La Guirlande de Julie als prestigeträchtiges ‚Gesamtkunstwerk‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2.1 Nicolas Jarry, maître écrivain des Hochadels im 17. Jahrhundert. . . 234 3.2.2 Nicolas Robert, Miniaturenmaler der Maison de France . . . . . . . . . 241 3.2.3 La Guirlande de Julie und das Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4 Fazit: La Guirlande de Julie als Salonalbum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Teil IV Die Chroniques du Samedi Eine Handschrift und der ‚Salon’ der Madeleine de Scudéry . . . . . . . 265 1 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart . . . . . . . . . . . . . . 268 1.1 Fiktionalisierung durch Namensgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1.1.1 Sapho und der ‚Mage de Sidon‘: Galante Reminiszenzen an den Roman Le Grand Cyrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1.1.2 La Journée des madrigaux: Hommage an die Guirlande de Julie? . . . . 277 1.2 Fiktionalisierung durch Verräumlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1.2.1 Die Carte de Tendre im ersten Band der Clélie (1654) . . . . . . . . . . . . 284 1.2.2 Der Discours géographique als (erste? ) narrativierte Carte de Tendre 287 1.2.3 Die Gazette de Tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1.2.4 Eine Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre . . . . . . . . . . . . 292 1.3 Von der Chambre bleue zum Royaume de Tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2 Die Chroniques du Samedi: Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum . . . . . . . . . . . . 299 2.1 Auf der Ebene der Verschriftlichung: Die Texte als Ort der figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 2.1.1 Die Erfindung der Carte de Tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2.1.2 Entendre raillerie: Die polyphone Initiation des Acante . . . . . . . . . . 310 2.1.2.1 De la raillerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2.1.2.2 La malice du billet acrostiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Biblio17_204_s005-419End.indd 11 11.06.13 10: 10 <?page no="12"?> 12 Inhalt 2.1.3 Commander au Pays de Tendre: Eine polyphone Konsolidierung der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2.2 Auf der Ebene der Zusammenstellung: Annotation, Anordnung und Abschrift der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2.2.1 ‚Textgenetisches‘ Vorgehen? Ein Exkurs zur critique génétique. . . . . 325 2.2.2 Materielle Spuren der Namensgebung: Zur Genese der Chroniques du Samedi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 2.2.3 Recueil galant oder ‚Briefroman‘ avant la lettre? Verschiedene Lesarten der Chroniques du Samedi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2.2.3.1 Die Handschrift als ‚Briefroman‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2.2.3.2 Die Handschrift vor dem Hintergrund galanter Publikationen . 342 3 Fazit: Die Chroniques du Samedi - ein Salonalbum? . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Anhang I La Guirlande de Julie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Anhang II Les „Guirlandes de Julie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Biblio17_204_s005-419End.indd 12 11.06.13 10: 10 <?page no="13"?> Einleitung Die europäischen Salonkulturen systematisch zu untersuchen, ist seit langem ein Desiderat der Forschung. 1 Was einerseits mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden muss, nämlich das Festhalten an einem grenz- und epochenübergreifenden Salonbegriff, kann andererseits auch als Chance verstanden werden, das vermeintlich Selbstverständliche zu hinterfragen. Zumindest in einem ersten Schritt wäre man gezwungen, sich kritisch mit der Terminologie auseinanderzusetzen und die Rede von den ‚Salons‘ einer bestimmten Zeit im Hinblick auf die Begriffsgeschichte sowie auf die mediale Verfasstheit der Räume, die auf diese Weise aufgerufen werden, zu prüfen. Die vorliegende Untersuchung ist aus der Einsicht in diese Notwendigkeit entstanden, wenngleich auf Umwegen: Ursprünglich verband sich mit ihr das Ziel, die frühen europäischen Salonkulturen zu erforschen, deren Anfänge unterschiedlichen Forschungstraditionen zufolge entweder in der italienischen Renaissance oder im Frankreich des 17. Jahrhunderts liegen. Dass es möglich bzw. wünschenswert wäre, zwischen diesen Traditionen zu vermitteln, belegen jüngere Forschungen zu den französischen Salons des 16. Jahrhunderts. 2 1 Siehe hierzu Peter Seibert, „Der literarische Salon. Ein Forschungsüberblick“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3. Sonderheft, 1993, S. 159-220 sowie ders., „Aspekte der europäischen Geschichte des Salons von der Renaissance bis zur Aufklärung“, in: ders., Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart, Weimar, Metzler 1993, S. 25-101. Ansätze dieser Salonforschung in: Verena von der Heyden-Rynsch, Europäische Salons: Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur. München, Artemis & Winkler 1992; Roberto Simanowski (Hg.), Europa - ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen, Wallstein 1999; Roger Marchal (Hg.), Vie des salons et activités littéraires, de Marguerite de Valois à Mme de Staël. Presses Universitaires de Nancy 2001; Rita Unfer-Lukoschik (Hg.), Der Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum. Il salotto come spazio culturale generatore di processi comunicativi e di interscambio. München, Meidenbauer 2008. 2 Vgl. die Sondernummer zu diesem Thema der Zeitschrift Renaissance and Reformation/ Renaissance et Réforme, 28, 1, 2004 sowie Margarete Zimmermann, Salon der Autorinnen. Französische dames de lettres vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Berlin, Erich Schmidt 2005, S. 113-123; Gesa Stedman, Margarete Zimmermann (Hg.), Höfe - Salons - Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neu- Biblio17_204_s005-419End.indd 13 11.06.13 10: 10 <?page no="14"?> 14 Einleitung Die Arbeiten Margarete Zimmermanns über verschiedene Handschriften dieser Epoche haben gezeigt, dass sich in den Texten salonspezifische Strukturen abzeichnen, die auf Räume des Kulturtransfers, insbesondere zwischen Italien und Frankreich, schließen lassen. 3 So verdichten sich die Hinweise, dass es sich bei der berühmten Chambre bleue der Marquise de Rambouillet möglicherweise nicht - oder jedenfalls anders als bisher angenommen - um jene einzigartige Innovationsleistung handeln könnte, als die sie in einschlägigen Übersichtswerken dargestellt wird. 4 Vor diesem Hintergrund hatte die vorliegende Arbeit zunächst ein doppeltes Erkenntnisinteresse: Sie sollte ‚Mythen‘ der Salonforschung aufgreifen und hinterfragen, 5 um dann anhand von Fallstudien das Bild der Salons, die der Chambre bleue vorausgehen, abzurunden. Die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet diente ursprünglich also nur als Folie, auf der die Salonspezifik früherer Konstellationen abgebildet werden sollte. Die intensive Beschäftigung mit dieser Folie führte jedoch dazu, dass sich die präzise Vorstellung dessen, was man sich unter einem Salon der Frühen Neuzeit vorzustellen habe, immer mehr aufzulösen begann. Der Zweifel an der Erfindung des Salons durch die Marquise de Rambouillet griff im Zuge der Arbeit mit den Texten auf die Paradigmatik der sozialen Praxis über, die sich in der Literaturgeschichtsschreibung bis heute mit ihrem Haus verbindet. zeit. Hildesheim, Zürich, New York, Georg Olms 2007; Stephanie Bung, „Von der chambre bleue zum salon vert: Der französische Salon des sechzehnten Jahrhunderts“, in: Judith Klinger, Susanne Thiemann (Hg.), Geschlechtervariationen. Gender- Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Universitätsverlag Potsdam 2006, S. 215-232. 3 Margarete Zimmermann, „Kulturtransfer in Salons des 16. Jahrhunderts“, in: Stedman, Zimmermann (Hg.), Höfe - Salons - Akademien, S. 41-63; dies., „Europäische Netzwerke und Kulturtransfer im Familien-Salon des Jean de Morel und der Antoinette de Loynes“, in: Claudia Opitz, Dorothea Nolde (Hg.), „Grenzüberschreitende Familienbeziehungen“. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Köln, Böhlau 2008, S. 157-177. 4 Ein besonders prägnantes Beispiel für eine solche Darstellung der Chambre bleue findet sich in Joan DeJean, „Salon“, in: The New Oxford Companion to Literature in French. Hg. von Peter France, Oxford, Clarendon Press 1995, S. 737-739; geringfügig abgefedert auch in Dictionnaire des lettres françaises. Le XVII e siècle. Hg. von Patrick Dandrey, Paris, Fayard 1996, S. 1149-1152. 5 Zu diesen ‚Mythen der Salonforschung‘ gehören m.E. die immer wieder genannten, aber niemals systematisch untersuchten Salons der Elisabetta Gonzaga oder der Louise Labé (vgl. Wilhelm Knörich, „Litterarisch-gesellige Bestrebungen, besonders der Damen, und ihr Vorbild, sowie die Frauen-Emanzipation in Frankreich während der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Eine literar- und kulturhistorische Studie“, in: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte, 3, 1896, S. 385-416; Valerian Tornius, Salons. Bilder gesellschaftlicher Kultur aus fünf Jahrhunderten, 2 Bde., Leipzig, o.A. 1913, hier Bd. 1, S. 3). Biblio17_204_s005-419End.indd 14 11.06.13 10: 10 <?page no="15"?> 15 Einleitung Quellenproblematik Der Historiker Nicolas Schapira hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Problem der Salonforschung im Umgang mit den Quellen liegt: Les travaux sur les ‚salons‘ au XVII e siècle sont fondés sur un petit nombre de sources, essentiellement littéraire. Cela tient certes à la rareté des sources sur des pratiques non institutionnelles, et qui laissent donc peu de traces, mais aussi à la séduction qu’exercent ces sources littéraires, dans la mesure où elles fournissent des cadres interprétatifs tout prêts pour donner sens aux pratiques de sociabilité. 6 Das überwiegend anekdotische Quellenmaterial, über das wir insbesondere im Falle der Chambre bleue verfügen, 7 wird nicht allein zur Illustration einer sozialen Praxis herangezogen, über die sich an anderer Stelle verlässliche Information abrufen ließe. Es stellt vielmehr die vermeintlich empirische Grundlage einer Forschung dar, die das Hôtel de Rambouillet zu jenem paradigmatischen Ort der frühen französischen Salonkultur erklärt hat, als der es bis heute erscheint. Die Lektüre anekdotischer Texte ergänzt also nicht etwa unser Wissen über den sozialen Raum der Chambre bleue, sondern sie scheint diesen Raum - auch heute noch - überhaupt erst zu konstituieren. Dieser Befund lenkt die Aufmerksamkeit auf die spezifische Verfasstheit der Quellen und führt zu der Frage, welchen Bedingungen sie ihre Entstehung verdanken. Anhand der Historiettes von Tallemant des Réaux, auf die sich die Forschungsarbeiten, die sich mit dem Salon der Marquise de Rambouillet befasst haben, überwiegend beziehen, 8 lässt sich das Erkenntnisinteresse, das mit dieser Fragestellung verbunden ist, exemplarisch verdeutlichen. Gédéon Tallemant des Réaux kommt 1634 im Alter von fünfzehn Jahren mit seiner Familie nach Paris. Zu diesem Zeitpunkt, so heißt es in literaturgeschichtlichen Nachschlagewerken, steht der Salon der Marquise de Ram- 6 Nicolas Schapira, Un professionnel des lettres au XVII e siècle. Valentin Conrart: Une histoire sociale. Seyssel, Champ Vallon 2003, S. 227. 7 Es handelt sich um galante Briefe und Gelegenheitstexte der mit der Chambre bleue eng verbundenen hommes de lettres Vincent Voiture, Valentin Conrart, Jean Chapelain und Guez de Balzac (vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 227-236 sowie Teil I, Kap. 1.2 der vorliegenden Untersuchung). 8 Auf sie geht nicht zuletzt der Name Chambre bleue zurück, der schon bald auf den sozialen Raum übertragen wurde: „C’est la première [die Marquise de Rambouillet, S.B.] qui s’est avisée de faire peindre une chambre d’autre couleur que de rouge ou de tané; et c’est ce qui a donné à sa grande chambre le nom de la Chambre bleue.“ (Tallemant des Réaux, Historiettes. Hg. von Antoine Adam, Bd. I, Paris, Gallimard 1960, S. 443). Biblio17_204_s005-419End.indd 15 11.06.13 10: 10 <?page no="16"?> 16 Einleitung bouillet bereits in seiner vollen Blüte. 9 Tallemant wird in diesen gesellschaftlichen Kreis frühestens um 1638 eingeführt, nachdem der Achtzehnjährige in Rom die Bekanntschaft des Dichters Vincent Voiture gemacht hat. 10 Der Autor der Historiettes ist also zu jung, um die meisten der Ereignisse im Hôtel de Rambouillet miterlebt zu haben, von denen er später berichten wird. Er ist jedoch gerade alt genug, um sich dieser Gesellschaft verbunden zu fühlen, von der behauptet wird, dass sie sich mit der Eheschließung zwischen dem Marquis de Montausier und Julie d’Angennes im Jahre 1645 bereits aufzulösen begonnen habe. 11 Die Anekdoten, die Tallemant um die Mitte des Jahrhunderts über das Haus Rambouillet verfasst, 12 werden ihm, seiner eigenen Aussage nach, von der Marquise erzählt. 13 Letzterer darf man ein persönliches Interesse daran unterstellen, dem heiteren, geselligen Charakter, für den die Chambre bleue bis heute berühmt ist, ein Denkmal zu setzen. Aber auch Tallemant, der zu diesem Zeitpunkt schriftstellerische Ambitionen hegt, zieht Vorteile aus dieser Zusammenarbeit: Er schreibt sich auf diese Weise in eine prestigeträchtige Kollektivität ein, zu deren Sichtbarkeit er selbst beiträgt. Zugleich stellt er sein Talent als Erzähler unter Beweis, stammen die Geschichten, die er aufschreibt, doch in letzter Konsequenz aus seiner Feder. Sie sind das Produkt eines homme de lettres, der die Ereignisse nicht um ihrer selbst willen festhält. Es wäre jedoch zu einfach, die Historiettes als Quelle schlicht zu disqualifizieren. Wenn man den Akt des Schreibens sowie die spezifische sprachliche Verfasstheit dieser Quelle in den Blick nimmt, zeugen diese Texte vielmehr auf besonders eindringliche Art und Weise vom Ineinandergreifen sozialer und literarischer Praxis im 17. Jahrhundert. Von der Vorstellung, sie brächten die verklungenen Stimmen eines Salons zu 9 Vgl. den Artikel „Rambouillet (Mme de)“, in: Dictionnaire des lettres françaises, le XVII e siècle, S. 1066-1070. 10 Vgl. Antoine Adam, „Introduction“, in: Tallemant, Historiettes I, S. VII-XXVI, S. X. 11 „Commencées vers 1613, les réceptions prennent fin aux environs de 1650. Dès 1645, le mariage de Julie d’Angennes avec le très patient duc [sic] de Montausier et le départ ultérieur du nouveau couple pour le gouvernement de Saintonge en 1648 eurent pour effet [...] de ralentir le rythme des réunions.“ (Dictionnaire des lettres françaises, le XVII e siècle, S. 1069). 12 Der Zeitpunkt der Niederschrift der Historiettes von Tallemant des Réaux lässt sich nicht genau bestimmen, da die Texte jedoch überwiegend über die ersten sechzig Jahre des 17. Jahrhunderts Auskunft geben, vermutet Antoine Adam, dass die meisten von ihnen zwischen 1657 und 1659 entstanden sind (vgl. Adam, Introduction, S. XV). Die Publikation erfolgt erstmalig im Jahre 1834. 13 „C’est d’elle [die Marquise de Rambouillet, S.B.] que je tiens la plus grande et la meilleure partie de ce que j’ay escrit et que j’escriray dans ce livre.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 455). Biblio17_204_s005-419End.indd 16 11.06.13 10: 10 <?page no="17"?> 17 Einleitung Gehör, gilt es sich allerdings zu verabschieden. Die Polyphonie des Kollektivs reduziert sich bei genauerem Hinsehen auf maximal zwei Stimmen: Jene der Marquise de Rambouillet, die die Chance ergreift, der Empfangskultur ihres Hauses nachträglich einen besonderen Glanz zu verleihen, und jene des homme de lettres, auf den dieser maßgeblich seinem Talent geschuldete Glanz zurückstrahlt. Die Konsequenzen, die es aus derartigen Konstellationen zu ziehen gilt, haben in der Salongeschichtsschreibung bislang kaum Berücksichtigung gefunden: 14 Wenn nämlich die Quellen zugleich Teil der mondänen Praxis sind, über die sie Auskunft erteilen, kann sich eine moderne Salonforschung nicht auf die Wiedergabe der in den Anekdoten enthaltenen Informationen - von Personen und Aktivitäten - beschränken. Ein unter diesen Gesichtspunkten formuliertes Erkenntnisinteresse liegt deshalb weniger in der Frage, was sich in den Salons zugetragen hat oder welche literarischen Werke in diesen Räumen geschrieben und gelesen wurden. Vielmehr geht es darum, besser zu verstehen, wie die literarische Praxis dazu beigetragen hat, diese sozialen Räume zu konstituieren. Erst in einem zweiten Schritt, der auf die Problematisierung des salonspezifischen Raumbegriffs folgen kann, ließe sich die Fragestellung dann auch wieder umkehren: Wie haben diese Räume, die wir als Salons zu bezeichnen gewohnt sind, zu jener naissance de l’écrivain im Frankreich des 17. Jahrhunderts beigetragen, die Alain Viala in seinem gleichnamigen Werk analysiert hat? 15 Die vorliegende Untersuchung erhebt nicht den Anspruch, hierauf eine letztgültige Antwort zu geben. Sie will vielmehr dazu anregen, einen Fall neu aufzurollen, den man bereits im Begriff war, zu den Akten zu nehmen, galt doch das 17. Jahrhundert bislang als jene Epoche der französischen Literaturgeschichte, in der eine geradezu explosionsartige Vermehrung der Salons - und damit auch ihr Einfluss auf die literarische Produktion - als gegeben betrachtet werden dürfe. 14 Ein analoges reziprokes Rezeptions- und Produktionsverhältnis mit dem Hause Rambouillet haben Nicolas Schapira und Christian Jouhaud für die hommes de lettres Valentin Conrart und Jean Chapelain herausgearbeitet (vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 236-253; Christian Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature. Histoire d’un paradoxe. Paris, Gallimard 2000, S. 97-150). 15 Alain Viala, La naissance de l’écrivain. Paris, Minuit 1985. Viala, dessen grundlegende Studie die Entstehung eines frühen französischen champ littéraire untersucht, bezeichnet die Salons als „lieux de médiation“. Auch er lässt es jedoch mit der Benennung jener Orte, die im 17. Jahrhundert u. a. mit dem Begriff der ruelle bezeichnet werden, auf sich bewenden (vgl. ebd., S. 132-137). Zur Problematik einer solchen Herangehensweise siehe Teil I, Kap. 1.2.2 der vorliegenden Untersuchung. Biblio17_204_s005-419End.indd 17 11.06.13 10: 10 <?page no="18"?> 18 Einleitung Untersuchungsgegenstand Vor diesem Hintergrund schien es angebracht, den ursprünglich geplanten - im 17. Jahrhundert lediglich seinen Ausgang nehmenden - ‚Krebsgang‘ in die Salongeschichte zu vertagen. Die Notwendigkeit, sich intensiv mit jenem Zeitraum zu beschäftigen, der in der Forschung bislang als besonders gut dokumentiert galt, wurde im Laufe der Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur als zunehmend dringlich eingestuft. So bestätigte sich insbesondere der folgende Verdacht: Wenn die Marquise de Rambouillet bis heute als die paradigmatische salonnière des 17. Jahrhunderts wahrgenommen wird, so liegt das nicht zuletzt daran, dass man das Diktum von der ‚Explosion‘ salonspezifischer Orte noch nie kritisch hinterfragt hat. Die Chambre bleue ist sicher nicht der einzige Fall, in dem das spezifische Ineinandergreifen von literarischer und gesellschaftlicher Praxis eine neue Lesart der Quellen erforderlich macht. Es gibt jedoch meiner Erkenntnis nach - mit Ausnahme des Kreises der Madeleine de Scudéry - keinen weiteren Fall, in dem dies in einer so fundamentalen Art und Weise, wie sie im Folgenden unternommen wird, überhaupt möglich ist: Kein anderer Ort, der in der Forschungsliteratur unter der Bezeichnung ‚Salon‘ Erwähnung findet, verfügt über eine vergleichbare Anzahl von Gelegenheitstexten, die es erlauben, den sozialen Raum als ein reziprokes Rezeptions- und Produktionsverhältnis von gesellschaftlicher Elite und professionnels de lettres zu untersuchen. Es ist also kein Zufall, dass sich die Forschung bislang überwiegend mit diesem Fall sowie mit dem sogenannten Samedi der Madeleine de Scudéry beschäftigt hat. Eine Frage wurde dabei jedoch gar nicht erst gestellt: Worin genau besteht jene so selbstverständlich postulierte Salonspezifik, die diese Orte von der Empfangs- und Patronagekultur mächtiger Adelshäuser unterscheidet? 16 Um sich systematisch mit dieser Frage zu beschäftigen, bedarf es einer strukturierenden Eingrenzung des Quellenmaterials: Denn was dem Gegenstand ‚Salon des 17. Jahrhunderts‘ auf der einen Seite fehlt, nämlich die terminologische und empirische Fundierung seiner Existenz, das gleicht er durch eine Flut von literarisch überformten Texten gewissermaßen wieder aus. Neben zahlreichen anekdotischen Erzählungen, die nicht nur in den Historiettes, sondern auch in Memoiren und Korrespondenzen verschriftlicht wurden, handelt es sich dabei überwiegend um Gelegenheitsdichtung, die in kollektiven Publikationen und Handschriften enthalten sind, und um in 16 Ein prominentes Beispiel wäre das Haus Condé (vgl. Katia Béguin, Les Princes de Condé. Rebelles, courtisans et mécènes dans la France du Grand Siècle. Seyssel, Champ Vallon 1999), dessen Mäzenatentum durch dynastische und rangspezifische Strukturen geprägt ist, die mit denjenigen, die der Geselligkeit des Hauses Rambouillet zu Grunde liegen, nicht kongruent sind. Biblio17_204_s005-419End.indd 18 11.06.13 10: 10 <?page no="19"?> 19 Einleitung galanten Briefen vermittelte, halb-fiktionale Erzählungen jener hommes de lettres, die sich als Teil der Gruppe begreifen, über die sie schreiben. Angesichts dieser überwältigenden Menge höchst heterogenen Quellenmaterials, 17 von dem ein Großteil nur in der Bibliothèque nationale de France eingesehen werden kann, stellt sich die Frage nach den Auswahlkriterien zur Konstituierung eines konkreten Untersuchungsgegenstandes. Hier profitiert das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung von den Vorarbeiten zu dem ursprünglichen Forschungsprojekt, das durch die Arbeiten Margarete Zimmermanns zu den sogenannten ‚Salonalben‘ des 16. Jahrhunderts angeregt worden war, nämlich die Untersuchung des Verhältnisses zwischen intertextueller Struktur und extratextueller Gruppenbildung anhand von Sammlungen kollektiver Gelegenheitstexte, deren sorgfältige Ausgestaltung in Form von handschriftlich angefertigten Büchern die Bezeichnung ‚Album‘ rechtfertigt. Ausgehend von der These, dass die formale Geschlossenheit des Gegenstandes der Kohärenz eines relationalen Raumes entspricht, der durch das Album sowohl repräsentiert als auch konsolidiert wird, 18 galt es, eine spezifische soziale Dynamik in den Blick zu nehmen. 19 Dieses Vorgehen für die Quellensituation des 17. Jahrhunderts fruchtbar zu machen, war umso naheliegender, als bereits Zimmermanns Definition des Salonalbums auf die berühmte Guirlande de Julie aus dem Umkreis des Hôtel de Rambouillet hinweist. 20 17 Hier sind wohlgemerkt die heute zu den kanonisierten Gattungen zählenden Romane, Novellen und Dialoge, deren Übergang zu den zirkulierenden und fluktuierenden Formen des sogenannten salon-writing (DeJean) fließender sind, als man auf der Grundlage eines modernen Literaturbegriffs annehmen würde, noch nicht eingerechnet. 18 Zimmermann definiert das Salonalbum als „einen vielstimmigen, oft vielsprachigen Text-Raum und als die Repräsentation einer salonspezifischen Form von Gruppenbildung“ sowie als den Versuch, „die prinzipielle ‚Beweglichkeit‘ und Performativität des S[alons] in ein statisches Textbzw. Text-Bild-Monument zu übersetzen.“ (Artikel „Salon“ in: Friedrich Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 11, Stuttgart, Weimar, Metzler 2010, S. 549-556, S. 554). 19 So lässt sich zeigen, dass die gruppenkonstituierende Bewegung durch die Sammlung der Texte nicht zur Ruhe kommt. Indem das Album beispielsweise unter den Gruppenmitgliedern zirkuliert, stärkt es erneut die Zusammengehörigkeit der handelnden Personen, die sich in der Lektüre ihrer eigenen Interaktion versichern können. Zimmermann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verschriftlichung von Gruppengedächtnissen“ (ebd.). 20 „Auf das ‚Haus‘ und den S[alon] der Marquise de Rambouillet verweist die Guirlande de Julie […], ein als kalligraphisch-künstlerisch-poetisches ‚Gesamtkunstwerk‘ gestaltetes Florilegium aus dem Umkreis der Chambre bleue und galante Liebesgabe für Julie d’Angennes, die Tochter der Marquise de Rambouillet.“ (ebd., S. 555). Biblio17_204_s005-419End.indd 19 11.06.13 10: 10 <?page no="20"?> 20 Einleitung Was also ursprünglich als Vergleichsmodell zur Analyse früherer Handschriften französischer und italienischer Provenienz herangezogen werden sollte, wurde im Rahmen des neu formulierten Erkenntnisinteresses selbst zum Gegenstand der Analyse und zum Ausgangspunkt für die Konstitution eines Textkorpus. Allerdings erfüllte sich die anfängliche Hoffnung, neben der Guirlande de Julie eine signifikante Anzahl weiterer Salonalben des 17. Jahrhunderts zu bergen, nicht. Wohl gibt es - neben einer Reihe kurioser Alben, die schon von den Zeitgenossen als ‚Freundschaftsalben‘ oder alba amicorum bezeichnet wurden 21 - eine Vielzahl von Sammelschriften kollektiver Gelegenheitsdichtung, deren Einzelstücke inhaltlich wie formal auf den sozialen Kontext ihrer Entstehung schließen lassen. 22 Die Einheit eines spezifischen relationalen Raumes lässt sich jedoch in den wenigsten Sammelformen dieser Art herausarbeiten, vielmehr decken sich die Ergebnisse der Archivrecherche hier mit den Erkenntnissen, die sich aus der Arbeit mit der Forschungsliteratur ergeben haben: An den kollektiven Gestaltungswillen, der sich im Umkreis der Marquise de Rambouillet abzeichnet, reicht nur noch derjenige einer einzigen weiteren Gruppe, nämlich des Samedi, heran. Aus diesem Umkreis stammt eine sorgfältig aufbereitete Sammlung von Briefen, deren Verfasser sich zwischen 1653 und 1654 um Madeleine de Scudéry versammelten. Dieses Album, das in der Forschung unter der Bezeichnung Chroniques du Samedi bekannt ist, stellt deshalb ein interessantes Gegenstück zu der ungleich prestigeträchtigeren Guirlande de Julie dar. Vor allem lassen sich jedoch beide Handschriften mit anderen auf kollektiver Autorschaft beruhenden Sammelformen, die das 17. Jahrhundert hervorgebracht hat, sowohl vergleichen als auch kontrastieren. Vermittelt über den Quellentypus ‚Album‘ konnte so ein Textkorpus erstellt werden, dessen Analyse es erlaubt, verschiedene Formen der Verschränkung von sozialen und literarischen Räumen zu identifizieren, einander gegenüber zu stellen und auf diese Weise nach Antworten auf die Fragen zu suchen, die der zunehmend konturlos gewordene Salonbegriff aufwirft. Zum Aufbau der Arbeit Diesen Salonbegriff, der im 19. Jahrhundert entsteht und von da an auf bestimmte soziale Räume des 17. Jahrhunderts zurück projiziert wird, gilt es zunächst zu problematisieren. Er steht deshalb im Mittelpunkt des ersten Teils dieser Untersuchung, der den Umgang mit dieser scheinbaren ‚Kategorie‘ analysiert. Die diskursanalytische Herangehensweise an den Gegenstand, die in einen Forschungsbericht mündet und sich über weite Strecken mit ihm 21 Vgl. Teil II, Kap. 1. 22 Vgl. Teil II, Kap. 2. Biblio17_204_s005-419End.indd 20 11.06.13 10: 10 <?page no="21"?> 21 Einleitung deckt, erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Kapitel wird der narrative Grundriss nachgezeichnet, der mit der Entstehung des modernen Salonbegriffs Gestalt annimmt und im 20. Jahrhundert von einer Geschichtsschreibung übernommen wird, die die französischen Salons des 17. Jahrhunderts zu ihrem Gegenstand erklärt. Sie hat eine Tradition von kompilierenden Gesamtstudien hervorgebracht, die um die Jahrhundertmitte abbricht. Im zweiten Kapitel wird eine exemplarische Auswahl jüngerer Forschungsansätze vorgestellt, die alle auf unterschiedliche Art und Weise an diese Geschichtsschreibung anknüpfen, jedoch in den meisten Fällen ohne den ‚Salon‘ noch zu ihrem genuinen Gegenstand zu erklären. Die Prämissen seiner Konstruktion im 19. Jahrhundert finden jedoch in den jeweiligen Raumbegriffen ihren Niederschlag, die den einzelnen Studien zu Grunde liegen und dieses Kapitel strukturieren, wobei danach zu fragen sein wird, was man sich in den jeweiligen Fällen unter dem Salon als ‚konkreten Raum‘ überhaupt vorzustellen hat. Diese Frage führt zur kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Quellen, der die verbleibenden drei Teile der Arbeit vorbehalten sind. Ausgegangen wird von der These, dass bereits einige zeitgenössischen Texte so angelegt sind, dass sie durch eine spezifische Verschränkung sozialer und literarischer Praktiken einen konkreten relationalen Raum sichtbar werden lassen, für den es zumindest in den beiden zu beschreibenden prominenten Fällen - der Chambre bleue und des Samedi - schlicht keinen besseren Namen zu geben scheint, als eben ‚Salon‘. Bevor jedoch diese Fälle näher beleuchtet werden können, muss zuerst der Begriff des Albums für das 17. Jahrhundert konturiert werden. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich daher im ersten Kapitel den wenigen Handschriften der Zeit, die explizit als ‚Alben‘ bezeichnet werden können, den sogenannten Freundschaftsalben, Stammbüchern oder alba amicorum. Das zweite Kapitel untersucht literarische kollektive Sammelformen der Zeit: Die sogenannten recueils galants lassen immer dann Rückschlüsse auf den salonspezifischen Entstehungskontext der in ihnen enthaltenen Gelegenheitsdichtung zu, wenn sich diese - zumindest streckenweise - intertextuell so sehr verdichtet, dass in ihr konkrete soziale Räume sichtbar werden. Derartige ‚Salonstrecken‘ füllen jedoch nur in den seltesten Fällen den Raum eines vollständigen recueil. Dies bleibt meiner Erkenntnis nach zwei in Teil III und Teil IV untersuchten Handschriften vorbehalten, was deren besonderen Status innerhalb des Textkorpus’ unterstreicht. La Guirlande de Julie ist Gegenstand des dritten Teils dieser Arbeit. Zur Beantwortung der Frage, ob es sich bei dieser Prachthandschrift um ein Salonalbum handelt, ist es nötig, sich mit dem Imaginarium auseinanderzusetzen, das der sozialen Praxis des Hôtel de Rambouillet zu Grunde liegt. Im ersten Kapitel wird daher eine Auswahl aus jenem unveröffentlichten Quellenmaterial untersucht, das schon der frühen Salongeschichtsschreibung als Biblio17_204_s005-419End.indd 21 11.06.13 10: 10 <?page no="22"?> 22 Einleitung Ausgangspunkt zur Konstruktion der Chambre bleue diente. Die narrative Struktur, die sich anhand von spielerischer Kurzprosa und galanten Briefen herausarbeiten lässt, wird sich in der Guirlande de Julie wiederfinden und es erlauben, dieses Werk als ein galantes Spiel zu begreifen, das den sozialen Raum der Chambre bleue maßgeblich mitgestaltet hat. 23 Das zweite Kapitel ist deshalb diesem Spiel gewidmet, von dem die in den dreißiger Jahren zirkulierenden, kollektiv verfassten Blumenmadrigale zu Ehren der Tochter der Marquise de Rambouillet, Julie d’Angennes, Zeugnis ablegen. Davon zu unterscheiden ist die Prachthandschrift, die im Jahre 1641 angefertigt wurde. Dieses Meisterwerk, zu dem der Schreibmeister Nicolas Jarry und der Blumenmaler Nicolas Robert ebenso beigetragen haben wie die Autoren der Madrigale, wird in einem dritten Kapitel analysiert. Es handelt sich um einen komplexen, heterogenen Gegenstand, der sich nicht auf seine Eigenschaft als Madrigalsammlung beschränken lässt. Ebensowenig darf er als romantische Liebesgabe missverstanden werden, nur weil der Marquis de Montausier die Handschrift für seine zukünftige Ehefrau Julie d’Angennes anfertigen ließ. Vielmehr handelt es sich um ein Prestigeobjekt, das dem Hause Rambouillet, welches sich wenige Jahre später mit dem Hause Montausier verbinden wird, zu Ehren gereicht. Ganz anders stellt sich auf den ersten Blick eine Handschrift dar, die in der Forschung unter dem Titel Chroniques du Samedi bekannt ist und mit der sich der vierte und letzte Teil dieser Arbeit auseinandersetzt. Während ein Blick in die Guirlande genügt, um den Prestigecharakter dieses Gegenstandes zu erfassen, erschließen sich Wert und Funktion der Chroniques erst durch die Lektüre der Briefe, die in diesem Album versammelt sind. Um jedoch auch in diesem Fall entscheiden zu können, ob es sich um ein Salonalbum handeln könnte, muss in einem ersten Kapitel wiederum zunächst das Imaginarium dargestellt werden, das den Kreis um Madeleine de Scudéry charakterisiert und das verschiedentlich als Royaume de Tendre bezeichnet wurde. Wie im Fall der Chambre bleue wird auch hier eine Auswahl jenes Quellenmaterials analysiert, anhand dessen bereits die traditionelle Salonforschung Aussagen über die soziale und literarische Praxis des sogenannten Samedi machen konnte. Auch in diesem Material lassen sich narrative Strukturen herausarbeiten, die in dem Album wiederkehren und den roten Faden einer Erzählung in Briefen bilden. Ähnlich wie bei der Guirlande de Julie gilt es zwischen der Entstehung der Texte, dem das zweite Kapitel gewidmet ist, und dem Moment ihrer definitiven Zusammenstellung, mit der sich das dritte Kapitel 23 Auf den Spielbegriff, der im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieser Arbeit vor allem als Mimikry im Sinne von Roger Caillois Verwendung findet (vgl. Roger Caillois, Les jeux et les hommes: le masque et le vertige. Paris, Gallimard 1958, S. 39- 45), wird zu einem späteren Zeitpunkt näher einzugehen sein (vgl. Teil I, Kap. 2.3). Biblio17_204_s005-419End.indd 22 11.06.13 10: 10 <?page no="23"?> 23 Einleitung auseinandersetzt, zu unterscheiden. In beiden Handschriften schlagen sich im spielerischen Modus der Gelegenheitsdichtung sehr unterschiedliche Distinktionsstrategien nieder. Sowohl die Texte als auch die Alben generieren mithin ein Spannungsfeld von Ähnlichkeit und Differenz, das abschließend einmal mehr die Frage aufwirft, inwiefern diese ‚Spiele und Ziele‘ als salonspezifisch betrachtet werden können. Biblio17_204_s005-419End.indd 23 11.06.13 10: 10 <?page no="24"?> Biblio17_204_s005-419End.indd 24 11.06.13 10: 10 <?page no="25"?> TEIL I Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts. Eine Problemskizze. Der französische Salon ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Der Ausdruck ‚Salon‘ im Sinne des sozialen Phänomens ist vor 1793 nicht belegt 1 und findet erst 1835 Eingang in den Dictionnaire de l’Académie française. Diese lexikalische Lücke der vorrevolutionären Zeit bedeutet nicht automatisch, dass es die gesellschaftliche Praxis, auf die wir heute mit diesem Ausdruck Bezug nehmen, nicht gegeben hat. Doch sie legt eine besondere Sorgfalt im Umgang mit der Terminologie nahe, wie der Historiker Antoine Lilti in seiner Untersuchung der französischen Salons des 18. Jahrhunderts zu Recht anmerkt: Que l’essor du vocabulaire spécifique du ‚salon‘, au XIX e siècle, corresponde au moment où ces pratiques se figent et s’autonomisent, coupées qu’elles sont de la société de cour, est un indice supplémentaire qui engage à la plus grande prudence quand il s’agit de découper dans la diversité des pratiques de conversation, de visites, d’invitations, une réalité que l’on identifiera comme ‚les salons‘. 2 1 Vgl. Trésor de la Langue Française. Dictionnaire de la langue du XIX e et du XX e siècle. Bd. 13. Paris, Gallimard 1992, S. 18. Jacqueline Hellegouarc’h zufolge wird er bereits von Louis-Sébastien Mercier im Jahre 1783 erstmalig in diesem Sinne verwendet (vgl. Jacqueline Hellegouarc’h, „‚Salons‘ du XVIII e siècle: problèmes de sources“, in: Roger Marchal (Hg.), Vie des salons et activités littéraires de Marguerite de Valois à Mme de Staël. Nancy, Presses Universitaires de Nancy 2001, S. 29-37, S. 29), aber diese Diskrepanz von zehn Jahren ist für meine Argumentation vernachlässigbar. 2 Antoine Lilti, Le monde des salons. Sociabilité et mondanité à Paris au XVIII e siècle. Paris, Fayard 2005, S. 87. Liltis Studie, auf die am Ende dieses Kapitels noch einmal gesondert eingegangen wird, operiert erstmals auf der Grundlage eines rigorosen Definitionsversuches, der sich zwar nicht einfach auf das 17. Jahrhundert übertragen lässt, jedoch im Hinblick auf die Behandlung des Raumes für die vorliegende Untersuchung interessant ist. Biblio17_204_s005-419End.indd 25 11.06.13 10: 10 <?page no="26"?> 26 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Im Falle des Salons handelt es sich um einen historisch aufgeladenen Begriff, der nur vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichtlichkeit zu verstehen ist und bis in die jüngste Vergangenheit den Blick auf den Gegenstand zwar ermöglicht, zugleich aber auch filtert. Problematisch kann dabei in erster Linie die semantische Nähe von salon und monde werden. Da mit beiden Ausdrücken eine räumliche Vorstellung verbunden ist, lässt sich nämlich leicht eine Kontiguitätsbeziehung konstruieren, aus der sich wiederum eine metonymische Verwendung der Begriffe und damit ihre Austauschbarkeit ableiten lässt. Der scheinbare Vorteil einer solchen Überblendung liegt auf der Hand: Während der Ausdruck monde im 17. Jahrhunderts eine weiträumige Figur bezeichnet, deren Konturen bewußt vage gehalten sind, so dass sie jederzeit den Ein- und Ausschluss von Personen und Personengruppen ermöglichen, 3 verbindet sich mit dem modernen Begriff des Salons die Vorstellung von vielen konkreten Orten, an denen die in den Quellen gerühmte französische Kunst der Konversation tatsächlich praktiziert wurde. Gegen die Konkretion, durch die das Verhältnis von diskursiver und sozialer Praxis in den Blick gerät, ist nichts einzuwenden, solange sie nicht dazu führt, das vielschichtige Phänomen monde auf die Summe der Orte, die durch die vereinheitlichende Charakterisierung als ‚Salon‘ vergleichbar erscheinen, zu reduzieren. Auch darf man nicht vergessen, dass die Zeitgenossen ihre eigenen Bezeichnungen für konkrete Orte der sociabilité hatten, 4 von der neutralen maison oder société über den cercle, die cabale oder die alcôve bis hin zu der berühmten ruelle, jenem schmalen Raum zwischen Wand und Bett, auf dem ruhend die Dame des Hauses ihre Gäste empfing. 5 Es bleibt fraglich, ob die Übersetzung dieser heterogenen Terminologie mit dem Begriff des Salons zu einem besseren Verständnis beiträgt, oder ob nicht vielmehr zu befürchten steht, dass die Frage, was die Empfangskultur einer ruelle von jener eines ranghohen Adelshauses oder des cercle der Königin unterscheidet, gar nicht erst gestellt wird. Angesichts der epochenspezifischen Bedeutung des sozialen Ranges und 3 Zum Begriff monde im 17. Jahrhundert siehe Littératures Classiques, 22, 1994 (Themenheft mit dem Titel „La notion de monde au XVII e siècle“). 4 Zum Begriff der sociabilité vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 10: „C’est un outil précieux pour comprendre les enjeux sociaux, politiques ou culturels attachés à des pratiques faiblement institutionnalisées. […] Il faut donc distinguer clairement la sociabilité comme outil historiographique, qui étudie des relations sociales fondées sur la participation volontaire, et la sociabilité comme notion de philosophie morale et politique, qui apparaît justement au XVIII e siècle, dans le sillage des théories du droit naturel.“ Der Begriff wird hier und im Folgenden im Sinne des ‚historiographischen Werkzeugs‘ verwendet. 5 Zur ruelle siehe Wolfgang Zimmer, Die literarische Kritik am Preziösentum. Meisenheim am Glan, Anton Hain 1978, S. 153-158. Biblio17_204_s005-419End.indd 26 11.06.13 10: 10 <?page no="27"?> 27 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs seiner komplexen Ausdifferenzierung gilt es diese Frage jedoch stets im Blick zu behalten. Andernfalls läuft man Gefahr, mit der Rede von den ‚Salons‘ einen homogenen kulturellen Raum zu entwerfen, der dem komplizierten Ineinandergreifen von textueller und sozialer Praxis, das sich in den Quellen abzeichnet, nicht gerecht wird. Angesichts dieses Risikos soll die vorliegende Untersuchung zu einer Diskussion über und zu einem differenzierten Umgang mit dem Salonbegriff beitragen. Der erste Teil dieser Arbeit ist daher seiner Entstehung und Verwendung gewidmet sowie der Frage, welche Konsequenzen sich aus seiner Geschichtlichkeit ergeben. Dabei wird im ersten Kapitel die begriffshistorische Entwicklung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt, in der die französische Salongeschichtsschreibung zugleich ihren Höhe- und vorläufigen Endpunkt erreicht. Das zweite Kapitel geht den Spuren nach, die diese Salongeschichtsschreibung auf unterschiedlichen Gebieten der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung der letzten zwanzig Jahre hinterlassen hat. Diese Spurensuche stützt sich auf bestimmte, im ersten Kapitel erarbeitete Kriterien - die Auseinandersetzung mit dem Ineinandergreifen von sozialen und literarischen Räumen, die Konzentration auf Praktiken der sociabilité, die genderspezifische Perspektive -, anhand derer gezeigt werden kann, dass mit dem Versiegen einer expliziten Salongeschichtsschreibung Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs der Verzicht auf den traditionellen Salonbegriff einhergeht. Dessen ubiquitäre Verwendung macht einen umfassenden Forschungsbericht zu diesem Thema allerdings unmöglich, weshalb sich die folgenden Überlegungen auf eine Problemskizze beschränken. 1 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Der Ausdruck salon findet über den Einfluss der italienischen Baukunst Eingang in den französischen Wortschatz. Im Eintrag in Furetières Dictionnaire universel von 1690 lassen sich noch deutliche Spuren dieses Transfers nachweisen: Grande sale fort élevée, & couverte en cintre, qui a souvent deux étages ou rangs de croisées. La mode des salons nous est venüe d’Italie. On reçoit d’ordinaire les Ambassadeurs dans un salon. 6 Kurz darauf, im Dictionnaire de l’Académie Française von 1695, wird der explizite Verweis auf das italienische Vorbild zwar getilgt, der architektonische 6 Dictionnaire universel […] d’Antoine Furetière. Bd. III, Paris, o.A. 1690, s.p. Biblio17_204_s005-419End.indd 27 11.06.13 10: 10 <?page no="28"?> 28 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Gegenstand, der mit dem Ausdruck salon bezeichnet wird, stimmt mit demjenigen Furetières jedoch noch überein: Piece dans un appartement qui est beaucoup plus exhaussée que les autres, & qui est ordinairement ceintrée & enrichie d’ornements d’architecture & de peinture. Beau salon, grand salon, salon bien percé, bien éclairé. 7 Von seinen Anfängen als repräsentativer, oftmals über zwei Geschosse sich erstreckender Kuppelsaal italienischer Herkunft, in dem vor allem ausländische Gesandte empfangen werden, scheint sich der Gegenstand noch während des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts emanzipiert zu haben, denn bereits 1737 beschreibt der Architekt und Architekturtheoretiker Jacques- François Blondel verschiedene Raumtypen, die er unter dem Ausdruck sallon zusammenfasst: Mon dessein n’est pas de parler ici des Sallons à l’Italienne, qui embrassent plusieurs étages, en ayant donné un exemple dans le premier Volume: je ne veux pas non plus faire mention de ceux, qui quoique d’une hauteur ordinaire, sont traités avec une extrême magnificence; la simplicité fait ici mon objet, & je n’entends parler que de ceux qui ne s’attirent des applaudissemens que par la beauté des formes, la symétrie & la variété des contours […]. 8 In seiner zweibändigen Abhandlung über die äußere und innere Architektur der sogenannten maisons de plaisance 9 unterscheidet Blondel zwischen dem 7 Dictionnaire de l’Académie Françoise […]. Bd. II, Paris, chez la veuve de Jean Baptiste Coignard 1695, S. 266. 8 Jacques-François Blondel, De la distribution des maisons de plaisance et de la décoration des édifices en général. Bd. II, Paris, chez Charles-Antoine Jombert 1737, S. 101. In seinem Architekturtraktat, das 1771 posthum veröffentlicht wird, beschreibt Blondel noch präziser drei Typen des sallon: „On distingue trois sortes de Sallons; les Sallons à l’Italienne ou à double étage, les Sallons qui comprennent la hauteur d’un étage & demi, & les Sallons qui n’embrassent que la hauteur d’un étage. On ne fait guere de Sallons à deux étages, ou à un étage & demi, que dans des Châteaux & des Maisons de Plaisance, les Maisons de Villes ayant rarement assez d’étendue pour comporter des piéces de cette grandeur. Ils servent de Salles de Festins, de Concerts, de Bals, ou de Jeu.“ (Jacques-François Blondel, Cours d’architecture, ou Traité de la Décoration, Distribution & Construction des bâtiments […]. Bd. V, Paris, chez la veuve Desaint 1771, S. 100). Henri Sauval (1620-1676) verwendet in seinem dreibändigen Werk über die Stadtpaläste von Paris, das erst 1724 posthum veröffentlicht wird, den Ausdruck salon insgesamt fünf Mal, wobei er einmal explizit von einem salon à l’italienne spricht und in den anderen vier Fällen festliche, große und reich ornamentierte Säle beschreibt (vgl. Henri Sauval, Histoire et recherche des antiquités de la ville de Paris. 3 Bde., Paris, C. Moette 1724; hier: Bd. II, S. 35, 127, 157; Bd. III, S. 6, 22). 9 Zu den maisons de plaisance als Gebäudetypus, der zwischen château und maison de campagne angesiedelt ist, siehe Blondel, Cours d’architecture, Bd. 2, S. 249-252. Biblio17_204_s005-419End.indd 28 11.06.13 10: 10 <?page no="29"?> 29 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs prunkvollen italienischen Modell und schlichteren Spielarten, die sich anderen Empfangsräumen wie den salles de compagnie oder den galeries immer mehr angleichen. 10 Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts verliert der Salon seine einzigartige und herausragende Position à l’italienne, 11 dafür setzt sich der Ausdruck jedoch als Bezeichnung für jene Räume durch, die dem Empfang von Gästen oder der geselligen Zusammenkunft schlechthin vorbehalten sind. 1798 stellt der Dictionnaire de l’Académie diese Bedeutung des Salons, die durch die Ausdrücke chambre und cabinet nicht abgedeckt wird, seiner traditionellen Definition zur Seite: Pièce dans un appartement, qui est ordinairement plus grande et plus ornée que les autres. […] On appelle aussi Salon, Une [sic] pièce qui ne sert ni de cabinet, ni de chambre à coucher, où l’on peut se réunir. 12 Von dieser allgemeinen Funktion als Empfangszimmer ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu einer metonymischen Verwendung des Salonbegriffs, die der Dictionnaire de l’Académie von 1835 offiziell anerkennt: Il s’emploie figurément, surtout au pluriel, pour désigner, La [sic] bonne compagnie, les gens du beau monde. Il a lu son ouvrage dans tous les salons. On débite cette nouvelle dans les salons. Des nouvelles de salon. Un poète de salon. Il faut se défier des succès de salons. Fréquenter les salons. C’est un homme de salon. 13 Die Entwicklung des Salonbegriffs hin zu seiner figurativen Bedeutung im Sinne von Salongesellschaft ist für die soziale Praxis des frühen 19. Jahrhunderts also durchaus nachvollziehbar. Problematisch wird diese semantische Verschiebung erst, wenn die hier etablierte Kontiguitätsbeziehung auf eine 10 Vgl. den Titel des oben zitierten Kapitels „Des Sallons, ou Salles de Compagnies“; im Zusammenhang mit der Frage, wie mit den Sitzgelegenheiten in diesen Räumen zu verfahren sei, werden verschiedene Typen von Empfangsräumen in einem Atemzug genannt: „[…] car c’est une attention qu’il faut avoir de pratiquer les sieges dans une piece à peu près selon la quantité du monde que sa destination doit attirer, afin de n’être pas dans la nécessité d’y apporter un nombre de sieges étrangers qui défigurent l’ordonnance & la distribution des meubles mobiles, tels que sont les tables de marbre, les torchieres, banquettes & autres, dans les grandes pieces sujettes à recevoir nombreuse compagnie, comme les Sallons, Galeries, Salles de compagnies, &c.“ (Blondel, Maisons de plaisance, S. 106). 11 In den Plänen des Architekten Claude Nicolas Ledoux, der zwischen 1765 und 1780 für Auftraggeber wie den Duc d’Uzès oder Madame du Barry arbeitete, enthält jedes château oder hôtel particulier mehrere Räume, die als salon bezeichnet werden (vgl. Anthony Vidler, Claude Nicolas Ledoux: architecture and social reform at the end of the Ancient Régime. Massachussetts Institute of Technology 1990, S. 19-74). 12 Dictionnaire de L’Académie Française […]. Bd. 2, Paris, chez Smits & co 1798, S. 533. 13 Dictionnaire de L’Académie Française […]. Bd. 2, Paris, Didot Frères 1835, S. 697. Biblio17_204_s005-419End.indd 29 11.06.13 10: 10 <?page no="30"?> 30 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Epoche projiziert wird, deren Gesellschaft nicht mit der bonne compagnie und dem beau monde des 19. Jahrhunderts identisch ist. Genau diese Projektion lässt sich jedoch von Anfang an beobachten: In nostalgischer Retrospektion entsteht die Vorstellung von jenem mondän-aristokratischen Frankreich vor 1789, das sich durch seine weiblich konnotierte Konversationskultur sowohl von jeder anderen europäischen Gesellschaft als auch von derjenigen der eigenen Gegenwart unterscheidet. Bereits Germaine de Staël verwendet den Salonbegriff in diesem Sinne. In De la littérature wirft die Autorin einen Blick zurück in die nahe und doch schon so fern erscheinende Vergangenheit und konstatiert den Einfluss der weiblichen Konversationskunst auf die französische Gesellschaft des Ancien Régime: L’influence des femmes est nécessairement très grande, lorsque tous les événements se passent dans les salons, et que tous les caractères se montrent par les paroles; dans un tel état de choses, les femmes sont une puissance, et l’on cultive ce qui leur plaît. Le loisir que la monarchie laissait à la plupart des hommes distingués en tous les genres était nécessairement très favorable au perfectionnement des jouissances de l’esprit de la conversation. 14 Die architektonische Bedeutung des Ausdrucks salon bleibt dominant, da ihr das soziale Ereignis („lorsque tous les événements se passent dans les salons“; Hervorhebung S.B.), mit dem sie im Laufe der Begriffsgeschichte immer mehr verschmilzt, gegenübergestellt wird. Zugleich erschließt sich jedoch aus der sprachlichen Umgebung und insbesondere aus dem in unmittelbarer Nähe aufgerufenen esprit de la conversation die semantische Kontamination von Gesellschaft, Ort und Ereignis, aus welcher der moderne Salonbegriff hervorgeht. Auch wenn sich diese Bedeutung in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts im allgemeinen Sprachgebrauch so weit etabliert hat, dass Laure Junot, Duchesse d’Abrantès, die mondäne Gesellschaft in einem mehrbändigen Werk mit dem Titel Histoire des salons de Paris portraitieren kann, oszilliert der Salonbegriff weiterhin zwischen architektonischem und figurativem Wortsinn. 15 Au commencement du règne de Louis XVI et même depuis 1768, il y avait à Paris des réunions périodiques dont l’histoire n’est point écrite et qui, cependant, tient à la nôtre essentiellement: les gens de lettres confondus 14 Madame de Staël, De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales. Paris, Classiques Garnier 1998, S. 262. 15 Laure Junot, Duchesse d’Abrantès, Histoire des salons de Paris. Tableaux et portraits du grand monde, sous Louis XVI, le Directoire, le Consulat et l’Empire, la Restauration de Louis-Philippe I. 6 Bde., Paris, Ladvocat 1837-1838; hier Bd. 1, S. 11. Biblio17_204_s005-419End.indd 30 11.06.13 10: 10 <?page no="31"?> 31 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs avec la plus élégante société de Paris, la plus riche et la plus haute classe, professaient dans un salon meublé avec un luxe asiatique, après un dîner d’une exquise recherche, avec plus de contentement que dans une halle ouverte à tous les vents. Les hommes les plus éclairés étaient admis chez madame Geoffroy [sic], madame du Deffant [sic], le baron d’Holbach, Helvétius, Lavoisier, madame de Bourdic, madame de Genlis, madame Necker, madame Fanny de Beauharnais, la duchesse de Brancas, dont le salon était le rendezvous d’hommes de la plus haute capacité. [Hervorhebungen S.B.] Auch hier dient der Salonbegriff einer Autorin dazu, ein gesellig-gesellschaftliches Phänomen zu evozieren, das sich nicht auf die Soziabilität ihrer Zeitgenossen bezieht. Anders als bei der Abhandlung Germaine de Staëls handelt es sich bei diesem Rückblick auf die Salons des Ancien Régime jedoch außerdem um ein frühes Beispiel jener „écriture de la nostalgie et de la filiation“, die Antoine Lilti zufolge für eine panegyrische und kompilatorische Herangehensweise steht, die sich als ein Amalgam von Nostalgie, Ideologie, Fiktion sowie ernsthafter Recherche- und Analyseleistung beschreiben lässt. 16 Diese Werke tragen dazu bei, dass sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Salongeschichtsschreibung etabliert, die von einer spezifischen Spannung zwischen wissenschaftlichem Auftreten, ideologischer Indienstnahme und nostalgischem Erinnern getragen ist und noch bis weit in das 20. Jahrhundert hineinwirkt. Der Salonbegriff wird zu einem Gedächtnisort der französischen Geschichte, zu einem lieu de mémoire im Sinne Pierre Noras, der sich aus verschiedenen Topoi zusammensetzt, für deren Herausbildung das Werk des Literaturkritikers Charles-Augustin Sainte-Beuve eine entscheidende Rolle spielt. Insbesondere seine Causeries du Lundi üben bis heute einen maßgeblichen Einfluss auf die Forschung zum 17. Jahrhundert aus, der umso wirkungsvoller ist, als man sich von der Salongeschichtsschreibung im engeren Sinne distanziert. Im Folgenden soll daher ein Prozess der diskursiven Verfestigung nachvollzogen werden, der bei Sainte-Beuve insofern seinen Ausgang nimmt, als er mit einem literarhistorischen Anspruch einhergeht, der sich von diesem Zeitpunkt an mit der französischen Salonkultur verbindet. 16 Lilti, Le monde des salons, S. 40. Als Beispiel wären außerdem das mehrbändige Werk Salons d’autrefois der Comtesse de Bassanville zu nennen, das 1862-1866 bei P. Brunet erscheint, oder Les Salons de conversation du XVIII e siècle, die Félix- Sébastien Feuillet de Conches erstmals im Jahre 1882 bei Charavay veröffentlicht. Letztere werden 1891 neu aufgelegt und üben großen Einfluss auf die Salongeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts aus. Das Werk Feuillet de Conches’ stellt Lilti zufolge die Referenz der Salon-Kapitel in der von Lavisse herausgegebenen Histoire de France dar (vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 423). Biblio17_204_s005-419End.indd 31 11.06.13 10: 10 <?page no="32"?> 32 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts 1.1 Sainte-Beuves Causeries du Lundi Als Sainte-Beuve im Jahre 1850 den ersten von insgesamt fünfzehn Bänden seiner Causeries du Lundi herausgibt, ergreift er im Vorwort die Gelegenheit, sein Verständnis einer critique littéraire zu skizzieren, die sowohl wissenschaftlich fundiert als auch öffentlichkeitswirksam zu sein habe. J’étais revenu à Paris au mois de septembre 1849, quittant la Belgique et Liège, où j’étais allé être professeur un an. […] M. Véron, directeur du Constitutionnel, apprenant mon retour, eut l’obligeance de m’offrir les colonnes de son journal pour chaque lundi. Une telle proposition avait de quoi me flatter et aussi m’effrayer. Le Constitutionnel compte des milliers de lecteurs, et d’une nature très-variée. Comment venir parler à ce public si nombreux, si divers, pure littérature et pure critique? […] Au fond, c’était mon désir. Il y avait longtemps que je demandais qu’une occasion se présentât à moi d’être critique, tout à fait critique comme je l’entends […]. 17 Indem er eingangs seine einjährige universitäre Lehrtätigkeit in Belgien erwähnt, 18 aber auch durch Formulierungen wie „pure littérature et pure critique“ weist er auf den wissenschaftlichen Anspruch hin, den er an seine wöchentlichen Beiträge für den Constitutionnel stellt. Indem er jedoch die Herausforderung betont, die mit dem Angebot, für die auflagenstarke Zeitung zu arbeiten, einhergeht, setzt er sich als Dissident der akademischen Lehre in Szene, für den Gelehrsamkeit ohne Öffentlichkeit wertlos ist. Zu dieser (moderat) rebellischen Geste passt auch der anschließende biographische Rückblick, in dem der Literaturkritiker seine journalistische Karriere Revue passieren lässt und sogar seine ehemalige Begeisterung für den bilderstürmerischen Globe hervorhebt: „Au Globe d’abord, ensuite à la Revue de Paris, sous la Restauration, jeune et débutant, je fis de la critique polémique, volontiers agressive, entreprenante du moins, de la critique d’invasion.“ 19 Der Parcours, den Sainte-Beuve in diesem Vorwort beschreibt und der ihn vom Globe über die Revue de Paris und die Revue des Deux Mondes bis hin zum Constitutionnel geführt hat, lässt ihn als einen von seinen jugendlichen Eskapaden geläuterten, erfahrungsgesättigten Experten erscheinen, der zugleich jeglichen Verdacht eines trockenen Expertentums von sich weist. 20 17 Charles-Augustin Sainte-Beuve, Causeries du Lundi. Paris, Garnier Frères 1850, Bd. I, S. 1-2. 18 Zu Sainte-Beuves kurzen universitären Laufbahn vgl. Wolf Lepenies, Sainte-Beuve, auf der Schwelle zur Moderne. München, Hansa 1997, S.78-83. 19 Sainte-Beuve, Causeries du Lundi I, S. 2. 20 Zur Bedeutung Sainte-Beuves ‚klassischen‘ Literaturverständnisses und zu seiner konservativen bis reaktionären politischen Position zum Zeitpunkt der Causeries siehe Christopher Prendergast, The classic: Sainte-Beuve and the nineteenth century culture wars. Oxford University Press 2007. Biblio17_204_s005-419End.indd 32 11.06.13 10: 10 <?page no="33"?> 33 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Diese Haltung passt hervorragend sowohl zu der Textform („causeries“), die der Autor für seine critique littéraire gewählt bzw. überhaupt erst ins Leben gerufen hat, als auch zu dem Gegenstand, den er mit Vorliebe in diesen Texten behandelt: Im nostalgischen Rückblick rufen die Causeries du Lundi immer wieder Figuren des 17. und 18. Jahrhunderts auf, die als Vertreter einer Epoche verstanden werden sollen, in der sich die Literatur noch harmonisch aus der Mündlichkeit ergeben habe und das (literarische) Expertenwissen im Modus der Konversation kommuniziert worden sei. Die Konversationskultur des Ancien Régime verbindet sich dabei mit einem Salonbegriff, der in einem Portrait, das Sainte-Beuve von Madame Geoffrin zeichnet, explizit von seinem rein architektonischen Sinngehalt abgelöst wird: Le salon de Mme Geoffrin a été l’une des institutions du XVIII e siècle. Il y a des personnes peut-être qui s’imaginent qu’il suffit d’être riche, d’avoir un bon cuisinier, une maison confortable et située dans un bon quartier, une grande envie de voir du monde, et de l’affabilité à le recevoir, pour se former un salon: on ne parvient de la sorte qu’à ramasser du monde pêlemêle, à remplir son salon, non à le créer. [Hervorhebung S.B.] 21 Das Wortspiel von dem Salon, den es zu erschaffen und nicht nur zu füllen gilt, funktioniert nur auf der Grundlage der doppelten Bedeutung des Ausdrucks salon. Es macht deutlich, dass das gesellschaftliche Phänomen („former un salon“) den Sieg über den Behältnisraum („remplir son salon“) davongetragen hat. Zugleich zeigt dieses Wortspiel jedoch auch die Anverwandlung Sainte- Beuves an seinen Gegenstand, also die geistreiche Unterwerfung seines eigenen Stils unter das Pedanterie-Verbot der mondänen Konversation. Die Pointe zielt auf die feinen Unterschiede zwischen der authentischen société polie und ihrer neureichen Simulation. Das Wissen um diese Unterschiede wurde schon im 17. Jahrhundert immer wieder neu verhandelt und diente bereits Molière zur satirischen Darstellung des bourgeois gentilhomme und der précieuses ridicules. Sainte-Beuve bringt hier mit leichter Hand eine literarhistorische querelle zum Klingen, ohne die Leserschaft dabei mit seiner Expertise zu behelligen, und vieles spricht dafür, dass es gerade diese Leichtigkeit ist, durch die er seine Vorstellung einer literaturkritischen Methode zu verwirklichen hofft („tout à fait critique comme je l’entends“). Diese stilistische Eleganz sowie der konversationelle („weibliche“) Duktus seines Schreibens insgesamt sind es jedoch, die ihm die Kritik seiner Zeitgenossen eingebracht haben, beispielsweise diejenige Zolas, der ihm vorwirft, in seiner Eigenschaft als Begründer der wissenschaftlichen Literaturbetrachtung auf halber Strecke stehen geblieben zu sein. 21 Sainte-Beuve, Causeries du Lundi II, S. 309. Biblio17_204_s005-419End.indd 33 11.06.13 10: 10 <?page no="34"?> 34 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Seulement, quand le critique avait réuni tous les renseignements désirables, quand il tenait son auteur nu devant lui, le féminin apparaissait avec son besoin de grâce et de mesure, et il mettait des feuilles de vigne, et se perdait dans les complications de finesse les plus étonnantes, pour arriver à tout dire sans avoir l’air de le dire. 22 Aber auch Prousts berühmte Stellungnahme gegen Sainte-Beuve beruht nicht zuletzt auf dessen Bemühungen, durch das eigene Schreiben eine Konversationskultur aufleben zu lassen, die mit einem Literaturbegriff, wie ihn der Autor der Recherche vertritt, nicht kompatibel ist: „En aucun temps de sa vie Sainte-Beuve ne semble avoir conçu la littérature d’une façon vraiment profonde. Il la met sur le même plan que la conversation.“ 23 Proust zufolge begreift Sainte-Beuve sowohl die Literatur als auch die Literaturkritik als eine Fortsetzung der Konversation mit anderen Mitteln, als ein kollektives Werk, das auf die Kollusion seiner Leserschaft hin angelegt ist. 24 Damit unterscheide es sich grundlegend von jener „profunden“ Beschäftigung mit Literatur, die den Rückzug aus der Gesellschaft voraussetzt, durch den der Autor zu sich selbst, zu seinem moi profond findet: Il [Sainte-Beuve] ne faisait pas de démarcation entre l’occupation littéraire où, dans la solitude, faisant taire ces paroles qui sont aux autres autant qu’à nous, et avec lesquelles, même seuls, nous jugeons les choses sans être nous-mêmes, nous nous remettons face à face avec nous-mêmes, nous tâchons d’entendre, et de rendre, le son vrai de notre cœur […]. 25 Die Worte, die man mit den anderen teile („ces paroles qui sont aux autres autant qu’à nous“), gelte es von jenem Klang zu trennen, der aus dem tiefsten Innern des Selbst herrühre („le son vrai de notre cœur“) und der sich erst in der Schrift vernehmen lasse. Proust tritt hier als der Verteidiger eines Literaturbegriffs auf, den er von dem Modell der mit den sozialen Strukturen ihrer Zeit verschränkten belles lettres abgrenzt. Dabei ersetzt er den Klangraum der Stimme, als dessen Paradigma der Salon angesehen wird, durch den graphischen Raum der Literatur. Die Umkehrung der Wertigkeiten von Stimme und 22 Émile Zola, „Sainte-Beuve“, in: ders., Œuvres complètes. Bd. XII: Œuvres critiques III. Hg. von Henri Mitterand, Paris, Cercle du livre précieux 1969, S. 431-463, S. 440. 23 Marcel Proust, „La méthode de Sainte-Beuve“, in: ders., Contre Sainte-Beuve. Paris, Gallimard 1971, S. 219-232, S. 225. 24 „Et ainsi ses articles lui apparaissaient comme une sorte d’arche dont le commencement était bien dans sa pensée et dans sa prose, mais dont la fin plongeait dans l’esprit et l’admiration de ses lecteurs, où elle accomplissait sa courbe et recevait ses dernières couleurs.“ (Proust, La méthode de Sainte-Beuve, S. 227). 25 Proust, La méthode de Sainte-Beuve, S. 224. Biblio17_204_s005-419End.indd 34 11.06.13 10: 10 <?page no="35"?> 35 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Schrift, 26 die hier vorgenommen wird, erscheint jedoch radikaler als sie ist, operiert sie doch auf der Grundlage ein und derselben Metapher. Die Frage, ob eine Vereinbarkeit der klanglichen und der graphischen Verkörperungsformen von Sprache überhaupt möglich ist, 27 und ob dies im Zeitalter der belles lettres tatsächlich angestrebt wurde, stellen sich weder Proust noch Sainte-Beuve. 1.1.1 Die Galerie de femmes célèbres: Sainte-Beuve als moderner champion des dames In den Causeries du Lundi lassen sich verschiedene Beispiele für die Art und Weise finden, wie Sainte-Beuve als Verteidiger der belles lettres auftritt, wobei im Zusammenhang mit dem Salonbegriff vor allem die Topoi ‚Konversation‘ und ‚Weiblichkeit‘ ins Gewicht fallen. Der Autor selbst verleiht dieser Gewichtung Ausdruck, indem er in den späten fünfziger Jahren einundzwanzig Causeries zusammenstellt und unter dem Titel Galerie de femmes célèbres in einem prachtvollen, mit Kupferstichen illustrierten Band veröffentlicht. 28 Mit dieser Publikation reiht sich Sainte-Beuve nicht zufällig in die Tradition der frauenfreundlichen Streitschriften ein, die im Kontext der frühneuzeitlichen Querelle des femmes entstanden sind, 29 nehmen doch 26 Zum Problem dieser Wertigkeiten bzw. zum Verhältnis von Stimme und Schrift in der abendländischen Tradition, das an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann, siehe Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Frankfurt a.M., Suhrkamp 2006. 27 Vgl. Doris Kolesch, „Stimmlichkeit“, in: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat, Stuttgart, Metzler 2005, S. 317-320, S. 320: „Stimmlichkeit ist mithin eine Form der Verkörperung von Sprache, die neben anderen Formen - wie Verschriftlichung oder Gestik - existiert und jeweils eigene Bedingungen des Kommunizierens hervorbringt.“ 28 Charles-Augustin Sainte-Beuve, Galerie de femmes célèbres tirée des „Causeries du lundi“; illustrée de 12 portraits gravés au burin par MM. Gouttière, Outhwaite, Geoffroy, Girardet, Delannoy, Gervais; d’après les dessins de M. G. Staal. Paris, Garnier frères 1859 [im Folgenden zitiert als: Galerie des femmes célèbres, S. x]. Der Band wird mehrfach neu aufgelegt, wobei die Auflage von 1869 um drei Portraits erweitert wird. Eine weitere Auflage, deren Publikationsdatum nicht bekannt ist, wird außerdem durch eine zusätzliche Gravur ergänzt, so dass nun insgesamt vierundzwanzig literarische Portraits und dreizehn Illustrationen präsentiert werden. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe, die sich in der Bibliothèque de l’Arsenal befindet und bei der es sich um die vollständigste Version der Kompilation handelt. 29 So erinnern die Kombination von Text und Kupferstichen und vor allem der Titel der Zusammenstellung Sainte-Beuves nicht zufällig an das Werk von Pierre Le Moyne, La Galerie des femmes fortes (Paris, A. de Sommaville) aus dem Jahre 1647. Zur Querelle des femmes vgl. Margarete Zimmermann, „Querelles des sexes“, in: Friedrich Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10, Stuttgart, Metzler 2009, S. 591-595. Biblio17_204_s005-419End.indd 35 11.06.13 10: 10 <?page no="36"?> 36 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts die Portraits von Frauen des 16. und 17. Jahrhunderts mehr als die Hälfte des gesamten Buches in Anspruch. Auch gilt sein Interesse, das er mit seiner Auswahl bekundet, nicht ausschließlich - und nicht einmal überwiegend - dem Typus der Autorin. 30 Vielmehr erinnert die Zusammenstellung der Namen an eine Galerie gekrönter Häupter, angefangen mit Marguerite de Navarre über die Grande Mademoiselle, die Duchesse d’Orléans und die Duchesse de Bourgogne bis hin zu Marie-Antoinette und ihrer Tochter, der Duchesse d’Angoulême, deren Portrait den Band schließt. In einigen Fällen, wie in der Causerie über die Duchesse du Maine, weist Sainte-Beuve zwar noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass er seinen Gegenstand immer vom Standpunkt der Literatur aus betrachtet, 31 doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihn neben den Schriftstellerinnen vor allem jene Frauen interessieren, die sich zu einer romanesken Hauptfigur ihres bewegten Lebens stilisieren lassen. Zumindest lässt sich in seinen Augen das Talent einer Frau nicht allein daran ermessen, was sie geschrieben oder gar veröffentlicht, sondern auch daran, wie sie gelebt hat. ‚Autorschaft‘ wird aus dieser Perspektive zu einem über die Schrift hinausreichenden Konzept, das die Gestaltung des eigenen Lebens einschließt. Die Frauen, die Sainte-Beuve in dieser Zusammenstellung portraitiert, verkörpern dabei vor allem zwei Idealbilder von Weiblichkeit, die sich auf jeweils andere Art und Weise mit der Geschlechterdichotomie des 19. Jahrhunderts verbinden: Auf der einen Seite dominiert der Typus der ‚Liebenden‘, der sich in verschiedenen Ausprägungen finden lässt, sei es als ergebene Schwester (Marguerite de Navarre, Eugénie de Guérin), als Mutter (Madame de Sévigné, Marie-Antoinette, im weitesten Sinne auch Madame de Maintenon) oder als Kindfrau (die Duchesse de Bourgogne, die Duchesse du Maine, Bettina von Arnim). Auf der anderen Seite fällt die starke Präsenz jener Frauen auf, die schon zu ihren Lebzeiten als Künstlerinnen der Konversation betrachtet wurden und als deren Lebenswerk Sainte-Beuve die kulturelle Leistung anerkennt, die diese Frauen durch ihre gesellig-gesellschaftliche Rolle in einem ‚Salon‘ erbracht haben. 30 Überwiegend in ihrer Funktion als Autorin betrachtet werden die zeitgenössischen Schriftstellerinnen Madame Guizot, Madame Émile de Girardin und George Sand, die Lyrikerin Madame Tastu sowie Madame de Tracy, deren Reflexionen und Sentenzen von ihrem Mann in einem nicht für den Verkauf bestimmten Band posthum veröffentlicht wurden. Unter den dames de lettres des Ancien Régime werden nur Madame de Sévigné und Mademoiselle de Scudéry ausdrücklich als Schriftstellerinnen behandelt. 31 „Au point de vue littéraire qui, de près ou de loin, est toujours le nôtre, l’inconvénient de ce train de vie tumultueux était au fond d’être incompatible avec le vrai goût.“ (Galerie de femmes célèbres, S. 119). Biblio17_204_s005-419End.indd 36 11.06.13 10: 10 <?page no="37"?> 37 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Unter den großen salonnières des 18. Jahrhundert sind nur drei Frauen mit einem eigenen Portrait vertreten, doch sie werden in eine Traditionslinie eingeordnet, die Sainte-Beuve im 17. Jahrhundert beginnen lässt: J’ai dit une autre fois comment avaient fini les derniers salons du XVII e siècle, celui de madame de La Sablière, celui de Ninon. Si l’on voulait faire une histoire régulière des salons du XVIII e , il faudrait commencer par celui de madame de Lambert. Vers le même temps, un peu après toutefois, viendrait celui de madame de Tencin, puis celui de madame Geoffrin, de madame Du Deffand: on arriverait ainsi jusqu’à madame Necker. Mais madame de Lambert incontestablement commence et donne le ton à l’époque nouvelle. 32 Die Causeries, die in der Galerie de femmes célèbres Madame de Lambert, Madame Necker und Madame Geoffrin gewidmet sind, müssen somit als Teil jener ‚weiblichen Genealogie‘ der Konversation verstanden werden, die in verschiedenen Darstellungen der französischen Salonkultur, erstmals jedoch bei Sainte-Beuve ihren Niederschlag gefunden hat. In seiner Galerie lassen sich außerdem die Portraits von Madame de Caylus und Madame Récamier sowie der Duchesse du Maine dieser Genealogie zuordnen. Das Bild, das der Autor in diesen Texten von der französischen Salonkultur zeichnet, setzt sich aus dem zivilisatorischen Einfluss dieser Frauen sowie aus der von ihnen praktizierten Konversation zusammen, und diese Ingredenzien verbinden sich zu einer außergewöhnlichen Kulturleistung, die im frühen 17. Jahrhundet im Hôtel de Rambouillet ihren Ursprung und zu Lebzeiten Sainte-Beuves im Salon der Madame Récamier einen ihrer Höhepunkte habe: Ce genre de création sociale, qui eut tant d’action en France et qui exerça un empire si réel (le salon même de madame Récamier en est la preuve), ne remonte pas au délà [sic] du XVII e siècle. C’est au célèbre hôtel de Rambouillet qu’on est convenu de fixer l’établissement de la société polie, de cette société où l’on se réunissait pour causer entre soi des belles choses et de celles de l’esprit en particulier. 33 32 Galerie de femmes célèbres, S. 218. Sainte-Beuve bezieht sich hier wahrscheinlich auf die Causerie über „Saint-Evremont und Ninon“ vom 26. Mai 1851 (Causeries du Lundi IV, S. 170-191), in der er Ninon de Lenclos als diejenige darstellt, die in der Nachfolge von Madame de Sablé das Vermächtnis der Marquise de Rambouillet antritt: „Il est temps de me résumer sur Ninon et de bien marquer le seul côté par où je l’envisage. Son salon rassemblait une bien plus grande variété que l’hôtel de Rambouillet, et il unissait bien des genres. Il unissait au ton du grand monde celui de la bonne bourgeoisie parisienne. Mme de La Fayette avait essayé à un moment ce rôle qu’avait eu précédemment Mme de Sablé […].“ (ebd., S. 188). 33 Galerie de femmes célèbres, S. 307f. Biblio17_204_s005-419End.indd 37 11.06.13 10: 10 <?page no="38"?> 38 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Die Galerie de femmes célèbres enthält drei Portraits von Personen, die als Repräsentantinnen dieses Bildes gelesen werden können: Madame de Caylus, die für die Qualität der urbanité des 17. Jahrhunderts steht, Madame Geoffrin, die den perfekten Salon des 18. Jahrhunderts geschaffen habe, und Madame Récamier, deren Salon im 19. Jahrhundert den Geist der französischen sociabilité wieder aufleben ließ. Allen drei Frauen ist zunächst gemeinsam, dass sie die Verkörperung jenes sozialen Talentes darstellen, dessen eine Gesellschaft zu ihrer Vervollkommnung bedarf. Zwar handelt es sich in Sainte-Beuves Augen dabei um ein genuin weibliches Talent, und in den Causeries, die Madame de Caylus und Madame Récamier gewidmet sind, versäumt es der Autor nicht, der Frau an sich vor dem Hintergrund dieser zivilisatorischen Qualität zu huldigen. Doch in Madame de Caylus spiegle sich das goldene Zeitalter der Konversation, in dem sie lebte, auf besonders lebendige Art, Madame Geoffrin habe es wie keine andere Frau ihrer Epoche verstanden, die richtigen Menschen um sich zu versammeln und ihre Temperamente aufeinander abzustimmen, und Madame Récamier sei es gelungen, in einer Zeit der politischen Gegensätze einen Raum der Begegnung zu schaffen, dessen harmonische und freundliche Atmosphäre ihre eigenen Qualitäten zum Ausdruck bringe: C’est de là que son doux génie, dégagé des complications trop vives, se fit de plus en plus sentir avec bienfaisance. On peut dire qu’elle perfectionna l’art de l’amitié et lui fit faire un progrès nouveau: ce fut comme un bel art de plus qu’elle avait introduit dans la vie, et qui décorait, ennoblissait et distribuait tout autour d’elle. L’esprit de parti était alors dans sa violence. Elle désarmait les colères, elle adoucissait les aspérités, elle vous ôtait la rudesse et vous inoculait l’indulgence. Elle n’avait point de repos qu’elle n’eût fait se rencontrer chez elle ses amis de bord opposé, qu’elle ne les eût conciliés sous une médiation clémente. 34 Sainte-Beuve beschreibt das Talent der Madame Récamier als eine Art ‚Meta- Talent‘, das es ihr erlaubt, die Talente der anderen zur Entfaltung zu bringen, und mit dem es ihr gelingt, ihr „réseau de sympathie“ immer weiter auszudehnen: Dans son petit salon de l’Abbaye, elle pensait à tout, elle étendait au loin son réseau de sympathie. Pas un talent, pas une vertu, pas une distinction qu’elle n’aimât à connaître, à convier, à obliger, à mettre en lumière, à mettre surtout en rapport et en harmonie autour d’elle, à marquer au cœur d’un petit signe qui était sien. 35 So könne der Salon der Madame Récamier für die Generation Sainte-Beuves jene Bedeutung in Anspruch nehmen, die der Salon der Madame Geoffrin 34 Galerie de femmes célèbres, S. 317f. 35 Galerie de femmes célèbres, S. 318. Biblio17_204_s005-419End.indd 38 11.06.13 10: 10 <?page no="39"?> 39 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs für das 18. Jahrhundert gehabt habe. Ebenso wie ihre Vorgängerin habe die „madame Geoffrin de nos jours“, wie der Autor sie an anderer Stelle nennt, 36 über eine disziplinierte Kongenialität verfügt: Elle avait au plus haut degré non cet esprit qui songe à briller pour luimême, mais celui qui sent et met en valeur l’esprit des autres. […] Elle écoutait avec séduction, ne laissant rien passer de ce qui était bien dans vos paroles sans témoigner qu’elle le sentît. Elle questionnait avec intérêt, et était tout entière à la réponse. 37 Das Motiv der heiteren Zugewandtheit, das das Portrait von Madame Récamier auf diese Weise immer wieder variiert, schlägt sich jedoch bereits in der Hymne an die urbanité des 17. Jahrhunderts nieder, 38 die Sainte-Beuve dem Portrait von Madame de Caylus unterlegt hat: „[…] facilité, discrétion, finesse, ne pas trop appuyer, ne rien pousser à bout, ce sont là certes des conditions de l’urbanité, mais tout cela n’est rien sans un certain esprit de joie et de bonté qui anime l’ensemble: c’est proprement un charme, a dit La Fontaine.“ 39 Dieser Zauber der urbanité sei dabei nicht allein im sprachlichen Ausdruck zu suchen, sondern liege in der Gesamterscheinung einer Person, um von dort aus auf das Zusammenleben der Menschen zu wirken und die Gesellschaft zu bereichern: […] ce mot-là [urbanité, S.B.] en vint à exprimer bientôt un caractère de politesse qui n’était pas seulement dans le parler et dans l’accent, mais dans l’esprit, dans la manière et dans tout l’air des personnes. Puis avec l’usage et le temps, il en vint à exprimer plus encore, et à ne pas signifier seulement une qualité du langage et de l’esprit, mais aussi une sorte de 36 Anders als die große Salondame des 18. Jahrhunderts sei Madame Récamier allerdings nicht nur geistreich, sondern auch jung, attraktiv und geradezu „engelsgleich“ gewesen: „La madame Geoffrin de nos jours, madame Récamier, eut de plus que l’autre la jeunesse, la beauté, la poésie, les grâces, l’étoile au front; ajoutons, une bonté non pas plus ingénieuse, mais plus angélique.“ (Galerie de femmes célèbres, S. 274). 37 Galerie de femmes célèbres, S. 320. 38 Der Begriff wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch Guez de Balzac geprägt, der seinen Discours deuxième, Ou de la conversation des Romains der Marquise de Rambouillet gewidmet hat. Er steht in enger Verbindung zu zwei weiteren ethischen Schlüsselbegriffen des 17. Jahrhunderts, der honnêteté und der galanterie. Siehe hierzu Andreas Gipper, „Urbanité et honnêteté: de la traduction d’un idéal culturel chez Guez de Balzac et Perrot d’Ablancourt“, Papers on French Seventeenth Century Literature, XXXVIII, 75, 2011, S. 329-346; Jörn Steigerwald, „Urbanité und Galanterie“, in: ders., Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650-1710), Heidelberg, Winter 2011, S. 25-46. 39 Galerie de femmes célèbres, S. 171. Biblio17_204_s005-419End.indd 39 11.06.13 10: 10 <?page no="40"?> 40 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts vertu et de qualité sociale et morale qui rend un homme aimable aux autres, qui embellit et assure le commerce de la vie. 40 Der Begriff der urbanité deckt sich hier über weite Strecken mit dem älteren Begriff der conversation, der sich im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts ebenfalls nicht auf die sprachliche Äußerung beschränkte, sondern den Umgang bezeichnete, den Menschen miteinander pflegen. Erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts verengt sich die Bedeutung von conversation auf das mündliche Sprachhandeln, so dass sie der Schriftlichkeit gegenüber gestellt werden kann. 41 Mitte des 19. Jahrhunderts ist diese Bedeutung längst so geläufig, dass Sainte-Beuve in seinen Causeries mit der Dichotomie von Stimme und Schrift operieren kann. Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Gemeinsamkeit der drei symptomatischen Portraits in der Galerie de femmes célèbres hervorzuheben: Weder Madame de Caylus noch Madame Geoffrin oder Madame Récamier zeichnen sich in erster Linie durch eine schriftliche Leistung aus. 1.1.2 Die Galerie de femmes célèbres: Eine Literaturgeschichte der Konversation Tatsächlich legt Sainte-Beuve in allen drei Fällen Wert darauf, zu betonen, dass das Schreiben dieser Frauen nur marginal dazu beigetragen habe, ihre Namen berühmt zu machen. Weder von Madame Geoffrin noch von Madame Récamier seien viele bemerkenswerte Texte überliefert, 42 und über Madame de Caylus schreibt der Autor: Il serait facile de trouver de plus grands exemples que madame de Caylus, qui n’a écrit qu’à peine et par rencontre; mais ces exemples prouveraient autre chose, quelque chose de plus que j’ai en vue, et la délicatesse dont je voudrais donner l’idée s’y compliquerait en quelque sorte du talent même de l’écrivain. 43 Das Talent dieser Frauen ist nicht das Talent der Schriftstellerin. Es ist, wie gezeigt werden konnte, sozialer Natur und entfaltet sich allein in der Konversation und im halböffentlichen Raum der gemischtgeschlechtlichen Gesellschaft. Dies stellt allerdings den, der von diesem Talent erzählen will, vor 40 Galerie de femmes célèbres, S. 169. 41 Zur Begriffsgeschichte der conversation siehe Marc Fumaroli, Le genre des genres littéraires français: la conversation. Oxford, Clarendon Press 1992. 42 „Madame Geoffrin n’a rien écrit que quatre ou cinq lettres qu’on a publiées; […].“ (Galerie de femmes célèbres, S. 254); „Elle [Madame Récamier] écrivait peu; elle avait pris de bonne heure cette habitude d’écrire le moins possible, mais ce peu était bien et d’un tour parfait.“ (Galerie de femmes célèbres, S. 320). 43 Galerie de femmes célèbres, S. 157. Biblio17_204_s005-419End.indd 40 11.06.13 10: 10 <?page no="41"?> 41 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs ein methodologisches Problem, sind doch die Stimmen, mit denen der Autor der Causeries hier in einen metaphorischen Dialog eintritt, unwiderruflich verklungen und hallen nur noch in der Erinnerung derer nach, die Gelegenheit hatten, sie in vivo zu hören. Dieser Schwierigkeit begegnet Sainte-Beuve auf naheliegende, wenngleich durchaus widersprüchliche Art und Weise. Einerseits stützt er sich auf die schriftlichen Zeugnisse von Zeitgenossen, die zu Lebzeiten seiner Protagonistinnen oder kurz nach deren Tod über sie berichteten. 44 Für den Salon der 1849 verstorbenen Madame Récamier kann er sogar selbst noch als Zeitzeuge auftreten, und so überschneiden sich in ihrem Portrait seine Funktionen als Berichterstatter und Historiker. 45 Doch obwohl er sich nur in den seltensten Fällen Rechenschaft darüber ablegt, dass die Rede über das konversationelle Talent einer Person nicht auf derselben Ebene angesiedelt sein kann, wie die lebendige Rede dieser Person selbst, scheinen ihm die indirekten Zeugnisse doch nicht immer zu genügen, so dass er andererseits nun doch auf die schriftlichen Hinterlassenschaften der Frauen zurückgreift, wann immer die Quellenlage es ihm ermöglicht. Besonders interessant ist dieser Rückgriff in der Causerie über Madame de Caylus. Denn nachdem Sainte-Beuve ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es sich bei dieser Figur nicht um eine Schriftstellerin handele, und er ihre stimmlichen Qualitäten hervorgehoben hat, die sie als letzte und beste Interpretin von Racines Esther unter Beweis gestellt habe, 46 geht er ausführlich auf ihre Briefe und vor allem auf ihre Souvenirs ein, in denen sie sich als jene „personne d’une plume si fine et si légère“ 47 zeige, als die er sie seinem Publikum präsentieren möchte. Quant aux témoignages directs de son esprit, on les trouve dans le volume de sa Correspondance avec madame de Maintenon et dans ses Souvenirs. […] Il ne s’y voit aucun effort; elle n’a pas tâché, disait-on de 44 Im Falle von Madame de Caylus zitiert er Nicolas Gédoyn, im Falle von Madame Geoffrin greift er auf die enkomiastischen Nachrufe durch André Morellet und Antoine Léonard Thomas zurück sowie auf die Mémoiren Jean-François Marmontels und die Briefe von Horace Walpole. 45 So gibt er beispielsweise zu, selbst dem weiblichen Charme erlegen zu sein, der den Salon der Madame Récamier gegenüber der harten, aber wahrheitsliebenden ‚männlichen‘ Realität auszeichne: „[…] que dans cet air si tiède et si calmant, en donnant aux esprits toute leur douceur et tout leur poli, elle ne les amollît un peu et ne les inclinât à la complaisance, je n’oserai le nier, d’autant plus que je crois l’avoir, peut-être, éprouvé moi-même.“ (Galerie de femmes célèbres, S. 320). 46 „Madame de Caylus passe pour avoir été la dernière personne, la dernière actrice qui ait conservé la déclamation pure de Racine, le degré de cadence et de chant qui convenait à ce vers mélodieux, tout fait exprès pour l’organe d’une Caylus ou d’une La Vallière.“ (Galerie de femmes célèbres, S. 161). 47 Galerie de femmes célèbres, S. 157. Biblio17_204_s005-419End.indd 41 11.06.13 10: 10 <?page no="42"?> 42 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Madame de Caylus. Sa plume court avec abandon, avec négligence; mais ces négligences sont celles mêmes qui font la facilité et le charme de la conversation. 48 Mit seinem Kunstgriff, das Schreiben von Frauen als die natürliche Fortsetzung ihrer Gespräche zu begreifen, verfestigt er den Topos von der literarischen Bedeutung der Konversation, der die Salonforschung bis in die jüngste Vergangenheit prägt. 49 Nun ließe sich einwenden, dass Sainte-Beuve die Überblendung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hier nicht willkürlich, sondern vor dem Hintergrund des klassischen négligence-Ideals vornimmt, in dem die konversationelle Ästhetik bereits auf die Schrift übertragen wird. Durch die Anverwandlung an den Gegenstand, die der Autor der Causeries zu seinem literaturkritischen Ideal erklärt, wird dieses ästhetische Grundprinzip des 17. Jahrhunderts nur angedeutet und nicht ausdrücklich in den regelpoetischen Kontext eingeordnet, dem es entstammt. Aber diese strukturelle Analogie zwischen dem Portrait und seinem Gegenstand löst den grundsätzlichen Widerspruch, der sich in der Galerie de femmes célèbres insgesamt manifestiert, nicht auf: Wie lässt sich eine Geschichte der Konversation nicht nur schreiben, sondern darüber hinaus auch noch in die Geschichte der Literatur integrieren? Diese Integration ist nur um den Preis einer Metaphorik zu haben, die die Grenzen zwischen den zwei kategorial verschiedenen Verkörperungsformen von Sprache - ‚Stimme‘ und ‚Schrift‘ - ständig überschreitet. Mit dieser Überschreitung wird außerdem eine weitere Schwierigkeit verschleiert, mit der sich die Salonforschung bis heute auseinanderzusetzen hat, nämlich die differenzierte Betrachtung der Rede über Konversation. Aufgrund der epochenspezifischen Verschränkung von ästhetischen und sozialen Faktoren muss die Thematisierung des Konversationsideals im 17. Jahrhundert zugleich als eine soziale Praxis verstanden werden, die sich sowohl unter referentiellen als auch unter performativen Gesichtspunkten untersuchen lässt, vorausgesetzt, die Analyse zeichnet die Oszillation zwischen diesen Polen auf, ohne sich ihr anzuverwandeln. 50 Wenngleich er diesen Prämissen nicht immer gerecht wird, unternimmt Sainte-Beuve mit seiner Galerie de femmes célèbres den Versuch, der Geschich- 48 Galerie de femmes célèbres, S. 163. 49 Symptomatisch ist der Titel der Publikation von Marc Fumaroli aus dem Jahre 1992: Le genre des genres littéraires français: la conversation. 50 Ein Beispiel aus der jüngeren Forschung für einen anspruchsvollen in diesem Sinne reflektierten Umgang mit dieser Verschränkung von ästhetischen und sozialen Faktoren ist Steigerwalds Untersuchung der galanterie im Sinne einer „Praxeologie“ (vgl. Steigerwald, Galanterie, S. 56-77). Biblio17_204_s005-419End.indd 42 11.06.13 10: 10 <?page no="43"?> 43 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs te der Konversation, die als eine Abfolge weiblicher Portraits imaginiert wird, einen Platz in der französischen Literaturgeschichte zu verschaffen. Ein solcher Versuch ist im Rahmen dieser Untersuchung insofern interessant, als der Autor selbst dabei innerhalb eines epistemologischen Feldes agiert, in dem sich ein modernes Verständnis von Literatur gerade erst durchzusetzen beginnt. Die Inkongruenz der Literaturbegriffe, die sich in seiner Galerie niederschlägt, lässt sich daher als eine Spielart jener Versöhnungsbestrebungen und Widersprüche lesen, die man der ‚Schwellenfigur‘ Sainte-Beuve verschiedentlich nachgewiesen hat. 51 Diese Figur verweist auf einen Kontext von Ungleichzeitigkeiten, den man vor Augen haben muss, um nachzuvollziehen, wie die Faktoren ‚Weiblichkeit‘ und ‚Konversation‘ zu einem wesentlichen Bestandteil des modernen Salonbegriffs werden konnten, an dessen Konstruktion der Autor der Causeries maßgeblich beteiligt war. Im Folgenden soll diesem konstitutiven Prozess weiter nachgegangen werden, wobei jenen Arbeiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, in denen sich in der Nachfolge Sainte-Beuves der Salonbegriff mit einem literarhistorischen Erkenntnisinteresse verbindet. 1.2 Der Salon als paradigmatischer Ort der société polie 1.2.1 Die Chambre bleue Bedenkt man die prominente Rolle, die Sainte-Beuve in seiner weiblichen Genealogie der Marquise de Rambouillet zuordnet, so ist das Fehlen ihres Portraits in der Galerie de femmes célèbres erstaunlich. Immerhin wird die Chambre bleue, wie die Zusammenkünfte in ihrem Hause schon von den Zeitgenossen genannt wurden, wiederholt als der erste französische Salon überhaupt bezeichnet. Zur Erklärung für diese Lücke in der Galerie ließe sich die Vermutung anstellen, dass der Autor der Causeries die Bedeutung dieser Figur als bekannt voraussetzt, zumal er selbst das Werk, in dem das Hôtel de Rambouillet erstmals als Inbegriff der französischen société polie erscheint, genau studiert hat: Es handelt sich um die zunächst nur einem eingeschränkten Leserkreis zugänglich gemachte Abhandlung von Pierre Louis Rœderer, der im Jahre 1835 unter dem Titel Mémoires pour servir à l’histoire de la société polie 51 Ausdrücklich als Schwellenfigur stellt ihn zuletzt Wolf Lepenies in seiner Biographie Sainte-Beuve, auf der Schwelle zur Moderne dar. Aber schon Zola zeichnet dieses Bild des Autors, wenn er in seinem Nachruf schreibt: „Il était homme de salon et de bibliothèque, un pied dans l’Ancien Régime et un pied dans le nouveau […]. Il y avait en lui, je le répète, un étrange assemblage d’avenir et de passé. Pour le définir d’un mot, il a marqué dans la critique française une période de transition.“ (Zola, Sainte-Beuve, S. 437). Biblio17_204_s005-419End.indd 43 11.06.13 10: 10 <?page no="44"?> 44 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts eine umfängliche Verteidigungsschrift der Chambre bleue verfasste. 52 In dieser Arbeit, die Sainte-Beuve als das Aufbruchsignal einer Rückbesinnung seiner Zeitgenossen auf das 17. Jahrhundert insgesamt wertet, 53 nimmt Rœderer den Rambouillet-Kreis gegen eine geringschätzende Interpretation in Schutz, deren Ursprung in der Preziösen-Kritik Molières zu suchen ist. […] l’hôtel de Rambouillet, cet hôtel regardé, depuis la fin du siècle passé, comme l’origine des affectations de mœurs et de langage, et qui fut dans le grand siècle, et pour tous les grands écrivains qui l’illustrèrent, pour Corneille, pour Boileau, pour La Fontaine, pour Racine, pour Molière même, oui pour Molière, plus que pour aucun autre, l’objet d’une vénération profonde et mérité. 54 Mit seiner Rehabilitation legt er den Grundstein für die in der Salongeschichtsschreibung bis heute virulente Hypostasierung der Chambre bleue, die zugleich als Auftakt und als Höhepunkt der französischen Salonkultur be- 52 Sainte-Beuve widmet Rœderer ein dreiteiliges Portrait in den Causeries du Lundi (vom 18. Juli, 25. Juli und ersten August 1853). Er verteidigt hier insbesondere die umstrittene Bedeutung der Mémoires pour servir à l’histoire de la société polie, indem er auf das Verdienst des Autors hinweist, eine literarhistorische Auseinandersetzung mit dem Hôtel de Rambouillet angestoßen zu haben: „Le livre, non mis en vente, circula de main en main; on en discuta, on disputa même […]. Depuis que M. Rœderer a donné son Mémoire, combien d’écrivains n’ont-ils pas recommencé l’histoire de l’hôtel de Rambouillet ou de quelques-unes des héroïnes qui y figurent! L’ont-ils surpassé en exactitude ou en talent? C’est en partie ce qu’il a voulu.“ (Causeries du Lundi VIII, S. 389-390). Dieser Verteidigung ist zugleich zu entnehmen, dass Sainte-Beuve zum Zeitpunkt der Zusammenstellung einiger Causeries für die Galerie de femmes célèbres davon ausgeht, dass die Bedeutung der Marquise de Rambouillet als bekannt vorausgesetzt werden kann. 53 „Ce Mèmoire, qui n’a pas été mis en vente, mais qui a été donné et distribué en toute bonne grâce, est devenu comme le signal de ce mouvement de retour au dixseptième siècle qui n’a fait que s’accroître et se développer.“ (Causerie du Lundi VIII, S. 326). Der Historiker Antoine Lilti bestätigt diese Rolle Rœderers für die Beschäftigung, die im 19. Jahrhundert mit den vorrevolutionären Salons zu beobachten ist: „Les salons, la vie de société, apparaissent sous la Restauration comme une tradition aristocratique et nationale liée à la société de cour et renvoient à un Ancien Régime assez indistinct, un avant-1789 qui correspond plutôt au XVIII e siècle. […] Dans le deuxième tiers du XIX e siècle, plusieurs entreprises historiographiques aux enjeux divers vont bouleverser définitivement l’image des salons d’Ancien Régime, en partant cette fois du XVII e siècle. Les Mémoires sur l’histoire de la société polie de Pierre Louis Rœderer sont aujourd’hui bien oubliés. Leur influence sur l’histoire des salons d’Anciens Régime fut pourtant considérable.“ (Lilti, Le monde des salons, S. 28-29). 54 Pierre Louis Rœderer, Mémoires pour servir l’histoire de la société polie en France. Genève, Slatkine Reprints 1969 [erstmals Paris 1835], S. 6. Biblio17_204_s005-419End.indd 44 11.06.13 10: 10 <?page no="45"?> 45 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs trachtet wird. 55 Wenngleich sich sein Schreiben dem Gegenstand anverwandelt, für den er ein an Verehrung grenzendes persönliches Interesse hegt, 56 ist Rœderer doch einer der ersten, der sich mit dem spezifischen Geschichtsbewußtsein des 19. Jahrhunderts der Rolle zuwendet, die die Frauen in der Umgebung der Marquise de Rambouillet für die Entwicklung und Pflege der französischen Sprache und Literatur gespielt haben. La même méprise, qui fait imputer à l’hôtel de Rambouillet la préciosité des manières et du langage, fait méconnaître les services qu’il a rendus aux mœurs, à la langue même et à la littérature, et lui dérobe une gloire qui lui appartient. […] Nous verrons la part immense que les femmes ont eue à cette formation de la langue. C’est un des objets de cet ouvrage. 57 Die Mémoires pour servir l’histoire de la société polie en France stehen am Anfang einer gynozentrischen Historiographie der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in der sich die gemischtgeschlechtliche Konversation mit dem über Sainte-Beuve vermittelten Salonbegriff verbindet. Die Chambre bleue fungiert dabei als Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung, doch während es Rœderer noch allein um ihre Rehabilitation geht, wird sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts - in der Nachfolge Sainte-Beuves - zum französischen Salon par excellence stilisiert. Die Konstellation, die bei Sainte-Beuve erst durch die Zusammenstellung ausgewählter Causeries sichtbar wird, nämlich die französische Salonkultur als ‚Galerie‘ weiblicher Portraits, wird bei Gustave Reynier zu einer historischen Gewissheit. In seiner Studie La Femme au XVII e siècle skizziert Reynier einen Reigen der Salons des 17. Jahrhunderts, der durch die Marquise de Rambouillet eröffnet werde: Quelques années plus tard, c’est l’hôtel de Rambouillet qui ouvre ses portes. Le rôle où plus d’une avant elle s’était essayée, Catherine de Vivonne le reprend avec plus d’intelligence, de vraie culture et d’autorité discrète. Presque tout ce qui compte en France s’empresse auprès d’elle. Celle que Chapelain appelle „une âme impératrice“ a bientôt son petit royaume, ce salon connu et révéré jusque dans les plus lointaines provinces […]. Pendant près de trente ans, le succès croissant de ces assemblées fait naître 55 Zur ‚Institutionalisierung‘ der Chambre bleue der Marquise de Rambouillet siehe beispielsweise den bereits zitierten Eintrag „Salon“ von Joan DeJean in The New Oxford Companion To Literature in French, S. 737: „The first true salon was created at the Hôtel de Rambouillet by the woman known as ‚la divine Arthénice‘.“ 56 Dem Autor wird nachgesagt, dass er die Chambre bleue auf seinem Landsitz habe nachbauen lassen (vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 31). Auch der Gestus der Halböffentlichkeit, mit dem er sein Werk im Kreise ausgewählter Personen zirkulieren lässt, kann als Imitation der salonspezifischen Publikationspraxis gewertet werden. 57 Rœderer, Mémoires, S. 10. Biblio17_204_s005-419End.indd 45 11.06.13 10: 10 <?page no="46"?> 46 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts d’autres cercles, moins brillants sans doute, mais animés du même esprit: à l’hôtel de Condé, où président Mme la Princesse et Mlle de Bourbon, à l’hôtel de Créqui, à l’hôtel de Clermont, dont Chapelain parle si souvent dans ses lettres, à l’hôtel de Nevers, dont l’abbé de Marolles est le „savant“ en titre, où l’on agite „quelque belle question“ tous les jours, chez Mme de Ventadour, chez Mme de Sablé, à la Place Royale, chez cette Mme Desloges, dont Conrart assure que sa société était recherchée par des princes et des princesses et que „toutes les Muses semblaient résider sous sa protection ou lui rendre hommage“. [Hervorhebungen, S.B.] 58 Dieses Zitat ist in verschiedener Hinsicht symptomatisch sowohl für die Konstruktion des Salonbegriffs als auch für den Umgang mit ihm. Zunächst fällt auf, dass Reynier zeitgenössische Bezeichnungen für eine gemischtgeschlechtliche Gesellschaft (assemblée, cercle, société) auf eine Ebene stellt mit dem modernen Ausdruck salon. Zugleich wird postuliert, dass der ‚Salon‘ der Marquise de Rambouillet das unübertroffene Vorbild der anderen Gesellschaften dieser Art (du même esprit) gewesen sei, ohne dass diese Artverwandtschaft näher bestimmt wird. Der Modellcharakter des Hôtel de Rambouillet wird als gegeben betrachtet und auch in den weiteren Ausführungen Reyniers nicht durch einen fortgesetzten Vergleich der verschiedenen Adelssoziabilitäten legitimiert. Vielmehr stammen die Beispiele und Anekdoten, die den esprit der französischen Salonkultur belegen sollen, ausnahmslos aus dem Umkreis der Chambre bleue, und die Guirlande de Julie, die berühmte Sammlung kollektiver Blumengedichte zu Ehren der Tochter der Marquise de Rambouillet, wird hier zum Symbol einer gesellschaftlichen Praxis erklärt, die von den Zeitgenossen weder als Salonkultur noch als eine homogene Struktur wahrgenommen wurde. On pourrait trouver une sorte de valeur symbolique à cette fameuse Guirlande où toutes les fleurs du monde étaient invitées à effacer leur éclat devant l’éclat de Julie, à faire monter autour d’elle, comme un encens, leur parfum. Il est impossible que, même en dehors des cercles aristocratiques où trône la femme, il ne se soit pas répandu quelque chose du rayonnement de sa divinité. 59 Die Chambre bleue verdankt ihren paradigmatischen Status der Tatsache, dass die frühe Salonforschung das Paradigmatische dieser Adelssoziabilität nicht hinterfragt. Neben der Studie von Gustave Reynier sind an dieser Stelle vor allem die Arbeiten von Maurice Magendie zu nennen, insbesondere seine Untersuchung der politesse mondaine. 60 58 Gustave Reynier, La femme au XVII e siècle. Paris, Plon 1933 [erstmals Paris, Durand 1929], S. 13-14. 59 Reynier, La femme au XVII e siècle, S. 23. 60 Maurice Magendie, La politesse mondaine et les théories de l’honnêteté, en France, au XVII e siècle, de 1600 à 1660. Genève, Slatkine Reprints 1993 [erstmals Paris 1925]. Biblio17_204_s005-419End.indd 46 11.06.13 10: 10 <?page no="47"?> 47 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs In diesem knapp tausend Seiten starken Werk, das die Entstehung der honnêteté in Frankreich zwischen 1600 und 1660 behandelt, dient der Salonbegriff als kontextuelle Folie, auf der sich durch verschiedene literarische Einflüsse das Gesellschaftsideal abbildet. Wie Reynier geht Magendie von einer deutlichen Vermehrung der Salons im Laufe des 17. Jahrhunderts aus. Dans la première partie du siècle, les salons se multiplient; on n’a pas encore en général la notion du monde vaste, universel, qui, par-dessus les frontières des pays et les barrières des classes, crée des liens spirituels entre les honnêtes gens de tous les pays; c’est lui que Méré essaiera de définir; on est encore aux coteries, aux clans, chacun avec ses habitudes, ses goûts, ses préjugés, ses étroitesses; dans ce morcellement, les mœurs se purifient et les esprits s’affinent. 61 [Hervorhebungen, S.B.] Auch in diesem Zitat vermischt sich zeitgenössische Terminologie (monde, coteries) und moderner Salonbegriff, doch anders als Reynier unterscheidet Magendie hier noch einmal zwischen zwei Zeitstufen: Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts decke sich mit den salons, die auch coteries oder clans genannt werden. Sie könnten noch nicht jenen Anspruch auf Universalität erheben, durch den sich jener monde auszeichne, den Antoine Gombauld, chevalier de Méré, in den siebziger Jahren des Jahrhunderts definieren werde. Allerdings seien sie eine notwendige Voraussetzung für diese Universalität, da sie die Sitten und Gebräuche ihrer Zeit polierten wie Glasscherben, die sich aneinander abschleifen. Mit Reynier teilt Magendie die teleologische Vorstellung von einer Salonkultur des 17. Jahrhundert, in der die Chambre bleue das klassische französische Konversationsideal vorbereite und seinen universalen Anspruch unter Ludwig XIV. präfiguriere, wie die Anspielung auf das Attribut des ‚Sonnenkönigs‘ zeigt. „L’hôtel de Rambouillet a effacé par son éclat tous les salons qui l’avaient précédé et préparé: le soleil s’est levé, disparaissez, étoiles! “ 62 An diesem Salon werden nicht nur die vorausgehenden, sondern auch die unmittelbar folgenden coteries gemessen und für zu leicht befunden: das Hôtel de Créqui, das Hôtel de Clermont, das Hôtel de Condé, chez Madame de Ventadour, chez Madame Deloges, chez Marguerite de Montmorency. 63 Wie Reynier begnügt sich Magendie mit einer Aufzählung von Namen, ohne sich jedoch zu fragen, worin die Salonspezifik dieser Räume besteht. So handelt es sich abermals um eine ‚Galerie‘ von Adelshäusern und Gastgebe- 61 Magendie, La politesse mondaine, S. 141. 62 Magendie, La politesse mondaine, S. 122. 63 Vgl. Magendie, La politesse mondaine, S. 138. Magendie erwähnt sehr kurz die Existenz von frühen französischen Salons, die der Chambre bleue vorausgegangen seien, doch nur um darauf zu verweisen, dass über sie nur sehr wenig bekannt sei (vgl. Magendie, La politesse mondaine, S. 121). Biblio17_204_s005-419End.indd 47 11.06.13 10: 10 <?page no="48"?> 48 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts rinnen, deren Empfangspraxis jedoch nicht näher beschrieben wird. An die Stelle ihrer differenzierten Betrachtung tritt eine figurative Funktionalisierung, die sich in dem bereits erwähnten teleologischen Bild der Glasscherben niederschlägt, wobei die Vorstellung geschliffenen Glases unausgesprochen auf die etymologische Bedeutung von politesse Bezug nimmt. Die schiere Aufzählung dieser Adelshäuser steht jedoch in keinem Verhältnis zu der ausführlichen Beschreibung des Hôtel de Rambouillet. 64 Diese privilegierte Behandlung eines einzigen Salons im Rahmen einer Untersuchung, die sich der Entstehung der französischen société polie auf der Grundlage einer sich ausdifferenzierenden Salonkultur widmet, ist erklärungsbedürftig. Um die Herangehensweise des Autors an seinen Gegenstand besser zu verstehen, muss man die spezifische Beschaffenheit der Quellen berücksichtigen, die von der Chambre bleue das Bild eines außergewöhnlichen Ortes der Konversation vermitteln. 65 Vor allem die Historiettes von Tallemant des Réaux stellen ein umfangreiches Reservoir dar, aus dem die Salonforschung die einschlägigen Anekdoten schöpft, die sie zur Beschreibung der sozialen Praxis im Umkreis des Hôtel de Rambouillet heranzieht. So beruht beispielsweise die bis heute virulente Vorstellung, der Salon sei als ein alternatives, dem Louvre entgegengesetztes Modell der Vergesellschaftung zu verstehen, auf der Anekdote Tallemants, die einen Rückzug der Marquise de Rambouillet vom französischen Hofe anzudeuten scheint: Je la croirois bien capable de cette résolution [sich nicht zu verheiraten; S.B.], quand je considere que dez vingt ans elle ne voulut plus aller aux assemblées du Louvre. Elle disoit qu’elle n’y trouvoit rien de plaisant, que de voir comme on se pressoit pour y entrer, et que quelquefois il luy est arrivé de se mettre en une chambre pour se divertir du meschant ordre qu’il y a pour ces choses-là en France. Ce n’est pas qu’elle n’aimast pas le divertissement, mais c’estoit en particulier. C’est une chose assez estrange, pour une belle et jeune personne et qui est de qualité. 66 Der distanzierte Blick, den die Marquise Tallemant zufolge auf das Hofleben geworfen hat, stellt sich bei Magendie als eine tiefe Abneigung dar, aus der eine kategorische Verweigerung erwächst, die in den Aufbau einer eigenen Gesellschaft mündet, zu der nur ausgewählten Personen Zutritt gewährt wird: 64 Vgl. Magendie, La politesse mondaine, S. 122-137. 65 Nicolas Schapira hat auf diese besondere Quellenlage hingewiesen und in seiner Studie über Valentin Conrart, der als professionnel des lettres auch im Hôtel de Rambouillet verkehrte, gezeigt, dass die Quellentexte als Teil jener sozialen Praxis betrachtet werden müssen, über die sie Auskunft erteilen (vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 225-264). 66 Tallemant, Historiettes I, S. 442. Biblio17_204_s005-419End.indd 48 11.06.13 10: 10 <?page no="49"?> 49 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs On comprend que le Louvre lui ait inspiré plus d’aversion que de sympathie: dès l’âge de vingt ans, malgré sa jeunesse, sa beauté, son rang, elle refusa d’y aller. […] Mme de Rambouillet ne recevait pas indistinctement tous ceux qui le souhaitaient; elle voulait n’avoir autour d’elle qu’une société choisie. A quoi eût-il servi qu’elle se retirât de la Cour, si elle eût accueilli chez elle la bruyante cohue du Louvre? 67 Magendie spitzt hier die Aussage seiner Quelle auf eine Lesart zu, die zwar über das Ziel der Anekdote hinausschießt - Tallemant behauptet nicht, dass sich die Marquise zu diesem frühen Zeitpunkt dem Hofleben tatsächlich entzogen habe -, im Text jedoch bereits angelegt ist. An anderer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass Tallemant seine Gründe hatte, die Anekdoten, die ihm von der Marquise de Rambouillet selbst erzählt wurden, auf die ihm eigene Art und Weise aufzuschreiben. 68 So ist das Bild, das er von der Marquise de Rambouillet an verschiedenen Stellen seiner Historiettes zeichnete, tatsächlich das Portrait einer Ausnahmeerscheinung. Dieser Eindruck wird durch den Aufbau des Textes vermittelt, der nur scheinbar willkürlich von einer anekdotischen Begebenheit zur anderen springt und vermeintlich beliebige Schlaglichter auf das Leben der Protagonistin setzt. Zwar bleibt es dem Leser überlassen, einen kausalen Zusammenhang herzustellen zwischen der distanzierten Haltung, die die Marquise gegenüber dem französischen Hofe eingenommen habe, den von ihr entworfenen architektonischen Plänen und dem Ausbau ihrer eigenen Räume zur Chambre bleue 69 sowie dem Hinweis Tallemants, in diesen Räumen habe sich die Elite des französischen Adels versammelt. 70 Da diese Aussagen jedoch direkt aufeinander folgend gemacht werden, liegt es durchaus nahe, sie miteinander zu verknüpfen und dadurch das implizite Narrativ, das den Historiettes zu Grunde liegt, explizit zu machen. Den Anekdoten Tallemants eignet eine Appellfunktion, da der Leser gerade durch das elliptische Erzählen dazu aufgefordert wird, das Unausgespro- 67 Magendie, La politesse mondaine, S. 124. 68 Vgl. die Einleitung dieser Studie. 69 „Elle fut elle-mesme l’architecte de l’hostel de Rambouillet, qui estoit la maison de son pere. […] C’est d’elle qu’on a appris à mettre les escalliers à costé, pour avoir une grande suitte de chambres, à exhausser les planchers, et à faire des portes et des fenestres hautes et larges et vis-à-vis les unes des autres. […] C’est la première qui s’est avisée de faire peindre une chambre d’autre couleur que de rouge ou de tané; et c’est ce qui a donné à sa grande chambre le nom de la Chambre bleue.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 443). 70 „J’ay dit ailleurs que madame la Princesse et le cardinal de la Vallette estoient fort de ses amys. L’hostel de Rambouillet estoit, pour ainsy dire, le théatre de tous leurs divertissements, et c’estoit le rendez-vous de ce qu’il y avoit de plus galant à la Cour, et de plus poly parmy les beaux-esprits du siecle.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 443). Biblio17_204_s005-419End.indd 49 11.06.13 10: 10 <?page no="50"?> 50 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts chene zu ergänzen. Dieser Aufforderung ist die Salongeschichtsschreibung immer wieder nachgekommen, und als eindrucksvollstes Beispiel hierfür darf wohl das zweibändige Werk Voiture et l’Hôtel de Rambouillet von Émile Magne gelten, 71 auf das an dieser Stelle zuletzt noch eingegangen werden soll. Bei den 1911 und 1912 erstmals erschienenen Bänden, die jeweils Les origines (1597-1635) und Les années de gloires (1635-1648) der Chambre bleue umfassen, handelt es sich um eine Doppelbiographie, in der es sowohl um Vincent Voiture als auch um die Gruppe der sich im Hôtel de Rambouillet versammelnden Personen geht. Der Untersuchungszeitraum wird zwar durch die Lebensdaten Voitures begrenzt, doch spiegeln sich in dieser Periodisierung nur die Prämissen eines Buches, in dem die Person des homme de lettre und der Raum der Chambre bleue zu einem einzigen Gegenstand verschmelzen. Was wie eine Vorwegnahme der sogenannten ‚Neuen Biographik‘ anmuten könnte, die von einem interdependenten Raum- und Subjektbegriff ausgeht, 72 entpuppt sich jedoch schnell als ihr Gegenteil: Statt sich auf ein Subjekt zu konzentrieren, dessen Konstruktion im Schnittpunkt sozialer Räume nachvollzogen wird, beruht die Darstellung Magnes auf einer latenten Hypostasierung der Chambre bleue. Wie im Falle Magendies zeichnet sich hierfür der Umgang des Autors mit den Quellen verantwortlich, denn auch Magne stützt sich auf Aussagen jener hommes de lettres, die unisono den Lobgesang auf den Kreis um die Marquise de Rambouillet anstimmen und an dem Bild ihres Hauses als locus amœnus der Konversation mitwirken. 73 Diese 71 Émile Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, 1597-1635. Paris, Mercure de France 1911; ders., Voiture et les années de gloire de l’Hôtel de Rambouillet, 1635-1648. Paris, Mercure de France 1912. Beide Studien werden verschiedentlich neu aufgelegt und erscheinen 1629 und 1630 in einer zweibändigen Ausgabe unter dem Titel Voiture et l’Hôtel de Rambouillet mit den jeweiligen Untertiteln Les origines 1597-1635 und Les années de gloire 1635-1648 (Paris, Émile-Paul frères). 72 Der Terminus ‚Neue Biographik‘ ist hier Hans Erich Bödeker entlehnt, der 2003 einen Forschungsband zu der sogenannten Renaissance der historiographischen Biographie herausgegeben hat (Biographie schreiben. Hg. von Erich Bödeker, Göttingen, Wallstein 2003). 73 Auf konkrete Beispiele, die den für das Konversationsideal konstitutiven Rückzug aus dem geschäftigen Alltagsleben in Szene setzen, wird noch einzugehen sein. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass jener ‚Verdichtungsprozess‘, der hier als strukturbildend für die Salonforschung herausgearbeitet wird, bereits bei den Zeitgenossen der Chambre bleue zu beobachten ist, die auf Modelle des Rückzugs rekurrieren, wie sie in der italienischen Verhaltenstraktatistik angelegt sind, die ihrerseits als Teil einer literarischen Matrix aufgefasst werden müssen, die über die fiktionalen Gesprächsräume bei Giovanni Boccaccio bis zu den geselligen Frage- Antwort-Spielen des Mittelalters zurückreicht (vgl. hierzu Christa Schlumbohm, Jocus und Amor. Liebesdiskussionen vom mittelalterlichen ‚joc partit‘ bis zu den preziösen ‚question d’amour‘, Hamburg, Romanisches Seminar der Universität Hamburg 1974). Biblio17_204_s005-419End.indd 50 11.06.13 10: 10 <?page no="51"?> 51 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Zeugnisse werden als ungebrochenes Abbild der sozialen Praxis behandelt, während ihre Eigenschaft, zugleich Teil jener Gesellschaft zu sein, über die sie Auskunft geben, nicht reflektiert wird. 74 Diese unberücksichtigt gebliebene Doppelfunktion der Quellen, deren Janusköpfigkeit erst die neuere Forschung Aufmerksamkeit schenkt, 75 bringt es mit sich, dass auch Magne eine Geschichte erzählt, die das Bild der Marquise de Rambouillet und ihrer Gesellschaft, das die genannten Zeitgenossen so betont wohlwollend zeichnen, noch übertrifft: Indem er einzelne Aussagen Tallemants isoliert und neu kombiniert, indem er suggestive Leerstellen ergänzt und anekdotische Anspielungen aufgreift, entsteht die Erzählung von einem Ort (Chambre bleue), an dem sich die Elite des französischen Adels versammelt, wenn sie der als einengend empfundenen Etiquette am französischen Hofe entfliehen will. Diese Geschichte ist nicht etwa deswegen problematisch, weil sich einzelne Informationen, aus denen sie sich zusammensetzt, nicht belegen ließen. Magne verfügt über ein höchst umfangreiches Detailwissen, das er akribisch anhand unterschiedlicher Quellen nachweist, und die Inhalte seiner Erzählung sind keineswegs frei erfunden. 76 Erst ihre spezifische Anordnung rückt sein Werk in die Nähe der Fiktion und stellt eine verzerrte Wiedergabe der narrativen Struktur dar, die den Historiettes zu Grunde liegt. Zwei Bei- 74 Vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 230: „Ainsi Émile Magne, pour écrire son livre sur l’hôtel de Rambouillet, s’est-il servi essentiellement des lettres publiées de Voiture et de Balzac, de la correspondance de Chapelain, des Historiettes de Tallemant des Réaux, ainsi que d’un certain nombre de vers publiés dans des recueils collectifs ou disséminés dans des recueils manuscrits tels que ceux de Conrart. Magne, comme ses devanciers et un certain nombre de ses successeurs, entérine avec enthousiasme les tombereaux d’éloges déversés sur l’hôtel de Rambouillet en général et sur la marquise en particulier, sans jamais s’interroger sur les sources qu’il utilise.“ 75 Neben den Untersuchungen Schapiras und Steigerwalds sei an dieser Stelle auf die Arbeiten von Karine Abiven hingewiesen, die in einem Aufsatz die Bedeutung des Narrativs in diesen Quellen herausgearbeitet hat (vgl. „Le récit du monde: le discours narratif comme facteur de cohésion de la société mondaine“, in: Papers on French Seventeenth Century Literature XXXVII, 73, 2010, S. 291-302). 76 Auch beschränkt sich das Quellenmaterial des Autors nicht auf Anekdoten, wie von Schapira suggeriert wird. Magne konsultiert eine große Bandbreite an historischen Zeugnissen, wobei er gleichermaßen auf juristische Dokumente, zeitgenössische Abhandlungen, Briefe und Gelegenheitstexte zurückgreift. An dieser Stelle sei der archivalischen Forschungsleistung des Autors die ihr gebührende Anerkennung gezollt, denn verschiedene Quellen, die über die Familie Rambouillet Aufschluss geben, wurden erst durch ihn einem größeren Publikum zugänglich gemacht (vgl. insbesondere die Anhänge in Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 295-309, sowie in Magne, Voiture et les années de gloire de l’Hôtel de Rambouillet, S. 369-421). Biblio17_204_s005-419End.indd 51 11.06.13 10: 10 <?page no="52"?> 52 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts spiele mögen dazu dienen, dieses Verfahren, dessen Ergebnis eine weitere Verdichtung des bereits in den zeitgenössischen Texten angelegten Mythos’ der Chambre bleue ist, zu veranschaulichen: Die Erzählung setzt ein, als Voiture seine Studienzeit in Orléans beendet hat und im Alter von fast dreißig Jahren nach Paris zurückkehrt, wo er mit galanten Versen die Aufmerksamkeit des monde auf sich zieht. Er lernt den Marquis de Chaudebonne kennen, der ihm verspricht, ihn in die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet einzuführen. Voiture, der es kaum erwarten kann, die berühmte Chambre bleue zu betreten, von der er schon so viel gehört hat, wähnt sich bereits am Ziel seiner Träume, doch die versprochene Initiation verzögert sich zunächst. 77 Schließlich fordert ihn Chaudebonne doch noch auf, ihn zum Hôtel de Rambouillet zu begleiten, in dem ein Empfang zu Ehren des Duke of Buckingham gegeben werde, da der englische Gesandte den Wunsch geäußert habe, die Stimme von Mademoiselle Paulet zu hören, einer der engsten Vertrauten der Marquise. „- Hâtez-vous, lui dit-il, il y a grande fête à l’Hôtel de Rambouillet où je vous amène. Le marquis et la marquise reçoivent le duc de Buckingham qui a manifesté le désir d’entendre la voix admirable de Mlle Paulet.“ 78 Voiture wird von Chaudebonne durch die Räume des hôtel particulier geführt, vorbei an der etwas enttäuschenden Fassade des Gebäudes, das erst im Innern seinen besonderen Charme entfaltet, wo man der architektonischen Neuerungen der Hausherrin ansichtig wird. 79 Nacheinander begegnet Voiture hier nun auch den zu diesem Empfang geladenen Gästen sowie den Gastgebern, zunächst den Herren - von dem Marquis de Rambouillet wird er persönlich begrüßt - und dann den Damen, die sich im Obergeschoß des Hauses in jenem Raum befinden, der mit blauen Stoffen ausgekleidet wurde und dem Ort seinen Namen gab. 77 „Voiture écoute avec ravissement le dithyrambe qui se poursuit d’un interlocuteur à l’autre. Il attend impatiemment, quelques jours durant, l’avis que Chaudebonne lui doit envoyer. Mais celui-ci ne lui adresse point la lettre d’invitation souhaitée.“ (Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 57). 78 Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 58. Die nachfolgende fiktionale Beschreibung, in der dieser Empfang in Szene gesetzt wird, umfasst die Seiten 58-81. 79 „Prompt à la raillerie, le jeune homme constate que l’on exagéra singulièrement les innovations de la marquise. En réalité si la façade qu’il contemple ne s’égayait d’accidents multiples, corniches, frises, architraves, pilastres de pierre délicatement sculptés, elle offrirait peu de mérites d’imagination. Sans confier sa déception à Chaudebonne, il pénètre dans la grande cour de l’Hôtel. […] Il s’engage sur un large perron en arc de cercle qui monte au pavillon de dextre. Et tous deux débouchent en la grande salle d’où l’on découvre l’enfilade des appartements. Le jeune homme, dès maintenant, admire sans ironie.“ (Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 61-64). Biblio17_204_s005-419End.indd 52 11.06.13 10: 10 <?page no="53"?> 53 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Diese Begegnungen sind Anlass für eine Beschreibung der Protagonisten der Chambre bleue, sei es, dass Chaudebonne seinen Begleiter kurz mit Informationen versorgt - über Mademoiselle Paulet und den Marquis de Rambouillet beispielsweise -, sei es, dass sich Voiture seine eigenen Gedanken über die Physiognomie der jeweiligen Person macht, und dem Leser dadurch das Portrait der Marquise de Rambouillet und ihrer Tochter, Julie d’Angennes, zeichnet. Auf dieselbe Weise eingeführt werden der älteste Sohn der Marquise, der Marquis de Pisani, einige hommes de lettres (Vaugelas, Malherbes, Gombauld, Arnauld d’Andilly) sowie die Prinzessin von Condé, Charlotte- Marguerite de Montmorency und der Kardinal de la Valette, die bereits von Tallemant ausdrücklich zu den Freunden der Marquise gezählt werden. 80 Weitere Persönlichkeiten, prominenten Statisten gleich, werden namentlich nur kurz erwähnt, wobei die Tatsache jedoch bemerkenswert ist, dass es sich überwiegend um Vertreter des Hochadels handelt. 81 Ihre Erwähnung in dem fiktiven Tableau, das Magne von dem tatsächlich stattgefundenen Empfang zu Ehren des englischen Botschafters zeichnet, dient jedoch nur vordergründig ornamentalen Zwecken, vermittelt sie doch den Eindruck, das Haus Rambouillet stehe mit den Adelshäusern der La Trémoïlle, der Rohan oder gar der Bourbon-Condé auf einer Ebene. Auf diesen Eindruck wird noch einzugehen sein, an dieser Stelle bleibt zunächst folgendes festzuhalten: Die Gesellschaft im Hôtel de Rambouillet wird dem Leser durch die Augen Voitures präsentiert, dessen Blick, einer Kamera gleich, durch den Raum schwenkt und dabei Menschen und Einrichtungsgegenstände gleichermaßen erfasst. An dieser Stelle von Magnes Studie wird besonders deutlich, dass Voiture dem Autor als Reflektorfigur dient, um das ‚Inventar‘ - sowohl gegenständlicher als auch personaler Art 82 - der 80 „J’ay dit ailleurs que madame la Princesse et le cardinal de la Valette estoient fort de ses amys.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 443). 81 Auf der Seite der Herren: „Ainsi Voiture, présenté par M. de Rambouillet, entend les plus illustres noms de France retentir à son oreille. Successivement il s’incline devant le duc de la Tremouille, les maréchaux de Saint-Luc, de Schomberg, de Saint-Geran. Le marquis de Liancourt qui partagea le libertinage et la débauche de Théophile, les comtes de Maure et d’Etlan, tous deux adonnés aux couplets satiriques […].“ (Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 66). Auf der Seite der Damen: „La magnificence physique de la duchesse de Rohan, la splendeur de Mme de Combalet, la suavité de la marquise de Liancourt, le charme de Mlle d’Attichy, l’attrait de Mme du Vigean, la joliesse de Mme Aubry soulignent l’insignifiance de la duchesse de la Trémouille et de la marquise de Clermont, les disgrâces de la princesse de Conti et de la comtesse de Moret, la laideur de la maréchale de Saint-Luc.“ (ebd., S. 75-76). 82 Zur Illustration der Innenräume greift Magne u.a. auf den teilweise erhaltenen Inventar der Familie Rambouillet zurück. Biblio17_204_s005-419End.indd 53 11.06.13 10: 10 <?page no="54"?> 54 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Chambre bleue zur Darstellung zu bringen. 83 Der Kunstgriff, den Magne anwendet, erinnert an die Konstruktion fiktionaler Raum-Zeit-Strukturen in literarischen Texten und ist in der beschriebenen Szene auch deutlich als effet de réel - im Sinne Roland Barthes’ - zu erkennen. Der historiographische Rückgriff auf narrative Verfahren ist ja auch nicht per se wissenschaftlich unlauter, zumal er sich in letzter Konsequenz gar nicht vermeiden lässt. In diesem konkreten Falle hat die Entscheidung für die illusionistische Ausgestaltung des Narrativs jedoch weitreichende Folgen: So wählt Magne für seine Exposition nicht zufällig den Empfang des englischen Botschafters, der im Jahre 1625 stattgefunden haben soll. 84 Dadurch wird suggeriert, dass das Haus Rambouillet bereits in den frühen zwanziger Jahren zu jenem „rendezvous de ce qu’il y avoit de plus galant à la Cour“ geworden sei, von dem Tallemant spricht, ohne sich dabei jedoch auf einen bestimmten Zeitpunkt festzulegen. 85 Ähnlich verhält es sich mit der Personenkonstellation in Magnes Versuchsanordnung: Die aufgeführten Vertreter des Hochadels finden an verschiedenen Stellen der Historiettes Erwähnung, wobei die Tatsache, dass Tallemant die Marquise de Rambouillet als seine wichtigste ‚Informantin‘ bezeichnet, 86 Magne zu dem historiographischen Kurzschluss verleitet haben mag, Name (des Hochadligen) und Ort (Hôtel de Rambouillet) auf die beschriebene Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Doch legt sich Tallemant niemals auf den gesellschaftlichen Rahmen fest, in dem die skizzierten Begegnungen seiner ‚Protagonisten‘ stattgefunden haben, vielmehr bleiben seine Auskünfte darüber, in welchem Verhältnis die einzelnen Personen zueinander stehen, zumeist auffällig vage. In seiner Nacherzählung der Historiettes überspielt Magne diese Vagheit, was folgende Konsequenzen hat: Für jede einzelne seiner Beschreibungen kann er sich zu Recht auf Tallemant berufen, der sowohl den Stoff für die Rahmenhandlung als auch für die Begebenheiten, von denen Chaudebonne erzählt, während er Voiture durch das Hôtel de Rambouillet führt, liefert. Magne erfindet somit keine Details, wohl aber ihre raum-zeitliche Abfolge, d.h. er konstruiert einen spezifischen Chronotopos - im Bachtinschen Sinne -, der bei Tallemant noch nicht existiert. Dieser Chronotopos wird bei Magne zur dominanten Makrostruktur, durch die sich seine Erzählung wesentlich von der fragmentarischen Darstellung Tallemants unterscheidet. Magne stilisiert die Chambre bleue zur handlungs- 83 Zum Begriff der Reflektorfigur siehe Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens. Göttingen, Vandenhoek und Ruprecht 1995 [erstmals 1979], S. 190-239. 84 Vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 64 sowie Anmerkungen S. 746. 85 Tallemant, Historiettes I, S. 443. 86 „C’est d’elle que je tiens la plus grande et la meilleure partie de ce que j’ay escrit et que j’escriray dans ce livre.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 455). Biblio17_204_s005-419End.indd 54 11.06.13 10: 10 <?page no="55"?> 55 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs tragenden Figur, deren Exposition in der beschriebenen Szene erfolgt. Die Konsequenzen dieser Hypostasierung lassen sich jedoch an verschiedenen anderen Stellen nachvollziehen, von denen hier nur ein weiteres Beispiel, das aufgrund seiner narrativen Dichte in voller Länge zitiert werden kann, erläutert werden soll. Im zweiten Kapitel seiner Arbeit kommt Magne abermals auf die Verbindungen zu sprechen, die das Haus Rambouillet mit dem Hochadel unterhält. Er räumt ein, dass die Chambre bleue zwischen 1626 und 1628 den Höhepunkt ihrer glanzvollen Karriere noch nicht erreicht habe, doch ist ihm erkennbar daran gelegen, das soziale Kapital dieser Adelssoziabilität als ein generationsübergreifendes Potential zu beschreiben, das sich in den kommenden Jahren automatisch entfalten wird: L’Hôtel de Rambouillet, il est nécessaire de le spécifier, ne possède pas encore sa totale physionomie, bien que cette physionomie ne présente jamais la gravité dont on s’est évertué à l’assombrir. A l’heure qui nous occupe, les jeunes filles qui l’embelliront de leur grâce sont encore en pleine enfance. Mais elles fréquentent déjà la maison et l’emplissent de leur beauté. Anne-Geneviève de Bourbon, Anne et Marthe du Vigean, Henriette et Anne de Coligny jouent ensemble à la poupée, et Julie d’Angennes, de beaucoup leur aînée, dirige parfois leurs divertissement. Le cardinal de La Valette leur offre de riches marionnettes et souvent on voit sa rouge soutane disparaître sous les lits, poursuivie par la bande des fillettes. 87 Die Konstruktion dieser Passage zeigt, wie bürgerliche Vorstellungen des 19. Jahrhunderts auf den ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts projiziert werden. So sind die Puppen, die der Kardinal den Töchtern des Hochadels zum Geschenk macht, bei Tallemant tatsächlich erwähnt. 88 Magne wendet jedoch eine gesellschaftliche Praxis der Frühen Neuzeit, die im Austausch von Geschenken besteht, 89 in eine andere (moderne) Praxis, die im Spiel mit diesen Geschenken besteht und die das Hôtel de Rambouillet in eine bürgerliche Kinderstube verwandelt. Doch selbst wenn man von dieser offensichtlichen, an sich jedoch harmlosen Projektion absieht, bleibt diese Szene ein chronotopisches Zerrbild der Historiettes: Wenn nämlich Tallemant davon spricht, dass man im Hôtel de Rambouillet mitunter eine rote Soutane unter den Betten verschwinden sah, wo sich der Kardinal im Spiel mit den Kindern 87 Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 133. 88 Vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 71. 89 Zur frühneuzeitlichen Praxis des Schenkens siehe die einschlägige Studie von Natalie Zemon Davis, The gift in sixteenth-century France. Oxford, Oxford University Press 2000. Biblio17_204_s005-419End.indd 55 11.06.13 10: 10 <?page no="56"?> 56 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts versteckte, 90 so lässt er unausgesprochen, um wessen Kinder es sich hier handelt. Den Nachweis, dass sich die Töchter aus dem Hause Bourbon, du Vigean und Coligny von Kindesbeinen an im Hôtel de Rambouillet vergnügt hätten, bleibt Magne also schuldig. Dieses Nachweises hätte es jedoch bedurft, um zu belegen, dass das Verhältnis zwischen den handelnden Personen tatsächlich enger ist, als dies die gesellschaftlichen Pflichten des Adels insgesamt mit sich bringen. 91 Die ‚Umschrift‘, die er hier vornimmt, dient Magne außerdem dazu, die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet von einem Vorwurf zu entlasten, der sie mit einem weiteren Paradigma der Salonkultur des 17. Jahrhunderts in Verbindung bringen würde: die Gesellschaft der précieuses. Letzteren wird nicht zuletzt die Anmaßung zum Vorwurf gemacht, in affektierter Manier die Zugehörigkeit zur gehobeneren gesellschaftlichen Schicht vorzutäuschen und sozialen Aufstieg durch erlerntes (Sprach-)Verhalten erzwingen zu wollen. Durch den Hinweis darauf, dass eine Tochter des Königshauses - Anne-Geneviève de Bourbon - schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit den Töchtern des Hauses Rambouillet verkehrt, wird der Zirkel um die Marquise von diesem Verdacht freigesprochen, da die Zugehörigkeit zu der Elite des Landes bereits gewährleistet scheint. 92 Hier wird deutlich, dass zur Erzählung der Chambre bleue ein weiteres Narrativ der Salonforschung gehört: Erst durch ihre Abgrenzung von dem paradigmatischen Ort der précieuses gewinnt die Chambre bleue an Kontur. Der eine Topos der Salonforschung kann nicht ohne den anderen, dem die folgenden Ausführungen gewidmet sind, gedacht werden. 1.2.2 Les précieuses Die Chambre bleue und die sogenannte préciosité sind in der Salongeschichtsschreibung von Anfang an aufeinander bezogen, da bereits Rœderer in seiner 90 „Ce cardinal estoit galant, liberal, et avoit beaucoup d’esprit. Il estoit enjoüé jusqu’à se mettre sous un lict en badinant avec des enfants; cela luy est arrivé bien des fois à l’hostel de Rambouillet.“ (Tallemant, Historiettes I, S. 72). 91 Und selbst dann verkennt diese Konstruktion, dass es natürlich nicht Tallemants Anliegen ist, das kindliche Spiel im Hause Rambouillet zu beschreiben, sondern das Portrait einer - in seinen Augen etwas verschrobenen - Figur anzufertigen, indem er den Kardinal de La Vallette dergestalt als ‚enjoüé‘ beschreibt. 92 Die Familie der Angennes de Rambouillet gehörte zwar zum alten Schwertadel, stand jedoch immer noch mehrere Hierarchiestufen unter den Prinzen von Geblüt. Die älteste Tochter des Hauses, Julie d’Angennes, wurde 1664, als sie bereits duchesse de Montausier war, zur dame d’honneur de la reine ernannt (vgl. Leonhard Horowski, Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661-1789. Ostfildern, Thorbecke 2012, S. 659) und erreichte damit das Höchstmaß an Königsnähe, das ihrer Familie vergönnt gewesen ist. Biblio17_204_s005-419End.indd 56 11.06.13 10: 10 <?page no="57"?> 57 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Rehabilitation des Hôtel de Rambouillet gegen den Vorwurf zu Felde zieht, man habe es hier mit einer Versammlung von précieuses ridicules zu tun. 93 Es liegt nahe, den Freispruch der einen Partei durch die Beschuldigung einer anderen Partei zu erwirken, so dass sich eine Dichotomie ausbildet, in der die wahre politesse der Marquise de Rambouillet der preziösen Anmaßung durch Nachahmerinnen gegenübergestellt wird: Sans doute, et c’est un malheur fort ordinaire dans la société, au milieu des esprits élégants et délicats que rassemblait l’hôtel de Rambouillet, se trouvèrent des copies chargées et ridicules qui présentaient des affectations mensongères et hypocrites à la place des nobles délicatesses de leurs modèles. Au milieu du siècle, quand la marquise eut marié sa fille Julie au duc de Montausier, qui était gouverneur de l’Angoumois, sa société se dispersa; les habituées principales se firent leur cercle particulier; elles eurent leur réduit, leur cabinet, leur alcôve; et là, libres et dégagées de l’autorité des bons exemples, elles donnèrent l’essor à leurs prétentions et entrèrent dans tout leur ridicule. 94 In der Nachfolge Rœderers verfestigt sich diese Dichotomie zu einem Gemeinplatz, der zwar mal mehr und mal weniger stark emotional aufgeladen sein kann, 95 per se jedoch nicht in Frage gestellt wird. Selbst Magendie, der offenkundig bestrebt ist, zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen, unterscheidet zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚schlechten‘ preziösen Verhalten: La préciosité est dans son essence, et comme l’indique son nom même, le désir de ‚se tirer du prix commun des autres‘, et d’acquérir ‚une espèce et un rang tout particulier‘. Tout n’est pas méprisable dans la haine de ce qui est vulgaire, grossier […]. Mais ce principe excellent contenait en 93 Molières Diktum wurde tatsächlich schon früh gegen das Hôtel de Rambouillet in Anschlag gebracht. So liest man beispielsweise in den Souvenirs von Madame de Caylus als Erklärung für das anfängliche Misstrauen des Königs gegenüber Madame de Maintenon: „[…] il la soupçonnoit d’avoir dans l’esprit le précieux de l’hôtel de Rambouillet, dont les hôtels d’Albret et de Richelieu, où elle avoit brillé, étoient une suite et une imitation, quoique avec des correctifs, et qu’il leur manquât un Voiture pour en faire passer à la postérité les plaisanteries et les amusements. On se moquoit à la cour de ces sociétés de gens oisifs, uniquement occupés à développer un sentiment et à juger d’un ouvrage d’esprit.“ (Souvenirs de Madame de Caylus. Hg. von Bernard Noël. Paris, Mercure de France 1986, S. 48). 94 Rœderer, Mémoires, S. 6. 95 Reynier spricht von einer Krise, die durch die préciosité ausgelöst wird (vgl. Reynier, La femme au XVII e siècle, S. 75-101), und Magne beschuldigt die Tochter der Marquise de Rambouillet, die ‚abscheuliche Rasse‘ der heiratsunwilligen précieuses hervorgebracht zu haben: „D’elle naîtra la race exécrable des précieuses prudes.“ (Magne, Voiture et les origines de l’Hôtel de Rambouillet, S. 107). Biblio17_204_s005-419End.indd 57 11.06.13 10: 10 <?page no="58"?> 58 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts lui-même un germe dangereux: quand on n’a pas l’intelligence assez éclairée pour concilier la recherche et le bon goût, on demande à l’excentricité, à l’extravagance, ce qu’on ne sait pas obtenir de la sobriété et de la discrétion: on ne se distingue plus, on se fait remarquer. Aux précieuses véritables, succèdent les Précieuses ridicules. 96 Obgleich schon Rœderer von den reduits, cabinets und alcôves spricht, die von den Nachahmerinnen der Marquise de Rambouillet ins Leben gerufen wurden, führt erst Magendie das ‚Erblühen‘ der französischen Salonkultur ausdrücklich auf das preziöse Verhalten zurück: La saine préciosité existait déjà à l’Hôtel de Rambouillet; elle s’épanouit, s’étale et dégénère, suivant Somaize, à partir de 1652 environ. Les ruelles se multiplièrent dans les années qui suivirent la mort de Voiture, et le déclin de la Chambre bleue. Ce fut une floraison de réduits précieux, qui couvrit tous les quartiers de Paris. 97 Die explizite Kopplung des Salonbegriffs an die préciosité führt dazu, dass ein Werk in den Fokus der Salonforschung rückt, das innerhalb dieses Paradigmas die Rolle übernimmt, die Tallemants Historiettes für das Paradigma der Chambre bleue spielt: der Dictionnaire des précieuses von Antoine Baudeau de Somaize. 98 Die Rezeption des Dictionnaire verläuft in mehrfacher Hinsicht analog zur Rezeption der Historiettes, da auch hier der performative Aspekt der Quelle unberücksichtigt bleibt und abermals eine chronotopische Verdichtung erfolgt, wenngleich Somaize im Unterschied zu Tallemant tatsächlich vorgibt, präzise Informationen über bestimmte Orte (ruelles und alcôves) 96 Magendie, La politesse mondaine, S. 569. In einer Anmerkung zu dieser Passage präzisiert Magendie außerdem, dass eine Einteilung in ‚wahre‘ und ‚falsche‘ précieuses am Beispiel konkreter Personen nicht möglich sei, da es sich insgesamt wohl eher um eine graduelle Differenzierung handle. An dieser Stelle kommt der Autor einer Infragestellung der Dichotomie sehr nahe, führt sie jedoch durch die Unterscheidung zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ preziösen Verhalten sofort wieder ein: „Il y a entre elles [les vraies et les fausses précieuses] une différence de degré mais non de nature; leurs principes sont les mêmes, ou, pour être plus exact, les secondes font volontairement et par principe, ce que les premières font naturellement et sans effort […].“ An dieser Stelle wird deutlich, dass es Magendie um die Aktualisierung der Opposition von sprezzatura und affettazione geht, die Castiglione in seinem Hofmannstraktat Il libro del cortegiano (1528) unternimmt. 97 Magendie, La politesse mondaine, S. 589. Die hier zitierten Passagen leiten das Kapitel ein, das mit dem Titel „Multiplication des salons. La Préciosité“ überschrieben ist (ebd., S. 568-598). 98 Antoine Baudeau de Somaize, Le Grand dictionnaire des prétieuses, historique, poétique, géographique. 2 Bde, Paris, chez J. Ribou 1661. Biblio17_204_s005-419End.indd 58 11.06.13 10: 10 <?page no="59"?> 59 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs zu verbreiten. Bevor jedoch auf dieses Rezeptionsverfahren näher eingegangen werden kann, das dazu berechtigt, von einem paradigmatischen Status der préciosité innerhalb der Salonforschung zu sprechen, muss zum besseren Verständnis der Perspektive, aus der das Phänomen hier beleuchtet wird, zunächst ein begriffsgeschichtlicher und binnenhistoriographischer Exkurs unternommen werden. Die Debatte um die précieuses, die bereits im 17. Jahrhundert geführt wurde, ist bis heute virulent und findet ihre Fortsetzung in der literaturwissenschaftlichen Preziösen-Forschung. 99 Letztere deckt sich zwar an manchen Stellen mit der Salonforschung, reicht jedoch in ihrer Zielsetzung über die Identifizierung von salonspezifischen Konstellationen hinaus. Wie Delphine Denis in einer synthetisierenden Darstellung des Forschungsfeldes gezeigt hat, 100 ist mit dem Begriff der préciosité ein Erkenntnisinteresse verbunden, das die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen theoretischen und methodologischen Fragen involviert: 99 Von den zahlreichen Arbeiten, die sich mit dem Phänomen der préciosité auseinandersetzen, seien an dieser Stelle die folgenden hervorgehoben: Roger Lathuillère, La préciosité. Étude historique et linguistique. Bd. 1, Genève, Droz 1969; Alain Niderst, Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leur monde. Paris, Presses universitaires de France 1976; Zimmer, Die literarische Kritik am Preziösentum; Jean-Michel Pelous, Amour précieux, Amour galant (1654-1675). Essai sur la représentation de l’amour dans la littérature et la société mondaine. Paris, Klincksieck 1980; Renate Baader, Dames de lettres: Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und modernen Salons (1649-1698). Stuttgart, Metzler 1986; Alain Viala (Hg.), L’esthétique galante: Paul Pellisson, Discours sur les œuvres de Monsieur Sarasin et autres textes. Toulouse, Société de littératures classiques 1989; Linda Timmermans, L’accès des femmes à la culture (1598-1715). Un débat d’idées de Saint François de Sales à la Marquise de Lambert. Paris, H. Champion 1993; Chantal Morlet-Chantalat, La Clélie de Mademoiselle de Scudéry. De l’épopée à la gazette: un discours féminin de la gloire. Paris, H. Champion 1994; Alain Génetiot, Poétique du loisir mondain, de Voiture à La Fontaine. Paris, H. Champion 1997; Delphine Denis, La muse galante. Poétique de la conversation dans l’œuvre de Madeleine de Scudéry. Paris, H. Champion 1997; Myriam Maître, Les précieuses. Naissance des femmes de lettres en France au XVII e siècle. Paris, H. Champion 1999; Roger Duchêne, Les précieuses, ou comment l’esprit vint aux femmes, Paris, Fayard 2001. 100 Delphine Denis: „Classicisme, préciosité et galanterie“, in: Jean-Charles Darmon, Michel Delon (Hg.), Histoire de la France littéraire. Classicismes XVII e -XVIII e siècle. Paris, Presses universitaires de France 2006, S. 117-130. Mein Exkurs stützt sich über weite Strecken auf diese Synthese, in der sowohl der Forschungsstand konzis beschrieben als auch eine Vorstellung davon entwickelt wird, wie sich eine zukünftige Beschäftigung mit diesem Phänomen gestalten müsse, damit sie aktuellen Forschungsdesiderata gerecht wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 59 11.06.13 10: 10 <?page no="60"?> 60 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts C’est du même coup notre propre intérêt pour la littérature galante et ses mises en débat précieuses qu’il convient d’interroger: que nous la considérons comme l’une des étapes principales dans l’invention d’une littérature moderne ou l’envisagions dans sa radicale altérité, cette attention rejoint notre inquiétude à l’égard du fait littéraire, de sa définition, de ses valeurs. Comment lire, en définitive, telle est encore l’une des questions entraînées par la problématique du couple préciosité/ galanterie. 101 In diesem Zitat deutet sich bereits an, dass sich die genuin literarische Bedeutung der préciosité nur im Rückgriff auf den bereits im 17. Jahrhundert zur poetologischen Positionierung gebräuchlichen Begriff der galanterie näher bestimmen lässt. 102 Das Verhältnis zwischen galanterie und préciosité ist jedoch komplex, und es gilt bis heute als offene Frage, wie genau sich die Begriffe aufeinander beziehen lassen. Ihre anfängliche Überblendung wird in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch eine Phase abgelöst, in der man das Begriffspaar rigoros auseinanderdividierte. War es zuvor die Preziösen-Debatte, in deren Schatten die galanterie vergleichsweise wenig Beachtung fand, galt das Interesse nunmehr der esthétique galante, deren Konturierung - insbesondere in jenen Arbeiten, die auf dem Gebiet der honnêteté-Forschung angesiedelt sind - man jenseits der Preziösen-Debatte unternahm. Wurde das preziöse Zerrbild in den literarischen Texten in den Blick genommen, ließ es sich nur allzu leicht als ein der galanterie diametral entgegengesetztes Diskursphänomen entlarven, dem jegliche Referenzialität abzusprechen sei. Myriam Maître hat jedoch auf die Gefahr hingewiesen, die mit dieser Abkehr von den historisch identifizierbaren précieuses verbunden ist, 103 und auch Delphine Denis warnt davor, die question précieuse mit dem Hinweis auf ihr satirisches Potential ad acta zu legen. Denis zufolge hieße dies, sich einer Möglichkeit zu berauben, den galanten Diskurs selbst und seine Tendenz zu in sich ruhender Geschlossenheit zu problematisieren. Verstanden als genderspezifische Problematik lasse sich die préciosité als der ‚Stachel im Fleisch‘ der harmoniebetonten esthétique galante begreifen, denn durch sie stellt sich Weiblichkeit nicht nur als ein notwendiger Bestandteil 101 Denis, Classicisme, préciosité et galanterie, S. 126. 102 Zu den wichtigsten Arbeiten der rezenten Galanterie-Forschung im französischen Kontext zählen neben den Arbeiten Alain Vialas, der mit einer kommentierten Neuedition einschlägiger Schriften Paul Pellisons den Grundstein für eine literatursoziologisch informierte Auseinandersetzung mit der galanten Ästhetik gelegt hat (vgl. Viala, L’esthétique galante), die Arbeiten von Delphine Denis und Jörn Steigerwald. 103 „A ne s’intéresser qu’aux représentations littéraires des précieuses, comme le font W. Zimmer et J.-M. Pelous, on risque de manquer leur réalité historique, et de dresser le portrait de monstres.“ (Maître, Les précieuses, S. 55). Biblio17_204_s005-419End.indd 60 11.06.13 10: 10 <?page no="61"?> 61 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs des galanten Spiels dar, sondern wird zu einer Denkfigur, die quer zu den Spielregeln der galanterie steht. 104 Car la préciosité, indissolublement liée aux représentations du féminin, impose une radicale prise en compte de l’altérité sexuelle, qu’il s’agisse de l’actualisation nouvelle d’une longue guerre des sexes ou de la spécificité d’une posture féminine dans l’espace social et littéraire. 105 Nun ist es allerdings ein Unterschied, ob man sich mit den historischen Persönlichkeiten, die von ihren Zeitgenossen als précieuses bezeichnet wurden, beschäftigt, oder mit der préciosité als Denkfigur von Weiblichkeit. Obwohl beide Ansätze einander nicht ausschließen und verschiedene Schnittmengen ausbilden können, war es in der Vergangenheit vor allem die erstgenannte feminozentrische Herangehensweise, die eine zunehmende Verfestigung des Salonbegriffs nach sich zog. Die Listen der précieuses dienen bis heute der Identifikation von ‚Salons‘ im 17. Jahrhundert, 106 wodurch sie zu jener Schwerpunktbildung beitragen, die neben der Chambre bleue die préciosité als paradigmatischen Ort der Salongeschichtsschreibung beschreibbar macht. Anhand eines prominenten Beispiels soll dieses Vorgehen nun kurz erläutert werden. Wenn Magendie zu Beginn seines Kapitels über die explosionsartige Vermehrung der Salons Namen nennt, so zitiert er als Quelle seiner Darstellung ausschließlich den Dictionnaire des précieuses von Antoine Baudeau de Somaize. 107 Dabei geht er nach dem im Zusammenhang mit dem Paradigma 104 „Dans le sens positif qu’on lui connaît, celui de relations harmonieuses et policées entre hommes et femmes du monde, la galanterie résume un idéal trop irénique pour être accepté à la lettre. Une sociabilité rêvée sans tensions ni conflits, à tout le moins maîtrisant efficacement les risques de dérapage par l’enjouement ou la complaisance, telle serait la lecture idyllique à laquelle la ‚question précieuse‘ permet de résister.“ (Denis, Classicismes, préciosité et galanterie, S. 124). Auch Steigerwald geht von einer geschlechtsspezifischen Differenzierung der Konzepte préciosité und galanterie aus (vgl. Steigerwald, Galanterie, S. 88-90), deren parallele Verfasstheit im Hinblick auf eine nicht-diskursive Ethik er zu Recht betont, ohne dabei allerdings auf die Möglichkeit ihrer Verschränkung, die ihrerseits genderspezifische Implikationen hat, näher einzugehen. 105 Denis, Classicismes, préciosité et galanterie, S. 124. 106 Dabei geschieht genau das, was Myriam Maître in ihrer umfassenden Studie zu den Précieuses als das Risiko einer positivistischen Lesart dieser Quellen erkannt hat: „L’omniprésence des clefs dans les textes où il est question des précieuses rend délicat tout départ trop exclusif. […] A ne considérer que les textes où des femmes dûment identifiées sont nommées précieuses, on risque […] de manquer le sens et l’enjeu de la satire qui accompagna leur éclosion.“ (Maître, Les précieuses, S. 55). 107 Magendie, La politesse mondaine, S. 570. Biblio17_204_s005-419End.indd 61 11.06.13 10: 10 <?page no="62"?> 62 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts der Chambre bleue beschriebenen Muster vor: Die Verbindung eines weiblichen Namens mit einer konkreten Ortsangabe ergibt eine Konstellation, deren Salonspezifik nicht weiter hinterfragt wird. Der Dictionnaire des précieuses eignet sich in besonderem Maße für dieses akkumulative Verfahren, da der Text selbst bereits seine Wirkung aus der Juxtaposition von Namen und Orten bezieht. Es handelt sich um ein kurioses Werk, das seinen Erfolg der großen Vorliebe des Publikums für die symbolische Vermessung seiner sozialen Umwelt verdankt. 108 In einer Zeit, die sich für Madeleine de Scudérys Carte de Tendre und andere allegorischen Landkarten begeistert, nutzt Somaize die von Molière angestoßene Debatte um die ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Preziösen für seine als Lexikon getarnte Erkundung des Empire des précieuses. Sein Dictionnaire markiert den Schnittpunkt mehrerer literarischer Moden: Dem Bedürfnis nach ordnender Verräumlichung trägt er durch die Auflistung von Namen und Orten Rechnung, dem romanesken Geschmack durch die imaginäre Ausgestaltung dieser Räume, dem durch Molière ausgelösten Skandal durch das Versprechen, das preziöse Vokabular abzubilden, und nicht zuletzt bedient sich Somaize der seit den Scudéry-Romanen bewährten figuralen Verschlüsselungstechnik, die sich sowohl die Neugier des Publikums als auch seine Freude an der Wiedererkennung zunutze macht, je nachdem, ob sich der Leser und vor allem die Leserin innerhalb oder außerhalb des abgebildeten Territoriums befindet. Der Autor schreibt sich mit diesem Werk in eine literarische Praxis ein, die sich auch im Zusammenhang mit den sogenannten recueils galants - kollektive Sammelschriften mondäner Gelegenheitstexte, auf die noch zurückzukommen sein wird - beobachten lässt: Erlaubt ist, was gefällt. Um jedoch einen möglichst großen Radius dessen, was gefällt, abzudecken, greift man auf das Gestaltungsprinzip der diversité zurück, auch wenn die dadurch hervorgerufene Heterogenität eine sinnstiftende Interpretation des Werkes erschwert. So ist es auch im Fall des Dictionnaire des précieuses kaum noch möglich, eine eindeutige Aussage über die Textintention zu machen, geschweige denn darüber, ob der Autor selbst die historischen Persönlichkeiten, die er im Nebentext namentlich nennt, in polemischer oder in enkomiastischer Absicht als précieuses portraitiert. 108 Vgl. Jeffrey N. Peters, Mapping Discord. Allegorical Cartography in Early Modern French Writing. Newark, University of Delaware Press 2004; Delphine Denis, „Inventaires et repérages“, in: dies., Le parnasse galant. Institution d’une catégorie littéraire au XVII e siècle. Paris, H. Champion 2001, S. 21-56; Anne E. Duggan, „Lovers, Salon, and State: La Carte de Tendre and the Mapping of Socio-Political Relations“, in: Dalhousie French Studies 36, 1996, S. 15-22; Jean-Michel Pelous, „Introduction: Essai de géographie amoureuse pour les années 1654 et suivantes“, in: ders., Amour précieux, Amour galant (1654-1675). Essai sur la représentation de l’amour dans la littérature et la société mondaine. Paris, Klincksieck 1980, S. 13-34. Biblio17_204_s005-419End.indd 62 11.06.13 10: 10 <?page no="63"?> 63 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Vor diesem Hintergrund wird jedoch klar, dass es Somaize nicht um eine realistische, differenzierte Darstellung der verschiedenen Formen von Adelssoziabilität gehen kann, wenn er beispielsweise die Empfangspraxis der comtesse de Fiesque oder der duchesse de Longueville mit dem Begriff der ruelle bezeichnet, den er auch an Stellen verwendet, an denen er weitaus weniger prominente Namen in seiner Liste aufführt. Vielmehr steht zu vermuten, dass eine der Wirkungen, auf die dieser Text abzielt, gerade in der pauschalen Behandlung von Gesellschaftsformen besteht, deren Positionierung in einem fein abgestuften Rang- und Statussystem für die Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit war. 109 Die Begriffe ruelle oder alcôve dürfen mithin nicht automatisch als Ausdruck einer in sich geschlossenen, sozialen Realität interpretiert werden. Ihr Gebrauch dient vielmehr gerade dazu, die sozialen Räume, die in diesem Werk aufgerufen werden, im Bereich einer graduellen Fiktionalität anzusiedeln, deren Schattierungen heute nur noch schwer nachvollzogen werden können. Zu dieser Schwierigkeit beigetragen hat jedoch nicht zuletzt die Übersetzung des zeitgenössischen Vokabulars in einen vereinheitlichenden Salonbegriff, wodurch sich eine Pauschalisierung verstetigt hat, die zumindest bei Somaize wirkungsästhetische Gründe gehabt haben mag. Die undifferenzierte Terminologie der frühen Salonforschung ließe sich als der Preis betrachten, den es für eine Pionierleistung zu entrichten gilt, wenn sie in der Folge von einem reflektierten Umgang mit dem zeitgenössischen Vokabular abgelöst worden wäre. Dies ist jedoch leider nicht immer der Fall, und ausgerechnet eine Arbeit, die von einem fortschrittlichen Genderbewußtsein geprägt ist und heute als Standardwerk der Salonforschung rezipiert wird, hat dazu beigetragen, dass der ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts als eine Realität wahrgenommen wird, deren Formen und Funktionen als besonders gut dokumentiert gelten. Gemeint ist Carolyn Lougees kenntnisreiche und für damalige Verhältnisse noch unangepasste Studie Le Paradis des femmes aus dem Jahre 1976. 110 Lougee geht zu Recht von der sozialen Stratifikation aus, die sie über die im Dictionnaire des précieuses aufgeführten Namen rekonstruiert. Indem sie die sehr differenzierte Hierarchisierung nach Rang, Titel und Alter des Adels nachzeichnet, kommt sie zu dem Schluss, dass die Gesellschaft, deren Abbild sie in dem Dictionnaire von Somaize unter- 109 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones; die feinen Abstufungen des Rang- und Statussystems lassen sich den prosopographischen Anhängen entnehmen (vgl. S. 459-716, insbesondere S. 504-510, sowie auf der beigefügten CD-ROM insbesondere der Anhang mit dem Buchstaben I); zur Selbstbzw. Fremdwahrnehmung der adligen Protagonisten siehe insbesondere S. 54-74. 110 Carolyn Lougee, Le Paradis des femmes. Women, Salons and Social Stratification in the XVII th Century in France. Princeton University Press 1976. Biblio17_204_s005-419End.indd 63 11.06.13 10: 10 <?page no="64"?> 64 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts sucht, von unstandesgemäßen Eheschließungen geprägt sei, die den sozialen Aufstieg von immer mehr bürgerlich geborenen Frauen nach sich ziehe und sich langfristig zu einer Bedrohung für die Stabilität der Adelspyramide auswachsen könne. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Salonbegriff angesichts dieser Hypothese stellt, liegt weniger in der Antwort auf die Frage, ob diese weibliche Hypergamie von konservativen Kreisen tatsächlich als Bedrohung wahrgenommen wurde. 111 Vielmehr ist die Annahme problematisch, es ließe sich anhand der Quelle, mit der Lougee arbeitet, ein real existierender, einheitlicher Raum erschließen und es handle sich daher bei der höheren sozialen Durchlässigkeit um ein salonspezifisches Phänomen. So trägt die Studie gerade dadurch zu einem reduktiven Salonbegriff bei, dass sie eigentlich eine interessante Frage stellt, nämlich diejenige nach dem höchst unterschiedlichen Sozialprofil der Frauen und Familien, die in Somaizes Liste der Preziösen aufgeführt werden. Da es Lougee in letzter Konsequenz jedoch darum geht, den französischen Salon als einen weiblich geprägten machtpolitischen Gegenraum zu konstruieren, fällt sie hinter ihre eigene, die soziale Stratifikation als Ausgangspunkt nehmende Argumentation in dem Moment zurück, in dem sie von der biographisch-genealogischen auf die begrifflich-räumliche Ebene wechselt. Indem sie jede Erwähnung einer ruelle oder eines cercle konsequent und unterschiedslos mit dem Ausdruck salon ins Englische übersetzt, entsteht das paradoxe Bild von einer gerade in ihrer sozialen Durchmischung homogenen Salonkultur des 17. Jahrhundert. Die Frage, ob sich die Rangunterschiede, die das divergierende Sozialprofil der précieuses erkennen lässt, auch in verschiedenen Formen der sociabilité niederschlagen, stellt sich hier gar nicht erst. Die Folgen dieser begrifflichen Vereinheitlichung sind jedoch insofern gravierend, als gerade der sozialhistorische Ansatz Lougees den Eindruck vermittelt, sie habe die rangspezifischen Abstufungen der gesellschaftlichen Räume, in denen sich die von ihr tatsächlich in den Blick genommenen Personen bewegen, genau untersucht. Die amerikanische Studie zeigt, wie die Rezeption der frühen Salonforschung bzw. die unreflektierte Übernahme ihres Salonbegriffs zu verzerrten Ergebnissen führen kann, obwohl die genderspezifische Fragestellung und die sozialhistorische Herangehensweise an den Gegenstand vielversprechend sind. Tatsächlich lassen sich die ‚Räume‘, um die es hier geht, nicht unabhängig von den ‚Personen‘, durch die sie konstituiert werden, untersuchen, und das Problem der Textgrundlage, auf der man sich diesen Konstellationen 111 Zur Bedeutung und Wahrnehmung der weiblichen Hypergamie (Eheschließung statusniedrigerer, auch adliger Frauen mit statushöheren Männern) im 17. Jahrhundert siehe Emmanuel Leroy Ladurie, avec la coll. de Jean-François Fitou, Saint-Simon ou le systeme de la cour. Paris, Fayard 1997, S. 237-294. Biblio17_204_s005-419End.indd 64 11.06.13 10: 10 <?page no="65"?> 65 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs annähern kann, ist nach wie vor virulent. Dies umso mehr, als die französische Salonkultur noch immer als eine Art ‚Staffettenlauf‘ imaginiert wird, in dem das Vermächtnis der Marquise de Rambouillet von Generation zu Generation weitergegeben worden sei. 112 Die Frage, was dieses Vermächtnis genau ist und auf welcher medialen Grundlage es überliefert wird, gerät in diesen Darstellungen nicht in den Blick, wie das folgende Kapitel exemplarisch zeigen soll, das zugleich als Zusammenfassung der bislang skizzierten Entwicklungen gelesen werden kann und die wesentlichen Merkmale des sich seit Sainte-Beuve verdichtenden Salonbegriffs noch einmal sichtbar werden lässt. 1.3 Roger Picard und die salons littéraires des 17. und 18. Jahrhunderts Die Studie von Roger Picard aus dem Jahre 1943 ist eine epochenübergreifende Darstellung, die das mondän-literarische Feld des Ancien Régime als eine Abfolge ineinandergreifender Salons beschreibt. Picard übernimmt seine (implizite) Definition des Salons, den er als weiblichen Gegenraum und Ort der Konversation imaginiert, direkt von Sainte-Beuve, auf dessen Causeries du Lundi er explizit hinweist. 113 Als Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler, der sich aus dem amerikanischen Exil an ein französisches Publikum wendet, fühlt er sich außerdem verpflichtet, sein Interesse an der Salonkultur seines Landes zu rechtfertigen: Les salons littéraires… sujet frivole et hors de saison, diront peut-être quelques esprits chagrins ou superficiels. Ils auront tort. Les salons littéraires ont été, du XVII e siècle jusqu’à nos jours, l’une des réalités composantes de la société française; ils ont été pour la formation du goût littéraire et des idées morales de la France, pour le développement et la diffusion de sa culture l’un des instruments les plus efficaces en même temps que les plus souples. 114 Die Rückbesinnung auf die Salonkultur als Instrument der französischen Kulturhegemonie sei angesichts der aktuellen politischen Lage - Picard verfasst dieses Vorwort im Jahre 1942 - von besonderer Bedeutung. Der Autor schreibt in Erwartung einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung. Sein Werk ist als Aufruf zu verstehen, sich auf jene ethischen und ästhetischen Werte zu besinnen, die das spirituelle Fundament des nationalen Gebäudes bildeten 112 Vgl. Seibert, Aspekte der europäischen Geschichte des Salons von der Renaissance bis zur Aufklärung. 113 Roger Picard, Les salons littéraires et la société française, 1610-1789. New York, Brentano’s 1943, S. 15. 114 Picard, Les salons littéraires, S. 11. Biblio17_204_s005-419End.indd 65 11.06.13 10: 10 <?page no="66"?> 66 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts und deren Wiederbelebung insbesondere von den Salons seiner eigenen Zeit ausgehen werde: C’est là que l’élite de toutes les classes et familles de la nation française reprendront contact. C’est là, des souffrances éprouvées en commun, […] que la société française cultivée refera sa philosophie de l’action, ses règles de vie spirituelle. 115 Die zwei Spielarten des ‚Gegenraumes‘, als der sich der frühneuzeitliche Salon in seinen Augen darstellt, müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden: Als weiblicher Gegenraum - „Les femmes ont joué un grand rôle dans les salons littéraires et cela est si vrai que c’est presque toujours par le nom d’une femme […] que l’on désigne un salon littéraire […].“ 116 - erhält der Salon einen konsolatorischen Charakter, der es erlaubt, Frankreich auf der Grundlage seiner altadligen und großbürgerlichen Familien jenseits aller Klassenkämpfe mit sich selbst zu versöhnen. Als Gedächtnisort der nationalen Versöhnung erscheint der Salon des 17. und 18. Jahrhunderts aber auch in seiner Funktion als Gegenraum der Konversation: La conversation y devint un art véritable, grâce auquel les opinions les plus variées, les plus hardies aussi, purent s’exprimer sans choquer, […] où de véritables règles du bien penser et du bien dire se formulèrent et établirent leur empire sur les esprits cultivés. 117 Im Rückgriff auf die zwei Komponenten ‚Weiblichkeit‘ und ‚Konversation‘, die von Beginn an den Salonbegriff strukturieren, spiegelt sich hier also eine spezifische Sprechsituation, die mit derjenigen Sainte-Beuves zwar nicht identisch, aber durchaus kompatibel ist. Picard hat ein deutliches Interesse daran, den französischen Salon des 17. und 18. Jahrhunderts als Versuchsanordnung zu konstruieren, in der seine Leser „[c]ette œuvre de reconstitution nationale“ 118 wiedererkennen sollen, jene gesellschaftliche Erneuerung, die er am Horizont der eigenen Geschichte erblickt und zu der er selbst seinen Beitrag leisten will. Der erste Teil der Studie ist dem 17. Jahrhundert gewidmet. Die skizzierten Paradigmen der frühen Salonforschung finden sich darin wieder: Vier der insgesamt acht Kapitel sind der Chambre bleue und der préciosité vorbehalten. Die Beschreibung der Marquise de Rambouillet und ihrer Gesellschaft bezieht Picard überwiegend von Magne, bei der Beschreibung der préciosité orientiert er sich an Magendie, der um ein ausgewogenes Urteil über dieses Phänomen 115 Picard, Les salons littéraires, S. 14. 116 Picard, Les salons littéraires, S. 12. 117 Picard, Les salons littéraires, S. 13. 118 Picard, Les salons littéraires, S. 14. Biblio17_204_s005-419End.indd 66 11.06.13 10: 10 <?page no="67"?> 67 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs bemüht ist. Auch Picard unterscheidet zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚schlechten‘ preziösen Verhalten, das in den Salons, die in der Nachfolge der Chambre bleue entstehen, zu beobachten sei: Après Rambouillet, deux groupes de salons apparaissent: dans l’un, on conserve les traditions de bon goût, de bon ton, de bonnes mœurs; dans l’autre […] le mauvais goût et l’afféterie s’introduisent. Les premiers de ces salons vont parfois jusqu’au raffinement le plus précieux, les autres seuls tombent dans la préciosité ridicule […]. 119 Besonders auffällig und für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung ist jedoch die Hervorhebung eines einzelnen ‚preziösen‘ Salons, nämlich desjenigen der Madeleine de Scudéry. Ihrer Gesellschaft widmet Picard ein ganzes Kapitel, in dem er sich in seiner Beurteilung an Reynier anlehnt. Dieser zeichnete in La femme au XVII e siècle ein für seine Zeit durchaus ausgewogenes Portrait der Madeleine de Scudéry und ihres Kreises, den er auf der Skala der préciosité zwischen dem aristokratischen Salon der Marquise de Rambouillet und ihren rein bürgerlichen Nachahmerinnen plazierte. 120 Ähnlich verfährt Picard, wobei er das Attribut ‚bürgerlich‘ durch das Attribut ‚littéraire‘ ersetzt: Le salon de Mlle de Scudéry était moins aristocratique et plus littéraire que celui de Mme de Rambouillet. Il y avait, chez la romancière, une société moins brillante que chez la marquise et par suite moins de gaieté spontanée, moins d’aisance dans les manières, avec quelque chose d’un peu plus guindé dans l’accueil fait aux hôtes et dans le ton des conversations. […] On ne saurait y voir, à proprement parler, un cénacle ‚précieux‘, mais il est certain qu’il y régnait un esprit ‚gendelettre‘ […]. Les samedis de Mlle de Scudéry se tenaient au Marais, dans l’appartement modeste de la rue de Beauce. 121 Dass Picard den ‚Salon‘ im Marais-Viertel gegenüber den anderen ruelles, die bei Somaize erwähnt werden, hervorhebt, hat seinen Grund: Der Kreis um Madeleine de Scudéry wird in verschiedenen Quellen nicht nur erwähnt, 119 Picard, Les salons littéraires, S. 63. 120 „Dans l’appartement assez modeste qu’occupe Mlle de Scudéry dans la rue de Beauce, au Marais, on retrouve encore quelques amis de la marquise de Rambouillet […]; mais c’est l’élément bourgeois qui y domine […]. Ce sont tous de fort honnêtes gens, qui ont des goûts sérieux et ne manquent pas de délicatesse. […] Le défaut de la maison est que tout y est trop réglementé; on choisit d’avance des sujets de conversation, on s’applique, on s’ingénie à trouver des choses fines et quand on les a trouvées, on y insiste trop longtemps: on est déjà assez loin de la distinction aisée qui régnait dans la ‚Chambre bleue‘.“ (Reynier, La femme au XVII e siècle, S. 76-77). 121 Picard, Les salons littéraires, S. 77. Biblio17_204_s005-419End.indd 67 11.06.13 10: 10 <?page no="68"?> 68 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts sondern in einem mit der Repräsentation des Hôtel de Rambouillet vergleichbaren Ausmaße regelrecht gefeiert. Eine Mehrheit der Gelegenheitstexte, die in den Recueils Conrart versammelt sind, lassen sich entweder dem Imaginarium der Chambre bleue oder demjenigen des Samedi zuschlagen, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Conrart ein regelmäßiger Besucher beider ‚Salons‘ gewesen ist. So unterschiedlich die beiden Formen der sociabilité in letzter Konsequenz sein mögen - und im Folgenden wird es nicht zuletzt um diese Unterschiede gehen -, so auffällig ist die Strukturanalogie zwischen den beiden Räumen, die in den Quellen über die ästhetische Figuration Gestalt annehmen. Dieser Befund, von dem an anderer Stelle noch ausführlicher die Rede sein wird, 122 spiegelt sich im Aufbau von Picards Werk wider, ohne dabei allerdings jemals thematisiert zu werden. Dies liegt einerseits an der unkritischen Rezeption der frühen Salonforschung, andererseits jedoch auch an der teleologischen Ausrichtung seiner Arbeit, in der es darum geht, die Entwicklung der französischen Salonkultur als eine aufsteigende Linie zu präsentieren, die von der ersten Hälfte des 17. über das gesamte 18. Jahrhundert nachvollzogen wird und deren vorläufigen Endpunkt die krisengeschüttelte Gegenwart des Autors markiert. Mit Madeleine de Scudéry tritt die Figur der dame de lettres auf den Plan, die sich zu derjenigen des homme de lettres gesellt, die titelgebende Bezeichung salon littéraire rechtfertigt und die Literatur wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Diese Akzentuierung setzt sich fort, wenn sich Picard zwei weiteren Formen des Salons annimmt und in den zwei abschließenden Kapiteln seiner Übersicht über das 17. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen salons moralistes und salons libertins einführt. Die erste Konstellation ergibt sich dabei aus der privilegierten Beziehung zwischen Madame de Sablé und La Rochefoucauld, die zweite aus der Freundschaft zwischen Ninon de Lenclos und Saint-Évremont. Es geht Picard sichtlich darum, biographische Artikulationspunkte zwischen dem ‚spielerischen‘ 17. und dem ‚philosophischen‘ 18. Jahrhundert zu markieren, denn einen weiteren Brückenschlag von einem Jahrhundert zum anderen stellt für ihn die Person Voltaires dar. Unter Verweis auf die persönliche Beziehung zwischen Ninon de Lenclos und dem jungen François-Marie Arouet, beendet Picard den ersten Teil seiner Studie mit dem Satz: Ainsi dans le salon de Mlle de Lenclos, dont le succès couronne celui des salons littéraires du XVII e siècle, apparaissait déjà le siècle nouveau dans la personne de celui qui devait en être l’un des plus illustres représentants. 123 122 Vgl. Teil III und IV der vorliegenden Untersuchung. 123 Picard, Les salons littéraires, S. 132. Biblio17_204_s005-419End.indd 68 11.06.13 10: 10 <?page no="69"?> 69 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs Diese teleologische Ausrichtung prägt nicht allein den Zugriff Picards auf das Phänomen ‚Salon‘, doch in seiner dichten, zwei Jahrhunderte umfassenden Darstellung wird er besonders deutlich: De la mort du roi Henri (1610) à celle du Roi Soleil (1715), les salons littéraires, dont le premier fut celui de Mme de Rambouillet, se multiplièrent sans relâche. […] De simples réunions de gens cultivés, n’ayant d’autre objet que de se voir, de se divertir à leur commune conversation et de créer une atmosphère de bon aloi, ils s’étaient insensiblement transformés en véritables petites académies littéraires, où les auteurs venaient essayer leurs créations et d’où partaient des jugements critiques sur les ouvrages de l’esprit. 124 Dieses Zitat veranschaulicht noch einmal ex negativo die Fragen, die der traditionelle Salonbegriff und die ihn generierende Historiographie insgesamt aufwerfen (und die in diesem Zitat gerade nicht gestellt werden): Worauf stützt sich die Annahme, dass sich die Salons im Anschluss an die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet stetig vervielfältigen? Um welche Formen der sociabilité handelt es sich jeweils? Welche Quellen können zum Beleg der Behauptung herangezogen werden, dass es sich bei den ersten Salons noch um gesellige Zusammenkünfte handelte, deren einziges Ziel darin bestand, gepflegte Konversation im Kreise von Freunden und Bekannten zu treiben, während man später von „véritables petites académies littéraires“ sprechen kann? 125 Und wie werden diese Quellen gelesen? Es war das Ziel dieses einleitenden Kapitels, die Probleme, die mit diesen Fragen einhergehen, zu benennen: Die frühe Salonforschung arbeitet mit einem Salonbegriff, der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Konstellation von Raum und Gesellschaft im nostalgischen Rückblick konstruiert wird und sich an zeitgenössischen Formen der sociabilité orientiert. Der Vorstellung einer im Verlauf des 17. Jahrhunderts erblühenden Salonkultur liegt die Verbindung eines konkreten Ortes, einer weiblichen Gastgeberfigur und einer Gruppe von hommes de lettres zu Grunde. Es wird jedoch nicht präzisiert, worin die Salonspezifik dieser Verbindung im Unterschied zu der in Adelskreisen üblichen Empfangspraxis besteht. Dem Hôtel de Rambouillet schreiben diese Arbeiten eine Vorbildfunktion zu, wobei sie sich nicht zufällig auf Quellen stützen, in denen das Narrativ, auf dem das Paradigma der Chambre bleue beruht, bereits angelegt ist. Dabei werden die performativen Eigenschaften zeitgenössischer Darstellungen nicht in den Blick genommen. Stattdessen 124 Picard, Les salons littéraires, S. 101. 125 Den Zusammenhang von ‚Salon‘ und ‚Akademie‘ systematisch zu untersuchen, ist ein weiteres Desiderat der Forschung zum 17. Jahrhundert (vgl. Viala, La naissance de l’écrivain, S. 134). Biblio17_204_s005-419End.indd 69 11.06.13 10: 10 <?page no="70"?> 70 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts verknüpft man unausgesprochen die narrativen Fäden dieser Quellen zu einer engmaschigen Erzählung, die den Eindruck vermittelt, die soziale Praxis sowie die gesellschaftliche Zusammensetzung der Chambre bleue oder der preziösen ruelles sei gut dokumentiert. Angesichts der suggestiven Schreibweise eines Tallemant oder eines Somaize und der strategischen Bedeutung ihrer Texte bleibt jedoch festzuhalten, dass eine eindeutige Aussage darüber, wer genau zu welchem Zeitpunkt welche Rolle in welchem ‚Salon‘ gespielt hat, letztlich nicht möglich ist. Diese Erkenntnis ist für die methodologischen Voraussetzungen der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeutung, macht sie doch die aporetische Struktur der frühen französischen Salongeschichtsschreibung sichtbar: Die Chambre bleue erscheint als ein Paradigma der Salonkultur, dessen paradigmatische Qualität nicht nur unhinterfragt, sondern auf der Grundlage von Quellen konstruiert ist, die die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet gerade als Ausnahmeerscheinung präsentieren. Zugleich wird die preziöse Topographie, für deren Beschreibung den Zeitgenossen neben dem flexibel handhabbaren Begriff des monde eine Vielzahl von Ausdrücken zur Verfügung stehen, zu einem homogenen Raum der mondänen sociabilité stilisiert. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum dem Salonbegriff mit Vorsicht zu begegnen ist, sobald er auf das 17. Jahrhundert projiziert wird. Umso erstaunlicher erscheint auf den ersten Blick die Tatsache, dass bislang keine einzige Monographie vorliegt, die sich unter diesen Vorzeichen explizit mit den ‚Salonkulturen‘ des 17. Jahrhunderts auseinandersetzt, 126 und dass die einzige Studie, die sich mit dem Salon des 18. Jahrhunderts beschäftigt und diesen prekären begrifflichen Status einkalkuliert, erst im Jahre 2005 erschienen ist. 127 Auf den zweiten Blick ist dieser Befund jedoch symptomatisch für einen konsensuellen Umgang mit dem Salonbegriff, der für das französische patrimoine eine mindestens ebenso bedeutende Rolle spielt wie die kulinarischen Gedächtnisorte, auch wenn der explizite Eintrag ‚Salon‘ in den Lieux de mémoire von Pierre Nora fehlt. 128 126 Das Forschungsdesiderat, das Nicolas Schapira ausdrücklich benennt, besteht bis heute (vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 225-227). Die Arbeit von Faith Beasley, anders als es der Titel Salons, History, and the Creation of 17 th -Century France erwarten lässt, problematisiert den Salonbegriff nicht. 127 Lilti, Le monde des salons. 128 Faith Beasley hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Artikel ‚conversation‘ in den Lieux de mémoire, der den Gegenstand ‚Salon‘ aufgreift, in direkter Nachbarschaft zu den kulinarischen Gedächtnisorten angesiedelt ist (vgl. Beasley, Salons, History, and the Creation of 17th-Century France, S. 302f.). Biblio17_204_s005-419End.indd 70 11.06.13 10: 10 <?page no="71"?> 71 Ein narrativer Grundriss: Zur Entstehung des Salonbegriffs In den Geisteswissenschaften mag die Zeit des anekdotischen Erzählens, wie sie die französische Salongeschichtsschreibung bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts praktizierte, vorüber sein, und damit zugleich diejenige der aufgrund ihres kompilierenden Charakters eindeutig als ‚Salongeschichten‘ zu identifizierenden Werke. Seit Ende der achtziger Jahre bildet der Salon jedoch den Horizont vor allem ideengeschichtlicher Arbeiten, die ihn als den konkreten Ort und architektonischen Rahmen jenen symbolischen Räumen gegenüberstellen, mit denen sie sich hauptsächlich beschäftigen. So schreibt beispielsweise Emmanuel Bury, dessen Studie über honnêteté und politesse an die Arbeiten Magendies anschließt, 129 über die „Espaces de la République des Lettres“: Étudier un tel domaine revient à nous situer aux confins d’un espace réel - les cabinets savants, les académies, les salons mondains - et d’un espace symbolique - le lieu d’échange que constituent les correspondances, le genre littéraire du dialogue, les souvenirs contenus dans les mémoires et dans les ana; les ‚lieux‘ de la communication lettrée ressortissent donc à la fois d’une enquête socio-historique sur les espaces concrets et d’un questionnement rhétorique sur les textes qui mettent en scène ces espaces. 130 Burys klare Trennung zwischen dem realen, konkreten und dem symbolischen Raum lässt keinen Zweifel aufkommen, welcher Seite der Salon zuzuordnen ist. Im Unterschied zu der Studierstube des Gelehrten ist der Salonbegriff jedoch aus einer semantischen Verschiebung hervorgegangen, im Verlauf derer - wie zu zeigen war - die Bezeichnung für ein architektonisches auf ein soziales Phänomen übergeht. 131 Vor diesem Hintergrund ist die Zugehörigkeit des Salonbegriffs zu einer der beiden Seiten fragwürdig, wenn sie nicht sogar die Grenzen zwischen dem ‚konkreten‘ und dem ‚symbolischen‘ Raum insgesamt verschwimmen lässt. Zumindest wirft diese Zuordnung jedoch die Frage auf, was im Zusammenhang mit dem Salon des 17. Jahrhunderts unter einem ‚konkreten‘ Raum zu verstehen ist. Dieser Frage ist das folgende Kapitel gewidmet. 129 Emmanuel Bury, Littérature & politesse. L’invention de l’honnête homme 1580-1715. Paris, Presses universitaires de France 1996. 130 Emmanuel Bury, „Espaces de la République des Lettres: des cabinets savants aux salons mondains“, in: Jean-Charles Darmon, Michel Delon (Hg.), Histoire de la France littéraire. Classicismes XVII e -XVIII e siècle, Paris, Presses universitaires françaises 2006, S. 88-116, S. 88. 131 Diese Differenz ist gegenüber der Akademie bereits weniger ausgeprägt. Allerdings handelt es sich auch hier um einen endogenen Begriff, über dessen Verwendung die Quellen direkt Aufschluss geben. Biblio17_204_s005-419End.indd 71 11.06.13 10: 10 <?page no="72"?> 72 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts 2 Ein ‚konkreter‘ Raum? Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung Wenn Sainte-Beuve über Madame Geoffrin sagt, sie habe es verstanden, einen Salon zu ‚erschaffen‘, während andere glaubten, es genüge, ihn zu ‚füllen‘, so nutzt er die doppelte Wortbedeutung des Ausdrucks ‚Salon‘ für ein Wortspiel, das aus heutiger Perspektive überraschend modern anmutet: Entlarvt es doch (scheinbar) den sogenannten „Containerraum“ als eine bequeme Fiktion, die es durch eine relationale Vorstellung zu ersetzen gilt. 132 Obwohl die erkenntnistheoretische Debatte um den Raumbegriff auf das späte 17. Jahrhundert zurückgeht, wie Ernst Cassirer 1931 in seinem grundlegenden Aufsatz „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ gezeigt hat, 133 ist nicht anzunehmen, dass Sainte-Beuve hier, auf Leibniz anspielend, Newtons Vorstellung von einem absoluten Raum kritisiert. Vielmehr macht er sich den metonymischen Prozess zunutze, in dessen Verlauf der Name des Ortes, an dem man in großbürgerlichen Häusern bis auf den heutigen Tag Gäste empfängt, auf diese spezifische Raumfunktion überging. Die hier hervorzuhebende Wirkung seiner Formulierung wird hingegen dadurch erzielt, dass der Ausdruck ‚Salon‘ durch die semantische Verschiebung nicht mehr ein substanzielles, sondern ein relationales Phänomen bezeichnet. Es läge also durchaus nahe, an Leibniz’ Definition des Raumes als eine „Möglichkeit des Beisammen“ anzuknüpfen. 134 Wie genau sich dieser durch den naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel Anfang des 20. Jahrhunderts bestätigte Ordnungs- und Relationsbegriff zu der hier gemeinten sozialen Relationalität verhält, ist eine Frage, deren erkenntnistheoretischen Implikationen nicht weiter nachgegangen werden kann. 135 Denkt man jedoch die 132 Den Ausdruck „Containerraum“ übernehme ich ebenso wie den Ausdruck „Gefäßfiktion“ von Michaela Ott, „Raum“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart, Metzler 2003, S. 113-149, S. 114. 133 In: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933. Hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg, Meiner 1985, S. 93-119, S. 96. 134 Zitiert nach Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 99. 135 Diese sprachliche „Raumfalle“ stellt sich den Sozial- und Geisteswissenschaften, wenn sie ihren spatial turn direkt auf den naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückführen, der Leibniz’ Kritik an der „Gefäßfiktion“ des absoluten Raumes bestätigt (vgl. Roland Lippuner, Julia Lossau, „In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften“, in: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich [Hg.], Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Bielefeld, Transkript 2004, S. 47-64). Allerdings scheint es mir eine offene Frage zu sein, wie genau sich die Raumbegriffe der Sozial- und Geisteswissenschaften zu den naturwissenschaftlichen Entwicklungen auf diesem Gebiet verhalten. Unzwei- Biblio17_204_s005-419End.indd 72 11.06.13 10: 10 <?page no="73"?> 73 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung von Sainte-Beuve ins Spiel gebrachte Metonymie zu Ende, so wäre es nur konsequent, das von Einstein kritisierte „Schachteldenken“ im Hinblick auf den Salonbegriff zu Gunsten des sozialen Interaktionsraums aufzugeben, der durch das Ereignis generiert und nicht mehr dadurch definiert wird, dass ihn vier, oder genau genommen sechs Wände umgeben. 136 Im Hinblick auf das 17. Jahrhundert ließe sich diese, nunmehr nicht mehr nur rhetorisch fundierte Konsequenz besonders nachdrücklich einfordern, wenn man bedenkt, dass die Raumfunktion des zu jener Zeit als salon bezeichneten Ortes nicht mit derjenigen identisch war, die die semantische Verschiebung erst als eine ursprünglich metonymische Figur ausweist. Den Salon zugleich als sozialen und als geometrischen Raum zu denken, läuft nämlich darauf hinaus, den Ereignischarakter, der bereits dem relationalen Raumbegriff Leibniz’ zu Grunde liegt, dem relativen Raum im Sinne Newtons nachzuordnen. Oder um es mit den Worten Sainte-Beuves zu sagen: Es hieße zu glauben, dass ein Salon ‚gefüllt‘ werden muss, damit man ihn ‚erschaffen‘ kann. Diese Herangehensweise an den Gegenstand ist kein abstraktes Gedankenexperiment, sondern lässt sich immer dann beobachten, wenn die Verwendung des modernen Salonbegriffs nicht mit einer begriffshistorischen Reflexion einhergeht. In diesen Fällen wird der Salon wieder auf seine ältere Wortbedeutung, d.h. auf die vier Wände reduziert, in denen ein soziales Ereignis - beispielsweise die Konversation - stattfindet. Zugleich wird jedoch die flächendeckende Verbreitung des sozialen Phänomens, das der Salonbegriff erst durch die semantische Verschiebung im 19. Jahrhundert bezeichnet, stillschweigend vorausgesetzt. Konsequenterweise müsste man jedoch nicht mehr nach den konkreten vier Wänden fragen („chez la marquise de ….“), wenn man auf die ‚realen‘ Räume der Salons rekurriert, sondern nach konkreten Manifestationen sozialer Praktiken. Wie verhalten sich diese Praktiken felhaft besteht eine Diskrepanz zwischen dem Raum der nicht-euklidischen Geometrie und unserem räumlich organisierten Vorstellungsvermögen. Ebensowenig wie wir nicht nicht kommunizieren können, ist es uns möglich, nicht räumlich zu denken. Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass der naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel eine Vervielfältigung der Raumvorstellungen angestoßen hat, die sich auch als „interdisziplinäre Raummultiplikation beschreiben lässt“ (Ott, Raum, S. 134). Gerade die Interdisziplinarität der Raumbegriffe erzeugt jedoch sprachliche Überblendungen, die im besten Falle als Strukturanalogien fruchtbar gemacht werden können, sich in weniger günstigen Konstellationen jedoch als „Raumfallen“ erweisen. Im Folgenden ist daher, so nicht anders vermerkt, immer die soziale Relationalität gemeint, wenn von verschiedenen Formen des „Relationalen“ die Rede ist. 136 Zu Einsteins Kritik vgl. sein Vorwort in: Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960 [erstmals 1954], S. XI-XV. Biblio17_204_s005-419End.indd 73 11.06.13 10: 10 <?page no="74"?> 74 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts zu den Quellen, auf die Bury verweist, wenn er von ‚symbolischen‘ Räumen spricht, die durch die Dialoge, Briefe und Memoiren der Zeitgenossen generiert werden? 137 Diese Frage wurde bislang so gut wie nicht gestellt. Solange die Quellen jedoch nicht als Teil jener Praktiken gelesen werden, über die sie zu informieren scheinen, verleiten sie dazu, die in ihnen thematisierten Empfangsräume unter der Bezeichnung ‚Salon‘ zu subsumieren, der dadurch als ein übergeordneter „Containerraum“ imaginiert wird. Erst wenn die Quellen nicht mehr nur in ihrer Referenzialität zur Kenntnis genommen werden, wie dies in der frühen Salongeschichtsschreibung überwiegend der Fall war, lässt sich die Ereignishaftigkeit des sozialen Raumes konkretisieren. In der jüngeren Forschung lassen sich zwei ineinandergreifende Tendenzen beobachten: Zum einen wird der Salon in den seltesten Fällen selbst zum Gegenstand einer Untersuchung erklärt, so dass man kaum von einer aktuellen Salonforschung oder -geschichtsschreibung sprechen kann. Zugleich wird der Salonbegriff jedoch zur Kontextualisierung verwendet, wobei wiederum die Raumvorstellung, die mit der Begriffsgeschichte einhergeht, nur in Ausnahmefällen problematisiert wird. Zwar liegen diesen Arbeiten häufig Raumvorstellungen zu Grunde, die durchaus an komplexe Raumtheorien anknüpfen; sie stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den eher bodenständigen Konzepten der Salongeschichtsschreibung, auf die wiederum der verwendete Salonbegriff zurückgeht. Im Folgenden soll dies anhand ausgewählter Arbeiten illustriert werden. Dabei geht es weder darum, einen ‚richtigen‘ von einem ‚falschen‘ Salonbegriff abzugrenzen, noch darum, einen unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten konsistenten Salonbegriff zu entwickeln. Gegenstand dieses Kapitels ist weniger die Kritik an dem fortgeführten Salonbegriff, dessen Inkonsistenzen meiner Ansicht nach nicht ausgeräumt werden können, als vielmehr die Konsequenz, die man aus seiner historischen Gewachsenheit im Hinblick auf die Frage nach den ‚konkreten‘ Räumen der Literatur ziehen müsste. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen zunächst zwei Ansätze, die man auch als Heterotopologien im Sinne Foucaults beschreiben könnte: 138 Sowohl in der Konversationsforschung als 137 Vgl. die zuvor zitierte Passage aus Bury, Espaces de la République des Lettres, S. 88. 138 Der Begriff der Heterotopie, den Foucault an einer an sich marginalen Stelle seines Gesamtwerkes einführt (Michel Foucault, „Des espaces autres“, in: ders., Dits et Ecrits. Bd. 4, Paris, Gallimard 1994, S. 752-762), erfährt im Rahmen der Proklamation des spatial turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine stürmische Rezeption (vgl. Jörg Dünne, „Soziale Räume. Einleitung“, in: Jörg Dünne, Stephan Güntzel [Hg.], Raumtheorie. Frankfurt a.M., Suhrkamp 2006, S. 289-303, S. 292). Heterotopien bezeichnen im Unterschied zu den Utopien reale Räume einer Kultur, die zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehören und sich daher durchaus lokalisieren lassen, auch wenn sie außerhalb der institutionalisierten Orte liegen, Biblio17_204_s005-419End.indd 74 11.06.13 10: 10 <?page no="75"?> 75 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung auch in der literaturwissenschaftlichen Gender Forschung wird der Salon des 17. Jahrhunderts als gesellschaftlicher ‚Gegenraum‘ imaginiert. Im Anschluss daran werden drei Ansätze vorgestellt, die im Gegensatz dazu soziale Gruppen und ihre Interaktionen fokussieren. Hier werden Konstellationen in den Blick genommen, die sich durch das Ineinandergreifen von literarischen und sozialen Praktiken auszeichnen. Diese Herangehensweise, d.h. die Konzentration auf konkrete Praktiken, ermöglicht zwar die Untersuchung eines spezifischen sozialen Interaktionsraumes, doch stellt sich hier wiederum die Frage nach dem semantischen Mehrwert des Salonbegriffs. 2.1 Der Gegenraum der Konversation Verstanden als zentrales Paradigma der französischen Literatur und Kultur des Ancien Régime, erfährt die Forschung zum Begriff der Konversation seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sowohl in Europa als auch in den USA einen signifikanten Aufschwung. 139 Literaturwissenschaftliche Ansätze wie die Untersuchung der Rhétorique de la conversation von Christoph Strosetzki 140 sind hier ebenso vertreten wie die kulturwissenschaftlichen Arbeiten von Peter Burke 141 . In dieser Konjunktur spiegelt sich auch eine generelle Hinwendung zu kommunikationstheoretischen Fragestellungen, wie sie in Frankreich insbesondere mit den Arbeiten Roland Barthes’ verbunden sind, der Mitte der sechziger Jahre die Zeitschrift Communications mitbegründet. Eine Sondernummer aus dem Jahre 1979 ist bezeichnenderweise der Konversation gewidmet. 142 Ihrer Verortung im Lager der nouvelle critique setzt wiederum Marc Fumaroli einen Konversationsbegriff entgegen, den er von der modernen Kommunikation abgrenzt. 143 die sie zugleich repräsentieren, in Frage stellen und in ihr Gegenteil verkehren. Als Beispiele für derartige ‚Gegenräume‘ nennt Foucault Orte wie den Friedhof, das Theater oder das Schiff. 139 Für eine ausführlichere Bibliographie siehe Benedetta Craveri, L’âge de la conversation. Traduit de l’italien par Éliane Deschamps-Pria, Paris, Gallimard 2002, S. 442. 140 Rhétorique de la conversation. Sa dimension littéraire et linguistique dans la société française du XVII e siècle. Paris, Seattle, Tübingen, P.F.S.C.L. Biblio 17 1987. 141 The Art of conversation. Cambridge, Polity Press 1993. 142 La conversation, numéro spécial de Communication, présentation de Roland Barthes et Frédéric Berthet, Paris, Editions du Seuil, 30, 1979. 143 So dient ihm beispielsweise der Textbegriff Roland Barthes’ zur Abgrenzung gegenüber seinem häufig über eine Musikmetaphorik evozierten Konversationsbegriff: „Ces artistes de l’oral ne parlent pas comme des livres, mais ils ont beaucoup lu, avec leur oreille, et c’est dans cette résonance sociale et musicale qu’ils jugent des livres. […] Le plaisir de l’écoute, dans une société de gourmets de la parole, prime pour eux sur le ‚plaisir du texte‘.“ (Fumaroli, La conversation, S. 689). Biblio17_204_s005-419End.indd 75 11.06.13 10: 10 <?page no="76"?> 76 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Ausgehend von der Rhetorik konturiert Fumaroli die Konversation als das im freundschaftlichen Rahmen praktizierte Gegenstück zur Kunst der Rede im öffentlichen Raum. 144 Die lateinischen Wurzeln der Konversation verbindet er mit dem ciceronianischen Begriff sermo, der im Unterschied zu der ehrgeizigen, im politischen Feld beheimateten eloquentia das entspannte Gespräch anzeigt, das in einem zweckfreien Kontext geführt und dem Bereich des otium zugeordnet wird. 145 Von hier aus formuliert Fumaroli seine These von der Konversation als Matrix der französischen Literatur, „genre littéraire gigogne“, 146 die er 1992 in einer selbständigen Publikation unter dem Titel Le genre des genres français: la conversation weiter ausführt. Den Widerspruch, der sich aus der Rede von einem „genre littéraire oral“ ergibt, löst er mit dem Verweis auf die gemeinsame rhetorische Basis von Literatur und Konversation. 147 Indem er sie auf diese Weise jenseits der Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ansiedelt, kann er die französische Konversation in Montaignes Essais auf ideale Weise verkörpert sehen. 148 Diese Fokussierung ist bemerkenswert, weil sich in ihr auch Fumarolis Bestreben spiegelt, eine für die frühneuzeitliche Literatur maßgebliche Konversation an die ‚männliche‘ Stringenz der platonischen Dialoge zurückzubinden: „Les 144 Sein Hauptwerk L’âge de l’éloquence: rhétorique et ‚res literaria‘ de la Renaissance au seuil de l’époque classique (Genève, Droz 1980) ist der Rhetorik im Frankreich der Frühen Neuzeit gewidmet. Seit Mitte der achtziger Jahre beschäftigt sich Fumaroli mit der Geschichte der Konversation. Seinen am häufigsten zitierten Aufsatz widmet er diesem Thema in: „La conversation“, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire. Bd. III, Paris, Gallimard 1986, S. 678-743. Es folgen weitere Publikationen, darunter: Le genre des genres littéraires français: la conversation. Oxford University Press 1992; Trois institutions littéraires. Paris, Gallimard 1994 (das Kapitel über die Konversation stellt eine Wiederaufnahme des Textes aus den Lieux de mémoire dar); La diplomatie de l’esprit, de Montaigne à La Fontaine. Paris, Hermann 1998. 145 Vgl. Fumaroli, Le genre des genres, S. 6-10. 146 Vgl. Fumaroli, La conversation, S. 690: „[…] un genre littéraire gigogne, englobant une foule de microgenres oraux (la pointe épigrammatique, le récit bref et vif, l’échange stichomythique de répliques) et de genres écrits (correspondance, Mémoires, romans inscrits dans un dialogue ou retrouvant le ton parlé, voire les genres poétiques de circonstance); […].“ 147 Vgl. Fumaroli, Le genre des genres, S. 14: „Mais comment peut-on parler de genre littéraire oral, alors que la littérature, par sa définition et par l’étymologie, est écrite? […] seule la rhétorique permet de lever la contradiction apparente dans les termes que comporte la notion de genre littéraire oral […].“ Die Autorität des Wortes werde immer durch Autorschaft vermittelt, ob es nun der Redner oder der homme de lettres sei, der seine Argumente in der Auseinandersetzung mit der schriftlichen Tradition gewinnt (vgl. ebd., S. 3-4). 148 Vgl. Fumaroli, La conversation, S. 680: „[…] nous diront tout à trac que le modèle français et moderne de la conversation, ce sont les Essais de Montaigne […].“ Biblio17_204_s005-419End.indd 76 11.06.13 10: 10 <?page no="77"?> 77 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung Essais de Montaigne sont un banquet à l’antique, où tout respire la vigueur. L’Astrée est une fête de la douceur, dans un climat de gynécée.“ 149 Hier greift der Autor bereits auf jene - nicht unproblematische - geschlechtsspezifische Dichotomie zurück, die es ihm an anderer Stelle erlaubt, die gelehrte Konversation von ihrer weiblich konnotierten mondänen Spielart abzugrenzen, die in dieser Konstellation fast wie von selbst der préciosité zuneigt. La conversation savante, héritière de la conversation antique et de ses banquets entre hommes, cherchait son harmonie dans un registre grave. La conversation aristocratique, entre le péril du pédantisme et celui de la préciosité, penche de préférence vers celle-ci. […] Animus et Anima, le masculin et le féminin, se livrent bataille sur le terrain du loisir noble, où Animus est tenu de déposer ses armes, et se trouve exposé aux captures insidieuses d’Anima. 150 Das Salongespräch kann vor diesem Hintergrund umso leichter als die Abweichung von einer Norm bzw. als die Kehrseite einer glänzenden Medaille dargestellt werden, als ihre Kritik in den frühneuzeitlichen Quellen - von Molière bis Rousseau - bereits vorformuliert wurde und sich im 19. Jahrhundert verfestigt. Selbst Sainte-Beuve, der sich - wie zu zeigen war - in die Rolle des champion des dames begibt, trägt mit seinem Anliegen, die Literaturgeschichte um die Konversation zu erweitern, dazu bei, die Vorstellung der ‚weiblichen Stimme‘ - im Unterschied zu einem männlich konnotierten Schreiben - zu verstetigen. Fumarolis Arbeiten lassen sich als eine Fortsetzung der Bestrebungen Sainte-Beuves begreifen, eine Literaturgeschichte der Konversation zu schreiben. Er selbst stellt sich bewusst in die Tradition des 19. Jahrhunderts und dessen nostalgische Faszination für das ‚goldene Zeitalter‘ der Konversation, wenn er seinen längsten und bekanntestes Aufsatz zu diesem Thema in Pierre Noras Lieux de mémoires publiziert. Implizit auf den Ort verweisend, von dem aus er spricht, moduliert Fumaroli seinen Gegenstand auf der Kontrastfolie moderner, vor allem technisch vermittelter Formen der Kommunikation. 151 149 Fumaroli, „Préface“, in: Jacqueline Hellegouarc’h (Hg.), L’art de la conversation. Anthologie. Paris, Garnier 1997, S. I-XXIX, S. XXI. 150 Fumaroli, La conversation, S. 703. 151 „Converser suppose une égalité de droit et de fait entre partenaires cooptés, et peu nombreux. Cela suppose aussi la présence invisible et vivante parmi eux d’interlocuteurs absents, les classiques, amis de toujours et de partout. Communiquer en revanche, suppose un égalitarisme de droit entre récepteurs et émetteurs contemporains, en nombre illimité. En échange de cette entrée dans le réseau, ces interlocuteurs interchangeables dépouillent toute qualité personnelle, gage et raison d’être de leur liberté: ils renoncent aussi à mettre en œuvre la rhétoricité du langage, son énérgie, son ironie, son esprit, sans lequels la liberté reste sans voix.“ (Fumaroli, La conversation, S. 738). Biblio17_204_s005-419End.indd 77 11.06.13 10: 10 <?page no="78"?> 78 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Auf diese Weise stellt die Konversation als lieu de mémoire, zu dem sie im 19. Jahrhundert gerinnt, einen historisch konfigurierten, symbolischen Gegenraum dar, an dem zu partizipieren für die französische Gesellschaft konstitutiv sei. Unter einem lieu de mémoire versteht Nora kollektive Gedächtnisspuren, die sich in jenem Moment zu einem ‚Ort‘ verfestigen, in dem das lebendige Gruppengedächtnis, dem sie entstammen, erlischt: „Le temps des lieux, c’est ce moment précis où un immense capital que nous vivions dans l’intimité d’une mémoire disparaît pour ne plus vivre que sous le regard d’une histoire reconstituée.“ 152 Die Konversation als einen solchen Ort zu begreifen, setzt also voraus, zwischen einem Vorher („l’intimité d’une mémoire“) und einem Nachher („le regard d’une histoire reconstituée“) zu unterscheiden, wobei der lieu de mémoire genau das Dazwischen, den Übergang von einem Zustand zum anderen bezeichnet. Im Falle der Konversation bedeutet dies, anzunehmen, dass sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der mémoire collective der Franzosen noch lebendig war, und zwar im Sinne einer Kompetenz, einer gesellschaftlichen Praxis, die nur aus einer Perspektive jenseits dieses Zeitpunkts als eine literarische Gattung verstanden werden kann. Ab dem Moment jedoch, in dem sie sich zu einem lieu de mémoire verdichten, müssen die verklungenen Stimmen, von denen es medial bedingt keine direkten Zeugnisse geben kann, metaphorisch heraufbeschworen werden. […] c’est Voiture qui donne le ton à la Chambre bleue, en harmonie profonde avec Arthénice-M me de Rambouillet. Mais ce duo laisse place à toutes sortes de variantes et accords de voix: d’autres gens de lettres, avec des tempéraments et des styles différents, rivalisent avec Voiture: les Chapelain, les Racan, les Godeau parlent avec leur voix propre, plus grave ou plus aiguë, plus lente ou plus rapide, mais toujours au diapason de l’hôtesse. 153 Auch wenn er die Konversation als ein relationales Phänomen versteht, dessen Chronotopos das Raum-Zeit-Kontinuum der Literatur ist, greift Fumaroli an dieser Stelle nun doch auf die ‚vier Wände‘ der Chambre bleue zurück, um 152 Pierre Nora, „Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux“, in: ders. (Hg.), Les lieux de mémoire I. La République. Paris, Gallimard 1984, S. XVII-XLII, S. XXIII. Nora knüpft an den Begriff der mémoire collective von Maurice Halbwachs an, orientiert sich jedoch auch an dem Begriff der Heterotopie von Michel Foucault (vgl. Marcus Sandl, „Geschichtswissenschaft“, in: Stephan Günzel [Hg.], Raumwissenschaften. Frankfurt a.M., Suhrkamp 2009, S. 159-174, S. 167). Allerdings bleibt zu fragen, ob der Begriff der lieux de mémoire in letzter Konsequenz nicht doch zur Konsolidierung nationaler Identitäten und narrativer Kontinuitäten beiträgt, von denen sich Foucault durch die Akzentuierung diskursiver Brüche gerade abwendet. 153 Fumaroli, La conversation, S. 698; vgl. auch ebd., S. 697, 689, 704, 709, 720. Biblio17_204_s005-419End.indd 78 11.06.13 10: 10 <?page no="79"?> 79 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung einen metaphorischen Resonanzraum für jene Stimmen der Vergangenheit zu schaffen, die er auf der Grundlage literarischer Texte imaginiert. 154 Die gedächtnistheoretische Prämisse, die den Gegenraum der Konversation in ein Vorher (soziale Praxis) und ein Nachher (lieu de mémoire) aufspaltet, führt dazu, dass sich der Salonbegriff Fumarolis - der mit seinem Konversationsbegriff einhergeht - jenem dreidimensionalen ‚Containerraum‘ anverwandelt, den die Historiographie des 19. Jahrhunderts heraufbeschworen hat: Gilt es doch, mit dem Salon einen konkreten Ort zu denken, an dem das flüchtige Ideal einer perfekt orchestrierten Konversation - ebenso wie das preziöse Zerrbild - tatsächlich praktiziert wurde. Bezeichnenderweise wird dieses Bedürfnis, der Konversation mit dem Salon ein ‚Haus‘ zu bauen, in dem sie stattgefunden hat, von Vertretern ideologischer Standpunkte geteilt, die weit auseinander liegen. So geht auch Faith Beasley, die Fumarolis Ansatz unter genderspezifischen Gesichtspunkten scharf kritisiert, von einer Vielzahl von Salons im 17. Jahrhundert aus, in denen überwiegend Frauen die Konversation anleiteten und auf jene Literaturkritik hin erweiterten, die Beasley in ihrer Arbeit als genuin weibliche Kulturleistung würdigt. 155 Da ihre These auf der Rede über Gespräche beruht, von denen Zeitgenossen lediglich berichten, dass sie im Hause dieser marquise oder jener duchesse stattgefunden haben, kann sie die Gefäßfiktion des von ihr generisch gebrauchten Salonbegriffs nicht in Frage stellen. Auch Benedetta Craveri, die sich mit ihrer Studie L’âge de la conversation an den Arbeiten Fumarolis orientiert, 156 ohne sein latentes Werturteil der Geschlechterdichotomie zu übernehmen, schreibt die Erzählung fort, die mit Sainte- Beuves Causeries ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. 157 So tritt neben das 154 Die Musikmetaphorik, wie sie sich in diesem Zitat niederschlägt, dient an verschiedenen Stellen dazu, die verklungenen Stimmen jenseits der literarischen Texte aufzurufen (vgl. Fumaroli, La conversation, S. 697, 689, 704, 709, 720.) 155 Beasley, Salons, History, and the Creation of 17th-Century France, S. 303-306. 156 Benedetta Craveri, L’âge de la conversation. Traduit de l’italien par Éliane Deschamps-Pria, Paris, Gallimard 2002. Der Titel der französischen Übersetzung ihrer ein Jahr zuvor erschienenen Studie La civiltà della conversazione (Mailand, Adelphi Edizioni 2001), bezieht sich in eindeutiger Weise auf Fumarolis Hauptwerk L’âge de l’éloquence. Außerdem gibt die Enkelin Benedetto Croces den französischen Autor in ihrem Vorwort ausdrücklich als Referenz an. 157 Sie stellt sich sogar ausdrücklich in seine Tradition, und zwar sowohl hinsichtlich seiner biographischen Herangehensweise als auch bezüglich der Fokussierung auf seine „figures féminines“, die er in seiner Galerie des femmes célèbres portraitiert hat: „Pour reconstruire les traits d’un idéal de vie collectif qui s’étend sur presque deux siècles, il me fallait choisir un parcours et une méthode. J’ai pris pour guide la conscience aiguë que les protagonistes de cette aventure avaient d’eux-mêmes. […] Il Biblio17_204_s005-419End.indd 79 11.06.13 10: 10 <?page no="80"?> 80 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Bild von dem Salon als Gegenraum der Konversation jenes eines weiblichen Gegenraumes, das nun anhand von drei Studien nachgezeichnet werden soll, die sich explizit als Beitrag zur Genderforschung verstehen. 2.2 Der Salon als weiblicher Gegenraum Das heterogene Quellenmaterial, auf dessen Grundlage die Salongeschichtsschreibung von Beginn an operiert, umfasst neben einer Vielzahl von Gelegenheitstexten auch Romane sowie vor allem kürzere Formen narrativer Prosa wie Portrait, Novelle oder Kunstmärchen. Da diese Texte nicht selten von Frauen verfasst wurden, verwundert es nicht, dass eine der ersten Studien über salonspezifische Relationalität einen feminozentrischen literaturwissenschaftlichen Ansatz vertritt: Es handelt sich um die Arbeiten der Romanistin Renate Baader, die den Salon als einen Schutz- und Fluchtraum für Frauen versteht, als „Kontinuum der intellektuellen und literarischen Bildung und Kreativität, das über die Mündlichkeit sie mündig werden ließ.“ 158 Wenngleich man neben dem Rückgriff auf den dreidimensionalen ‚Containerraum‘ insbesondere ihre teleologische Perspektive kritisieren kann, 159 spricht für Baaders Herangehensweise, dass mit ihr eine kollektive literarische Praxis in den Blick genommen wird, die zu jenen klassischen Werken großer Autoren quer steht, welchen lange Zeit die ausschließliche Aufmerksamkeit der modernen Literaturgeschichtsschreibung galt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Art und Weise, in der die Autorin am Beispiel des aristokratischen, des preziösen und des modernen Salons eine komplexe Beziehung zwischen sozialer Praxis und literarischem Text nachzeichnet: Was dem Schreiben Mademoiselle de Montpensiers, Madeleine de Scudérys sowie Madame d’Aulnoys gemeinsam ist, sind die Verfahren, „mit denen die in Gespräch und Spiel vergegenwärtigte Gleichzeitigkeit von gelebter Erfahrung und fiktionaler Stilisierung verewigt wird.“ 160 Sowohl unter chronologischen als auch unter poetologischen Gesichtspunkten räumt Baader den Scudéry- Romanen dabei einen zentralen Platz ein, deren Verschlüsselungstechnik es m’a donc semblé naturel de la raconter de l’intérieur, à travers ses textes fondateurs, me laissant conduire par ses figures féminines les plus emblématiques, leur donnant autant que possible la parole, puisant souvent dans celle des contemporains et m’attardant sur certains des grands thèmes - la condition féminine, l’esprit de société, la conversation - à travers lesquels la civilisation mondaine prit conscience d’elle-même.“ (Craveri, L’âge de la conversation, S. 11-12). 158 Baader, Dames de lettres, S. 3. 159 Vgl. die Rezension des Werkes von Marc Föcking in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, CI/ 1, 1991, S. 40-42. 160 Baader, Dames de lettres, S. 73. Biblio17_204_s005-419End.indd 80 11.06.13 10: 10 <?page no="81"?> 81 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung bekanntlich erlaubt, 161 im historischen Gewand die eigene Gesellschaft zu portraitieren und sich dabei deren Freude am „wiedererkennenden Identifizieren“ zunutze zu machen: Komplizenhaftes Einverständnis und Genugtuung darüber, als Mitwisser der Geheimnisse und Hintergründe den allegorischen Schleier lüften zu können, im Prozeß des wiedererkennenden Identifizierens also sich selbst als schöpferische Subjekte des Romans, zugleich aber auch als bestätigte Mitglieder eines geschlossenen Kreises zu erleben, war die positive Lesererwartung aller Eingeweihten, mit der Mlle de Scudéry rechnen konnte. 162 Ihre Wirkung beziehen diese Romane aus einer doppelten Identifikationsstrategie: Das Verschlüsseln dient der Abbildung einer elitären Gesellschaft, für die das Entschlüsseln zugleich Teil jener spielerischen Praxis ist, durch die sie sich selbst konstituiert. Zugleich enthalten die Texte einen doppelten Ausschlussmechanismus: Wem kein literarisches alter ego zuteil wird, der gehört nicht zum inneren Kreis der portraitierten Gesellschaft, aber wer nicht einmal im Stande ist, die einzelnen Figuren zu identifizieren, dessen Position im mondänen Gefüge kann randständiger kaum sein. Die Romane sind also weitaus mehr oder noch etwas ganz anderes als ein Speicher von Informationen über die Protagonisten der mondänen Gesellschaft um 1650. 163 Sie sind Bestandteil eines hochgradig selbstreferenziellen Systems, das durch die Romanlektüre und die Rede darüber stabilisiert wird. Es ist diese soziale Funktion, die im Zentrum von Baaders Analyse verschiedener Salongattungen steht, vom Portrait bis zum conte des fées. Am Beispiel der Madeleine de Scudéry arbeitet sie jedoch besonders eindrücklich heraus, „wie ihre Romane als Summe der Abbildungsverfahren zur Chronik, als die der Formen des Verschlüsselns zum zirkelstiftenden Rätsel werden.“ 164 161 Es handelt sich um den zehnbändigen Roman Artamène ou Le Grand Cyrus (1649-1653), dessen ‚Schlüssel‘ im 19. Jahrhundert von Victor Cousin ‚wiederentdeckt‘ wurde (vgl. Victor Cousin, La société française au XVII e siècle d’après ‚Le Grand Cyrus‘ de Mlle de Scudéry. Paris, Didier 1858), und um den ebenfalls zehnbändigen Roman Clélie, Histoire romaine (1654-1660). Während Artamène noch von Georges de Scudéry signiert wurde, publiziert Madeleine de Scudéry Clélie in ihrem eigenen Namen. In Artamène wird insbesondere der Kreis um die Marquise de Rambouillet, in Clélie der Kreis um Madeleine de Scudéry portraitiert. 162 Baader, Dames de lettres, S. 79. 163 Vgl. auch Bernard Beugnot, „Œdipe et le Sphinx: essai de mise au point sur le problème des clés au XVII e siècle“, in: Marc Fumaroli (Hg.), Le statut de la littérature. Mélange offert à Paul Bénichou. Genève, Droz 1982, S. 71-83; wieder abgedruckt in: Bernard Beugnot, La mémoire du texte. Essais de poétique classique. Paris, H. Champion 1994, S. 227-242. 164 Baader, Dames de lettres, S. 73. Biblio17_204_s005-419End.indd 81 11.06.13 10: 10 <?page no="82"?> 82 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Es bleibt der nordamerikanischen dix-septièmiste Joan DeJean vorbehalten, dieser literarischen Praxis einen einprägsamen Namen zu geben: DeJean bezeichnet dieses reziproke Rezeptions- und Produktionsverhältnis als salonwriting. Im Mittelpunkt ihrer Studie Tender Geographies aus dem Jahre 1991 steht die Gattung des französischen Romans, deren generische Entwicklung sie vor dem Hintergrund spezifischer Bilder und Figuren betrachtet, die in den Werken von Autorinnen verhandelt werden. 165 Nach der Amazone, die in den Scudéry-Romanen idealisiert und während der Fronde von Persönlichkeiten wie der Grande Mademoiselle auch verkörpert wurde, tritt das subversive Potential eines anderen feminozentrischen Bildes in den Vordergrund: der symbolische Ort der retraite. DeJean liest diese Veränderung als Zeichen für den allmählichen Rückzug der Frauen aus dem öffentlichen Raum an den symbolischen Ort der Literatur, wobei sich der Übergang vermittels eines dritten Raumes, der halböffentlichen Sphäre des Salons vollziehe. Die von ihr untersuchten Werke sind für sie Ausdruck und Ergebnis des salon-writing: „The process I am calling salon writing allows us to reevaluate both women’s writing and collective productions, to introduce a concept of authorship not based on a signature with a unique, stable referent.“ 166 Hier wird die zentrale These ihrer Arbeit greifbar: Die Autorin postuliert die parallele Entwicklung eines doppelten Autorbegriffs im Verlauf des 17. Jahrhunderts, dessen weibliche bzw. kollektive Spielart sich auf Dauer weder in einem absolutistischen Staat noch im Rahmen einer modernen Literaturgeschichtsschreibung durchsetzen konnte. Der Begriff des salon-writing - verstanden als „collective style prized precisely because of the absence of individual personality“ 167 - ist jedoch jenseits dieser teleologischen Argumentation insofern interessant, als sich in ihm die literarische Praxis bündeln lässt, die bereits von Renate Baader beschrieben wurde. Er markiert außerdem den Schnittpunkt zwischen einer strategischen Diskurspolitik und dem ästhetischen Vergnügen, an dem es insbesondere Frauen möglich war, das literarische Feld der Epoche aktiv mitzugestalten: „[…] the ‚author‘ is the woman who presided over the salon in which the novel developed, she who dictated the style of the salon, the style that lives on in each of these extended exercises in writing the politics of a salon.“ 168 Gerade in diesem Zitat wird jedoch auch deutlich, dass DeJean den Raum des Salons als ein Behältnis imaginiert, in das man quasi hineinblicken kann, um zu beobachten, wie Frauen über die ‚Regeln der Kunst‘ herrschen. 165 Joan DeJean, Tender Geographies. Women and the Origins of the Novel in France. Columbia University Press 1991. 166 DeJean, Tender Geographies, S. 95. 167 DeJean, Tender Geographies, S. 60. 168 DeJean, Tender Geographies, S. 76. Biblio17_204_s005-419End.indd 82 11.06.13 10: 10 <?page no="83"?> 83 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung An der weiblichen Mitgestaltung und der Ausdifferenzierung des literarischen Feldes setzt auch die Untersuchung der précieuses an, denen Myriam Maître in ihrer grundlegenden Studie zur Naissance des femmes de lettres nachspürt. 169 Vor dem Hintergrund einer Realität, die nur im Zerrspiegel der Satire sichtbar wird, definiert Maître die précieuses als eine weibliche Konstellation, die im Schnittpunkt mondäner ‚Seilschaften‘ und moderner Autorschaft anzusiedeln sei: Le terme précieuses ne désignerait pas ici un sous-ensemble des femmes auteurs, ni une catégorie particulière de femmes du monde, mais plutôt cette situation particulière d’une écriture féminine qui se tient dans un espace intermédiaire et bâtit un éphémère royaume d’encre et d’amitié indissolublement mêlées. 170 Der Begriff der préciosité bezeichne entsprechend das Imaginarium einer spezifischen Verbindung von sociabilité mondaine und activité littéraire, in der Kreativität als ein kollektives Phänomen verstanden wird, das auf eine gemischtgeschlechtliche Geselligkeitsform angewiesen ist, in der ästhetisches Vergnügen und strategisches Kalkül untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Zusammenhang verweist Maître auf die zentrale Bedeutung der Konversation, wobei sie sich nicht darauf einlässt, Spuren der Oralität in der Schrift zu rekonstruieren. Sie legt unter Bezugnahme auf die Terminologie Paul Zumthors (oralité mixte) 171 den Akzent weniger auf die Re-konstruktion der Gesprächskunst als vielmehr auf den konstruktiv-generativen Charakter der Quellen: L’idéal classique de familiarité et de naturel dans la conversation s’élabore donc aussi, sinon essentiellement, au travers des genres écrits, qui inventent sans doute beaucoup plus qu’ils ne reflètent ces formes nouvelles de la sociabilité mondaine. 172 Indem Maître das reziproke Verhältnis von Stimme und Schrift in den Blick nimmt, das den Raum der préciosité charakterisiert, lässt sie dessen Behältnisfunktion insofern in den Hintergrund treten, als sie eine Wechselwirkung 169 Maître, Les précieuses. „Dès les années 1640, et jusqu’à la fin du règne de Louis XIV, voire au-delà, la satire des femmes des lettres constitue une prise de position polémique dans le débat constitutif de tout champ littéraire: qu’est-ce que la littérature, et qu’est-ce qu’un auteur? “ (ebd., S. 238) 170 Maître, Les précieuses, S. 407. 171 Maître, Les précieuses, S. 460. Mit Zumthor (Introduction à la poésie orale. Paris, Seuil 1983, S. 36) argumentiert die Autorin, dass im Zeitalter des Buchdrucks die Vorstellung obsolet geworden sei, der Verschriftlichung gehe eine ‚reine‘ Mündlichkeit voraus, die es in den Texten zu rekonstruieren gelte. 172 Maître, Les précieuses, S. 462/ 463. Biblio17_204_s005-419End.indd 83 11.06.13 10: 10 <?page no="84"?> 84 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts zwischen dem literarischen Text und der sozialen Konstellation, der er seine Genese verdankt, herausarbeitet. So bezeichnet sie beispielsweise das preziöse Imaginarium des Royaume de Tendre, das die Gruppe um Madeleine de Scudéry auszeichnet, als „[…] lieu impossible expressément situé à la fois dans le salon de la rue de Beauce et dans le roman et dont la ‚Carte de Tendre‘ dessine les espaces et les chemins.“ 173 Im Schnittpunkt von Text, Kontext und Fiktion nimmt hier eine Denkfigur Gestalt an, die auch und gerade jenseits des ‚Containerraumes‘ als salonspezifisch angesehen werden kann. Zugleich hält jedoch auch Maître an der Gefäßfunktion dessen fest, was sie explizit als salon de la rue de Beauce bezeichnet. Gerade im Hinblick auf die soziale Praxis dieser Gruppe erweist sich jedoch die Festlegung auf den Wohnort der Madeleine de Scudéry als nicht unproblematisch. Es bleibt festzuhalten, dass der Salonbegriff in den Arbeiten von Baader, DeJean und Maître den Horizont bildet, vor dem die Figur der Schriftstellerin im 17. Jahrhundert Gestalt annimmt. Die Studien zeichnen sich durch eine literatursoziologische Herangehensweise an ihren Gegenstand aus, die das weibliche Schreiben der französischen Klassik, das in der Forschung häufig unter den Begriff der préciosité subsumiert wurde, neu bewertet. Während zuvor die Faszination und die Aversion, die dieser Begriff gleichermaßen hervorzurufen scheint, den Blick auf die Spezifika dieses Schreibens häufig verstellt hatte, beschreiben diese Arbeiten, obwohl sie den Salon in letzter Konsequenz auch als containerartigen Gegenraum imaginieren, eine spezifische Kopplung von gesellschaftlicher und literarischer Praxis, der auch die Arbeiten von Delphine Denis gewidmet sind. Denis vertritt jedoch einen literatur- und sprachwissenschaftlichen Ansatz, der ihre Herangehensweise von anderen feminozentrischen Studien unterscheidet und auf den im Folgenden näher eingegangen werden soll. 2.3 Liminale Räume der figuration Nach ihrer ersten Monographie über die konversationelle Poetik der Madeleine de Scudéry, 174 veröffentlicht Denis im Jahr 2001 ihre Studie der archives galantes. 175 Sie untersucht ein ausuferndes heterogenes Textkorpus, das zwischen 1640 und 1660 Gestalt annimmt und jene literarischen Publikationen umfasst, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, von ihren Verfassern und Herausgebern als ouvrages de galanterie ausgewiesen worden zu sein. 176 Der 173 Maître, Les précieuses, S. 408. 174 Denis, La muse galante. 175 Denis, Le parnasse galant. 176 „Or les ‚ouvrages de galanterie‘, écrits pour un public de gens du monde, et parfois par celui-ci, ne recoupent que très imparfaitement nos classements traditionnels, Biblio17_204_s005-419End.indd 84 11.06.13 10: 10 <?page no="85"?> 85 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung Autorin geht es um die diesem Schreiben eigentümlichen Strategien, denen eine spezifische diskursive Konfiguration zu Grunde liege, die den galanten Textkorpora jene literarhistorische Bedeutung verleihe, die dem Einzelwerk nur schwer zuzugestehen sei. Die hypertextuelle Struktur dieser Briefe, Romane und Gelegenheitsverse erlaube es jedoch, eben jene Verschränkung der sozialen Räume nachzuzeichnen, in denen sich eine beginnende Autonomisierung der Literatur vollzieht. 177 Es handele sich dabei um die konzentrischen Kreise einer mondänen Gesellschaft, die von der einzelnen cabale bis zum grand public die unterschiedlichsten Konstellationen ausbilde und ihnen in einer Vielzahl von Gelegenheitstexten Ausdruck verleihe. 178 Voraussetzung für den Nachvollzug dieser textuellen und sozialen Praxis sei jedoch, dass man den spezifischen Status der Texte berücksichtige, die sich weder auf ihre Referenzialität noch auf ihre Fiktionalität festlegen ließen: Mais pour que la galanterie transforme le monde en littérature, encore faut-il que cet ancrage nécessaire du texte sur le discours social dont il émane, cet embrayage de la fiction sur le référent historique, ne soit pas directement accessible. La médiation sémiotique […] ménageait ainsi l’intervalle nécessaire au déploiement d’une lecture galante qui ne fût ni entièrement dupe de la fable, ni trop grossièrement avide du réel. C’est sans doute dans cet espace intermédiaire que l’on peut repérer l’une des étapes du processus de littérarisation. 179 Um diesen mittleren und vermittelnden semiotischen Status geht es in Denis’ Studie. Zu seiner Analyse führt sie den Begriff der Figuration (figuration) ein, den es im Folgenden näher zu beleuchten gilt. soit qu’ils les débordent, soit qu’ils ne puissent entrer dans aucun cadre pé-établi: brèves poésies, mais aussi longs romans ou ‚nouvelles‘, énigmes, dialogues allégoriques, ‚métamorphoses‘ ou prosopopées, Songes et Pompes funèbres, sans compter les Almanachs, Édits d’Amour et autres Gazettes…“ (Denis, Le parnasse galant, S. 10). 177 „Pareille économie de la littérature galante, que l’on pourrait encore nommer hypertextuelle, inscrit ainsi les espaces de production et de réception dans un système de réseaux […]. Mais que le regard se fasse moins attentif à ces regroupements, et se focalise sur l’une ou l’autre des unités au détriment d’une lecture d’ensemble, alors l’œuvre commune, figée et isolée dans la singularité du Texte [sic], est rendue à son éventuelle faiblesse, à sa frivolité constitutive, à son défaut de légitimité ou de ‚valeur‘.“ (Denis, Le parnasse galant, S. 187). 178 „C’est donc sur fond de sociabilité que s’énonce la parole galante: conversation généralisée, qui se déploie par cercles concentriques de la ‚compagnie choisie‘ au groupe mondain élargi, jusqu’au public qui recueille, imprimée, les pièces galantes, une telle pratique littéraire ne sépare pas radicalement les lieux de réception des instances de production.“ (Denis, Le parnasse galant, S. 152). 179 Denis, Le parnasse galant, S. 123. Biblio17_204_s005-419End.indd 85 11.06.13 10: 10 <?page no="86"?> 86 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Zunächst bleibt festzuhalten, dass sie den Begriff der Figuration nicht von Norbert Elias übernimmt, was angesichts seiner Arbeiten zur höfischen Gesellschaft naheliegend gewesen wäre. 180 Denis verweist hingegen auf eine soziolinguistische Definitionen des Ausdrucks figuration, den sie der französischen Übersetzung des Konzepts face-work von Erving Goffman entlehnt und im Sinne einer sprachlichen Interaktion verwendet. Ausgangspunkt ist die auktoriale Selbstdarstellung des écrivain-galant homme. Es handelt sich dabei um eine Stategie, derer sich professionelle hommes de lettres bedienen, um sich im entstehenden literarischen Feld der Epoche zu positionieren, und die sich den scheinbaren Widerspruch zu Nutze macht, dass die Autorisierung des Autors - verstanden als Indiz einer zunehmenden Autonomisierung der Literatur - durch die soziale Gruppe, in die er sich einschreibt, erfolgt. Die vielseitigen Techniken dieser Einschreibung, die von der Widmungspraxis über die Kollage mondäner Gelegenheitstexte bis hin zur Herausgeberschaft kollektiver Werke reichen, konvergieren in dem Ziel, die soziale Bindung, auf der die Autorschaft beruht, zum Gegenstand der Publikation zu machen: „Ainsi se met en place […] la sphère spécifique de la galanterie: celle où se publie le lien inter-personnel, celle encore où la relation sociale devient matière à littérature.“ 181 Zugleich ist in diesem Ziel die doppelte Stoßrichtung der Publikation, ermöglicht durch die posture mondaine des Autors, enthalten: […] procéder à la célébration collective, et assurer aux éphémères plaisirs communs la survie du souvenir et de la mémoire littéraire. La publication relève alors d’une double logique: celle de l’archivage, pour le groupe qui aura le plaisir à se pencher sur ces textes, à se les échanger, à s’en rappeler les moments fondateurs; celle du monument encore, pour le public à venir, qui contribuerait par la lecture à la transfiguration miraculeuse de l’anecdote en événement mémorable. 182 180 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a.M., Suhrkamp 1983. So arbeitet beispielsweise die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch im Rückgriff auf Norbert Elias und Pierre Bourdieu mit einem Begriff der Figuration, der es erlaubt, das theatrale Gefüge, das die höfische Gesellschaft insbesondere unter Ludwig XIV. darstellt, als einen spezifischen Bewegungsraum zu begreifen, in dem die Choreographie der Körper Emotionen generiert, die einen entscheidenden gesellschaftspolitischen Kohäsionsfaktor darstellen (Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt, New York, Campus 2006). Wenn im Folgenden dennoch auf den Begriff der Figuration im Sinne Denis’ zurückgegriffen wird, so liegt dies an dem spezifischen Quellenmaterial der vorliegenden Untersuchung. 181 Denis, Le parnasse galant, S. 151. 182 Denis, Le parnasse galant, S. 155. Biblio17_204_s005-419End.indd 86 11.06.13 10: 10 <?page no="87"?> 87 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung Wenn also die Autorisation des Autors über die Gruppe erfolgt, zu der er sich durch sein Schreiben zugehörig zeigt, so stellt er dieses Schreiben in zweifacher Hinsicht in den Dienst dieser Gruppe: Kohäsion (archivage) und Sichtbarkeit (monument). Die gleichzeitige Innen- und Außenwirkung der galanten Publikation lässt sich an einer prägnanten Schnittstelle sozialer und literarischer Praxis am besten verdeutlichen: dem galanten Pseudonym. 183 Der Phantasiename, der die Zugehörigkeit zu einem mondänen Zirkel signalisiert, aber auch der Verschlüsselungstechnik in Romanen und Erzählungen zu Grunde liegt, 184 oszilliert zwischen den verschiedenen galanten Gattungen und Diskursen und markiert auf diese Weise die Kontiguität nicht nur zwischen den publizierten Werken und jenen, die der restriktiveren Zirkulation vorbehalten bleiben, sondern vor allem zwischen ihren mal mehr und mal weniger referenziellen Lesarten. Le nom ‚à clef‘ […] œuvre dans le sens de ce va-et-vient constant entre éthique et chronique, entre ‚littérature‘ et mémoire de l’histoire privée. Embrayeur puissant, il fait circuler dans toute leur complexité les différentes figurations de soi et du groupe (personne/ persona/ personnage), sans jamais autoriser la clôture du signe sur le référent qui viendrait assurer, une fois pour toutes, l’unique interprétation de l’œuvre. 185 Das galante Pseudonym kann Denis zufolge als „opérateur de littérarisation“ 186 wirksam werden, da es die idealisierten Züge einer Person im Rahmen jener spielerischen Praxis verkörpert, in dem es verliehen wurde. 187 Diese soziale Maske (persona), die in ihrer textuellen Verkörperungsform überliefert ist, lässt sich nicht einfach mit der historischen Person, die sich dahinter verbirgt, identifizieren. Vielmehr verleiht sie ihrer textuellen Überlieferungsform einen fiktionalen Status, der jedoch nicht unabhängig von der spielerischen Rezeption dieser Texte gedacht werden kann. Bezeichnend ist in diesem 183 Diesem zentralen Merkmal der archives galantes widmet Denis ein Kapitel („Le Masque et le nom“, in: Denis, Le parnasse galant, S. 189-235), dessen für unsere Überlegungen wichtigsten Thesen im Folgenden zusammengefasst werden. 184 Zum Verhältnis der „clefs“ und der galanten Namen vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 191; 211-222. 185 Denis, Le parnasse galant, S. 232. 186 Denis, Le parnasse galant, S. 233; vgl. auch S. 222: „A ce compte, le nom galant demeure la trace lisible de l’opération de littérarisation, qui transforme, à des degrés divers, le pur répertoire en Dialogue versifié (chez La Forge), en recueil de nouvelles (chez Donneau de Visé), ou en récit de voyage allégorique (avec Guéret). S’il occupe dans le texte la place qui aurait pu être octroyée au nom civil, c’est que, précisément, le nom galant appartient déjà à la ‚littérature‘.“ 187 Zu den sogenannten baptêmes galants vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 192-208. Biblio17_204_s005-419End.indd 87 11.06.13 10: 10 <?page no="88"?> 88 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts Zusammenhang, dass sich schon die zeitgenössischen Autoren mit dieser Rezeption auseinandersetzen, bzw. ihre Figuren über die Frage diskutieren lassen, ob die referenzielle oder die allegorische Auslegung der Geschichten, deren Protagonisten durch einen intradiegetischen Erzähler onomastisch ‚maskiert‘ werden, vergnüglicher sei. 188 Insbesondere in den Romanen und Erzählungen der Madeleine de Scudéry bleibt diese Frage offen, was den Texten ihrerseits angesichts ihrer selbstreferenziellen Struktur einen ambivalenten Status verleiht. Ohne den Sinn der Lektüre auf die Entschlüsselungspraxis festzulegen, fungiert der galante Name hier als Artikulationspunkt zwischen persona und exemplum. 189 Was für die vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden kann, ist die Funktion des galanten Namens als Fiktionalitätssignal im Sinne Harald Weinrichs. 190 Die mondäne figuration kann einen Übergang von der sozialen Maske zur literarischen Figur darstellen, da das Rollenspiel, das in zahlreichen veröffentlichten und noch mehr unveröffentlichen Quellen ausgetragen wird, diesen ‚Quellen‘ einen ambivalenten fiktionalen Status verleiht. Dies wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit anhand einschlägiger Beispiele noch näher zu erläutern sein, an dieser Stelle sei jedoch bereits das Folgende festgehalten: Der heutige Leser kann sich angesichts des Quellenmaterials für eine referenzielle Lektüre entscheiden. Die Quellen verweisen dann auf ein historisches Ereignis, nämlich auf jenes onomastische Konversationsspiel, jenseits dessen die Phantasienamen, wie Denis gezeigt hat, weder Geltung noch Wirkung haben. Diese referenzielle Lesart muss jedoch den fiktionalen Status in Rechnung stellen, den diese Texte für die Spieler selbst haben. Ihr Spiel besteht ja gerade darin, im Verfassen und Lesen dieser Texte, die eine nicht in das Spiel involvierte Leserschaft als Quellen behandelt, eine ‚Als-Ob-Handlung‘ zu vollziehen. Sie entwerfen in diesen Texten mithin eine Wirklichkeit zweiten Grades, auf die sich auch jeder Nicht-Spieler in dem Moment einlassen kann, in dem die Texte einem erweiterten Publikum 188 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 214-220. 189 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 218. 190 Der Fiktionalitätsbegriff wird bei Denis nicht explizit problematisiert. Ich folge jedoch ihrer Argumentation, die mir mit derjenigen Weinrichs kompatibel zu sein scheint. Weinrich schreibt im Hinblick auf den Begriff des Fiktionalitätssignals: „Eine solche Mischung von Signalen, die teils auf Fiktionalität, teils auf Nichtfiktionalität deuten, ist charakteristisch für viele Texte, und der Leser muß ihre Bedeutung und Geltung abwägen, um schließlich im Laufe oder auch erst am Ende der Lektüre ein Urteil fällen zu können des Inhalts, daß dieser Text insgesamt oder vorwiegend entweder dem Bereich der Fiktion oder der Nichtfiktion zuzurechnen ist. In vielen Fällen aber muß das Urteil in der Schwebe bleiben. Diese Ambivalenz kann sehr reizvoll sein.“ (Harald Weinrich, „Fiktionalitätssignale“, in: ders. (Hg.), Positionen der Negativität. München, Wilhelm Fink 1975, S. 525-526, S. 526). Biblio17_204_s005-419End.indd 88 11.06.13 10: 10 <?page no="89"?> 89 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung zugänglich gemacht werden, ohne dass er dabei jedoch in das Spiel selbst eintreten kann. Die Rezipientendisposition der Nicht-Spieler ist daher nicht identisch mit derjenigen der Spieler, wenngleich sie sich in beiden Fällen durch willing suspension of disbelief auszeichnet, eine Haltung, die mit Herbert Grabes sowohl für das Spiel als auch für die Literatur geltend gemacht werden kann. 191 Indem sie die Texte als einen Teil jener gesellschaftlichen Praxis betrachtet, über die sie Auskunft geben, stellt Denis mit ihrem Ansatz dem außersprachlichen ‚Containerraum‘ den liminalen Raum der figuration gegenüber. Die mondäne Praxis generiert Texte, deren Status zwischen Referenzialität und Fiktionalität oszilliert und die mithin einen Übergang zwischen dem ereignishaften ‚Beisammen‘ der Salonkultur und der zunehmenden Autonomie des literarischen Feldes markieren. Ob diese Schwellenfigur mit dem Salonbegriff noch adäquat zu fassen ist, kann hier noch nicht beantwortet werden. Zunächst soll daher ein transdisziplinärer Ansatz vorgestellt werden, der es erlaubt, weitere Räume des Übergangs in jenem sozialen Gefüge zu identifizieren, das der Herausbildung eines literarischen Feldes im Frankreich des 17. Jahrhunderts zu Grunde liegt. 2.4 Liminale Räume der Distinktion Der Erforschung des frühen literarischen Feldes haben der Historiker Christian Jouhaud und der Literaturwissenschaftler Alain Viala mit der Gründung des groupe de recherche de l’histoire du littéraire (GRIHL) einen Ort geschaffen, an dem disziplinenübergreifend nach den Bedingungen einer zunehmenden Autonomisierung des ‚Literarischen‘ gefragt wird. An Vialas grundlegende literatursoziologische Studie La naissance de l’écrivain anknüpfend, publizieren die Mitglieder der Gruppe in regelmäßigen Abständen Fallstudien. Besonders Christian Jouhaud wie auch der Historiker Nicolas Schapira haben sich in ihren Arbeiten mit historischen Akteuren beschäftigt, die in den mondänen Gruppen, um die die traditionelle Salonforschung kreist, eine zentrale Rolle 191 Zum Verhältnis von fiktionalen Texten und Spiel vgl. Herbert Grabes, „Fiktion - Realismus - Ästhetik. Woran erkennt der Leser Literatur? “, in: ders., Text - Leser - Bedeutung. Untersuchung zur Interaktion von Text und Leser. Grossen Linden, Hoffmann 1977, S. 61-81, S. 69: „Die fiktionalen Texte sind somit in vollem Sinne als Sprachspiele anzusetzen. […] Die Fiktionalität der fiktionalen Texte (wie aller Spiele) ist also letztlich eine pragmatische Qualität.“ Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich jedoch auf den Spieltypus, den Roger Caillois als mimicry bezeichnet (vgl. Caillois, Les jeux des hommes, S. 39-45) und zu dem auch das von Denis analysierte Maskenspiel gerechnet werden darf. Biblio17_204_s005-419End.indd 89 11.06.13 10: 10 <?page no="90"?> 90 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts spielten. 192 Es handelt sich um die hommes de lettres Jean Chapelain, der gute Kontakte zum Hôtel de Rambouillet unterhielt, und Valentin Conrart, der sowohl dem Kreis um die Marquise als auch der Gruppe um Madeleine de Scudéry angehörte. Indem Jouhaud und Schapira das soziale Gefüge sichtbar machen, innerhalb dessen die Protagonisten jeweils operieren und kraft ihrer literarischen Expertise einen bestimmten Status innehaben, fällt Licht auf diese Gruppen und ihre Praktiken, vor allem jedoch auf die Geschicklichkeit, mit der sich die hommes de lettres zwischen verschiedenen Statusgruppen des Ancien Régime bewegen und die ihren eigenen, professionellen Status begründet. In seiner Studie Les pouvoirs de la littérature stellt Jouhaud die Frage nach diesem Status, der sich paradoxalerweise als die Abwesenheit eines eindeutigen Status’ in einer Gesellschaft erweist, die sich über die klare Zuordnung ihrer Mitglieder - korporativer, standesgemäßer oder rangspezifischer Art - definiert. 193 Paradoxe et dialectique: cette position [gemeint ist die Chapelains, S.B.] est forte car elle est sans statut véritable dans une société où le statut classe les hommes et borne leurs déplacements. En ce sens, elle permet de mettre en rapport des groupes, des lieux qui communiquent peu ou mal, et, par cette fonction de communication hors statut, de construire les linéaments d’un statut à venir. 194 Jean Chapelain, der als repräsentative Figur des homme de lettres gelten darf, hat eine mediale und medialisierende Position inne, die es ihm erlaubt, verschiedene gesellschaftliche Gruppen miteinander kommunizieren zu lassen (oder sie gegeneinander auszuspielen). Jouhaud arbeitet heraus, wie Chapelains Schreiben zugleich der Ausgangspunkt und das Mittel seines sozialen Aufstiegs ist, der sich in den Zwischenräumen sozialer Konstellationen vollzieht. Eine dieser Konstellationen kann mit dem Hôtel de Rambouillet 192 Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature; Schapira, Un professionnel des lettres. 193 In diesem Befund spiegelt sich die der gesamten Arbeit zu Grunde liegende Problematik, dass die Autonomisierung der Literatur gerade in dem Moment beträchtlich zunimmt, in dem sie an eine ‚staatliche‘ Institution, die Académie française, angebunden wird: „Tout est parti en fait d’un constat qui m’a paru paradoxal, et tout y ramène: les hommes de lettres et leur activité bénéficient au XVII e siècle d’une reconnaissance nouvelle et d’une croissante autonomie où se dessinent les contours d’un statut social en gestation - la naissance de l’écrivain - et pourtant leur dépendance à l’égard du pouvoir politique, disons du pouvoir d’État, semble n’avoir jamais été aussi contraignante. Comment un processus d’autonomisation peut-il passer par une dépendance renforcée? “ (Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 10). 194 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 90 11.06.13 10: 10 <?page no="91"?> 91 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung identifiziert werden, wobei deutlich wird, dass die Hypostasierung des Begriffs ‚Salon‘ problematisch ist: Unir le salon dans un ‚il‘ susceptible de devenir le sujet d’une action ou d’une pensée collective est d’ailleurs risqué. […] Bien des ‚membres‘ sont engagés dans des carrières prenantes et complexes. Tous s’inscrivent dans des parcours sociaux dont la logique et l’ampleur dépassent l’Hôtel de Rambouillet. 195 Was genau bezeichnet die Gruppe, die man ‚Hôtel de Rambouillet‘ nennt, wenn sich ihre Akteure, wie das Beispiel Chapelains zeigt, zugleich ‚innen‘ und ‚außen‘ befinden? Im Vordergrund der Analyse steht das soziale Kapital, das Chapelain aus seiner Verbindung mit einer Gruppe erwächst, der er sich nur anschließen kann, weil sie bereits als Gruppe sichtbar ist. 196 Zugleich handelt es sich um eine durchaus heterogene Konstellation, deren Sichtbarkeit in der französischen Gesellschaft um 1630 von der professionellen Unterstützung abhängig ist, wie sie Chapelain selbst oder andere hommes de lettres wie Balzac, Conrart oder Voiture anzubieten haben. 197 Diese spezifische Rückbezüglichkeit, die das soziale Gefüge des Hôtel de Rambouillet auszeichnet, greift Schapira in seiner Monographie über Valentin Conrart auf. Schapira geht ausdrücklicher als Jouhaud auf den Salonbegriff ein und betrachtet ihn zunächst als eine nützliche historiographische Erfindung, die es in der Vergangenheit erlaubt habe, das Verhältnis zwischen élites urbaines und hommes de lettres überhaupt in den Blick zu nehmen: Ce type de relation est couramment envisagé à l’aide de cet artefact historiographique que constituent les salons. Le ‚salon‘, considéré comme le cadre d’une rencontre égalitaire entre d’une part des aristocrates et des grands financiers, d’autres part des hommes des lettres, sur le terrain des 195 Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 132. Jouhaud problematisiert den Salonbegriff indirekt, wobei er sich damit begnügt, auf die terminologischen Schwierigkeiten hinzuweisen und sie dann zu delegieren: „[…] l’efficacité sociopolitique des liens noués à l’Hôtel de Rambouillet doit s’analyser à une échelle plus large que celle du salon et que, donc, la définition même de ce qu’est le salon passe aussi par cet élargissement d’échelle.“ (Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 139). 196 „Je voudrais au contraire évoquer maintenant l’usage fait par Chapelain de lieux sociaux préexistants.“ (Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 129). 197 Jouhaud macht die Problematik der Sichtbarkeit nicht explizit, doch muss sie als Konsequenz der von ihm diagnostizierten sozialen Heterogenität betrachtet werden: „Ce groupe empiriquement dessiné est fortement aristocratique. […] Cette désignation à partir du statut ne doit évidemment pas masquer de considérables écarts sociaux: le duc de Longueville, le marquis de Montausier, le sieur de Marinville, Robert d’Arnauld d’Andilly, Valentin Conrart témoignent à eux seuls de la diversité des noblesses.“ (Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 130-132). Biblio17_204_s005-419End.indd 91 11.06.13 10: 10 <?page no="92"?> 92 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts belles-lettres, a permis de donner sens à tout un ensemble de pratiques sociales qui apparaissent dans des textes du XVII e siècle. 198 Er kritisiert jedoch den Gebrauch, den die Geschichtsschreibung in der Vergangenheit von diesem Werkzeug gemacht hat, indem sie den sozialen Praktiken, die dieses Verhältnis konstituieren, einen spezifischen Sinn zuschreibt. In den wenigsten Fällen habe man sich mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass die Mehrzahl der Texte, die der Salonforschung als Quellen dienen, von eben jenen hommes de lettres verfasst wurden, die ein Interesse daran hatten, die sozialen Praktiken der Gruppe, der sie selbst angehörten, ‚publik‘ zu machen. Wenn diese Texte zur Sinnstiftung herangezogen werden können, dann nur unter der Voraussetzung, dass das Zusammenspiel der Gruppenmitglieder unterschiedlichen Sozialprofils, das dem Salonbegriff zu Grunde gelegt wird, nicht als direkt zu beobachtende außersprachliche Realität, sondern im Hinblick auf den Handlungscharakter der Quellen verstanden wird: Rien ne peut donc être déduit sur ces pratiques elles-mêmes, ce qui est produit dans ces textes n’est pas un savoir sur les ‚salons‘, mais le sens que les écrivains entendent conférer à certains espaces sociaux. 199 Das reziproke Rezeptionsverhältnis, das sich auf diese Weise zwischen den Adelsvertretern und den ‚Intellektuellen‘ in den Quellen niederschlägt, untersucht Schapira am Beispiel des Hôtel de Rambouillet. Er legt überzeugend dar, wie sich der außergewöhnliche Status der Chambre bleue einem strategischen Narrativ verdankt, das von Balzac, Chapelain, Conrart, Voiture und anderen hommes de lettres propagiert wird. Diese posture erhöht die soziale ‚Sichtbarkeit‘ derjenigen, die sich mit diesem kollektiven Konstrukt identifizieren: On peut ainsi saisir les termes d’un échange de légitimation qui se joue dans les textes des écrivains: tandis que ces derniers ‚ennoblissent‘ leur statut en s’incluant implicitement dans les lieux de la sociabilité mondaine qu’ils valorisent, les groupes aristocratiques qui constituent ces lieux de sociabilité voient leur prestige collectif - et par là peut-être leur capacité d’action - renforcé par le discours des écrivains. 200 Am Beispiel Conrarts arbeitet Schapira eine soziale Dynamik heraus, die sich in textuelle Spannungen übersetzt und sich als eine reziproke ‚Distinktionsfabrikation‘ beschreiben lässt. Dieses Verfahren beruht auf der literarischen Expertise derjenigen, die sich in den Zwischenräumen festgefügter Konstellationen bewegen und als ‚Wanderer zwischen den Welten‘ sowohl den Wert 198 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 225. 199 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 231. 200 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 239. Biblio17_204_s005-419End.indd 92 11.06.13 10: 10 <?page no="93"?> 93 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung der eigenen Arbeit als auch denjenigen des Kollektivs erhöhen, zu dessen Wahrnehmung sie beitragen. Einmal mehr stellt sich hier jedoch die Frage, welchen Mehrwert der Salonbegriff zur Analyse dieser liminalen Räume bietet. Indem Schapira sich jener Quellen bedient, mit denen sich auch die Salonforschung beschäftigt hat, konturiert er den Salonbegriff paradoxerweise gerade dadurch, dass er ihn in Frage stellt. Schapira konstatiert jedoch auch, dass die Analyse salonspezifischer Gruppenkonstitution für das Verständnis der sozialen Praktiken, die das Verhältnis zwischen hommes de lettres und einem Teil der städtischen Eliten bestimmt, nur begrenzten Wert hat. Der Fall Conrart sei nicht zuletzt deshalb so instruktiv, weil er es erlaube, ganz unterschiedliche Formen der strategischen Beziehungen zu betrachten, die der homme de lettres mit einzelnen Vertretern des Adels und der Großbourgeoisie pflegt und die sich nicht auf die salonspezifische Distinktionsfabrikation beschränken lassen. 201 Es ist das Verdienst der Arbeiten von Jouhaud und Schapira, mehr oder weniger en passant auf den Konturierungsbedarf eines Salonbegriffs hingewiesen zu haben, der Gefahr läuft, den Blick auf die vielseitigen Praktiken einer sociabilité zu verstellen, durch die sich im 17. Jahrhundert das Ineinandergreifen sozialer und literarischer Räume vollzieht. Der Ansatz, den sie im Hinblick auf den Umgang mit den Quellen vertreten und der für die vorliegende Arbeit übernommen wird, zieht die Umkehrung der Perspektive nach sich, die der traditionellen Salonforschung zu Grunde liegt: Fragt letztere nach der literarischen Produktion, die innerhalb der ‚vier Wände‘ eines Salons entsteht, sozusagen nach dem salonspezifischen ‚Output‘, so steht für die Forschergruppe GRIHL das performative Potential der Texte im Vordergrund, die u.a. jene sozialen Räume generieren, die heute als ‚Salons‘ bezeichnet werden. 202 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass weder für Schapira noch für Jouhaud der Salonbegriff an sich ein spezifisches Erkenntnisinteresse darstellt. Für das 17. Jahrhundert liegt bislang kein rigoroser Definitionsversuch vor, wie ihn Antoine Lilti in seiner Untersuchung der französischen Salons des 18. Jahrhunderts unternommen hat. Ob ein analoger Versuch für den 201 „Aussi faut-il maintenant, pour saisir ce qui se joue véritablement dans les relations entre professionnels des lettres et élites urbaines, au-delà de l’échange de légitimation qui vient d’être mis en évidence, quitter les ‚salons du XVII e siècle‘ pour observer des rapports concrets entre hommes de lettres et membres de ces élites.“ (Schapira, Un professionnel des lettres, S. 253; dieser ‚Exkurs‘ zur Salonforschung umfasst die Seiten 227-253). 202 „Aussi les lieux de sociabilité apparaissent-ils moins comme l’espace où se forge la réputation que comme le résultat de celle-ci, qui s’exprime dans une capacité d’attraction différentielle.“ (Schapira, Un professionnel des lettres, S. 251). Dieses Erkenntnisinteresse motiviert auch die vorliegende Arbeit. Biblio17_204_s005-419End.indd 93 11.06.13 10: 10 <?page no="94"?> 94 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts hier interessierenden Gegenstand überhaupt sinnvoll wäre, sei dahingestellt. Liltis Studie, auf die nun abschließend eingegangen werden soll, erlaubt es jedoch, das Denkbild der ‚liminalen Räume‘, das die vorausgehenden Kapitel skizziert haben, noch einmal aufzurufen und anhand eines ähnlichen, wenngleich nicht identischen Gegenstandes zu resümieren. Der folgende Exkurs dient also weniger dazu, schließlich doch noch zu einer systematischen Definition des Salonbegriffs zu gelangen, als vielmehr dazu, am Ende der vorliegenden Problemskizze die im Hinblick auf die frühneuzeitlichen Salonkulturen produktiven Ansätze zu bündeln. 2.5 Liminale Räume der mémoire mondaine In seiner Studie Le monde des salons aus dem Jahr 2005 wendet sich der Historiker Antoine Lilti zunächst gegen einige hartnäckige Vorurteile. Es handelt sich dabei erstens um die Vorstellung, in den Salons, in denen Schriftsteller mit Vertretern des Hochadels verkehrten, habe tatsächlich die unbeschwerte Atmosphäre geherrscht, die in den Quellen heraufbeschworen wird. 203 Zweitens verweist Lilti eine dichotomische Lesart der Formel „la cour et la ville“, derzufolge der urbane Salon als Raum der flachen Hierarchien den Distinktionsmechanismen am Hof diametral entgegengesetzt sei, in den Bereich der wissenschaftlichen Mythen: 204 Der Hof ist im 18. Jahrhundert stets der Horizont, vor dem sich das Leben in den Salons abspielt, auch und gerade für die Schriftsteller. Und drittens zeigt seine Analyse des Umgangs der Schriftsteller mit den mondänen Eliten, der sich durch Gegenseitigkeit und Freundschaft auszuzeichnen scheint, dass es sich hierbei um einen Modus der Konversation handelt, der gerade nicht zu einer frühen Form von literarischer Öffentlichkeit führt, wie in der Aufklärungsforschung mitunter behauptet wird. 205 Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass die Salons im Prozess der Autonomisierung von Literatur im 18. Jahrhundert eine eher konservative Rolle gespielt haben. Wenn sich diese Gemeinplätze so lange im wissenschaftlichen Diskurs halten konnten, so liegt dies Lilti zufolge nicht zuletzt an der soliden Verankerung eines unhinterfragten Salonbegriffs in verschiedenen Forschungsfeldern, die sich gegeneinander abschotten. Indem er diskursanalytische mit empirischen Ansätzen verbindet, löst er 203 Hier wendet sich Lilti insbesondere gegen die Konversationsforschung, wie sie insbesondere von Marc Fumaroli vertreten wird (vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 50-53). 204 Dieser Mythos reicht bis zu Pierre Louis Rœderer zurück, der die (scheinbare) Abkehr der Marquise de Rambouillet vom Hofe mit der Gründung der Chambre bleue begründet (vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 73-80). 205 Vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 53-58. Biblio17_204_s005-419End.indd 94 11.06.13 10: 10 <?page no="95"?> 95 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung den Horizontbegriff ‚Salon‘ aus seiner jeweiligen disziplinären Verankerung und nimmt den Gegenstand ‚Salon‘ in den Blick. 206 Dabei diagnostiziert er zunächst einen erheblichen Konturierungsbedarf: Que l’usage actuel du mot salon fût inconnu au XVIII e siècle n’interdit pas de l’utiliser. Encore faut-il le définir rigoureusement, car les salons ne sont pas directement observables dans les sources: c’est un objet historique qu’il faut construire. 207 Es ist zugleich Ziel und Ausgangspunkt seiner Studie, eine Definitionsleistung zu erbringen, die sich unter zwei Gesichtspunkten resümieren lässt: Erstens arbeitet Lilti - wenn auch unausgesprochen - mit einem Raumbegriff, der über jene Gefäßfiktion hinausreicht, die den traditionellen Salonbegriff auszeichnet. Zweitens berücksichtigt seine Analyse der Quellen - insbesondere der Anekdoten - deren komplexe, den relationalen Raum zugleich fixierende und generierende Funktion. Zunächst legt der Autor seinem Salonbegriff fünf Kriterien zu Grunde: Regelmäßigkeit, durch die ein Ein- und Ausschlussmechanismus greift, der der Transparenz offizieller Einladungen entgegen steht und diese überflüssig macht; Gemischtgeschlechtlichkeit, wobei die gastgebende Figur nicht unbedingt weiblich sein muss; Privatheit, allerdings nicht in einem bürgerlichen Sinne, der ein dichotomisches Verhältnis von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ voraussetzen würde. Abgerundet wird dieses Kriterienbündel viertens durch die goldene Regel, dass es außer den ungeschriebenen Gesetzen der Gastlichkeit, der Höflichkeit und der Geselligkeit keine Regeln gibt, und dass es - fünftens - außer der Geselligkeit (sociabilité) keines weiteren Anlasses bedarf, sich zu versammeln. 208 Vor diesem Hintergrund wird einmal mehr ersichtlich, warum der Salon ein schwer zu fassendes Phänomen ist: Weder gibt es eine förmlich attestierte Mitgliedschaft, noch ist die Zugehörigkeit über ein Wohlverhalten geregelt, das in Statuten festgeschrieben und daher überliefert wäre, noch gibt es jenseits der sociabilité eine konkrete Mission, der sich die Teilnehmer verpflichtet fühlen. Obwohl es sich um einen Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Lebens 206 „Comme on le voit, les salons sont étudiés à partir de champs historiographiques déjà constitués: l’histoire littéraire, l’espace public, ou l’histoire de la noblesse. Mais le propre des salons, justement, est d’être des interfaces entre la vie littéraire et le divertissement des élites, entre la Cour et la Ville, entre les débats des savants et les intrigues politiques. […] Je propose donc de rouvrir le dossier en tenant compte des acquis de ces travaux, mais en m’appuyant sur de nouvelles recherches et en présentant une lecture d’ensemble du phénomène, construite autour de la notion de sociabilité mondaine.“ (Lilti, Le monde des salons, S. 9). 207 Lilti, Le monde des salons, S. 61. 208 Vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 65-69. Biblio17_204_s005-419End.indd 95 11.06.13 10: 10 <?page no="96"?> 96 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts im 18. Jahrhundert handelt, ist der Salon auch in dieser Epoche keine Institution im engeren Sinne. Vor allem ist er jedoch kein ausschließlich räumliches Phänomen, zumindest nicht im Sinne eines Gefäßes, in das man quasi ‚hineinblicken‘ kann, um das Verhalten der Personen, die sich darin versammelt haben, zu studieren. Was den Historiker wohlgemerkt nicht daran hindern muss, die Einrichtungsgegenstände eines Salons auf Spuren jener ungeschriebenen Gesetze hin zu untersuchen, die den Ein- und Ausschluss von Mitgliedern dieser hochgradig kodifizierten Gesellschaft regulieren: Ainsi, les meubles qui peuplent le salon servent de support aux pratiques de distinction mondaine; ils exigent un véritable travail de discipline corporelle, rappellant à chaque instant que cette sociabilité nécessite un long apprentissage social de la familiarité avec les objets. 209 In Sitzgelegenheiten und Teetischen materialisiert sich Castigliones Gebot der sprezzatura, also der Kunst, jede Bewegung mühelos und natürlich erscheinen zu lassen, mag ihre Beherrschung auch noch so mühevoll erlernt worden sein. „Le mobilier n’était pas nécessairement confortable, mais servait à mettre en valeur l’aisance et l’habileté que nécessitaient les jeux de la sociabilité.“ 210 Die Objekte dienen nicht unmittelbar der Dekoration, geschweige denn der Bequemlichkeit und sind auch nicht in erster Linie Ausstellungsstücke, die durch einen architektonischen Rahmen zur Geltung gebracht werden. Vielmehr tragen sie vor allem dadurch zu dem kollektiven Kunstwerk ‚Salon‘ bei, dass sie den Körper disziplinieren und zu anmutigen Bewegungen zwingen. Nicht die sorgfältig eingerichtete chambre oder das cabinet, in denen sich Menschen bewegen, können als Salon bezeichnet werden, vielmehr konstituiert erst die Bewegung der Menschen jenen Raum, den man Salon nennt. Am Mobiliar kristallisiert sich diese Bewegung, so dass eine Momentaufnahme der viel beschworenen Schönheit der Salonkultur entsteht. Dadurch bestimmt jedoch der Gebrauchswert der Einrichtungsgegenstände zugleich ihren Gedächtniswert, dessen sich beispielsweise Madame Du Deffand durchaus bewusst gewesen sei, als sie der Vicomtesse de Cambis ihren Teetisch inklusive des Porzellans vermacht habe: „Cette distribution posthume valait surtout pour la mémoire mondaine qui s’attachait à ces objets.“ 211 Einen salonspezifischen Gebrauchs- und Gedächtniswert arbeitet Lilti jedoch nicht nur anhand von notariell überlieferten Familienpapieren heraus. Während die hauptsächlich in Mémoiren und Briefen tradierten Anekdoten, bons mots und Gelegenheitsverse in der älteren Salonforschung meist 209 Lilti, Le monde des salons, S. 98. 210 Lilti, Le monde des salons, S. 100. 211 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 96 11.06.13 10: 10 <?page no="97"?> 97 Der Salonbegriff jenseits der Salongeschichtsschreibung auf ihren direkten Informationsgehalt hin gelesen wurden, plädiert Lilti für einen subtileren Umgang mit dieser Textsorte: Que faire des anecdotes? […] Il faut surtout les lire comme des récits qui ne doivent pas seulement être cités mais qui doivent être commentés, parfois longuement, afin d’en épuiser la signification. […] L’anecdote est à la fois un événement et un récit. Elle est une source et un objet de l’analyse. 212 Es genügt ihm zufolge nicht, lediglich Inhalte zu kolportieren. Vielmehr liegt das Potential der Anekdote gerade in ihrer Polyvalenz, ist sie doch zugleich Quelle für den Historiker, Ausdruck und Bestandteil der sozialen Praxis sowie der ‚Spielball‘ einer Gesellschaft, in der sie in schriftlicher oder mündlicher Form zirkuliert. Dem zeitgenössischen Individuum sichert die anekdotische Zirkulation seiner geistreichen Äußerungen den Zugang zu den Salons. 213 Die Verschriftlichung dieser Anekdoten gibt der flüchtigen Konversationskunst, über deren Leichtigkeit und Frivolität sich die gesamte Salongesellschaft identifiziert, eine adäquate Form. 214 Und nicht zuletzt dient diese Gedächtnisform, anhand derer sich die Zeitgenossen ihres eigenen Spiegelbildes versichern, dem Historiker als Quelle, die ihm nicht nur ereignisgeschichtliche Informationen liefert, sondern insbesondere Einblicke in die diskursiven Spielregeln der Salons erschließt. So ist Lilti zwar auch an der Rekonstruktion bestimmter Ereignisse, aber vor allem an der sozialen Funktion gelegen, die ihre Versprachlichung erfüllt. Seine Analyse macht einen entscheidenden Kohäsionsfaktor der Welt der Salons sichtbar, in der die verschiedensten Themen im Modus der Konversation verhandelbar sind. Das anekdotische Erzählen hat darum sowohl zerstreuende als auch konzentrierende Wirkung: Durch das Prisma der Anekdote, die witzige Bemerkungen und Inhalte verschiedener Art zur scheinbar schieren Unterhaltung zu bündeln vermag, fällt Licht auf eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt durch die Salonkonversation gestiftet wird. En occupant la bonne société pendant quelques jours, avant d’être oubliés, les plus réussis des mots d’esprit dilatent la temporalité propre de la sociabilité. Répartie orale et fugace, les bons mots sont repris et commentés. […] Répétés, ils sont ensuite fixés dans les correspondances, publiés dans 212 Lilti, Le monde des salons, S. 13. 213 „Transmis par la conversation, par le jeu des visites multiples, mais aussi par les correspondances, le bon mot circule dans l’espace mondain, et assure la réputation de son auteur, comme homme d’esprit et personnage amusant, qu’il est bon de recevoir chez soi.“ (Lilti, Le monde des salons, S. 275). 214 „Le bon mot valorise aussi les maîtres de maison chez qui il a été prononcé, en diffusant l’image d’une maison où l’on s’amuse et où les invités sont spirituels.“ (Lilti, Le monde des salons, S. 275). Biblio17_204_s005-419End.indd 97 11.06.13 10: 10 <?page no="98"?> 98 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts les nouvelles à la main et les gazettes, puis dans les ana, qui constituent autant de soutiens de la mémoire collective de la bonne société. 215 Zwischen Stimme und Schrift oszillierend, wird das anekdotische Erzählen zu einer Voraussetzung der Gruppenbildung, die es zugleich dokumentiert. Dieses Wechselspiel zwischen Referenzialität und Performativität charakterisiert demnach die mémoire mondaine des 18. Jahrhunderts auf eine analoge Weise, wie sie von Delphine Denis für die archives galantes des 17. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde, und lässt mithin auf eine relative Kontinuität derartiger Praktiken schließen. Diese Beobachtung allein erlaubt es jedoch noch nicht - und lässt es überdies nicht einmal sinnvoll erscheinen -, die von Lilti vorgeschlagene Salondefinition auf das 17. Jahrhundert zu übertragen. Denn Kriterien wie Regelmäßigkeit oder Privatheit ergeben sich nicht zwangsläufig aus der kollektiven Arbeit an der mémoire mondaine. Die eingangs geforderte rigorose Definitionsleistung verdankt sich vielmehr der Auswertung eines sehr spezifischen Quellenmaterials, stützt sich Lilti doch über weite Strecken auf polizeiliche Berichte, die der Überwachung von ausländischen Gesandten und Reisenden dienten und deren bevorzugtes Ziel die einschlägigen Kreise der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts waren, die nachträglich als Salons bezeichnet wurden. 216 3 Fazit: Der Salon des 17. Jahrhunderts als heuristische Figur Worauf referieren wir, wenn wir von den französischen Salons im 17. Jahrhundert sprechen? Der Blick in die einschlägige Salonforschung hat ergeben, dass man die Antwort auf diese Frage bislang schuldig geblieben ist und sie in der Regel durch eine Abfolge weiblicher Kurzbiographien ersetzt, als deren Modell Sainte-Beuves Galerie de femmes célèbres betrachtet werden darf. Angesichts dieser Forschungslage muss die nächste Frage lauten: Worin genau liegt die Gemeinsamkeit, die diese weiblichen Portraits miteinander verbindet und eine Menge auszubilden erlaubt, die sich von anderen Mengen unterscheidet? Auch auf diese Frage sucht man in der Forschung bislang vergeblich nach Antworten. Zum gegebenen Zeitpunkt lässt sich nur konstatieren: Der Salonbegriff ist historisch gewachsen und wird im nostalgischen Rückblick des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf das 17. Jahrhundert projiziert. An diesem ‚narrativen Grundriss‘, der von Anbeginn an die Stelle einer Definition des Salonbegriffs vertritt, orientiert man sich bis heute. Anhand 215 Lilti, Le monde des salons, S. 275-276. 216 Vgl. Lilti, Le monde des salons, S. 501-504. Biblio17_204_s005-419End.indd 98 11.06.13 10: 10 <?page no="99"?> 99 Fazit einer notwendigerweise exemplarischen Auswahl von Studien lässt sich das Dilemma einer modernen Salonforschung benennen: In dem Maße, wie sie auf einen Salonbegriff zurückgreifen, dessen Prämissen direkt aus der frühen Forschung übernommen wurden, operieren diese Studien mit einem Raumbegriff, dessen theoretischer Anspruch mit der Gefäßfiktion des Salons nicht kompatibel ist. Dies zeigen insbesondere jene Vorstellungen vom Salon als Heterotopie, die implizit auf den zwei Konstituenten des Salonbegriffs beruhen, die bereits bei Sainte-Beuve angelegt sind und von Picard als doppelter Gegenraum - konversationell und weiblich - in den Dienst der Erneuerung französischer Grundwerte gestellt wurden. Der Salon, dessen vier Wände die soziale Interaktion der historischen Personen einrahmen, dient hier dazu, den verklungenen Stimmen der Vergangenheit einen konkreten Ort in der außersprachlichen Wirklichkeit zuzuweisen. Der Salonbegriff oszilliert mithin zwischen seiner ursprünglichen Bedeutung als ‚Zimmer‘ oder ‚Saal‘ und seiner figurativen Verwendung, die einem relationalen Phänomen Ausdruck verleiht. Rückt jedoch mit der Untersuchung konkreter Praktiken der Soziabilität diese Relationalität in den Vordergrund, stellt sich die Frage nach dem analytischen Mehrwert des Salonbegriffs: Lassen sich die liminalen Räume, wie sie in den Arbeiten von Delphine Denis oder Nicolas Schapira Gestalt annehmen, überhaupt noch als ‚Salons‘ bezeichnen? Was ist an diesen auf dem Verfassen, Rezipieren und Publizieren literarischer Texte beruhenden Praktiken salonspezifisch? Da eine der größten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Salonbegriff in einer Lesart der Quellen liegt, die sich auf deren dokumentarischen Charakter verlässt, liegt es zunächst nahe, die Salonspezifik dieser Quellen in der Verschränkung von Referenzialität und Performativität zu suchen. Aber ist dieser Umkehrschluss zulässig? Anders gefragt: Eignet nicht jedem Text diese Doppelbödigkeit, auch und gerade wenn er in erster Linie Informationen über einen Sachverhalt, eine Erfahrung, eine Begebenheit enthält? 217 Oder bleibt die performative Überformung den im engeren Sinne ‚literarischen‘ Quellen vorbehalten, die es von den gewöhnlichen ‚historischen‘ Quellen zu unterscheiden gilt? Und wie lässt sich ein Textkorpus zusammenstellen, das möglichst viele der relevanten Quellen berücksichtigt, wenn die Kriterien für deren ‚Salonspezifik‘ nicht konsistent sind? Es handelt sich hier um eine Reihe offener Fragen, mit denen es sich im Folgenden immer wieder auseinanderzusetzen gilt, ohne dass sich dabei auf eine rigorose Definition des Salons zurückgreifen ließe. Eine systemati- 217 Vgl. hierzu die Einleitung in: Christian Jouhaud, Dinah Ribard, Nicolas Schapira, Histoire Littérature Témoignage. Écrire les malheurs du temps. Paris, Gallimard 2009, S. 9-21. Biblio17_204_s005-419End.indd 99 11.06.13 10: 10 <?page no="100"?> 100 Der französische ‚Salon‘ des 17. Jahrhunderts sche Untersuchung der Salons, wie sie Antoine Lilti für das 18. Jahrhundert unternommen hat, steht für das 17. Jahrhundert noch aus, und obwohl sich die Übergänge zwischen französischer Klassik und Aufklärung gerade im Hinblick auf die Adelssoziabilität sicherlich fließender gestalten, als es die Epocheneinteilung in einschlägigen Literaturgeschichten nahelegt, steht zu bezweifeln, dass sich die Salondefinition, die Lilti auf der Grundlage eines heterogenen und sehr spezifischen Quellenmaterials erstellt hat, auf den Gegenstand der vorliegenden Studie übertragen lässt. Vielmehr bleibt der Salonbegriff vorläufig eine heuristische Figur mit veränderlichen Konturen, die den Blick auf die unterschiedlichen Formen von sociabilité im Ancien Régime sowohl verstellen als auch schärfen kann. Biblio17_204_s005-419End.indd 100 11.06.13 10: 10 <?page no="101"?> TEIL II Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten im 17. Jahrhundert Wenn Sainte-Beuve davon spricht, dass es nicht genüge, einen Salon mit Menschen zu ‚füllen‘, um ihn zu erschaffen, so bringt er das Dilemma des modernen Salonbegriffs mit einem bon mot auf den Punkt: Der Salon geht nicht in der Bestimmung des Ortes auf, an dem sich die habitués regelmäßig versammeln. Vielmehr setzt die Existenz dieses Raumes den Gestaltungswillen einer sozialen Gruppe voraus und stellt keinesfalls nur den äußeren Rahmen dar, innerhalb dessen sich das Verhalten der Gruppe wie eine Versuchsanordnung beobachten ließe. Der Raum, der durch den Salonbegriff bezeichnet wird, ist nicht als Behältnis zu denken, sondern als relationales Phänomen. Das Postulat dieser Relationalität wiederum zieht Konsequenzen nach sich: Die Salonspezifik jener Orte, die von den Zeitgenossen als ruelle oder cercle, als cabale oder société bezeichnet werden, lässt sich nur über die Analyse konkreter Praktiken näher bestimmen, die es erlauben, den sozialen Raum jenseits der Gefäßfiktion sichtbar zu machen. Eine derartige Untersuchung ist jedoch auf Manifestationen dieser Praktiken angewiesen, die noch heute - im Gegensatz zu den verklungenen Stimmen der Konversation - in ihrer Materialität wahrgenommen werden können. Diejenigen Manifestationen, die textuell überliefert sind, dürfen dabei jedoch nicht allein auf ihre Referenzialität hin untersucht werden. Vielmehr gilt es, neben ihrem Informationsgehalt auch die sprachliche Gestaltung, die verschiedenen Ebenen ihrer Medialität sowie die strategische Funktion der Quelle zu berücksichtigen. Ein Quellentypus, der sich aufgrund seiner materiellen Verfasstheit besonders für eine derartige Untersuchung eignet, ist das Album. Mit Anke Kramer und Annegret Pelz lässt es sich als eine „Organisationsform narrativer Kohärenz“ begreifen, die sich durch eine „brüchige Fügung und die Fähigkeit, Gruppen über große Räume und Zeiten hinweg zu konstituieren […]“, auszeichnet. 1 Das seit der Antike anhand wechselnder Medien - von der mit 1 Siehe die Einleitung in Anke Kramer, Annegret Pelz (Hg.), Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen, Wallstein 2013, S. 7-22, S. 14. Biblio17_204_s005-419End.indd 101 11.06.13 10: 10 <?page no="102"?> 102 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Gips geweißten Wand bis zu den Poesiealben junger Mädchen - praktizierte albenhafte Erzählen ist nicht auf einen einzigen Erzähler festgelegt, sondern schafft Raum für ein reziprokes Verhältnis von Produktion und Rezeption, von Zeigen und Einschreiben. Das Album ist von Anfang an als eine Sammelform angelegt, auf deren weißem Grund ein Ereignisse seine Spuren hinterlassen hat. 2 Die Aufmerksamkeit des Betrachters zieht das Album außerdem durch seinen Einband auf sich, der die Inhalte organisiert und ihren Zusammenhalt stiftet, noch bevor dieser über die Figur des Autors oder des Werks geleistet wird. Entscheidend für die lebendige Aussage eines Albums ist, dass dieses vor allen Fragen nach Textkohärenz bereits auf der Objektebene allein dadurch Kohärenz stiftet, dass innerhalb seines Rahmens bestimmte wiederkehrende Dinge und Formate als Referenzträger und als Spuren von Handlungen, Ereignissen und Begegnungen wiederholt in Erscheinung treten. 3 Im Umkehrschluss und bezogen auf das literarische Feld im Frankreich des 17. Jahrhunderts lässt sich daher die folgende These formulieren: Verstanden als eine Sammelform von Gelegenheitstexten, die mitunter durch graphische Beigaben ergänzt werden, stellt das Album trotz seiner geschlossenen Erscheinungsform (Einband) eine heterogene Quelle dar; eine Quelle, die außerdem den Gestaltungswillen eines einzelnen (Besitzer oder Herausgeber) mit einer kollektiven Textgenese verknüpft. Unter Berücksichtigung einer spannungsvollen Konstellation von Merkmalen - Heterogenität der Quelle bei gleichzeitiger Geschlossenheit ihrer materiellen Überlieferung, kollektive Genese der Texte sowie individueller Gestaltungswille im Hinblick auf ihre Anordnung, Repräsentation von Relationalität aber auch und vor allem relationale Praxis - kann das Album als eine Manifestation von Gruppenbildung verstanden werden, die es zudem erlaubt, eine ihr möglicherweise zu Grunde liegende Salonspezifik sichtbar zu machen. Es ließe sich also nach jener Form des Quellentypus’ fragen, die Margarete Zimmermann auf der Grundlage ihrer Arbeiten über die französischen Salonkulturen des 16. Jahrhunderts als ‚Salonalbum‘ bezeichnet hat. In einer rezenten Synthese weist Zimmermann auf die Vorteile dieser Begriffsprägung hin, durch die nicht zuletzt die Frage nach der eigentümlichen Räumlichkeit des salonspezifischen „Soziotops“ - die sich mit Schapira und Jouhaud auch als eine ‚Zwischen-Räumlichkeit‘ charakterisieren lässt 4 - Berücksichtigung findet: 2 Zur Bedeutung der weißen Farbe, die bereits in der Etymologie des Albums angelegt ist, vgl. Kramer/ Pelz, Album, S. 10 sowie umfänglicher Wolfgang Ullrich, Juliane Vogel (Hg.), Weiß. Ein Grundkurs. Frankfurt a.M., Fischer 2003. 3 Kramer/ Pelz, Album, S. 13. 4 Vgl. Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 132; Schapira, Un professionnel des lettres, S. 239; siehe ausführlicher hierzu auch Teil I der vorliegenden Studie. Biblio17_204_s005-419End.indd 102 11.06.13 10: 10 <?page no="103"?> 103 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Er [der Begriff des Salonalbums, S.B.] vermeidet eine inhaltliche Festlegung auf eine bestimmte und eine einzige Gruppe als ‚Urheber‘: nicht diese generieren Salonalben, sondern das Zusammenspiel der sog. ‚formellen‘ und der ‚informellen‘ Gruppen. […] Die Salonalben fixieren die Bewegung, die Interaktionen der informellen mit den formellen Gruppen. 5 Der Begriff des Salonalbums ermöglicht es, eine Klasse von Sammelformen in den Blick zu nehmen, deren materielle und textuelle Verfasstheit auf die Beschaffenheit einer - gemischtgeschlechtlichen - sozialen Konstellation schließen lässt, die aufgrund eines für das 17. Jahrhundert noch näher zu bestimmenden Kohäsionsfaktors insofern als ‚Salon‘ bezeichnet werden kann, als sie in den Zwischenräumen einer bestehenden sozialen Ordnung angesiedelt ist. Der Rückgriff auf diesen Quellentypus ist allerdings nur scheinbar eine einfache Lösung für das Problem, das der Salonbegriff aufwirft und das im vorausgehenden Teil dieser Arbeit beschrieben wurde. Zur Ermittlung eines konkreten Gegenstandsbereichs bedarf es eines terminologischen Filters, eines ‚Suchbegriffs‘, der es erlaubt, eine kritische Masse an Sammelformen zu fokussieren, noch bevor man dieses Quellenmaterial überhaupt auf weitere Gemeinsamkeiten hin untersuchen kann. Ebenso wie der Salonbegriff wird jedoch der französische Ausdruck album im 17. Jahrhundert in einer im Vergleich zu heute nur sehr eingeschränkten Bedeutung verwendet: Sie deckt sich mit derjenigen des sogenannten Stammbuchs, auch Album amicorum genannt, mit dem sich eine gesellschaftliche Praxis verbindet, die „auf die (männliche) peregrinatio academica und deren Memorisierung“ 6 verweist. Dieser Einschränkung steht mit dem zeitgenössischen Ausdruck recueil galant ein seit der Jahrhundertmitte proliferierender Objektbereich gegenüber, der mit demjenigen der Salonalben ebenfalls nicht deckungsgleich ist. Angesichts dieser terminologischen Schwierigkeiten gilt es im Folgenden zunächst herauszufinden, welche Sammelformen des 17. Jahrhunderts dem oben skizzierten Albumcharakter tatsächlich entsprechen. Das erste Kapitel setzt sich ausgehend von der historischen Semantik mit dem Album amicorum bzw. mit der Stammbuchpraxis auseinander, die im romanischen Sprachraum der Frühen Neuzeit als das Ergebnis eines Kulturtransfers betrachtet werden muss. Dieser Transfer bringt es mit sich, dass hybride Sammelformen als Album amicorum klassifiziert werden können, die wie die 5 Margarete Zimmermann, „Salonalben. Kollektive Gedächtniswerke der Frühen Neuzeit“, Stephanie Bung, „Exkurs zu La Guirlande de Julie“, in: Anke Kramer, Annegret Pelz (Hg.), Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen, Wallstein 2013, S. 254-270, S. 269. 6 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 103 11.06.13 10: 10 <?page no="104"?> 104 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten galante Gelegenheitsdichtung weniger auf eine (männliche) gelehrte als auf eine (gemischtgeschlechtliche) mondäne Gruppenbildung verweisen. Das zweite Kapitel ist Publikationen und Handschriften gewidmet, die als recueils galants bezeichnet werden können und in ihrer Vielfalt einen Gegenstandsbereich ausbilden, in dem jener gruppenspezifische Entstehungskontext, der die Bezeichnung der jeweiligen Sammelform als Salonalbum rechtfertigt, kaum noch zu rekonstruieren ist. Allerdings lassen sich in manchen Handschriften und sogar in einigen Publikationen zusammenhängende Textstrecken isolieren, die man in Abwandlung der Begriffsprägung Zimmermanns als ‚Salonstrecken‘ bezeichnen könnte. 1 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts: Alba amicorum und/ oder Stammbücher Der Ausdruck album wird im französischen Sprachgebrauch gegen Ende des 17. Jahrhunderts geläufig und impliziert ein spezifisches Verständnis der Albumpraxis, das noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vorherrscht. Dem Dictionnaire historique de la langue française zufolge geht der Gebrauch des Wortes album im Französischen auf das Jahr 1662 zurück. 7 Der erste Eintrag in ein einschlägiges Wörterbuch erfolgt jedoch erst hundert Jahre später: 1762 beschreibt der Dictionnaire de l’Académie française das Album als „[…] cahier que les étrangers portent en voyage, sur lequel ils engagent les personnes illustres à écrire leur nom, & ordinairement avec une sentence.“ 8 Diese Definition stimmt mit dem frühen Gebrauch bei Charles de Saint-Évremond überein, der in seinem Stück Sir Politick Would-be einem deutschen Reisenden die Worte in den Mund legt: Lorsque nos voyageurs sont gens de Lettres, ils se munissent en partant de chez eux d’un livre blanc, bien relié, qu’on nomme ‚Album Amicorum‘, & ne manquent pas d’aller visiter les Sçavans de tous les lieux où ils passent, & de le leur présenter afin qu’ils y mettent leur Nom: ce qu’ils 7 Dictionnaire historique de la langue française. Paris, Le Robert 1992, S. 42. 8 Quatrième Édition, S. 49. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieser Eintrag tatsächlich der früheste mir bekannte Eintrag in ein französisches Wörterbuch ist, auch wenn andere Nachschlagewerke das Jahr 1704 angeben und dabei auf den Dictionnaire de Trévoux verweisen (vgl. La Grande Encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts. Bd. I. Paris 1865, S. 1190; Dictionnaire historique de la langue française. Paris, Le Robert 1992, S. 42). Das Lemma „album“ taucht jedoch weder in dieser ersten Ausgabe des Trévoux noch in der zweiten Ausgabe von 1721 auf. Auch im Dictionnaire de Furetière von 1727 ist es nicht vertreten. Biblio17_204_s005-419End.indd 104 11.06.13 10: 10 <?page no="105"?> 105 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts font ordinairement en y joignant quelques propos sententieux, & quelque témoignage de bienveillance en toutes sortes de langues. 9 Noch 1771 übernimmt der Dictionnaire de Trévoux diesen Albumbegriff: Album; terme purement latin, qui a été francisé par l’usage, faute d’autre, qui signifie la même chose en françois. On y joint ordinairement le mot amicorum. Album amicorum. C’est le nom qu’on a donné à un petit registre ou livret que les savans portent avec eux en voyage. Lorsqu’ils se trouvent dans quelques villes, ils vont visiter les savans du pays, & ils leur présentent leur Album amicorum, & les prient d’y écrire quelque chose, afin d’avoir de l’écriture de leur main. Ce qu’on écrit sur l’album est ordinairement sa devise, ou quelque sentence, ou quelque chose d’obligeant pour celui qui présente l’album. 10 Diese Definitionen sowie die frühe Charakterisierung durch Saint-Évremond zeigen deutlich, dass das frühneuzeitliche Verständnis dessen, was man in Frankreich zwischen 1662 und 1771 unter einem Album versteht, deutlich von späteren Konzeptionen abweicht: Während sich im 19. Jahrhundert der Sinngehalt des Wortes allmählich auf Bücher oder Hefte zur Sammlung von Einträgen und Objekten verschiedener Art erweitert, 11 wird hier der Gebrauch eines Albums als eine fremde Sitte betrachtet, die sich zudem auf das Gelehrtenmilieu beschränkt. Schon Saint-Évremond gebraucht zudem den Terminus ‚Album amicorum‘, der auch im Dictionnaire de Trévoux genannt wird und im Wörterbuch der Académie Française unausgesprochen mitschwingt. Wenngleich es sich hier um eine sehr grobe Definition jener Albumsitte handelt, die sich im deutschen Sprachraum mit den Begriffen Stammbuch, Album amicorum oder auch Philotheke verbindet, 12 so ist diese doch unschwer als solche zu erkennen. Hinter dem frühen französischen Albumbegriff verbirgt sich also ein sehr spezifisches Phänomen, das es im Folgenden näher zu betrachten gilt. 9 Charles de Saint-Évremond, Sir Politick Would-be. Comedie. A la manière des Anglois. London, chez Jacob Tonson 1714, S. 124-125. Das posthum veröffentlichte Stück entstand vermutlich zwischen 1662 und 1665 (vgl. Dictionnaire universel des littératures. Hg. von Béatrice Didier. Bd. III, Paris, Presses Universitaires de France 1994. S. 3358). Der Vermerk des Dictionnaire historique de la langue française bezieht sich daher wohl unausgesprochen auf diese Quelle. 10 Zitiert nach Slatkine Reprints, Genève 2002, S. 213. 11 Vgl. Dictionnaire historique de la langue française, S. 42: „[…] son sens s’étend (déb. XIX e siècle) à des cahiers ou publications contenant beaucoup d’illustrations, d’où album de famille […]. Au XIX e siècle (1865), album commence à désigner un cahier relié destiné à recevoir une collection (de timbres p.exp.).“ 12 Im Folgenden werden die Begriffe Stammbuch und Album amicorum vorerst als Synonyme behandelt. Biblio17_204_s005-419End.indd 105 11.06.13 10: 10 <?page no="106"?> 106 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten 1.1 Das Album amicorum: Eine ‚deutsche Angelegenheit‘? Nicht zufällig ist es die Figur eines deutschen Reisenden, der in Saint-Évremonds Komödie Sir Politick Would-be den Versuch unternimmt, einem französischen Marquis und einer englischen Lady Bedeutung und Funktion des Album amicorum näher zu bringen. Die Begriffsbestimmung ist eingebettet in eine Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen und dem Franzosen, die sich darüber uneins sind, welche Nation auf die bessere Art und Weise zu reisen versteht. Um Schlichtung wird die Gattin des Sir Politick Would-be gebeten, die sich geduldig das Loblied sowohl auf die deutsche als auch auf die französische Reisetradition vortragen läßt. Satirisch überspitzt bringt Saint- Évremond hier nationale Eigenheiten zur Darstellung, die zeitgenössischen Zuschreibungen entsprechen und zwischen den Polen ‚Weltläufigkeit‘ und ‚Pedanterie‘ angesiedelt sind: Während der Marquis den Sinn und Zweck des Reisens darin sieht, möglichst vielen standesgemäßen und ranghöheren Persönlichkeiten am Hofe des jeweiligen Landes vorgestellt zu werden und mit ihnen Konversation zu betreiben, läuft die Beschreibung des Deutschen darauf hinaus, dass man sich auf Reisen die Kenntnis des fremden Landes hart erarbeiten muss, indem man möglichst viele Denkmäler und ruhmreiche Stätten aufsucht. Dabei gilt es, den Kontakt zu den Einheimischen möglichst zu meiden, um sich nicht als Fremder zu Erkennen und der Lächerlichkeit Preis zu geben. Von dieser Regel gibt es allerdings eine Ausnahme: Die Gelehrten eines Landes werden um ihre Unterschrift und Widmung in besagtem Album amicorum gebeten. Auch hierbei scheut der deutsche Reisende keine Mühe, um an sein Ziel zu gelangen: L’A LLEMAND : […] Il n’y a rien que nous ne fassions pour nous procurer cet honneur; estimant que c’est une chose autant curieuse qu’instructive, d’avoir connu de vûë ces gens Doctes, qui font tant de bruit dans le monde, & d’avoir un Specimen de leur écriture. L A F EMME de Sir Politick: Est-ce là tout l’usage que vous faites de cet ingenieux Livre? L’A LLEMAND : Il nous est aussi d’un très-grand secours dans nos débauches: car lorsque toutes les santés ordinaires ont été bûës, on prend l’Album Amicorum, & faisant la revûë de ces grands Hommes, qui ont eu la bonté d’y mettre leurs Noms, on boit aussi leur santé copieusement. 13 Bis auf die letzte Verwendungsform, die den komödiantischen Charakter des Stückes noch einmal hervorhebt, und abzüglich der satirischen Überformung, kommt diese Darstellung jener Albumpraxis, die von der heutigen Stammbuchforschung für ihren Untersuchungsgegenstand geltend gemacht wird, bemerkenswert nahe. 13 Saint-Évremond, Sir Politick Would-be, S. 125. Biblio17_204_s005-419End.indd 106 11.06.13 10: 10 <?page no="107"?> 107 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts Wolfgang Klose vergleicht den Stammbucheintrag zunächst mit der Kommunikationssituation eines Briefes: „Ein Album ähnelt nämlich einer Sammlung von Briefen an eine Person mit dem Unterschied, daß der Empfänger sie an verschiedenen Orten persönlich abgeholt hat und nicht an seinem Wohnort durch die Post zugestellt bekam.“ 14 Der Brief, so fährt Klose fort, bestehe ebenso wie der Stammbucheintrag aus folgenden vier Elementen: dem Namen des Einträgers sowie Datum und Ort der Eintragung, Grußformel und inhaltliche Mitteilung. Der typische Eintrag enthalte Sinnsprüche oder Gedichte, religiöse Texte oder Anspielungen auf historische Ereignisse, aber auch persönliche Hinweise auf gemeinsame Erlebnisse. Neben dem textuellen Inhalt könne die Eintragung außerdem auch aus einer graphischen Beigabe bestehen, wie Wappen- oder Miniaturmalerei, Noten von Liedern oder Musikstücken sowie Zeichnungen und Skizzen. 15 Vor allem bestimmt Klose jedoch zwei Ausschlusskriterien, die beispielsweise Prachthandschriften mit Einträgen von fremder Feder - genannt wird das Ambraser Heldenbuch - aus dem Korpus der Stammbücher ausgliedern: „Im Sinne meiner Definition von echten Alba Amicorum, daß sie nämlich mit ihren Besitzern durch die Welt reisten und wenigstens eine persönliche Zuwidmung enthalten sollten, sind diese Prachthandschriften keine Alba Amicorum.“ 16 Diese Kriterien, die Klose auch unter den Stichworten ad personam und peregrinatio zusammenfasst, werden häufig als eine notwendige Eigenschaft des Stammbuchs zitiert, wobei jedoch insbesondere das Merkmal der peregrinatio in der jüngeren Forschung nicht unumstritten ist. 17 14 Wolfgang Klose, „Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts.“ In: ders., Corpus Alborum Amicorum (CAAC). Beschreibendes Verzeichnis der Stammbücher des 16. Jahrhunderts. Stuttgart, Anton Hiersemann 1988, S. IX-XIX, S. X. 15 Klose, Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, S. XI. Eine abstraktere aber gleichfalls konsensfähige Merkmalsbeschreibung liefert Werner Wilhelm Schnabel, wenn er das Stammbuchphänomen unter den folgenden fünf Kriterien zusammenfasst: Intention des Stammbuchhalters (Das Album amicorum als Freundschaftspfand mit Gedächtnisfunktion), Eingrenzung des Einträgerkreises (auf Freunde und Bekannte des Stammbuchhalters), Charakterisierung des Sammelmediums (Buch oder später eingebundene Einzelblätter), eingeschriebene Texte (Namen, Motti, Sentenzen, Gedichte, Widmungen), bildliche Darstellungen (vgl. Werner Wilhelm Schnabel, Das Stammbuch. Konstitution und Geschichte einer textsortenbezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts. Tübingen, Max Niemeyer 2003, S. 20-23). 16 Klose, Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, S. XIII. 17 Während Christiane Schwarz im Anschluss an Klose auf den mobilen Charakter des Album amicorum großen Wert legt (Studien zur Stammbuchpraxis der Frühen Neuzeit. Gestaltung und Nutzung des Album amicorum am Beispiel eines Hofbeamten und Dichters, eines Politikers und eines Goldschmieds (etwa 1550 bis 1650). Frankfurt a.M. u.a., Peter Lang 2002, S. 225), gliedert Werner Wilhelm Schnabel diesen Punkt aus seiner Definition aus (Schnabel, Das Stammbuch, S. 198-208). Auf Schnabels Herangehensweise wird im Folgenden noch näher einzugehen sein. Biblio17_204_s005-419End.indd 107 11.06.13 10: 10 <?page no="108"?> 108 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Im Hinblick auf die Treffsicherheit der eingangs zitierten Satire von Saint- Évremond wäre jedoch außerdem danach zu fragen, inwiefern es sich bei der Stammbuchsitte um ein deutsches Phänomen handelt, und ob sie sich auf das Gelehrtenmilieu eingrenzen lässt. Klose zufolge ist die Mode, ein Album amicorum bei sich zu führen und verschiedene Personen um einen Eintrag zu bitten, zumindest in ihren Anfängen im 16. Jahrhundert tatsächlich auf das Deutsche Reich beschränkt und lässt sich zudem in einen humanistischen Traditionszusammenhang stellen. 18 Aufgrund des Wesenszuges der peregrinatio ist das Phänomen jedoch bald in ganz Europa bekannt - seine satirische Behandlung bei Saint-Évremond ist dafür ein gutes, wenngleich schon recht spätes Beispiel -, wobei es die Universitätsstädte sind, die als Mittler fungieren. Wolfgang Harms zufolge dürfen Padua, Bourges, Orléans und Dôle als Knotenpunkte gelten, die die Zirkulation von Alba amicorum unterstützen, 19 wobei die Besitzer der Alben und auch die Einträger jedoch weiterhin überwiegend aus nord- und mitteleuropäischen Ländern stammen. 20 Da es zunächst wandernde Studenten sind, die zur Verbreitung der Stammbuchsitte beitragen, 21 liegt der Verdacht nahe, dass sich letztere auf das gelehrte Milieu beschränken ließe. Doch entwickelt sich schon bald neben der studentischen Tradition „ein Brauch gleicher Zielsetzung in dt. Adelskreisen“, und im 17. Jahrhundert führen beispielsweise auch fahrende Handwerker ein Album amicorum mit sich. 22 Auch darf man die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass manche Stammbuchhalter ihr Album über viele Jahre hinweg führen, so dass sich zwar ein Teil der Inskriptionen noch aus Studienzeiten rekrutiert und daher möglicherweise eher einem gelehrten Kontext zuzuordnen ist, 23 spätere Eintragungen jedoch Zeugnis 18 Vgl. Klose, Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, S. IX-X. 19 Wolfgang Harms, „Stammbuch“, in: Walther Killy, Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden. Hg. von Volker Meid, Bd. XIV, Gütersloh, München, Bertelsmann 1993, S. 402-403, S. 403. 20 Diesem Befund entspricht die Tatsache, dass sich eine spezifische Stammbuchdichte heute in verschiedenen nord- und mitteleuropäischen Bibliotheken nachweisen und erforschen lässt. So beinhalten die Akten des ersten internationalen Kongresses zur Stammbuchforschung an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel Beiträge mit deutschen, englischen, polnischen, schwedischen, ungarischen und niederländischen Sammelschwerpunkten (vgl. Jörg-Ulrich Fechner (Hg.), Stammbücher als kulturhistorische Quellen. Hg. mit Hilfe der Herzog August Bibliothek, München, Kraus International Publications 1981). 21 Vgl. Winfried Dotzauer, Deutsche Studenten an der Universität Bourges. Album et liber amicorum. Meisenheim am Glan, Anton Hain 1971. 22 Harms, Stammbuch, S. 403. 23 Wobei dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss, wenn man bedenkt, dass die Studenten auf ihren Reisen nicht nur Gelehrten begegneten und insbesondere Biblio17_204_s005-419End.indd 108 11.06.13 10: 10 <?page no="109"?> 109 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts ablegen können von den durchaus sehr unterschiedlichen Kreisen, in denen sich der Besitzer des Stammbuchs im Laufe seines Lebens bewegt. So enthält beispielsweise das Album amicorum des Solothurner Stadtschreibers Jakob vom Staal zahlreiche Einträge, die darauf hinweisen, dass wir es hier mit einem Stammbuchhalter zu tun haben, der sich auf dem internationalen politischen Parkett des 16. Jahrhunderts zu bewegen wusste: Diplomaten, königliche Gesandte und Räte aus Polen, England, Deutschland, Österreich und vor allem Frankreich haben ihre Handschrift in diesem Album amicorum hinterlassen, wobei sie nicht selten ihre Texte mit ihrem Wappen schmückten. 24 Einige von ihnen lernte der junge Staal sicherlich noch während seiner Studien in Paris kennen, andere Einträge stammen jedoch aus der Zeit nach 1570, als aus dem Studenten bereits ein Solothurner Würdenträger und Diplomat geworden war. 25 Ein weiteres Album amicorum, das nicht nur gelehrte, sondern diesmal überwiegend künstlerische Kreise dokumentiert, und auf das an dieser Stelle exemplarisch hingewiesen werden kann, ist aus dem 17. Jahrhundert überliefert und war im Besitz des Amsterdamer Lehrers und Dichters Jacob Heyblocq. 26 Es umfasst Einträge aus den Jahren zwischen 1645 und 1678 und enthält eine Vielzahl von qualitativ hochwertigen Gaben - Zeichnungen wie Gedichte - aus dem holländischen Maler- und Künstlermilieu. 27 Dadurch ist unter karrierestrategischen Gesichtspunkten auch Personen aus anderen sozialen Kontexten um einen Eintrag bitten konnten. 24 Das Album Amicorum liegt als Transkription mit einem umfangreichen Bildteil vor: Der Liber Amicorum des Hans Jakob vom Staal. Hg. von Rolf Max Kully und Hans Rindlisbacher. Reproduktionen Max Doerflinger. Veröffentlichung der Zentralbibliothek Solothurn 1988. Die Handschrift befindet sich im Staatsarchiv in Solothurn (Schweiz), ohne Standortsignatur. Zu ihrer Entstehungsgeschichte und zur Biographie des Hans Jakob vom Staal siehe die Einleitung der Herausgeber, S. ix-xli. 25 Eine Übersicht über die Namen und Biographien der Einträger sowie die Daten der Eintragungen finden sich im Anhang der Ausgabe (vgl. Der Liber Amicorum des Hans vom Staal 1998, S. 289-420). Staal beendete 1567 sein Studium, nahm in der Folge an einem französischen Feldzug (angeblich zum Schutz gegen das spanische Heer, wahrscheinlich jedoch gegen die Hugenotten) teil und trat 1570 in den Dienst seiner schweizer Heimatstadt Solothurn ein. Von 1578 an übte er das angesehene Amt des Stadtschreibers aus, wobei er jedoch mehrfach in diplomatischer Mission nach Frankreich gesandt wurde (vgl. ebd., S. xxvi-xxxv). 26 Das Album liegt in faksimilierter und transkribierter Form vor: The Album Amicorum of Jacob Heyblocq. Introduction, Transcriptions, Paraphrases & Notes to the Facsimile. Hg. von Kees Thomassen und J.A. Gruys, Zwolle, Waanders Publishers 1998. Zur Geschichte der Handschrift und zur Biographie des Besitzers Jacob Heyblocq (1623-1690) siehe die Einleitung des Transkriptionsteils (ebd., S. 7-38). 27 So finden sich beispielsweise Einträge und Verse der Dichter und Dichterinnen Joost van den Vondel, Mattheus Gansneb Tengnagel, Cornelia van der Veer, Jan Biblio17_204_s005-419End.indd 109 11.06.13 10: 10 <?page no="110"?> 110 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten es dem typischen Stammbuch des 16. Jahrhunderts nicht zu vergleichen und stellt wahrscheinlich auch für das 17. Jahrhundert ein außergewöhnliches Dokument dar, das den Fokus dezidiert auf die zeitgenössischen Künstler und Dichter richtet. 28 Gleichwohl spiegelt es die Spannbreite, das Entwicklungspotential und die „ästhetische Akzeptanz“ dieser Sammelform, die ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts - Stichwort ‚Poesiealbum‘ - zunehmend in Verruf gerät. 29 Die eingangs aufgestellte Hypothese, dass das Album amicorum ein deutsches Phänomen sei, lässt sich aus einer Perspektive der longue durée immer weniger bestätigen: Der Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass sich sowohl die Stammbuchforschung als auch ihr Gegenstand zunehmend international gestaltet. 30 Jedoch scheint der romanische Sprachraum weitgehend resistent gegenüber dieser Bewegung zu sein, wenngleich es auch hier vereinzelte Beispiele gibt, die einem „Corpus Alborum Amicorum“ - um den Titel von Kloses monumentalem Verzeichnis für das 16. Jahrhundert aufzugreifen - einzugliedern wären. 31 Die folgenden Ausführungen beanspruchen Vos, Jeremias de Decker sowie Einträge und Zeichnungen der Maler Hendrik ten Oever, Jan de Braij, Jacob van der Does. Beeindruckt ist man zunächst von einer Zeichnung, die mit Rembrandt van Rijn signiert und auf das Jahr 1661 datiert ist. Allerdings lässt sich dem Faksimile nicht entnehmen, ob diese Zeichnung tatsächlich auf dem Papier des gebundenen Albums ausgeführt wurde, ob es sich um einen Vordruck handelt, wie sie manche handelsüblichen Stammbücher zierten, oder um ein Einzelblatt unbekannter Provenienz, das Jacob Heyblocq oder einer der Einträger dem Album hinzugefügt haben (zu den verschiedenen Präsentationsformen eines Album Amicorum vgl. Schnabel, Das Stammbuch, S. 124-133). Gleiches gilt für die Zeichnungen der Maler Jan Gerritsz. van Bronckhorst, Aert van der Neer, Govaert Flinck, Lodewijk van der Helst und Jan van de Cappelle. Ihnen ist gemeinsam, dass sie von keinerlei Widmungstext begleitet werden, was den Verdacht nahelegt, dass es sich um Hinzufügungen oder Vordrucke handelt. 28 Vgl. The Album Amicorum of Jacob Heyblocq 1998, S. 33: „By now it will be clear that Jacob Heyblocq’s album amicorum leaves the ‚standard album‘ far behind. There exists, actually, only one album which is comparable, namely that of the Amsterdam lawyer and poet, Johan Blasius (1639-1672).“ Zu dem Album Amicorum von Johan Blasius siehe C.L. Heesakkers, „The Amsterdam professors and other friends of Johann Blasius“, in: LIAS, 9, 1982, S. 179-232. 29 Zum Begriff der „ästhetischen Akzeptanz“ sowie seiner Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Stammbücher siehe Schnabel, Das Stammbuch, S. 41-43. 30 Vgl. Stammbücher als kulturhistorische Quellen; Wolfgang Klose (Hg.), Stammbücher des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1989; Schnabel, Das Stammbuch, S. 15-16. 31 Vgl. Margaret A.E. Nickson, „Some early English, French and Spanish contributions to albums“, in: Wolfgang Klose (Hg.), Stammbücher des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1989, S. 63-73. Biblio17_204_s005-419End.indd 110 11.06.13 10: 10 <?page no="111"?> 111 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts selbstverständlich nicht, eine solche Integration auch nur in Ansätzen leisten zu können. Vielmehr soll es darum gehen, für den französischen Sprachraum einige Tendenzen im Umgang mit der Stammbuchsitte herauszuarbeiten und auf dieser Grundlage anhand ausgewählter Beispiele eine Spur von Autographensammlungen zu verfolgen, die bis in die Salonkultur des 19. Jahrhunderts führt. 1.2 Alba amicorum in Frankreich Die im Verhältnis zum deutschen und niederländischen Sprachraum geringe Dichte der französischen Alba amicorum erstaunt vor dem Hintergrund, dass die Stammbuchsitte bereits in ihrer Entstehungszeit offensichtlich weit genug nach Frankreich vorgedrungen war, damit in Lyon der Verleger Jean de Tournes um die Mitte des 16. Jahrhunderts darauf reagieren konnte: Unter dem Titel „Thesaurus Amicorum“ lieferte er Vordrucke aus, in welchen - die Form von Stundenbücher nachahmend - neben antikisierenden Bildern und Inschriften viel Raum für handschriftliche Eintragungen blieb. 32 Die phantasievoll ausgeschmückten Seiten dieser Bücher verdienen eine nähere Beschreibung: Ins Auge fallen zunächst die Rahmen, die aus dem potentiellen Eintrag ein Kunstwerk werden lassen, dabei mitunter jedoch selbst Kunstwerke en miniature darstellen. Ihre Breite variiert zwischen einem Zentimeter am oberen und seitlichen Rand des Blattes und zwei Zentimetern am unterer Rand. Häufig ist dieser Raum nur mit ornamentalen Mustern verziert, aber manchmal tummeln sich hier Figuren, die an die Marginalien mittelalterlicher Handschriften denken lassen: Fabelwesen, Götter und menschliche Gestalten wechseln sich ab und bieten auch dem Betrachter reichlich Abwechslung, so dass der Eindruck entsteht, diese Szenen legten es darauf an, den Einträger zu Kommentaren zu inspirieren. 33 Auch das weitere Bild- und Textprogramm dieser Stammbuchvordrucke ist aufwendig gestaltet: So werden beispielsweise Inschriften, die jeweils in Kombination mit der Abbildung einer historischen Persönlichkeit die rechten Seiten des Buches 32 Thesaurus amicorum variis iconibus. Lyon, Jean de Tournes, ohne Jahresangabe. In der Bibliothèque nationale de France [im Folgenden BNF] einsehbar unter RES- G-2640. Ein weiteres Exemplar lässt sich weder über einen Titel noch über eine Orts- oder Datumsangabe identifizieren, wird jedoch ebenso der Werkstatt des Jean de Tournes zugeschrieben und findet sich unter der Signatur RES P-G-8. Zu diesen Vordrucken vgl. außerdem Klose, Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, S. XVII; M. Audin, Le thesaurus amicorum de Jean de Tournes. Paris, o.A. 1927. 33 Eine ausführlichere Beschreibung dieser Bordüren liefert Audin, Le thesaurus amicorum de Jean de Tournes, S. 13-20. Biblio17_204_s005-419End.indd 111 11.06.13 10: 10 <?page no="112"?> 112 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten zieren, typographisch und sprachlich diesem Portrait, das einer Münze oder einem Medaillon nachgebildet ist, angepasst. 34 Angesichts dieser Formenvielfalt und sorgfältigen Ausgestaltung durch die Druckerwerkstatt kann davon ausgegangen werden, dass es durchaus Bedarf an derartigen Büchern gegeben hat. Ob es der Überlieferungssituation oder dem Desinteresse der französischen Forschung geschuldet ist, dass bis heute nur wenig über den Verbleib der Alba amicorum, deren Vorlagen von Jean de Tournes stammen, bekannt ist, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer sagen. 35 Gleiches gilt für die Alba amicorum im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts insgesamt: Einzelne Exemplare finden hier und da Erwähnung, einigen wird im späten 19. oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Studie gewidmet. 36 Eine systematische Erfassung dieser 34 BNF, Signatur RES P-G-8. So begleitet das Portrait Vergils der Satz: „Qui non mortalia pectora cogis Auri sacra fames? “ und das Portrait Erasmus’ ist mit folgendem Spruch in Fraktur überschrieben: „Für’s Vaterland man streiten soll, wer’s bekriegt ist Schand und Laster Gottes“ (sinngemäß; wörtlich hingegen: „Furs Vatterland man streiten soll, wers bkriegt ist Schand und laster Gott“). 35 Drei Exemplare dieser Art sind überliefert: Das Stammbuch des Jean Durant, das im Catalogue de la Bibliothèque de feu M. Ernest Stroehlin erwähnt wird (Bd. 2, Paris 1912, S. 190-195). Die Eintragungen stammen aus den Jahren 1583 bis 1592 und verweisen auf Namen aus dem protestantischen gelehrten Milieu (darunter ein so prominenter Name wie Théodore de Bèze). Durant selbst zog sich 1575 aus religiösen Gründen nach Genf zurück (vgl. auch den Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français, 1863, S. 226-233). Das Stammbuch des Jean de Colladon de Montauban, das Audin beschreibt und das überwiegend Eintragungen von Studenten und jungen Männern aus den Jahren 1602 bis 1613 enthält (Audin, Le thesaurus amicorum de Jean de Tournes, S. 21-25). Schließlich bleibt das Stammbuch des Jean Dragon (1599-1602) zu nennen, das an folgender Stelle erwähnt wird: Livre du recteur de l’Académie de Genève (1559-1878). Hg. von Suzanne Stelling-Michaud. Bd. 6. Genf, Droz 1980, S. 460. 36 Vgl. M. Tranchau, Jean Marrois. Professeur de mathématique à Orléans au XVII e siècle et son Album Amicorum, Orléans, o.A. 1888 (hier werden auch zwei französische Stammbücher aus dem 16. Jahrhundert kurz beschrieben, die Alba Amicorum von Jacques Verdavène und Jacob Bongars, die auch im CAAC registriert sind; Klose, Kulturgeschichte der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, S. 111 u. S. 127); Alfred Richards, „Notes sur un Album amicorum du XVI e siècle“. In: ders., Mélanges 1876-1893, ohne Seitenangaben.; M. Pecqueur-Grat, „Le ‚Liber Amicorum‘ de Gilles de Beauffort (1576-1580)“. In: Mélanges dédiés à la mémoire de Félix Grat. Bd.II. Paris, o.A. 1949. S. 389-403; Pierre Champion, „Un ‚Liber Amicorum‘ du XV e siècle. Notice d’un manuscrit d’Alain Chartier ayant appartenu à Marie de Clèves, femme de Charles d’Orléans (Bibl. Nat. ms. Français, 20026)“, in: Revue des Bibliothèques, 20, 1910, S. 320-336; Émile-G. Léonard, „Le ‚Liber Amicorum‘ du Strasbourgeois Nicolas Engelhardt (1573-1612)“, in: Bibliothèque de l’École des chartes, 96, 1935, Biblio17_204_s005-419End.indd 112 11.06.13 10: 10 <?page no="113"?> 113 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts frühneuzeitlichen Quellen, wie sie Klose für den überwiegend deutschen Sprachraum geleistet hat, steht derzeit jedoch noch aus. So finden beispielsweise vier interessante Exemplare aus dem 17. Jahrhundert nirgends Erwähnung, obwohl sie unter dem Eintrag „Album amicorum“ in der Bibliothèque nationale de France (BNF) katalogisiert sind. Drei von ihnen belegen die These des Kulturtransfers von Ost nach West: Es handelt sich um Alben, deren französische Besitzer überwiegend Eintragungen von Nord- und Mitteleuropäern gesammelt haben. Deutsche, niederländische, schwedische und auch englische Reisende - die mit dieser Sitte wohlvertraut zu sein scheinen - hinterlassen neben ihrer Unterschrift zudem ihre Wappen und Devisen, was diese Alben einerseits vielen Stammbüchern aus dem deutschen Sprachraum vergleichbar macht, andererseits jedoch auch den Brückenschlag ermöglicht zu einer Mischform, die durch das vierte Exemplar dieses kleinen Korpus’ repräsentiert ist: Der Typus des Wappen- und Devisenbuches verschränkt sich hier mit handschriftlichen Zusätzen durch französische Adlige. Auf deren Freundschaftsbekundungen beruht vermutlich die (nachträgliche) Bezeichnung als „Album amicorum“, unter der dieses Exemplar verschlagwortet wurde, im Unterschied beispielsweise zu einer Devisensammlung der Duchesse de La Trémoïlle, die diesem Album in mancher Hinsicht vergleichbar ist. So lassen sich anhand dieser Sammlungen unterschiedliche soziale Praktiken beschreiben, die die Stammbuchsitte entweder übernommen oder adaptiert haben, und deren Ausläufer noch bis ins 19. Jahrhundert reichen, in dem Autographensammlungen auch in salonspezifischen Kontexten auftauchen. Bevor diesen Ausläufern jedoch ein Exkurs gewidmet wird, soll im Folgenden zunächst näher auf die genannten Exemplare des 17. Jahrhunderts eingegangen werden, um einen Einblick in das Zusammenspiel von Raum, Gruppe und Schrift im Frankreich der Frühen Neuzeit zu geben. 1.2.1 Zwei Alba amicorum aus den Universitätsstädten Orléans und Angers Als „Album amicorum, avec blasons coloriés, des élèves de Morel, maître de luth orléanais (1623-1630)“ beschreibt der Katalog der Anciens Petits Fonds Français eine kleinformatige Handschrift (10 x 15 cm), die auf insgesamt 117 Folii Wappen, Devisen und Freundschaftsbekundungen von überwiegend ausländischen Studenten für Monsieur Morel beinhalten, der für eine begrenzte Zeit zwischen 1623 und 1630 ihr Lehrer im Lautenspiel gewesen war. 37 Sowohl der Beruf des Albumbesitzers als auch die Stadt, in der er diesen S. 91-129; Alphonse Roersch, „Les Albums Amicorum des XVI e et XVII e siècles“, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire, 8, 1929, S. 530-536. 37 BNF, Paris, Manuscrits français Ms 25185. Biblio17_204_s005-419End.indd 113 11.06.13 10: 10 <?page no="114"?> 114 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Beruf ausübt, sind aufschlussreich für die Gestaltung des Buches: Orléans ist eine Universitätsstadt, in der viele nord- und mitteleuropäische junge Adlige und Söhne eines aufstrebenden Bürgertums studieren. Zu ihrer Ausbildung gehört auch die Beherrschung eines Instruments wie die Laute, und sie sind außerdem mit der Stammbuchsitte vertraut; möglicherweise tragen sie selbst ein Album amicorum mit sich. Einige von ihnen hinterlassen daher vermutlich gern ihrem maître de luth ein Zeichen ihrer ‚Freundschaft‘, 38 d.h. eine Gabe, die in einem wohlformulierten, französischen Satz sowie in ihrem Wappen besteht, über dem häufig - eingeschrieben in eine Banderole - die eigene Devise prangt. Bei den Texten handelt es sich um standardisierte Sentenzen, die nur geringfügig voneinander abweichen und manchmal - die Kunst des ‚Ver-Hörens‘ nicht-französischer Einträger dokumentierend - Stilblüten ausbilden. So schreibt beispielsweise ein gewisser Anton Boeker: „Pour la mour [Hervorhebung S.B.] que je porte à monsieur morel je ay escrit cecy a Orlean Anno 1623 le 14 jour de ce mois de mars“. 39 (vgl. Abb. 1) Meistens folgen die Formulierungen jedoch einem Muster, wie es der willkürlich herausgegriffene Eintrag eines V. Gelders veranschaulicht: „En tesmoignage de l’affection que je porte à Monsieur Morel mon maistre j’ay escrit cecy. A Orleans le 20 juin 1623“. 40 Anhand der Beispiele lassen sich die von Wolfgang Klose beschriebenen schriftlichen Bestandteile eines Stammbucheintrags aufzeigen: Ort und Datum der Eintragung, Mitteilung (wenngleich auf eine Standardformel reduziert) und Unterschrift. Die Besonderheit dieses Albums liegt jedoch in den graphischen Beigaben: Die Wappen nehmen mindestens ebenso viel Raum auf der jeweiligen Seite ein wie die schriftlichen Freundschaftsbekundungen. Ihre farbenfrohe und sorgfältige Gestaltung lässt auf die Bedeutung schließen, die sie sowohl für den jeweiligen Einträger als auch für den Besitzer des Albums haben. In vielen Fällen wird zum Beispiel in der Sentenz noch einmal auf das eigene Wappen hingewiesen, so dass sie ihm de facto untergeordnet wird, wie in diesem Beispiel: „En tesmoignage de l’affection que ie porte à Monsieur Morel mon maistre Joueur de luth ie luy ay donné mes armes [Hervorhebung S.B.] ce 19 jour d’octobre 1625. Orleans, Pierre Noirot francontois, Debray.“ 41 Einige der hochadligen Einträger beschränken sich gleich ganz auf Wappen, Devise und Unterschrift, so dass die Mitteilung und dadurch die Freund- 38 Zum Begriff der ‚Freundschaft‘ im Zusammenhang mit der Stammbuchpraxis vgl. Karlheinz Wiegmann, „Das Stammbuch des Johann Jacob Dann“, in: ‚In ewiger Freundschaft‘. Stammbücher aus Weimar und Tübingen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen 2009, S. 33-63, S. 46-48. 39 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 27. 40 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 40. 41 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 65. Biblio17_204_s005-419End.indd 114 11.06.13 10: 10 <?page no="115"?> 115 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts Abb. 1: „Album amicorum, avec blasons coloriés, des élèves de Morel, maître de luth, orléanais“. Biblio17_204_s005-419End.indd 115 11.06.13 10: 10 <?page no="116"?> 116 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten schaftsbekundung unter den Tisch fällt. 42 Aber auch der Besitzer des Albums misst den Wappen seiner Sammlung besondere Bedeutung bei. Das ergibt sich aus der Art und Weise, wie sie zustande kommen: Auf den ersten Blick fällt die Homogenität der graphischen Beigaben auf. Sowohl die Banderolen für die Devisen, als auch die kunstvoll geschwungenen Helmdecken stammen höchstwahrscheinlich von der Hand eines einzigen Malers, wenn sie nicht sogar mit Hilfe einer Schablone entstanden sind. Offenbar fertigt Morel die Wappen selbst an (oder lässt sie anfertigen), bevor die Einträger sie durch ihre handschriftlichen Beigaben ergänzen. In nur einem Fall scheint der betreffende Student entweder vor der Zeit abgereist zu sein oder sich mit seinem Lehrer überworfen zu haben, als das Wappen bereits gemalt oder in Auftrag gegeben worden war; 43 und in einem anderen Fall hat der Einträger den entsprechenden Raum ausgespart, damit das Wappen noch nachgetragen werden konnte, was dann allerdings nicht geschah. 44 So lassen sich bereits aus Gestalt und Genese des Albums einige Erkenntnisse über den relationalen Raum ableiten, der hier durch das Zusammenspiel von Medium, Schrift bzw. Malerei und sozialer Praxis entsteht. Zunächst bleibt der stationäre Charakter des Albums festzuhalten: Nicht sein Besitzer ist auf Reisen, sondern der jeweilige Einträger. Die Autographensammlung spiegelt demnach weniger eine lineare Bewegung im Raum, wie dies der Fall wäre, wenn einzelne Einträge verschiedene Etappen einer Reise dokumentieren würden. Vielmehr ließe sich das Album mit einem Brennspiegel vergleichen, in dem sich Strahlen bündeln, die aus verschiedenen Richtungen auf ihn treffen: Johann Ferdinand Freiherr von Khienburg (Khuenburg, Küenburg) kommt aus der Steiermark, 45 Johann Ferdinand Freiherr von Schwarzenberg aus Bayern, 46 Maximilian Willibald Reichserbtruchsess Freiherr von Waldburg, Graf zu Wolfegg aus Schwaben, 47 Severin van der Burch aus Mons 42 Dass hochadlige Einträger ihre Gaben auch in deutschen Stammbüchern mitunter auf Namen, Wappen und Devise beschränken, zeigt beispielsweise das Stammbuch von David Wirsung (vgl. ‚In ewiger Freundschaft‘. Stammbücher aus Weimar und Tübingen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen 2009, S. 74-75; vgl. hier auch den Eintrag von Ernst Friedrich Markgraf von Baden in das Stammbuch des Erasmus Freiherr zu Starhemberg, S. 10). 43 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 15. 44 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 91. 45 Zu dieser Person vgl. Ernst Heinrich Kneschke, Neues Allgemeines Deutsches Adels-Lexicon. 9 Bde., Leipzig, Friedrich Voigts Buchhandlung, 1859-1870; Bd. V, S. 311-313. [Im Folgenden zitiert als: Adels-Lexicon] 46 Zu dieser Person vgl. Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln. Neue Folge, 28 Bde., Marburg, J.A. Stargardt, seit 1998 Frankfurt a.M., Vittorio Klostermann 1978-2011, Bd. I, Tafel 111. [Im Folgenden zitiert als: Europäische Stammtafeln] 47 Zu dieser Person vgl.: Europäische Stammtafeln Bd. I, Tafel 154. Biblio17_204_s005-419End.indd 116 11.06.13 10: 10 <?page no="117"?> 117 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts im Hennegau und verschiedene Studenten kommen aus Burgund und der Franche-Comté. Anhand der Herkunftsorte der Einträger lässt sich mithin eine Landkarte erstellen, die eben jenen Kulturtransfer von Ost nach West abbildet, dessen Resultat sie vermutlich ist. 48 Doch nicht nur geographische Strukturen werden auf dem Hintergrund dieses Albums sichtbar: Es fixiert auch ein soziales Spannungsgefüge, in dem sich die ausgeprägte Helmzier zum Teil doppelköpfiger Adelswappen deutlich von den bürgerlichen Wappen absetzen. Letztere wirken manchmal sehr individuell, etwa wenn sich ein Theodorus Storck einen Storch in den Schild und als Helmzier malen lässt, auf die er seinen Geleitspruch abstimmt: A l’exemple de la sigogne [sic] qui n’est jamais ingrate au lieu ou elle nige [sic]: le mesme je promets a M r Morel mon maistre de ne l’estre jamais en l’affection que je luy voüe. 15 Augusti 1624. 49 Da dieses Album ganz offensichtlich nicht nur dazu bestimmt ist, die Erinnerung an eine Begegnung aufzubewahren, sondern auch darauf angelegt ist, vorgezeigt zu werden, wirkt das abgebildete Sozialgefüge auf den gesellschaftlichen Kontext zurück, in dem sich Besitzer und Einträger bewegen: Theodorus Storck oder Anton Boeker können mit einem gewissen Stolz darauf verweisen, ihre Wappen in unmittelbarer Nähe zu einem Schwarzenberg, Khienburg oder Waldburg malen zu lassen, - ein Stolz, der letztlich die Verlängerung jener bürgerlichen Ambition darstellt, die dazu führt, die eigenen Söhne an eben jenen Orten studieren zu lassen, die auch die Kinder der großen Adelsfamilien zum Studium aufsuchen. In komplementärer Weise ist auch die Wappensammlung des Albumsbesitzer als ‚symbolisches Kapital‘ zu begreifen, da sie sich auf lange Sicht in einen konkreten Gewinn - die Erweiterung des ‚Kundenstammes‘ - umrechnen lässt. 50 Gestützt durch die Zirkulation des Albums soll sich herumsprechen, dass bei diesem maître de luth hochgestellte Persönlichkeiten Unterricht nehmen. Das Büchlein des Monsieur Morel ist kein Einzelfall. Dies zeigt ein weiteres Album amicorum, das in den Katalogen der BNF als solches auswiesen wird. 51 Es handelt sich gewissermaßen um das Gegenstück des Exemplars aus Orléans: Das Album des Waffenmeisters Pierre Baullain aus der Universitäts- 48 Zudem zeichnet sie deutlich das Einzugsgebiet der ‚Kunden‘ des Lautenmeisters nach, die überwiegend dem habsburgischen Einflussbereich entstammen. 49 BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 19. 50 Im Sinne Bourdieus eignet sich der Begriff des capital symbolique, um die strategische Funktion, die mit den untersuchten ‚Freundschafts‘-Alben verbunden ist, als „fiction sincère d’un échange désintéressé“ zu analysieren (vgl. Pierre Bourdieu, Le sens pratique. Paris, Minuit 1980, S. 191). 51 BNF, Paris, Ms NAF 716. Biblio17_204_s005-419End.indd 117 11.06.13 10: 10 <?page no="118"?> 118 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten stadt Angers ist ebenso kleinformatig und umfasst an die 100 Eintragungen von ebenfalls überwiegend nordsowie mitteleuropäischen Studenten aus adligen und bürgerlichen Familien. Auch hier werden die Freundschaftsgaben durch die Wappenmalerei bestimmt, wobei der abgebildete Zeitraum etwas größer als derjenige in Morels Album ist: Bei Baullain stammt die früheste Eintragung aus dem Jahre 1613, die späteste von 1636. Es bedürfte einer eigenen vergleichenden Studie, um mit Sicherheit sagen zu können, ob sich die geographischen Dimensionen dieser zwei Büchlein ergänzen, überschneiden oder ob sie gar deckungsgleich sind. 52 Zumindest ihre strukturelle Ähnlichkeit ist unübersehbar: Auch in Baullains Album finden sich hochadlige und weniger bekannte Wappen mit den typischen schriftlichen Beigaben. Ein Rudolph Fugger Freiherr von Kirchberg fügt seiner prachtvollen doppelköpfigen Helmzier nur noch seinen Namen und seine Devise eigenhändig hinzu, während sich ein Lambertus Bock, der einen schwarzen Ziegenbock im Schild führt und als Helmzier trägt, der üblichen standardisierten Formel bedient, die seine ‚Freundschaft‘ gegenüber dem Waffenmeister zum Ausdruck bringt. 53 Letzterer bedient sich seines Albums vermutlich ebenfalls zum Aufbau eines Netzwerks von Kunden und Beziehungen. Wie schon im Fall des Lautenmeisters ist von einer direkten Übersetzung des symbolischen Kapitals, das sich in der Wappensammlung niederschlägt, in berufliche und daher finanzielle Vorteile für den Albumsbesitzer auszugehen. Schließlich belegen beide Alba amicorum, dass es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen spezifischen Kulturkontakt gegeben hat, der sich sowohl in der schieren Existenz dieser Autographensammlungen als auch in der darin enthaltenen Heraldik sowie in den Namen der Einträger ausdrückt. 1.2.2 Das Album amicorum der Familie La Chambre aus Paris Eine weitere Autographen- und Wappensammlung, die in den Beständen der BNF unter dem Schlagwort Album amicorum verzeichnet ist, war im Besitz einer Familie mit dem Namen La Chambre. 54 In der Beschreibung des catalogue général des manuscrits français: Ancien Saint-Germain Français werden als Besitzer der Sammlung die Herren Jean-Philippe und Gaspar de la Chambre angegeben sowie eine Madame de La Chambre. Über diese Personen ist leider nicht viel in Erfahrung zu bringen: Weder tauchen sie in 52 Zumindest im Fall des Severin van der Burch aus Mons im Hennegau überschneiden sich die beiden Alben: Im Jahre 1630 nimmt er in Angers Fechtunterricht bei maître Baullain (BNF, Paris, Ms NAF 716, fol. 99), während er in Orléans das Lautenspiel bei maître Morel erlernt (BNF, Paris, Manuscrits français, Ms 25185, fol. 70). 53 BNF, Paris, Ms NAF 716, fol. 46. 54 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986. Biblio17_204_s005-419End.indd 118 11.06.13 10: 10 <?page no="119"?> 119 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts einschlägigen Adelsverzeichnissen auf, noch handelt es sich um Persönlichkeiten, die im literarischen - oder im weitesten Sinne ‚kulturellen‘ - Feld des frühen 17. Jahrhunderts in Erscheinung treten. Umso bemerkenswerter ist die soziale Zusammensetzung ihres Albums: Vor allem in den ersten zehn Jahren eines Zeitraums, der sich von 1607 bis 1638 erstreckt, wurden in großer Zahl und aufwendigem Stil Wappen aus dem deutschen und österreichischen Hochadel eingemalt, die hier vermutlich von einer professionellen Hand stammen. Diese Wappen zieren nicht nur zwei, sondern in vielen Fällen drei und mehr Helme; der Markgraf Friedrich von Baden ist mit einem siebenköpfigen Schild vertreten. 55 Die Liste der Namen, die sich in diesem Album versammeln, ist unter rangspezifischen Gesichtspunkten insgesamt beeindruckend: Neben den reichsfürstlichen Häusern Baden und Holstein (vgl. Abb. 2) hinterlassen ihren Namen, ihre Devise und ihr Wappen zum Beispiel auch Angehörige der reichsständischen Häuser Sayn-Wittgenstein, Schönburg und Rappoltstein. 56 In den dreißiger Jahren tauchen vermehrt weniger bekannte Namen und Wappen auf. Dafür tragen sich jedoch in den Jahren 1633 und 1634 die Neffen des schwedischen Reichskanzlers Johannes, Gabriel und Ture Oxenstierna sowie der schwedische General Gustav Horn in das Album ein. 57 Was lässt sich auf der Grundlage dieser Konstellation von Einträgen über die Besitzer der Sammlung sagen? Da ausgeschlossen werden kann, dass es sich hier um Freundschaftsgaben unter Gleichrangigen handelt, wäre die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich die Familie La Chambre auf die Unterbringung von hochgestellten Ausländern spezialisiert hat, die wie schon im Falle von Orléans und Angers überwiegend zu Studienzwecken nach Paris kommen. Diese Hypothese wird durch das durchweg jugendliche Alter der adligen Einträger gestützt sowie durch folgenden Eintrag von einem gewissen Hans Jost Schmidmajer, der in auffälliger Weise die Gastfreundschaft des Monsieur de La Chambre betont: Pour tesmoigner la grande affection que ie porte à Monsieur de La Chambre, et pour me remercier de la courtoisie qui m’a faict dans son logis [Hervorhebung S.B.], i’ay escrit ce peu de mots avec protestation que si ie 55 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986, fol. 7. 56 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986, fol. 7, 5, 10, 15, 13, 20, 40, 119. Zu diesen Häusern vgl.: Europäische Stammtafeln Bd. 1.2, Tafel 270 (Baden), Bd. 1.3, Tafel 282 (Holstein), Bd. 4, Tafel 123 (Sayn-Wittgenstein), Bd. 4, Tafel 151 (Schönburg), Bd. 11, Tafel 82 (Rappoltstein). 57 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986, fol. 57, 59, 60, 88. Zu diesen Personen vgl. Gustaf Elgenstierna, Den introducerade svenska adelns ättartavlor med tillägg och rättelser, Stockholm, P A Norstedt & Söners Förlag, 1925-1936; Bd. III, S. 675, Bd. V, S. 582-584. Biblio17_204_s005-419End.indd 119 11.06.13 10: 10 <?page no="120"?> 120 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Abb. 2: „Album amicorum de la famille La Chambre“. Biblio17_204_s005-419End.indd 120 11.06.13 10: 10 <?page no="121"?> 121 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts ne sçauray recompenser les bienfaicts dont il m’a comblis ie ne manquera pas toutefois d’en avoir tousjours souvenance et me diray toute ma vie son obligé et très humble serviteur […]. 58 Natürlich gilt es zu berücksichtigen, dass hier ein Ausländer in einem umständlichen und nicht ganz fehlerfreien Französisch seine Dankbarkeit zum Ausdruck bingt, die sich nicht unbedingt auf die tatsächliche Unterkunft („logis“), die hier auch im übertragenen Sinne gemeint sein könnte, beziehen muss. Doch hätte sich Schmidmajer auch auf das Vorbild anderer Eintragungen berufen können und seinen Geleitspruch entweder sehr kurz und formelhaft halten oder gleich in seiner Muttersprache verfassen können, da sich in diesem Album - im Unterschied zu den Sammlungen von Morel und Baullain - einige Texte finden lassen, die in deutscher Sprache verfasst sind. Neben diesen muttersprachlichen Einträgen, deren ‚Botschaft‘ ebenso an die eigenen Landsleute wie an die Familie La Chambre gerichtet ist, tauchen auch Einträge in spanischer oder italienischer Sprache auf. Da jedoch auch hier die Autoren aus Nord- und Mitteleuropa und eben gerade nicht aus den romanischen Nachbarländern stammen, legt dieser Befund die Vermutung nahe, dass es sich um Reisende der grand tour handelt, die auf dem Rückweg in ihre Heimat eine Unterkunft in Paris benötigen. So bedient sich beispielsweise der lausitzische Adlige Johann von Gersdorff in seinem Eintrag der italienischen Sprache: „Quel che l’huom vede, amore gli fa invisibile, E l’invisibil fa veder Amore […] Questo scrisse in buona ricordanza a Parigi giorno 11 Aug. Anno 1612 Giuan [sic] di Gersdorff“. 59 Italien ist in diesem Album auch noch in anderer Form gegenwärtig: Auf mehreren Seiten haben zeichnerisch begabte Hände Genrebilder aus der venezianischen Festkultur hinterlassen, denen allerdings weder Datum noch Geleitsatz noch Unterschrift hinzugefügt wurden und die aus dem üblichen Gestaltungsrahmen des Album amicorum herausfallen. Zu der These, dass die Familie La Chambre eine gehobene Form der Herberge unterhält, passt jedoch die Interpretation dieser Bilder als Spur einer italienischen Reise, die ein Gast (oder mehrere Gäste) in dem Buch hinterlassen hat. In diesen Punkten trägt das Album also Züge des Gästebuchs, das an ein Haus gebunden ist und in dem die Einträger ihre Dankbarkeit für eine spezifische Gastfreundschaft zum Ausdruck bringen. Auch äußerlich nähert sich das Album der Familie La Chambre dem Gästebuch an: Mit einer Größe von 28,5 x 20 cm unterscheidet es sich deutlich von den kleinformatigen Sammlungen Morels und Baullains. Die große Anzahl der Eintragungen - unter den 244 Folii dieses Buches befinden sich nur wenige weiße Seiten - spricht außerdem 58 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986, fol. 205. 59 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 18986, fol. 119. Biblio17_204_s005-419End.indd 121 11.06.13 10: 10 <?page no="122"?> 122 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten dafür, dass die Familie La Chambre einen privilegierten Zugang zu dieser Form von ‚Freundschaftsbekundungen‘ gehabt hat. Ein Gästehaus zu betreiben würde es den Albumsbesitzern tatsächlich erleichtert haben, vielen Personen in rascher Folge zu begegnen und ihnen ihr Buch zu präsentieren, selbst wenn der relativ große Zeitraum dazu beigetragen haben dürfte, dass sich die Seiten füllten. Dies schließt einen privilegierten Zugang insbesondere zu den adligen Einträgern jedoch nicht aus, zumal es deutliche Hinweise darauf gibt, dass dieses Privileg konfessioneller Natur gewesen sein könnte: Unter den repräsentierten Adelshäusern findet sich keines, dass eindeutig dem katholischen Glauben angehört. Die vertretenen Territorien sind alle fest in protestantischer Hand, die fraglichen österreichischen Gebiete in jener Zeit noch nicht von der Gegenreformation ‚zurückerobert‘ worden, und auch die schwedische Delegation spricht für eine Affinität der Besitzer des Albums zum Protestantismus. 60 Für Herbergsleute, die mitten im dreißigjährigen Krieg vorzugsweise Reisende aus den betroffenen Gebieten aufnehmen, kann es von Vorteil sein, wenn sich die konfessionellen Gegner in ihrem Haus nicht begegnen müssen. Ein Album zu führen, in dem dies dokumentiert wird, würde den Besitzern ein symbolisches Kapital verschaffen, das abermals - wie schon im Falle Morel und Baullain - mit einem konkreten finanziellen Gewinn verbunden ist. Natürlich ist dies noch kein endgültiger Beweis für die berufliche Tätigkeit der Familie La Chambre. Die Hypothese erlaubt jedoch, die strukturellen Ähnlichkeiten sowie die Unterschiede zwischen den hier vorgestellten Alba amicorum einzuordnen. Damit ließe sich die nachträgliche Bezeichnung durch die Kataloge der BNF dahingehend bestätigen, dass alle drei Sammlungen eine soziale Praxis repräsentieren, bei der es sich zumindest um eine - den jeweiligen Lebensumständen der Besitzer entsprechende - Adaption der deutschen Stammbuchsitte handelt. Ob dies auch für das letzte Exemplar der unter dem Begriff ‚Album amicorum‘ verschlagworteten Sammlungen der BNF gilt, das in mehrfacher Hinsicht aus dem hier beschriebenen Gestaltungsrahmen fällt, soll abschließend untersucht werden. 1.2.3 Das Album amicorum von Marc Vulson de La Colombière Der erste Unterschied zwischen diesem Exemplar 61 und den vorangegangenen besteht darin, dass es sich bei den Einträgern nicht mehr um Ausländer handelt, die die Stammbuchsitte gewissermaßen in das Album ‚hineingetragen‘ haben, sondern um französische Adlige, die ihrem Rang entsprechend angeordnet wurden. Letzteres setzt eine Kenntnis der Materie sowie einen Gestaltungswillen voraus, der bereits auf den zweiten entscheidenden Unter- 60 Ich danke Leonhard Horowski für diesen Hinweis. 61 BNF, Paris, Ms NAF 1741. Biblio17_204_s005-419End.indd 122 11.06.13 10: 10 <?page no="123"?> 123 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts schied verweist, der dieses Album von den anderen drei Beispielen deutlich absetzt: Der Besitzer Marc Vulson de La Colombière ist ein Wappen- und Devisenspezialist, ein ausgewiesener Kenner des französischen Adels, der Mitte des 17. Jahrhunderts mit Publikationen zu diesem Thema in Erscheinung tritt. Sein Hauptwerk, das noch nach seinem Tod im Jahre 1658 mehrfach neu aufgelegt wird, erscheint erstmals 1655, als der Autor bereits zum „Chevalier de l’Ordre de S. Michel, & Gentilhomme ordinaire de la Maison du Roy“ aufgestiegen ist, und trägt den Titel: Les Portraits des hommes illustres françois qui sont peints dans la gallerie du Palais du Cardinal de Richelieu; avec leurs principales actions, armes, devises et éloges latins; desseignez et gravé par les sieurs Heince et Bignon […] Ensemble des abrégez historiques de leur vie […]. 62 Bereits 1639, als er sich noch schlicht „Marc Vulson de La Colombière, Dauphinois“ nennt, veröffentlicht er ein Werk, dessen vollständiger Titel lautet: Recueil de plusieurs pieces et figures d’armoiries, obmises par les autheurs qui ont escrit iusques icy de cette Science. Blasonnees par le Sieur Vulson de la Colombière, Dauphinois, suivant l’art des anciens Roys d’Armes. Avec un discours des principes & fondemens du Blason, & une nouvelle methode de cognoistre les metaux & couleurs sur la Taille-douce. A Paris chez Melchior Tavernier […], M.DC.XXXIX. Avec privilège du Roy. Es ist „Denys de Salvaing, chevalier seigneur de Salvaing et de Boissieu, conseiller du Roy en ses Conseils d’Estat & Privé“ gewidmet, einer der Personen, die auch in seinem unveröffentlichten Album vertreten sind. 63 An den Widmungsbrief schließt sich eine Genealogie der Familie Salvaing an, die ebenso aus dem Dauphiné stammt wie der Autor und Genealoge selbst. Im Jahre 1644 schließlich erscheint seine voluminöse Publikation mit dem langen Titel: La Science heroïque traitant de la noblesse, de l’origine des armes, de leurs Blasons, & Symboles, des Tymbres, Bourlets, Couronnes, Cimiers, Lambrequins, Supports & Tenans, & autres ornements de l’Escu; de la Devise, & du Cry de guerre, de l’Escu pendant & de Pas & Emprises des Anciens chavaliers, des formes differentes de leurs Tombeaux; Et des marques exterieures de l’Escu de nos Roy, des Reynes, & Enfans de France, & des Officiers de la Couronne, & de la Maison du Roy. 64 Der Autor weist sich hier als ein Gelehrter der Wappenkunde aus, der jedoch nicht nur heraldische Symbole, Devisen, Helmzier („Cimiers“), Helmdecken 62 Paris, E. Pepingué 1655; Neuauflagen in den Jahren 1667 (M. Bobin et N. Le Gras),1668 (J. Cottin),1669 (J. Cottin). 63 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 63. 64 Paris, S. et G. Cramoisy 1644. Zweite Auflage 1669 (S. Mabre-Cramoisy). Biblio17_204_s005-419End.indd 123 11.06.13 10: 10 <?page no="124"?> 124 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten („Lambrequins“) oder Schildhalter („Supports & Tenans“) aus der Vergangenheit herleiten kann, sondern sein Wissen den Adelshäusern seiner eigenen Zeit zur Verfügung stellt. Der ersten Ausgabe fügt er so die Genealogie des Hauses Rosmadec hinzu, von dem drei Vertreter auch in seinem Album amicorum auftauchen. 65 Dieses Album, das Vulson de La Colombière zwischen 1643 und 1647 führt, dokumentiert im Unterschied zu seinen Publikationen jedoch nicht nur seine Kenntnisse über die französische Adelsgesellschaft, sondern auch seine guten Beziehungen zu ranghohen Persönlichkeiten dieser Kreise. Folgende Einträge vermitteln davon einen Eindruck: Henry de Lorraine, Comte de Harcourt, de Briosne, & Chevalier des ordres du Roy, Grand escuyer de France, Lieutenant general pour le Roy dans ses armées, partant de Paris pour aller en Ambassade extraord re en Angleterre, i’ay fait mettre mon nom & mes armes en livre en memoire de l’estime que ie faits du Sieur de la Colombiere, 1645. 66 (vgl. Abb. 3) Moy charles Marquis & Comte de Rostaing, fils de Messire Tristan Marquis de Rostaing, Ch[evalier] des deux Ordres du Roy, j’ay tres volontiers fait peindre mes Armes dans ce livre, pour marque de l’estime que je fais de Monsieur de la Colombiere, & pour la connoissance que j’ay qu’il ayme mon fils le Comte de Bury. 67 En tesmoignage de l’affection que j’ay vouée à Monsieur de la Colombiere mon Gouverneur, j’ay fait mettre mes Armes et mon Nom en ce livre, pour memoire du service que je desire de luy render. Fait à Paris, ce 20 de Juillet 1645. Crequy. 68 Pierre d’Hozier, Sr de la Garde Chevalier de l’ordre du Roy, Gentilhomme Ordinaire de la Maison de sa Majesté, Généalogiste & Juge General des Armes de France, a mis icy son nom & donné ses Armes a M. de la Colombierer-Vulson pour une marque de l’amitié sincere qu’il luy a vouée & pour un inviolable tesmoignage du service qu’il desire de luy rendre toute la vie. Escrit a Paris, le XXVI janvier MDCXLIII. D’Hozier. 69 65 Es handelt sich um die folgenden Einträge (BNF, Paris, Ms NAF 1741): „Sebastien Marquis de Rosmadec, Comte de La Chapelle & de Crozon […]“ (fol. 25), „Renée, Dame de Kergournadec, […] Femme dudit Seigneur Marquis“ (fol. 26), „Mathurin de Rosmadec, Marquis de St. Jouan […]“ (fol. 31). 66 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 8. Es handelt sich um eine vollständig kalligraphierte Eintragung. 67 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 10. Es handelt sich um eine vollständig kalligraphierte Eintragung. 68 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 29. Kalligraphierte Eintragung mit handschriftlicher Signatur. 69 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 58. Kalligraphierte Eintragung mit handschriftlicher Signatur. Biblio17_204_s005-419End.indd 124 11.06.13 10: 10 <?page no="125"?> 125 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts Abb. 3: „Album amicorum de Marc Vulson de La Colombière“. Biblio17_204_s005-419End.indd 125 11.06.13 10: 10 <?page no="126"?> 126 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Jean de La Croix, de Chevrieres Seigneur d’Arnacieux, Faramans des Costanes, Comette, Lieudieu, St. Veran, Beaumont-monteux, Blagnieu, Croses, Chantemerle, Baron de Serve & de Clerieu, Comte de St. Vallier, & de Vals, Chevallier, Conseiller du Roy en ses Conseils & President au mortier au Parlement de Bourgongne [sic] et tres humble serviteur de Monsieur de la Colombiere. Chevrieres. 70 Teilweise lässt sich an diesen Einträgen die Art der Beziehung erkennen, die Vulson de La Colombière mit den Personen unterhält, die er in sein Album aufnimmt. Offensichtlich war er verschiedentlich für die Ausbildung junger Adliger zuständig, was sowohl der Eintrag eines Sohnes aus dem Hause Créquy vermuten lässt, als auch die Verbindung zu dem Comte de Rostaing, die über dessen Sohn, den Comte de Bury, zustande kam. Des weiteren fällt auf, dass der Besitzer dieses Albums großen Wert auf die genauen Titel sowie auf die Nennung der Ländereien, Orden und Hofchargen derjenigen legt, die er portraitiert, wobei er sie in absteigender Reihenfolge gemäß ihrer Bedeutung am französischen Hof anordnet: Einer der frühesten Einträge, derjenige seines ‚Kollegen‘ der Genealogie Pierre d’Hozier, stammt aus dem Jahr 1643 und erscheint erst auf einer der hinteren Seiten, 71 während der 1645, also relativ spät erfolgte Eintrag des Comte de Harcourt die repräsentative erste Seite des Albums ziert. Eine weitere Beobachtung ist festzuhalten, die diese Sammlung abermals von den drei vorausgegangenen Alba amicorum maßgeblich unterscheidet: Nur ein Teil der Eintragungen stammt vermutlich aus der Feder des Einträgers; die meisten Geleitsprüche wurden in kalligraphischer Schrift vorformuliert und nur noch durch die Unterschrift des ‚Portraitierten‘ ergänzt, wobei häufig selbst diese autographische Spur noch fehlt. Zwar ist davon auszugehen, dass der Sammler niemanden ohne seine Zustimmung in dieses Album aufnehmen würde, da er sich diese Grenzüberschreitung als relativ kleines Glied in der Kette dieser Beziehungen nicht erlauben würde und sich auch nicht darauf verlassen darf, dass sich ein solcher Akt nicht herumspricht. Denn auch dieses Buch diente sicherlich nicht nur der Aufbewahrung von Begegnungsspuren, sondern vor allem deren Vorzeigbarkeit. Doch bleibt die Zustimmung eines Herzogs oder eines anderen bedeutenden Würdenträgers, 70 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 60. Kalligraphierte Eintragung mit handschriftlicher Hinzufügung [hier kursiv]. 71 Die Datierung stimmt nicht zufällig mit der viel weiter vorn im Buch angesiedelten Eintragung des Comte de Rosmadec überein. Kurz vor dem Erscheinen seiner Science héroïque im Jahre 1644 überarbeitet Vulson de La Colombière auf der Grundlage von Hoziers Arbeiten die Genealogie des Hauses Rosmadec, die er der ersten Ausgabe seines Werkes hinzufügt. Biblio17_204_s005-419End.indd 126 11.06.13 10: 10 <?page no="127"?> 127 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts mit dem eigenen Wappen in einem Album vertreten zu sein, immer noch etwas anderes als eine eigenhändige Eintragung. Deutlich unterscheidet sich die Dokumentation einer persönlichen Bekanntschaft auch von einer ‚Freundschaftsbekundung‘, wie sie beispielsweise der ungefähr gleichrangige und entsprechend gegen Ende des Albums angesiedelte Hofgenealoge Soyer hinterlässt, der möglicherweise tatsächlich mit Vulson de La Colombière befreundet war: „C. Soyer, Enlumineur et Genealogiste du Roy a mis icy son nom et ses armes pour marque de la sincere amitié qu’il luy porte et qu’il veut montrer jusques a la fin de ses jours, fait a Paris le 6. Avril 1647. C. Soyer.“ 72 Nun handelt es sich in den Büchern von Morel, Baullain und La Chambre auch nicht um Bekundungen einer ‚Freundschaft‘ im heutigen Sinne. Die Bezeichnung Album amicorum setzt keine exklusive oder außergewöhnliche Beziehung zwischen dem Besitzer und einem ‚Freund‘ voraus, sondern eine physische Begegnung sowie das Einverständnis seitens des Einträgers, mit dem eigenen Namen einen persönlichen Gedächtnisraum mitzugestalten. Doch gerade die physische Begegnung ist durch das Fehlen der Handschrift nicht mehr bezeugt. Die Sammlung von Vulson de La Colombière fällt nicht etwa mangels freundschaftlicher Beziehungen aus dem Rahmen, sondern weil sie eine Tendenz veranschaulicht, die in französischen Alben des 17. Jahrhunderts insgesamt, insbesondere aber in den salonspezifischen Kontexten auffällig ist: eine im Vergleich zu der deutschen Stammbuchsitte weniger große Bedeutung, die man dem Sammeln von Autographen beizumessen scheint. Dennoch sind bei Vulson de La Colombière noch ausreichend handschriftliche Spuren nachweisbar, die ihre Aufnahme in das kleine Korpus der Alba amicorum, das die Kataloge der BNF verzeichnen, rechtfertigt. Die Dominanz der Kalligraphie sowie die Größe der Wappen im Verhältnis zur Schrift nähert dieses Album jedoch dem Typus der hochadligen Devisensammlung an, wie er beispielsweise durch eine Handschrift vertreten ist, als deren Besitzerin die Duchesse de la Trémoïlle gilt. 73 Auf dieses Album wird noch zu einem späteren Zeitpunkt näher einzugehen sein, so dass es an dieser Stelle genügen soll, auf sein Gestaltungsprinzip sowie auf den Personenkreis, der in dieser Sammlung repräsentiert wird, lediglich hinzuweisen. Im Unterschied zu Vulson de La Colombières Album gehören die insgesamt 40 Personen, die in diesem Buch zusammengeführt wurden, einem sozial äußerst homogenen Raum an. Die Besitzerin der Sammlung, Marie de La 72 BNF, Paris, Ms NAF 1741, fol. 129. Handschriftliche Eintragung. 73 Bibliothèques de l’Arsenal, Paris, Ms 5217. Einsehbar auch in der Banque d’images der BNF. Biblio17_204_s005-419End.indd 127 11.06.13 10: 10 <?page no="128"?> 128 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Tour, duchesse de La Trémoille, die selbst mit ihrem Wappen und ihrer Devise vertreten ist, schart hier Personen um sich, die entweder direkte Familienmitglieder sind oder einen ebenso bedeutenden Rang innerhalb des französischen Hochadels einnehmen wie sie selbst. 74 Ein nur gradueller, jedoch nicht weniger signifikanter Unterschied zwischen diesem hochadligen Devisenalbum, dem Album Vulsons de La Colombière sowie den drei anderen Alba amicorum liegt jedoch in dem Verhältnis von Schrift (Autographie) und Bild: In dem Devisenalbum sind die Namen und Sentenzen in ein ‚Gemälde‘ integriert, in dessen Mitte eine allegorische Darstellung des Leitspruches zu sehen ist, die von einem prunkvollen Rahmen umschlossen wird. Das Wappen der Person, deren bildhaft verkörperte Devise in den Vordergrund des Portraits tritt, ist im oberen Teil des Rahmens abgebildet. Außerdem werden die Schriftzüge durchgängig kalligraphisch gestaltet, so dass der persönlichen Freundschaftsbekundung gegenüber dem Bild noch weniger Raum gegeben wird, als sich dies bei Vulson de La Colombière bereits andeutet. Interessant ist am Vergleich dieser insgesamt fünf Alben also die auf Kosten der Autographie zunehmende Tendenz zur bildhaften Ausgestaltung der Inhalte bei einem gleichbleibenden Interesse an der Repräsentation eines distinguierten sozialen Raumes, dem jedoch die Besitzer der vier als Alba amicorum bezeichneten Handschriften nicht selbst angehören. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die nachträglich vorgenommene Bezeichnung von vier Sammelschriften des 17. Jahrhunderts als Album amicorum durch die Kataloge der BNF zumindest in drei Fällen gerechtfertigt ist, da schon allein die überwiegend deutsche und niederländische Einträgerschaft diese Einordnung bestätigt. Auch im vierten Fall sprechen handschriftliche Freundschaftsbekundungen für eine solche Verschlag- 74 Eine Auswahl von Namen soll an dieser Stelle genügen, um die Zusammensetzung dieses Albums zu veranschaulichen: Charlotte Marguerite de Montmorency, princesse de Condé (fol. 1), Anne Geneviève de Bourbon, duchesse de Longueville (fol. 3), Anne d’Autriche, Régente (fol. 5), Marie Catherine de la Rochefoucault, marquise de Senecey, gouvernante du Roy (fol. 6), Henry Charles de la Trémoïlle, prince de Tarente (fol. 19), Henry, duc de la Trémoïlle et de Touars (fol. 25), Charlotte Amélie de la Trémoïlle (fol. 31), Gabriele de Rochechouart, marquise de Thiange (fol. 36); zu den verwandtschaftlichen Beziehungen dieser Personen vgl. Leonhard Horowski, „Konversion und dynastische Strategie: Turennes und das Ende des französischen Hochadelskalvinismus“, in: Ute Lotz-Heumann, Jan- Friedrich Mißfelder, Matthias Pohlig (Hg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus 2007, S. 171-211, siehe vor allem die Verwandtschaftstafel S. 210-211. Biblio17_204_s005-419End.indd 128 11.06.13 10: 10 <?page no="129"?> 129 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts wortung. Die Besitzer der Alben haben alle einen guten Grund, sich dieser ‚Freundschaften‘ zu versichern: Morel, der Lautenmeister aus Orléans, und Baullain, der Waffenmeister aus Angers, vermehren durch die Anzahl von hochadligen Kunden ein symbolisches Kapital, das sich in der Erweiterung eines ‚Kundenstammes‘ auszahlt. Gleiches gilt vermutlich für die Familie La Chambre, wobei in ihrem Falle noch das Bemühen um konfessionelle Homogenität hinzutritt, das sich gut mit der Hypothese vereinbaren lässt, es handele sich bei diesen Besitzern des Albums um Betreiber einer - auf die Unterbringung von hochadligen deutschen Reisenden spezialisierten - Herberge. Marc Vulson de La Colombière schließlich verdankt seine Kontakte zum französischen Hochadel vermutlich dem Sankt-Michaels-Orden. Seinen Titel als „Chevalier de l’Ordre de S. Michel, & Gentilhomme ordinaire de la Maison du Roy“ nennt er ab 1644 an prominenter Stelle in seinen Publikationen, also zu einem Zeitpunkt, der sich mit der Entstehung seines Albums deckt. Auch wenn dieses Album deutliche Züge eines anderen Sammeltypus’, nämlich der Devisensammlung, trägt, so unterscheidet sich doch gerade diese gesellschaftliche Aufstiegsmentalität seines Besitzers von der hochadligen Spielart. Es darf also davon ausgegangen werden, dass die deutsche Stammbuchsitte auch im Frankreich des 17. Jahrhunderts Spuren hinterlassen hat, wenngleich es sich hier um ein von der heutigen Forschung stark vernachlässigtes Gebiet handelt. Neben dem Problem der Überlieferungssituation und/ oder dem unzureichenden Dokumentations- und Kenntnisstand der Quellen sind es jedoch vor allem terminologische Schwierigkeiten, die einer konzisen Darstellung der Stammbuchsitte in Frankreich im Wege zu stehen scheinen. Während ‚Stammbuch‘ und ‚Album amicorum‘ in der deutschen Forschungsliteratur Synonyme sind, mit denen sich eine rigorose Definitionsleistung verbindet, 75 gilt es vor allem bei älteren französischen Darstellungen zu berücksichtigen, dass hier der Ausdruck ‚Album amicorum‘ mitunter weit weniger klar definiert zu sein scheint. 76 Mit dieser Feststellung soll nicht 75 Auch wenn die Definitionen nicht immer deckungsgleich sind, so haben doch insbesondere die Arbeiten von Wolfgang Klose und von Werner Schnabel dazu beigetragen, das Phänomen als solches zu konturieren und analysierbar zu machen. 76 Siehe zum Beispiel G. Pawlowski, „Album“, in: La Grande Encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts. Bd. I. Paris, o.A. 1865, S. 1189-1191. Pawlowski übersetzt den zeitgebundenen Begriff „album amicorum“ als „album d’amis“ direkt ins Französische, wodurch Unschärfen entstehen, die es ermöglichen, so unterschiedliche Phänomene wie La Guirlande de Julie, das Stundenbuch der Anna von Lothringen und anonyme handschriftliche Sammelschriften von Versen und Prosa unter einen Albumbegriff zu fassen, der von dem Ausdruck „album amicorum“ nicht abgegrenzt wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 129 11.06.13 10: 10 <?page no="130"?> 130 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten suggeriert werden, dass es sich dabei um einen ‚falschen‘ Sprachgebrauch handelt, ist doch dieser Ausdruck nicht der Wissenschaft vorbehalten. Noch bevor er das Stammbuchphänomen bezeichnet oder gar Eingang findet in die entsprechende Terminologie, taucht er als Metapher auf, die sich am mittelalterlichen Liber-Vitae-Bild orientiert. 77 Etwas problematischer freilich wird der metaphorische Gebrauch dieser Wendung, wenn man ihm auf der Suche nach Quellenmaterial begegnet. So verfährt beispielsweise die Bibliothèque de l’Arsenal wenig rigoros, wenn sie in ihrem Handschriftenkatalog unter der Bezeichnung Album amicorum insgesamt fünf Einträge verschlagwortet: Sieht man von einem äußerlich schön gestalteten Album ab, das ausschließlich leere Seiten enthält, 78 so verbleiben vier Alben, die aus der Sicht der Stammbuchforschung bis auf die Autographie keine der notwendigen Definitionskriterien erfüllen. Dafür stellen sie aber interessante Beispiele einer sozialen Praxis aus dem 19. Jahrhundert dar: Abgesehen von einem reinen Gästebuch, in dem die Einträger außer ihrem Namen keine weitere Mitteilung hinterlassen, 79 repräsentieren diese Alben das Gruppengedächtnis künstlerisch-mondäner Kreise. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, werden diese Sammelformen des 19. Jahrhunderts, denen im Folgenden ein Exkurs gewidmet wird, als ‚salonspezifische Gästebücher‘ bezeichnet. Diese Umschreibung hat den Vorteil, den Akzent auf die Autographensammlung und damit auf den physischen Kontakt zu legen, der zwischen dem Album und dem Einträger durch dessen Handschrift dokumentiert ist. Im Unterschied zu den Alba amicorum - die sich in Frankreich jedoch, wie das Beispiel La Chambre gezeigt hat, durchaus dem Gästebuch annähern können - impliziert die Handschrift die physische Anwesenheit des Einträgers an jenem Ort, an dem das Buch ausliegt. 77 In der humanistischen Briefliteratur findet man z.B. die Bitte, der Empfänger möge den Schreiber in sein „Album Amicorum“ aufnehmen. Von empirisch nachweisbaren Registern dieser Art fehlt jedoch jede Spur, so dass auf eine metaphorische, mitunter sogar formelhaft gebrauchte Formulierung geschlossen werden darf. Vgl. Schnabel, Das Stammbuch, S. 281. 78 Album amicorum romantique. Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 15437. 79 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 15439 [Album amicorum et journal de la duchesse de Camastra née Rose Ney d’Elchingen. Villa Camastra, 1913-1923]. Biblio17_204_s005-419End.indd 130 11.06.13 10: 10 <?page no="131"?> 131 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts 1.3 Salonspezifische Gästebücher im Frankreich des 19. Jahrhunderts 1.3.1 Drei ‚Alba amicorum‘ aus der Bibliothèque de l’Arsenal Das älteste Album, das die Bibliothèque de l’Arsenal unter der Bezeichnung Album amicorum katalogisiert, ist das Album der Maria de Marches. 80 Der Name der Besitzerin sowie das Datum 1833 sind auf dem Einband des Buches in goldenen Lettern eingraviert. Der Einband selbst ist aufwendig gestaltet: Auf nachtblaues Leder wurden goldene und farbige Muster appliziert. Der Repräsentationscharakter des Albums, das 21,5 × 29 cm misst und 71 Folii umfasst, ist kaum zu übersehen und wird durch die Handschriften auf den ersten beiden Seiten bestätigt: Zunächst schreibt sich Alfred de Vigny mit einigen Versen aus seinem Fragment d’Eloa ein, direkt gefolgt von Victor Hugo mit einem Vierzeiler über die Mutterliebe. Diesen prominenten Namen folgen weitere Inschriften, darunter ein Gedicht von Charles Nodier, ein weiteres unter dem Titel Fragment von Marie Nodier-Mennestier, einige Victor Hugo gewidmete Verse des Malers Louis Boulanger sowie unter dem Titel A la baronne Maria de Marches ein Widmungsgedicht des Baron de Reiffenberg, datiert auf den 13. April 1836. Neben den lyrischen Texten - Prosatexte kommen nicht vor - enthält dieses Album auch Zeichnungen, die jedoch überwiegend auf Einzelblättern ausgeführt und nachträglich in das Album eingelegt wurden. Die Gedichte hingegen wurden direkt auf das Papier des Buches geschrieben, so dass theoretisch jeder neue Einträger die Texte seiner Vorgänger lesen kann. 81 Mit letzteren kann er jedoch auch direkt verbunden sein, im Unterschied zu den Alba amicorum, wo dies eher die Ausnahme ist. Dies wird in dem Beitrag besonders augenfällig, in dem Louis Boulanger seine Verse Victor Hugo widmet. Hier scheinen sich zwei Adressaten zu überlagern: Maria de Marches, der alle Einträge implizit - nämlich durch die bloße Niederschrift in ihrem Album - gewidmet sind, und die Person des Dichters, zu dem sich der Maler explizit in Beziehung setzt. Auf diese Figur der ‚doppelten Silhouette‘, die hinter dem Geschriebenen aufscheint, wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal näher einzugehen sein. 80 Album de Maria de Marches, Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 15054. Es handelt sich vermutlich um Charlotte von Reiffenberg (*1723), deren Neffe der belgische Historiker und Dichter Baron Frédéric Auguste de Reiffenberg (1795-1850) war. Ihr Album wird erwähnt in: Anne Higonnet, „Secluded Vision: Images of Feminine Experience in Nineteenth-Century Europe“, in: Radical History Review, 38, 1987, S. 17-36. 81 Der Stammbuchforschung zufolge liegt darin der gruppenkonstitutive Charakter eines Albums (vgl. Schwarz, Studien zur Stammbuchpraxis der Frühen Neuzeit, S. 217; Schnabel, Das Stammbuch, S. 125). Biblio17_204_s005-419End.indd 131 11.06.13 10: 10 <?page no="132"?> 132 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Zwei weitere Alben der Bibliothèque de l’Arsenal sind ungefähr zur selben Zeit entstanden, nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 82 Der chronologisch erste Eintrag in Claudius Popelins Album ist auf den 31. Mai 1868 datiert und liegt damit rund zwölf Jahre vor dem ersten Eintrag des Albums Madame de Heredias, der am 21. März 1880 vorgenommen wurde. Zugleich überschneiden sich die Kreise ihrer Einträger: Insbesondere der Dichterkreis der Parnassiens ist stark vertreten, und Namen wie José-Maria de Heredia, Henri de Régnier, Pierre Louÿs, Marie de Régnier oder François Coppée erscheinen in beiden Autographensammlungen. Der Maler, Dichter und Emaillekünstler Claudius Popelin verkehrt im Paris der Belle Epoque in sowohl in gesellschaftlicher als auch in künstlerischer Hinsicht prominenten Kreisen: 1873 heiratet er - wenngleich nur morganatisch - Mathilde-Létizia Wilhelmine Bonaparte, genannt La princesse Mathilde, die im Frankreich der Restauration und der dritten Republik einen bedeutenden literarischen Salon unterhält. Die Dichter Théophile Gautier, Théodore de Banville, François Coppée, Edmond Cottinet, Anatole France und José-Maria de Heredia widmen ihm einen Band mit Sonetten, der 1875 unter dem Titel Cinq octaves de sonnets erscheint. Im Jahr 1868, aus dem der erste Eintrag in Popelins Album stammt, erscheinen unter dem Titel Les Conquérants Sonette von José-Maria de Heredia mit Aquarellen von Claudius Popelin. In diesem Jahr veröffentlicht letzterer eine Abhandlung über die Emaillekunst, L’Art de l’émail, die sich wiederum in dem Widmungsgedicht A Claudius Popelin, émailleur spiegelt, das José-Maria de Heredia dem Freund und Künstler übereignet, indem er es in dessen Album einträgt. Das Album selbst ist in auffälliges rotes Leder gebunden und wird in einer dazu passenden Kassette verwahrt, auf die der Schriftzug ‚Album‘ appliziert ist. Es misst 19 x 28 cm und umfasst zweiundsechzig Folii aus Papier, von denen zwanzig weiß geblieben sind. Im Unterschied zu dem Album der Maria de Marches, in das nur die Gedichte direkt eingeschrieben wurden, sind hier auch die Mehrzahl der Zeichnungen, die sich mit den Versen zahlenmäßig die Waage halten, direkt auf die Seiten des Albums aufgetragen worden. Inschriften in Prosa kommen auch hier nicht vor, das letzte Gedicht - sowohl in chronologischer Hinsicht als auch insofern, als nach ihm nur noch weiße Seiten folgen - ist mit „A. Laforgue“ unterzeichnet und wurde im Jahr 1915 eingetragen. Das Album Madame de Heredias ist das größte und - wenn man so sagen darf - ‚schönste‘ Album dieser Autographensammlungen. Es misst 32,5 x 42 cm, enthält 100 Folii und ist in ziegelrotes Leder gebunden. Die Bedeutung dieses Albums liegt jedoch vor allem in den aufwendig gestal- 82 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 15303 [Album amicorum de Claudius Popelin], Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 14363 [Album amicorum de Mme de Heredia]. Biblio17_204_s005-419End.indd 132 11.06.13 10: 10 <?page no="133"?> 133 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts teten Beiträgen sowie in den bekannten Namen, die sich hier versammeln. Als Eröffnung dient ein farbiges Aquarell von Emmanuel Lansyer, 83 das die gesamte rechte Seite ausfüllt: Eine Blume rankt sich ins Bild, flankiert von einem Schmetterling sowie der vertikalen Abfolge der Buchstaben L-A-N-S-Y-E-R, die mit einem gerahmten Datum, 21. März 1880, abschließt. Wenngleich nicht alle Einträge datiert sind, darf angenommen werden, dass es sich auch in chronologischer Hinsicht um den ersten Eintrag handelt, da keine der folgenden Datierungen hinter diesen Tag zurückgeht und die erste Seite des Buches sicher nicht zufällig so sorgfältig gestaltet wurde. Direkt im Anschluss erscheint schon das nächste Prestigeobjekt: Das Gedicht La Vérandah [sic] von Leconte de Lisle. Es folgen weitere handschriftliche Gedichte, darunter Verse von Judith Gauthier, Catulle Mendès, Théodore de Banville, Henri de Régnier, Marie de Régnier und Pierre Louÿs, immer wieder Aquarelle und Zeichnungen sowie Musikstücke, zum Beispiel ein Auszug aus der symphonischen Dichtung Les Argonautes von Augusta Holmes. 84 Sowohl die graphischen als auch die textuellen Gaben sind direkt in das Buch eingetragen worden, meistens füllen sie jeweils eine gesamte Seite, nur selten befinden sich auf einem Blatt mehrere Namen. In diesem Fall handelt es sich im Vergleich zu den bereits beschriebenen Texten um eher karge Beiträge, die ihre Kürze mitunter durch eine berühmte Unterschrift ausgleichen, wenn etwa Paul Valéry sich mit den Worten „Plus on écrit moins on pense. J’ai écrit“ verewigt oder der Historiker und Politiker Gabriel Hanotaux sich mit der paradoxen Inschrift „Il ne faut jamais rien écrire sur les albums“ einen Scherz erlaubt. In ähnlich scherzhafter Absicht, aber wesentlich kreativer und schwungvoller, widmet Jules Barbey d’Aurevilly der Besitzerin des Albums folgende Verse, die in karminroter Farbe kalligraphiert sind und diesmal wieder die ganze Seite in Anspruch nehmen: A Madame Hérédia [sic]/ Que vous dire, Madame, en cet album immense,/ dont sa grandeur ressemble à vous? / Pour vous offrir des vers que peut-être l’on pense/ Il les faudrait beaux comme Vous! 85 83 Der Marine- und Landschaftsmaler Emmanuel Lansyer (1835-1893) war eng mit José-Maria de Heredia befreundet. Außer dem Eröffnungseintrag gestaltet er noch zwei weitere Bilder in diesem Album: Eine Tuschezeichnung, die auf den 29. Mai 1884 datiert ist, sowie ein weiteres prachtvolles Aquarell, dem ein thematisch dazu passendes Gedicht mit dem Titel La Mer beigefügt ist. 84 Es handelt sich um ein Largo non troppo, gesungen von der Figur der Medea. Die Komponistin Augusta Holmes (1847-1903) verkehrte in den literarischen Salons des Frankreichs der Belle Epoque. 85 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 14363, s.p. Biblio17_204_s005-419End.indd 133 11.06.13 10: 10 <?page no="134"?> 134 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Soweit man aus den datierten Eintragungen schließen darf, folgen die Beiträge in vager chronologischer Reihenfolge aufeinander, wobei zwischen ihnen immer wieder Seiten frei bleiben, und so Raum für nachträgliche Einschreibungen geschaffen wird. Der letzte datierte Eintrag des Ägyptologen Charles Boreux stammt aus dem Jahr 1939. Ihm folgen nur noch einige Briefe, die dem Album in Form von losen Blätter hinzugefügt wurden. Auch hier handelt es sich in erster Linie wieder um Prestigeobjekte, darunter einige Zeilen von Victor Hugo und ein Brief von Stephane Mallarmé. Aber auch die Familie wird hier noch einmal gewürdigt, zum Beispiel anhand weiterer Verse von José-Maria de Heredia und eines Widmungsgedichtes von Marie de Régnier an ihre Mutter. Die Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Gérard d’Houville veröffentlichte, unterzeichnet hier mit ‚Mariecotte‘, wie sie von Freunden und Angehörigen genannt wurde, was den ausnahmsweise intimen Charakter dieser Beigabe unterstreicht. 1.3.2 Vergleich des salonspezifischen Gästebuchs mit dem Album amicorum Keine der drei Autographensammlungen entspricht den Merkmalsbeschreibungen des Album amicorum, wie sie von der Stammbuchforschung erstellt wurden. Die Alben beinhalten zwar sowohl Textals auch Bildkörper, ihnen fehlen aber in den allermeisten Fällen die direkte Adressierung des Besitzers oder der Besitzerin des Albums, häufig auch die Datierung und fast immer die Ortsangabe. Zwar handelt es sich um handschriftliche Beiträge, die nur selten eine Unterschrift vermissen lassen, doch die Textsorte ist so deutlich als Versdichtung zu identifizieren, dass diese Alben ganz offensichtlich in die Kategorie jener angrenzenden Sammelform fallen, die Schnabel als das „literarisch oder bildkünstlerisch ambitionierte Salonalbum“ bezeichnet hat. 86 Auch das künstlerisch-mondäne Milieu, in dem die meisten Einträger sowie die Besitzer der Alben verkehren, spricht für diese Kategorie, die bei Schnabel leider nicht näher definiert wird. Im Unterschied zu den klassischen Alba amicorum wurden diese Alben auch nicht auf Reisen mitgenommen und zu einer prominenten Person ‚hingetragen‘, damit sich diese darin einschreiben konnte. Im Falle des Albums Madame de Heredias verbietet sich das bereits durch die Größe und das Gewicht des Buches. Die Tatsache, dass die Alben des Claudius Popelin und der Maria de Marches in farblich passenden, mit samtigen oder elegant gemusterten Stoffen ausgekleideten Kassetten aufbewahrt wurden, 87 spricht nicht per se dagegen, dass es sich hier um mobile 86 Schnabel, Das Stammbuch, S. 206. 87 Diese Alben orientieren sich an der Form des englischen Keepsake, der in Frankreich vor allem in der romantischen Epoche in Mode kam (vgl. Frédéric Lachèvre, Bibliographie sommaire des Keepsakes et autres recueils collectifs de la période romantique, Biblio17_204_s005-419End.indd 134 11.06.13 10: 10 <?page no="135"?> 135 Autographensammlungen des 17. Jahrhunderts Objekte handelt. In dem Maße, in dem dadurch der Prestigecharakter des Buches hervorgehoben wird, liegt jedoch die Vorstellung näher, dass es dem Einträger anlässlich seines Besuches im Hause des Besitzers bzw. der Besitzerin vorgelegt wurde. Allerdings wurde bereits deutlich, dass das Merkmal der peregrinatio, das nach Kloses Definition zu den notwendigen Kriterien einer Stammbuchdefinition gehört, durchaus umstritten ist, und bereits im Falle der Alba amicorum von Morel, Baullain oder La Chambre nicht greift. Auf den ersten Blick scheint der Aspekt der Gruppenbildung eine deutliche Gemeinsamkeit zwischen dem Stammbuch und dem salonspezifischen Gästebuch zu sein. Sieht man allerdings genauer hin, so unterscheiden sich die Phänomene in einem sehr wesentlichen Punkt: Die Rede von der Gruppe kann im Falle des Stammbuchs sehr metaphorische Züge annehmen. Während das bilaterale Verhältnis zwischen dem Besitzer des Albums und dem Einträger eine notwendige Bedingung darstellt, ist die multilaterale Beziehung fakultativ. Eine physische Begegnung der Einträger untereinander findet also nicht unbedingt statt. Die salonspezifische Variante des Gästebuchs enthält hingegen eine Form von Eintragung, die auf eine solche Begegnung schließen lässt: Auf die Figur der ‚doppelten Silhouette‘, die sich im Album der Maria de Marches abzeichnet, ist bereits hingewiesen worden. Hier widmet Louis Boulanger seinen Eintrag nicht etwa der Besitzerin des Albums, sondern seinem Freund Victor Hugo. Während der Text selbst also lediglich eine Beziehung zwischen zwei Personen (Boulanger und Hugo) herstellt, erweitert der Akt der Einschreibung diese Gegenüberstellung zu einer triangulären Beziehung, wobei die dritte Person nicht namentlich genannt werden muss, da sie in ihrer Eigenschaft als Besitzerin des Albums in der Materialität des Buches präsent ist. Zugleich wird sie jedoch zu einem Bindeglied zwischen dem Autor des Textes und demjenigen, dem dieser Text explizit gewidmet ist. Sie wird zu einer Mittlerfigur, die es ermöglicht, diese Bindung zu aktualisieren und erinnerlich zu halten. 1823-1848. Bd. I, Paris, Giraud-Badin 1929, S. X-XVI). Bei dem Keepsake handelt es sich um die Publikation eines Albums mit kollektiven Beiträgen, die einer Person zugeeignet waren. Der (fiktive) Geschenkcharakter bzw. die Vorstellung von einer persönlichen Erinnerungsgabe wird dadurch betont, dass das Buch in einer Kassette aufbewahrt wird, die ebenso sorgsam gestaltet ist wie das Album selbst: „Extérieurement, le Keepsake est protégé par un cartonnage, qu’habille ordinairement une moire ou un satin d’une couleur éclatante, rouge ou verte, plus rarement bleue. La percaline, la basane avec gaufrures et ornements à froid ou dorés, les peaux chagrinées ou maroquinées et le velours estampé partagent, avec la soie, le privilège de recouvrir ces aimables recueils, suivant la fantaisie et le goût de l’éditeur, suivant aussi les habitudes de dépense de la clientèle à laquelle tel ou tel Keepsake s’adresse plus particulièrement.“ (B.-H. Gausseron, Les Keepsakes et Annuaires illustrés de l’époque romantique. Essai de Bibliographie. Paris, Librairie Auguste Fontaine 1896, S. 3). Biblio17_204_s005-419End.indd 135 11.06.13 10: 10 <?page no="136"?> 136 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten ‚Doppelte Silhouetten‘ dieser Art finden sich auch in dem Album der Madame de Heredia: Durch ihre eheliche Verbindung mit José-Maria de Heredia, dem ‚Haupt‘ der Parnassiens, eignet sie sich besonders gut zur Mittlerin. Théodore de Banville und Philippe Dufour widmen ihre Gedichte explizit dem Ehemann und implizit der Besitzerin des Albums. Henry Houssaye nimmt in einem Prosatext über Kleopatra (als große Liebende der Weltgeschichte) intertextuell Bezug auf das Gedicht, das José-Maria de Heredia in das Album seiner Frau geschrieben hat. Dieses trägt den Titel Antoine et Cléopâtre und beginnt mit dem Vers: „Tous deux ils regardent de la haute terrasse“. Houssaye zitiert diesen Vers en exergue und ehrt auf diese Weise mit seinen Ausführungen über die Königin aller Liebenden nicht nur die Besitzerin des Albums, sondern zugleich den ‚Besitzer‘ ihrer Liebe, d.h. den Gatten. Pierre Louÿs wiederum zielt mit seinem Gedicht Pour la stèle de Leconte de Lisle noch über die Köpfe der Eheleute hinweg auf den symbolischen Vater der Parnassiens, was aus der doppelten eine dreifache ‚Silhouette‘ werden lässt, und die Gedächtnisfunktion des Albums hervorhebt: Das Gruppengedächtnis wird hier über das Totengedächtnis aktualisiert, und die Stele des Grabes nimmt auf der textuellen Ebene eine dem Eintrag des Albums analoge Position ein. Diese ‚Silhouetten‘ stellen eine interessante Verschränkung der medialen, textuellen und pragmatischen Ebene dieser Bücher dar: Die explizite Widmung des Textes verbindet sich mit der impliziten, d.h. über die Materialität des Albums sich vollziehenden Widmung zu einer komplexen Figur, die den Kommunikations- und Gedächtnischarakter des Mediums auffächert. Die „Aggregatfunktion“ 88 des Albums wird auf diese Weise noch stärker betont als dies durch die additive Reihung der Beiträge oder die reine Gegenüberstellung von Besitzer und Einträger möglich ist. Dieser Mechanismus der Gruppenbildung scheint für die Salonspezifik dieser Alben von Bedeutung zu sein. Verlangt er doch nach einer Mittlerfigur, an der sich Beziehungsmuster herauskristallisieren, die über die Paarbeziehung (Albumbesitzer und Einträger, bzw. Autor und expliziter Widmungsadressat) hinaus auf ein bestehendes Netzwerk von Personen verweist. Über diese Figur wird das Beziehungsgefüge in das Album einbeschrieben und muss also nicht allein über zusätzliche Informationen rekonstruiert werden. Festzuhalten bleibt, dass die Aggregatfunktion des salonspezifischen Gästebuchs über die Figur der ‚doppelten Silhouette‘ näher bestimmt werden kann, verweist sie doch auf einen multilateralen Begegnungsraum jenseits der Schrift. 88 Schnabel, Das Stammbuch, S. 125. Biblio17_204_s005-419End.indd 136 11.06.13 10: 10 <?page no="137"?> 137 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Zusammenfassend kann man sagen, dass der Begriff Album amicorum im Gegensatz zu dem spezifischeren Terminus Stammbuch zwischen einem wissenschaftlichen und einem metaphorischen Gebrauch oszilliert. Durch die Ausweitung und zunehmende Verbreitung des Albumbegriffs im Verlauf des 19. Jahrhunderts kann insbesondere in Frankreich auch ein Gästebuch als Album amicorum oder album d’amis oder schlicht album bezeichnet werden, das von seiner Merkmalsbeschreibung her nicht der Stammbuchdefinition entspricht. Dennoch fällt die strukturelle Ähnlichkeit dieser Sammelform mit dem Album amicorum mindestens ebenso ins Auge wie ihre Verschiedenheit. Was sie vergleichbar macht, ist die Existenz einer Person - des Besitzers oder der Besitzerin des Albums -, die in einem dafür vorgesehenen Medium die handschriftlichen (und bildkünstlerischen) Gaben von Personen sammelt, die sie an der Konstruktion eines persönlichen Gedächtnisraumes beteiligen will. Die Handschriftlichkeit der Einträge ist mithin von besonderer Bedeutung, deutet sie doch auf eine tatsächliche Begegnung zwischen dem Albumbesitzer und dem Einträger hin. Während diese bilaterale Beziehung notwendiger Bestandteil der Autographensammlung ist, bleibt die multilaterale Beziehung dem Albumtypus vorbehalten, den man in salonspezifischen Kontexten antrifft. Die Salonspezifik dieser Alben drückt sich außerdem darin aus, dass es sich bei den schriftlichen Freundschaftsgaben überwiegend um Texte in Versform handelt. 89 2 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts: recueils und portefeuilles Die Koinzidenz von Autographensammlung und Salonspezifik, wie sie sich in dem Exkurs zu den Alben des 19. Jahrhunderts nachweisen lässt, tritt im 17. Jahrhundert sehr viel seltener auf. Dies hat möglicherweise mit einer geringeren Wertschätzung der persönlichen Handschrift bzw. mit einer Vorliebe für das ‚schöne Bild‘ und die Kalligraphie zu tun, wie sie in den Alben des Marc Vulson de La Colombière und der Duchesse de La Trémoïlle zu beobachten sind. Darüber hinaus lässt sich dieser Umstand jedoch auf 89 Das Stammbuch definiert sich hingegen Schnabel zufolge als „textsortenspezifische Sammelform“. Er versteht darunter „[…] eine additive, nicht primär auf Einheitlichkeit hin angelegte Zusammenstellung von Texten […], deren Zusammengehörigkeit durch eine personale Sammelinstanz (mit nicht zwangsläufig textorientierten Sammelinteressen) und durch die Zusammenfassung in einem gemeinsamen Sammelmedium (Buch, in Kapseln vereinte lose Blätter gleichen Formats und gleicher Qualität) konstituiert wird.“ (Schnabel, Das Stammbuch, S. 38). Biblio17_204_s005-419End.indd 137 11.06.13 10: 10 <?page no="138"?> 138 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten die in dieser Zeit dominante literarische Praxis zurückführen, in deren Mittelpunkt die sogenannten recueils galants stehen. Der Vergleich dieser Form der Gelegenheitsdichtung mit der Albumpraxis, die den salonspezifischen Gästebüchern zu Grunde liegt, gibt zu Überlegungen Anlass, die sich auf die folgende These zuspitzen lassen: Während im 19. Jahrhundert die von einem renommierten Schriftsteller stammenden Verse und Gedichte durch dessen Handschrift in den Salon hineingetragen werden, zirkulieren die galanten pièces de circonstance zwar durchaus auch innerhalb jener Kreise, die Zeitgenossen als ruelles oder cabales bezeichnen, werden jedoch zugleich aus dieser Umlaufbahn hinausgetragen und in den recueils galants publiziert. Zu beobachten ist also eine im Verhältnis zur Salonspezifik des 19. Jahrhunderts gegenläufige Bewegung: Die Aufnahme der pièces de circonstance in diese Publikationen, ihre ‚Diffundierung‘ in den öffentlichen Raum, führt zu ihrer Vereinzelung, so dass über einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang dieser Stücke nur spekuliert werden kann. Die Rekonstruktion ihrer Genese, die Rückschlüsse auf eine konkrete soziale Konstellation zulassen würde, ist in den meisten Fällen nicht mehr möglich. Wie die Verse, die in salonspezifischen Gästebüchern überliefert sind, sind viele dieser Texte zwar bestimmten Personen zugeeignet. Für sich genommen sagen Widmungsgedichte, von denen es im Untersuchungszeitraum unzählige Beispiele gibt, jedoch nichts über eine salonspezifische Gruppenbildung aus. Von letzterer kann erst dann die Rede sein, wenn über eine gewisse Strecke hinweg mehrere Stücke aufeinander folgen, die erkennbar auf eine Person oder einen Personenkreis Bezug nehmen, wenn sie also eine textuelle Konstellation bilden, die Rückschlüsse auf die Interaktion einer empirisch bestimmbaren Gruppe zulässt. Solche ‚Salonstrecken‘ aufzuspüren, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Um dabei dem sehr beweglichen Bild, das die im Frankreich des 17. Jahrhunderts zirkulierende Gelegenheitsdichtung bietet, Struktur zu verleihen, werden hier aus pragmatischen Gründen die publizierten Sammelformen als recueils, die handschriftlichen - zumindest in einem ersten Schritt - als portefeuilles bezeichnet. 2.1 Die Mode der recueils galants Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts nimmt die Publikation von Bänden gesammelter Gelegenheitsdichtung deutlich zu. 90 Diese Sammelschriften sind Teil jener littérature galante, die Delphine Denis zufolge das literarische Feld der 90 „La vogue des recueils collectifs s’accentue de plus en plus à partir de 1657. On en compte deux par années en 1658, 1659 et 1660.“ (Frédéric Lachèvre, Bibliographie des recueils collectifs de poésie publiés de 1597 à 1700. 4 Bde, Paris, H. Leclerc 1901-1905, hier Bd. II, S. XIII). Biblio17_204_s005-419End.indd 138 11.06.13 10: 10 <?page no="139"?> 139 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Zeit maßgeblich mitgestaltet. 91 Sie werden von Buchhändlern, Verlegern und Autoren herausgegeben, die in ihnen einen ‚Marktwert‘ erkannt haben, den sie ihrerseits in ihrer Eigenschaft als Mittler und ‚Multiplikatoren‘ zu steigern wissen. Gezielt suchen sie nach jenen pièces de circonstance, die in handschriftlicher Form in angesehenen Kreisen zirkulieren. Dort haben diese Stücke in einigen Fällen über die Jahre hinweg einen gewissen Ruhm erlangt, 92 in anderen Fällen wurden sie noch relativ wenig zur Kenntnis genommen oder gerade erst in Umlauf gebracht. So schreibt beispielsweise Bertrand de Lamathe, Herausgeber einer Sammlung von Gelegenheitsgedichten unter dem Titel Le Nouveau Cabinet des Muses, in seinem an den Leser gerichteten Vorwort: La seconde chose dont je vous advertis, mon cher Lecteur, est que ces Poesies ne sont pas toutes nouvelles ainsi que le titre le porte; mais elles sont si belles que je ne les ay pas estimées moins dignes pour cela d’entrer dans ce Nouveau Cabinet, aussi en récompense je vous donne d’autres si modernes qu’il y a je m’asseure bien des Ruelles où elles n’ont pas esté veuës. 93 Hier wird zudem der mondäne Charakter dieser Gelegenheitstexte ausdrücklich hervorgehoben. Dass es vor allem das Publikum der ruelles ist, auf das diese Bände ausgerichtet sind, bezeugt auch folgende Nebenbemerkung von François Colletet, der der zweiten Ausgabe von La Muse Coquette ou les Délices de l’honneste amour et de la belle galanterie einen Widmungstext an den Comte de Séry voranstellt: Comme c’est sous les auspices de vostre Illustre nom, que celle-là [die erste Ausgabe des Bandes, S.B.] fut bien receüe des Cercles les plus galans, j’espère que celle-cy, favorisée encore de vostre protection glorieuse, pourra quelquefois ne pas desplaire aux plus galantes Ruelles. 94 91 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 11: „Il fallait donc situer l’enquête au cœur des années où la littérature galante tente de se constituer en catégorie autonome, et procède à sa propre légitimation. Des indices convergents nous permettent d’en dater l’émergence autour des années 1640-1650: sa pleine visibilité est acquise à compter de 1660.“ 92 Ein herausragendes Beispiel, auf das im Folgenden noch näher eingegangen wird, stellt die Aufnahme einiger Gedichte aus der Guirlande de Julie in den sogenannten Recueil de Sercy (vers) dar. 93 Le Nouveau Cabinet des Muses. Paris, chez la vefve Edme Pepingué […] 1658, zitiert nach Lachèvre, Bibliographie II, S. 97. 94 La Muse Coquette ou les Délices de l’honneste amour et de la belle galanterie. Première Partie. Recueillie par le sieur Colletet. Paris, chez Jean-Baptiste Loyson […] 1665, zitiert nach Lachèvre, Bibliographie III, S. 24; vgl. auch Denis, Le parnasse galant, S. 13. Biblio17_204_s005-419End.indd 139 11.06.13 10: 10 <?page no="140"?> 140 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Die ruelles sind sowohl der Ort, an dem die ‚Ver-Öffentlichung‘ der Texte ihren Ausgang nimmt, als auch der Ort, für den sie nach ihrer Sammlung und Transformation in ein Buch bestimmt sind. Diese Bewegung mag auf den ersten Blick zirkulär erscheinen. Sie zieht jedoch eine Veränderung der Publikumsstruktur nach sich, deren wachsende Komplexität man mit Alain Génetiot im Bild konzentrischer Kreise beschreiben könnte, wenn man einmal von der Fokussierung des Autors, die Génetiot vornimmt, absieht: On peut dès lors définir le public comme une série de cercles concentriques autour de l’auteur: le public premier, celui de la mondanité, c’est-à-dire les amis et les relations à l’intérieur d’un même réseau de sociabilité (salon, académie ou clientèle), y compris les Grands avec lesquels les auteurs se trouvent dans cet espace dans un rapport de familiarité; puis, sur un second plan, le roi et la Cour, dans le cas où l’auteur n’est pas explicitement, comme Benserade ou Pellisson, un poète de la cour; et enfin le public de la Ville, le ‚grand public‘ élargi, et qui ne connaît l’auteur qu’indirectement, par son œuvre. 95 Übertragen auf den Fall der recueils, die in vielen Fällen anonyme und anonymisierte Stücke enthalten, ist die Komplexität noch steigerbar, da im ersten Kreis Leser- und Autorschaft kongruent sein können. Die Vorworte der recueils galants sind für die vorliegende Untersuchung aber auch deshalb von besonderem Interesse, da die wiederholten Hinweise der Herausgeber auf die der Publikation vorgängige Zirkulation handschriftlicher Stücke Rückschlüsse auf die Genese dieser Werke zulassen. So fordert zum Beispiel der Verleger Adrian Moetjens seine Leser ausdrücklich dazu auf, ihm Stücke zuzusenden, dabei jedoch auf Leserlichkeit, insbesondere der Eigennamen, zu achten: „Je recevrai avec plaisir les Pièces qu’on m’adressera, pourvû que ce ne soit pas des satires personnelles: mais je recommande sur tout que les noms propres soient bien écrits.“ 96 Ein weiteres schönes Beispiel, das in seiner Kürze und Schlichtheit besticht, ist das Vorwort des Recueil de quelques Pièces nouvelles et galantes, tant en Prose qu’en vers: Cher Lecteur, Je vous présente un Recueil de quelques Pièces curieuses, tant en prose qu’en vers, faites par les plus beaux Esprits de ce temps, lesquelles ayant couru un espace de temps manuscrites parmy les curieux, et m’estant tombées entre les mains, j’aurois creu faire injustice à leurs 95 Génetiot, Poétique du loisir mondain, S. 358-359. Zur Publikumsstruktur im Frankreich des 17. Jahrhunderts siehe auch Hélène Merlin, Public et littérature en France au XVII e siècle. Paris, Les Belles Lettres 1994. 96 Recueil de Pièces curieuses et nouvelles, tant en Prose qu’en Vers. Tome I. Première partie […]. La Haye, chez Adrian Moetjens 1695, zitiert nach Lachèvre, Bibliographie III, S. 131. Biblio17_204_s005-419End.indd 140 11.06.13 10: 10 <?page no="141"?> 141 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Auteurs, de laisser plus long-temps à peu de Personnes, ce qui mérite d’estre veu de tout le monde. Si je trouve que cecy ne vous aura pas esté désagréable je continueray à vous en donner en suite qui ne seront pas moins belles que les présentes. Adieu. 97 Das Anliegen der Verleger oder Herausgeber, die Texte geistreicher Autoren ihrer Zeit einem Publikum jenseits einer elitären Leserschaft, die schon früh von ihnen profitieren durfte, zugänglich zu machen, stützt Génetiots These von der Koexistenz verschiedener Publikumskreise. Strategisch geschickt lassen die Herausgeber hier außerdem anklingen, dass sie im Besitz weiterer Stücke dieser Art sind, die ihnen nicht einfach ‚in die Hände gefallen‘ sein werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie sie einzeln eingetrieben haben, indem sie sich ihre Abschriften von den Autoren und Sammlern erbitten. Auf ihrem Weg von der medialen Grundlage der feuille volante zum Buch werden die Texte, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch Teil einer gruppenspezifischen Konstellation gewesen sein mögen, notwendigerweise isoliert. Ihre Neuanordnung im Rahmen der recueils galants lässt einen neuen ‚Raum‘ entstehen, der sich zwar immer noch durch das Ineinandergreifen mondäner und literarischer Praktiken auszeichnet, 98 im Vergleich mit der geläufigen Vorstellung eines ‚Salons‘ aber eher abstrakt ist. Insbesondere die erfolgreichsten Sammlungen wie die Recueils de Sercy oder der Recueil La Suze- Pellisson repräsentieren diese abstrakten gesellschaftlichen Konstellationen. An manchen Stellen lassen sich jedoch Textstrecken herauskristallisieren, die Rückschlüsse auf den Ereignischarakter eines mit der Textgenese verbundenen sozialen Raumes zulassen. 2.1.1 Recueils de Sercy Zu den rein pragmatischen Entstehungsvoraussetzungen eines recueil galant können sich ästhetische Gründe gesellen, die die Vereinzelung der Texte noch unterstützen. So verweist zum Beispiel der Herausgeber Charles de Sercy nicht ohne Stolz auf die Beliebtheit seiner Poésies choisies, die er zum Teil auf die Anordnung der Stücke zurückführt: 97 Zitiert nach Lachèvre, Bibliographie III, S. 19. Die Sammlung erschien 1663 bei ‚Pierre du Marteau, Cologne‘. Es handelt sich um ein Pseudonym, das in der europäischen Verlagswelt des 17. und 18. Jahrhunderts häufig verwendet wurde. Hinter der fingierten Adresse verbargen sich im Falle dieses recueil die niederländischen Verleger Louis und Daniel Elzevier (vgl. Léonce Janmart de Brouillant, Histoire de Pierre du Marteau, imprimeur à Cologne […]. Genf, Slatkine Reprints 1971 [erstmals Paris 1888], hier S. 35-36). 98 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 17-124. Biblio17_204_s005-419End.indd 141 11.06.13 10: 10 <?page no="142"?> 142 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten La beauté des Vers, et la réputation des Autheurs, ont sans doute esté la principale cause de la grande vogue qu’elles ont eue: mais j’ose dire que la diversité et le grand nombre n’y ont pas peu contribué; quelque différends que puissent estre les gousts, ils y trouvent toûjours de quoy se satisfaire. Je n’ay point affecté de mettre les Pièces d’une mesme nature, n’y d’une mesme main, les unes auprès des autres, non plus que de leur donner le rang selon la qualité des personnes, ou la bonté des ouvrages; […] Je me suis bien arresté à mesler une Pièce forte avec une galante, une sérieuse avec une libre, et une pleine de feu avec une autre toute remplie de tendresse et de passion; enfin à les faire briller, ou par l’opposition des sujets, ou par la mesure des Vers, et toûjours par la diversité. 99 Selbstbewusst stellt Sercy in seinem Vorwort die Verdienste seiner Herausgebertätigkeit in den Vordergrund, die insbesondere darin bestünden, dass er sich strikt an eine der wichtigsten ästhetischen Regeln der Zeit gehalten habe, das Gebot der diversité. Er habe es sorgfältig vermieden, die Gedichte in das Korsett einer vorgängigen Ordnung zu pressen, gleichgültig ob diese durch die literarische Gattung, den Namen oder Rang des Autors oder durch die Qualität der einzelnen Stücke vorgegeben sein möge. Der Erfolg seiner Sammlungen gibt ihm Recht: Die Recueils de Sercy, wie sie der Einfachheit halber meist genannt werden, bestehen aus insgesamt fünf Bänden, die zwischen 1653 und 1660 erscheinen, mehrfach neu aufgelegt werden und jeweils mehr als 400 Seiten umfassen. 100 Es ist üblich, zwischen diesen Recueils de Sercy (vers) und den Recueils de Sercy (prose) zu unterscheiden. Letztere erscheinen, ebenfalls fünfbändig und in mehrfacher Auflage, zwischen 1658 und 1663 und enthalten eine Mischung aus Vers- und Prosatexten, die zu den unterschiedlichsten mondänen Anlässen verfasst wurden. 101 Hinzu kommt ein Band, den Sercy im Jahre 1661 in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Bacilly herausbringt und der die beliebtesten Stücke, die in den letzten zwanzig Jahren vertont wurden, enthält. 102 Alle Sammlungen sind sorgfältig gestaltet, die einzelnen Texte werden ornamental voneinander abgesetzt und das Titelblatt zieren Gravuren, in denen Putten, Girlanden und phantasievolle Figuren den jeweiligen Band ankündigen. Ein Inhaltsverzeichnis zu Beginn der Recueils de Sercy (vers) führt die Incipits der Gedichte in alphabetischer Reihenfolge auf, was zur Folge hat, dass selbst diejenigen Texte, deren Zusammengehörigkeit innerhalb des Buches gewahrt bleibt, anhand dieser Orientierungshilfe nicht als Reihe zu erkennen sind. 99 Poésies choisies de […]. Bd. I, Paris, chez Charles de Sercy 1653, zitiert nach Lachèvre, Bibliographie II, S. 58-59. 100 Vgl. Lachèvre, Bibliographie II, S. 52-78. 101 Vgl. Lachèvre, Bibliographie II, S. 78-84. 102 Vgl. Lachèvre, Bibliographie II, S. 84-89. Biblio17_204_s005-419End.indd 142 11.06.13 10: 10 <?page no="143"?> 143 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Das prominenteste Beispiel dieser Art sind einige Stücke, die der Guirlande de Julie entstammen: Zwar werden sie im zweiten Band der Poésies choisies unter der Überschrift „La Guirlande de Julie. Composée par divers Autheurs. Pour Mad. de Ramboüillet“ aufeinanderfolgend angeordnet. 103 Doch weder erscheint diese Überschrift, die auf den Seiten 237-242 insgesamt sechsundzwanzig Stücke unter sich versammelt, im Inhaltsverzeichnis des Bandes, noch wird das Ende dieser Abfolge auf Seite 242 entsprechend markiert. Immerhin hat der Herausgeber jedoch trotz seiner ausdrücklichen Absicht, jegliche vorstrukturierte Ordnung seiner Stücke zu unterlaufen, diese Konstellation von Texten beibehalten. Mit anderen ‚Reihen‘ dieser Art wird ähnlich verfahren: Im Inhaltsverzeichnis lassen sie sich zwar nicht als eine Strecke zusammengehöriger Texte identifizieren, doch der Herausgeber lässt ihre vorgegebene Abfolge nicht nur intakt, sondern kündigt sie in seinen Vorworten sogar an: Vous remarquerez, s’il vous plaist, que j’ay mis à la fin de celle-cy [la troisième partie des Poésies choisies; S.B.] quelque chose d’assez curieux & d’assez particulier, telle que sont les Bouts-rimez sur la Mort du Perroquet & quelques Lettres de Monsieur de Marigny; comme dans la Première les Sonnets Rivaux de Monsieur de Voiture & de Monsieur de Bensserade; & dans la Seconde, les Lettres meslées de Prose & de Vers de Monsieur Sarrazin. 104 Die Beispiele zeigen, dass es vor allem bestimmte Ereignisse auf dem mondän-literarischen Parkett sind, die durch eine ‚Verdichtung‘ zu Konstellationen gewürdigt werden: Die textuellen Spuren eines Sprachspiels (wie die Mode der Bouts-rimés), eines literarischen Wettstreits (die Sonette der Rivalen Voiture und Benserade) oder einer Huldigung (wie die Guirlande de Julie) sind im Verlauf ihrer Zirkulation in den ruelles so bekannt geworden, dass sie als „chose d’assez curieux & d’assez particulier“ zwischen den absichtlich bunt zusammengestellten Einzeltexten ihren Platz finden. Der Ereignischarakter der „Bouts-rimez sur la Mort du Perroquet de Madame du Plessis-Bellière“ wird sogar noch dadurch unterstrichen, dass den ersten drei der insgesamt fünfundzwanzig Sonette einige Zeilen in Prosa hinzugefügt werden, in denen der Autor des ersten Gedichts den Verfasser der zwei folgenden auffordert, sich an dem bis zu diesem Zeitpunkt schon 103 Auf die Guirlande de Julie wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen, da dieses Album Gegenstand eines eigenen Kapitels ist. 104 Recueil de Sercy (vers) III, keine Seitenangabe. Zu ergänzen wäre, dass auch die Auszüge aus der Guirlande de Julie im Vorwort des zweiten Bandes angekündigt werden: „[…] La Guirlande seule de Julie est l’ouvrage des plus adroites mains de ce temps […].“ (Recueil de Sercy (vers) II, keine Seitenangabe). Biblio17_204_s005-419End.indd 143 11.06.13 10: 10 <?page no="144"?> 144 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten sehr erfolgreichen Spiel („toute la Cour & tout Paris en a fait, & jusqu’à M. … Il y en a plus de trente déjà“) zu beteiligen. 105 Letzterer weist in seiner Antwort zwar darauf hin, dass die Mode der bouts-rimés eigentlich schon vorbei sei (worauf sein erstes Sonett folgt, dass diese Absage in die entsprechenden Reime fasst). 106 Dann kann er der Versuchung jedoch nicht widerstehen, ebenfalls einen Beitrag zu diesem Anlass zu schreiben („Toutefois, Monsieur, puis que tout le monde en a fait, & mesme Monsieur … il faut donc que je me hazarde.“). 107 Auch die Strecke zusammengehöriger Gedichte, die im Vorwort mit dem Hinweis auf die rivalisierenden Sonette der galanten Dichter Voiture (Sonnet d’Uranie) und Benserade (Sonnet de Iob) angekündigt werden, 108 lässt Rückschlüsse auf den Ereignischarakter ihrer Entstehung zu: Anders als man annehmen könnte, wenn man die Ankündigung des Herausgebers liest, veröffentlicht Sercy hier nicht etwa die Sonette von Voiture und Benserade, die als Auslöser einer kollektiven Textgenese nur erwähnt werden. Diese zwei Gedichte werden vielmehr als so bekannt vorausgesetzt, dass man sich auf die ersten Verse und die Angabe des Ortes beschränken kann, an dem sie zu finden sind: Les Sonnets rivaux. Uranie & Iob. Uranie Il faut finir mes iours en l’amour d’Uranie, L’absence, &c. Est imprimé dans les œuvres de Voiture, p. 52 de la dernière edition. Iob Iob de mille tourmens atteint, Vous rendra, &c. Est en la page 417, dans la Glose sur le Sonnet, en lettres italiques. 109 Dafür stellt der Herausgeber dieser Konstellation ein eigenes kleines Vorwort voran, in dem er auf die Bedeutung der Debatte verweist, die diese Gedichte ausgelöst haben. Er legitimiert dadurch seine Unternehmung, die Abfolge 105 Recueil de Sercy (vers) III, S. 375. 106 Recueil de Sercy (vers) III, S. 377-378. 107 Recueil de Sercy (vers) III, S. 378. 108 Diese Sonette wurden in mondän-literarischen Kreisen zum Anlass eines Wettstreits, in dem Voiture, der von der Duchesse de Langueville unterstützt wurde, den Sieg über Benserade davontrug, den der Cardinal Richelieu protegierte (vgl. Dictionnaire des lettres françaises. Le XVII e siècle. Paris, Fayard und Librairie Générale Française 1996, S. 135; Renate Kroll, Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘. Tübingen, Niemeyer 1996, S. 136-171). 109 Recueil de Sercy (vers) I, S. 417. Biblio17_204_s005-419End.indd 144 11.06.13 10: 10 <?page no="145"?> 145 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts derjenigen Gedichte zu veröffentlichen, in denen die Parteigänger des einen oder des anderen Sonetts Stellung beziehen: Le libraire au lecteur Le soin que j’ay pris de recueillir toutes les Pieces suivantes ne vous sera pas desagreable; & ie m’asseure que toute la Cour s’estant partagé en faveur du Sonnet d’Uranie, que ie nomme le premier, à cause de sa naissance, & de celuy de Iob, on sera bien aise de voir les divers sentimens que plusieurs personnes de naissance illustre, de condition, & de merite, ont fait paraître sur ce sujet. Cette querelle a fait tant de bruit, que les pensées toutes ingenieuses qu’elle a fait naistre, ne servent pas peu pour relever la gloire de l’un & de l’autre. 110 Es folgen insgesamt vierunddreißig Stücke, darunter Sonette, Epigramme, Stanzen, Madrigale und sogar eine (Parodie einer) Komödie, in der neben den Protagonisten „Uranie, sonnet de Voiture“ und „Iob, sonnet de Benserade“ auch „La Critique, Reyne de la Science Tyrannique“ und ihre Vertraute, „La Comparaison“, auftreten. 111 Das Stück endet abrupt nach dem ersten Akt, weil auf den Straßen von Paris ein Tumult ausbricht und so die Entscheidung, welchem der beiden Sonette der Vorzug gegeben wird, auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss. Festzuhalten bleibt, dass selbst in diesem recueil, in dem die heterogene Konstellation der Gedichte als programmatisch angekündigt wird, manche Texte ‚Inseln‘ oder ‚Strecken‘ ausbilden, die auf eine konkrete Gruppenbildung, zumindest jedoch auf den sozialen Raum eines konkreten Ereignisses schließen lassen. Dies gilt in besonderem Maße für die Auszüge aus dem Album La Guirlande de Julie, dem im Rahmen dieser Untersuchung ein eigenes Kapitel gewidmet sein wird. Das Phänomen der textuellen ‚Verdichtung‘ oder ‚Streckenbildung‘ gilt es jedoch bereits an dieser Stelle zu konstatieren. 2.1.2 Recueil La Suze-Pellisson Eine Sammlung von mondänen Gelegenheitstexten, die neben den Recueils de Sercy zu den erfolgreichsten Publikationen dieser Art zählt, ist der sogenannte Recueil La Suze-Pellisson. Seinen Namen verdankt dieses insgesamt vierbändige ‚Werk‘ einer Verkaufsstrategie des Verlegers Gabriel Quinet: Nachdem 1663 eine erste Sammlung von insgesamt zweiundzwanzig Stücken verschiedener Autoren wenig erfolgreich geblieben war, bringt er sie ein Jahr 110 Recueil de Sercy (vers) I, S. 416. 111 Recueil de Sercy (vers) I, S. 418-456, für die Parodie einer Komödie siehe S. 450- 456. Biblio17_204_s005-419End.indd 145 11.06.13 10: 10 <?page no="146"?> 146 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten später erneut in Umlauf, diesmal jedoch unter dem Titel Recueil de Pièces galantes en prose et en vers de Madame la Comtesse de la Suze et de Monsieur Pellisson. Die Namen dieser sowohl in mondänen als auch in literarischen Kreisen bekannten Persönlichkeiten sollen Interessenten anlocken, wenngleich nur ein Teil der Texte tatsächlich von ihnen stammt. Die Strategie scheint erfolgreich gewesen zu sein, denn noch in demselben Jahr erscheint der Band Nouveau recueil de Pièces choisies de Madame de la Suze et de Monsieur Pellisson, der bereits vierundvierzig Stücke umfasst. In den folgenden Jahren und Bänden wächst deren Anzahl kontinuierlich: Die zweite Auflage des ersten Recueil La Suze-Pellisson im Jahre 1666 enthält vierzig Texte, der dreibändige Recueil La Suze-Pellisson aus dem Jahre 1668 setzt sich aus siebenundfünfzig (Band I), sechsundsiebzig (Band II) und hundertneununddreißig Stücken (Band III) zusammen und der vierbändige Recueil La Suze-Pellisson aus dem Jahre 1674 fügt diesen zweihunderzweiundsiebzig Stücken noch vierunddreißig weitere hinzu. Den Ausgaben, die bei Quinet erschienen sind, folgt im Jahre 1691 eine fünfbändige Sammlung des Verlegers Guillaume Cavelier. Sie ist zwar im Vergleich zu der Ausgabe von 1674 nicht vollständig und ergänzt Lachèvre zufolge einundsiebzig Stücke, die bei Quinet nicht erschienen waren, aber auf ihr beruhen zahlreiche Wiederauflagen vor allem des 18. Jahrhunderts, weshalb sie in der komplexen Publikationsgeschichte des Recueil La Suze- Pellisson eine bedeutende Rolle spielt. 112 Für die hier angestellten Überlegungen zur Vereinzelung und streckenweisen Verdichtung von Textkonstellationen ist vor allem das schmale Bändchen aus dem Jahre 1664 interessant. Es enthält eine ‚Strecke‘, die auf eine spezifische Gruppenbildung hinweist, nämlich auf den Kreis um Paul Pellisson und Madeleine de Scudéry, auf den im Zusammenhang mit den sogenannten Chroniques du Samedi noch näher einzugehen sein wird. 113 Im Unterschied zu den bisher behandelten Konstellationen ergibt sich diese Reihe weniger aus der direkten Abfolge der zusammengehörigen Texte als aus einer intertextuellen Bezugnahme, die es ermöglicht, die Zusammengehörigkeit der Stücke anhand einer gemeinsamen Thematik, über die involvierten 112 Vgl. Lachèvre, Bibliographie III, S. 41-51. 113 Daher an dieser Stelle nur einige, zum Verständnis des Folgenden notwendige Informationen: Die Sammlung der Chroniques du Samedi wird bei Tallemant des Reáux erwähnt als jenes ‚Archiv‘, in dem in einer großen Anzahl von Gelegenheitstexten die soziale Interaktion festgehalten wird, die die regelmäßig zusammentretende Gesellschaft um Madeleine de Scudéry und Paul Pellisson (Le Samedi) auszeichnet. Zu diesem Kreis gehören neben Madeleine de Scudéry (Sapho) und Paul Pellisson (Acante) vor allem auch Valentin Conrart (Theodamas) und Samuel Isarn (Trasile), die auch in der hier vorgestellten ‚Strecke‘ des Recueil La Suze-Pellisson auftreten. Biblio17_204_s005-419End.indd 146 11.06.13 10: 10 <?page no="147"?> 147 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Figuren und durch direkte Zitate zu rekonstruieren. 114 Bei der gemeinsamen Thematik handelt es sich um einen Ort, der immer wieder aufgerufen wird, ein locus amoenus, der als Garten der Sapho (alias Madeleine de Scudéry) beschrieben wird, in dem die Bäume zur gleichen Zeit die verschiedensten Früchte tragen und die Tiere sprechen können. Die Reihe beginnt mit einer „Epître à Achante“ (alias Acante, alias Paul Pellisson), in dem jener von einer ungenannt bleibenden Dame aufgefordert wird, während ihrer Abwesenheit auf eine Birne aufzupassen. 115 Acante antwortet ihr mit einem Gedicht, in dem er das frivole Thema auf galante Art aufgreift und mit einem Lobgesang auf den Garten der Sapho verbindet, im Verlauf dessen er die Gelegenheit wahrnimmt, weitere Figuren in das Spiel einzubinden. 116 Das Bild des Gartens übernimmt auch das anschließende Gedicht mit dem Titel „Stances. Du Chevalier de Riviere; sur une Fauvette qui revient tous les ans au Jardin de Mademoiselle de Scudéry“, wobei es zugleich den Themenkreis der „Fauvette“ eröffnet, der an anderer Stelle in einer Reihe von dialogisierenden Stücken fortgesetzt wird. 117 In den Themenkreis des Gartens fällt weiterhin das Gedicht „L’Oranger“, 118 das abermals an Sapho adressiert ist. Es enthält außerdem Verse („Qu’une flâme mal esteinte/ Est facile à rallumer/ Et qu’avec peu de contrainte/ On recommence d’aymer“), die wiederum in dem kleinen 114 Die Zusammengehörigkeit wird in späteren Ausgaben des Recueil La Suze-Pellisson bestätigt, wo die entsprechenden Stücke direkt aufeinanderfolgend angeordnet werden. 115 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 45-46. 116 Zum Beispiel durch eine Anspielung auf Valentin Conrart (vgl. Recueil La Suze-Pellisson I, S. 48). Zugleich wird bereits hier ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem Garten und der berühmten Carte de Tendre (auf die ein späteres Gedicht Bezug nehmen wird): „Quand cette fille non pareille/ La mere des tendres Amours/ La mere des tendres discours/ Au Iardin tenoit ses grands iours.“ (Recueil La Suze-Pellisson I, S. 48) Das Gedicht „Caprice contre l’Estime“, das Sapho gewidmet ist und sich auf die Carte de Tendre bezieht (und dem sich zwei Epigramme zum selben Thema anschließen), beginnt mit den Versen: „Donc ie ne dois plus pretendre/ D’arriver un iour à Tendre“ (vgl. ebd., S. 70). 117 Es handelt sich dabei um das direkt anschließende Gedicht „La Fauvette. Dialogue entre Acante & la Fauvette“ (Recueil La Suze-Pellisson I, S. 57-69). Nach einer längeren Strecke unterschiedlicher Stücke folgt in einem Anhang „Suite de la Fauvette“, ein dialogischer Zyklus bestehend aus: „Le Roytelet à la Fauvette“, „Response de la Fauvette au Roytelet“, „Response du Roytelet à la Fauvette“, „Response à la seconde Lettre du Roytelet“, „III. Response du Roytelet à la Fauvette“ und „Dernière Response de la Fauvette au Roytelet“ (ebd., S. 1-10). Während die Verse der Fauvette immer mit Mademoiselle de Scudery unterschrieben sind, übernehmen zwei verschiedene Autoren die Stimme des Roytelet: Monsieur de Montplaisir und Monsieur l’Abbé du Buisson. 118 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 78-82. Biblio17_204_s005-419End.indd 147 11.06.13 10: 10 <?page no="148"?> 148 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Zyklus „Suite de la Fauvette“ zitiert werden. Auf „L’Oranger“ folgt schließlich der allegorische „Dialogue du Sommeil, de Trasille, & de l’Amour, où le Songe parle sur la fin“, 119 der durch den galanten Namen Trasille (oder Trasile alias Samuel Isarn) mit der Reihe verbunden ist. Das Gedicht schlägt über diesen Namen den Bogen zurück zur „Epître à Achante“, mit der die Reihe eröffnet wurde. Hier war bereits die Rede davon, dass Achante die Birne der anonym bleibenden Dame pfleglich behandeln möge, auf dass sie sich so gut entwickle wie diejenige des schönen Trasille: „Afin qu’elle ait le teint vermeil/ Et qu’elle en vaille plus de mille/ Comme celle du beau Trasille“. 120 Was auf diese spielerische Art und Weise Gestalt annimmt, ist ein intertextuelles Gefüge, das sich von anderen Stücken und ‚Strecken‘ dieser Sammlung klar abgrenzen lässt. 121 Die Textstruktur lässt die Konturen einer Gruppe hervortreten, deren Mitglieder bemüht sind, das Zusammenspiel ihrer Gelegenheitsverse sichtbar werden zu lassen und dieser Sichtbarkeit durch die Publikation eine spezifische Bedeutung zu verleihen. Ob es sich dabei automatisch um eine salonspezifische Bedeutung handelt, lässt sich vorerst noch nicht sagen, wenngleich der Gebrauch der galanten Pseudonyme (Acante, Sapho, Trasile) diesen Verdacht nahe legt. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, dass diese Konstellation - dieser binnentextuelle Knotenpunkt - in den späteren, viel umfangreicheren Ausgaben des Recueil La Suze-Pellisson trotz derer zunehmenden Tendenz zur diversité erhalten bleibt und den Kern dieser mit den Jahren immer mehr anwachsenden Sammlung bildet. 2.1.3 Recueil d’Octavie Die Œuvres diverses tant en vers qu’en proses erscheinen im Jahre 1658 und werden gemeinhin als Recueil d’Octavie bezeichnet, da der Widmungstext der Sammlung mit dem galanten Namen Octavie signiert ist. 122 Es handelt sich 119 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 83-89. 120 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 46. 121 So tauchen innerhalb der Scudéry-Pellisson-Reihe zum Beispiel unvermittelt drei Gedichte auf, die einen Dialog simulieren (Recueil La Suze-Pellisson I, S. 97-110). Auch diese ‚Reihe außer der Reihe‘ ist zwar im weitesten Sinne dem Thema ‚Garten‘ verpflichtet, da die Verse einen Obstkorb zum Gegenstand haben, den der Schäfer Lisdamant den Damen seines Herzens zum Geschenk macht. Aber weder die galanten Namen dieses Dialoges noch sonstige Indizien weisen darauf hin, dass hier ein Zusammenhang mit dem Kreis um Madeleine de Scudéry besteht, und die Schäferthematik ist zu weit verbreitet, als dass sie Rückschlüsse auf eine andere gruppenspezifische Konstellation zuließe. 122 Œuvres diverses tant en vers qu’en proses, dédiées à Madame de Mattignon. Par Octavie. Paris, chez Jacques Le Gras […] 1658. Zu diesem recueil vgl. Lachèvre, Bibliographie II, S. 100-1001; Dictionnaire des lettres françaises, XVII e siècle, S. 655. Biblio17_204_s005-419End.indd 148 11.06.13 10: 10 <?page no="149"?> 149 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts um ein schmales Bändchen von insgesamt neunundfünfzig Gelegenheitstexten - überwiegend Gedichte, aber auch Briefe in Prosa mit eingeschobenen Versen -, das sich auf den ersten Blick kaum von den üblichen recueils galants unterscheidet, es sei denn durch eben jene halb-anonyme Form der Widmung, die sich zwar nur allzu oft bei Einzeltexten findet, selten jedoch bei jenen Paratexten anzutreffen ist, die den gesamten recueil einer hochgestellten Persönlichkeit zueignen. 123 In ihrem Widmungsschreiben spricht Octavie zudem nicht in ihrem eigenen Namen, sondern weist ihre Gönnerin auf einen Freund mit dem Namen Acanthe hin, dem viele der folgenden Stücke zu verdanken seien. 124 Tatsächlich wird der Band mit einem langen, mit Gedichten versetzten Brief eröffnet, in dem Acanthe zu Octavie über seine Liebe zu verschiedenen Frauen spricht. 125 Bemerkenswerterweise tauchen in diesem Auftakt bereits die Namen all jener Figuren auf, die diesen seltsamen recueil galant zu verantworten haben, indem sie entweder als Verfasser oder als Adressaten der Stücke in Erscheinung treten. Wer aber verbirgt sich hinter Leandre, Oronte, Madonte, Lucidor oder Lysis? Vermutlich handelt es sich auch bei diesen Namen um galante Pseudonyme, d.h. um Figurationen im Sinne von Delphine Denis, 126 doch fehlt in diesem Fall ein Schlüssel, um die Personen, die sich dieser Namen bedienen, zu identifizieren. Was den Recueil d’Octavie jedoch mit dem ‚Garten der Sapho‘ aus dem Recueil La Suze-Pellisson vergleichbar macht, ist seine intertextuelle Geschlossenheit, hinter der sich ebenfalls eine bestimmte, wenngleich aufgrund fehlender Hinweise nicht näher zu bestimmende Konstellation vermuten lässt. 127 123 Bei der Widmungsempfängerin handelt es sich vermutlich um Marie-Françoise Le Tellier, M lle de La Luthumière, die 1648 den 1658(! ) zum lieutenant général pour le Roi (Vize-Gouverneur der Normandie) ernannten Henry Goyon de Matignon de Thorigny, comte de Matignon (1633-1682) geheiratet hat. Sie ist die einzige weibliche Person in der weitverweigten Familie, die zum Zeitpunkt der Widmung mit Sicherheit als ‚Madame de Matignon‘ identifiziert werden kann (vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 486, in Artikel E55). 124 Es ist unwahrscheinlich, dass sich hinter diesem Pseudonym abermals Paul Pellisson verbirgt, da der an den Schäferroman erinnernde Name ‚Acante‘ in verschiedenen mondänen Kreisen vorkommen und verschiedene Personen bezeichnen kann (vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 189; Judd D. Hubert, „La Fontaine et Pellisson, ou le mystère des deux Acantes“, in: R.H.L.F., 1966, S. 223-237). 125 Insgesamt mit 19 Sonetten, mit jeweils einem Stück, das mit Elégie und Stances überschrieben ist sowie mit mehreren kürzeren Gedichten („Les Amours Dacanthe [d’Acanthe; S.B.]“, in: Recueil d’Octavie, S. 1-41). 126 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 127-235. 127 Vgl. Lachèvre, Bibliographie II, S. 101. Man hat die Figur der Octavie Madame de La Calprenède zugeschrieben (vgl. ebd.; Dictionnaire des lettres françaises. Le XVII e siècle, S. 945). Dies vor dem Hintergrund, dass der zweite Band des Recueil de Sercy (vers) mit einem Brief schließt, der mit „De La Calprenède“ (Monsieur Biblio17_204_s005-419End.indd 149 11.06.13 10: 10 <?page no="150"?> 150 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Neben der Figur des Acanthe, der den größten ‚Redeanteil‘ in diesem Band hat, 128 steht die Figur der Octavie im Mittelpunkt dieses Kreises: Knapp ein Drittel der Stücke sind entweder an sie adressiert oder handeln von ihr. 129 Wenngleich nur ein einziges Sonnet von ihr selbst stammt, 130 ist sie somit als Kristallisationsfigur präsent, deren kohäsive Kraft Gelegenheitstexte generiert, die hier versammelt sind. Gleichwohl übernimmt sie im Vergleich zu Acanthe, ihrem ‚männlichen‘ Pendant, die passive Rolle, die sich darauf beschränkt, Gegenstand von Huldigungen und manchmal auch ‚Auftraggeberin‘ eines Textes zu sein, wie das Gedicht „A la Prière d’Octavie: Tombeau de Lysis. Par Melisse“ nahelegt. 131 Die beiden Namen Acanthe und Octavie bilden auf diese Weise sowohl ein paraals auch ein intratextuelles Paar, das die Fäden, die von den übrigen Figuren gesponnen werden, zusammenhält. Innerhalb dieses Netzwerks bilden sich wiederum ‚Strecken‘, in denen unterschiedliche Beziehungen zwischen diesen Figuren bevorzugt behandelt werden. Diese Beziehungsgefüge können freundschaftlicher Natur sein, wie dies beispielsweise die Sonette veranschaulichen, die angesichts des Todes eines gemeinsamen Freundes - die Figur wird Lysis genannt - Trost spenden sollen: Insgesamt acht Gedichte nehmen auf diesen Tod Bezug. 132 In anderen oder Madame? ) unterzeichnet ist, und in dem sich die Figur Acanthe ebenfalls an Octavie wendet („Response d’Achante au noble Trio“, Recueil de Sercy (vers) II, S. 434-443; im Inhaltsverzeichnis der ersten Ausgabe wird dieser Text allerdings Sarazin zugeschrieben). Außerdem attribuiert Lachèvre zwei Stücke aus dem Recueil d’Octavie Madame de La Calprenède, wobei jedoch unklar bleibt, auf welcher Grundlage („Décret d’un cœur infidèle“ und „Estat et inventaire du cœur volage“ in: Recueil de Sercy (prose) IV, S. 263-273; in beiden Publikationen erscheinen diese Stücke unsigniert). Dass zu dem Kreis, der in dem Recueil d’Octavie abgebildet ist, auch Madame (und möglicherweise Monsieur) de La Calprenède gerechnet werden dürfen, ist anzunehmen. Ihr (oder ihnen) gleich die Herausgeberschaft zu unterstellen, scheint mir auf der Grundlage der beschriebenen Indizien jedoch nicht gerechtfertigt. 128 Von den insgesamt 59 Stücken sind zwar nur 10 durch den Namen Acanthe ausgewiesen. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass bereits „Les Amours d’Acanthe“ 40 Seiten des insgesamt 166 Seiten starken Bandes umfasst, kommt man zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Drittel der Sammlung von dieser Figur bestritten wird. 129 Der Name ‚Octavie‘ taucht in insgesamt 17 Stücken auf. 130 „Sonnet en bouts rimez. Fait par Octavie sur une saignée“, in: Recueil d’Octavie, S. 133. 131 Recueil d’Octavie, S. 92. 132 Die Reihe beginnt mit „Ode circulaire, pour le tombeau de Lysis“ (Recueil d’Octavie, S. 88-92), es folgen „A la prière d’Octavie; Tombeau de Lysis. Par Melisse“ (S. 92), „La Muse en Deüil. Stances à Uranie“ (S. 93-96), „Le Camarade affligé. Sonnet“ (S. 97), „Sur le lieu où s’estoit fait le combat. Sonnet“ (S. 98), „Consolation d’Oronte à Acanthe“ (S. 99-100), „A Clarice. Sonnet“ (S. 101), „A Mirame. Sonnet“ (S. 102). Biblio17_204_s005-419End.indd 150 11.06.13 10: 10 <?page no="151"?> 151 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Reihen überwiegt hingegen ein ironischer Tonfall, beispielsweise wenn die Werbung eines gewissen Leandres um Madonte von Acanthe in mehreren Gedichten parodiert wird. 133 Doch die Reihe der ‚Madonte‘ ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Zu Leandre gesellt sich ein weiterer Verehrer, Clorimant, 134 bei dem es sich offenbar um eine Figur handelt, die nicht dem engeren Kreis um Acanthe und Octavie angehört. Dies erschließt sich aus dem Umstand, dass ihm der galante Name Madonte, den die Frau trägt, an die er schreiben will, nicht vertraut ist. Wie der Leser aus einer Randnotiz erfährt, benutzt Clorimant in seinem Gedicht den Namen, den er glaubt, auf dem Umschlag eines Buches gelesen zu haben, von dem er weiß, dass es im Besitz dieser Frau ist. Leider unterläuft ihm dabei ein Fehler, so dass seine ersten Verse lauten: „O belle & diuine Amadonte! “ Diesen Fehler - auf dem Buch stand natürlich „A Madonte“ geschrieben - greift wiederum Acanthe ironisch auf, indem er sich im folgenden Gedicht mit den Worten an die Umworbene wendet: „Vous, qu’on veut nommer Amadonte! “ 135 Die Anekdote ist in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen veranschaulicht sie besonders gut das Ineinandergreifen von Schrift und sozialer Interaktion in mondänen Kontexten. 136 Zum andern zeigt sie die Ein- und Ausschlussmechanismen dieser Kontexte, denn eine Person, die über die Usurpation eines identitätsstiftenden Codes - der galante Name - in den Kreis vorzudringen versucht, der über diesen Code konstituiert wird, sieht sich hier dem Spott der initiés ausgesetzt. Allerdings gelingt Clorimants Unterfangen zumindest in dem Sinne, als sein Gedicht Aufnahme in die schriftliche Repräsentation dieses Kreises findet. Die Beispiele mondäner Gelegenheitstexte zeigen, dass auch die recueils galants Rückschlüsse auf soziale Konstellationen zulassen, wenn Spuren der Ereignishaftigkeit einer kollektiven Textgenese überliefert sind. Dennoch ist die Isolierung von Texten aus ihrer ursprünglichen Umgebung der Normalfall: Schon im Stadium der Zirkulation ordnen sich die beliebtesten Stücke, die immer wieder notiert und abgeschrieben werden, zu neuen Gruppierungen, und die Umgebung, in der sie in einer publizierten Sammelschrift auftauchen, verändert sich in dem Moment wieder, in dem sie Aufnahme in einen weiteren recueil galant finden. Die erstmalige Publikation eines Widmungsgedichtes ist demzufolge alles andere als ein Endpunkt, der das Gedicht im 133 Werbung und Parodie umfassen insgesamt vier Sonette (alle mit „À Madonte. Sonnet“ überschrieben) sowie drei Burlesques (siehe Recueil d’Octavie, S. 103-110). 134 „Epistre de Clorimant“, in: Recueil d’Octavie, S. 111-113. 135 „Epistre d’Acanthe, sur les mesmes rimes“, in: Recueil d’Octavie, S. 113-115. 136 Myriam Maître beschreibt dieses Phänomen im Rückgriff auf Paul Zumthor als „oralité mixte“ (vgl. Maître, Les Précieuses, S. 460). Biblio17_204_s005-419End.indd 151 11.06.13 10: 10 <?page no="152"?> 152 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Rahmen einer Konstellation festschreibt. Weder der Entstehungskontext noch der ‚Werkcharakter‘ der Publikation weisen dem Einzeltext einen festen Platz der Rezeption zu. Im Spannungsfeld zwischen mondäner und literarischer Praxis lädt er sich vielmehr mit Bedeutungen auf, die unterschiedlich ausfallen können, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt sie abgerufen werden. So wäre es ein Irrtum zu glauben, dass der Text im Zustand der Handschriftlichkeit seinem ‚originalen‘ Bedeutungszusammenhang automatisch näher stünde als in seiner gedruckten Version. Die intertextuelle Ordnung in dem portefeuille eines Zeitgenossen ist nicht unbedingt weniger zufällig als diejenige eines publizierten recueils. Der Blick, der im Folgenden auf einige Handschriften kollektiver Gelegenheitsdichtung gerichtet werden soll, ergibt ein dem bereits beschriebenen Verhältnis von Vereinzelung und Streckenbildung sehr ähnliches Bild. 2.2 Galante Gelegenheitsdichtung in portefeuilles und Handschriften Je te vuide mon Portefeuille, Lecteur, sans m’en réserver rien que ce qui ne pourra pas entrer dans un fort petit Livre, les gros Livres n’étant plus de mise. Tu verras tout, et tu en jugeras: Car pour moi, je n’ai pas voulu me donner le soin de mettre par ordre ce qui s’y est trouvé, soit en Vers, soit en Prose, moins encore d’en faire un choix. 137 Mit diesen Worten leitet ein nur durch seine Initialen bezeichneter Monsieur L.D.F.*** eine Sammlung von Gelegenheitstexten ein, die im Jahre 1694 veröffentlicht wird. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine Strategie des Druckers Dominique Labarre, der diesem recueil eine Aura der négligence verleiht, denn über die Identität des anonymen Herrn ist nichts bekannt. 138 Das Vorwort zeigt jedoch, dass die Grenzen zwischen portefeuille und recueil als durchlässig wahrgenommen wurden. Die Stücke einer Sammlung so zu veröffentlichen, wie man sie in seinen persönlichen Papieren vorgefunden hat, d.h. ohne jegliches Ordungsprinzip, ist an dieser Stelle offenkundig als captatio benevolentiae zu verstehen, d.h. als eine formalisierte Aussage, die ein entsprechendes Erfahrungswissen der Leser voraussetzt. Tatsächlich sind aus dem 17. Jahrhundert viele handschriftliche Stücke überliefert, die in dieser ungeordneten Form aufbewahrt wurden. 139 Die wohl berühmtesten 137 Le Portefeuille de Monsieur L.D.F.***. Carpentras, chez Dominique Labarre […] 1694, zitiert nach Lachèvre, Bibliographie III, S. 122. 138 Vgl. Lachèvre, Bibliographie III, S. 123; Dictionnaire des lettres françaises, XVII e siècle, S. 1000. 139 Zu den handschriftlichen Sammlungen im 17. Jahrhundert vgl. auch Tonolo, Divertissement et profondeur, S. 429-729 sowie XVII e siècle, 192, 48, 1996, [Themenheft mit dem Titel „Des usages du manuscrit“]. Biblio17_204_s005-419End.indd 152 11.06.13 10: 10 <?page no="153"?> 153 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Sammler mondäner Gelegenheitsliteratur sind Valentin Conrart, dessen Papiere sowohl Abschriften von eigener als auch ‚Originale‘ von fremder Hand umfassen, 140 und Gédéon Tallemant des Réaux, der eine Vielzahl von Stücken selbst kopiert, einige Texte in kalligraphierter Schrift von Dritten erhält und viele erklärende Notizen eigenhändig hinzufügt. 141 Ihre umfangreichen Sammlungen werden flankiert von zahlreichen anonymen Handschriften mit kollektiver Gelegenheitsdichtung, die in den Archiven und Bibliotheken lagern und in den Katalogen häufig als recueil de [poèmes, pièces] ausgewiesen sind. 142 In all diesen Fällen ist es jedoch insofern gerechtfertigt, von portefeuilles zu sprechen, als sie mehr einen ‚Ort des Sammelns‘ als ein sorgfältig angelegtes Album von Sammelstücken darstellen. Diese Unterscheidung zwischen portefeuille und Album mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, sie drängt sich bei der Sichtung des Materials jedoch geradezu auf: Einerseits stößt man auf jene Sammlungen, die offenbar mehr zur Gedächtnisstütze dienten und häufig erst nachträglich gebunden wurden, so dass ihr Erschei- 140 1769 erwirbt der Marquis de Paulmy, dessen Sammlung den Kernbestand der Bibliothèque de l’Arsenal ausmacht, den sogenannten Recueil Conrart (zur Erwerbsgeschichte dieser Sammlung vgl. Danièlle Muzerelle, „Le Recueil Conrart à la Bibliothèque de l’Arsenal“, in: XVII e siècle, 192, 48, 1996, S. 477-488). Seitdem ist diese vielbändige Handschriftensammlung immer wieder Gegenstand der literarhistorischen Forschung gewesen - von Victor Cousin bis jüngst Sophie Tonolo (vgl. Tonolo, Divertissement et profondeur, S. 431-755) -, ohne dass diese Sammelform jedoch bislang in der ihr eigenen ‚Architektur‘ untersucht worden wäre (vgl. Muzerelle, Le Recueil Conrart à la Bibliothèque de l’Arsenal, S. 488). 141 Im Gegensatz zum Recueil Conrart wurde ein Teil der Sammlung von Tallemant des Réaux Gegenstand einer kritischen Ausgabe, der eine ausführliche Beschreibung und Analyse der Handschrift vorangestellt ist (vgl. Vincenette Maigne, Tallemant des Réaux. Le manuscrit 673. Édition critique. Paris, Klincksieck 1994, insbesondere S. 27-138). Neben diesem manuscrit 673 der Bibliothèque de La Rochelle, dessen Texte einen Sammelzeitraum von über vierzig Jahren abdecken (1649-1690), sind drei weitere handschriftliche Sammlungen von Tallemant des Réaux überliefert, in La Rochelle das manuscrit 672, in der Bibliothèque nationale de France die manuscrits français 19142 und 19145. Dem manuscrit 673 wurde Maigne zufolge ein bestimmtes Ordnungsprinzip zu Grunde gelegt, so dass sein ‚Werkcharakter‘ im Vergleich mit dem Recueil Conrart stärker ausgeprägt zu sein scheint (vgl. Maigne, Tallemant des Réaux, S. 29-40). 142 Um nur einige Beispiele zu nennen: Recueil de pièces fugitives sur divers personnages du temps de Charles IX, et analyse de divers ouvrages du XVII e siècle [in der Bibliothèque nationale de France, fond français unter der Signatur: Ms 25567]; Recueil de poèmes, paraphrases, sonnets, lettres […] du XVII e siècle [Ms 25561]; Recueil de pièces satyriques (épigrammes, sonnets, madrigaux, épigrammes, etc.), en vers et en prose, en français et en latin, relatives au règne de Louis XIV [Ms 24446]; Recueil de pièces diverses, en prose et en vers, formé par Anne Olivier de Villarceaux ou pour elle. […] XVII e siècle [Ms 24320]. Biblio17_204_s005-419End.indd 153 11.06.13 10: 10 <?page no="154"?> 154 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten nungsbild sehr heterogen ist. Andererseits finden sich sorgfältig gestaltete Handschriften, deren Einbände die Initialen des Besitzers oder der Besitzerin tragen und die in kalligraphierter Schrift die zirkulierenden Gelegenheitstexte auf das zuvor mit Bleistift linierte Papier bannen. Diese Handschriften, denen man aufgrund ihrer geschlossenen, einheitlichen und in ihrer Materialität einen affektiven Wert zum Ausdruck bringenden Gestaltung einen Albumcharakter zubilligen kann, sind jedoch nicht automatisch mit einem Salonalbum im Sinne von Margarete Zimmermann gleichzusetzen. Häufig sind es nämlich gerade nicht die sorgfältig gestalteten Handschriften, in denen streckenweise Verdichtungen von gruppenspezifischen Texten auftauchen. Vielmehr sind es eher die heterogenen Sammlungen, die Anlass zur Hoffnung geben, auf derartige ‚Salonstrecken‘ zu stoßen. Während dieser Sammelform also auf der medialen Ebene die Geschlossenheit fehlt, um als Album gelten zu dürfen, lässt die albenhafte Sammelform auf der textuellen Ebene geschlossene Konstellationen vermissen. Die folgenden Beispiele sollen diesen Befund veranschaulichen, wobei im abschließenden Kapitel eine Handschrift analysiert wird, über die sich auf geradezu ideale Weise der Gedächtnisraum einer konkreten Gruppe erschließt. 2.2.1 Zwei Handschriften aus der Bibliothek von Chantilly Das Cabinet des livres von Chantilly - so der Titel des Kataloges, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bestände der Bibliothek des Großen Condé dokumentiert und beschreibt - verzeichnet mehrere Sammelhandschriften galanter Gelegenheitsdichtung aus dem 17. Jahrhundert. 143 Insbesondere eine dieser Handschriften verdient eine genauere Betrachtung, da sich an ihr sowohl die Geschlossenheit eines Albums und der Gestaltungswille seiner Besitzerin nachvollziehen lässt, als auch die ‚Diffundierung‘ von Gelegenheitstexten im Spannungsfeld von handschriftlicher Zirkulation und Publikation. Die Besitzerin des Albums, dessen Entstehung auf das Jahr 1648 datiert wird, ist Honorée de Bussy, 144 die in der Diktion des 19. Jahrhunderts, welcher sich der Autor des Kataloges bedient, als „femme bel-esprit […] renommée pour sa beauté, son esprit, et ses extravagances“ beschrieben wird. 145 Sie entstammt 143 Chantilly. Le Cabinet des livres. Manuscrits. Bd. II „Belles-Lettres“. Paris, Librairie Plon 1900. Da all diese Handschriften mit „Recueil de poésies“ überschrieben sind, beschränken wir uns an dieser Stelle auf die Angabe der Katalogsnummern: N°1462 (S. 209), N°1325 (S. 251), N°777 (S. 227), N°666 (S. 192), N°535 (S. 210). 144 Weshalb im Folgenden unter der Bezeichnung „Album Honorée de Bussy“ darauf Bezug genommen wird [im Katalog von Chantilly unter der Nummer 777 verzeichnet]. 145 Chantilly, S. 227-228. Biblio17_204_s005-419End.indd 154 11.06.13 10: 10 <?page no="155"?> 155 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts einem Haus niederen Adels aus dem Anjou und war mit verschiedenen hochgestellten Persönlichkeiten aus dem Umkreis der Fronde befreundet. Vor diesem Hintergrund ist eine persönliche Bekanntschaft mit dem Großen Condé nicht auszuschließen, weshalb im Katalog seiner Bibliothek die These vertreten wird, dass sie selbst es war, die ihm das Album, das seit 1673 zu den Beständen der Bibliothek zählt, als Geschenk überlassen hat. 146 Das Album umfasst insgesamt dreihundertdrei Stücke, die nach den Gattungen épîtres, élégies, stances, sonnets angeordnet sind. Sie sind alle von derselben Hand kalligraphiert - mit Ausnahme von dreizehn Stücken, die nachträglich hinzugefügt zu sein scheinen - und werden von einer feinen, in blauer Farbe gezogenen Linie umgeben. An manchen Stellen kommt außerdem eine goldene Umrandung hinzu, aber das Prinzip des Rahmens, der den Texten auf diese Weise eine besondere Bedeutung verleiht, wird im gesamten Buch, dessen Seiten sowohl recto als auch verso beschrieben sind, beibehalten. Auch der Einband des Albums lässt auf seine besondere Wertschätzung durch die Besitzerin schließen: Auf hellem Leder ist der Name „Honorée de Bussy“ eingraviert, und die Initialen der Besitzerin erscheinen zudem auf dem Buchrücken. Das Format des Buches - es handelt sich um ein In-4° - ist im Vergleich zu anderen Alben dieser Art relativ klein, wobei dies durch den Umfang von über 1000 Seiten wieder ausgeglichen wird. Das Besondere an diesem Album ist neben seinem äußerem Erscheinungsbild der Ordnungswille, der sich in der Abfolge der Stücke niederschlägt: Auf das Eröffnungsgedicht „L’Art d’aymer. A Olympe“ 147 sowie zwei Episteln „A Monsieur le Duc“ und „A Mademoiselle de Bourbon et sa trouppe“ folgt das ‚Kapitel‘ Élégies, das vierundvierzig Stücke umfasst. 148 Viele dieser Stücke finden sich später erneut in den Recueils de Sercy (vers) oder auch in den gesammelten Werken einzelner Autoren wie Benserade, Voiture oder Malleville. Gleiches gilt für die Texte, die in den folgenden, ebenfalls nach Gattungen unterschiedenen Abschnitten versammelt sind: Unter der Überschrift Épîtres handelt es sich um insgesamt neununddreißig Stücke, die überwiegend Voiture und Benserade zugeschrieben werden und von denen ebenfalls viele in den Recueils de Sercy (vers) abgebildet sind. Es folgen einhundertundvier Sonette, als deren Autoren neben Voiture und Benserade vor allem Malleville, Sarazin und Gombauld gelten dürfen. Den Abschluss bilden einhunder- 146 Ebd. 147 Dieses Stück verzeichnet auch der Recueil de Sercy (vers) I, S. 136. 148 Das Album Honorée de Bussy enthält keine Nummerierung der Blätter, und die Seitenangaben sind nicht durchgängig, sondern setzen mit jedem ‚Kapitel‘ neu ein. Allerdings enthält es ein Inhaltsverzeichnis, das ebenfalls nach den vier Gattungen élégies, épîtres, sonnets, stances geordnet ist und die Stücke mit dem ersten Vers zitiert. Biblio17_204_s005-419End.indd 155 11.06.13 10: 10 <?page no="156"?> 156 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten tachtzehn Gedichte, die unter der Überschrift Stances gruppiert sind und die sich gleichfalls den genannten Autoren zuordnen lassen. 149 Wohlgemerkt, alle diese Texte sind anonym, ihre Attribution ist nur durch den Vergleich mit Werkausgaben und mit anderen Sammelschriften möglich, in denen dieselben Stücke signiert wurden. Für die Zwecke dieser Untersuchung zeigt dieses Attributions-Verfahren darüber hinaus besonders anschaulich die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen handschriftlichen, d.h. nur bedingt ‚öffentlichen‘ und gedruckten, d.h. publizierten Sammelschriften. In einem viel stärkeren Maße jedoch als in den Publikationen, die zum Teil nach den Regeln der négligence und der diversité eine vorstrukturierte Anordnung ihrer Stücke ja gerade ablehnen, wird in diesem Album der Vereinzelung der Texte durch das gattungsspezifische Ordnungsprinzip Vorschub geleistet. Die Überlieferung einer der Gruppenbildung geschuldeten Reihe wird umso weniger wahrscheinlich, je stärker der formale Charakter des Einzeltextes in den Vordergrund gerückt wird, was automatisch geschieht, wenn ein Sonett auf ein Sonett und eine Elegie auf eine Elegie folgen soll. So sehr der Ordnungswille, der hier sowohl auf der materiellen als auch auf der textuellen Ebene zum Ausdruck kommt, die Bezeichnung der Sammlung als ‚Album‘ rechtfertigt, so sehr steht er konträr zu der streckenweisen Verdichtung von gruppenspezifischen Texten, die die Bezeichnung ‚Salonalbum‘ legitimieren würde. Doch die Gelegenheitstexte, die sich in dem Album der Honorée de Bussy finden lassen, figurieren nicht nur in späteren Veröffentlichungen. Die These von der Zirkulation von Gelegenheitsdichtung in den gesellschaftlichen Kreisen der Zeit wird auch durch die Beobachtung gestützt, dass diesselben Stücke in unterschiedlichen Handschriften auftauchen können. Das bedeutet nicht, dass bestimmte Stücke nahtlos von einer Handschrift in die nächste übernommen werden, sondern belegt im Gegenteil die parallele Zirkulation dieser Verse. Ein Vergleich des Albums mit einer weiteren Sammelschrift aus der Bibliothek von Chantilly veranschaulicht diese Praxis, die abermals der Isolierung von Einzeltexten aus einem gruppenspezifischen Zusammenhang Vorschub leistet. Die Handschrift, die dem Katalog von Chantilly zufolge für Pierre des Noyers, Sekretär der Prinzessin und späteren Königin von Polen Marie de Gonzague, angefertigt wurde, 150 wird auf die Zeit zwischen 1637 und 1645 datiert. Sie entstand also einige Jahre vor dem Album der Honorée de Bussy. 151 149 Vgl. Chantilly, S. 228-251. 150 Im Folgenden wird auf diese Handschrift unter der Bezeichnung „Recueil Pierre des Noyers“ Bezug genommen [Katalognummer 535]. 151 Vgl. Chantilly, S. 210. Biblio17_204_s005-419End.indd 156 11.06.13 10: 10 <?page no="157"?> 157 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Auch handelt es sich im Vergleich zu diesem um eine Sammelschrift, die nicht vorbehaltlos als Album bezeichnen werden kann, da sie sich durch sehr viel weniger Geschlossenheit auszeichnet. Zudem wurde weniger Sorgfalt auf die materielle Gestaltung dieser Handschrift verwendet. 152 Vor allem der Beginn der Sammlung lässt jedoch immer noch auf einen dezidierten Willen zur Form schließen, da die einzelnen Stücke durch ornamentale Figuren voneinander abgesetzt sind und ein dem Auge wohlgefälliges Gliederungsprinzip erkennen lassen. Die ersten vierundzwanzig Texte bilden auch im Hinblick auf die Kalligraphie eine Einheit, weshalb sie hier im Vordergrund stehen sollen. 153 Im Vergleich mit dem Album der Honorée de Bussy ist jedoch noch die folgende Beobachtung interessant: Vor dem Hintergrund der geringen Wahrscheinlichkeit eines reziproken Rezeptionsverhältnisses von Pierre des Noyers und Honorée de Bussy ist bemerkenswert, dass sieben dieser vierundzwanzig Stücke in beiden Sammelschriften vertreten sind. 154 Die Identität von rund einem Viertel der Texte spricht in der Tat für eine gewisse ‚Zirkulationsdichte‘ von Gelegenheitsliteratur im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Der Recueil Pierre des Noyers zeichnet sich jedoch noch durch eine weitere Besonderheit aus, nämlich durch eine ‚Strecke‘ von insgesamt vierzehn Gedichten aus der Guirlande de Julie. 155 Diese Reihe ist insbesondere vor dem Hintergrund des frühen Entstehungsdatums interessant, zumal einige 152 Der schmucklose Einband aus hellem vélin enthält weder Namen noch Initialen des Besitzers. Vor allem lässt diese Sammlung jedoch die Einheitlichkeit vermissen, die das Album Honorée de Bussy auszeichnet: Ab fol. 39 wechseln die Handschriften häufig, mitunter erinnern sie sogar an flüchtige Notizen. Viele Seiten bleiben unbeschriftet und weder ein Inhaltsverzeichnis noch andere Markierungen weisen auf die Abfolge der Texte hin. 153 Recueil Pierre des Noyers, ff. 1-39. 154 Es handelt sich um folgende Stücke, die hier mit ihren ersten Versen zitiert werden, da das Bussy-Album in den wenigsten Fällen einen Titel angibt, dafür jedoch ein vollständiges Inhaltsverzeichnis enthält, das die ersten Verse der Gedichte aufführt und auf das wir hier verweisen müssen, da weder Seiten noch folii in diesem Album durchgängig nummeriert sind. Die Angabe in Klammern bezieht sich auf die Handschrift von Pierre des Noyers. Außerdem in Klammern die Publikation, in der das Stück ggf. auch auftaucht: „Vante toy désormais d’aymer fidellement“ (f. 17; auch in: Recueil de Sercy (vers) II, 1662), „Philis, je suis dessoubz vos loix“ (f. 18; auch in: Œuvres de Voiture, 1676, S. 31), „Belle Doris, adorable merveille“ (f. 19; auch in: Œuvres de Voiture, 1676, S. 7), „Bélize, je sçay bien que le ciel favorable“ (f. 23; auch in: Œuvre de Voiture, 1676, S. 3), „Je voudrois bien rimer en ture“ (f. 29), „Belle et charmante Lancerdin“ (f. 30), „Je suis ce narcisse fameux“ (f. 35; auch in: La Guirlande de Julie). 155 Recueil Pierre des Noyers, ff. 35-38. Biblio17_204_s005-419End.indd 157 11.06.13 10: 10 <?page no="158"?> 158 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Verse von der 1641 angefertigten Guirlande de Julie abweichen und der recueil drei bislang unveröffentlichte Gedichte enthält. Dies legt den Verdacht nahe, dass die Handschrift von Pierre des Noyers ein frühes Stadium in der Entstehungsgeschichte der Guirlande abbildet, bzw. dass zu diesem frühen Zeitpunkt noch mehr Gedichte zirkulieren, als später in die definitive, Julie d’Angennes überreichte Prachthandschrift aufgenommen wurden. 156 Da auf diese Hypothese an anderer Stelle einzugehen sein wird, soll es hier genügen, einmal mehr auf den ‚insularen‘ Charakter dieser textuellen Konstellation hinzuweisen. Anders als im Recueil de Sercy (vers) II wird sie nämlich nicht nur mit einer Überschrift eröffnet - „La Guirlande de Julie. Contenant plusieurs Madrigals [sic] et Epigrammes“ -, sondern auch ‚abgekündigt‘: Dem letzten Gedicht der Reihe folgen die Worte „Fin de la Guirlande de Julie“. So lässt die Handschrift Pierre des Noyers im Vergleich mit dem Album der Honorée de Bussy zwar insgesamt auf einen weniger prononcierten Ordnungswillen schließen. Dem Gestaltungsprinzip der ‚Salonstrecke‘ gegenüber erweist sich die heterogene Sammlung jedoch als zugänglicher. Allerdings bleibt festzuhalten, dass sich diese Salonspezifik auf die textuelle Ebene beschränkt und die Existenz dieser Strecke in der Handschrift keine Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen dem Kreis der Marquise de Rambouillet und dem Besitzer des Albums zulässt. Der Bekanntheitsgrad der Chambre bleue mag dazu geführt haben, dass die Gedichte schon sehr früh als literarisches ‚Werk‘ begriffen und entsprechend rezipiert wurden. Anders verhält es sich jedoch mit Strecken von Gelegenheitsdichtung, die im Rahmen einer handschriftlichen Sammlung auf einen weniger berühmten Personenkreis verweisen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Person, die diese Sammlung angelegt hat, in einem unmittelbaren Verhältnis zu der Gruppe steht, die anhand der Texte sichtbar wird. Im Folgenden soll daher eine Handschrift vorgestellt werden, die auf der Grundlage ihrer materiellen Beschaffenheit zwar schwerlich als ‚Album‘ bezeichnet werden kann, die jedoch eine umfangreiche Strecke von Gedichten enthält, durch die ein relationaler Raum entsteht, der einer salonspezifischen Konstellation zumindest sehr nahe kommt. 156 So lautet die Hypothese, die der Autor des Kataloges von Chantilly vertritt: „C’est en 1641 que Charles de Sainte-Maure, marquis de Montausier, offrit à Julie d’Angennes, qu’il devait épouser quatre ans plus tard, le fameux manuscrit de la Guirlande de Julie, écrit et peint par Jarry, et composé de 62 madrigaux. Dix seulement figurent dans notre volume; quelques-uns présentent d’importantes variantes avec le texte connu; nous trouvons en outre quatre madrigaux inédits, qui furent sans doute écartés de la rédaction définitive. Il est donc probable que nous avons ici la première pensée de ce recueil célèbre.“ (Chantilly, S. 213). Biblio17_204_s005-419End.indd 158 11.06.13 10: 10 <?page no="159"?> 159 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts 2.2.2 Der Kreis um Claude Bosc, Sieur du Bois, prévôt des marchands de Paris Eine der Schwierigkeiten, die mit der Identifizierung von Salonalben des 17. Jahrhunderts verbunden ist, besteht im Überlieferungszustand mancher Sammlungen: Der Katalog der Anciens Petits Fonds Français der Bibliothèque nationale de France verzeichnet unter der Signatur Ms 25436 ein Konvolut, in dem mehrere Lagen von Folii unterschiedlicher Größe und Herkunft zusammengebunden wurden. 157 Der Teil der Sammlung, der für diese Untersuchung relevant ist, umfasst mehr als dreihundert Folii und scheint aus einem ursprünglichen Zusammenhang herausgenommen worden zu sein, denn die Seitenzählung beginnt bei 55 und endet mit dem letzten Blatt der Sammlung auf der Seite 698. Innerhalb dieser Lage ist die Handschrift durchgängig identisch, was die Zusammengehörigkeit dieser Folii, die durch die Seitenzählung suggeriert wird, bestätigt. Über die Entstehung der Sammlung ist nichts bekannt, doch scheinen sowohl die Person, die die Abschrift der Texte sowie die Seitennumerierung vorgenommen hat, als auch jene, die für die Bindung der Seiten zu dem vorliegenden Konvolut verantwortlich ist, daran interessiert gewesen zu sein, dass dieser Teil der Sammlung als Einheit überliefert wurde. 158 Er enthält sowohl Verse als auch Briefe und kann auf der textuellen Ebene wiederum in verschiedene Sinneinheiten unterteilt werden: Der erste Teil umfasst die Seiten 55-126 und bildet eine sehr umfangreiche Stecke von Widmungsgedichten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die dem prévôt des marchands de Paris, Claude Bosc, und seiner Familie zugeeignet sind. 159 157 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436. Die Sammlung beginnt mit einer schmalen Lage von Gedichten (20 Fol., 11 x 20 cm), auf die einzelne Blätter mit Versen folgen (1 Fol., 10,5 x 16 cm; 2 Fol., 17 x 21 cm; 4 Fol., 13 x 21 cm). Im Anschluss daran folgen insgesamt 33 zusammengefaltete Folii unterschiedlicher Größe, auf denen Noten, Liedtexte, Verse und Titel eines „Recueil d’Airs“ verzeichnet sind. Es folgen weitere Verse (4 Fol., 16 x 21 cm), bevor der Teil der Sammlung beginnt, der hier näher untersucht wird (ca. 320 Fol., 16 x 21 und 17,5 x 21 cm). 158 Für die Existenz eines einzigen Sammlers spricht allerdings die Tatsache, dass zwischen den Seiten 56 und 57 vier weiße Blätter eingebunden wurden, die schmaler und kürzer sind (14x18,5 cm), und offensichtlich für Nachträge gedacht waren: Zumindest liest man auf der ersten Seite einige Verse sowie die Überschrift „Pièces qui manquent“. Die Schrift scheint mit derjenigen des Hauptteils übereinzustimmen. 159 In materieller Hinsicht wird dieser Teil darüber hinaus dadurch abgesetzt, dass die Folii um 1,5 cm schmaler sind als die folgenden. Zufall? Oder wollte die Person, die nachträglich diese Seiten beschnitten hat, die Zusammengehörigkeit dieser Texte betonen? Da über die Entstehung dieser Sammlung nichts bekannt ist, bleiben diese Überlegungen spekulativ. Biblio17_204_s005-419End.indd 159 11.06.13 10: 10 <?page no="160"?> 160 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Auf diesen ersten Teil folgt eine Reihe von Gedichten mit religiöser Thematik, die ab der Seite 294 von mondänen Gelegenheitsgedichten, wie man sie auch in den recueils galants der Zeit findet, abgelöst wird. Die Seiten 535-666 sind Briefen vorbehalten, die sich durch eine spezifische Mischung von Vers und Prosa auszeichnen und ebenso wie die im vorausgehenden Abschnitt versammelten Gedichte der galanten Gelegenheitsliteratur angehören. Von jenen unterscheidet sie nur ihre thematische Zusammengehörigkeit, die sie an den ersten Teil der Sammlung zurückbindet, da sie alle an Claude Bosc oder an Mitglieder seiner Familie gerichtet sind. 160 Auf den letzten Seiten schließen weitere mondäne Gelegenheitsgedichte die Sammlung ab. Im Zusammenhang dieser Studie sind vor allem die erste Sinneinheit, die Widmungsgedichte an Claude Bosc, sowie die Briefe an ihn und seine Familie interessant und verdienen eine genauere Betrachtung. Claude Bosc, Sieur du Bois (1642-1715), stammt aus einer bürgerlichen Familie. 161 Seine Mutter, Marguerite Brossier, ist eine Tante zweiten Grades von Madame Colbert, der Frau des Finanzministers, der ab 1661 eine zunehmend wichtige Rolle am Hofe spielt. 162 Das soziale Netzwerk, das durch diese Verbindung entsteht, wird im Jahre 1667 noch dadurch erweitert, dass Boscs Schwester mit Alexandre Bontemps verheiratet wird, einem Oberkammerdiener des Königs. 163 Dieser angeheirateten Königsnähe hat es der Bruder 160 Dieser Brückenschlag von dem letzten thematischen Teil zum ersten unterstreicht noch einmal die innere Kohärenz dieser Lage und legt Vermutungen über den Besitzer der ursprünglichen Sammlung nahe: Möglicherweise war Claude Bosc selbst der Sammler, denn als Adressat dieser Texte hätte er ein Motiv. 161 In den Widmungsgedichten und Briefen findet man zuweilen auch die Anrede ‚Monsieur Dubois‘, die zeittypisch ist und nichts daran ändert, dass der Zusatz ‚du Bois‘ nicht einem zweiten Familiennamen entspricht, sondern auf einen - möglicherweise fiktiven - Lehensbesitz verweisen sollte, hinter dem dann im Laufe des sozialen Aufstiegs und nach dem Modell erfolgreicher Vorbilder der bürgerliche Name ‚Bosc‘ verschwinden konnte. Der Dictionnaire des lettres françaises, le XVII e siècle verzeichnet diese Person unter dem Namen Claude Bosc (vgl. ebd., S. 173), weshalb im Folgenden dieser bürgerliche Name beibehalten wird. 162 An dieser Stelle sei Leonhard Horowski gedankt, der mich auf diese sowie auf die im Folgenden erwähnten Verwandtschaftsbeziehungen aufmerksam gemacht und mir die biographischen Zusammenhänge erschlossen hat. Zu den Verwandtschaftsbeziehungen und Hofämtern von Jean-Baptiste Colbert (1619-1683) siehe Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 141, Artikel 250. 163 Zu Alexandre Bontemps, der es als einer von vier Oberkammerdienern am besten verstand, sich die Gunst des Königs zu sichern, vgl. Mathieu Da Vinha, Les valets de chambre de Louis XIV. Paris, Librairie Académique Perrin 2004, passim, vor allem S. 263-272, S. 395f., S. 483; zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen siehe außerdem Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 147, Artikel A264. Biblio17_204_s005-419End.indd 160 11.06.13 10: 10 <?page no="161"?> 161 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts wahrscheinlich zu verdanken, dass er im Jahre 1692 zum prévôt des marchands ernannt wird, ein einträgliches und vor allem mit symbolischem Kapital verbundenes Amt, dessen Inhaber sinngemäß Bürgermeister von Paris ist. Diese Ernennung ist zugleich Ausgangspunkt der hier zu analysierenden Strecke von Widmungsgedichten. Das erste Gedicht ist diesem Anlass gewidmet und stammt von einem gewissen Sieur de Villars, „Gentilhomme de Languedoc, âgé de soixantequatorze ans“, wie die Signatur des Textes zur Kenntnis gibt. 164 Es folgen elf weitere Huldigungen, die alle ausdrücklich „Monsieur Le Prevost des Marchands“ gewidmet sind, sowie spielerische Texte, an deren Horizont die Anrede „Dubois“ erscheint, die dem bürgerlichen Familiennamen ‚Bosc‘ vorgezogen wird. Da sie jedoch undatiert sind, lässt sich nicht immer mit Sicherheit sagen, ob sie dem zukünftigen prévôt des marchands gewidmet sind oder seinem Vater, der ebenfalls ein Claude Bosc, Sieur du Bois, ist. Alle Gedichte dieser Strecke sind jedoch an Mitglieder der Familie gerichtet: Anagramme, die die Namen „Claude Bosc“ und „Margueritte Brossier“ deklinieren, Hymnen - ganz im Stil der zeitgenössischen Galanterie - auf die gute Luft im Hause „Dubois“ oder auf einen Blumenstrauß, der „Monsieur Du Bois“ überreicht wurde. Die mitunter überschwengliche Anteilnahme am Schicksal des Hauses - im genealogischen Sinne - mag aus heutiger Sicht fast schon komische Züge tragen. Hinzu kommt, dass die galanten Gattungskonventionen, die hier aufgerufen werden, im Zusammenhang mit dem männlichen Adressaten der Gedichte auf den modernen Leser befremdlich wirken können. Die Zeitgenossen hatten jedoch keinen Anlass, sich über den prévôt des marchands de Paris (oder seinen Vater) lustig zu machen, im Gegenteil: Claude Bosc, der Jüngere, ist eine Persönlichkeit, die einerseits über das ihm anvertraute Amt, andererseits jedoch vor allem über seine Beziehungen zum Hof eine gewisse Macht vor allem für diejenigen ausstrahlt, die noch weniger zur wirklich einflussreichen, hochadligen Gesellschaft von Paris gehören als er selbst. Die Zusammenhänge zwischen diesem Einfluss, der literarischen Huldigung und den familären Bindungen veranschaulichen folgende Verse sehr gut, die auf den Schwager des Protagonisten, den königlichen Oberkammerdiener Bontemps, anspielen: A Monsieur Le Prevost des Marchands Ces rares qualités qui captivent les sens Ont esté les seuls partisans Dans l’admirable choix que le Roy vient de faire. Nos vœux sont exaucez nos desirs sont contens Et le Ciel n’y pouvoit jamais mieux satisfaire 164 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 55. Biblio17_204_s005-419End.indd 161 11.06.13 10: 10 <?page no="162"?> 162 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten A vos services importans Dont ce Roy genereux se souviendra longtemps. J’ose ajoûter encor que vous êtes beaufrere De l’Illustre Monsieur Bontemps. 165 Man kann dem anonymen Autor seine stilistische Ungeschicklichkeit vorwerfen, mit der er am Ende den Schwager und Gönner des Adressaten noch schnell in seine Huldigung mit einschließt. Völlig verfehlt wäre es allerdings, ihm eine ironische Absicht zu unterstellen: Aus heutiger Sicht und aus einer textimmanenten Perspektive mag es vielleicht so aussehen, als hebe der Autor zuerst die Tugenden des Angesprochenen hervor, um dieses scheinbare Lob durch den Antiklimax am Ende in einen Angriff zu wenden, indem er auf gute Beziehungen anspielt, denen Bosc sein Amt im Grunde zu verdanken habe. Abgesehen davon, dass ein ironischer Tonfall nicht zu den übrigen Gedichten passen würde und man sich fragen müsste, aus welchem Grund ein der Familie offensichtlich wohlgesonnener Besitzer der Handschrift dieses Gedicht in die Sammlung aufgenommen haben sollte, schließen sich persönliche Leistungen und soziale Verbindungen für die Zeitgenossen nicht aus. Viel naheliegender ist die Interpretation, dass der Autor dieses Gedichtes eigentlich zwei Huldigungen auf einmal ausspricht: Zunächst gilt seine Ehrerweisung dem direkten Adressaten, dem prévôt des marchands selbst. Da er jedoch davon ausgehen darf, dass auch andere Mitglieder des Kreises um Bosc die Verse zu sehen bekommen, schließt er eine weitere Person in sein Lob mit ein und suggeriert die Einflussnahme des Schwagers, dessen Nähe zum königlichen Zentrum der Macht allen Beteiligten - sowohl den Empfängern als auch dem Verfasser des Textes - nützlich sein kann. Die Bewegung, die das Gedicht auf diese Weise vollzieht, ist derjenigen nicht unähnlich, die im Zusammenhang mit den salonspezifischen Gästebüchern des 19. Jahrhunderts als ‚doppelte Silhouette‘ beschrieben wurden. Während die zweifache Widmung in den späteren Autographensammlungen über eine Mittlerfigur verläuft, die auf der textuellen Ebene nicht präsent sein muss, da sie als Besitzerin des Albums über den handschriftlichen Eintrag automatisch angesprochen wird, sind in diesem Beispiel sowohl der direkte als auch der indirekte Adressat in den Text eingeschrieben. Die Mittlerfigur ist Bosc, der direkt angesprochen wird. Über ihn stellt der Autor eine Beziehung zu dessen Schwager Bontemps her, der in diesem Falle nicht nur eine dritte Figur in einem Netzwerk, sondern auch eine mächtige Person repräsentiert, mit der in Kontakt zu treten für sozial weniger hochgestellte Zeitgenossen interessant sein kann. Der Fluchtpunkt dieser Konstellation schließlich ist die königliche Macht, deren Ausläufer all jene berühren, die im Hause 165 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 56. Biblio17_204_s005-419End.indd 162 11.06.13 10: 10 <?page no="163"?> 163 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Bosc verkehren, so dass dem konkreten Ort dieser Zusammenkünfte eine besondere Bedeutung zukommt. Dieser Raum, verstanden diesmal als spezifischer architektonischer Rahmen von Ereignissen, stellt eine weitere textuelle Figuration dar, die im Folgenden beschrieben werden soll. Als ‚Reihe in der Reihe‘ könnte man fünf Gedichte interpretieren, deren thematischer Fokus auf der Beschreibung bestimmter Orte liegt. Die Reihe beginnt mit einem Gedicht, das den Titel „Pour l’Air de la maison de Monsieur Du Bois“ trägt. Der Autor beschreibt hier seine Genesung von einem Fieber, die er allein diesem Ort zu verdanken habe, an dem - nach allen Regeln des locus amoenus - die Bäume auch im Winter ihr grünes Blattwerk nicht verlieren: Lieux charmans et délicieux, Demeure très digne des Dieux, Sejour ou jamais la froidure N’a fait tort à la verdure, Ou les boccages en tout temps Sont beaux en verds comme au printemps 166 Die Beschreibung des locus amoenus sowie das Thema der Genesung wird in dem folgenden Gedicht, „Sur le bon air d’Ivry. Stances“, wieder aufgegriffen, und zwar so wortgetreu, dass der Verdacht nahe liegt, man habe es mit demselben Autor zu tun. 167 Tatsächlich ist nämlich die Variation des Titels vernachlässigbar, denn der Familie Bosc gehört das Lehensgut Ivry-sur-Seine. Dieser Ort ist auch Gegenstand des dritten Gedichtes in dieser Reihe, das schlicht mit „Description“ betitelt ist, und über fünfzehn Seiten hinweg die Schönheit der Natur, des Parks, des Hauses besingt. Eine ebensolche Beschreibung enthalten die beiden letzten Gedichte dieser Reihe, „Description du Chateau Royal de Chambort“ und „Description du Chasteau de Menards“. Auch hier werden wieder ganze Passagen übernommen und nur leicht variiert. 168 Obwohl die Namen der Orte mitunter fast austauschbar zu 166 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 72. 167 „Ivry charmant sejour, beau lieu digne d’envie,/ Que tu sçais bien charmer les ennuys de la vie […] Les arbres y sont beaux, et malgré la froidure/ Ils conservent toujours leur charmante verdure/ Et n’esprouvent jamais la rigueur des hivers.“ („Sur le bon air d’Ivry. Stances“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 77). Allerdings gilt es auch zu berücksichtigen, dass sich die Versatzstücke, mit denen ein locus amoenus konstruiert wird, per se leicht wiederholen. 168 „Si vous ouvrez quelque fenestre/ Vous voyez d’agréables champs/ Où les troupeaux vont toûjours paistre/ Comme s’ils estoient au printemps.“ („Description“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 81); „Si l’on ouvre quelque fenestre/ L’on en Void d’agréables champs/ Ou les troupeaux comme au printemps/ En toute saison viennent paistre.“ („Description du Chasteau de Menards“, BNF, Paris, Manuscrits Biblio17_204_s005-419End.indd 163 11.06.13 10: 10 <?page no="164"?> 164 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten sein scheinen, handelt es sich doch um die Widergabe von teilweise sehr detailfreudigen Beobachtungen, so dass der Eindruck entsteht, der Autor dieser Verse habe mit eigenen Augen gesehen, wovon er schreibt: Un Escallier a double visse S’élève au haut du bastiment Qui rend un effet si charmant Qu’on en admire l’artifice. L’on y monte de deux costés, L’un de l’autre assez escartés, [Au] même but on se va rendre En montant toûjours on se void Et si l’on ne sçauroit comprendre Comme on arrive au meme endroit. Si du haut on jette une pierre Par un certain petit sentier Sans demeurer sur L’escalier Elle descend jusqu’à la terre“ 169 Diese Verse sind der berühmten doppelten Wendeltreppe von Chambord gewidmet, in der zwei gegenläufige Aufgänge einander so kunstvoll durchdringen, dass man sich während des Aufstiegs nicht begegnet und erst wieder aufeinander trifft, wenn man oben angekommen ist. Die beiden Treppen winden sich um einen Schacht, der hier - wohl um des Reimes willen - als „sentier“ bezeichnet und durch das Spiel mit dem hineingeworfenen Stein plastisch veranschaulicht wird. Geht man also davon aus, dass die Reihe der Raum-Gedichte trotz der standardisierten Beschreibung eines locus amoenus von Personen stammt, die auf den jeweiligen Schlössern zu Gast waren, so verbinden diese Verse ein spezifisches Gruppenportrait mit einem konkreten Ort. Denn zwischen diesen Häusern besteht nicht nur ein intertextueller, sondern auch ein referenzieller Zusammenhang: Ivry-sur-Seine ist das Eigentum der Familie Bosc, doch sie selbst sowie ihre Freunde haben auch Zugang zu den beiden anderen Schlössern, deren Türen sich ihnen über die verwandtschaftlichen Beziehun- Français, Ms 25436, S. 111). „Enfin l’on monte à la terrasse/ Ou les yeux sans empeschement/ Se promenent fort aisément/ Dans un très vaste et long espace“ („Description du Chateau Royal de Chambort“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 100); „Si l’on entre dans la terrasse/ L’on aperçoit de tous costés/ Mille charmantes raretés/ Que contient un très long espace“ („Description du Chasteau de Menards“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 112). 169 „Description du Chateau Royal de Chambort“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 98-99. Biblio17_204_s005-419End.indd 164 11.06.13 10: 10 <?page no="165"?> 165 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts gen zum Finanzminister Colbert, der in dieser Funktion zugleich das Amt des surintendant des bâtiments bekleidet, öffnen. Das Château de Ménars ist darüber hinaus im Besitz eines Neffen zweiten Grades von Marguerite Brossier, der Mutter von Claude Bosc, prévot des marchands de Paris, und Ehefrau von Claude Bosc, des Älteren. Dieser Neffe - Jean-Jacques Charron, sieur de Ménars - hat zwei Schwestern: Die eine ist mit Colbert selbst verheiratet, die andere mit dem Verwalter des königlichen Schlosses Chambord. Marguerite Brossier hat also insgesamt zwei angeheiratete sowie einen direkten Neffen zweiten Grades, die ihrer Familie den Zugang zu verschiedenen Schlössern ermöglichen. 170 So weitläufig diese Verwandtschaftsbeziehungen aus heutiger Sicht erscheinen mögen, die Zeitgenossen haben sie stets vor Augen, da es sich dabei für sie um fundamentales ‚Kapital‘ handelt, das in günstigen Fällen in konkrete Besitztümer, Ämter oder Nutzungsrechte von Räumlichkeiten umgewandelt werden kann. 171 Dass dies im Falle des Bosc-Kreises gelungen ist, bestätigen die Briefe, die eine weitere Strecke am Ende der Sammlung bilden und die alle an Mitglieder dieses Kreises gerichtet sind: Der Autor ist ein gewisser Chevry, der meistens entweder an den Vater oder an den Sohn Claude Bosc schreibt. 172 Im Zeitraum zwischen 1661 und 1672, den diese 170 Zu diesen Verwandtschaftsbeziehungen siehe Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 141, in Artikel 250 (Jean-Jacques Charron, Sieur de Ménars) und S. 258, Artikel A507 (Jacques-François de Johanne de La Carre, Marquis de Saumery [1651-1730] folgt seinem Vater, dem angeheirateten Neffen von Marguerite Brossier, nach dessen Tod im Jahre 1709 im Amt des gouverneur du château de Chambord nach). 171 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, S. 409-437; ders., „Der Preis des Erfolgs. Gunst, Kapital und Patrimonialisierung am Hof von Versailles (1661-1789)“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009), S. 71-92; ders., „‚Such a great advantage for my son‘. Office-holding and career mechanisms at the Court of France, 1661-1789“, in: The Court Historian 8 (2003) S. 125-175; ders., „Das Erbe des Favoriten. Minister, Mätressen und Günstlinge am Hof Ludwigs XIV.“, in: Jan Hirschbiegel, Werner Paravicini (Hg.), Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, Ostfildern, Thorbecke 2004, S. 77-125. 172 Über diesen Autor lassen sich nur aus dem Inhalt der Briefe einige Informationen ableiten: Er stammt aus Bourges und ist offenbar von bescheidenem sozialen Stand, unterschreibt jedoch manche Briefe mit „Vicomte de Chevry“. Auf diesen Titel, den er - wie er selbst zugibt - unrechtmäßig benutzt, muss er jedoch nach einem Gerichtsurteil wieder verzichten. Beruflich ist Chevry im juristischen Milieu tätig, allerdings übernimmt er wohl überwiegend Zuträgeraufgaben, denn in einem Brief beschreibt er Szenen aus seinem Alltag, der hauptsächlich darin besteht, vor dem Haus eines angesehenen Juristen auf eine Audienz zu warten. Zwischen 1661 und 1665 gelingt es ihm, sich in den Häusern Ménars’ und Saumerys als Erzieher anstellen zu lassen, und im Kreis um Claude Bosc scheint er die Rolle des Dichters Biblio17_204_s005-419End.indd 165 11.06.13 10: 10 <?page no="166"?> 166 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Briefe abdecken, hat letzterer seine Karriere noch vor sich, während der Vater trésorier général de l’extraordinaire des guerres ist. Es sind mondäne Briefe, die viele Verse enthalten und überwiegend dem Zweck dienen, sich in Erinnerung zu rufen und Beziehungen zu pflegen. Aus diesem Grund spielen sie häufig auf die sozialen Gelegenheiten an, auf die compagnie, zu der sich Chevry offenkundig zugehörig fühlt. In einem undatierten Schreiben bedankt er sich beispielsweise für einen Strauß Disteln, der ihm aus Ivry-sur- Seine zu seinem Namenstag geschickt wurde. Die scherzhafte Ehrbekundung kontert er mit den Versen: Car dans le village d’hivry Parmi les fruits les plus aimables De tant de jardins agréables Le Chardon est le plus chery 173 Andere Briefe Chevrys werden an abwesende Mitglieder der compagnie geschrieben. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem jene Briefe, die aus Chambord versandt werden. So schreibt der Autor beispielsweise am 30. September 1666 von dort aus an Bosc den Jüngeren, um ihn darüber zu informieren, warum er nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt in Paris sein kann: A Chambort ce 30 Sept. 1666. Pour Mr Dubois le fils advocat au Parlement. Monsieur, Je ne vous excrivis point le dernier ordinaire dans l’esperance que j’avois d’estre bientost à Paris où je me promettois d’avoir l’honneur de vous rendre mes respects, mais la maladie de Monsieur de Saumery l’aisné qui a esté une fièvre tierce, nous a retardé. 174 Der Hinweis auf Monsieur de Saumery - den Schlossgouverneur und angeheirateten Neffen der Marguerite Brossier - weist deutlich auf das biographische Netzwerk hin, das die verschiedenen Orte miteinander verbindet, auch wenn zu diesem Zeitpunkt offensichtlich kein Mitglied der Familie Bosc auf dem Schloss anwesend ist, denn der Brief schließt mit der Bitte an den Sohn, seine übernommen zu haben, ein ‚Voiture der Robe‘ sozusagen. Er ist der Autor des Gedichtes „Pour l’air de la Maison de Monsieur Du Bois“ und möglicherweise auch noch anderer ‚Raum-Gedichte‘. 173 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 607. Allerdings weist Chevry die mit diesem scherzhaften Geschenk einhergehende Anspielung zurück, die ihn als Esel darstellt. Seine Freundschaft mit den Musen könne durch diese Anspielung Schaden nehmen, schreibt er und deutet damit unausgesprochen an, dass sich dies wiederum negativ auf den Ruhm des Hauses Bosc/ Dubois auswirken würde, als dessen Dichter sich Chevry begreift. 174 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 612. Biblio17_204_s005-419End.indd 166 11.06.13 10: 10 <?page no="167"?> 167 Literarische Sammelformen des 17. Jahrhunderts Eltern sowie seine Schwestern zu grüßen: „Obligez moy d’assurer Monsieur et Madame Dubois de mes très humbles respects, comme aussi Mad lle votre sœur et ayez la bonté de faire mes baisemains à Monsieur et à Mademoiselle de la Roche.“ 175 In anderen Schlussformeln tauchen die bekannten Namen aus der Strecke der Widmungsgedichte auf: So lässt Chevry beispielsweise im Dezember aus Azay-le-Rideau, wo er sich gerade aufhält, nicht nur erneut Monsieur und Madame Dubois, sondern ebenfalls Monsieur und Madame Bontemps grüßen. 176 Und in einem Schreiben vom 3. Mai 1666, das der Autor wieder an Bosc den Jüngeren richtet, sind all jene Namen versammelt, an denen sich die ‚soziale Topographie‘ dieses Kreises festmachen lässt: Bosc der Ältere als Eigentümer von Ivry-sur-Seine, sein angeheirateter Neffe zweiten Grades als der Schlossherr Ménars, 177 der Chambord-Verwalter Saumery sowie Colbert als surintendant des bâtiments: Monsieur, je suis en peine de scavoir si vous avez receu deux lettres que je vous envoyé [sic] il y a quelques jours, parce que l’on m’a dit à vôtre logis que l’on n’en n’avoit point eu de reponse. Je crois pourtant que Monsieur de Mesnard a qui je les ai addressées aura eu assez de bonté pour vous les faire porter. Je vous dirai que Monsieur vôtre père mena mardi dernier Messieurs Colbert et Messieurs de Saumery à Ivry ou au bon accueil qu’il leur fit Il sceut joïndre la bonne chere/ Il leur servit les mets les plus delicieux/ mais il fit à son ordinaire/ C’est à dire qu’on ne peut mieux.“ 178 Vor dem Hintergrund der Briefe erhärtet sich die Hypothese, dass auch in den Widmungsgedichten ein spezifischer gesellschaftlicher Kreis literarisch abgebildet wird. Doch wie salonspezifisch ist dieser Kreis? Sieht man einmal von den materiellen Entstehungsbedingungen ab, über die sich aufgrund der Überlieferungssituation nicht viel sagen lässt, bleibt zunächst der dichte Intertext festzuhalten, der eine Gruppe sichtbar werden lässt, in deren Zentrum die Figur des Claude Bosc, Sieur du Bois, (zukünftiger) prévôt des marchands de Paris, und seine Angehörigen stehen. Die Gedichte wurden von der Hand, die sie kopiert hat, weniger unter chronologischen als unter thematischen 175 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 615. Jeanne Bosc, Demoiselle de La Roche (in erster Ehe) ist die uneheliche Tochter von Claude Bosc dem Älteren, mithin die ältere Halbschwester des zukünftigen prévôt des marchands und die spätere Geliebte und heimliche zweite Ehefrau des früh verwitweten Bontemps (vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 147, in Artikel A264). 176 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 633. 177 Fünf undatierte Briefe Chevrys sind außerdem an Ménars selbst gerichtet (BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 643-662). 178 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 595-595. Biblio17_204_s005-419End.indd 167 11.06.13 10: 10 <?page no="168"?> 168 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten Gesichtspunkten angeordnet: Sie decken einen Zeitraum von rund fünfundzwanzig Jahren ab und beinhalten damit einen Generationswechsel. 179 Die Briefe, die alle im Zeitraum zwischen 1661 und 1672 geschrieben wurden, gehören zwar thematisch zu den Widmungsgedichten, wurden allerdings unter gattungsspezifischen Gesichtspunkten gruppiert und bilden somit eine eigene Strecke am Ende der Sammlung. Die Mischung aus Prosa und Versen, die diese Briefe auszeichnet, rückt sie jedoch auch unter formalen Aspekten in die Nähe der Widmungsgedichte. Wenngleich in deren Mittelpunkt ein männlicher Adressat steht, so sprechen doch jene Verse, die für die weiblichen Mitglieder des Hauses komponiert wurden, 180 für einen gemischtgeschlechtlichen Kreis. Auch der galante Stil, in dem gleichermaßen männlichen wie weiblichen Mitgliedern dieses Kreises gehuldigt wird, spricht für ein ‚Mikroklima‘, wie es in salonspezifischen Kontexten begegnet. Außerdem beschränkt sich die Repräsentation dieser Gruppenbildung nicht auf den textuellen Raum, sondern verweist auf einen empirisch nachweisbaren Ort der Begegnung, der jedoch zugleich in einen locus amœnus verwandelt wird, um seinen Bewohnern Dank und Ehre zuteil werden zu lassen. Possesseurs de ces lieux aimables Dont ils ont tiré leur beauté Que l’honneur et la probité Rendent par tout recommandables. Après vos soins et vos travaux Venez y prendre du repos N’y craignez point les destinées De leurs rigueurs et de leur coups Le Ciel defendra vos années Car la vertu regne chez vous. 181 Widmungsgedichte, ein Netzwerk von Personen beiderlei Geschlechts sowie konkrete Räumlichkeiten: Diese Strecke galanter pièces de circonstance in einem insgesamt sehr heterogenen handschriftlichen Konvolut lässt auf eine soziale Praxis schließen, die der Definition des Salonalbums recht nahe kommt. Ob man vor diesem Hintergrund jedoch so weit gehen würde, das soziale Netzwerk der Familie Bosc/ Dubois als ‚Salon‘ zu bezeichnen? Im Vergleich mit der noch näher zu untersuchenden Albumpraxis im Umkreis 179 Das früheste datierte Gedicht stammt aus dem Jahr 1665, die Ehrbekundungen für den prévôt des marchands können nicht vor 1692 entstanden sein. 180 „Pour Mademoiselle Dubois“ (S. 69-70), „Anagramme. Margueritte Brossier. Très bon servir Marie“ (S. 70-71), „Pour Mademoiselle Dubois la fille“ (S. 72). 181 „Description du Chasteau de Menards“, BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 25436, S. 119. Biblio17_204_s005-419End.indd 168 11.06.13 10: 10 <?page no="169"?> 169 Fazit der Marquise de Rambouillet oder der Madeleine de Scudéry kann die Vorstellung, es handle sich bei diesem Netzwerk um eine salonspezifische Konstellation, nicht überzeugen. 3 Fazit: Alben und recueils galants als Formen salonspezifischer Relationalität? Die Untersuchung der französischen Alba amicorum hat gezeigt, wie auf der Grundlage textsortenspezifischer Einträge in ein dafür vorgesehenes Sammelmedium ein relationaler Raum entsteht. Allerdings lässt sich dieser Raum anhand der Alben nicht im eigentlichen Sinne rekonstruieren. Vielmehr nimmt er in der Schrift erst Gestalt an, hat doch die Gruppe, die hier sichtbar wird, nur in einem beschränkten Maße empirischen Bestand. In den ‚Freundschaftsbekundungen‘ schlägt sich in erster Linie eine bilaterale Beziehung nieder, die sich der Besitzer des Albums - sei es ein Lauten- oder Waffenmeister, der Betreiber einer Herberge oder ein Wappen- und Devisenspezialist - zunutze macht. Die Akkumulation der In- und Unterschriften simuliert darüber hinaus ein soziales Netzwerk, die diesen Nutzen vervielfältigt und auffächert: In dem sozial heterogenen Schrift- und Bildraum des Albums vermehren die ranghohen Einträger das symbolische Kapital der rangniederen Einträger sowie des Besitzers. Die einzelnen Einträge generieren in ihrer Summe einen imaginären Personenkreis, der in dieser Gestalt jedoch ausschließlich in jenem Medium zusammentritt, das ihn zu repräsentieren scheint. Anders verhält es sich mit einem angrenzenden Albumtypus, auf den in Gestalt der im folgenden Kapitel noch eingehender zu besprechenden Devisensammlung der Duchesse de La Trémoïlle hingewiesen wurde: In ihrer doppelten Funktion des Aufbewahrens und Vorzeigens unterscheidet sie sich vermutlich kaum von der Praxis, die mit den Alba amicorum verbunden ist. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass der relationale Raum, den letztere erst hervorrufen, in diesem Fall durch dynastische Strukturen bereits empirischen Bestand hat. Dies gilt - zumindest strukturell gesehen - ebenso für die soziale Konstellation, die durch die Gelegenheitsdichtung für den prévôt des marchands de Paris, Claude Bosc, sichtbar wird. Auch hier verweisen familiäre Strukturen auf das homogene Sozialprofil einer Sammlung, die eine Zusammengehörigkeit der beteiligten Personen nicht simulieren muss. In diesem Punkt konvergieren die ansonsten in Bild, Schrift und vor allem Sozialprofil vollkommen verschiedenen Hanschriften: Sowohl dem hochadligen Devisenalbum als auch der bürgerlichen Bosc/ Dubois-Strecke geht ein sozialer Raum voraus, der auch unabhängig von Bild und Schrift existiert. Biblio17_204_s005-419End.indd 169 11.06.13 10: 10 <?page no="170"?> 170 Alben und andere Sammelformen von Gelegenheitstexten In beiden Fällen handelt es sich um die formelle Gruppe des ‚Hauses‘, die der Definition Zimmermanns zufolge mit einer informellen Gruppe interagieren muss, damit die Rede von einem Salonalbum gerechtfertigt ist. Im Unterschied zu dem stabilen Repräsentationscharakter dieser Handschriften scheinen die fiktionalen Strukturen der Sammelformen Recueil d’Octavie oder Recueil La Suze-Pellisson - angezeigt durch die galanten Namen der Protagonisten - einen sozialen Raum überhaupt erst zu konfigurieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich die folgende These formulieren: In der hochadeligen Homogenität der Devisensammlung, aber auch in der familiären Kohäsion der Bosc/ Dubois-Strecke kann der entscheidende Unterschied zu jenen mondänen Kontexten des 17. Jahrhunderts gesehen werden, denen die sogenannten Salonalben entstammen, ergibt sich hier das ‚Wir-Gefühl‘ einer Gruppe doch nicht automatisch aus dem sozialen Status oder der Familienzugehörigkeit ihrer Mitglieder. Vielmehr bedarf es eines gemeinsamen Narrativs zur Aufhebung der Diskrepanz zwischen jenen Personen, die im wahrsten Sinne des Wortes ‚Rang und Namen‘ haben und jenen, die ihre Aufnahme in den Zirkel ihrem sprachkünstlerischen Geschick verdanken. Die galanten Pseudonyme oder ‚Salonnamen‘ sind daher mehr als nur schmückendes Beiwerk, treiben sie doch ein Gruppenbewusstsein, das sich im Falle der Familien Bosc oder La Trémoïlle anhand von Texten nur noch bestätigt, zuallererst hervor. Im Spiel mit diesen Phantasienamen konstituiert sich ein eigentümlicher sozialer Raum, der zwar keineswegs fiktiv ist, durch die galante Gelegenheitsdichtung jedoch ständig aktualisiert und konsolidiert werden muss. Diese Überlegung wirft die Frage auf: Wie wichtig ist die fiktionale Überhöhung, damit die Rede von der Salonspezifik bestimmter Gruppen gerechtfertigt ist? Die folgenden Ausführungen gehen dieser Frage anhand von zwei Handschriften nach, deren Bezeichnung als ‚Salonalben‘ angesichts der eingangs skizzierten Forschungssituation naheliegt: Während die Guirlande de Julie dem Umkreis der Marquise de Rambouillet entstammt, sind die sogenannten Chroniques du Samedi ein Produkt der Interaktion von Freunden der Madeleine de Scudéry. Biblio17_204_s005-419End.indd 170 11.06.13 10: 10 <?page no="171"?> TEIL III La Guirlande de Julie Die Handschrift und der ‚Salon‘ der Marquise de Rambouillet Im Jahre 1641 macht Charles de Sainte-Maure, Marquis de Montausier, seiner zukünftigen Frau Julie d’Angennes, Mademoiselle de Rambouillet, eine Handschrift mit dem Titel La Guirlande de Julie zum Geschenk. Es handelt sich um eine Sammlung von insgesamt 61 Madrigalen, in denen jeweils eine Blume den Lobgesang auf die „adorable Julie“ anstimmt. 1 Montausier selbst ist der Verfasser von 15 Gedichten, doch die Besonderheit dieser Handschrift liegt in ihrem kollektiven Charakter: Zwanzig Autoren haben zu dieser Sammlung beigetragen und namhafte Künstler an ihrer prachtvollen Gestaltung mitgewirkt. Zeitgenossen betrachten die Guirlande de Julie als ein Meisterwerk der galanterie, das sehr bald zu einer der Chambre bleue vergleichbaren Berühmtheit gelangt und bis heute als die ‚Visitenkarte‘ des Salons betrachtet wird. Genau hier liegen jedoch die Schwierigkeiten einer kritischen Analyse dieser Handschrift, gilt es doch, eine zirkuläre Argumentation zu vermeiden, die darauf hinausliefe, sie zugleich als Salonalbum und als Indiz für eine konturierungsbedürftige Salonspezifik der Chambre bleue zu verstehen. In der Vergangenheit wurde diese Zirkularität - ‚die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet ist ein herausragender Salon aufgrund des von ihr hervorgebrachten Meisterwerks, dessen herausragende Bedeutung darin besteht, einen bedeutenden Salon abzubilden‘ - jedoch nicht als Problem wahrgenommen, im Gegenteil: Das Amalgam aus Handschrift und sozialem Raum konnte als Resonanzkörper wirken, der jene Rede von der Ausnahmeerscheinung der Chambre bleue verstärkte, die sich bereits im 19. Jahrhun- 1 Ich beziehe mich hier auf jenes der uns heute bekannten Exemplare, bei dem es sich um das Geschenk für Julie d’Angennes handelt. Die Handschrift in-fol war lange Zeit in Familienbesitz und befindet sich seit 1989 in der Bibliothèque nationale de France (Ms NAF 19735). Zur komplexen Überlieferungsgeschichte der Handschriften siehe Kap. 3.1. Textanhang I enthält eine Abschrift der Handschrift. Biblio17_204_s005-419End.indd 171 11.06.13 10: 10 <?page no="172"?> 172 La Guirlande de Julie dert zu einem lieu de mémoire verfestigt hatte. Wenn im Folgenden anhand der Handschrift La Guirlande de Julie und anderer pièces de circonstance das Verhältnis von galanter Praxis und salonspezifischer Gruppenbildung untersucht werden soll, so geht es nicht zuletzt darum, dieser Verfestigung ein differenziertes Bild entgegenzusetzen. Zunächst bleibt allerdings das Folgende zu konzedieren: Der Kreis der Marquise de Rambouillet gerät im 19. Jahrhundert nicht ohne Grund in den Fokus von Autoren wie Roederer und Sainte-Beuve, ist er doch neben dem Samedi der Madeleine de Scudéry am weitaus besten dokumentiert, da ihm eine Vielzahl von Gelegenheitstexten und Erzählungen en miniature - nicht zuletzt die bereits mehrfach erwähnten Historiettes von Tallemant des Réaux - ein beredtes Zeugnis ausstellen. Zwar fanden diese Texte bislang überwiegend als ‚Steinbruch‘ Verwendung, in dem eine Vielzahl von Anekdoten lagert, die man ad infinitum und häufig distanzlos aneinander gereiht hat. Dies ändert jedoch nichts an dem für die vorliegende Untersuchung bedeutsamen Befund: Weit davon entfernt, das einzige literarische Dokument zu sein, über das wir verfügen, wenn wir uns mit der Chambre bleue auseinandersetzen, ist La Guirlande de Julie Teil eines umfangreichen textuellen Netzwerks. Will man dieses Netzwerk einer kritischen Betrachtung unterziehen - und sei es nur, um die Guirlande in einen Kontext einzubetten, der ihre gruppenkonsolidierende Eigenschaft hervortreten lässt -, so gilt es, sich einige im Hinblick auf den problematischen Salonbegriff grundlegenden diskursanalytischen Prämissen in Erinnerung zu rufen. Zunächst ist daher dem Sozialhistoriker Nicolas Schapira unbedingt zuzustimmen, wenn er fordert, diese Texte als Bestandteil jener sozialen Praxis zu lesen, von der sie handeln: Aussi est-il nécessaire, pour comprendre ce qui se joue dans ce mélange inextricable de pratiques et de représentations que constitue l’objet ‚sociabilité mondaine‘, de partir d’une analyse des textes qui parlent des pratiques mondaines, en considérant ces textes comme des pratiques, et non comme le reflet de pratiques. 2 Von Schapira lässt sich außerdem die folgende These übernehmen: Damit eine Konstellation von Personen, die nicht qua Geburt oder Heirat auf ein maximales soziales Kapital zugreifen können, im Gefüge der urbanen Eliten sichtbar werden kann, muss sie sich um ein spezifisches symbolisches Kapital bemühen, das die hommes de lettres, die sich dieser Gruppe verbunden fühlen, vermehren. Die Schriftsteller übersetzen soziale in textuelle Spannungen und sorgen für eine mise en narration der Gruppendynamik, wobei sie eine dieser Erzählung zu Grunde liegende galante Ästhetik entwerfen, die wiederum 2 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 235f. Biblio17_204_s005-419End.indd 172 11.06.13 10: 10 <?page no="173"?> 173 La Guirlande de Julie ihrem eigenen Selbstverständnis als hommes de lettres Kontur verleiht. 3 Ihrer Funktion als ‚Eliteschmiede‘ werden diese Konstellationen also nur gerecht, wenn sie auch als solche, d.h. als Gruppen, wahrgenommen werden. Der soziale Raum, der hier Gestalt annimmt, ist mithin darauf angewiesen, dass Anekdoten in Umlauf gebracht und Gelegenheitstexte publiziert werden, die auf ihn zurückstrahlen. ‚Publizieren‘ ist in diesem Zusammenhang jedoch ein vielschichtiger Begriff: La problématique de la publication peut être ici utilement mobilisée pour comprendre comment les écrivains sont les acteurs majeurs de la promotion de certains lieux sociaux, et comment c’est dans les textes que se joue un échange de légitimité entre certains écrivains et un certain nombre de figures aristocratiques qui ne sont pas, par leur rang, appelées à devenir naturellement des figures publiques. 4 Um ihn für ein besseres Verständnis dessen fruchtbar zu machen, was Schapira auch als „fabrication de la distinction“ bezeichnet, 5 wird der Begriff der Publikation hier in einem erweiterten Sinne verwendet: Die Zirkulation der Texte in gesellschaftlichen Kreisen, die zwar über ein maximales Sozialprestige verfügen, jedoch mit der ‚Öffentlichkeit‘ stricto sensu nicht identisch sind, fällt ebenso darunter, wie die Verbreitung derselben Texte über den Buchdruck, der es ermöglicht, ein Publikum maximalen Umfangs anzusprechen. In beiden Fällen geht es den Protagonisten der hier interessierenden Gelegenheitsliteratur darum, als Gruppe sichtbar zu sein, über diese Sichtbarkeit gesellschaftlichen Erfolg zu generieren und der galanten Praxis - dem ephemeren Ausdruck ihrer Zugehörigkeit - eine materielle Grundlage, einen ‚Ort‘ zu schaffen, an dem die Spuren dieser Praxis aufgehoben sind. Als einen solchen Ort lassen sich die sogenannten Recueils Conrart begreifen, die wie kaum eine andere Quelle dazu beigetragen haben, aus dem Hôtel de Rambouillet jene ‚sagenhafte‘ Chambre bleue zu machen, als die der Kreis um die Marquise bis heute bekannt ist. Im Folgenden wird es daher zunächst darum gehen, diese soziale Konstellation anhand von textuellen Spuren herauszuarbeiten, die Valentin Conrart aufgrund seiner persönlichen Verbindungen zum Hause Rambouillet in seinen Papieren aufbewahrt hat. In diesem ersten Kapitel wird so die Voraussetzung für die Analyse der Guirlande de Julie geschaffen, die es im Anschluss daran in zwei Schritten, die den zwei Phasen ihrer Entstehung entsprechen, zu untersuchen gilt. Handelt es sich in den Jahren 1632 bis 1634 noch um eine Sammlung von Madrigalen, deren spielerischer Charakter im Vordergrund steht, so verdichtet sich dieses galan- 3 Vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 236. 4 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 227. 5 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 173 11.06.13 10: 10 <?page no="174"?> 174 La Guirlande de Julie te Spiel, das Montausier bis dahin nur initiiert hat, 1641 zu einer Prachthandschrift, die er persönlich in Auftrag gibt und ad personam für seine zukünftige Frau anfertigen lässt. Diese doppelte Ereignishaftigkeit, die das Geschenk für die älteste Tochter des Hauses Rambouillet auszeichnet, erlaubt es, die Guirlande de Julie als die literarische Verdichtung eines relationalen Raumes zu begreifen, der als Chambre bleue in die Geschichte eingegangen ist. 1 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue Valentin Conrart ist aufgrund seiner Professionalität im Umgang mit Texten, aber auch wegen einer relativen finanziellen Unabhängigkeit, die es ihm erlaubt, Zeit in Verbindungen zu investieren, die nicht auf direktem Klientelismus beruhen, eine zentrale Figur im Hôtel de Rambouillet. Seine Funktion als „secrétaire de confiance“, dem es obliegt, als homme de lettres für die Reputation des Zirkels einzustehen, hat Nicolas Schapira herausgearbeitet: Il est ainsi probable que Conrart soit devenu une sorte d’homme de confiance pour les habitués de l’hôtel de Rambouillet, mais aussi au-delà, et qu’il ait tiré son autorité de sa capacité de rendre service à ses amis et aux amis de ses amis. Ces services ont deux grands ressorts: d’une part sa relative disponibilité, que lui permet son aisance financière, d’autre part sa compétence d’homme de lettres, mélange de savoir, de capacité d’analyse et de disponibilité à des actions qui mettent en jeu l’écrit. 6 Dank seiner eigenhändig angelegten privaten Archive kann er jederzeit auf Dokumente zugreifen, die es ihm erlauben, die Interessen seiner Freunde und ‚Freundes-Freunde‘ zu vertreten, wobei insbesondere die Dossiers, die er für Personen aus dem Umkreis des Hauses Rambouillet angefertigt hat, darauf hinweisen, dass Conrart das Vertrauen der Betroffenen genießt. 7 Ein solcher Vertrauensbeweis ist beispielsweise ein recueil mit Briefen und Gelegenheits- 6 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 253-254. Zu den Fallbeispielen, die Schapira analysiert und die insbesondere die Comtesse de Maure, die Duchesse de Montausier und den Erzbischof von Grasse betreffen, siehe ebd. S. 253-264. 7 Diese Archive beschränken sich nicht auf Personen im Umkreis des Hôtel de Rambouillet, und Schapira zufolge beziehen sich viele Papiere auf Persönlichkeiten, deren Verhältnis zu Conrart ungeklärt ist. Umso bemerkenswerter ist das Vertrauensverhältnis, das Conrart mit dem Hause Rambouillet verbindet: „En effet, il était probablement à l’affût de toute pièce relative à des affaires qui faisaient du bruit, et l’on ne peut déduire de la présence d’un document portant sur telle famille qu’il lui avait été confié expressément, ni même que Conrart entretenait des relations avec cette famille. Mais dans le cas de personnalités gravitant autour de l’hôtel de Biblio17_204_s005-419End.indd 174 11.06.13 10: 10 <?page no="175"?> 175 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue gedichten, den der Marquis de Montausier dem homme de lettres überlässt und von dem später noch ausführlich die Rede sein wird. Die sogenannten, d.h. aus der Bibliothek ihres Besitzers als Einheit überlieferten Recueils Conrart stellen mithin nur einen Teil dieser Archive dar, deren ursprünglicher Umfang sich heute nur noch erahnen lässt. 8 Bei diesen handschriftlichen Sammlungen handelt es sich um insgesamt 53 Bände, die in den meisten Fällen jeweils über 1000 Seiten umfassen. Seit dem 19. Jahrhundert sind sie Gegenstand des historiographischen Interesses, doch steht eine Untersuchung ihrer Gesamtkonzeption und -konstitution noch aus. 9 Inhaltlich folgen diese Handschriften einer nur sehr vagen thematischen Ordnung, die zwischen historischen, theologischen und literarischen Stücken unterscheidet. Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach wurden sie schon sehr früh - möglicherweise von Conrart selbst - zu verschiedenen Abteilungen zusammengefasst, die 1769 vom Marquis de Paulmy erworben wurden, dessen Sammlung den Kernbestand der Bibliothèque de l’Arsenal bildet. Dabei verteilt sich die Mehrzahl der Bände auf zwei Serien: Der sogenannte Recueil Conrart in-4°, der 24 Bände umfasst, 10 und der Recueil Conrart in-fol., auf den sich 18 Bände vereinigen. 11 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sind sie jeweils nur teilweise von besonderem Interesse, da nicht alle Bände Stücke enthalten, die der Gelegenheitsdichtung zugeordnet werden können. Aus der Sicht der Salonforschung lassen sich die Bände der beiden Serien wiederum in eine frühere (Recueil Conrart in-4°) und in eine etwas spätere (Recueil Conrart in-fol.) Phase unterteilen, wobei das chronologische Ordnungsprinzip ebenso wenig rigoros zu handhaben ist wie das thematische. Ein Blick auf die Versepisteln, die Sophie Tonolo systematisch zusammengestellt hat, 12 zeigt jedoch, dass der Recueil Conrart in-4° überwiegend die Gelegenheitsdichtung des Rambouillet-Kreises enthält, während für den Personenkreis um Madeleine Rambouillet […], avec lesquels Conrart avait de fort anciennes et très étroites relations, c’est très vraisemblablement qu’on peut dire qu’il jouait le rôle d’un archiviste privé […].“ (Schapira, Un professionnel des lettres, S. 255). 8 Zur Überlieferungsgeschichte dieser Sammlung siehe Muzerelle, Le Recueil Conrart à la bibliothèque de l’Arsenal, S. 477-488. Zuweilen ist auch von dem Recueil Conrart im Singular die Rede. Da sich der Bestand jedoch in einzelne Serien untergliedert, die jeweils wiederum als Recueil Conrart bezeichnet werden, ist der Gebrauch des Singulars meines Erachtens eher missverständlich und wird hier nur verwendet, wenn von einer spezifizierten Serie die Rede ist. 9 Vgl. Muzerelle, Le Recueil Conrart à la bibliothèque de l’Arsenal, S. 488. 10 In der Bibliothèque de l’Arsenal verzeichnet unter Ms 4106-4129. 11 In der Bibliothèque de l’Arsenal verzeichnet unter Ms 5410-5427. 12 Tonolo, Divertissement et profondeur, S. 431-762. Das Genre der Versepistel bietet sich für einen solchen Überblick an, da der Titel in vielen Fällen bereits den Adressaten, manchmal auch den Verfasser des Textes namentlich nennt. Biblio17_204_s005-419End.indd 175 11.06.13 10: 10 <?page no="176"?> 176 La Guirlande de Julie de Scudéry und Paul Pellisson, dem Valentin Conrart auch angehörte, eher der Recueil Conrart in-fol. relevant ist. Ein besonders dichtes Netzwerk von Texten und Namen aus dem Umkreis des Hôtel de Rambouillet findet sich im zehnten Band des Recueil Conrart in-4°. 13 Wie alle Bände dieser Serie ist er in braunes Kalbsleder gebunden und misst 20 x 15 cm. Er umfasst 1347 Seiten, von denen an dieser Stelle insbesondere die letzten 450 Seiten von Interesse sind: Ab hier verdichten sich die Hinweise auf die Chambre bleue in einem Maße, dass man fast von einer ‚Salonstrecke‘ sprechen könnte, die dem spielerischen Charakter der Gruppe eine konkrete, textuell verfasste Sichtbarkeit verleiht. Die folgenden drei Beispiele sollen diesen Charakter sowie seine gruppenbildende und -konsolidierende Funktion veranschaulichen. 1.1 Märchen, Metamorphosen und Gazetten L’Empire des Hautes marches, duquel jusques à cettuy [sic] temps peu de gens ont eu notices & connoissance, est situé à cinquante deux degrez des Volvis, Prévolvis & Subvolvis, en un paÿ moult fertile & abondant. Illec [sic] on y trouve or & argent à foison, & toutes sortes de victuäilles, comme chiens, chats, perroquets, & singes verts; moult y sont aussi les fruits & menues denrées de bon goust […]; de plus, raisins y croissent toutsecs, pruneaux & espinars tout-cuis; Si que c’est grand merveille à voir & ouïr raconter. 14 Diese Eröffnung einer kurzen Erzählung mit dem anspielungsreichen, die altfranzösische Heldendichtung aufrufenden Titel La Mijoréade führt den Leser zunächst in ein Schlaraffenland: Exotische Vögel und gewöhnliche Haustiere leben hier einvernehmlich nebeneinander, Weintrauben wachsen bereits als getrocknete Rosinen heran, und auch anderes Obst und Gemüse muss zum Verzehr nicht erst zubereitet werden. Schon dieser Einstieg in eine Geschichte, auf deren Nacherzählung aufgrund ihres stereotypen und handlungsarmen Inhalts hier verzichtet wird, 15 erweckt den Eindruck, dass 13 In der Bibliothèque de l’Arsenal verzeichnet unter Ms 4115. 14 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 4115, fol. 617. 15 Die Handlung, die zwei rivalisierende, obgleich befreundete ‚Ritter‘ in Szene setzt und die nach einer Weile abrupt endet, knüpft aufgrund ihrer Liebesthematik - die Freunde/ Rivalen verlieben sich in drei Schwestern, die sogenannten mijorées - auch an die mittelalterlichen Amadis-Romane an, die jedoch ebenso ironisiert werden wie das im Titel anzitierte französische Heldenepos (man denke z.B. an die Franciade von Ronsard). Dies legt nicht zuletzt die Figura etymologica auf der Basis des Ausdrucks mijaurée nahe, der Furetière zufolge dem niederen Sprachgebrauch entstammt und auf eine weibliche Figur verweist, die durch ein peinliches oder unangenehmes Verhalten auffällt. Biblio17_204_s005-419End.indd 176 11.06.13 10: 10 <?page no="177"?> 177 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue das angestrebte Vergnügen - nicht nur des Lesers - eigentlich nur darin bestehen kann, wie erzählt wird. Die Sprache ist dem Altfranzösischen nachempfunden, oder zumindest geben einzelne Ausdrücke wie cettuy, moult und victuäilles der Beschreibung eine altertümliche Färbung. 16 Das verfremdende Vokabular hat allerdings auch eine ganz bestimmte Funktion, verwandelt es doch eine alltägliche, dem anvisierten Leser nur allzu bekannte Umgebung in eine ferne, märchenhafte Welt. Denn wie der Hinweis auf das Empire des Hautes marches bereits andeutet, verbergen sich hinter diesem ‚Land vor unserer Zeit‘ eben jene Zimmerfluchten des Hôtel de Rambouillet, die der Besucher (und Leser) über eine Treppe erreicht, die eigens von der Mitte an die Seite des Gebäudes verbannt worden war, um - wie Tallemant des Réaux schreibt - eine räumliche enfilade im oberen Stockwerk zu schaffen. 17 Die Erzählung selbst dient in erster Linie dazu, jeglichen Zweifel an dieser Referenzialität zu zerstreuen: Die Geschichte einer Freundschaft zwischen dem Marquis de Tuvoire (alias Voiture) und dem Duc de Zinapy (alias Pisani, der jüngste Sohn der Marquise de Rambouillet), 18 die sich überwiegend in einer Stadt namens Rispa (alias Paris) und in dem Schloss Bouilleramt (alias Rambouillet) abspielt, ist nicht als Heldenepos, sondern lediglich als Träger einer anagrammatischen Verrätselung von Interesse, die nur allzu leicht zu durchschauen ist. Der Erzähler nennt sich selbst „le sage Icas“, wodurch er sich als habitué zu erkennen gibt, handelt es sich doch um das galante Pseudonym von Pierre-Isaac Arnauld, auch als Arnauld de Corbeville bezeichnet, der dem engeren Kreis der Chambre bleue angehört. 19 16 Dieser Sprachgebrauch erinnert zunächst an Voitures Episteln en vieux langage (vgl. Sophie Rollin, Le style de Vincent Voiture. Une esthétique galante. Publications de l’Université de Saint-Étienne 2006, S. 89; Emile Magne vermutet sogar, dass der Autor der „Mijoréade“ mit Voiture wetteifert, vgl. Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de Gloire, S. 186). Der Rückgriff auf altertümliche, häufig sogar explizit mittelalterliche Muster - sprachlicher oder thematischer Art - kennzeichnet auch andere Formen des sogenannten salon-writing (DeJean) und ist insbesondere in den sich am Ende des 17. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuenden contes de fées zu beobachten (vgl. Baader, Dames de lettres, S. 226-277, insbesondere S. 244-246 sowie Roswitha Böhm, Wunderbares Erzählen. Die Feenmärchen der Marie- Catherine d’Aulnoy. Göttingen, Wallstein 2003). Zu der langen Tradition, auf die eine mit der Liebeskasuistik verbundene französischen Spielkultur im 17. Jahrhundert tatsächlich zurückgreifen kann, siehe außerdem die grundlegende Studie Jocus und Amor von Christa Schlumbohm. 17 „C’est d’elle [von der Marquise de Rambouillet, S.B.] qu’on a appris à mettre les escalliers à costé, pour avoir une grande suitte de chambres […].“ (Tallemant, Historiettes I, S. 443). 18 Zur Freundschaft zwischen Voiture und Pisani vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 492. 19 Zu Arnauld de Corbeville vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 500-504. Biblio17_204_s005-419End.indd 177 11.06.13 10: 10 <?page no="178"?> 178 La Guirlande de Julie Ein zweites Textbeispiel aus dieser ‚Salonstrecke‘ des Recueil Conrart in-4° rekurriert statt auf das Märchen, das Heldenepos oder die altfranzösischen Ritterromane auf das antike Modell der Metamorphosen; dies allerdings nicht weniger ironisch. 20 So erfährt der Leser von insgesamt sechs Verwandlungsgeschichten beispielsweise, dass besagter Arnauld de Corbeville in einen grünen Papagei verwandelt wurde, aber nicht etwa deshalb, weil ihn mit diesem Tier per se irgendeine Eigenschaft verbindet. Im Unterschied zu den anderen fünf Metamorphosen, die zu einer psychologischen Lesart auffordern, ist seine Verwandlung schlicht der Tatsache geschuldet, dass er zu dem Zeitpunkt, als ihm eine zornige Verehrerin ihren Zaubertrank ins Gesicht schüttete, ein grünes Gewand trug. Durch das Gesetz der Reihe, das diesen sechs Metamorphosen zu Grunde liegt, lässt sich diese Geschichte als Anti-Klimax lesen, der die Ironie der übrigen Texte noch dadurch verstärkt, dass er deren an sich bereits leicht als hyperbolisch zu durchschauenden Verweisungscharakter entlarvt - der legendäre Heiratsunwille der jungen Damen des Hauses Rambouillet wird beispielsweise mit der Verwandlung der Julie d’Angennes in einen Diamanten (Schönheit und Härte) oder mit der Metamorphose der Angélique Paulet in eine (Männer) reißende Bestie (mit schöner Stimme und wallender Löwenmähne) zum Ausdruck gebracht 21 - 20 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 4115, fol. 593-608. Die Titel der einzelnen Stücke lauten: „La Métamorphose de la chauve-souris. Extraite d’un autheur ancien, dédiée au Baron de Salles“, „Métamorphose du sage Icas en perroquet“, „Métamorphose de Lucine en rose; extraitte d’un ancien autheur Grec“, „Métamorphose de Julie en Diamant“, „Métamorphose d’Angelique en perle“, „Métamorphose d’Angélique en lyonne“ (zur Ovid-Rezeption in - gleichwohl späteren - galanten Kontexten im 17. Jahrhundert siehe auch Marie-Claire Chatelain, Ovide savant, Ovide galant: Ovide en France dans la seconde moitié du XVII e siècle. Paris, H. Champion 2008). Auch im Zusammenhang mit den Metamorphosen wird in der Literatur meist auf Voiture verwiesen, der diese ‚Mode‘ ca. 1640 lanciert haben soll (vgl. Rollin, Le style de Vincent Voiture, S. 91; Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de Gloire, S. 183-184). Tatsächlich erscheint bereits 1641 ein recueil galant mit dem Titel Les Métamorphoses françoises recueillies par monsieur Regnault. Paris, A. de Sommaville. 21 Julie d’Angennes sind insgesamt zwei Metamorphosen gewidmet, da ihr zweiter Vorname ‚Lucine‘ lautet und unter dem Titel „Métamorphose de Lucine en rose; extraitte d’un ancien autheur Grec“ mit der Verwandlung in eine Rose (schön, aber dornig) verbunden wird. Dieser Text taucht auch in den Werken Voitures auf, und wird dort der Marquise de Rambouillet gewidmet. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe anzunehmen, dass in der aus dem Recueil Conrart in-4° stammenden Metamorphose mit dem Titel „Métamorphose d’Angelique en perle“ die jüngste Tochter der Marquise gemeint ist, deren kindliche Reinheit mit dem aus der christlichen Ikonographie stammenden Symbol der Perle assoziiert wird. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass auch diese ‚Angélique‘ auf Angélique Paulet verweist, die zum engsten Freundeskreis des Hauses Rambouillet zählt und in anderen Gelegenheits- Biblio17_204_s005-419End.indd 178 11.06.13 10: 10 <?page no="179"?> 179 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue und dadurch gänzlich ins Spielerische wendet. Wenngleich zu konzedieren bleibt, dass sich in diesen Prosastücken bereits die Vorliebe der Zeitgenossen für die gegenseitige psychologische Charakterisierung andeutet, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Mode der portraits littéraires niederschlägt, 22 ist doch die selbstironische Geste derjenigen, die an diesem Spiel mit den Metamorphosen beteiligt waren, kaum zu übersehen. 23 Eine dritte für diesen esprit ludique exemplarische Binnentextstrecke ist unter dem Titel Gazettes de plusieurs endroits zu finden. 24 Die Verfremdung von Raum und Zeit, die in den vorausgehenden Beispielen vor allem durch das Zitat literarischer Gattungen erfolgt, übernehmen hier die Titel der Einzeltexte. In der Gazette „De l’Île d’Apolidon, le 14 du mois des Fées“ wird außerdem von der Rückverwandlung des „sage Icas“ (alias Arnauld de Corbeville) berichtet, und in der Gazette „De l’Île d’Ofir, le 24 du mois de Salomon“ erhält die Löwin Angélique per Ratsbeschluss ihre menschliche Gestalt zurück. Auf der ‚Amazoneninsel‘ wird indessen eine neue Königin gewählt, die - wie der anonyme gazettier versichert - an Schönheit nur mit der Tochter der ‚Artenice‘ (alias Marquise de Rambouillet) zu vergleichen sei. Weitere Pseudonyme aus dem Umkreis der Chambre bleue - darunter abermals die galanten Namen der zentralen weiblichen Figuren dieser Gruppe (Artenice, Julie und Angélique) - werden in ein Hochzeitsfest eingebaut, das im ‚Monat des Einklangs‘ stattfindet und dem gazettier Gelegenheit bietet, die Schönheit der Damen zu rühmen: „Artenice, Julie, Axidiane, Clérimonde, Angélique & Céliane donnerent de la jalousie aux Déesses, & si cela se peut dire sans impiété, elles les effacerent extrèmement.“ 25 Die Bezeichnung dieser texten als ‚la lyonne‘ bezeichnet wird. Tallemant führt dies auf ihr üppiges blondes Haar zurück, das die Assoziation mit einer Löwenmähne hervorrufe (vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 476; der Autor erwähnt hier auch ihre pruderie). 22 Vgl. Jacqueline Plantié, La mode du portrait littéraire en France dans la société mondaine (1641-1681). Paris, H. Champion 1994; Baader, Dames de lettres, S. 81-91 sowie S. 132-182. 23 Auch wenn Sophie Rollin in der Sache nicht widersprochen werden kann, dass der Reiz dieses Spiels darin besteht, eine den Mitspielern bekannte Person in einen unbelebten Gegenstand zu verwandeln, der ihre Eigenschaften symbolisch zum Ausdruck bringt (vgl. Rollin, Le style de Vincent Voiture, S. 91), sollte man m.E. die symbolische Bedeutung dieser kleinen Charakterstudien, die im Vergleich mit der feinen Nuancierung der späteren portraits littéraires holzschnittartig verfahren, nicht überbewerten. 24 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 4115, fol. 633-646. Die Titel lauten: „De Cartage, le troisième du moi de Junon“, „De l’île d’Apolidon, le 14 du mois des Fées“, „De l’île des Amazones, le 12 du mois de Minerve“, „De l’île d’Ofir, le 24 du mois de Salomon“, „De l’île de Delfes, ce 24 du mois de l’unisson“. 25 Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 4115, fol. 645. Biblio17_204_s005-419End.indd 179 11.06.13 10: 10 <?page no="180"?> 180 La Guirlande de Julie kurzen Erzählungen als gazettes weist zudem bereits auf die allegorischen und metaphorischen Landkarten voraus, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuen werden, nicht zuletzt auch im Kreis der Madeleine de Scudéry. 26 Auch wenn eine Datierung dieser Texte nur aproximativ möglich ist - sie sind aufgrund der intertextuellen Bezugnahme eindeutig nach den Metamorphosen entstanden, die wahrscheinlich aus den frühen dreißiger Jahren stammen 27 -, bleibt festzuhalten, dass es sich um die frühesten Beispiele einer Spielart von Gelegenheitsdichtung handelt, die aufgrund ihrer Beliebtheit in den späteren recueils galants fast als literarische Kleinstgattung bezeichnet werden kann. Was verbindet nun diese Textstrecken aus dem zehnten Band des Recueil Conrart in-4°, und welche Aussagen über den sozialen Raum des Hôtel de Rambouillet können auf ihrer Grundlage gemacht werden? Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass sie sich auf eine konkrete Umgebung beziehen lassen, die den Verfassern sowie den (primär) anvisierten Lesern vertraut ist. Fiktionalitätssignale werden zwar explizit und permanent ausgesendet - von der (ironischen) Bezugnahme auf eine im literarischen Kanon der Zeit etablierte Gattung über die altertümliche Sprache bis hin zu intertextuellen Verweisen -, aber die Referenzialität der Texte wird nicht suspendiert, sondern sowohl in den galanten Pseudonymen als auch in der anagrammatischen Verrätselung der Namen ständig präsent gehalten. Sie lässt auf eine gruppenbildende bzw. -konsolidierende Funktion schließen, die die ihr verpflichteten pièces de circonstance als Spiel ausweist, in dessen Verlauf Produktion und Rezeption eng aufeinander bezogen bleiben. Diese Wirklichkeit zweiten Grades konstituiert den sozialen Raum, den die Zeitgenossen als Chambre bleue bezeichnen und der keineswegs mit der aufwendigen (innen)architektonischen Gestaltung des Hôtel de Rambouillet gleichzusetzen ist, auch wenn einige Texte - wie in den genannten Beispielen die Mijoréade - darauf anspielen. Ihre fiktionale Struktur weist einen Großteil der Gelegenheitsdichtung im Recueil Conrart in-4° daher nicht nur als ein ästhetisches Produkt der 26 Tatsächlich weisen die Texte eine große Ähnlichkeit mit den Texten der Gazette de Tendre auf, die einige Jahre später im Kreis der Madeleine de Scudéry entsteht, und auf die in Teil IV dieser Arbeit noch einzugehen sein wird (vgl. auch Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de Gloire, S. 186). 27 Das Stück mit dem Titel „La Métamorphose de la chauve-souris. Extraite d’un autheur ancien, dédiée au Baron de Salles“ ist dem späteren Marquis de Montausier gewidmet, der 1632 beginnt, das Hôtel de Rambouillet zu frequentieren. Seine Bezeichnung als ‚Baron de Salles‘ weist darauf hin, dass diese Geschichte maximal drei Jahre später entstanden sein kann, denn 1635, nach dem Tod seines Bruders Hector de Sainte-Maure, Marquis de Montausier, fällt dieser Titel an ihn, den jüngeren der beiden Brüder, der sich bis dahin Baron de Salles nennt). Biblio17_204_s005-419End.indd 180 11.06.13 10: 10 <?page no="181"?> 181 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue galanterie schlechthin aus, sondern erlaubt es zudem, die galante Praxis einer konkreten Gruppe nachzuvollziehen. Diesen Nachvollzug ermöglichen auch einige Briefe, die der Marquis de Montausier an Personen aus dem Umkreis der Marquise de Rambouillet schreibt, wenngleich die Fiktionalisierung, die auch diesen Texten zu Grunde liegt, nicht so leicht zu erkennen ist wie im Falle der Märchen, Metamorphosen oder Gazetten. Da sich diese Briefsammlung außerdem auch als eine Art ‚Vorspiel‘ zur Guirlande de Julie betrachten lässt, wird ihr nun im Vergleich mit den vorausgegangen Beispielen relativ viel Aufmerksamkeit und Raum zu widmen sein. Auch die im Folgenden erstmals zitierten, zum Teil recht umfänglichen Originalpassagen, die den Lektürefluss beeinträchtigen könnten, wird die Leserschaft gebeten, vor diesem Hintergrund in Kauf zu nehmen. 1.2 Der Recueil Montausier Der sogenannte Recueil Montausier wurde zwar nicht zusammen mit den umfangreichen Sammlungen überliefert, die heute unter der Bezeichnung Recueils Conrart in der Bibliothèque de l’Arsenal zu finden sind. 28 Dass er jedoch ursprünglich auch für das persönliche ‚galante Archiv‘ von Valentin Conrart zusammengestellt worden war, geht aus einer Notiz hervor, die dem Konvolut von Briefen und Versen beigefügt ist. Voicy quelques lettres que je n’ay point recueillies par chois mais dont par hasard mon secretaire ayant le loysir avant qu’on les fist partir j’ay fait prendre copie, et je n’en ay point d’autre que celle cy, que je garde pour voir si en y travaillant on en pourroit faire quelque chose. C’est pour quoy je supplie tres humblement Monsieur Conrard de les garder avec mes vers. 29 Dieses Begleitschreiben informiert den Leser dieser Sammlung darüber, dass es sich um einmalige Aufzeichnungen jener Stücke Montausiers handelt, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Besitz Conrarts sind, letzterem jedoch zugespielt werden sollen. Von welchem Zeitpunkt hier die Rede ist, lässt sich weder aus diesem Schreiben noch aus den Versen selbst able- 28 Er befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France (NAF 10628). Es handelt sich um insgesamt 176 lose Blätter verschiedener Materialität und Größe, die in zwei Einheiten unterteilt werden: Auf den Folii 3-64 versammeln sich Verse, die von der Hand Montausiers stammen, und die Folii 67-176 enthalten Briefe des Autors. 29 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 66. Die Verse, von denen hier die Rede ist, unterteilen sich in 31 französische Gedichte - darunter 28 Sonette, 2 Madrigale sowie 1 Chanson - und 146 lateinische Epigramme. Biblio17_204_s005-419End.indd 181 11.06.13 10: 10 <?page no="182"?> 182 La Guirlande de Julie sen. 30 Nicht unwahrscheinlich ist jedoch, dass der Autor hier tatsächlich jene Papiere vereint, auf denen er die Gedichte für den eigenen Gebrauch niedergeschrieben hat, da an vielen Stellen Streichungen und Varianten von der Textgenese zeugen. Die französischen Verse sind überwiegend fiktiven oder zumindest nicht weiter identifizierten Frauenfiguren gewidmet, nur zwei Sonette verweisen explizit auf das Hôtel de Rambouillet. Überraschenderweise sind jedoch auch sieben lateinische Epigramme der Marquise bzw. ihrem Gatten oder ihrer Tochter gewidmet. Dies ist insofern bemerkenswert, als man spontan geneigt wäre, die lateinische Sprache eher dem gelehrten Milieu zuzuordnen. Doch zeigen diese Beispiele, dass die galante Gelegenheitsdichtung die Sprache der Gelehrsamkeit nicht per se ausgrenzt. Vielmehr lässt gerade der Kontrast zwischen Form und Inhalt eine spielerische Absicht erkennen, die für das anvisierte Publikum den besonderen Reiz dieser Epigramme ausgemacht haben wird. Insgesamt bleibt somit festzuhalten, dass es sich bei dem ersten Teil des Recueil Montausier, der die Gelegenheitsdichtung des Autors umfasst, überwiegend um Texte handelt, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Hôtel de Rambouillet rezipiert wurden. Der im Zusammenhang mit der Guirlande de Julie interessantere Teil dieses Dossiers beinhaltet jedoch die Briefe Montausiers, in denen sich im Hinblick auf die an ihre Analyse anschließende Untersuchung der Madrigalsammlung signifikante stilistische Merkmale und narrative Muster abzeichnen. 1.2.1 Die galanten Briefe des Recueil Montausier Aus dem zitierten Begleitschreiben geht hervor, dass der Auswahl der Briefe, die Conrart anvertraut werden sollen, keine Publikationsstrategie zu Grunde liegt, sondern ein zufälliges Prinzip: Immer, wenn er etwas Zeit erübrigen konnte, habe der Sekretär Montausiers vor dem Versenden der Briefe eine Kopie derselben angefertigt („mais dont par hasard mon secretaire ayant le loysir avant qu’on les fist partir j’ay fait prendre copie“). Natürlich muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass es sich bei dieser Aussage um 30 Möglicherweise handelt es sich um die frühen fünfziger Jahre, da aus den die Briefe begleitenden Zeilen hervorgeht, dass diese gemeinsam mit den Gedichten übergeben werden sollten. Der jüngste Brief aus der Sammlung datiert vom 14. Juni 1648, und Montausier hatte nach einer schweren Verletzung im Jahre 1652 die Muße, sich mit seinen Schriften zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund nimmt Denis Lopez an, dass die Epigramme in dieser Zeit entstanden sind, und dies könnte den Autor zugleich veranlasst haben, den Recueil Montausier insgesamt zusammenzustellen (vgl. Denis Lopez, La plume et l’épée. Montausier 1610-1690. Paris, Seattle, Tübingen, Papers on French seventeenth century literature 1987, S. 71). Mit Sicherheit lässt sich allerdings weder der Moment der Entstehung dieser Verse noch ihrer Gruppierung bestimmen. Biblio17_204_s005-419End.indd 182 11.06.13 10: 10 <?page no="183"?> 183 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue einen Bescheidenheitsgestus bzw. um eine Strategie handelt, den militärischaristokratischen Habitus des Autors zu wahren. Es ist durchaus denkbar, dass Montausier über weitaus mehr Abschriften seiner eigenen Briefe verfügte. Zugleich wird jedoch auch deutlich, dass er die Möglichkeit einer Publikation dieser Briefe in Betracht zieht („et je n’en ay point d’autre que celle cy, que je garde pour voir si en y travaillant on en pourroit faire quelque chose“), und dass folglich keiner unter ihnen ist, der einer wie eingeschränkt auch immer zu begreifenden ‚Öffentlichkeit‘ vorenthalten werden soll. Wie aus dem Zitat hervorgeht, sind die meisten Texte außerdem von der Hand eines professionellen Schreibers ausgeführt worden. In einigen Fällen hat Montausier den Adressaten sowie Ort und Datum ergänzt, nur neun der insgesamt neunzig Briefe stammen vollständig aus seiner eigenen Feder. Der letzte Brief wurde am 14. Juni 1648 an Conrart geschrieben, was die Vermutung nahelegt, dass das Dossier in den frühen fünfziger Jahren zusammengestellt wurde. Die meisten der datierten Briefe stammen jedoch aus dem Zeitraum zwischen 1639 und 1641. Sie decken mithin die ‚Elsaß-Periode‘ des Autors ab, der sich zum Zeitpunkt der Entstehung der Briefe entweder gerade in Colmar oder in Schlettstadt befindet. 31 Die räumliche Entfernung, die es zu überbrücken gilt, bleibt nicht ohne Einfluss auf den Inhalt und die sprachliche Verfasstheit der Texte: In erster Linie geht es Montausier darum, den Kontakt zur Pariser Gesellschaft aufrecht zu erhalten und sich bei ihr in regelmäßigen Abständen in Erinnerung zu rufen. Der Informationsgehalt dieser Briefe ist daher auch gering. Sie sollen den Autor an der mondänen Konversation teilhaben lassen, die ihm in seinem militärischen ‚Exil‘, das er selbst so bezeichnet und beklagt, vorbehalten bleibt. Das Wissen darum, dass die Korrespondenz den geistreichen Schlagabtausch ad personam und das Vergnügen des täglichen Gesprächs nicht ersetzen kann, wird in diesen Briefen immer wieder thematisiert und kann als das Leitmotiv betrachtet werden, das im galanten Stil variiert wird. So schreibt er beispielsweise am 20. August 1641, als er sich nach einem Parisaufenthalt wieder in Schlettstadt befindet, an die Marquise de Sablé: Il faut que j’aye laissé tout mon Esprit a Paris Car je vous proteste que je n’en ay point eu par les chemins & que je n’en ay point rencontré ici. Renvoyéz m’en Madame de celuy que vous avéz de reste autant pour l’amour de vous que pour l’amour de moy puis que si vous ne le faictes vous recevréz les plus estranges lettres du monde. 32 31 Zur militärischen Laufbahn Montausiers siehe Lopez, La plume et l’épée, S. 200-430. 32 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 159. Die Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurde unverändert übernommen. Insbesondere die Groß- und Kleinschreibung hat mitunter eine etwas seltsame Wirkung auf den modernen Leser. Biblio17_204_s005-419End.indd 183 11.06.13 10: 10 <?page no="184"?> 184 La Guirlande de Julie Der Topos von dem abhanden gekommenen esprit einer Person, die Paris verlässt, beruht auf der Überzeugung, der französische art de la conversation ließe sich nur durch stetige Ausübung erlernen bzw. perfektionieren. Montausier greift diesen Gedanken auf und verbindet ihn mit einem galanten Kompliment sowie mit einer spaßhaften Drohung: Da die Marquise über weitaus mehr esprit verfüge, als sie benötige, solle sie ihm den überschüssigen Teil zusenden, da sie ansonsten Gefahr laufe, in Zukunft nur noch ‚befremdliche‘ Briefe von ihm zu erhalten. Doch selbst die geistvollsten Briefe vermögen weniger als die Konversation, da die Korrespondenz notwendigerweise Intervalle des ‚Schweigens‘ erzeugt, die immer größer sein werden als jede Gesprächspause. So versichert Montausier in einem Brief vom 4. April 1640 der Marquise zum Dank für ihre Briefe, dass ihn das Vergnügen, diese zu lesen, über das Mißvergnügen, sich nicht mit ihr unterhalten zu können, hinwegtrösten würde, wenn es nicht mit Wartezeiten verbunden wäre, die in Paris nicht zu befürchten seien: Vos lettres sont des tresors inestimables pour tous ceux qui scavent cognoistre la valeur des choses Cependant vous lés répandéz a pleines mains pouvant les dispensér avec retenue Et a la magnificence vous ajoustéz encore la profusion. J’en ay receu deux tout a la fois qui m’ont fait oubliér tous més maux & m’ont donné de la joye dans un lieu ou si je ne pleure pas incessamment C’est que la tristesse me serre trop le cœur. Je vous pourrois mesme dire avec verité qu’elles m’eussent esté plus agreables que mon congé Si je ne me fusse representé en mesme temps que par luy j’eusse jouy tous lés jours de vostre conversation Et que je ne peus recevoir que rarement de vos lettres. 33 Sinn und Zweck solcher Mitteilungen ist die galante Geste, die noch in dieser Klage enthalten ist, die sich auf die Formel bringen ließe: „Ich bin unglücklich, weil ich nicht in Ihrer Nähe sein kann, Madame, denn diese Nähe ist der Inbegriff einer vollendeten Konversation“. Auch Conrart gegenüber variiert Montausier diesen Gestus, wenn er ihm in der Schlussformel eines Briefes vom 3. Dezember 1639 signalisiert, dass er ihn um die Möglichkeit, sich mit der Marquise zu unterhalten, beneide: […] Je vous parlerois eternellement d’elle, Et vous envoyerois un livre au lieu d’une lettre. Mais il vaut mieux que je Cesse de vous en entretenir, pour vous la laissér aller voir, alléz donc jouir d’un bien dont je vous confesse sincérement que je ne me puis empeschér de vous portér envie, encores que je vous ayme de tout mon Cœur & que je sois avec passion/ Monsieur/ Vostre Tres humble & trés affectueux serviteur […] 34 33 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 157. 34 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 89v. Biblio17_204_s005-419End.indd 184 11.06.13 10: 10 <?page no="185"?> 185 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue Dieser Brief ist in dem Wissen geschrieben, dass ihn der eigentliche Adressat, Valentin Conrart, an die Marquise weiterreichen wird. Er veranschaulicht eine Eigenart der galanten Korrespondez: Der Schreibende richtet seine Worte häufig an mehrere Personen zugleich, auch wenn er nur eine Person direkt anspricht. So adressiert Montausier im Februar 1640 einen Brief an Mademoiselle Paulet, der indirekt auch an ihren Freundeskreis gerichtet ist: Car je croy certainement que je mourray s’il faut que je sois jusques a l’hivér qui vient sans vous voir. Je ne peus pas me passér si long-temps de vous & de l’aymable Compagnie qui ne vous quitte jamais. Ce n’est pas que je n’aye beaucoup de sujet de me plaindre d’elle. Car celles qui la composent se sont ressenties trop aigrement des reproches que je leur ay faits, ne se sont point souvenues de moy depuis & ne m’ont pas daigné consoler d’un seul petit mot, dans mon dernier malheur qui m’éloigne pour un si long-temps du plus agreable lieu du monde pour me faire demeurer dans le plus desagreable. Le procedé devroit m’offensér car je suis asséz sensible, mais ne doubtant point que je ne meure de chagrin & de déplaisir je veux mettre ma conscience en bon estat. Je leur pardonne donc de bon cœur tout ce qu’elles auront commis contre moy soit colere soit legerté soit oubly soit mespris. Apres cela si on m’accuse de n’estre pas un vray mouton, on aura autant de tort que si on me reprochoit que je ne suis pas veritablement/ Mademoiselle/ Vostre 35 Nachdem er Mademoiselle Paulet zunächst persönlich ein obligatorisches Kompliment gemacht hat, das auch hier wieder mit der Klage über seine Abwesenheit von Paris verbunden ist, beschwert sich Montausier darüber, von ihren Freundinnen vernachlässigt zu werden. Der scherzhafte Tonfall dieser Anklage kann ebenso wie die indirekte Adressierung als Abfederungsstrategie begriffen werden, durch die die Besorgnis des Autors spielerisch zum Ausdruck gebracht wird, insbesondere bei den weiblichen Mitgliedern der Pariser Gesellschaft in Vergessenheit zu geraten. Die Grenzen sind fließend zwischen einer berechtigten Sorge und dem galanten Spiel, zu dem der Vorwurf der Treulosigkeit gehört: Montausier inszeniert sich hier buchstäblich als das Lamm, das auf dem Altar der französischen Kriegsinteressen geopfert wird, während man in Paris den gesellschaftlichen Vergnügungen nachgeht. In der Übertreibung sowie in seiner konzilianten Haltung gegenüber seinen Peinigerinnen wird erneut jene galante Geste sichtbar, die Sinn und Zweck dieser Briefe ist. Insgesamt setzt Montausier den Vorwurf der Treuelosigkeit allerdings eher selektiv ein: Es handelt sich dabei um einen Topos, auf den er vor allem in seinen Briefen an Mademoiselle de Clermont rekurriert. Sie gehört ebenso wie ihre Schwester, Mademoiselle de Mézières, und Mademoi- 35 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 110. Biblio17_204_s005-419End.indd 185 11.06.13 10: 10 <?page no="186"?> 186 La Guirlande de Julie selle de Rambouillet zu jener „compagnie qui ne vous quitte jamais“, die den kollektiven Empfänger seines Briefes an Mademoiselle Paulet darstellt. Auf diese Gruppe von jungen Frauen, die zu jener Zeit das weibliche Zentrum des Hôtel de Rambouillet bilden, gilt es im Folgenden näher einzugehen. 1.2.2 Die Briefe an Mademoiselle Paulet, Mesdemoiselles de Clermont und Mademoiselle de Rambouillet Die Briefe an diese Adressatinnen bilden schon unter rein quantitativen Gesichtspunkten eine Konstellation, die innerhalb des Recueil Montausier eine herausragende Stellung einnimmt. Ordnet man die einzelnen Empfänger nach der Anzahl der Briefe, die ihnen geschrieben wurden, so führt Mademoiselle de Rambouillet (23 Briefe) die Liste an, gefolgt von den Schwestern des Hauses Clermont (11 Briefe) und Mademoiselle Paulet (6 Briefe), die sich allerdings den dritten Platz mit der Marquise de Sablé (ebenfalls 6 Briefe) teilen muss. Dass es sich bei den vier jüngeren Frauen tatsächlich um eine besondere compagnie handelt, wie Montausier in dem zitierten Brief an Mademoiselle Paulet schreibt, lässt sich jedoch nicht allein in tabellarischer Form ausdrücken. Vielmehr zeigt sich die Bedeutung dieser Konstellation auch daran, dass sie noch an anderer Stelle der in den Archiven Conrarts aufbewahrten Gelegenheitsliteratur auftaucht, nämlich in einer Reihe von Versepisteln, die folglich in die Analyse der Briefe miteinbezogen werden muss. Ausgangspunkt dieser Reihe ist ein Gedicht Montausiers, das mit dem Titel „De Monsieur le Marquis de Montausier, Gouverneur de l’Alsace, A Mesdemoiselles de Rambouillet, de Clermont de Mézières et Paulet“ überschrieben ist und dem einige Antworten folgen, die - ebenfalls in Versform - im Namen der vier Frauen verfasst wurden. 36 Die Rollenverteilung, die aus diesen Versen hervorgeht, entspricht in etwa derjenigen, die sich auch in den Briefen nachzeichnen lässt: Montausier ‚flirtet‘ mit den Adressatinnen, hebt die Freude hervor, die ihm ihre Konversation bereitet, und beklagt die Zurückhaltung, mit der sich seiner Ansicht nach einige der Frauen an ihn wenden. […] en un Mot, Mademoiselle [Paulet, S.B.] vous honorant & vous aymant avec autant de respect & d’ardeur que jaye jamais faict je n’aprehende point d’injustice de vous, & je suis assuré que je n’auray jamais sujet de m’en plaindre. Je n’en dis pas autant de Mesdemoiselles de Clermon. […] Et je puis dire veritablement que Mademoiselle de Mésiere rime avec aussy peu de raison que je fis l’année passée. 37 36 Vgl. Tonolo, Divertissment et profondeur, S. 459-471. 37 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 109. Biblio17_204_s005-419End.indd 186 11.06.13 10: 10 <?page no="187"?> 187 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue Die Angriffslust Montausiers, insbesondere der jüngeren der beiden Schwestern, Mademoiselle de Mézières, gegenüber, mag auf den ersten Blick erstaunen. Sie kommt in einem Brief noch deutlicher zum Ausdruck, der an Mademoiselle de Mézières direkt adressiert ist. A Mademoiselle de Mésiére de Colmar le 13 octobre 1639/ Ma belle Sœur/ Lors que vous estes heureuse vous ne croyéz pas que personne ayt besoin de consolation Et vous vous assuréz si fort en l’amitié de ceux qui vous en ont promise que vous ne doubtéz point qu’ils n’ayent leur part de tous vos plaisirs & qu’ils ne passent extremement bien le temps lors que vous vous divertisséz. C’est a cette opinion plustost qu’a un deffaut de bonté ou de soin pour vos amis, que je veux imputtér le sujet que j’ay de me plaindre de vous. Depuis que je n’ay eu l’honneur de vous voir Je n’ay receu aucun tesmoignage de vostre souvenir qu’une ligne de compliment que vous diriéz a la personne du monde qui vous seroit la plus indifferente Et que vous escririéz a une que vous n’auriéz jamais veue. 38 Das Portrait, das Montausier hier von der jungen Frau anfertigt, oszilliert zwischen jugendlichem Leichtsinn und - bei weniger wohlwollender Betrachtung - Unreife sowie Frivolität. Doch scheint sich Mademoiselle de Mézières die Rolle derjenigen, die nur widerwillig zur Feder greift, um an einen Freund in der Ferne zu schreiben, selbst ausgesucht zu haben, was aus den folgenden Verse hervorgeht, die in den Recueils Conrart überliefert sind: Hier Maman me voulut battre D’estre toute seule de quatre Qui ne vous avoit point écrit, Disant que je n’ay point d’esprit, Et que je dois mourir de honte Qu’en cela ma Sœur me surmonte, Et vous face si galamment En peu de vers son compliment. 39 Das Bild, das Mademoiselle de Mézières hier von sich zeichnet, ist das eines noch ungelenken jungen Mädchens, das nur unter mütterlicher Aufsicht seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommt. Montausiers Angriff und die hier zum Ausdruck kommende Verteidigung scheinen mithin aufeinander abgestimmt zu sein und Spielregeln zu gehorchen, die ihren Ursprung vermutlich im Hôtel de Rambouillet selbst haben. Dort allerdings standen den Protagonisten dieses Spiels all jene atmosphärischen Ausdrucksmittel zur Verfügung, die zur Steuerung der Konversation und zur Vermeidung von Missverständnissen beitragen können: Stimme, Gestik, Mimik, die Anwesen- 38 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 106. 39 Zitiert nach Tonolo, Divertissment et profondeur, S. 470. Biblio17_204_s005-419End.indd 187 11.06.13 10: 10 <?page no="188"?> 188 La Guirlande de Julie heit von ‚Publikum‘ sowie die damit verbundene Möglichkeit der direkten Intervention durch Dritte. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Rollenverteilung zwischen dem jungen Mädchen und dem Offizier zum Zeitpunkt der Briefe bereits so verfestigt hatte, dass Missverständnisse, die über die zeitliche und räumliche Distanz leicht fatale Folgen haben können, weitgehend ausgeschlossen werden konnten. Diese Hypothese lässt sich auch im Hinblick auf die Rolle vertreten, die Montausier in seiner Korrespondenz der älteren Schwester, Mademoiselle de Clermont, zugedacht hat: In den insgesamt zehn Briefen, die er an sie schreibt bzw. die er seinem Dossier hinzufügt, redet er sie durchgängig mit „Ma belle & ma chère femme“ an. Es steht zu vermuten, dass es sich hier abermals um ein galantes Spiel handelt, das auf einem konversationellen ‚Pakt‘ zwischen den Protagonisten beruht: Montausier variiert hier das bereits aus anderen Briefen bekannte Motiv des Exils, indem er den vorwurfsvollen Ehemann mimt, der seine Gattin beschuldigt, sich in seiner Abwesenheit dem divertissement hinzugeben und darüber zu vergessen, ihm und seinem Leid die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen: A Mademoiselle de Clermon De Colmar le 13. e octobre 1639/ Ma belle & ma chere femme/ Si ce vous a esté une extréme mortiffication de m’escrire de Vigny, Je vous puis assurér que ce ne m’en a pas esté une moindre de lire vostre lettre a Colmar. Elle m’a appris vos plaisirs avéc déplaisir, Et que vous faisiéz la plus agréable vie du monde Cependant que j’en fais une la plus fascheuze qui se puisse imaginér. Ce n’est pas que vostre joye ne me touche & que vostre divertissement ne me soit chér. Mais je ne puis me consolér de voir que vous en soyez capable jusques au point que vous me le tesmoignéz, dans un temps ou je suis par vostre absence non seulement privé de tout ce contentement Mais encore accablé d’ennuy de chagrin & de tristesse. Je ne suis pas asséz injuste pour ne pouvoir souffrir que vous vous divertissiéz lorsque je m’ennuye & que vous vous rejouissiéz lors que je suis triste. Mais je souhaiterois bien que mon affliction & ma peine donnassent au moins quelque moderation a vos transpors & a vos ravissemens, en un mot je vous trouve un peu trop gaye pour une femme qui a son mary absent. Je vous le pardonne pourtant pourvu qu’a mon retour je vous trouve encore en cet heureux estat que vous me montriéz un visage aussy riant & aussy sattisfaict que vous l’avéz a cette heure […]. 40 Anlass seines vorgeblichen Missvergnügens ist die Leichtherzigkeit, mit der Mademoiselle de Clermont in ihren Briefen über die Begebenheiten berichtet, die sich während seiner Abwesenheit zugetragen haben. Tatsächlich ist es jedoch genau dieser Bericht, den der Abwesende von der jungen Frau erwartet, geht es doch in diesen Briefen ausschließlich darum, ihn in die soziale 40 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 80. Biblio17_204_s005-419End.indd 188 11.06.13 10: 10 <?page no="189"?> 189 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue Praxis der anderen Gruppenmitglieder zu integrieren, ihn zu informieren und ihm so zu signalisieren, dass er immer noch ein Teil der Gruppe ist. Der Vorwurf, den Montausier in seinem Brief formuliert, kann also auf keinen Fall ernst gemeint sein, was nicht zuletzt die abrupte Wende zu einer konzilianten Haltung am Ende der zitierten Passage zeigt. Vielmehr handelt es sich hier um eine gewundene, etwas ‚verdrehte‘ Art, den Regeln der Konversation zu entsprechen: Da es dem Offizier in seiner Eigenschaft als honnête homme verboten ist, sein Expertenwissen zur Schau zu stellen, kann Montausier den Bericht aus der mondänen Welt nicht mit einem Bericht über seinen militärischen Alltag beantworten. Das Rollenspiel, das er in seinem Brief inszeniert, erlaubt es ihm jedoch, auf die Konversation der Dame einzugehen, ohne über sich selbst und seine alltäglichen Erfahrungen im Krieg sprechen zu müssen. Liest man nun vor diesem Hintergrund die Briefe, die Montausier an Mademoiselle de Rambouillet geschrieben und seinem Dossier hinzugefügt hat, so fällt zunächst auf, dass sie sich inhaltlich wie stilistisch wenig von den anderen Texten unterscheiden. Seine Vorliebe für gewundene Konstruktionen findet sich gleich in dem ersten Brief wieder, den er ihr am 4. September 1639 aus Essonne schreibt, als er sich noch auf dem Weg zu seinem militärischen Bestimmungsort befindet. Er gibt vor, sich zu wünschen, der Gesundheitszustand einer gemeinsamen Bekannten in Paris wäre kritischer gewesen, als es offensichtlich der Fall war, da er dann Gelegenheit gehabt hätte, Mademoiselle de Rambouillet vor seiner Abreise noch einmal zu sehen, da sie an das Sterbebett der betroffenen Person geeilt wäre. 41 Den (hier freilich nur imaginierten) Tod eines Menschen zum Anlass für eine galante Geste zu nehmen, erzeugt eine starke Kontrastwirkung, die allerdings auch als Entgleisung gelesen werden kann. Mademoiselle de Rambouillet scheint dies zu einem späteren Zeitpunkt einmal so empfunden zu haben, nämlich als Montausier ihr sein Beileid anlässlich des Todes ihres Beichtvaters, des Kardinals de La Valette, in einer gewundenen Form ausspricht, die deutlich macht, dass der Autor weniger den Toten ehren als die Trauernde umwerben will: „[…] de sorte que je suis triste de vostre tristesse, et c’est vostre affliction qui m’afflige.“ 42 In dem darauf folgenden Brief sieht er sich gezwungen, auf die Verstimmung, die diese kühne Konstruktion offensichtlich bei Mademoiselle de Rambouillet ausgelöst hatte, zu reagieren: Mademoiselle/ Si vous croyéz que la mort de M. Le Cardinal de La Valette ne m’aye pas asséz touché & si pour vous vengér de ma dureté vous avéz eu dessein de m’affligér au dernier point vous y avéz reussy en me representant vostre deplaisir. 43 41 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 119-119v. 42 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 125. 43 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 127. Biblio17_204_s005-419End.indd 189 11.06.13 10: 10 <?page no="190"?> 190 La Guirlande de Julie Allerdings ändert dieser Misserfolg nichts an seiner Strategie, durch antithetische Stilfiguren und kontrastreiche Bilder einen maximalen Überraschungseffekt bei seinen Lesern zu erzielen. So schließt ein weiterer Brief an Mademoiselle de Rambouillet mit den Worten: „Quand je vous haÿrois autant que je vous honore je n’aurois pas plus de peine que j’en ay a me resoudre de vous dire que je suis […]“ 44 , und die Schwestern des Hauses Clermont erhalten folgende Grußformel: „Et je vous declare franchement que si c’est vous offensér que vous tesmoignér qu’on vous ayme avec trop d’ardeur, Je vous offenseray toute ma vie et que quoy que vous puissiéz faire je vous donneray tousjours dés preuves que je suis avec passion …“ 45 . Die Briefe an Mademoiselle de Rambouillet - und darauf wird im Folgenden noch näher einzugehen sein - sind außerdem nicht ‚intimer‘ als die übrige galante Korrespondenz. Auch diese Briefe sind an eine kollektive Leserschaft gerichtet, die mitunter als nicht näher identifizierte Gruppe auftritt, wie beispielsweise in einem Brief vom 13. Oktober 1639, in dem Montausier abermals den Klagegestus mit einem Kompliment an die vor allem weibliche Gesellschaft verbindet: Je suis en un lieu ou je passeray aussy mal le temps que vous l’avéz bien passé à Vigny et ou j’ay a souffrir la conversation de personnes aussy desagreables, que vous & celles avec qui vous vivéz sont aymables. Cependant Mademoiselle je vous jure que j’y ay receu une dés plus sensibles joyes du monde en y recevant vostre lettre qui m’a appris que vous vous portéz bien, et que lés personnes que j’honore le plus parfaictement me font l’honneur de se resouvenir de moy. 46 In dieser Passage finden sich auch andere bekannte Topoi wieder: Die Dichotomie zwischen dem ‚guten‘ und dem ‚bösen‘ Ort, zwischen der mondänen Gesellschaft und dem militärischen Exil, die Sorge, in Vergessenheit zu geraten und die Freude darüber, noch als Mitglied der sozialen Gruppe gelten zu dürfen, die als kollektiver Adressat solcher Texte auftritt. Mitunter richten sich seine Mitteilungen auch an konkrete Mitglieder des Hauses Rambouillet, wie in einem Brief vom 3. Dezember 1639, in dem Montausier seiner Erleichterung über die Genesung der jüngsten Tochter des Hauses Ausdruck verleiht, die an den Pocken erkrankt war. 47 Montausier beschreibt hier den zarten, 44 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 135. 45 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 79. 46 BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 123. 47 „Mademoiselle/ Il faut avouér que vostre bonté n’a point de pareille puis que vous avéz eu le soin de me faire mandér la guerison de Mademoiselle […]. Elle a suivy sa coustume qui est de vaincre tousjours & de n’estre jamais vaincue. Son visage aussy bien que son cœur est a l’épreuve de toutes choses, et en cela son teint a trompé tout le monde Car estant delicat comme il est, il n’y avoit pas apparence qu’il deust Biblio17_204_s005-419End.indd 190 11.06.13 10: 10 <?page no="191"?> 191 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue aber widerstandsfähigen Teint der Genesenden, der so aussieht, als hielte er keinem Luftzug stand, während er doch erfolgreich allen Krankheiten trotzt, die dafür bekannt sind, hässliche Narben zu hinterlassen. Die Schönheit des Gesichts spiegelt zudem die Charaktereigenschaften einer ebenso mutigen wie tugendhaften jungen Dame wider. Ist diese Passage auf den ersten Blick dazu bestimmt, der Genesenden Freude zu bereiten, so liest sie sich doch auch wie ein Kompliment an alle weiblichen Mitglieder der Familie Rambouillet. Denn nicht nur ihre Mutter, die abschließend ausdrücklich gegrüßt wird, sondern auch ihre Schwestern dürfen stolz auf diese Schönheit und Widerstandskraft sein, stattet die Natur doch meistens nicht nur ein einziges Mitglied einer Familie mit ihren Gaben aus. 1.2.3 Die Briefe an Mademoiselle de Rambouillet im Verhältnis zur Guirlande de Julie Zunächst bleibt festzuhalten, dass sich die galanten Briefe Montausiers - eben weil sie als galante Geste verstanden werden müssen - durchaus auch, wenngleich in einem anderen Maße als dies für die märchenhafte Gelegenheitsdichtung der Recueils Conrart gilt, durch spielerische Fiktionalität auszeichnen. Weder beschwert sich der Marquis ‚in Wirklichkeit‘ über die Treuelosigkeit der von ihm als „ma belle & ma chère femme“ apostrophierten Mademoiselle de Clermont, noch wünscht er sich tatsächlich den Tod einer gemeinsamen Bekannten, nur um an ihrem Sterbebett der von ihm verehrten Julie d’Angennes, Mademoiselle de Rambouillet, zu begegnen. Im Wissen um seine spätere Eheschließung mit dieser Frau ließe sich nun jedoch argumentieren, dass sich in den an sie gerichteten Briefen bereits etwas von jener Liebe niederschlägt, die ihn später nicht zuletzt dazu motivieren wird, unter großem Aufwand und persönlichem Einsatz die Handschrift La Guirlande de Julie anfertigen zu lassen. In der Vergangenheit ist letztere zumindest immer wieder als ein solcher Liebesbeweis interpretiert worden, und auch die Briefe wurden von Émile Magne, dem das Verdienst zukommt, sie im Anhang seiner Studien über das Hôtel de Rambouillet einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben, als Liebesbriefe gelesen. 48 Diese romantische Lesart sowohl der Briefe als auch der Guirlande de Julie ist ohne Zweifel höchst problematisch und bedarf an und für sich keiner ausführlichen Widerlegung mehr. Die Herausforderung besteht allerdings darin, dieser Lesart dezidiert resistér non pas seulement au plus puissant ennemy des belles personnes mais mesme aux moindres injures de l’air, et que ce qu’offensoit le hasle ne receust point de dommage d’un eresipére, de la rougeole & de la petite verolle tout ensemble.“ (BNF, Paris, Ms NAF 10628 fol. 128-128v.). 48 Vgl. Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de Gloire, S. 371-421. Biblio17_204_s005-419End.indd 191 11.06.13 10: 10 <?page no="192"?> 192 La Guirlande de Julie entgegenzutreten, ohne dabei den emotionalen Gehalt dieser Texte rundweg in Abrede zu stellen. Die galanten Spannungen, die in allen Briefen - diejenigen an die männlichen Adressaten nicht ausgenommen - aufgebaut werden, verweisen auf Emotionen, von denen sich nicht einfach behaupten lässt, sie beruhten auf reiner Simulation. Diese homogene emotionale Sprache darf nur nicht mit jener Sprache der verinnerlichten, empfindsamen Liebe verwechselt werden, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Suche nach der exklusiven Verbindung zweier Menschen generiert. 49 Ob Montausier Julie d’Angennes in diesem romantischen Sinne geliebt hat, lässt sich anhand dieser Briefen sicherlich nicht sagen. Sein stetiges Bemühen, den richtigen Ton auch um den Preis von - gedanklich wie syntaktisch - komplizierten Konstruktionen zu treffen, lässt jedoch darauf schließen, dass es ihm ein tiefes Bedürfnis war, die Verbindung zur Gesellschaft der Marquise de Rambouillet während seiner kriegsbedingten Abwesenheit aufrecht zu erhalten. 50 Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Montausier selbst an der Gestaltung eines Imaginariums mitgewirkt hat, in dessen Mittelpunkt seine zukünftige Ehefrau steht, und sei es auch nur dadurch, dass die Briefe an Mademoiselle de Rambouillet unter quantitativen Gesichtspunkten - insgesamt dreiundzwanzig Briefe zwischen 1639 und 1644 - den größten Raum innerhalb des Recueil Montausier einnehmen. 51 Warum diese ungewöhnliche Dichte, zumal des ersten Jahres, in dem er ihr mindestens einmal pro Monat schreibt, und warum die insgesamt so hohe Anzahl von Briefen? Sie lässt sich mit dem Zufallsprinzip, das Montausier in seinem Begleitschreiben anführt und das den Momenten der Muße seines Sekretärs geschuldet sein soll, nicht zufriedenstellend beantworten. Wahrscheinlicher ist, dass der Autor eine bewußte Auswahl getroffen hat, und zwar spätestens zum Zeitpunkt der Übergabe der Briefe an Conrart, die nach 1644 erfolgt, d.h. mindestens drei Jahre nach Fertigstellung der Guirlande de Julie. Damals - dies geht aus dem Begleitschreiben der Zusammenstellung hervor - spielt Montausier mit dem Gedanken, diese Abschriften zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Die Briefe 49 Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M., Suhrkamp 1994 [erstmals 1982], S. 123-136 und 163-182. 50 Der Umkehrschluss liegt zumindest deutlich weniger nahe: Warum sollte Montausier dieses Bedürfnis durch seine leidenschaftlichen Bemühungen um die formvollendete galante Geste nur vortäuschen? Diese Überlegungen, die letztlich auf die Frage nach dem frühneuzeitlichen Zusammenspiel von Emotionalität und Rhetorik hinauslaufen, lassen sich an dieser Stelle nur andeuten, werden jedoch im vierten und letzten Teil dieser Arbeit zu vertiefen sein. 51 Von September 1639 bis August 1640 ist mindestens ein Brief pro Monat überliefert; das Jahr 1641 umfasst fünf Briefe, 1643 einen Brief, 1644, das Jahr seiner Gefangenschaft, zwei Briefe. Biblio17_204_s005-419End.indd 192 11.06.13 10: 10 <?page no="193"?> 193 Vom Hôtel de Rambouillet zum Imaginarium der Chambre bleue an ‚Julie‘ in das Zentrum dieses hypothetischen recueil galant zu stellen, läge zu diesem Zeitpunkt insofern nahe, als ihre Person bereits im Mittelpunkt der Guirlande steht. Der Recueil Montausier lässt sich daher als ein Ort begreifen, an dem ein unmittelbarer und ein figurativer Gebrauch der Texte aufeinander treffen: Ihre Entstehung verdanken die Briefe der Entfernung ihres Autors von Paris bzw. seinem Willen, den Kontakt zur Pariser Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Ihre spezifische Zusammenstellung beruht hingegen auf einem Willen zur Form, der nicht unabhängig von der Entstehungsgeschichte der Handschrift La Guirlande de Julie, die aus den handelnden Personen fiktionale Figuren macht, 52 gedacht werden kann. So ließe sich letztlich die Perspektive einer romantischen Lesart der Briefe geradezu umkehren: Sie zeugen nicht von der Liebe zwischen dem Offizier und der ‚Tochter aus gutem Hause‘, die in der Guirlande gipfelt und schließlich in eine Ehe mündet. Vielmehr knüpft Montausier mit der Auswahl seiner Briefe und dem Projekt einer möglichen Veröffentlichung an die Guirlande de Julie an. Beide galanten Sammlungen lassen sich nicht auf die leidenschaftlichen Gefühle zwischen Mann und Frau reduzieren, sondern repräsentieren im Gegenteil eine multilaterale Beziehung. Sie tragen - auf sehr unterschiedliche Weise - zu jener figurativen Überhöhung bei, durch die sich das Hôtel de Rambouillet in die Chambre bleue verwandelt. Doch während ein sorgfältig gestaltetes Album mit Briefen aus dem militärischen Exil des Marquis de Montausier wahrscheinlich niemals existiert hat oder zumindest nur in der Form einer vorbereitenden Zusammenstellung überliefert ist, setzt die Prachthandschrift La Guirlande de Julie dem Hôtel de Rambouillet ein die Zeiten überdauerndes Denkmal. Letzteres lässt allerdings leicht vergessen, dass auch diesem Album die ephemeren Spuren einer sozialen Praxis einbeschrieben sind: Aus verschiedenen Quellen - von denen im Anschluss die Rede sein wird - geht nämlich hervor, dass Montausier bereits in den dreißiger Jahren damit beginnt, Madrigale für einen symbolischen Blumenkranz zu sammeln. Er initiiert ein galantes Spiel, bevor an die Handschrift gleichen Namens überhaupt zu denken ist. Das nächste Kapitel ist darum zunächst diesem Spiel und damit der Genese der 1641 fertig gestellten Guirlande de Julie gewidmet. 52 Dennoch bleiben signifikante Unterschiede zwischen den Sammelformen bestehen: Während Mademoiselle de Rambouillet in der Handschrift zur Figur ‚Julie‘ stilisiert wird, ist eine Anrede mit ihrem Vornamen in den Briefen unvorstellbar. Biblio17_204_s005-419End.indd 193 11.06.13 10: 10 <?page no="194"?> 194 La Guirlande de Julie 2 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Die Datierung der Guirlande de Julie ist in der Forschung immer wieder kontrovers diskutiert worden, was nicht zuletzt der komplexen Quellenlage geschuldet ist: Während auf der Prachthandschrift die Jahreszahl 1641 eingraviert ist, weisen Aussagen von Zeitgenossen darauf hin, dass die Gedichte bereits in den Jahren zwischen 1633 und 1635 entstanden sind. 53 Antoine Adam geht mit Pierre-Daniel Huet davon aus, dass eine Handschrift mit dem Titel La Guirlande Julie bereits zu dem früheren Zeitpunkt angefertigt wurde, während es sich bei dem Exemplar von 1641 quasi um ihre ‚Neuauflage‘ handele. 54 Gegen diese Annahme spricht Denis Lopez zufolge die vage, nicht auf persönlicher Erinnerung basierende Aussage Huets und somit die Unzuverlässigkeit der einzigen Quelle, in der ausdrücklich behauptet wird, die Handschrift stamme aus dem Jahre 1634. Denn als der Autor der Huetiana beschreibt, wie er im Hause der Duchesse d’Uzès in die prachtvolle Sammlung hatte Einsicht nehmen dürfen, liegen die Ereignisse bereits ein halbes Jahrhundert zurück. Huet selbst gibt zu, sie aus den Versen zu rekonstruieren: Voilà le présent que Julie trouva à son réveil sur sa toilette le premier jour de l’année 1633, ou 1634; car ce fut peu de temps après la mort de Gustave Roi de Suede. Je remarque cette époque, parce qu’elle s’y trouve marquée dans la Couronne Impériale, qui est une des fleurs de cette Guirlande. 55 Außerdem gibt Lopez zu bedenken, dass es eine wenig galante Geste des Marquis de Montausier gewesen wäre, dasselbe Geschenk zweimal zu machen. 56 53 Eine der wichtigsten Quellen sind zwei Briefe von Jean Chapelain vom September 1633, in denen er zunächst dem Comte de Fiesque und dann Montausier selbst mitteilt, dass er das Madrigal, das er zu der geplanten Girlande für Mademoiselle de Rambouillet beisteuern will, fertig gestellt hat (Lettres de Jean Chapelain. Hg. von Ph. Tamizey de Larroque. Bd. I, Paris, Imprimerie Nationale 1880, S. 46). Ein weiterer Hinweis ist die Veröffentlichung der Werke Georges’ de Scudérys aus dem Jahre 1635, in denen die Gedichte aufgenommen wurden, die Scudéry für die Guirlande angefertigt hatte. 54 Vgl. Littérature française. L’Âge classique I. 1624-1660. Hg. von Antoine Adam. Paris, Arthaud 1968, S. 210; Antoine Adam, Histoire de la littérature française au XVII e siècle. Bd. I („L’Époque d’Henri IV et de Louis XIII.“), Paris, Editions mondiales 1962, S. 265-266; siehe auch seine Kommentare in Tallemant I, S. 1101-1102. 55 Huetiana ou pensées diverses de M. Huet, evesque d’Avranches. Paris, chez Jacques Estienne 1722, S. 105. Das Gedicht „La Couronne Impériale“, das Huet hier zitiert, stammt von Chapelain und spielt tatsächlich auf die Bewunderung an, die Mademoiselle de Rambouillet für den schwedischen König zu haben schien. 56 Vgl. Lopez, La plume et l’épée, S. 122. Biblio17_204_s005-419End.indd 194 11.06.13 10: 10 <?page no="195"?> 195 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Seine These lautet hingegen, dass es zwischen der Handschrift (als Geschenk) und der Sammlung von Madrigalen (als Ereignis) zu unterscheiden gelte. An diese These schließen die folgenden Überlegungen an, da sie es erlaubt, die verschiedenen Datierungen plausibel zu machen. Außerdem kann sie hier auf der Grundlage von Texten, die der Guirlande de Julie als Vorbild gedient haben sowie anhand zirkulierender Verse auch erstmals bestätigt werden. 2.1 Von der Ghirlanda zur Guirlande Am 9. September 1633 schreibt der homme de lettres Jean Chapelain an den Comte de Fiesque: Je vous envoye un long Madrigal que j’ay esté obligé de faire pour vostre illustre Cousine M lle de Rambouillet dans le dessein qu’un de nos Amis a pris de luy faire une couronne de fleurs dont chacun parlera ou sera présentée à sa louange. C’est une imitation de l’Italien du Guazzo pour une certaine Contesse [sic] du Montferrat et qui réussira. 57 Chapelain zufolge stammt das Vorbild zu dieser symbolischen Blumenkrone aus Italien, wo einer gewissen „Contesse du Montferrat“ bereits in ähnlicher Weise gehuldigt worden sei. Hierzu aufgerufen hatte der italienische Autor Stefano Guazzo, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem mit einer Schrift über die Kunst der Konversation in Erscheinung getreten war. 58 1595, zwei Jahre nach seinem Tod, erschien in Genua eine mehr als 500 Seiten umfassende Schrift, deren vollständiger Titel lautet: La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria. Contesta di Madrigali di diversi Autori. Raccolti, & dicchiarati dal Sig. Stefano Guazzi, Gentil’huomo di Casale di Monferrato. Que s’introducono diverse persone à ragionare, nella prima giornata delle Frondi, seconda de’ Fiori, terza de’ Frutti intrecciati in essa Ghirlanda. 59 Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei Angela Bianca Beccaria um jene „Contesse du Montferrat“ 57 Lettres de Jean Chapelain I, S. 46. 58 La Civil conversatione del signor Stephano Guazzo, Gentilhuomo di Casale di Monferrato, divisa in quattro libri. Brescia, Tomaso Bozzola 1574. Die französische Übersetzung von Gabriel Chappuys erscheint 1579 bei Jean Béraud in Lyon. Als einer der bedeutendsten Mittler fungiert Montaigne (zu Montaigne und Guazzo vgl. den Eintrag von Nicola Panichi in: Dictionnaire de Michel de Montaigne. Hg. von Philippe Desan, Paris, H. Champion 2007, S. 448-449). 59 Im Folgenden zitiert als [Guazzo, Ghirlanda, S. x]. Die wenigen erhaltenen Exemplare dieser Schrift befinden sich in diversen italienischen Bibliotheken, in der Universitätsbibliothek von Tours (dieses Exemplar liegt der vorliegenden Studie zu Grunde) sowie in der British Library. Ein weiteres Exemplar wurde digitalisiert und kann unter http: / / books.google.com/ eingesehen werden. Biblio17_204_s005-419End.indd 195 11.06.13 10: 10 <?page no="196"?> 196 La Guirlande de Julie handelt, die Chapelain in seinem Brief erwähnt. 60 Ebenfalls wird deutlich, dass ihr eine literarische ‚Girlande‘ gewidmet wurde, die dem Marquis de Montausier in der Tat als Vorbild gedient haben könnte, als er Personen aus seiner näheren Umgebung dazu aufforderte, Blumenmadrigale zu verfassen. Doch in welcher Form hat die Begegnung zwischen dem Vorbild und seinem Nachahmer stattgefunden? Was genau könnte Montausier - beispielsweise während er sich anläßlich der Belagerung von Casale Montferrato in Italien aufhielt 61 - zu seiner eigenen galanten Geste inspiriert haben? Die folgenden Überlegungen haben zum Ziel, in zwei Schritten den Zusammenhang zwischen der italienischen Publikation und der französischen Handschrift näher zu bestimmen. 2.1.1 La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria Das posthum publizierte Werk, das Stefano Guazzo wenige Jahre vor seinem Tod schreibt, lässt sich unter gattungsspezifischen Gesichtspunkten zunächst als einen narrativierten Dialog beschreiben. 62 Auf dessen Handlungsebene wird ein galantes Spiel in Szene gesetzt, das dem Autor zufolge im Garten des Conte Alfonso Beccaria, einem Cousin der Contessa Angela, stattgefunden haben soll. Gegenstand des Spiels sei eine Madrigalsammlung gewesen, die der Erzähler selbst, nämlich Guazzo, für die Contessa habe anfertigen lassen. Dabei habe er die Hilfe befreundeter Persönlichkeiten in Anspruch genommen, die in seinem Auftrag Verse zu Ehren seiner adligen Gönnerin geschrieben hätten. Così io, che non ho nè ingegno, nè dottrin, nè arte di poter honorare co i proprii scritti questa virtuosa donna, hò chiamati in aiuto alcuni leggiadri & valorosi spiriti meco in amore congiunti, i quali inteso l’alto, & honesto mio dissegno di presentare à questa Signora una Ghirlanda in premio d’una parte de’ suoi meriti, & in testimonio della mia riverenza verso di lei, concorsero con pronta, & cortese mano à ministrarmi tante frondi, tanti fiori, & tanti frutti, colti ne i loro fertilissimi giardini […]. 63 60 Das Haus Beccaria hatte zwar in Pavia seinen Stammsitz, das zum fraglichen Zeitpunkt dem Herzogtum Mailand angehörte, welches wiederum an das Markgrafentum Montferrato angrenzt, aus dem der Autor des Buches, Stefano Guazzo, stammt. Die Verwechslung ist jedoch angesichts der im 16. Jahrhundert ständig wechselnden Machtverhältnisse leicht nachzuvollziehen und daher vernachlässigbar. 61 Wie Denis Lopez in seiner Version der Entstehungsgeschichte der Guirlande de Julie nahelegt (vgl. Lopez, La plume et l’épée, S. 118-119). 62 Zur Gattung des narrativierten Dialoges siehe Bernd Häsner, „Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung“, in: K.W. Hempfer (Hg.), Poetik des Dialoges. Stuttgart, Steiner 2004, S. 13-65. 63 Guazzo, Ghirlanda, S. 3. Biblio17_204_s005-419End.indd 196 11.06.13 10: 10 <?page no="197"?> 197 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Die insgesamt 66 Madrigale über Früchte, Blumen und Zweige, die aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangen sind und bereits im Untertitel des Dialoges Erwähnung finden, sind jedoch keineswegs fiktiv: Sie werden im Zuge ihres Konversationsspiels nicht nur von den Figuren der Rahmenhandlung rezitiert und interpretiert, sondern gleich zu Beginn des Buches in einem Verzeichnis aufgerufen, in dem die Namen ihrer Verfasser einzeln aufgeführt werden. Das Verzeichnis ist nicht als eine der möglichen Authentifizierungsstrategien zu verstehen, wie sie in frühneuzeitlichen Dialogen die Regel sind und beispielsweise bei Baldassare Castiglione begegnen, dessen Libro del cortegiano für Guazzo in anderer Hinsicht durchaus ein Modell darstellt. 64 Vielmehr lässt diese Namensliste keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich im Falle der Ghirlanda um ein kollektives Kunstwerk handelt, dessen Fiktionalisierung erst in einem zweiten Schritt erfolgt ist. Guazzos Umgang mit fremder Autorschaft ist bemerkenswert offen, stellt jedoch nur die eine Seite der Medaille dar. Während ihm einerseits daran gelegen ist, sich als Günstling der Contessa und daher als Auftraggeber und Sammler von Huldigungsgedichten zu positionieren, bemüht er sich andererseits nämlich auch darum, den Text - d.h. alles außer den Gedichten - als das Ergebnis seiner eigenen Autorschaft auszuweisen. Dies gelingt ihm, indem er das Ereignis, von dem er zu berichten vorgibt - nämlich das drei Tage andauernde Fest im Garten des Hauses Beccaria -, in die lange Tradition der italienischen Geselligkeitskultur einordnet. Einen Rückzugsort imaginierend, der die Züge eines locus amœnus trägt und einer kleinen Gruppe von Frauen und Männern Gelegenheit bietet, sich mit Konversationsspielen die Zeit zu vertreiben, rekurriert Guazzo auf ein Modell des Erzählens, das Giovanni Boccaccio mit seinem Roman Il Filocolo und vor allem mit der Novellensammlung Il Decamerone geprägt hat. 65 Die Fiktionalität des galanten Spiels mit jener symbolischen Girlande, deren kollektiver Charakter auf extratextueller Ebene nachweislich nicht fiktiv ist, ergibt sich mithin nicht aus der Antwort auf die Frage, ob das Fest im Garten des Conte Beccaria tatsächlich stattgefunden hat. Vielmehr führt die „Vergleichgültigung“ (Kablitz) dieser Frage dazu, dass sich der Blick des Lesers, dessen Aufmerksamkeit nicht mehr 64 Zum Beispiel hinsichtlich des Berichts aus zweiter Hand, denn sowohl Guazzo als auch Castiglione geben vor, an den Gesprächsspielen, deren Vermittler sie sind, nicht selbst teilgenommen zu haben. 65 Vgl. Schlumbohm, Jocus und Amor; die Autorin stellt vor allem auch die Bedeutung von Boccaccios Roman Il Filocolo (ca. 1336-1339) für die Entwicklung der europäischen Konversations- und Spielkultur seit dem mittelalterlichen joc partit heraus. Biblio17_204_s005-419End.indd 197 11.06.13 10: 10 <?page no="198"?> 198 La Guirlande de Julie von dem Anspruch des Textes auf Referenzialität absorbiert wird, auf anderes, wie z.B. seine semantisch aufgeladene Erzählstruktur, richten kann. 66 Ein weiteres Beispiel für die Überdeterminiertheit dieses Textes, dessen sogenannter ‚Sitz im Leben‘ gleichwohl zur Bedeutungskonstitution herangezogen werden muss, ist die folgende Szene zu Beginn des Dialoges: Letto il madrigale fece il Capitano un certo rivolgimento di capo col quale diede segno di non credere, ch’una donna, & monaca havesse cotanta cognitione di poesia, di che essendosi reveduta la Contessa Angela. Io sò, disse, che fra l’altre infelicità, che seco trahe il sesso feminile, vi hà questa, che quando vanno attorno ò rime, ò prose leggiadre sotto il nome d’alcuna donna, pare subito, che gli huomini quantunque giudiciosi, si lascino da una certa miscredenza offuscar l’intelletto, in si fatta maniera, che non si vergognano d’attribuir ingiustamente à qualche maschio autore quella donnesca lode. 67 Das erste Gedicht der Sammlung, von dem in dieser Passage die Rede ist, stammt von einer gewissen Laura Beatrice Capelli. Ihre Autorschaft zieht hier einer der männlichen Gesprächsteilnehmer (die Figur des ‚Capitano‘) in Zweifel, sei es doch höchst unwahrscheinlich, dass eine Frau, die noch dazu den Schleier genommen habe, zur Verfertigung derart schöner Verse in der Lage sei. Dies ruft die empörte Reaktion der Contessa Angela hervor, die ihre Geschlechtsgenossinnen verteidigt und im Anschluss daran die adlige Abstammung der Capelli in den Vordergrund rückt. Die Szene ist nun in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens steht dieses Handlungsmuster eindeutig in der Tradition der Querelle des femmes und lässt sich nicht zuletzt auch in dem von Guazzo punktuell als narrative Folie genutzten Dialog Il Libro del cortegiano beobachten, wo ein hin und wieder inszenierter Schlagabtausch zwischen Männern und Frauen dazu beiträgt, das Gespräch zu beleben und gegen den Vorwurf der Pedanterie abzusichern. 68 Zweitens ist 66 Vgl. Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung - nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky, Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Stuttgart, Steiner 2008, S. 13-44, hier S. 22. 67 Guazzo, Ghirlanda, S. 14. 68 Zur querelle des femmes siehe Gisela Bock, Margarete Zimmermann (Hg.), Die europäische ‚Querelle des Femmes‘. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Göttingen, Wallstein 1997; sowie Margarete Zimmermann, „The Old Quarrel: More Than Just Rhetoric? “, in: Wolfram Aichinger, Marlen Bidwell-Steiner, Judith Bösch, Eva Crescutti (Hg.), The ‚Querelle des femmes‘ in the Romania. Wien, Turia & Kant 2003, S. 27-43. Das Verbot der Pedanterie wird bei Castiglione unter dem berühmten Neologismus der sprezzatura verhandelt. Die einschlägigen Publikationen sind zu zahlreich, um sie hier zu benennen, aber einen guten Überblick bieten der Biblio17_204_s005-419End.indd 198 11.06.13 10: 10 <?page no="199"?> 199 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) diese Szene jedoch auch für den Autor der Ghirlanda eine so willkommene wie elegant genutzte Gelegenheit, eine jener bio-bibliographischen Notizen zu plazieren, wie sie in der Folge jedem einzelnen Gedicht mit dem Ziel zur Seite gestellt wird, den jeweiligen Verfasser - oder auch die Verfasserin, denn unter den Beiträgen stammen immerhin sechs Madrigale von Frauen - dem Publikum vorzustellen. Im Falle der Laura Beatrice Capelli ist in erster Linie das anonyme Lesepublikum angesprochen, wird ihm doch etwas mitgeteilt, was den beteiligten Figuren - mit Ausnahme des ‚Capitano‘ - bekannt sein dürfte, nämlich die Zugehörigkeit der Capelli zum Hause Beccaria, mit dem sie über ihre Mutter verwandt ist. 69 Anders verhält es sich jedoch mit der Mehrzahl der Kurzbiographien, in denen Personen vorgestellt werden, die aus dem Milieu von Juristen, Medizinern und Gelehrten stammen, mit dem die Mitglieder und engsten Freunde des Hauses Beccaria nicht so vertraut gewesen sein dürften. In diesen Fällen bedarf es keiner zusätzlichen intradiegetischen Inszenierung wie einer gemischtgeschlechtlichen querelle, um die Präsentation der Person zu rechtfertigen, dient sie doch der Information eben jener Figuren, die sich im Garten des Patrizierhauses mit der Rezitation (und späteren Auslegung) von Gedichten die Zeit vertreiben. Auf der Handlungsebene des Dialoges lassen sich auf diese Weise zwei Kreise nachvollziehen, die über das Sozialprofil derjenigen gebildet werden, die sich auch ‚in Wirklichkeit‘ am Entstehen der Ghirlanda beteiligt haben. Der kleinere, überwiegend aus Vertretern des Adels bestehende Kreis umfasst vor allem diejenigen Figuren, deren Vorstellung in praesentia erfolgt, und dadurch manchmal auch sehr kurz ausfallen kann, wie das Beispiel des Conte Alfonso Beccaria zeigt: Lodar le persone lodate in presenza loro, ha non meno del soverchio che del disdicevole. Se come Cavaliere, ò Togaro voglio lodare il Conte Alfonso Beccaria basterà il dire, che quanti mai furono, ò sono di questa famosa, & grande famiglia, non fù, nè è alcuno ò calvaliere più compiuto, ò togato più celebre di quel, ch’egli si sia […]. 70 immer noch lesenswerte Artikel von Edouardo Saccone („Grazia, Sprezzatura, and Affetazione in Castiglione’s Book of the Courtier“, in: Glyph. Johns Hoskins Textual Studies, 5, 1979, S. 34-54) sowie von Maria Teresa Ricci, „La grâce et la sprezzatura chez Baldassar Castiglione“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, LXV, 2, 2003, S. 233-248. Zum Pedanterieverbot in galanten Publikationen siehe grundsätzlich auch Steigerwald, Galanterie, S. 47-77. 69 Laura Beatrice Capelli wächst bei ihrer Tante, der Contessa Lucretia Martinengo Beccaria, in Pavia auf, nimmt dann später und - wie hier betont wird - aus eigenem Antrieb den Schleier und zieht sich in ein Kloster in der Nähe von Casale zurück (vgl. Guazzo, Ghirlanda, S. 13; eine „monaca di Casale“ gleichen Namens findet sich in der Biografia medica piemontese, Torino, o.A. 1825, S. 125). 70 Guazzo, Ghirlanda, S. 365. Biblio17_204_s005-419End.indd 199 11.06.13 10: 10 <?page no="200"?> 200 La Guirlande de Julie Der zweite, größere Kreis umfasst Personen, die in absentia charakterisiert werden und überwiegend - der Fall der Capelli ist jedoch nicht die einzige Ausnahme - einem bürgerlichen Milieu angehören. Sie sind, wie Guazzo selbst, also nur indirekt in das galante Spiel eingebunden, das auf der Handlungsebene des Dialoges einer homogenen Statusgruppe vorbehalten bleibt und einen elitären Charakter hat. Diese Skizze des Dialoges muss vorläufig genügen, um vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung eine Vorstellung davon zu vermitteln, womit man es auf der Suche nach dem literarischen Vorbild der Guirlande de Julie zu tun hat. 71 Es stellt sich nun allerdings die Frage, was genau an dieser Skizze zu der Annahme berechtigt, die Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria habe den Marquis de Montausier dazu veranlasst, eine galante Madrigalsammlung zu initiieren, die später ebenfalls das Bild der Girlande im Titel tragen wird. Sieht man einmal von eben jenem gemeinsamen Titelbild beider Werke ab, so hat die komplexe narrative Struktur des italienischen Dialoges auf den ersten Blick nicht viel mit der französischen Prachthandschrift gemeinsam. Dass dieser Eindruck täuscht, zeigt die Entstehungsgeschichte der Ghirlanda, die - wenngleich von der Forschung bislang nicht zur Kenntnis genommen - in den Briefen Stefano Guazzos sehr gut dokumentiert ist und die Behauptung nachhaltig stützt, dass Montausier mit seiner galanten Geste tatsächlich diesem Vorbild gefolgt ist. 2.1.2 La Guirlande de Julie: Ein Huldigungsspiel nach italienischem Vorbild Das titelgebende Bild der Girlande vermag die Handschrift noch nicht als eine Nachahmung der italienischen Publikation auszuweisen. Die Guirlande de Julie lässt sich jener Kleinstgattung der französischen Literatur zuordnen, die sich Fritz Nies zufolge über den Motivkomplex der einzeln oder als Arrangement auftretenden Blüten generieren lässt. Motive wie fleur(s), florilège, marguerites, bouquet oder guirlande bilden Serien aus, die über die Jahrhunderte zu literarischen Genre avancieren können, vorausgesetzt, das jeweilige Motiv lässt sich als „Titelsignal“ (Nies) identifizieren. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts tritt das Titelsignal guirlande so regelmäßig auf, dass es nach und nach „zum Gattungsnamen für Auslesen von Verstexten werden [sollte], die bis zur Mitte unseres Jahrhunderts reichen“. 72 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, 71 Für weitere Informationen siehe Stephanie Bung, „La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria (1595). Stefano Guazzos Spätwerk und die Handlungsräume der Akademie“, in: Romanistisches Jahrbuch, 63, 2012, S. 196-216. 72 Fritz Nies, „De guirlande en guirlande, de Julie à Uli: Gattungsbildende Blüten und Stärkungsmittel à la française“, in: Hinrich Hudde, Udo Schöning (Hg. in Verbindung mit Friedrich Wolfzettel), Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag, Heidelberg, Winter 1997, S. 543-555, S. 550. Biblio17_204_s005-419End.indd 200 11.06.13 13: 26 <?page no="201"?> 201 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) warum Émile Magne so darauf besteht, dass Montausier ein französisches Vorbild für die Guirlande de Julie hatte. 73 Seiner These zufolge habe man sich an einer Reihe von Huldigungssonetten orientiert, die Adrien de La Morlière eigenhändig verfasst, dann unter dem Titel Guirlande ou chappeau de fleurs à Madame la Comtesse de S. Pol, Duchesse de Fronsac gruppiert und 1627 im Rahmen seines Premier livre des Antiquitez, histoire et choses plus remarquables de la ville d’Amiens publiziert hat. 74 Diese These ist nun ebensowenig leicht zu bestätigen wie zu widerlegen, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Montausier die Publikation des Adrien de La Morlière kannte. 75 Allerdings schenkt Magne hier dem entscheidenden Merkmal der Prachthandschrift keine Beachtung: La Guirlande de Julie ist ein kollektives Kunstwerk. Die galante Geste des Marquis de Montausier besteht ja gerade darin, dass er seiner zukünftigen Ehefrau ein Geschenk überreicht, an dem mehrere Personen mitgewirkt haben und zu dem ein einzelner nur den Anstoß gegeben hat. Bei La Morlières Verskonstellation handelt es sich hingegen um einen vergleichsweise klassischen Huldigungsgestus, der darin besteht, dass ein einzelner Autor seiner adligen Gönnerin oder Mäzenin eine Reihe von eigenhändig verfassten Gedichten widmet. Angesichts dieses grundlegenden Differenzkriteriums ist Lopez unbedingt zuzustimmen, der davon ausgeht, dass die wichtigste Quelle Montausiers die Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria ist. Allein, wie hat man sich den Aneignungsprozess vorzustellen, der sich bei der Verwandlung der Ghirlanda zur Guirlande vollzieht? 73 Er geht sogar so weit, dem Offizier jegliche Kenntnis des Italienischen abzusprechen, was angesichts dessen militärischen Aufenthalts in Italien wenig überzeugend ist und außerdem vor dem Hintergrund seiner Lateinkenntnisse auch kein Ausschlusskriterium für die These darstellen würde, Montausier habe die Ghirlanda von Stefano Guazzo rezipiert (vgl. Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de Gloire, S. 215-217). 74 Adrien de La Morlière, Le Premier livre des Antiquitez, histoire et choses plus remarquables de la ville d’Amiens. Paris, chez Denys Moreau 1627, S. 529-538. 75 Die Motivkomplexe beider Werke sind beispielsweise identisch: Die elf Sonette La Morlières tragen die Titel L’Hyacinthe, La Rose, Le Lierre, Le Soucy, La Pensée, La Couronne Impériale, Le Laurier, L’Œillet, Le Lis, Le Narcisse, La Flambe. Sie rekurrieren auf das mythologische Expertenwissen ihres Autors, das in Form von Fußnoten ausgewiesen wird. So gibt er etwa dem Leser für die Verse über die Ringelblume, die sich ebenso wie die Sonnenblume am Stand der Sonne orientiert, folgende Interpretationshilfe an die Hand: „[…] Allusion au mot Heliotropion, qui vaut autant à dire que tournant vers le Soleil. Les Poëtes dient que la Nymphe Clytie devenuë desesperement ialouse de Phœbus, en perdit le boire & manger, ne faisant que le suivre de l’œil, dont enfin elle mourut; que d’elle puis après nasquit cette fleur retenant encor ce nom de la cause de son infortune.“ (vgl. La Morlière, Le Premier livre des Antiquitez, S. 533). Biblio17_204_s005-419End.indd 201 11.06.13 10: 10 <?page no="202"?> 202 La Guirlande de Julie Im Unterschied zur Genese der französischen Prachthandschrift ist die Entstehung der Madrigalsammlung, die dem italienischen Werk zu Grunde liegt, gut dokumentiert. Guazzo nimmt in vielen Briefen, deren Publikation er noch zu Lebzeiten veranlasst und sorgsam überwacht, Bezug auf seine zukünftige Ghirlanda. 76 So schreibt er beispielsweise am 25. Januar 1591 die folgenden Zeilen an Curtio Gonzaga, in denen er den Adressaten von seinem Plan, der Contessa Angela Bianca Beccaria einen symbolischen Blumenkranz zu winden, in Kenntnis setzt und ihn dazu einlädt, an diesem kollektiven Kunstwerk mitzuwirken: Io adunque scrivo un’opera intitolata la Ghirlanda della Contessa Angela, che sarà divisa in tre parti, cioè frondi, fiori, & frutti, & a questo effetto ho già raccolti molti madrigali di diversi famosi autori i quali le offeriscono una fronde, ò un fiore, ò un frutto per simbolo, & figura d’una delle eccellenze di lei, & questi madrigali io li vengo esponendo in quel miglior modo, che mi detta il mio tenebroso ingegno. Invito hora V.S. ad honorare con uno de’suoi spirituosi madrigali essa Signora […]. 77 Dieses Schreiben, in dem Guazzos Vorgehen prägnant zusammengefasst wird, sei hier stellvertretend für eine Reihe von Briefen zitiert, 78 die zum Teil so ausführlich von der Einwerbung der Madrigale berichten, dass der Eindruck vermittelt wird, Guazzo habe die Entstehungsgeschichte seiner Ghirlanda erzählen (und publizieren) wollen, noch bevor er sie zur Rahmenhandlung seines Dialoges stilisiert. Vor dem Hintergrund dieser Briefe darf also auch der Huldigungsgestus, der mit der symbolischen Krönung einer adligen Dame durch einen ebenso symbolischen Blumenkranz einhergeht, 76 Lettere del signor Stefano Guazzo, Gentilhuomo di Casale di Monferrato. Ordinate sotto i Capi seguenti. Di Ragguagli. Di Lode. Di Raccommandatione. Di Essortatione. Di Ringratiamenti. Di Congratulatione. Di Scusa. Di Consolatione. Di Complimenti Misti […]. Vinegia, Barezzo Barezzi 1590, zweite Auflage 1592. Im Jahre 1591 wurde außerdem von Antonio Bianchi eine Ausgabe der Briefe in Turin bei Giovanni Domenico Tarino herausgegeben. Einem Brief Guazzos an Barezzo Barezzi lässt sich jedoch entnehmen, dass er Barezzi als den Herausgeber seines Vertrauens betrachtet (vgl. Guazzo, Lettere, S. 529), weshalb im Folgenden aus einer der letzten von Barezzi herausgegebenen Ausgaben zitiert wird (diese Ausgabe von 1606 ist über das Zentrale Verzeichnis digitalisierter Drucke erhältlich). 77 Guazzo, Lettere, S. 507. 78 Siehe genauer hierzu Bung, La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria (im Druck); der Brief an Curtio Gonzaga wurde hier zitiert, weil er die beste Synthese für das Unternehmen ‚Ghirlanda‘ enthält. Er weicht allerdings in einem Punkt von allen anderen Briefen dieser Reihe ab: Gonzaga taucht als einziger der angeschriebenen Personen nicht im Namensverzeichnis der Ghirlanda auf. Es handelt sich jedoch um die einzige Anfrage, die im Sand verläuft, und Guazzo scheint mit seinem Anliegen insgesamt auf große Resonanz gestoßen zu sein. Biblio17_204_s005-419End.indd 202 11.06.13 10: 10 <?page no="203"?> 203 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) bereits zu Lebzeiten des Autors als vollzogen gelten, auch wenn seine Publikation im Rahmen einer halbfiktionalen Erzählung erst nach dessen Tode erfolgt. Es kann außerdem davon ausgegangen werden, dass die Sammlung der Madrigale im Umkreis der beteiligten Personen einiges Aufsehen erregt hat, zumal sich Guazzo schon bald genötigt sieht, die Einwerbung über Dritte zu unterbinden. So schreibt er beispielsweise am 15. Mai 1591 einen Brief an den Conte Bernardino Mandelli, in dem er ihn bittet, nicht jedem beliebigen ‚Grammaticus‘ die Teilnahme an der Ghirlanda zu gewähren: Mi sono capitati i nobilissimi componimenti di cotesti Signori in honore della Conteßa Angela, la quale meco ne rende gratie a Vostra Signoria, & a detti Signori. Et perche s’offerisce di procurarne de gli altri, io quì le ricordo a non aprir questo paßo ad ogni sorte di persone, & in spetie a maestri di grammatica, i quali volentieri entrano ne i partecipi. Sò bene, che se ne trovano de galant’huomini, a quali non si dovrebbe negare questo ingresso; ma l’abuso e tale, che si leverebbono i gridi non solo contra me, ma, che è peggio, contra la Contessa, & contra gl’interlocutori dell’opera, & sarebbe anco uno sdegnare gli altri autori, veggendo, che non si faccia distintione dalle pecore bianche alle nere […]. 79 Diese Zeilen zeugen von einem bemerkenswerten Selbstbewusstsein ihres Autors, der den Conte Mandelli geradezu anweist, „di non far fascio d’ogn’herba“, 80 und offensichtlich bemüht ist, die Anzahl der „maestri di grammatica“ möglichst gering zu halten. Begründet wird diese strenge Haltung insbesondere mit dem Ehrverlust, der den anderen Autoren sowie der Contessa Angela drohe, wenn sie mit den Versen dieser sogenannten ‚schwarzen Schafe‘ in Verbindung gebracht werden. Deutlicher lässt sich nicht zum Ausdruck bringen, dass La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria ein Distinktionsinstrument ist, das allen Beteiligten - vorausgesetzt, sie werden der Mitarbeit einmal für würdig empfunden - zum Vorteil gereicht. Der Befund, dass die Entstehungsgeschichte der Ghirlanda insgesamt zweimal überliefert ist - sowohl in der Korrespondenz als auch in dem Dialog Guazzos -, ist nun für die Frage nach ihrer Rezeption durch die Protagonisten der Guirlande de Julie von zentraler Bedeutung: Erstens lässt sich so leichter nachvollziehen, wie der Marquis de Montausier überhaupt auf die Idee kommen konnte, seinerseits Madrigale für eine symbolische Krone einzuwerben, die das imaginäre Haupt der ältesten Tochter des Hauses Rambouillet zieren sollte. Die Briefe Guazzos, deren Existenz zugleich auf einen gewissen Ruhm der Ghirlanda schließen lassen, 81 79 Guazzo, Lettere, S. 527. 80 Ebd. 81 Eine ungefähre Einschätzung der Resonanz der Ghirlanda ist insofern nicht unerheblich, als Montausier z.B. während seines militärischen Aufenthaltes in Casale Montferrato umso leichter von deren Existenz in Kenntnis gesetzt werden konnte. Biblio17_204_s005-419End.indd 203 11.06.13 10: 10 <?page no="204"?> 204 La Guirlande de Julie enthalten alle Informationen, derer es bedarf, um diese galante Geste nachzuahmen. Außerdem - und diesen Gedanken gilt es festzuhalten - zeichnet sich vor dem Hintergrund der Korrespondenz bereits der elitäre Zug jenes Spiels ab, das in der späteren Publikation und auf der Ebene der Fiktion als Gespräch einer kleinen Gruppe über die Gedichte inszeniert wird. Genauer gesagt kann bereits die Einwerbung der Madrigale als ein galantes Spiel verstanden werden, dessen Sichtbarkeit durch die Briefe gewährleistet ist und dessen agonaler Charakter („che non si faccia distintione dalle pecore bianche alle nere“) sogar noch deutlicher hervortritt als in der Fiktion. Die Frage, wer an diesem Spiel überhaupt teilnehmen darf, wird nun auch für den Fall der Guirlande de Julie relevant, wenngleich nicht auf der Ebene ihrer Entstehung, über die nicht viel bekannt ist. Dafür wird sie jedoch auf der Ebene der Texte selbst verhandelt, was wiederum einen letzten Einwand gegen die Vorbildfunktion der italienischen Ghirlanda zu entkräften hilft, der sich mit Recht im Hinblick auf die Ähnlichkeitsbeziehung der Verse anführen ließe: Während die von Guazzo eingeworbenen Madrigale Früchte, Zweige und vor allem Blumen schlicht zum Gegenstand haben, setzt die Guirlande de Julie Blumen als Figuren in Szene, die sich in ihrem eigenen Namen um einen Platz in der symbolischen Krone bemühen. Was also auf den ersten Blick die italienischen von den französischen Gedichten unterscheidet - das Redekriterium oder vielmehr die scénographie 82 -, stellt sich beim näheren Hinsehen als eine weitere Strukturähnlichkeit der Werke heraus, denn die sprechenden Blumen der Guirlande de Julie erweisen sich als recht kompetitiv: Sie transponieren den impliziten agonalen Charakter der Entstehungsgeschichte der Ghirlanda in die Fiktion, wo er explizit gemacht wird. Anhand von drei Beispielen lässt sich das veranschaulichen. Osez-vous, peu modestes Fleurs, Prétendre Couronner cette beauté sévère? Et ne craignez-vous point les cruelles froideurs Dont elle sait punir une ame temeraire? N’ayez plus cette vanité, Puis que seule je dois obtenir l’avantage D’orner de son beau chef l’auguste majesté, Lors que de tous les cœurs elle reçoit l’hommage, Au Throsne de la pureté. 83 82 Zum Begriff der scénographie siehe Dominique Maingueneau, Le contexte de l’œuvre littéraire. Énonciation, écrivain, société. Paris, Dunod 1993, S. 121-135. 83 Anhang I, S. 396-397. In Ermangelung einer Referenzausgabe der Guirlande de Julie wird im Folgenden immer dann auf diesen Textanhang verwiesen, wenn von jenen Madrigalen die Rede ist, welche in der Handschrift vertreten sind, die Montausier mit den Miniaturen von Nicolas Robert ausstatten ließ (BNF, Paris, Ms NAF 19735). Dem Textanhang liegt diese Handschrift zu Grunde. Biblio17_204_s005-419End.indd 204 11.06.13 10: 10 <?page no="205"?> 205 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Mit diesen Worten wendet sich zunächst das Schneeglöckchen an seine Rivalinnen, die sich erst später im Jahr aus der schützenden Erde hervorwagen, wenn die Sonne bereits wärmt. Das Weiß der Blume sowie der schneebedeckten Umgebung, in der sie zu blühen vermag, symbolisiert darüber hinaus ihre Unberührtheit, Keuschheit und Reinheit. Ähnlich wie dies bereits anhand anderer Gelegenheitstexte gezeigt werden konnte, tritt der symbolische Gehalt dieser Verse jedoch hinter ihrem spielerischen Ausdruck zurück. Die religiöse Symbolik, durch die La Guirlande de Julie in die ikonographische Tradition der Mariendarstellung einrückt, 84 wird gleichzeitig durch das Rollenspiel der Figuren wieder zurückgenommen oder zumindest sehr deutlich gedämpft. So reklamiert eine zweite Blume - aus der Familie der Amarant- oder Fuchsschwanzgewächse, die im Französischen den sprechenden Namen „L’Immortelle“ trägt - den Platz an Julies Stirn mit den Worten für sich: „Foibles Fleurs, à qui le destin/ Ne donne jamais qu’un matin/ Reconnoissez vôtre folie; / Moy seule dois prétendre à couronner Julie.“ 85 Auf der Klaviatur der Vergänglichkeit spielen alle Gedichte, in denen der Amarant seinen unbescheidenen Auftritt hat („On ne peut nommer beau ce qu’efface le Temps,/ Pour couronner les beautez éternelles,/ Et pour rendre leurs yeux contens,/ Il ne faut pas estre mortelles.“ 86 ). Reinheit und Unsterblichkeit gehören einem religiösen Motivkomplex an, aus dem die Figuren schöpfen, um sich über ihre Konkurrentinnen zu erheben. Auch das bescheidene Veilchen hofft, an der Stirn Julies eines Tages alle anderen Blumen zu überstrahlen: Franche d’ambition, je me cache sous l’herbe, Modeste en ma couleur, modeste en mon séjour; Mais si sur vostre front je me puis voir un jour, La plus humble des Fleurs sera la plus superbe. 87 Die viola humilitatis gehört neben der rosa claritatis und dem lilium castitatis, die ebenfalls in der Madrigalsammlung vertreten sind, zu den wichtigsten floralen Attributen der Jungfrau Maria. 88 Einem hortus conclusus vergleichbar, eignet dem Album also durchaus ein symbolisches Substrat, das vor dem Hintergrund seiner scène d’énonciation jedoch nicht überbewertet werden 84 Vgl. Stephanie Bung, „Une Guirlande pour Julie: le manuscrit prestigieux face au ‚salon‘ de la Marquise de Rambouillet“, in: Papers on French Seventeenth Century Literature XXXVIII, 75, 2011, S. 347-360, S. 352f. 85 Anhang I, S. 397. 86 Ebd. 87 Anhang I, S. 386. 88 Vgl. Elisabeth Wolffhardt, „Beiträge zur Pflanzensymbolik. Über die Pflanzen des Frankfurter ‚Paradiesgärtleins‘“, Zeitschrift für Kunstwissenschaft, 8, 1954, S. 177- 196. Biblio17_204_s005-419End.indd 205 11.06.13 10: 10 <?page no="206"?> 206 La Guirlande de Julie darf. Die Streitbarkeit der Figuren verleiht der Guirlande de Julie den Charakter eines Dramas, und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Hôtel de Rambouillet zu einer Bühne wird, auf der die Gedichte in Gegenwart der Tochter des Hauses deklamiert werden. Ob eine derartige ‚Aufführung‘ der Verse tatsächlich stattgefunden hat, steht zu bezweifeln. Dass sie jedoch zumindest denkbar ist, bestätigt eine genaue Lektüre von Chapelains Schreiben an den Comte de Fiesque: „Je vous envoye un long Madrigal que j’ay esté obligé de faire pour votre illustre Cousine M lle de Rambouillet dans le dessein qu’un de nos Amis a pris de luy faire une couronne de fleurs dont chacun parlera ou sera présentée à sa louange.“ [Hervorhebung, S.B.] Diese Passage lässt den Ereignischarakter der Guirlande de Julie hervortreten, der diesem Werk offensichtlich von Anfang an zugedacht war. Die Theatralität der ‚Sprache der Blumen‘ weist ebenfalls darauf hin, dass wir es hier mit einer ‚Bühne‘ zu tun haben. Die Handschrift gibt somit Auskunft über ein galantes Spiel, das demjenigen vergleichbar ist, das Stefano Guazzo in die Rahmenhandlung seines Dialoges verlegt, nachdem er es bereits in seinen Briefen sichtbar gemacht hat. Wie Guazzo lässt auch Montausier einige Jahre verstreichen, bevor er dem Spiel eine feste Struktur gibt. Anders als der Dialog der Ghirlanda droht seine Prachthandschrift allerdings diesen Ereignischarakter der Gedichte (‚galantes Spiel‘) stillzustellen oder doch zumindest durch ein anderes Ereignis (‚galantes Geschenk‘) zu überlagern. Umso interessanter ist daher die Frage, in welcher Form die Gedichte in einschlägigen Kreisen der Pariser Gesellschaft zirkulieren, bevor sie Eingang in jene Handschrift finden, die von dem Schriftkünstler Nicolas Jarry angefertigt und mit den farbenprächtigen Bildern des Blumenmalers Nicolas Robert ausgeschmückt wurde. 2.2 Eine imaginäre Girlande für ‚Julie‘ Von dieser Zirkulation zeugen diverse Textstrecken, die unter dem Titel „La Guirlande de Julie“ in verschiedenen Handschriften und Publikationen überliefert sind. 89 Wenngleich diese Strecken in hohem Maße mit Texten übereinstimmen, die für die Prachthandschrift ausgewählt wurden, weichen sie doch auch an signifikanten Stellen von ihnen ab, so dass davon ausge- 89 Die wichtigsten Publikationen sind die Werke von Claude Malleville und Georges de Scudéry sowie der zweite Band der Recueils de Sercy (vgl. hierzu Teil II dieser Arbeit). Die folgenden Überlegungen setzen sich mit drei Textstrecken auseinander, die nur in handschriftlicher Form überliefert sind. Zur Vermeidung von Missverständnissen bezeichnen von nun an die Anführungszeichen der „Guirlande de Julie“ immer eine Textstrecke, während die Kursivierung La Guirlande de Julie auf die Handschrift von 1641 referiert. Biblio17_204_s005-419End.indd 206 11.06.13 10: 10 <?page no="207"?> 207 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) gangen werden darf, dass insgesamt mehr als 61 Madrigale im Umlauf waren. Meistens handelt es sich um Sammlungen, die weniger und zum Teil andere Gedichte enthalten, als in der Prachthandschrift überliefert sind. Eine dieser Textstrecken, die im Rahmen des Ms. 19142 überliefert wurde, 90 ist im Vergleich mit der Handschrift von 1641 jedoch (fast) komplett und zugleich umfangreicher. Dies hat dazu geführt, dass in der Vergangenheit häufig auf diese Handschrift als die ‚vollständigste‘ Version verwiesen wurde, so dass man auf den Gedanken kommen könnte, diese Sammlung bilde einen ursprünglichen Zustand der Guirlande de Julie ab. 91 Ob eine solche ‚Ur-Girlande‘ jemals existiert hat, ist jedoch ungewiss. Gewichtige Gründe sprechen dafür, dass sich die Zirkulation der Gedichte zwar in verschiedenen ‚Girlanden-Strecken‘ manifestiert, dass es jedoch bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich Montausier entscheidet, eine Auswahl der Madrigale von Nicolas Jarry kalligraphieren und von Nicolas Robert ausschmücken zu lassen, keine ‚offizielle‘ Guirlande de Julie gibt. 2.2.1 Tallemant und die ‚Ur-Girlande‘? Innerhalb der heterogenen Sammelschrift, die in der Handschriftenabteilung der BNF als Ms 19142 katalogisiert ist, bilden die Gedichte, die unter der Überschrift „La Guirlande de Julie“ versammelt sind, eine einheitliche Textstrecke. Die insgesamt 70 Stücke stammen alle von einer Hand, mit Ausnahme eines Epigramms, auf das später noch einzugehen sein wird. Den kalligraphierten Versen ist ein erklärender Text vorangestellt, aus dem hervorgeht, dass der Verfasser dieses Textes die Prachthandschrift von 1641 kennt und es ihm darauf ankommt, die folgende Strecke in diesen Kontext einzubetten. Nachdem eine vermutlich professionelle Hand die Gedichte kalligraphiert hat, nimmt eine andere Hand in schwarzer Tinte verschiedene Korrekturen an den Stücken vor und ergänzt die Namen der Autoren. Da diese Hand zwei Texte gänzlich umschreibt - es handelt sich um ein Gedicht von Tallemant und um eines von Scudéry - liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dem Sammler um den Verfasser eines der beiden Texte handelt. Tatsächlich wird das Ms 19142 verschiedentlich Tallemant zugeschrieben, was erklären würde, weshalb neben den auch in der Prachthandschrift vertretenen Gedichten, 90 BNF, Paris, Manuscrits francais, Ms 19142, fol. 1-17. Die Gedichte wurden für die vorliegende Studie transkribiert und im Anhang II, aus dem im Folgenden zitiert wird, abgedruckt. 91 Dies suggeriert beispielsweise Antoine Adam, wenn er auf den Ms 19142 verweist, kurz nachdem er die These aufgestellt hat, dass eine Handschrift La Guirlande de Julie bereits 1634 angefertigt und 1641 nur noch einmal neu aufgelegt wurde (vgl. Antoine Adam in: Tallemant, Historiettes I, S. 1102). Biblio17_204_s005-419End.indd 207 11.06.13 10: 10 <?page no="208"?> 208 La Guirlande de Julie neun weitere Stücke in diesen recueil eingeschrieben wurden: Der Autor der Historiettes war ein bedeutender Sammler von zirkulierenden Versen, so dass es nicht verwundert, wenn ihm mehr Gedichte vorlagen, als Montausier für sein Geschenk von 1641 ausgewählt hatte. Als aufmerksamer Beobachter von galanten Ereignissen dürfte es ihm leicht möglich gewesen sein, eine vollständige, im Vergleich mit der Prachthandschrift sogar mehr als vollständige Textstrecke zu rekonstruieren. Es ist also nicht unbedingt notwendig, von der Kopie einer ‚ursprünglicheren‘ Handschrift auszugehen, die ebenfalls den Titel „La Guirlande de Julie“ trägt und die man Mademoiselle de Rambouillet bereits zu Gustav Adolfs Zeiten - wie Huet in seinen Erinnerungen schreibt - überreicht habe. Stilistisch und thematisch unterscheiden sich viele von den ‚überzähligen‘ Gedichten kaum von den Stücken, die Montausier in die Guirlande de Julie übernommen hat. Drei von ihnen, die Claude Malleville zugeschrieben werden, sind jeweils dem Adonisröschen, der Ringelblume und der Granatapfelblüte gewidmet. Die Ringelblume, die dem Mythos zufolge so lange Apollon angebetet hatte, bis sie vor Entkräftung starb, richtet das Wort hier an die Sonne, von der sie sich abwendet, um von nun an im Lichte der schönen Augen von Julie zu blühen. 92 Das Adonisröschen erbittet das Privileg, in die Girlande aufgenommen zu werden, um seine zarten Blüten vor der harschen Witterung zu schützen. 93 Ohne dass hier die anderen Blumen ausdrücklich als Rivalinnen in Erscheinung treten, kann die auf das Mitleid Julies spekulierende Rede als ein strategischer Schachzug gelesen werden, mit dem die „Fleur d’Adonis“ in den Wettkampf um die Girlande eintritt. Ganz im Gegenteil zur stolzen „Fleur de Grenade“, die sich als die Königin aller Blumen bezeichnet und überhaupt nur eine einzige Rivalin kennt: Julie selbst, deren Augen leuchtender strahlen als die Farbe der Granatapfelblüten, welche höchstens noch vor Scham erröten, mit der lebendigen Schönheit Julies nicht mithalten zu können. 94 Auf zwei weitere Gedichte, die jeweils einer Tulpe und einer Narzisse gewidmet sind, sowie auf das eingangs erwähnte Epigramm wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einzugehen sein, aber auf eine Lilie und ein Vergißmeinnicht sei hier noch hingewiesen. 95 Beide Blumen huldigen auf ihre Weise der ‚Prinzessin Julie‘. Im Namen des Vergißmeinnichts („Que me serviroit de parler? / Mon nom vous dit assez ce que ie vous veux dire“) kommt der Charakter, der diesem unscheinbaren Blümchen zugeschrieben wird, ebenso zum Ausdruck wie derjenige der Lilie 92 Anhang II, S. 401. 93 Anhang II, S. 402-403. 94 Anhang II, S. 402. 95 Anhang II, S. 400; 403. Biblio17_204_s005-419End.indd 208 11.06.13 10: 10 <?page no="209"?> 209 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) in ihrem Hochmut: Zwar habe sie als Königssymbol ihren ursprünglichen Habitat, nämlich den Göttersitz des Olymp, verlassen müssen, wäre es jedoch nach ihrem Willen gegangen, so hätte sie dieses Opfer nur für das Privileg erbracht, das Haupt der Julie krönen zu dürfen. Schließlich verzeichnet diese Sammlung der „Guirlande de Julie“ noch ein Sonett, dessen Autor sich offensichtlich über die Aufforderung, Blumen-Madrigale für eine Girlande zu schreiben, hinweggesetzt hat, um stattdessen ein eher klassisches Huldigungsgedicht auf die edle Abkunft der Julie zu verfassen („Rejetton des Romains. Race des Demy-dieux“). 96 Bei diesem Gedicht lässt sich noch am ehesten nachvollziehen, warum es von Montausier nicht in die Prachthandschrift übernommen wurde. Die Gründe, aus denen die übrigen Stücke seiner Zensur zum Opfer gefallen sind - zumal wenn man annehmen würde, dass sie bereits in einer ersten Handschrift vertreten waren -, bleiben spekulativ und können genauso gut als Argument für oder gegen eine ‚Ur-Girlande‘ geltend gemacht werden. Schwerer mit der These von der ‚Ur-Girlande‘ zu vereinbaren ist hingegen die Beobachtung, dass in dem Ms 19142 - noch immer im Vergleich mit dem Werk von 1641 - einige Verse maßgeblich variieren. Hätte Montausier sich erlaubt, ein Gedicht über die Granatapfelblüte zu verändern, das Conrart zugeschrieben wird? Zugegebenermaßen sind die Abweichungen gering. 97 Da zudem die größten Veränderungen in Texten vorgenommen wurden, die von Montausier selbst stammen, ließe sich auch dieser Einwand entkräften. 98 Das gewichtigste Argument gegen eine ‚Ur-Girlande‘ und für die freie Zirkulation der Gedichte ist jedoch, dass die Sammlung, die Tallemant zugeschrieben wird, nur eine von insgesamt drei in handschriftlicher Form überlieferten Textstrecken ist, 99 die alle von der Prachthandschrift abweichen, jedoch nicht in derselben Art und Weise: Eine Textstrecke, die in dem Ms 3135 aus den Recueils Conrart überliefert ist, umfasst insgesamt 41 Stücke, von denen abermals neun nicht in der Prachthandschrift vertreten sind. Allerdings handelt es sich bei nur zwei von ihnen um Varianten von Gedichten, die in dem Ms 96 Anhang II, S. 403. 97 „Mais, préférant mon sort au leur,/ J’ay mieux aymé demeurer Fleur“ in der Guirlande de Julie, „Mais j’ay mesprisé cet honneur/ Et j’ay voulu demeurer fleur“ im Ms 19142. 98 Siehe insbesondere die Versionen des Narzissen-Gedichts „Je suis ce Narcisse fameux“ (Anhang I, S. 384; Anhang II, S. 399). Der kunstvolle Vergleich aus der Guirlande de Julie, der die Aussage impliziert: ‚Ich liebe Julie mehr als mich selbst, der ich für diese Liebe mein Leben lassen musste‘, ist in dem Zehnzeiler aus dem Ms 19142 nicht enthalten. 99 Auch diese Gedichte wurden für die vorliegende Untersuchung transkribiert und sind im Anhang II, aus dem sie im Folgenden auch zitiert werden, enthalten. Biblio17_204_s005-419End.indd 209 11.06.13 10: 10 <?page no="210"?> 210 La Guirlande de Julie 19142 enthalten sind. Überschneidungen gibt es auch nur in zwei Fällen mit der dritten Handschrift, die die kürzeste der drei überlieferten Textstrecken zur „Guirlande de Julie“ enthält: Es handelt sich um den sogenannten Recueil de Pierre des Noyers, der bereits im zweiten Teil dieser Arbeit Erwähnung fand und sich in der Bibliothek von Chantilly befindet. Diese Textstrecke umfasst 14 Gedichte, von denen insgesamt vier von der Prachthandschrift abweichen. Zwei von diesen vier Texten stimmen mit den entsprechenden Versen in den Recueils Conrart überein, ein Epigramm findet sich auch im Ms 19142 und ein weiteres Gedicht, das eindeutig der „Guirlande“ zugeordnet wird, jedoch den Titel La fleur de Dorize trägt, wird später Eingang finden in die Recueils de Sercy. Dieser Text unterscheidet sich von den übrigen Blumen- Gedichten ebenso wie das Epigramm durch seinen satirischen Tonfall, weshalb auf diese Verse im Folgenden gesondert eingegangen wird. 2.2.2 Die satirischen Verse der „Guirlande de Julie“ Ein weiterer Grund, der dagegen spricht, dass es sich bei der Textstrecke im Ms 19142 um eine Abschrift der ‚Ur-Girlande‘ handeln könnte, ist das letzte Stück dieser „Guirlande de Julie“. Es scheint, als habe das Epigramm die Sammlung zunächst eröffnen sollen, denn es stand ursprünglich noch vor dem erklärenden Text, gewissermaßen en exergue. Die korrigierende Hand streicht es jedoch an dieser Stelle wieder durch, um ihm einen etwas weniger prominenten Platz am Ende der Strecke zuzuweisen. Epigrame Belle Julie on me demande Sy je n’ay point encor cherché Quelques fleurs pour vostre guirlande. Mais en cela je suis bien empesché, Où trouverois-je une fleur je vous prie, Sy je n’ay pas, dont je suis bien fasché, Ny champ ny bois ny jardin ny prairie. 100 Diese Verse, die einem gewissen Carlincas zugeschrieben werden, zeugen von einer wenngleich nicht im starken Sinne des Wortes satirischen, so doch zumindest von einer ironischen Behandlung des Themas. Zwischen den Zeilen ist eine deutliche Distanz zum galanten Spiel zu lesen, etwa wenn sich der Autor bei Julie mit dem Verweis auf seines sozialen Stand entschuldigt, der es ihm nicht erlaube, eigene Ländereien (champ, bois, jardin oder prairie) nach Blumen für ihre Girlande zu durchkämmen. Bei dem Autor handelt es sich vermutlich um den Dichter Félix Jouvenel de Carlincas oder Pézenas 100 Anhang II, S. 403. Biblio17_204_s005-419End.indd 210 11.06.13 10: 10 <?page no="211"?> 211 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Callencas, 101 dessen Zugehörigkeit zum inneren Kreis der Chambre bleue durch andere Quellen nicht bestätigt wird, was angesichts seiner Selbstdarstellung in diesen Versen auch nicht weiter verwundert. Sein Text ist allerdings das einzige der dieser Sammlung hinzugefügten Gedichte, das in diesem Stil gehalten ist. Umso bemerkenswerter ist die Bedeutung, die ihm in diesem recueil zugeschrieben wird, sei es, dass es zum Motto auserkoren war, sei es, dass man es schließlich dazu bestimmte, die Textstrecke abzurunden. Dies lässt auf einen Sammler schließen, der einen scharfen Blick für die Schwächen seiner Zeitgenossen hat, so dass sich auch aus dieser Perspektive die Annahme bestätigen lässt, dass es sich um Tallemant des Réaux handeln könnte, dessen Historiettes auch nicht immer frei von Ironie sind. Doch ist er nicht der einzige Sammler, der diesen Versen Bedeutung beimisst. Auch in der Textstrecke des Recueil Pierre des Noyers wird diesem sowie einem weiteren Gedicht, in dem die „Guirlande de Julie“ auf freche Art kommentiert wird, verhältnismäßig viel Platz eingeräumt: Von den insgesamt nur 14 Stücken wurden gleich zwei in diesem Stil gehaltene Texte in die Sammlung aufgenommen. Auch hier werden die Verse des Carlincas an das Ende der Reihe gestellt, nur noch gefolgt von einem Gedicht, das zwar den Titel La fleur de Dorize trägt, durch die ihm nachgestellte Abkündigung „Fin de la Guirlande de Julie“ jedoch eindeutig in den Madrigal-Zyklus eingeschlossen wird. Die Thematik, die das Leitmotiv der Keuschheit, das viele der Verse der Guirlande deklinieren, im Zerrspiegel der Satire behandelt, spricht auch dafür, dass der Leser gehalten ist, an die Stelle von ‚Dorize‘ den Namen ‚Julie‘ zu setzen. La fleur de Dorize 102 Dorise, tout le Monde admire Ce livre peint de cent couleurs Et dans le nombre de ses fleurs Il ne s’en trouve qu’une a dire Aux portraits dont il est rempli Il falloit adjouter l’Image De la fleur de ton pucelage Et l’ouvrage estoit accompli […] 101 Vgl. Dictionnaire des lettres françaises. Le XVII e siècle, S. 242. Tallemant erwähnt diesen Namen ein einziges Mal (Tallemant, Historiettes II, S. 878) und in den Recueils Conrart sind einige Stücke mit der entsprechenden Signatur überliefert. Ein direkter Zusammenhang mit dem Hôtel de Rambouillet lässt sich jedoch nicht herstellen. 102 Anhang II, S. 418-419. Biblio17_204_s005-419End.indd 211 11.06.13 10: 10 <?page no="212"?> 212 La Guirlande de Julie Der zweite Vers „Ce livre peint de cent couleurs“ deutet darauf hin, dass der Text nach 1641 entstanden ist, denn sonst würde es sich hier entweder um einen metaphorischen Ausdruck handeln, der auf erstaunlich präzise Weise einen Vorgriff auf die Prachthandschrift darstellt, oder es muss davon ausgegangen werden, dass in den dreißiger Jahren ein Album zirkulierte, das nicht nur dieselben Texte enthielt wie die Prachthandschrift, sondern auch bereits mit Bildern ausgeschmückt war. Angesichts dieser Alternative ist die Datierung der Textstrecke auf einen Zeitraum nach 1641 am wahrscheinlichsten. Im Vergleich mit den Versen Carlincas’ fällt auf, dass der Autor seiner Distanz zu der „Guirlande de Julie“ weitaus weniger subtil Ausdruck verleiht. Er nimmt bei den sexuellen Anspielungen kein Blatt vor den Mund, und spart auch nicht mit intertextuellen Seitenhieben, etwa wenn er die „fleur de ton pucelage“ als „une fleur Immortelle“ bezeichnet: C’est la fleur vive, rouge et belle Dure au monde si longuement Que l’on peut dire justement Que c’est une fleur Immortelle Croy moy tu n’eusse pas fait mal De nous en donner la peinture Quelqu’un la voyant d’aventure Eust desiré l’original […] Schließlich münden seine Verse in eine - im Vergleich zu den berühmten Versen Ronsards - drastische Variation auf den Carpe-Diem-Topos. 103 Der Dichter stellt Dorize hier als eine alternde Jungfer dar, deren einstige Tugend ihr nun zur Schande gereicht: La Rec[h]erche en eust esté prompte Ou si tu la laisse vieillir Pas un ne la voudra cueillir Et ton honneur sera ta honte Ne crains point de mettre au hazard Un bien dont la perte profitte C’est preuve de peu de meritte Que de le posseder si tard. […] Les autres Fleurs cedent au temps C’est une reigle naturelle Mais ceste fleur est Eternelle Depuis qu’elle a passé trente ans. 103 Vgl. Pierre de Ronsard, „Sonnets pour Hélène II, XXIV“, in: ders., Les Amours. Paris, Garnier 1963, S. 431f. Biblio17_204_s005-419End.indd 212 11.06.13 10: 10 <?page no="213"?> 213 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) Auch der letzte Vers erlaubt eine zeitliche Einordnung des Textes: Mademoiselle de Rambouillet, die hinter der Maske der Dorize deutlich zu erkennen ist, hatte die hier genannte Altersgrenze bereits im Jahre 1637 überschritten. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Satire unbedingt vor 1641 entstanden sein muss, spielt der Vers „Depuis qu’elle a passé trente ans“ doch auf einen dehnbaren Zeitraum an, der sich jenseits des dreißigsten Lebensjahres auftut. Im Unterschied zu diesem Gedicht lassen sich die anderen Stücke der drei Handschriften weniger gut datieren. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Zusammenstellung der jeweiligen Textstrecke nach 1641 geschieht, lässt sich daraus keine Aussage über den Zeitpunkt ableiten, zu dem die einzelnen Gedichte zirkulieren. Dass sie jedoch überhaupt zirkulieren - und dies in verschiedenen Ausführungen zu verschiedenen Zeiten -, zeigt sich bereits an den Varianten und Abweichungen, die sie in den verschiedenen Handschriften aufweisen. Insbesondere im Vergleich mit den Versionen des Recueil Pierre des Noyers zeigt sich deutlich die Instabilität der Texte. Als Hauptargument gegen jene These, dass es genau eine, definitive Guirlande de Julie vor der gleichnamigen Prachthandschrift gegeben habe, deren Abschrift durch Tallemant auf uns gekommen sei, dürfen jedoch jene ‚überzähligen‘ Stücke aus dem Ms 3135 der Recueils Conrart gelten, die nicht oder nur in einer sehr abweichenden Form in dem Ms 19142 vertreten sind. 2.2.3 Die „Guirlande de Julie“ in den Recueils Conrart (Ms 3135) Valentin Conrart ist bekanntlich ein mindestens ebenso eifriger Sammler von galanten Gelegenheitstexten wie Tallemant. Im Hinblick auf die Genese der Guirlande de Julie sind seine Recueils umso wertvoller, als Conrart im Unterschied zu Tallemant als enger Vertrauter von Montausier gelten darf. Der recueil, in dem sich die Textstrecke „La Guirlande de Julie“ befindet, ist allerdings insgesamt wenig aufschlussreich: Es handelt sich um ein höchst heterogenes Konvolut, sowohl in chronologischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die Gattungen der Texte, deren Spannweite von einem Inventaire des effets du S. Molan fait l’an 1589 über die Actes du Synode national des Eglises Reformées, tenu à Alençon en 1637 bis hin zu einer Reponse au factum de Madame l’abbesse d’Hyeres, par la Marquise de Rambouillet sa mère, en 1662 reichen. 104 Aus der direkten Umgebung, in der sich die galanten Verse der „Guirlande“ befinden, erschließt sich mithin weder eine ungefähre Datierung, noch lässt sich mit Sicherheit sagen, ob Conrart diese Textstrecke selbst angefertigt oder in Auftrag gegeben hat. Nachträgliche Annotierungen, die vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammen, zeugen von einem Vergleich zwischen der 104 Siehe Ms 3135 in der Bibliothèque de l’Arsenal, Paris. Biblio17_204_s005-419End.indd 213 11.06.13 10: 10 <?page no="214"?> 214 La Guirlande de Julie Guirlande de Julie, wie sie seit dem 18. Jahrhundert auf der Grundlage der Handschrift von 1641 publiziert wird, und diesen Gedichten, wobei 34 Stücke als fehlend sowie neun Texte als „unveröffentlicht“ vermerkt werden. Die Namen der Verfasser wurden nachträglich hinzugefügt, und in La Tulipe von Antoine Godeau wurde eine Abweichung gegenüber der Guirlande de Julie vermerkt. 105 Die Besonderheit der in den Recueils Conrart festgehaltenen „Guirlande de Julie“ sind jedoch die neun Texte, die nicht in der Prachthandschrift vertreten sind. Das erste Stück spielt mit dem sprechenden Namen der Schwertlilie, die im Französischen zur metaphorischen ‚Flamme‘ („flambe“) wird. 106 Es trägt den Titel Sur la Flambe. Gustave a Julie und entwickelt in dreizehn Strophen à vier Achtsilbern einen ‚flammenden‘, von petrarkistischen Bildern geprägten Monolog, der Gustav Adolf in den Mund gelegt wird. Es steht damit in einer Reihe mit anderen Texten, die zu Beginn der dreißiger Jahre auf die Bewunderung anspielen, die Mademoiselle de Rambouillet in dieser Zeit für den schwedischen König zur Schau trug. 107 So lässt sich dieses Gedicht zeitlich recht gut einordnen, da eine solche Pointe viele Jahre später deutlich weniger Sinn ergeben würde. Das zweite Stück, das nicht in der Prachthandschrift vertreten ist, erscheint in einer Variante auch in der Sammlung des Ms 19142. 108 Der Text bei Conrart lautet: Curieux Enfans d’esperance Belle troupe de mes Amans Ne vivez plus dans l’Ignorance Du sujet de mes changements Je cherche a me rendre embelie D’un si grand nombre de Couleurs Qu’il ne faille que de mes fleurs Pour la guirlande de Julie. 109 105 In Vers 19 wurden die Worte „Julie, si je t’eusse“ durchgestrichen und durch „miracle de nos jours si mes yeux t’eussent“ ersetzt (vgl. Anhang II, S. 412-413). Diese Abweichung findet sich in allen drei der hier untersuchten handschriftlichen Textstrecken, wo die Verse immer lauten: „Julie, si je t’eusse veüe/ Avec tous ces appas dont le Ciel t’a pourveüe/ Mon cœur n’eust point été leger.“ 106 Anhang II, S. 408-409. 107 Vgl. Vincent Voiture, „A Mademoiselle de Rambouillet, sous le nom du Roy de Suëde“, in: Les Œuvres de Monsieur de Voiture. Paris, A. Courbé 1650, S. 23. 108 Anhang II, S. 401. Bei Tallemant werden die acht auf sechs Verse verkürzt und einem gewissen Mauduit zugeschrieben. 109 Anhang II, S. 409. Biblio17_204_s005-419End.indd 214 11.06.13 10: 10 <?page no="215"?> 215 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) In dem Stück verschränken sich die Eigenschaften der Tulpe, die dafür bekannt ist, dass sie in vielen Farben blüht, und der agonale Charakter der Guirlande de Julie. Die Blume erklärt ihren Bewunderern den Grund für ihre Wechselhaftigkeit, die nicht etwa - wie es der Mythos will - auf der Metamorphose eines lebenslustigen, aber untreuen Jünglings beruhe, sondern strategischer Natur sei: Sie erlaube es der Tulpe, ihre Rivalinnen mit dem Argument auszustechen, dass eine Girlande, die ausschließlich aus ihresgleichen besteht, ebenso farbenfroh leuchtet wie ein Blumenkranz, in den verschiedene Sorten von Gewächsen eingeflochten sind. Des weiteren erscheinen folgende Verse weder in einer der anderen Textstrecken noch in der Prachthandschrift: ein Sechszeiler mit dem Titel En faveur de la Guyrlande de Julie, ein Vierzeiler über die Nelke („L’Œillet“), acht Verse über die Engelwurz („L’Angélique“), zwei Rosengedichte mit jeweils sechs Versen sowie noch einmal sechs Verse über die Hyazinthe. Diese Stücke entsprechen in ihrer enkomiastischen Tonlage sowie in ihrer Thematik den übrigen Blumengedichten der Guirlande. Der agonale Charakter der Verse tritt bei der Engelwurz hervor („De tant de fleurs que l’on vous donne/ Pour composer cette Couronne/ Celle que je vous viens offrir/ Vous sera la plus chere […]“), 110 und mehrere Blumen spielen auf ihre mythologische Herkunft an: Was den Rosen das Blut der Venus bedeutet, ist für die Nelke die Milch der Juno, die sie hat ersprießen lassen. Die Hyazinthe schließlich findet sich mit ihrem Schicksal ab, von einem liebestollen Gott erschlagen worden zu sein, seit sie damit rechnen darf, als Blume in die Girlande für Julie aufgenommen zu werden („Je gaigne plus de toy que je ne perds de luy“) 111 . Schließlich verzeichnet diese Textstrecke noch zwei Narzissen-Gedichte, die in abweichender Form auch in anderen Textstrecken auftauchen. Das erste Stück umfasst 14 Alexandriner, die ein Gedankenspiel entwickeln: 112 Was wäre aus dem gleichnamigen Jüngling der Mythologie geworden, wenn ihm Julie anstelle der Nymphe den Hof gemacht hätte? Lors que la Nymphe Echo fut reduitte en servage Et ressentit les traicts de ma vaine beauté Si de Julie elle eust eu le visage […] Die Antwort ist einfach: Julie hätte das Herz des Narziß im Fluge erobert und die Verwandlung nicht stattgefunden („Et la Nymphe eust trouvé ma conqueste facile/ Je ne serois pas fleur […]“). Doch hier beginnt sich die 110 Anhang II, S. 412. 111 Anhang II, S. 414. 112 Anhang II, S. 410. Biblio17_204_s005-419End.indd 215 11.06.13 10: 10 <?page no="216"?> 216 La Guirlande de Julie Blume zu besinnen und mit den Terzetten wird der gedankliche Umschwung eingeleitet: Je ne serois pas fleur, mais o doux changement Memorable destin d’un bien heureux Amant Agréable folie! Je triomphe en ma perte et deviens gloirieux De pouvoir vivre ainsy jusqu’au temps de Julie D’embellir sa guirlande & de plaire a ses yeux. Der Ausruf „Agréable folie! “ bezieht sich natürlich auf die narzisstische Eigenliebe, aber man ist dennoch versucht, diesen Halbvers auf den Text selbst zu projizieren, der an dieser Stelle nicht nur einen rhythmischen Akzent setzt, indem er den Leser über den verkürzten Vers stolpern lässt, sondern auch ein weiteres Gedankenexperiment einleitet. Denn wenn sich Narziß mit einer Nymphe vereinigt hätte, die nicht Echo, sondern Julie gewesen wäre, dann hätte sich sein Schicksal schon vor langer Zeit erfüllt. Die ‚Stolperstelle‘ in diesem Gedicht deutet mithin einen Liebesakt an, ohne dabei - wie es sich für eine galante Werbung gehört - die erotische Fiktion zu explizit werden zu lassen. Für ein Gelegenheitsgedicht, das noch dazu keine Gnade vor den Augen Montausiers gefunden hat, als er die Textauswahl für seine Guirlande de Julie traf, darf dieses Sonett als ein in sich stimmiges, im Hinblick auf seine Zwecke einwandfreies kleines Werk gelten, das über eine durchdachte Architektur und eine dynamische Bildlichkeit verfügt. Vor diesem Hintergrund ist man geneigt, die Version des Textes, die in dem Recueil Pierre des Noyers verzeichnet ist, entweder als eine Vorstudie oder als das wenig geglückte Ergebnis einer Überarbeitung zu beurteilen: 113 Die Struktur des Sonetts wird aufgelöst, ohne dass dadurch ein erkennbarer Gewinn entsteht. Während die ‚Quartette‘ übereinstimmen, treten an die Stelle der Terzette, deren Zusammenhalt in den Recueils Conrart durch einen Paarreim und einen Kreuzreim betont wird, zwei Alexandriner und zwei Achtsilber, die durch zwei Reimpaare ineinander verschränkt sind: Je ne serois pas fleur. Mais o doux changement Memorable destin d’une belle folie De pouvoir servir d’ornement A la guirlande de Julie. Auf der inhaltlichen Ebene geht außerdem die zeitliche Dimension einer Verwandlung verloren, die es dem Jüngling erlaubt, als Blume die Jahrhunderte zu überdauern, die zwischen ihm und Julie liegen. Der einzige Mehrwert, der sich in dieser Konstellation abzeichnet, ist die Tatsache, dass das Ge- 113 Anhang II, S. 415-416. Biblio17_204_s005-419End.indd 216 11.06.13 10: 10 <?page no="217"?> 217 La Guirlande de Julie als galantes Spiel (ab 1633) dicht mit den Worten „A la guirlande de Julie“ endet. Dass dies jedoch den Verlust der Struktur und der imaginativen Beweglichkeit des Sonetts nicht auszugleichen vermag, dürfte auch den Zeitgenossen nicht entgangen sein, so dass man gerne annehmen möchte, der Recueil Pierre des Noyers enthalte eine frühe Version des Textes, der im Laufe der Zeit an Präzision und Eleganz gewonnen hat. Andererseits liegt die textuelle Instabilität gerade im Wesen der literarischen Praxis des 17. Jahrhunderts, die die zeitgleiche Zirkulation verschiedener Versionen von Gedichten favorisiert, die manchmal nur aus der Erinnerung notiert und die immer wieder von neuem in Umlauf gebracht werden. Die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der Textgenese dürfte mithin den Zeitgenossen wohl eher fremd gewesen sein. Das letzte Gedicht, das in allen drei Textstrecken der „Guirlande de Julie“, jedoch nicht in der Prachthandschrift enthalten ist, liegt ebenfalls in zwei Versionen vor: Während die Verse in dem Ms 19142 und in dem Recueil Pierre des Noyers identisch sind, beinhalten die Recueils Conrart eine Variante dieses Textes. 114 Die in beiden Fällen alternierenden Verstypen sind bei Conrart so verteilt, dass auf drei Achtsilber drei Alexandriner folgen, was dem Gedicht einen statischen Charakter verleiht. Rien n’est esgal a ma douleur Bien que je ne sois qu’une fleur J’ayme la fille d’Artenice Aux flammes de ses yeux je me laisse esblouÿr Mais je suis sans espoir, car le sort de Narcisse Est d’aymer les objects dont il ne peut jouïr. In den beiden anderen Sammlungen ist der zweite Vers ein Alexandriner, wodurch die etwas steife Anordnung in zwei Versblöcke aufgebrochen wird. Zugleich werden die syntaktischen und prosodischen Strukturen anders aufeinander abgestimmt, so dass der Rhythmus dieser Version fließender ist als bei Conrart: Qu’amour se pleut en mon malheur Dans le triste destin qui me fit une fleur Il ne borne pas mon suplice Julie à tes beaux yeux je me laisse esblouir Mais j’ayme sans espoir. Car le sort de Narcisse Est d’aymer des obiects dont il ne peut jouir. Hier wird der erste Vers eindeutig zu einem Ausruf des Schmerzes. In den Recueils Conrart hingegen gibt es zwei Möglichkeiten, den Auftakt des Gedichtes zu interpretieren: Entweder liest man den ersten Vers ebenfalls als 114 Anhang II, S. 400, 413-414, 416. Biblio17_204_s005-419End.indd 217 11.06.13 10: 10 <?page no="218"?> 218 La Guirlande de Julie Ausruf, dem der erklärende Satz „Bien que je ne sois qu’une fleur/ J’ayme la fille d’Artenice“ folgt, oder man kombiniert die ersten Verse „Rien n’est esgal a ma douleur/ Bien que je ne sois qu’une fleur“ zu einem Satz, dem der Ausruf „J’ayme la fille d’Artenice“ folgt. Die syntaktische Instabilität hat zur Folge, dass neben dem ersten auch der dritte Vers hervorgehoben wird, in dem der galante Name Artenice (alias Marquise de Rambouillet) fällt. Dadurch scheint in dieser Version des Gedichtes die Figur der ‚doppelten Silhouette‘ auf, die im zweiten Teil dieser Studie als ein Charakteristikum des salon-writing (DeJean) herausgearbeitet wurde: Neben der expliziten Ansprache der Julie d’Angennes tritt die implizite Huldigung ihrer Mutter als der zweiten - oder sollte man sagen, der ersten? - prominenten Frauenfigur der Chambre bleue. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die in drei verschiedenen Handschriften vertretenen Textstrecken mit dem Titel „Guirlande de Julie“ insgesamt gegen die These einer ‚Ur-Girlande‘ sprechen. Wie im zweiten Teil dieser Studie gezeigt werden konnte, handelt es sich bei derartigen Strecken innerhalb heterogener Sammlungen um disparate, wenngleich in sich stimmige Zeugnisse eines bestimmten galanten Ereignisses. Um welches Ereignis handelt es sich jedoch im Falle der hier untersuchten Gedichte? Es stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Dass es sich hier um den Ereignischarakter eines galanten Spiels handeln könnte, legt der Brief Chapelains an den Comte de Fiesque nahe, in dem die italienische Ghirlanda erwähnt wird, die Montausier dazu angeregt hat, entsprechende Verse bei seinen Freunden und Bekannten in Auftrag zu geben. Einige der Verse, die sich in den Textstrecken versammeln, stammen auch tatsächlich aus den frühen dreißiger Jahren. Die Textstrecken selbst scheinen jedoch erst nach 1641 angelegt worden zu sein, als sich mit dem Titel La Guirlande de Julie bereits die Vorstellung einer Prachthandschrift verbindet, die sich im Besitz der Familie Rambouillet, später des Ehepaares Montausier befindet. Der Glanz dieses prestigeträchtigen Objekts, das 1641 der ältesten Tochter des Hauses Rambouillet zum Geschenk gemacht wurde, strahlt nun auf die einzelnen Gedichte zurück und fällt sogar auf jene, die nicht Eingang in die Handschrift gefunden haben. 115 Der 115 Dieses Ereignis stellt auch den Auftakt der Publikationsgeschichte dieser Verse dar: Eine Auswahl von 26 Madrigalen findet 1653 bekanntlich Eingang in den zweiten Band der Recueils de Sercy. Dieser Band wird als eine Zusammenstellung der besten Verse angekündigt, die die eigene Zeit zu bieten habe, wovon bereits die Guirlande de Julie Zeugnis ablege: „Il n’y a rien qui n’ait sa grace particulière; & c’est tout ce qui s’est fait de plus spirituel & de plus galant depuis que la Poësie est venuë à ce poinct de delicatesse où elle est maintenant. La Guirlande seule de Julie, est l’ouvrage des plus adroites mains de ce temps […].“ (Recueil de Sercy (vers) II, s.p.). Die erste integrale Publikation der Texte erfolgt 1729 im Anhang einer panegyri- Biblio17_204_s005-419End.indd 218 11.06.13 10: 10 <?page no="219"?> 219 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Ereignischarakter, auf den die beschriebenen Textstrecken verweisen, ist in diesem Fall derjenige des galanten Geschenks, in dem das galante Spiel im doppelten Sinne des Wortes ‚aufgehoben‘ ist. Die soziale Praxis, deren Spuren es nun zu folgen gilt, ist demnach nicht mehr mit der Einwerbung von Madrigalen gleichzusetzen, die nachweislich bereits im Jahre 1633 begonnen hat. Vielmehr geht es im Folgenden um die Entstehung eines Prestigeobjekts, eines sogenannten manuscrit d’apparat, dessen Repräsentationscharakter nicht allein in seiner textuellen sondern auch - oder mehr noch vor allem - in seiner künstlerischen Gestaltung liegt. 3 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Die kalligraphisch kunstvoll gestaltete und mit farbenprächtigen Miniaturen ausgestattete Handschrift, die Mademoiselle de Rambouillet im Jahre 1641 zum Geschenk gemacht wurde, ist vielfach beschrieben worden. Ihre wohl berühmteste Darstellung stammt von Tallemant des Réaux: Toutes les fleurs en estoient enluminées sur du velin, et les vers escrits sur du velin aussy, en suitte de chaque fleur, et le tout de cette belle escriture dont j’ay parlé. […] Le livre est tout couvert des chiffres de Mlle de Rambouillet. Il est relié de maroquin de Levant des deux costez, au lieu qu’aux autres livres il y a du papier marbré seulement. Il a une fausse couverture de frangipane. 116 Sieht man einmal von dem Duft der Frangipani-Blüte ab, der dem Geschenk entströmte und der mittlerweile natürlich verflogen ist, so steht dieser Lobgesang auf die Guirlande de Julie ganz im Zeichen des Visuellen. Die Kalligraphie von Nicolas Jarry und die gemalten Blumenportraits von Nicolas Robert bilden den Auftakt der Beschreibung. Auch dem wertvollen Einband und der feinen Textur des Pergaments, auf dem sowohl die Verse als auch die Miniaturen aufgetragen wurden, widmet Tallemant viel Aufmerksamkeit. Über die Gedichte selbst erfährt der Leser hingegen nicht viel, weder über ihren spielerischen Charakter noch über ihre symbolische Bedeutung. Die Betonung schen Abhandlung über das Leben des Duc de Montausier (La vie de M. le duc de Montausier… écrite sur les Mémoires de Mme la duchesse d’Uzès sa fille. par N*** [le P. Nicolas Le Petit]. Paris, Rollin 1729, S. 134), und die erste selbständige Publikation der Madrigale stammt von Didot, der sie im Jahre 1784 erstmalig zum Gegenstand eines Buches macht (La Guirlande de Julie, offerte à Mlle de Rambouillet, Julie- Lucine d’Angenes [sic], par M. le marquis de Montausier; avec une notice par M. de Gaignières. Paris, Imprimerie de Monsieur 1784). 116 Tallemant, Historiettes I, S. 461. Biblio17_204_s005-419End.indd 219 11.06.13 10: 10 <?page no="220"?> 220 La Guirlande de Julie der Materialität steht so offensichtlich im Vordergrund, dass man sich fragen darf, ob Tallemant die Handschrift überhaupt noch als Textsammlung wahrnimmt. In seiner Beschreibung wird sie zu einem Gesamtkunstwerk avant la lettre stilisiert, dessen visuelle, taktile und sogar olfaktorische Qualitäten die textuelle Dimension in den Hintergrund treten lassen. Der Autor dieses Portraits en miniature lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei der Guirlande de Julie um ein Prestigeobjekt handelt. Diese Handschrift soll vorgezeigt, betrachtet und bewundert werden. Zum Verständnis ihrer repräsentativen Funktion, so lautet die Botschaft dieser Beschreibung, ist die Lektüre der Texte nicht absolut notwendig. Die folgenden Überlegungen setzen sich mit dieser Handschrift als einem komplexen, in seiner Funktion und Medialität heterogenen Gegenstand auseinander. Aus einem galanten Spiel und literarischen Florilegium wird 1641 ein Objekt, das von seinen Besitzern immer wieder zur Schau gestellt werden kann. Zu dieser fundamentalen Akzentverschiebung, die das Album anderen manuscrits d’apparat, insbesondere aus dem hochadligen Kontext, vergleichbar macht, haben die Künstler Nicolas Jarry und Nicolas Robert maßgeblich beigetragen. Die vorliegende Untersuchung widmet ihnen erstmals die ihnen gebührende Aufmerksamkeit; zuvor gilt es allerdings, die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des von ihnen geschaffenen Gegenstandes zu beleuchten. Dies ist insofern unvermeidlich, als die Literatur, die von einer interessierten Leserschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Guirlande de Julie konsultiert werden kann, sehr unübersichtlich ist. Insbesondere vermittelt sie den hier zu korrigierende Eindruck, von dieser Handschrift seien insgesamt vier ‚Originale‘ überliefert. 3.1 Überlieferungsgeschichte(n) der Guirlande de Julie 3.1.1 Eine Handschrift in zweifacher Ausführung: Das Exemplar in-folio und das Exemplar in-8° Die Handschrift, die von Tallemant als „une des plus illustres galanteries qui ayent jamais esté faittes“ (ebd.) beschrieben wird, befindet sich seit 1989 in der Bibliothèque nationale de France. 117 Zumindest lassen Material, Form und Gestalt dieses Gegenstandes darauf schließen, dass es sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit um das Album handelt, das Mademoiselle de Rambouillet im Jahre 1641 zum Geschenk gemacht wurde: Auf dem doppelten Einband aus rotem Leder erscheinen die ineinander verschlungenen goldenen Lettern J und L, die für Julie-Lucine stehen und diese bereits auf den ersten Blick als die Eigentümerin des Buches ausweisen. Sie 117 BNF, Paris, Ms NAF 19735. Biblio17_204_s005-419End.indd 220 11.06.13 10: 10 <?page no="221"?> 221 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) werden durch den Titel auf dem vierten Blatt der Handschrift als die Initialen der Geehrten erkennbar, da hier ausdrücklich der doppelte Vorname von Mademoiselle de Rambouillet genannt wird: „La Guirlande de Julie. Pour Mademoiselle de Rambouillet. Julie-Lucine d’Angenes [sic]. Escript par N. Jarry, MDCXLI“. Das fünfte Blatt wiederholt den Titel „La Guirlande de Julie“, diesmal jedoch umrahmt von einer Blumengirlande. Auf dem siebten Blatt erscheint das Bild eines pausbäckigen Knaben, der den milden Frühlingswind Zéphire darstellen soll und sanft auf eine weitere Blumengirlande in seiner linken Hand bläst, so dass sich die einzelnen Blumen aus dem Flechtwerk lösen und über die Erde verteilt werden. Das Madrigal „Zéphire à Julie“ auf dem achten Blatt soll auf dieses Bild zurückverweisen und zugleich den Reigen der Blumengedichte eröffnen, die nun folgen. Sie sind so angeordnet, dass alle Gedichte, die einer bestimmten Blume gewidmet sind, aufeinander folgen, wobei ihnen ein gemaltes Portrait dieser Blume vorangestellt wird. Da sowohl die 61 Madrigale als auch die 29 Miniaturen jeweils die Vorderseite eines Blattes einnehmen, besteht der Hauptteil der Guirlande de Julie insgesamt aus 90 Blatt festen Pergamentpapiers. Ein Inhaltsverzeichnis, das die Versanfänge der Madrigale in alphabetischer Reihenfolge sowie den Titel des jeweiligen Gedichtes und seinen Autor auflistet, bildet den Abschluss der Handschrift. Die verschiedenen Stationen ihrer Überlieferungsgeschichte sind nicht leicht nachzuvollziehen. Als gesichert darf gelten, dass sie bis zum Tode der Duchesse d’Uzès, der Tochter des Duc und der Duchesse de Montausier, im Familienbesitz war. Eine undatierte handschriftliche Notiz in der Handschrift belegt außerdem, dass Charles d’Orléans, Abbé de Rothelin (1691-1744), ihr Eigentümer war, der sie wiederum Claude Gros de Boze (1680-1753) zum Geschenk machte. Auf der dritten von insgesamt sechs weißen, dem Titel vorausgehenden Seiten liest man: „Je prie Monsieur de Boze de vouloir bien accepter le présent Livre & le placer dans son magnifique Cabinet comme une marque de ma tendre amitié. L’Abbé de Rothelin“. Die nächste sichere Spur der Handschrift taucht erst rund dreißig Jahre nach dem Tod von Claude Gros de Boze auf: Im Jahr 1779 gibt die Imprimerie de Didot l’ainé ein schmales Bändchen mit dem Titel Notices historiques et critiques des deux manuscrits uniques et très-précieux de la bibliothèque de M. le Duc de La Vallière, dont l’un porte le titre: La Guirlande de Julie, et l’autre, Recueil de fleurs et insectes, peints par Daniel Rabel, en 1624 heraus, in dem der Bibliothekar des Herzogs, ein gewisser Abbé Rive, eine detaillierte Beschreibung der Handschrift liefert, die darauf schließen lässt, dass er sie vor Augen hatte. 118 Seine Aussage, dass 118 Rive, Jean-Joseph (1730-1791), Notices historiques et critiques de deux manuscrits uniques et très précieux de la bibliothèque de M. le Duc de La Vallière, dont l’un a pour titre: Biblio17_204_s005-419End.indd 221 11.06.13 10: 10 <?page no="222"?> 222 La Guirlande de Julie das Werk zu diesem Zeitpunkt zu den Beständen der Bibliothek des Duc de La Vallière zählt, wird durch die detaillierte Beschreibung von Guillaume Debure gestützt, der die Handschrift 1783 in seinen Katalog dieser Bestände aufnimmt. 119 Es handelt sich um einen Verkaufskatalog, denn in den Jahren 1783 und 1784 wird die herzogliche Bibliothek sukzessive aufgelöst, und von da an verliert sich die Spur der Guirlande de Julie erneut. Die französische Nationalbibliothek erwirbt sie mit Unterstützung durch den Fonds du Patrimoine du Ministre de la Culture von den Erben der Duchesse d’Uzès, wobei ungeklärt ist, wann genau und unter welchen Umständen die Handschrift wieder in diesen Familienbesitz gelangt war. 120 Erschwert wird der Nachvollzug dieser Odyssee außerdem durch die Existenz weiterer Handschriften. Eine zweite, weniger aufwendige Ausführung der Guirlande de Julie wurde ebenfalls von Montausier bei dem Kalligraphen Nicolas Jarry in Auftrag gegeben. Auch dieses Exemplar ist in rotes Leder gebunden und mit den Initialen der Mademoiselle de Rambouillet - den ineinander verschlungenen Buchstaben J und L, die für Julie-Lucine stehen - verziert. Im Unterschied zur Prachthandschrift verzichtete Montausier hier jedoch auf die künstlerische Ausgestaltung durch Nicolas Robert. Die Quellen referieren auf diese Handschrift, über deren aktuellen Verbleib keine gesicherten Aussagen gemacht werden können, als die Guirlande de Julie in-8°, während es sich bei der Handschrift, die Mademoiselle de Rambouillet zum Geschenk gemacht wurde, um ein in-folio handelt. Es steht zu vermuten, dass Montausier die Handschrift in-8° für sich selbst anfertigen ließ, und dass „La Guirlande de Julie“ et l’autre „Recueil de fleurs et insectes, peints par Daniel Rabel en 1624“. Paris, Didot l’aîné 1779. 119 Catalogue des livres de la bibliothèque de feu M. le Duc de La Vallière. Première partie contenant les manuscrits, les premières éditions, les livres imprimés… dont la vente se fera dans les premiers jours du mois de décembre 1783. Hg. von Guillaume De Bure, fils aîné, Paris, chez Guillaume De Bure, fils aîné […] 1783. Offenbar verzögerte sich der Verkauf, denn ein Jahr später werden die Manuskripte mit dem Titel La Guirlande de Julie noch einmal angeboten in: Supplément à la première partie du catalogue des livres […]. Paris, Guillaume de Bure, 1784. 120 Der Aussage Charles Livets zufolge wurde sie schon vor 1826 von der Familie zurückgekauft (vgl. Charles Livet, Précieux & Précieuses. Caractères et mœurs littéraires du XVII e siècle. Paris, Ressouvenances 2001 [erstmals Paris, Welter 1895], S. 390-391). Ob es sich um genau dieses Datum und um einen ‚Kauf‘ der Handschrift handelt, bleibt fraglich. Dass die Handschrift schon früh wieder in den Familienbesitz überging, ist jedoch vor dem Hintergrund der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Haus La Vallière und dem Haus Uzès sehr wahrscheinlich, heiratete doch die letztlich einzige Erbin des Herzogs, seine Enkelin Mademoiselle de Châtillon, im Jahre 1777 den (späteren) Duc d’Uzès. Die heutigen Nachkommen des Hauses Uzès stammen ausnahmslos aus dieser Verbindung. Biblio17_204_s005-419End.indd 222 11.06.13 10: 10 <?page no="223"?> 223 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) beide Handschriften nach der Eheschließung zunächst im Familienbesitz waren, bevor sie erst in die Bibliothek des Abbé de Rothelin und dann in diejenige des Duc de La Vallière gelangten. Der Abbé Rive lässt seiner ausführlichen Beschreibung der Handschrift in-fol eine kurze Notiz folgen, in der er auf die Handschrift in-8° eingeht: La Guirlande de Julie. Pour Mademoiselle de Rambouillet Julie-Lucine d’Angenes. Escript par N. Jarry, 1641, in-8°, maroquin rouge. Manuscrit sur vélin. Il vient de la Bibliothèque de l’Abbé de Rothelin, dont il porte les armes gravées en taille-douce, imprimées sur papier, & collées sur l’intérieur du premier carton de la couverture. Il n’est cependant pas indiqué dans son Catalogue. Il a été apparemment donné à M. de Boze en même temps que l’in-fol. Il est la copie in-8° que le Baron de Sainte-Maure fit exécuter par N. Jarry […]. Elle ne contient aucune fleur. Son écriture est la bâtarde. Il y a à la tête le titre que nous avons raporté. Son corps commence à la page 3, par le Madrigal de Zéphire à Julie. Il finit à la page 70. Il est suivi d’une Table de cinq feuillets, dressée comme celle de L’in-fol. 121 Obwohl er dem in-8° ungleich weniger Aufmerksamkeit widmet als dem in-folio, lässt diese Beschreibung doch darauf schließen, dass der Abbé Rive auch dieses Werk mit eigenen Augen gesehen hat. 122 Seine Hypothese, es handle sich bei beiden Handschriften um ‚Originale‘, die auf der textuellen (und kalligraphischen) Ebene übereinstimmen, 123 wird außerdem dadurch gestützt, dass eine Abschrift des in-8° aus dem Jahre 1715 erhalten ist, die in dem sogenannten Recueil Maurepas überliefert wurde und weitgehend mit dem Text des in-folio übereinstimmt. 124 121 Rive, Notices historiques, S. 14. 122 Auch hier wird seine Aussage durch den Verkaufskatalog von Guillaume Debure gestützt, in dem auch dieses Exemplar der Guirlande angekündigt und beschrieben wird. 123 „Jarry en fit deux copies; l’une in-fol. & en lettres rondes, & l’autre in-8° & en lettres bâtardes. Elles sont datées toutes deux de l’an 1641. […] Le Baron de Sainte-Maure fit relier l’une & l’autre en maroquin rouge, & fit semer le dedans & le dehors de leur couverture du chiffre de celle à laquelle il les destinoit. Mais les fleurs de Robert ne furent jointes qu’à la copie qui est in-fol.“ (Rive, Notices historiques, S. 14). 124 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 12616, vol. I, S. 527. Die Abschrift unterscheidet sich von der Prachthandschrift in drei Punkten. 1. Incipit „Quand je voy vos beaux yeux“ (Le Narcisse, vgl. Anhang I, S. 384) - Vers 5: „Chacun scait toutefois comme elle m’a perdu“; 2. Incipit „Que j’ay de gloire à cette fois“ (Les Lys, vgl. Anhang I, S. 389) - Vers 1: „Que j’ay d’honneur à cette fois“; 3. Incipit „Je suis l’Amante, et l’Image“ (Le Soucy sous le nom de Clytie, vgl. Anhang I, S. 393) - Vers 12: „Je n’exalte point sa naissance“. Biblio17_204_s005-419End.indd 223 11.06.13 10: 10 <?page no="224"?> 224 La Guirlande de Julie Zusammenfassend lässt sich festhalten: Verschiedene Quellen bezeugen glaubhaft, dass es zwei Handschriften gegeben hat, deren aufwendig gestaltete Ledereinbände die Initialen der Mademoiselle de Rambouillet tragen, deren Textkörper auf Pergamentpapier so gut wie identisch sind, die im Jahre 1641 von Montausier in Auftrag gegeben und von Nicolas Jarry ausgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, sie auf der Ebene der Überlieferungsgeschichte als einander gleichberechtigte erste Ausführungen der Guirlande de Julie zu betrachten. Anders verhält es sich jedoch mit Exemplaren, die in der Literatur und in bibliophilen Katalogen unter dem Titel La Guirlande de Julie Erwähnung finden, ohne dass man über ein vergleichbares Maß an Informationen über sie verfügt. Die Abschrift aus dem Recueil Maurepas weist bereits auf die Schwierigkeit hin, die mit der Überlieferung des bloßen Titels solcher Exemplare verbunden ist: Offensichtlich existierten - und existieren wie im Falle des Recueil Maurepas noch heute - Kopien der Handschriften in-folio und in-8°, die von Montausier in Auftrag gegeben wurden. Wie viele von diesen Kopien zirkulierten und möglicherweise bis heute im Umlauf sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dass von einer derartigen Zirkulation ausgegangen werden muss, lassen die Publikationen der Verse aus dem 18. und vor allem dem 19. Jahrhundert vermuten, in deren Annotationen und Begleittexten sich die ‚Ur-Handschriften‘ der Guirlande de Julie nach und nach ‚vermehren‘: In einem Vorwort aus dem Jahre 1784, das Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein wird, ist bereits die Rede von einer dreifachen Ausführung, in seiner durch Anmerkungen ergänzten Version aus dem Jahre 1907 geht man von insgesamt vier ‚originalen‘ Handschriften aus. Dieses Vorwort ist mit Vorsicht zu genießen, zumal es sich zu einem ständigen Begleiter der unter dem Titel La Guirlande de Julie gedruckten Gedichtbände entwickelt hat, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt werden. 3.1.2 Das polymorphe Vorwort von 1784 und seine Metamorphosen im 19. Jahrhundert Im Jahre 1784 gibt Pierre-François Didot der Jüngere die erste selbständige Publikation der Texte der Guirlande de Julie in der von ihm geleiteten Imprimerie de Monsieur heraus. 125 Den Madrigalen geht der hier zu untersuchende Begleittext voraus, der spätestens nach seiner Konsekration durch Charles Nodier in keiner Ausgabe der Guirlande de Julie mehr fehlt. In der von ihm betreuten Ausgabe aus dem Jahre 1826 schreibt Nodier: 125 Diese Publikation wurde digitalisiert und kann unter www: / / books.google.com/ eingesehen werden. Im Folgenden zitiert als [Guirlande 1784]. Biblio17_204_s005-419End.indd 224 11.06.13 10: 10 <?page no="225"?> 225 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Quoique la Notice de M. de Gaignières, imprimée dans le Supplément à la première partie du Catalogue de la Vallière, et reproduite dans la jolie édition de La Guirlande de Julie (Didot), 1784, in-8°, soit rédigée d’une manière assez confuse, j’ai pensé qu’il y auroit quelque pédantisme à la remplacer par une autre. 126 Mit diesen Worten gibt er einem Begleittext seinen Segen („j’ai pensé qu’il y auroit quelque pédantisme à la remplacer par une autre“), der - wie er selbst andeutet („rédigée d’une manière assez confuse“) - mehr zur Konfusion des Lesers als zur Klärung der Überlieferungssituation beiträgt. Die Schwierigkeit beginnt schon damit, dass der Text über weite Strecken gar nicht von dem Sammler Roger de Gaignières stammt. Der anonyme Autor von 1784 übernimmt zwar viele Passagen aus einer Notiz, die tatsächlich Gaignières zugeschrieben wird und in demselben Jahr auch in dem Supplementband des bereits erwähnten Verkaufskataloges von Debure zitiert wird. Dies gibt unser Anonymus auch wahrheitsgemäß an: Notice sur la Guirlande de Julie, faite sur la fin du dernier siècle, par M. de Gaignières, qui en a été un des possesseurs. Cette Notice est extraite du Supplément à la première partie du Catalogue des Livres rares et précieux de feu M. le Duc de La Vallière, rédigé par Guillaume Debure fils ainé, qui en a fait la vente depuis le 12 janvier jusqu’au 5 mai 1784. 127 Schlägt man in besagtem Supplement des Verkaufskataloges anlässlich der Auflösung der Bibliothek des Duc de La Vallière nach, so stellt man jedoch fest, dass der Text, den der Verleger Debure hier abgedruckt und mit Fußnoten versehen hat, nur teilweise mit dem anonymen Vorwort der 1784 bei Didot unter dem Titel La Guirlande de Julie veröffentlichten Gedichte identisch ist. Tatsächlich setzt sich dieses Vorwort nämlich aus verschiedenen Quellen zusammen, die nicht alle ausgewiesen werden: In diesem Vorwort verschränken sich Passagen aus der Notiz von Gaignières (Entstehungszeit ca. 1700) 128 mit den Fußnoten von Debure (1784) sowie weiteren Ergänzungen und Interpretationen, die von dem anonymen Autor selbst stammen (1784). Hinzu kommt außerdem jene erste Beschreibung der Handschrift durch den 126 La Guirlande de Julie, offerte à Mademoiselle de Rambouillet, par M. de Montausier; remarques préliminaires de Charles Nodier et une notice sur la Guirlande de Julie par M. de Gaignières. Paris, N. Delangle 1826. Im Folgenden zitiert als [Guirlande 1826]. 127 Guirlande 1784, S. v. 128 Das genaue Entstehungsdatum dieses Textes ist nicht bekannt. Da Gaignières jedoch angibt, Ende des 17. Jahrhunderts im Besitz der Guirlande de Julie gewesen zu sein (wobei aus seiner Aussage nicht hervorgeht, ob es sich um das in-folio oder das in-8° handelt), lässt sich sein Text ungefähr datieren. Biblio17_204_s005-419End.indd 225 11.06.13 10: 10 <?page no="226"?> 226 La Guirlande de Julie Abbé Rive (1779), die als sehr verlässlich gelten darf und auf die bereits hingewiesen wurde. Das Ergebnis ist ein schwer zu durchdringendes Amalgam, in dem sich das Faktenwissen der Vorgänger mit nicht als solche kenntlich gemachten Interpretationen des anonymen Autors vermischt, so dass der Eindruck entsteht, man habe es hier durchgängig mit gesicherten Erkenntnissen zu tun. Letztere wird man vor dem Hintergrund der Zitierpraxis des Anonymus jedoch in Frage stellen, zumal an jenen Stellen, an denen dieser von seinen Quellen abweicht, die für sich genommen durchaus glaubwürdig sind. Das Vorwort beginnt mit einigen einführenden Sätzen von Gaignières, der hier kurz auf die Entstehung der Guirlande de Julie eingeht. An diese Eröffnung, die sich darauf beschränkt, die galante Geste des Duc de Montausier und sein Geschenk für Mademoiselle de Rambouillet zu erwähnen, schließt sich die materielle Beschreibung der Handschrift durch den Abbé Rive an. Der Leser wird jedoch nicht darauf aufmerksam gemacht, dass hier nicht mehr die um 1700 verfasste Notiz Gaignières zitiert wird. Das ist insofern irreführend, als die Beschreibung der Handschrift mit einem Inhaltsverzeichnis der Guirlande de Julie endet, das 1779 von dem Abbé Rive angelegt und 1784 von den Herausgebern des Gedichtbandes übernommen wurde. 129 Da an dieser Stelle des Vorwortes jedoch offiziell immer noch Gaignières ‚spricht‘, sieht es für den uneingeweihten Leser so aus, als sei dieses Inhaltsverzeichnis noch im 17. Jahrhundert entstanden. 130 Ähnlich fahrlässig verfährt der Anonymus mit den Fußnoten, die Debure in seinem - von dem Autor als Quelle angegebenen - Verkaufskatalog dem Text Gaignières’ hinzugefügt hat. 131 Kommentarlos wird hier eine Anmerkung in den Fließtext verschoben, in der auf die erste Veröffentlichung der Guirlande de Julie aus dem Jahre 1729 hingewiesen 129 Dem Abbé gefiel die ursprüngliche Version dieses Inhaltsverzeichnisses nicht, da es die Versanfänge in alphabetischer Reihenfolge aufführt, was bedeutet, dass jede Blume mehrfach genannt wird. Daher erstellt er für seine Beschreibung der Handschrift ein eigenes Verzeichnis, das nach Blumengattungen geordnet ist: „Ce Volume est terminé par une Table alphabétique qui n’est du tout point commode. Elle est dressée selon l’ordre des premieres lettres de chaque Madrigal: de-là vient que le nom de la même fleur y est représenté plusieurs fois, & qu’on n’y voit pas, d’un seul coup-d’œil, toutes les pieces qui ont été faites sur elle. Nous avons corrigé ce défaut en dressant celle [la table, S.B.] qui suit.“ (Rive, Notices historiques, S. 4). 130 Der anonyme Autor des Vorworts begnügt sich damit, den Satz seiner Quelle („Nous avons corrigé ce défaut en dressant celle [la table, S.B.] qui suit.“) stillschweigend abzuändern: „Nous avons corrigé ce défaut, en substituant à cette Table défectueuse celle qui a été faite par M. l’abbé Rive“. Der mit dem Namen des Abbé unvertraute Leser wird auf diese Weise nicht auf den Gedanken kommen, dass dieses Inhaltsverzeichnis mehr als ein Jahrhundert später entstanden ist. 131 Guirlande 1784, S. ix. Biblio17_204_s005-419End.indd 226 11.06.13 10: 10 <?page no="227"?> 227 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) wird, die Gaignières noch nicht kennen konnte und die im Anhang einer hagiographischen Biographie des Duc de Montausier erschienen war. 132 So ärgerlich diese Verfahrensweise sein mag - schließlich ragen hier verschiedene Zeitebenen ineinander -, so richtet sie doch an dieser Stelle noch keinen Schaden an. Dem Leser werden hier immerhin gewisse Informationen zur Verfügung gestellt, wenn auch nicht in der Reihenfolge, in der sie einmal gewonnen wurden. Demjenigen, der sich die Mühe macht, unter der angegebenen Quelle nachzuschlagen, erschließt sich das Mosaik der Zitate aber sehr schnell. Anders verhält es sich jedoch mit der letzten Passage des Vorworts, die von dem anonymen Autor selbst formuliert wurde und in der insbesondere eine scheinbar gesicherte Erkenntnis auftaucht, die für die Überlieferungsgeschichte der Guirlande de Julie Konsequenzen haben wird. Es handelt sich um die Behauptung, die Handschrift habe ursprünglich in dreifacher Ausführung vorgelegen: „Nicolas Jarry, écrivain inimitable du dernier siécle, fit trois manuscrits de la Guirlande de Julie dans la même année 1641, savoir, un in-folio, un in-4°, et un in-8°.“ 133 Diese Behauptung findet bis heute ihren Niederschlag in renommierten Studien, 134 was der Selbstverständlichkeit geschuldet ist, mit der sie in diesem Vorwort von 1784 aufgestellt wird. Bei dem ominösen in-4°, über dessen Verbleib heute nichts bekannt ist und das sich hier zu den Exemplaren gesellt, die von Montausier in Auftrag gegeben wurden, handelt es sich jedoch um eine Handschrift, deren Existenz von weit weniger Quellen bezeugt wird als dies zum Beispiel für das in-8° der Fall ist. Diejenigen Quellen, die von einer Guirlande de Julie in-4° berichten, beschränken sich darüber hinaus auf die Erwähnung des Titels, des Zusatzes „Escript par N. Jarry“ und der Jahreszahl 1641 sowie die Angabe des Formats. 135 Eine ausführliche Beschreibung ihrer Materialität und ihres Inhalts, wie sie für das in-fol und auch noch für das in-8° vorliegt, sucht man in diesen Quellen vergeblich. Erst das Vorwort von 1784 liefert folgende Hinweise für eine Identifizierung, die über das bloße Format hinausgehen: 132 La vie de M. le duc de Montausier. 133 Guirlande 1784, S. xiv. Die Bezeichnung Jarrys als ‚écrivain‘ irritiert, ist jedoch nicht als Fehlinformation einzustufen, da auch die Zeitgenossen manchmal von ‚écrivain‘ sprechen, wenn sie ‚maître écrivain‘ - also Schreib- oder Schriftkünstler - meinen. 134 Vgl. Lopez, La plume et l’épée, S. 122-126; Magne, Voiture et l’hôtel de Rambouillet. Les Années de gloire, S. 220. 135 Catalogus librorum viri nobilis D. equitis D. B***. Parisiis, [s. n.] 1726, S. 70; Catalogue des livres de la bibliothèque de feu François-César Le Tellier, marquis de Courtanvaux […]. Paris, Nyon l’aîné 1782, S. 114; Catalogue des livres de M. le président Crozat de Tugny […]. Paris, Thiboust 1751, S. 119. Biblio17_204_s005-419End.indd 227 11.06.13 10: 10 <?page no="228"?> 228 La Guirlande de Julie Il est de la propre main de Jarry, sur papier in-4° à longues lignes, et contient cinquante-trois feuillets très-bien écrits, en lettres bâtardes: il paroît avoir été l’esquisse et le modèle de celui in-folio, présenté à Mademoiselle de Rambouillet. Il est passé à sa vente entre les mains de P.Fr. Didot, Imprimeur de Monsieur. 136 Man mag sich zu Recht fragen, wie der Autor auf den Gedanken kommt, dass es sich bei dem in-4° um eine Skizze Jarrys handelt. Hatte er doch ein Exemplar dieser Schrift vor Augen? Ein Blick in den Verkaufskatalog von Debure zeigt jedoch, dass dem nicht so ist. Vielmehr handelt es sich erneut um ein Zitat, das nicht als solches ausgewiesen wurde. Debure erklärt nämlich in einer seiner Fußnoten, die er der Notiz von Gaignières an die Seite stellt: […] La Guirlande de Julie, annoncée avec la date de 1641, in-4° dans le Catalogue des livres de M. le Président Crozat de Tugny, Paris 1751, page 119, num. 1316, n’étoit pas imprimée, mais manuscrite; c’est ce qui n’a pas été observé par le redacteur de ce Catalogue. Ce MS paraît avoir été l’esquisse fait par Jarry lui-même, de celui qu’il ecrivit sur vélin in-fol. pour être offerte à Mademoiselle de Rambouillet. Il est sur papier in-4°, à longues lignes, très bien écrit, et contient 53 feuillets. 137 Er stellt hier genau jene Informationen bereit, die der anonyme Autor unseres Vorworts übernimmt. Im Unterschied zu diesem Text lässt sich Debures Anmerkung jedoch weiter kontextualisieren: Es geht ihm darum zu zeigen, welche Publikationen der Verse der Guirlande de Julie bis dato vorliegen, und er will an dieser Stelle darauf hinaus, dass die Veröffentlichung von 1729, die im Anhang der Biographie von Montausier erschienen ist, die einzige ist. Darum legt er auch solchen Wert darauf, dass sich der Herausgeber des Catalogue des livres de M. le Président Crozat de Tugny, in dem das in-4° aufgeführt wird, geirrt habe, als er es bei den Druckwerken einordnete. 138 Wo Debure also einen konkreten Sachverhalt (die Handschriftlichkeit des in-4°) durch eine, seine Argumentation stützende Interpretation ergänzt (‚Es scheint sich um einen Entwurf von Jarry zu handeln‘), für die es noch nicht unbedingt der Beweisführung bedarf, stellt der anonyme Autor des Vorwortes von 1784 dreist eine Behauptung in den Raum (‚Jarry fertigte drei Exemplare der 136 Guirlande 1784, S. xiv. 137 Supplément à la première partie du catalogue des livres, S. 59. 138 Außerdem stellt die Fußnote Debures eine Antwort auf die bibliographische Notiz des Abbé Rive dar, der die Existenz dieses in-4° grundsätzlich in Frage gestellt hatte: „On voit dans celui [le catalogue, S.B.] de M. de Tugny une édition imprimée des Madrigaux de cette Guirlande, en 1641 in-4°. Si cette édition existe, elle n’est pas indiquée dans le Catalogue imprimé des livres de Belles-Lettres du Roi, & il n’y en a aucun exemplaire dans la Bibliothèque de M. le Duc de La Vallière.“ (Rive, Notices historiques, S. 3) Biblio17_204_s005-419End.indd 228 11.06.13 10: 10 <?page no="229"?> 229 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Guirlande de Julie an‘), die alles andere als selbstverständlich ist. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich hier um eine weitere Ausführung der Handschrift durch die Hand Jarrys handelt. Doch solange weder Beweise noch Gegenbeweise zu erbringen sind, sollte man den Status des in-4° nicht mit demjenigen des in-fol und des in-8° gleichsetzen, ist doch nicht zuletzt die Vorstellung, dass ein professioneller maître écrivain wie Jarry die Gesamtheit der Madrigale zu Übungszwecken und auf eigene Kosten abschreibt, bevor er sich an die Ausführung der Auftragsarbeiten macht, wenig überzeugend. Angesichts der Quellenlage liegt die Vermutung weitaus näher, dass das in-4° nachträglich angefertigt wurde, wobei der Kopist zunächst das Titelblatt wortgetreu abschrieb, auf dem zu lesen steht: „Escript par N. Jarry. MDCXLI“. Das Vorwort von 1784 wird in den folgenden Jahren immer wieder zitiert und seinerseits annotiert sowie interpretiert. Auf die Würdigung durch Nodier aus dem Jahre 1826 ist bereits hingewiesen worden. Zuvor findet es sich bereits in einer Ausgabe der Verse der Guirlande von 1818 139 und wird 1824 von Pierre-Joseph Amoreux in der von ihm betreuten Edition über weite Strecken paraphrasiert. 140 Nach der Stellungnahme Nodiers fühlen sich die drei folgenden Herausgeber der Gedichte der Guirlande de Julie - Charles L. Livet (1856), Octave Uzanne (1875) und Adolphe Van Bever (1907) - geradezu verpflichtet, das Vorwort von 1784 abzudrucken. 141 Im Unterschied zu ihren Vorgängern lassen sie es jedoch nicht unkommentiert, sondern fügen dem Text ihre eigenen Anmerkungen hinzu. Leider ist damit nicht viel gewonnen, im Gegenteil: Während man angesichts der fehlenden Belege im Text des Anonymus leicht mißtrauisch werden und auf den Gedanken kommen konnte, dass sich hier gesicherte Erkenntnisse und Interpretationen durch den Autor vermischen, wiegt einen der Fußnotenapparat dieser Editionen in Sicherheit. Problematisch ist vor allem Van Bevers kommentierter Wiederabdruck des Vorworts. Ihm wird man am ehesten vorwerfen müssen, mit seinen Anmerkungen dem Leser einen wissenschaftlichen Quellennach- 139 La Guirlande de Julie, offerte à Mlle de Rambouillet Julie Lucine d’Angenes, par le Marquis de Montausier. Paris, l’imprimerie de Didot jeune 1818. 140 La Guirlande de Julie. Expliquée par de nouvelles annotations sur les madrigaux et sur les fleurs peintes qui la composent, par M. Amoreux […]. Paris, Gabon 1824. 141 La Guirlande de Julie. Augmentée de documents nouveaux, publiée avec notice, notes et variantes, par Octave Uzanne. Paris, Librairie des bibliophiles 1875; La Guirlande de Julie. Augmentée de pièces nouvelles, publiée sur le manuscrit original avec une notice de Gaignières et de Bure et des notes par Ad. Van Bever. Paris, Sansot 1907 (Petite bibliothèque surannée). Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert als [Guirlande 1907]. Die Publikation von Charles Livet erscheint im Textanhang seiner Studie Précieux et précieuses: caractères et mœurs littéraires du XVII e siècle, die 2001 neu aufgelegt wurde (Cœuvres-et-Valsery, Ressouvenances). Biblio17_204_s005-419End.indd 229 11.06.13 10: 10 <?page no="230"?> 230 La Guirlande de Julie weis zu suggerieren, der sich beim näheren Hinsehen als substanzlos erweist. So versieht er vor allem solche Behauptungen des Anonymus mit bibliographischen Hinweisen, in denen jener eine Aussage über den Verbleib der Prachthandschrift macht. Wird beispielsweise ein gewisser Chevalier de B*** als zeitweiliger Besitzer des in-folio genannt, so verweist Van Bever den Leser in einer Fußnote auf den Catalogus librorum viri nobilis von 1726, 142 der eine Bestandsaufnahme der Bibliothek des Chevalier de B*** enthält und unter der Ordnungszahl 785 tatsächlich den Titel La Guirlande de Julie aufführt. Allerdings handelt es sich gerade nicht um das in-folio, sondern abermals um ein in-4°, das möglicherweise - aber auch dies bleibt eine Vermutung - mit demjenigen übereinstimmt, von dem an anderer Stelle so viel die Rede ist. Zwei Zeilen weiter erwähnt der anonyme Autor des Vorwortes von 1784 den Architekten Jules-Robert de Cotte, in dessen Besitz das in-folio gewesen sein soll. Van Bever liefert in seiner Fußnote einige biographische Informationen zu dieser Person, die Zugang zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft hatte und u.a. für die Ausstattung der königlichen Bibliothek verantwortlich war. 143 Die bibliographische Angabe, die er dieser Kurzbiographie des Architekten folgen lässt, bezieht sich auf diese Informationen und mithin nicht, wie man aus dem Kontext des anonymen Vorwortes schließen könnte, auf den Nachweis, dass sich die Guirlande tatsächlich unter den Beständen seiner Bibliothek befand. Diesen Nachweis bleibt auch Van Bever schuldig. Und schließlich ist es seinen Annotationen zu verdanken, wenn der Dictionnaire des Lettres Françaises noch im Jahre 1996 von einer vierfachen Ausführung der Guirlande de Julie durch Nicolas Jarry ausgeht. 144 Van Bever selbst beruft sich seinerseits auf Roger de Portalis, der in seinem Verzeichnis der Werke von Nicolas Jarry tatsächlich insgesamt vier Handschriften mit dem Titel La Guirlande de Julie aufführt, wobei drei von ihnen auf die bereits bekannten Werke in den Formaten in-folio, in-8° und in-4° referieren. 145 Den vierten Titel fügt Portalis seiner eigenen Aussage nach nur aus Gründen der Vollständigkeit hinzu, wobei seine Formulierung offen lässt, worauf sich diese Vollständigkeit bezieht: „N°19 - La Guirlande de Julie. In-4. […] Manuscrit sur papier de 187ff., contenant en outre des sonnets, madrigaux, élégies, de Voiture, Saint-Amant, Chapelain, Benserade, etc. Nous ne l’inscrivons ici que pour ne pas oublier un MS ancien de La Guirlande de Julie.“ 146 Geht es Portalis hier noch um das Gesamtwerk Nicolas Jarrys, wie die fortlaufende Numerierung 142 Guirlande 1907, S. 24. 143 Ebd. 144 Dictionnaire des lettres françaises. Le XVII e siècle, S. 572-573. 145 Roger de Portalis, Nicolas Jarry et la Calligraphie au XVII e siècle. Paris, Techener 1896, S. 44-46. 146 Portalis, Nicolas Jarry, S. 46. Biblio17_204_s005-419End.indd 230 11.06.13 10: 10 <?page no="231"?> 231 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) der Titel glauben lässt? Oder ist hier nicht vielmehr eine Bibliographie der Guirlande de Julie gemeint, wobei aus der Beschreibung deutlich hervorgeht, dass es sich bei dem inventarisierten Werk um eine Handschrift kollektiver Dichtung handelt, die eine ‚Strecke‘ mit den Madrigalen der Guirlande de Julie enthält? Vor diesem Hintergrund ist das Motiv Van Bevers, diese Handschrift in den Kanon der ‚Originale‘ aufzunehmen, unschwer als Entdeckerstolz zu identifizieren, mit dem er seine eigene Ausgabe der Guirlande de Julie präsentiert und gegenüber denjenigen seiner Vorgänger abgrenzt: Dans sa notice sur Nicolas Jarry (éd. citée), le baron Roger de Portalis signale un quatrième manuscrit de la Guirlande de Julie. Ignoré non seulement de G. de Bure, mais aussi des plus récents bibliographes, tels Ch. Livet et Octave Uzanne, il a figuré, en 1890, à la vente du baron Ach. Sellière. […] 147 Der Sammeleifer, mit dem Van Bever hier ans Werk geht, ist nicht unsympathisch. Dennoch legt die apodiktische Formulierung im Anhang dieser Edition, wo Van Bever eine - sehr verdienstvolle - Übersicht der bis zu diesem Zeitpunkt bekannten gedruckten Exemplare der Verse der Guirlande de Julie veröffentlicht, den Grundstein für die mit dem genannten Nachschlagewerk fortgesetzte Überlieferungsgeschichte von den vier ‚Originalen‘ der Handschrift La Guirlande de Julie: „Indépendamment des quatre manuscrits originaux [Hervorhebung S.B.] décrits dans la présente notice, il existe cinq copies ou complètes ou partielles et huit éditions de la Guirlande de Julie.“ 148 Es bleibt festzuhalten, dass die Beschreibung der Handschriften der Guirlande de Julie ihre eigene Geschichte hat. Sie wirft zunächst die Frage auf, was man eigentlich unter dem ‚Original‘ dieser Gelegenheitsdichtung verstehen will. Legt man den Fokus auf die Prachthandschrift, die mit den Miniaturen von Nicolas Robert ausgestattet ist, so lässt sie sich leicht beantworten, wenngleich man mit Lücken in der Überlieferungsgeschichte wird leben müssen. Interessiert man sich hingegen für den Künstler Nicolas Jarry, als dessen Hauptwerk die Guirlande de Julie gelten darf, so sind die hier beschriebenen Versuche, möglichst alle Ausführungen dieser Auftragsarbeit zu berücksichtigen, durchaus legitim, wenngleich zu bezweifeln steht, dass sie zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt sind. Will man wiederum herausfinden, ob sich die Handschrift La Guirlande de Julie als ‚Salonalbum‘, d.h. als Repräsentation einer salonspezifischen Gruppenbildung begreifen lässt, so erübrigt sich die Frage ganz, ist doch der Begriff des ‚Originals‘ zur Erfassung einer sozialen Praxis, die komplexe Prozesse wie Zirkulation, Rezeption und Publikation von Versen und Handschriften ineinander greifen lässt, 147 Guirlande 1907, S. 23. 148 Guirlande 1907, S. 29. Biblio17_204_s005-419End.indd 231 11.06.13 10: 10 <?page no="232"?> 232 La Guirlande de Julie nicht dienlich. Die Herausgeber des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts oszillieren nun zwischen diesen Positionen, und das polymorphe Vorwort von 1784 und seine Metamorphosen zeichnen sich durch ein Amalgam verschiedener Vorstellungen dessen aus, was sich hinter dem Titel La Guirlande de Julie verbirgt. Während der Sammler Gaignières um 1700 vor allem daran interessiert war, die galante Geste des Duc de Montausier zu würdigen und die Gedichte für ein Publikum zu kontextualisieren, dem das literarische Ereignis nur noch vom Hörensagen bekannt sein würde, geht es dem bibliophilen Abbé Rive rund siebzig Jahre später vor allem darum, das Objekt selbst zu beschreiben und als Kunstwerk der Kalligraphie und der Buchmalerei zu präsentieren. Dem Buchhändler Debure wiederum ist an dem Verkauf der Handschrift gelegen, weshalb er ihren Seltenheitswert hervorhebt und betont, dass nur eine einzige gedruckte Version im Umlauf ist. Der anonyme Autor des Vorworts von 1784 nivelliert in seinem Text diese unterschiedlichen Perspektiven, indem er sie kommentarlos auf eine Ebene hebt, wodurch der ‚konfuse‘ Charakter hervorgerufen wird, auf den bereits Nodier hinweist. Seine Nachfolger versuchen, diesen Eindruck dadurch auszugleichen, dass sie das Vorwort mit gelehrten Anmerkungen versehen, die jedoch dem heterogenen Gesamtbild noch eine weitere Perspektive hinzufügen: Livet, Uzanne und vor allem Van Bever betrachten die Guirlande de Julie mit den Augen von Bibliophilen des 19. Jahrhunderts, für die der Werkcharakter von Literatur im Vordergrund steht. Ihnen geht es insbesondere darum, die Instabilität kollektiver Gelegenheitsdichtung über den Begriff des ‚Originals‘ zu bändigen, auch wenn sie dies nur um den Preis der Fokussierung auf den ausführenden maître écrivain erreichen können. So tritt die Frage, ob es sich bei einer Handschrift der Guirlande de Julie um eine Kalligraphie Jarrys handelt, gegenüber dem Textkorpus in den Vordergrund. Da dieses Textkorpus jedoch mit einem Literaturverständnis einhergeht, das mit einem modernen Autor- oder Künstlerbegriff, wie ihn das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, nicht zu vereinen ist, muss dieser Annäherungsversuch scheitern. Der Abstand zu dem vormodernen Gegenstand der Publikation lässt sich nicht dadurch überwinden, dass man sich auf die Ausführung der Madrigale konzentriert. Zwar ist das Visuelle, das sich in der Handschrift gegenüber dem spielerischen Charakter der Texte durchsetzt, maßgeblich für die Bedeutung, die der Guirlande de Julie schon im 17. Jahrhundert zugesprochen wird. Es ist aber zu jener Zeit eben gerade nicht das kreative Individuum, d.h. der bildende Künstler, der von dieser Verschiebung vom Text zum Bild profitiert, sondern abermals eine soziale Gruppe, die sich mit dem Geschenk für Mademoiselle de Rambouillet selbst ein Denkmal setzt. Nur stellt sich die Frage, um welche soziale Gruppe es sich eigentlich handelt oder ob nicht sogar von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen die Rede sein muss. Biblio17_204_s005-419End.indd 232 11.06.13 10: 10 <?page no="233"?> 233 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) 3.2 Text, Bild und Schrift: La Guirlande de Julie als prestigeträchtiges ‚Gesamtkunstwerk‘ Im Hinblick auf die Überlieferungsgeschichte der Handschrift sind die Vorworte, die im 19. Jahrhundert jenen Publikationen vorangestellt wurden, deren Gegenstand die Verse der Guirlande de Julie sind, nun zwar alles andere als zuverlässig, dafür aber in folgender Hinsicht durchaus aufschlussreich: Sie zeigen, dass sich die Emanzipation der Gedichte von den sozialen Ereignissen, die sie hervorgebracht haben, nur sehr langsam vollzieht und letztlich auch nicht völlig gelingt. So bedarf es beispielsweise immer wieder der Rechtfertigung, warum die Gedichte unabhängig von ihrem ikonographischen Programm überhaupt veröffentlicht werden sollten. Noch die Herausgeber der Ausgabe von 1907 sehen sich genötigt, ihr Unterfangen mit dem „charme suranné“ der Verse zu verteidigen. 149 Und schon Nodier zitiert in der von ihm betreuten Publikation von 1826 die Meinung eines anonym bleibenden Bibliophilen, der den Gedichten nur einen geringen Eigenwert zugesteht: Ces petites pièces de poésie ont un mérite assez léger, […] quand on les considère séparées des charmantes peintures pour lesquelles elles ont été faites, et privées du mérite singulier d’une circonstance unique dans l’histoire de la galanterie. 150 Interessant ist an diesem Zitat auch und vor allem, dass hier offensichtlich davon ausgegangen wird, die Verse seien für die Miniaturen angefertigt worden (und nicht umgekehrt). Dieser Lapsus, der wohl keine Einzelmeinung darstellt und von Nodier auch nicht korrigiert wird, veranschaulicht die These, dass der nachhaltige Erfolg der bereits ab 1633 zirkulierenden Blumenmadrigale vor allem ihrer Verbildlichung im Jahre 1641 geschuldet ist. 151 Die 149 „Le texte de la Guirlande se vulgarisa, et, comme il arrive pour les choses qu’on dépouille de leur parure, quelques esprits chagrins proclamèrent que ces madrigaux n’autorisaient point tout le luxe qu’on avait prodigué à les enrichir et à les orner. […] Depuis, on est revenu de cette manière de sentir et la publication des poèmes de la Guirlande de Julie s’est perpétuée comme une tradition. Ce sont d’ailleurs de jolies piécettes, fleurs écloses dans un siècle des plus galants qui fut jamais. Aussi leur charme suranné, auquel s’ajoute je ne sais quelle tendresse ingénue, quelle grâce poétique, leur assure-t-il une place dans notre collection.“ (Guirlande 1907, S. 7). Bezeichnenderweise erscheinen die Gedichte in einer Reihe, die den Titel „Petite Bibliothèque Surannée“ trägt. 150 Guirlande 1826, S. 3. 151 Manche Editionen versuchen, an die visuelle Dimension der Handschrift anzuknüpfen. Bereits die Publikation von 1818 enthält Gravuren, die von Nodier und seinen Nachfolgern allerdings nicht sehr geschätzt wurden, da ihre s/ w- Reproduktion keinen Eindruck von der Leuchtkraft der ursprünglichen Miniaturen Biblio17_204_s005-419End.indd 233 11.06.13 10: 10 <?page no="234"?> 234 La Guirlande de Julie Handschrift La Guirlande de Julie kann also weder allein als salonspezifisches Konversationsspiel noch als ‚charmanter‘ Gedichtzyklus betrachtet werden, der durch die Publikationen des 19. Jahrhunderts Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Franzosen gefunden hat. Vielmehr handelt es sich um ein die verschiedenen Sinne des Betrachters ansprechendes Artefakt aus Bild, Text und Schrift, das sich im Schnittpunkt verschiedener Künste entfaltet. Für die bildenden Künstler, die daran mitgewirkt haben, wird dieses Werk zu einem Meilenstein ihrer Karriere. Der Ausführung der Guirlande de Julie folgen Aufträge aus höchsten Adelskreisen: Zwischen 1646 und 1660 schreibt Jarry für ranghohe Persönlichkeiten wie den Duc de Saint-Aignan, die Princesse de Condé, den Duc de Guise sowie für die Königinmutter, Anne d’Autriche. Den Maler Nicolas Robert nimmt Gaston de France, Duc d’Orléans, in seine Dienste und beauftragt ihn mit der Abbildung seiner botanischen und zoologischen Sammlung. Robert portraitiert diese Pflanzen, Blumen und Tiere in den farbenprächtigen Bildern, die heute in der Bibliothek des Musée de l’histoire naturelle archiviert werden. Vor dem Hintergrund dieser beachtlichen Karrieren stellt sich die Frage nach dem sozialen und symbolischen Kapital, das für verschiedene Personen und Personengruppen auf unterschiedliche Art und Weise mit der Handschrift La Guirlande de Julie verbunden war. Die folgenden Kapitel sollen dieser Frage nachgehen, wobei die ersten beiden den Künstlern gewidmet sind, bevor sich der Blick abschließend noch einmal auf die Protagonisten der Chambre bleue richtet. 3.2.1 Nicolas Jarry, maître écrivain des Hochadels im 17. Jahrhundert Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet verhält es sich mit der Person des Nicolas Jarry ein wenig wie mit der Figur der Chambre bleue: Die Guirlande de Julie trägt maßgeblich zu ihrer Sichtbarkeit bei, in dem Maße jedoch, in dem sie mit dem Ruhm der Handschrift identifiziert werden, drohen ihre Konturen auch wieder zu verschwimmen. Jarry gilt als der wohl berühmteste Schriftkünstler seiner Zeit, doch geben die Quellen nur wenig Informationen vermittelt. Was diesen Kritikern jedoch entgangen sein dürfte, ist die Existenz einer edlen Ausgabe dieser Publikation, in der Farbreproduktionen derselben Gravuren enthalten sind (La Guirlande de Julie. […] ornée de 30 gravures. Dessinés et peintes par Mme Legendre. Édition papier vélin double satiné, imprimé par Didot le jeune. Paris 1818; BNF, SMITH LESOUEF R-806). Eine sehr geschmackvoll gestaltete Ausgabe von 1947 zitiert in einem modernen Holzschnittverfahren, in dem Blumendarstellungen und farbige Anfangsbuchstaben reproduziert wurden, die Malerei und die Kalligraphie der Handschrift (La Guirlande de Julie. Bois gravé de Clément Serveau. Paris, Édition de la Main-Tierce 1947). Biblio17_204_s005-419End.indd 234 11.06.13 10: 10 <?page no="235"?> 235 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) über ihn preis. 152 Roger de Portalis zufolge, der ihm eine biographische Skizze gewidmet hat, lassen sich die überlieferten Lebensdaten (1620-1674) nur schwer mit den aktenkundigen Taufdaten seiner Kinder (1637 und 1640) in Einklang bringen, da er bei der Geburt seiner ersten Tochter kaum siebzehn Jahre alt gewesen wäre. 153 Portalis schätzt daher, dass Jarry zwischen 1610 und 1615 geboren wurde, was nicht nur angesichts seiner Vaterschaft, sondern auch vor dem Hintergrund der Datierung seines ersten Werkes (1633) überzeugender ist. 154 Ähnlich verhält es sich mit dem Todesdatum: Portalis bezweifelt, dass Jarry im Jahre 1674 in das Hôtel des Invalides aufgenommen worden und dort gestorben sei, da dieses Vorrecht zu jenem Zeitpunkt dem Militär vorbehalten war. Das letzte Werk, das Jarry mit Sicherheit zugeschrieben werden kann, stammt aus dem Jahre 1665, 155 weshalb es vernünftig scheint, sich an diesem Datum zu orientieren. Auch die Karriere des Künstlers lässt sich am sichersten über die von ihm signierten und datierten Handschriften verfolgen, von denen einige heute in der Bibliothek von Chantilly, in der Bibliothèque Mazarine und in der Bibiliothèque nationale de France einsehbar sind. Das Werkeverzeichnis, das von Portalis erstellt wurde, umfasst 107 Einträge, und selbst wenn man all jene Werke abzieht, die Jarry auf der Grundlage der Qualität der Arbeit nur zugeschrieben werden, bleiben insgesamt 79 Handschriften, die nachweislich von ihm stammen. Im Jahre 1644 signiert Jarry zum ersten Mal mit dem Zusatz „escrivain et notteur de la musique de Sa Majesté“, 156 was darauf schließen lässt, dass er zugleich einer der (weitgehend anonym bleibenden) Kopisten am königlichen Hofe war und in seinem Leben vermutlich mehr Handschriften angefertigt hat 152 Auch die Literatur über Nicolas Jarry ist übersichtlich. Auskunft über Leben und Werk erteilen folgende Werke: Claude Mediavilla, Histoire de la calligraphie française. Paris, Albin Michel 2006, S. 239-240; Un document concernant Nicolas Jarry, célèbre calligraphe du XVII e siècle. Extrait du „Bulletin de la Société de l’Histoire de Paris et de l’Ile de France“, XLIV, 1917; Roger de Portalis, Nicolas Jarry et la Calligraphie au XVII e siècle. Paris, Techener 1896. 153 Portalis, Nicolas Jarry, S. 1-40, S. 19. Portalis erstellt außerdem einen Katalog der Werke Jarrys (ebd. S. 41-100), aus dem im Folgenden Titel und ggf. Beschreibungen der Handschriften zitiert werden. 154 Praeparatio ad Missam. - (in fine): N. Jarry fecit 1633. Pet. In-8, maroq. rouge, compart., tr.dor. (Aux armes de Séguier) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 60]. 155 Les Sept Offices de la Semaine, escrits par N. Jarry, 1665. - Pet. In-32, maroq. rouge, dos et plats ornés, doubl. de tabis, tr.dor. (Anc. rel.) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 71]. 156 Motet a deux Chœurs, composé par M. Jean Villot maistre de la musique de la chapelle du Roy et escrit par Nicolas Jarry escrivain et notteur de la musique de Sa Majesté. Grand Chœur 1644. - In-4, maroq. rouge semé de fleurs de lis et de L couronnés à l’infini, fil., tr.dor. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 50-51]. Biblio17_204_s005-419End.indd 235 11.06.13 10: 10 <?page no="236"?> 236 La Guirlande de Julie als in seinem Namen überliefert sind. Jenseits seiner eigenen Arbeiten findet Jarry außerdem Erwähnung bei seinen Zeitgenossen, insbesondere bei Tallemant des Réaux, der ihn in seinen Historiettes als „cet homme qui imite l’impression et qui a le plus beau caractère du monde“ 157 bezeichnet. In dem ihm zugeschriebenen Ms 19142 schreibt Tallemant außerdem von der Kalligraphie Jarrys, sie sei schöner als jedes Druckbild: „[…] les vers estoient escrits aussy sur du velin d’une escriture qui imitoit ou pour mieux dire qui surpassoit de beaucoup l’Impression. Cestoit un nommé Jarry qui les avoit escrits.“ 158 Im Vergleich zu der lakonischen, aber superlativen Formulierung, die der Recueil Maurepas von Gaignières überliefert („le plus fameux maitre d’Ecriture de son tems“) 159 , fällt allerdings auf, dass Tallemant hier noch von einer geringeren Bekanntheit des Schriftkünstlers auszugehen scheint („[…] un nommé Jarry“). Nimmt man an, dass die Sammlung Tallemants im Unterschied zu derjenigen Gaignières schon bald nach 1641 entstanden ist, was die Aufnahme zusätzlicher zirkulierender Madrigale nahelegt, so lassen die Formulierungen darauf schließen, dass Jarrys Ansehen nach der Ausführung der Guirlande de Julie signifikant gestiegen ist, und dass sein Name im Verlauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer Chiffre für Erfolg wurde. Diese Interpretation steht im Einklang mit der steilen Karrierekurve des Künstlers, die sich an den Auftraggebern ablesen lässt, für die Jarry zwischen 1641 und 1658 gearbeitet hat, und die der folgende Überblick veranschaulichen soll. Bereits in den dreißiger Jahren führt Jarry Handschriften für so bedeutende Persönlichkeiten wie Dominique Séguier, Bischof von Meaux, oder sogar den Kardinal von Richelieu aus. 160 Diese Arbeiten heben ihn bereits aus der Masse der anonymen Schreibmeister von Paris heraus, als Montausier ihm den Auftrag erteilt, die Verse der Guirlande de Julie zu schreiben. 161 1641 ist außerdem in mehrerer Hinsicht ein erfolgreiches Jahr für den jungen Künst- 157 Tallemant, Historiettes I, S. 452. 158 BNF, Paris, Manuscrits Français, Ms 19142, f. 1. 159 BNF, Paris, Manuscrits Français Ms 12616, vol. I, p. 527. 160 Praeparatio ad Missam. - (in fine): N. Jarry fecit 1633. Pet. In-8, maroq. rouge, compart., tr.dor. (Aux armes de Séguier) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 60]; Praeparatio ad Missam. - (signé page 39): N. Jarry, Par. Scripsit 1639. In-fol. maroq. rouge à compart, avec ancres dorées sur le dos et les plats. (Aux armes du cardinal de Richelieu avec sa devise: His fulta manebunt) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 60-61]. 161 Zum Berufsstand des maître écrivain oder ‚Schreibmeisters‘ im 17. Jahrhundert vgl. Lexikon der Buchkunst und Bibliophilie. Hg. von Karl Klaus Walther. München u.a., Saur 1988, S. 311-316; Christine Métayer, „Au tombeau des secrets“: Les écrivains publics du Paris populaire, Cimetière des Saints-Innocents, XVI e -XVIII e siècle. Paris, Albin Michel 2000. Biblio17_204_s005-419End.indd 236 11.06.13 10: 10 <?page no="237"?> 237 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) ler: Er fertigt auch eine Handschrift für den Justizadeligen Habert de Montmort an und beendet die kalligraphische Gestaltung eines Psalters, der für eine der beiden Prinzessinnen des Hauses Lothringen bestimmt ist. 162 Beide Werke sind ebenso wie die Guirlande de Julie in rotes Leder gebunden, das mit floralen und geometrischen Mustern verziert ist, wobei alle drei Auftraggeber auf einen Meister seines Faches zurückgreifen, der unter dem Namen „Le Gascon“ bekannt ist. Die Erfolge, die Jarry in den kommenden Jahren in der hochadligen französischen Gesellschaft erzielen wird, lassen sich also nicht allein auf die Guirlande zurückführen. Eine solche Einschränkung wäre auch vor dem Hintergrund wenig überzeugend, dass es Montausier ja gerade darum geht, ein prestigeträchtiges Geschenk für Mademoiselle de Rambouillet anfertigen zu lassen, was durch die Beschäftigung eines in den einschlägigen Kreisen völlig unbekannten maître écrivain unterlaufen würde. Andererseits ist Jarry jedoch jung genug, um als ein ‚Nachwuchstalent‘ gelten zu dürfen, das zu fördern auf der Grundlage der Qualität seiner Arbeit auch für den Förderer lohnenswert erscheint. Von einer besonderen, wenn auch nicht ausschließlichen Bedeutung der Guirlande de Julie für die Karriere des Kalligraphen darf jedoch schon allein deshalb ausgegangen werden, weil Lothringen nicht Paris ist und Habert de Montmort nicht zum Schwertadel gehört. Montausier ist ein Auftraggeber, dessen spezifisches Profil - die militärische Laufbahn einerseits, die Integration in die Pariser Gesellschaft andererseits - dazu geeignet ist, die Reputation Jarrys als eines exzellenten maître écrivain in die höchsten Adelskreise zu tragen. Dass dies gelingt, zeigen die prestigeträchtigen Aufträge, die 162 Preces Biblicae, ad illustrissimum V. Henricum Ludovicum Habertum Montmorum. N. Jarry scripsit, anno domini 1641. - In-4, mar. rouge à riches compart., à petits fers, tr.dor. (Le Gascon) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 61; die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothek von Chantilly (ms 104)]; Le Psaultier de Jésus, contenant de très dévotes prières et Pétition faict à Paris 1641. - (au bas du feuillet 54): N. Jarry scripsit anno 1640. Pet. In-8, maroq. rouge, ornem. et compart. à petits fers formés de palmes et de branches de laurier, dent. intér., tr. dor. (Le Gascon). [Portalis beschreibt diese Handschrift außerdem folgendermaßen: ] Précieux manuscrit composé de 55 feuillets de vélin encadrés de filets d’or, azur et vermillon, avec lettres et initiales ornées. […] En haut, surmontés des armes des princes de la maison Lorraine, ces mots: Par le commandement de Madame de Loraine [sic], le tout soutenu par un portique peint en or avec fon d’azur; aux deux côtés du soubassement, le chiffre N et deux C enlacés surmontés d’une couronne. […] Ce manuscrit, l’un des plus parfaits de Jarry, est remarquable autant par la supériorité de la calligraphie et la beauté des miniatures et de sa reliure que par son intérêt historique. Il fut exécuté soit pour Nicole de Lorraine, femme du duc Charles de Lorraine, soit plutôt pour Claude de Lorraine, femme de Nicolas-François, duc de Lorraine, à la fois sœurs et belles-sœurs. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 66-67; die Handschrift befindet sich heute in der BNF, Paris, Manuscrit Français, Ms 14851.] Biblio17_204_s005-419End.indd 237 11.06.13 10: 10 <?page no="238"?> 238 La Guirlande de Julie von nun an fast im Jahresrhythmus erfolgen: Portalis erwähnt in seinem Verzeichnis eine Adoration à Jésus naissant, die der Künstler 1643 für die Regentin, Anne d’Autriche, vollendet hat. 163 1644 stellt Jarry eine Handschrift für Tallemant des Réaux fertig, 164 1646 folgt eine Abschrift von Le Temple de la Gloire, ein Heldengedicht auf die (zweite) Schlacht von Nördlingen, das für eine Dame im näheren Umkreis des großen Condé bestimmt ist, 165 und im Jahre 1647 arbeitet Jarry für den hohen Hofbeamten François de Beauvilliers, Comte de Saint-Aignan. Portalis zufolge gehören diese Heures de Nostre-Dame, die sich ebenso wie die Handschriften von 1644 und 1646 in der Bibliothek von Chantilly befinden, zu den Meisterwerken des Kalligraphen. 166 1647 führt dieser einen weiteren Auftrag für die Regentin Anne d’Autriche aus: Eine Handschrift mit dem illustrativen Titel Le Temple de la Gloire, ou l’on peut voir les Eloges et les Portraits des Illustres Princesses de l’auguste Maison d’Austriche qui ont porté le 163 Adoration à Jésus naissant, escritte et présentée à la Reyne par son très humble et très obéissant serviteur, N. Jarry, P. 1643. - In-12, maroq. noir, tr. dor. (Anc. Rel.) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 40] Keine Angabe über den Verbleib der Handschrift. 164 Exercice du Chrestien, escrit par N. Jarry, 1644. - (à la page 58): N. Jarry, Paris scripsit anno 1643. In-16, chagrin noir, doublé de maroq. rouge à riches compart., tr. dor. (Anc.rel.). [Portalis fügt hinzu: ] Manuscrit de 158 pages de vélin orné de six miniatures. Il a été fait pour Tallemant de Réaux, dont les armes sont peintes sur le titre. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 43; die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothek von Chantilly (N° 105).] 165 Le Temple de la Gloire. N. Jarry Paris, scripsit 1646. - Petit in-8, maroq. rouge doublé de maroq. rouge (anc. Rel. Parsemée à l’infini, à l’intérieur et à l’extérieur, des chiffres C.M.) (Le Gascon). [Portalis fügt hinzu: ] Manuscrit sur vélin de 20 feuillets avec encadrement d’or. […] Ce poème fut composé à l’occasion de la victoire de Nördlingen, par Bruc de Montplaisir et a été imprimé à Paris en 1646. Il a dû être fait pour une personne touchant de près au grand Condé, telle que Charlotte de Montmorency, sa mère, ou Clémence de Maillé, sa femme, auxquelles peuvent également rapporter les initiales C.M. […]. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 72-73; die Handschrift befinder sich heute in der Bibliothek von Chantilly (N° 541).] 166 Heures de Nostre-Dame, ecrites à la main par N. Jarry, parisien, 1647. - In-8, chagrin noir, tr. dor., fermoir en or. [Portalis fügt hinzu: ] Manuscrit sur vélin de 120ff., écrit en lettres romaines et bâtardes, avec beaucoup d’initiales peintes en or et en couleur. Chaque page est entourée d’un filet d’or. Sept belles miniatures ornent ce volume. Dans la première, un grand livre ouvert soutenu de chaque côté par des anges, contient le titre écrit en lettres d’or. Il est posé sur un piédestal orné de guirlandes de fleurs et des armes de François de Beauvilliers, alors comte, depuis duc de Saint-Aignan, pour lequel il a été exécuté. […] passe pour être l’un des chefsd’œuvres de Nicolas Jarry. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 46; die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothek von Chantilly (N° 88).] Biblio17_204_s005-419End.indd 238 11.06.13 10: 10 <?page no="239"?> 239 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) nom d’Anne, die ebenfalls in Chantilly aufbewahrt wird. 167 Für das Jahr 1651 enthält Portalis’ Werkeverzeichnis zwei hochadlige Auftraggeberinnen, für die Jarry Handschriften erstellt hat, die mit dem Wappen der jeweiligen Dame ausgeschmückt sind: Andrée de Vivonne [sic! ], Duchesse de La Rochefoucauld, 168 und Marie de Bretagne d’Avaugour, Duchesse de Montbazon. 169 1656 kalligraphiert er für den Duc de Guise ein Werk, das der königliche Historiograph La Serre diesem zu Ehren geschrieben hatte, 170 und in den Jahren 1658 und 1659 arbeitet Jarry für den Kardinal Mazarin. 171 1658 ist auch das Jahr, in 167 Le Temple de la Gloire, ou l’on peut voir les Eloges et les Portraits des Illustres Princesses de l’auguste Maison d’Austriche qui ont porté le nom d’Anne. N. Jarry, Paris, scribebat anno 1647. - In-fol. velours bleu brodé aux chiffres d’Anne d’Autriche avec aigle et colonnes, et la devise: Nescit occasum. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 72; die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothèque Mazarine (Ms 2212).] 168 Office de la Vierge, accompagné de plusieurs autres prières, escrites par Nicolas Jarry, Paris, 1651. - Pet. In-8, maroq. rouge, riche copart., doublé de maroq. vert, tr.dor., parsemé d’hermines à l’infini, fermoirs en or émaillé et chiffres. (Le Gascon). [Portalis fügt hinzu: ] Ce manuscrit, un des plus parfaits de Jarry, a été fait pour Andrée de Vivonne dame de la Chataigneraye, femme de François V duc de La Rochefoucauld, l’auteur des Maximes. Les armes accolées de La Rochefoucauld et de Vivonne sont peintes sur le frontispice et le chiffre en or d’Andrée de Vivonne est sur le fermoir. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 53; Portalis zufolge befindet sich die Handschrift in Privatbesitz.] 169 Offices de la Vierge Marie, escrits par N. Jarry, 1651. - In-12, rel. en damas de soie rouge doublée de maroq. à petits fers, tr.dor. et ciselées, fermoirs en vermeil. [Portalis fügt hinzu: ] Manuscrit sur vélin de 52ff. ou 104 pages, exécuté pour la duchesse de Montbazon, Marie de Bretagne-Avaugour, femme de Hercule de Rohan, duc de Montbazon. Le frontispice servant de titre porte les armes écartelées de la duchesse, qui sont répétées plusieurs fois aux en-têtes de chapitres. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 55; Portalis zufolge befindet sich die Handschrift in Privatbesitz.] 170 Panégyrique de Monseigneur le Duc de Guise, pair et grand chambellan de France par Monsieur de la Serre, conseiller ordinaire du Roy en tous ses conseils et son historiographe. Paris, escript par N. Jarry, Parisien, 1656. - In-fol. maroq. rouge, doublé de maroq. rouge, le dos et les plats couverts de croix de Lorraine, tr. dor. (Anc. Rel.). [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 56; die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothek von Chantilly (N° 1286).] 171 Imago Cardinalis Mazarini. N. Jarry Paris. Scribebat 1658. - Pet. In-fol., maroq. rouge, riches compart. à petits fers, tr.dor. (Rel. De Le Gascon aux armes du Cardinal Mazarin) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 47; die Handsschrift befindet sich in der Bibliothèque Mazarine (Ms 2211)]; Portalis erwähnt außerdem eine weitere Handschrift mit dem Titel: Imago Cardinalis Julii Mazarini. Imago Galliarum administri Regi incomparabilis. N. Jarry Parisinus scribebat 1659. - Pet. In-fol,. maroq. rouge, riches compart. À petits fers, doublé de tab. Blanc, tr.dor. (Aux armes du Cardinal Mazarin) [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 47]. Biblio17_204_s005-419End.indd 239 11.06.13 10: 10 <?page no="240"?> 240 La Guirlande de Julie dem Jarry eine Handschrift anfertigt, die aus heutiger Perspektive wohl zu den interessantesten seiner Werke zählen dürfte: Adonis, poëme, par Jean de La Fontaine. Portalis widmet ihr eine ausführliche Legende in seinem Verzeichnis, und zum Zeitpunkt seiner Beschreibung befindet sie sich in Privatbesitz. Sie ist Nicolas Fouquet gewidmet, doch die Initialen C.D.M., die auf dem Titelblatt und der letzten Seite mit einer Girlande aus Rosen gekrönt erscheinen, weisen darauf hin, dass diese Handschrift noch für eine andere, nicht weiter identifizierte Person bestimmt war. 172 Schließlich beschreibt Portalis noch ein weiteres Werk in seinem Verzeichnis, mit dem dieser Aufzählung Genüge getan sein soll: Prières et Méditations Chrestiennes, composées par Madame la Marquise de Rambouillet (Catherine de Vivonne) pour son usage particulier. Diese Handschrift, auf die Tallemant Bezug nimmt, wenn er in seinen Historiettes von Jarry als jenem Mann spricht, „qui a le plus beau caractère du monde“, 173 ist undatiert und befindet sich der Aussage Portalis’ zufolge ebenfalls in Privatbesitz. 174 Tallemant berichtet, dass die Marquise de Rambouillet die von ihr geschriebenen Texte Conrart übergab, der sie von Jarry abschreiben und von Le Gascon binden ließ, bevor er sie der Autorin als Geschenk überreichte. Die in diesen Jahren auffällig hohe Anzahl von Auftraggebern, die dem französischen Hochadel angehören, lässt darauf schließen, dass die kalligraphischen Arbeiten Nicolas Jarrys tatsächlich zu denjenigen gehörten, die in diesen mächtigen und zahlungskräftigen Kreisen sehr geschätzt wurden. Festzuhalten bleibt, dass außer den Personen aus dem direkten Umkreis des Hôtel de Rambouillet auch noch andere - zudem ranghöhere - Persönlichkeiten die Dienste des maître écrivain in Anspruch genommen haben. Vor diesem Hintergrund fällt es für die vorliegende Untersuchung kaum noch ins Gewicht, ob die Kalligraphien der 1668 im Auftrag von Ludwig XIV. angefertigten Devises pour les Tapisseries du Roy ou sont représentéz les quatre éléments et les quatres saisons de l’année, die ebenfalls Jarry zugeschrieben werden, 175 172 Vgl. Portalis, Nicolas Jarry, S. 39. 173 Vgl. Portalis, Nicolas Jarry, S. 63-64. 174 Vgl. Tallemant, Historiettes I, S. 452-453. 175 Devises pour les Tapisseries du Roy ou sont représentéz les quatre éléments et les quatre saisons de l’année. - In-fol. maroq. vert, tr. dor. (Anc.rel.) [Portalis fügt hinzu: ] Il est écrit sur vélin en ronde et en bâtarde et composé de 43 feuillets encadrés d’une large bande d’or. Tous les titres sont écrits en lettres d’or. Les miniatures sur vélin, presque toutes signées J. Bailly, et les peintures sur papier se décomposent ainsi: Un frontispice représentant un autel de marbre de diverses couleurs, orné de basreliefs et de corbeilles de fleurs et de fruits, surmonté d’un soleil entouré d’aigles, de dauphins, de drapeaux et de plantes, signé J. Bailly pinx. 1668. Au 2e feuillet l’argument des devises des tapisseries des Quatre Éléments dans un entourage très orné aux armes du Roi et de la Reine, signé de Bailly. Quatre grands sujets doubles sur papier, représentant en allégories, le Feu, l’Air, l’Eau, la Terre, peints à l’aquarelle Biblio17_204_s005-419End.indd 240 11.06.13 10: 10 <?page no="241"?> 241 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) jedoch im Unterschied zu den genannten Werken keine Signatur des maître écrivain aufweisen, tatsächlich von ihm stammen. 176 Das Projekt der königlichen Tapisserien ist jedoch in einer anderen Hinsicht interessant: Es zeigt, dass die Kalligraphien in diesem Kontext ein weniger hohes Ansehen genossen als die Miniaturen, deren Maler Jacques Bailly (1629-1679) namentlich genannt wird und die Devises signiert hat. 177 Dieses Verhältnis von Schrift und Bild lässt eine Hierarchie der Künste sichtbar werden, die im Falle der Guirlande de Julie noch nicht greift: Hier rangiert die Schrift vor dem Bild, so dass sich der Name des Miniaturenmalers Nicolas Robert im Gegensatz zum Namen des Kalligraphen nicht auf der Titelseite der Handschrift finden lässt. Auch sonst wird nirgends vermerkt, wer die leuchtenden naturgetreuen Blumenportraits auf Pergament ausgeführt hat. Dass Nicolas Robert für die Zeitgenossen - insbesondere in jenen Kreisen, in denen auch Jarry Karriere macht - dennoch kein Unbekannter war, und dass auch in seinem Falle die Arbeit an der Guirlande de Julie als wichtige Station seiner künstlerischen Laufbahn zu bewerten ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. 3.2.2 Nicolas Robert, Miniaturenmaler der Maison de France Nicolas Robert zählt zu den bedeutendsten Malern der Tier-, Blumen- und Pflanzenwelt des 17. Jahrhunderts. Die Bibliothek des Muséum d’histoire naturelle beherbergt insgesamt 727 seiner Miniaturen auf Pergament, aus der Sammlung der sogenannten Vélins du Roy oder Vélins du Muséum, die die Begeisterung seiner Zeitgenossen für die botanische und zoologische Artenvielfalt dokumentieren. 178 Es ist die Epoche der Gärten, der botanischen gouachée et attribuée à Lebrun, ou tout au moins d’après ses compositions. Douze ensembles miniaturés sur vélin, signés de Bailly, avec devises et vers de Perrault, calligraphiés. [zitiert nach Portalis, Nicolas Jarry, S. 42-43; die Handschrift befindet sich heute in der BNF, Paris, Manuscrit Français, Ms 7819.] 176 Selbst Portalis räumt ein, dass schwer abzuschätzen sei, welche der Handschriften, die im Auftrag des Königs ausgeführt wurden, von Jarry stammen, da am Hofe - im Unterschied zu den Aufträgen aus hochadligen Kreisen - die Kopisten meistens ungenannt blieben (vgl. Portalis, Nicolas Jarry, S. 37-38). 177 Jacques Vanuxem geht davon aus, dass Bailly auch für die Kalligraphie verantwortlich ist, wenngleich er einräumt, dass sie eines Jarry würdig sei (vgl. Jacques Vanuxem, „Emblèmes et Devises vers 1660-1680“, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art française, 1954, S. 60-70, S. 64). 178 Recueil des Vélins du Roi, Paris, BCMNHN (bibliothèque centrale du Muséum national d’histoire naturelle); Reproduktionen dieser Sammlung sind enthalten in Aline Raynal-Roques, Jean Claude Jolinon, Les peintres de fleurs. Les vélins du Muséum. Paris, Muséum national d’histoire naturelle, Bibliothèque de l’Image 1998; für ein Verzeichnis der überlieferten Werke Roberts siehe Madeleine Pinault Sörensen, Le livre de botanique. XVII e et XVIII e siècles. Paris, BnF 2008, S. 229-230. Biblio17_204_s005-419End.indd 241 11.06.13 10: 10 <?page no="242"?> 242 La Guirlande de Julie Bücher und der Handschriftensammlungen, deren farbenfrohen Miniaturen ad vivum gemalt werden, da sich das Kultivieren und Sammeln von Pflanzen nicht von deren Abbildung trennen lässt. 179 „Nous touchons là ce qui va devenir courant dans toute l’Europe jusqu’au début du XIX e siècle: création de jardin, livres imprimés et recueils dessinés ou gravés vont de pair“, schreibt Madeleine Pinault Sörensen in ihrer Studie über das botanische Buch im 17. Jahrhundert. 180 In Frankreich ist Gaston de France, Duc d’Orléans, einer der ersten großen Mäzene der botanischen Künste: In Blois lässt er Gärten mit einheimischen und exotischen Gewächsen anlegen, die seit den dreißiger Jahren von verschiedenen Malern naturgetreu abgebildet werden. Wann genau er Nicolas Robert für diese Aufgabe gewonnen hat ist ungewiss, er wird ihn jedoch bis zu seinem Tode im Jahre 1660 in seinem Dienst behalten. 181 Die Sammlung seiner vélins, die fünf große Bände in-folio umfasst, geht in den Besitz Ludwigs XIV. über, der im Jahre 1666 auch Nicolas Robert offiziell ‚übernimmt‘ und zu seinem „peintre ordinaire de sa majesté pour la miniature“ ernennt. Dieses Amt führt der Maler bis zu seinem Tode im Jahre 1684 aus, wobei er pro Jahr mindestens 24 vélins malt, deren lebendige Modelle er entweder im Jardin du Roy (Pflanzen) oder in der königlichen Menagerie in Versailles (Tiere, darunter überwiegend Vögel) vorfindet. 182 Robert, 1614 in Langre geboren, ist ähnlich jung wie Jarry, als ihn Montausier mit der Ausgestaltung der Guirlande de Julie beauftragt. Er tritt in Italien mit Gravuren in Erscheinung, die im Jahre 1640 in Rom und Bologna publiziert werden. 183 Es ist also eher unwahrscheinlich, dass er bereits vor 1641 für Monsieur arbeitet, wenngleich die Behauptung, wonach ihn der Duc d’Orléans auf der Grundlage der Guirlande engagiert, aufgrund der fehlenden Datierung der vélins nicht gesichert ist. 184 Andererseits gilt auch für 179 Zur botanischen Buchillustration siehe vor allem das umfangreiche Standardwerk von Claus Nissen, Die Botanische Buchillustration. Geschichte und Bibliographie. Stuttgart, Hiersemann 2 1966, insbesondere das Kapitel „Die Zeit des Barock“ (S. 66-100). Einen guten - und reich illustrierten - Überblick bieten außerdem Gill Saunders, Picturing Plants. An analytical history of botanical illustration. London, Zwemmer, The Victoria and Albert Museum 1995; H. Walter Lack, Ein Garten Eden. Meisterwerke der botanischen Illustration. Dreisprachige Ausgabe. Köln u.a., Taschen 2001; Pinault Sörensen, Le livre botanique. 180 Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 17. 181 Vgl. Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 28. 182 Vgl. Les peintres de fleurs, S. 8. 183 Fiori diversi […], Rome, o.A. 1640; Variae ac multiformes florum […], Bologna, o.A. 1640 [Wiederaufnahmen in Paris 1660, Rom 1665, Paris 1665]. 184 Vgl. Wilfried Blunt, The Art of Botanical Illustration. London, Collins 1950: „Overnight Robert found himself famous; shortly afterwards, when Gaston d’Orléans was seeking for a painter to make a permanent record of his collection, his eye naturally Biblio17_204_s005-419End.indd 242 11.06.13 10: 10 <?page no="243"?> 243 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Robert, was bereits für Jarry zu konstatieren war: Die Künstler, die Montausier für das Geschenk auswählt, das er seiner zukünftigen Ehefrau machen will, dürften zu diesem Zeitpunkt bereits keine Unbekannten mehr gewesen sein, und die Qualität ihrer Arbeit wird sich zumindest soweit herumgesprochen haben, dass es sich für Vertreter des Adels lohnt, als Förderer aufzutreten. Die Blumen, die Nicolas Robert malt, zeichnen sich durch ihre realistische Darstellung aus. 185 Albert de Mirimonde hebt die Nähe dieses Realismus’ zu den französischen Stilleben des 17. Jahrhunderts hervor, die mit einer vergleichbaren Konzentration auf den Gegenstand gemalt wurden: La simplicité du motif, la sobriété rigoureuse de la composition, l’entière soumission à l’objet les rapprochent de Nicolas Robert. L’esprit est identique, la vision semblable, la technique voisine, compte tenu de la différence des procédés d’exécution. Il a suffit d’un hasard de carrière pour que l’un devînt peintre d’histoire naturelle et les autres peintres de nature morte: ils étaient de la même lignée. 186 Mirimonde geht es an dieser Stelle jedoch weniger um die Frage, ob die Guirlande de Julie dieser „hasard de carrière“ gewesen sein könnte, der Nicolas Robert davon abgehalten habe, sich wie andere Maler seiner „lignée“ der nature morte zuzuwenden. Vielmehr ist ihm an der Aufwertung dieses Künstlers gelegen, dessen Arbeiten - im Vergleich mit dem barocken Stilleben - von Kunsthistorikern weniger Beachtung geschenkt wurde. Die These, dass es sich bei den Malern der histoire naturelle und der nature morte um ein und denselben „esprit“, um eine identische „vision“ handele, ist allerdings gewagt und ohne präzisierende Informationen irreführend. So gilt es zum Beispiel zu berücksichtigen, dass Robert spätestens als „peintre ordinaire de Sa Majesté pour la miniature“ seine Fähigkeiten in den Dienst der ‚Wissenschaft‘ stellt. Zwar handelt es sich zu seiner Zeit noch um eine Wissenschaftlichkeit im weitesten Sinne, mehr um die Freude an der Beobachtung als um jene Analyse, die sich in den botanischen Schriften des 18. Jahrhunderts niederschlagen wird. 187 Doch spätestens mit der Gründung der Académie royale des sciences de Paris im Jahre 1666 beginnt man, eine Systematik der Beobachtung und fell upon the young painter of the celebrated Guirlande.“ (ebd., S. 110). Pierre-Paul Grassé behauptet zwar, dass Robert erst 1649 in den Dienst des Duc d’Orleáns eintrat, doch bleibt auch er den Quellennachweis schuldig (vgl. Pierre-Paul Grassé, Le plus beau bestiaire du monde. Paris, Larousse 1970, S. 11). 185 Und zwar sowohl in der Guirlande de Julie als auch in den Vélins du Roi, so dass die Annahme, einer der beiden Auftraggeber - Montausier oder Monsieur - kannte die Arbeiten Roberts für den jeweils anderen, als er sich dafür entschied, den Künstler für sich arbeiten zu lassen, nicht abwegig ist. 186 Albert de Mirimonde, Un peintre de la réalité, Nicolas Robert. Paris, o.A. 1958, S. 83. 187 Vgl. Les peintres de fleurs, S. 16-17. Biblio17_204_s005-419End.indd 243 11.06.13 10: 10 <?page no="244"?> 244 La Guirlande de Julie der Darstellung einzufordern, die nicht zuletzt in dem Projekt eines Recueil des Plantes zum Ausdruck kommt, an dem Robert maßgeblich beteiligt ist. 188 Sörensen zufolge wendet sich dieser systematische Ansatz ausdrücklich gegen die religiös motivierte ‚Aura‘, mit der die Darstellung von Pflanzen und Tieren behaftet war: Les caractères des plantes sont pris en compte, ainsi que les causes relatives à leur génération, leur nourriture, jusqu’à la question de la circulation ascendante et descendante de la sève. En outre, Perrault [einer der académiciens, die sich um das Projekt Recueil des Plantes bemühen, S.B.] retire au cycle de vie des plantes le caractère sacré qui leur était auparavant accordé. 189 Eben diese ‚Aura‘ ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil des barocken Stillebens, weshalb es nicht ganz unproblematisch ist, Roberts Bilder - verstanden als Ausdruck einer engen Zusammenarbeit von auftraggebender Institution (Ludwig XIV.) und Botanikern bzw. Gelehrten - mit den natures mortes seiner Zeit gleichzusetzen. Andererseits lassen sich jedoch die verschiedenen Motivationen der botanischen Bildkunst im 17. Jahrhundert insgesamt nicht voneinander trennen: „Dans beaucoup de ces florilèges figurent des allusions au sacré et à la morale. On y prête aussi aux fleurs des sentiments et un langage.“ 190 Die Geschichte des livre botanique, die Sörensen in ihrer Studie skizziert, lässt sich mithin als ein Beispiel für das Ineinanderragen von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem begreifen, das sich nicht zufällig auch in jener ‚Sprache der Blumen‘ artikuliert, die für die Gedichte der Guirlande de Julie eine so wichtige Rolle spielt. Man denke nur an den noch heute hochgeschätzten Vierzeiler von Jean Desmarets de Saint-Sorlin über das Veilchen, dessen bereits zitierten Verse („Franche d’ambition, je me cache sous l’herbe/ Modeste en ma couleur, modeste en mon séjour; / Mais si sur vostre front je me puis voir un jour,/ La plus humble des Fleurs sera la plus superbe.“ 191 ) die Bescheidenheit, von der sie sprechen, auch stilistisch umsetzen. Sie lassen 188 Das Projekt, das von Colbert initiiert und von Perrault vorangetrieben wurde, bestand darin, die Pflanzen der königlichen Bestände naturgetreu abzubilden, zu inventarisieren und die Gravuren zu vervielfältigen. Der Recueil des Plantes, an dem neben Nicolas Robert auch Abraham Bosse mitgewirkt hat, wird in dieser Form nicht veröffentlicht. Die Mémoires pour servir à l’histoire des plantes, die Denis Dodart im Jahre 1676 herausgibt, enthalten jedoch 39 Tafeln, die auf die Arbeiten der Künstler zurückgehen (vgl. Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 35-38; Blunt, The Art of Botanical Illustration, S. 110-111, Nissen, Die botanische Buchillustration, S. 96-97). 189 Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 36. 190 Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 22. 191 Anhang I, S. 385. Biblio17_204_s005-419End.indd 244 11.06.13 10: 10 <?page no="245"?> 245 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) sich durchaus auf dem Hintergrund einer religiösen Symbolik lesen und erzählen dann die Geschichte einer reinen Seele, die auf Erden („sous l’herbe“) ihrer Erlösung („sur vostre front“) harrt. Legt man den Akzent der Lektüre jedoch auf den agonalen Charakter des galanten Spiels, in das die Blume eingebunden ist, so verkehrt sich ihre Bescheidenheit geradezu in ihr Gegenteil und wird zu einem Trumpf, den das Veilchen ausspielt, um sich gegen ihre Rivalinnen durchzusetzen. Wer will entscheiden, welche Lesart die ‚richtige‘ ist? Symbolik und Spiel gehen in den Versen eine Symbiose ein, die sich auf die bildkünstlerische Ebene der Guirlande übertragen lässt: Auch hier ist für das Auge des Betrachters nicht zu erkennen, ob Nicolas Robert mit dem Portrait einer Blume ihre ‚Transzendenz‘ oder ihre ‚Immanenz‘ darstellen wollte, ob seinen Bildern eine symbolische Bedeutung eingeschrieben ist, oder ob sie Ausdruck schierer Lust an den Farben und an den Formen der Natur sind. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Naturbeobachtung und -inventarisierung einerseits und der religiösen Ikonographie andererseits findet sich in vielen Florilegien des frühen 17. Jahrhunderts. 192 Im Unterschied zu Robert, der sich ganz auf die Darstellung der einzelnen Blume konzentriert, bilden die Maler und Zeichner dieser Blumenalben häufig auch Insekten und kleine Reptilien ab, die den Vanitas-Gedanken stärker betonen. 193 Aber die Gestaltung einiger dieser Florilegien ist den Miniaturen Roberts so ähnlich, dass sich der Vergleich geradezu aufdrängt. An dieser Stelle sei daher auf eine Handschrift näher eingegangen, die Daniel Rabel zugeschrieben und auf das Jahr 1624 datiert wird: 194 Wie die Guirlande enthält der sogenannte Recueil de cent planches de fleurs & d’insectes Blumendarstellungen, die auf Pergament ausgeführt wurden und ihre Wirkung ebenfalls durch eine schlichte Eleganz, eine „sobriété rigoureuse“ 195 entfalten. Anders als bei Robert sind sie von 192 Zum Begriff der botanischen ‚Florilegien‘ siehe Saunders, Picturing Plants, S. 41-64 („Florilegia and Pattern Books“). 193 Vgl. Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 22-26. Man denke insbesondere an das Werk der Maria Sybilla Merian oder an die Darstellungen Daniel Rabels, auf den im Folgenden näher eingegangen wird: Raupen werden in direkter Nachbarschaft zu den Blättern, von denen sie sich ernähren, portraitiert. Auch Schmetterlinge, die einmal Raupen waren, und Bienen, die von der Blüten ‚trinken‘, sind ein beliebtes Ko-Motiv. ‚Übelriechende‘ Käfer (z.B. der Mistkäfer) bilden einen spannungsvollen Kontrast zu den Blumen, zu deren Füßen sie sich bewegen, und kleine Reptilien beschwören das Urbild der Versuchung, die Schlange, herauf. 194 BNF, Paris, Estampes, Rés. JA-19. Der Handschrift ist ein Begleittext vorangestellt, der von eben jenem Abbé Rive verfasst wurde, der auch die Handschrift La Guirlande de Julie erstmals ausführlich beschrieben hatte. Tatsächlich befanden sich beide Handschriften im Jahre 1779 in der Bibliothek des Duc de La Vallière. 195 So charakterisiert Mirimonde die Miniaturen Roberts (Mirimonde, Un peintre de la réalité, S. 83). Biblio17_204_s005-419End.indd 245 11.06.13 10: 10 <?page no="246"?> 246 La Guirlande de Julie einem schmalen Goldrand eingefasst, der einen Rahmen bildet, in dem bis zu vier Exemplare abgebildet sein können. Sie werden mit ihrem lateinischen Namen bezeichnet, der in goldenen Lettern auf das Pergament kalligraphiert ist. Insgesamt 31 Folii zeigen außerdem Insekten, deren Beschreibung auf der Rückseite des Papiers erfolgt, das zum Schutz der Malerei zwischen die Miniaturen gebunden ist. Die Gesamtgestaltung dieser Handschrift lässt darauf schließen, dass sie für einen hochgestellten Auftraggeber angefertigt wurde, über den nichts bekannt ist. Die Kunst Rabels steht derjenigen Roberts in nichts nach: Der wenig pastose Farbaufstrich lässt noch die Adern der Blütenblätter erkennen, die so zart sind, dass das Licht durch sie hindurchscheint, wenn das Pergament à contre jour betrachtet wird. So verstärkt die Materialität des Bilduntergrundes den Trompe-l’œil-Effekt, der zugleich dem botanischen Erkenntnisinteresse dient, und das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung dieser Miniaturen lässt sich nicht von einem botanischen Erkenntnisinteresse trennen: Es geht darum, so naturgetreu wie möglich die flüchtige Schönheit der Pflanzen zu fixieren, so dass die Naturbeobachtung zu jeder Jahreszeit möglich wird. 196 Rabel, der im Jahre 1622 mit einer Publikation von Gravuren in Erscheinung getreten war, die unter dem Titel Theatrum Florae ein weiteres Beispiel der Florilegien des frühen 17. Jahrhunderts darstellt, 197 genoss hohes Ansehen unter seinen Zeitgenossen: François de Malherbe ehrte ihn mit einem Sonett, das der Handschrift von 1624 beigefügt wurde. 198 Kannte auch Montausier das Werk dieses Künstlers und ließ 196 Der Titel einer zeitgenössischen Publikation greift die Idee der Konservierung auf: Iardin d’hyver ou Cabinet des fleurs […]. Hg. von Jean Franeay, Douay, de l’imprimerie de Pierre Borremans 1616. Das Florilegium verbindet auf eine besondere Weise den ästhetischen Reiz mit dem ‚wissenschaftlichen‘ Erkenntnisinteresse: Die Beschreibung der Blumen erfolgt in Versform. Insgesamt 168 Blumenarten (inklusive Untergattungen) finden in 26 Elegien Erwähnung und kommen in 48 Gravuren auch bildlich zur Darstellung. 197 Theatrum Florae […]. Paris, chez Nicolas de Mathonière 1622. Das Werk ist ähnlich aufgebaut wie die Handschrift von 1624: Insekten, Blumen und ihre lateinischen Namen teilen sich eine Seite, die manchmal allerdings bis zu acht Darstellungen aufnimmt, so dass die Gravuren gedrängt wirken, ein Eindruck, der bei den Miniaturen der Handschrift nicht entsteht. Deutlicher als die Handschrift ist das Werk didaktischen Zwecken gewidmet, was sich auch daran erkennen lässt, dass mitunter die Wurzeln und Zwiebeln der Blumen eigens aufgeführt werden. 198 „Sonnet adressé par Malherbe à Rabel, peintre, sur un livre de fleurs / / Quelques louanges non pareilles/ Qu’ait Appellé encore aujourd’hui/ les Ouvrages pleine de merveilles/ M. Rabel au dessus de lui. / / L’Art y surmonte la Nature/ Et si mon jugement n’est vain/ Flore lui conduisait la main/ Quand il faisait cette peinture. / / Certes, il a privé mes yeux/ De l’objet qu’ils aiment le mieux/ N’y mettant point de Marguerite: / / Mais pouvait-il estre ignorant/ Qu’une fleur de tant de mérite/ Biblio17_204_s005-419End.indd 246 11.06.13 10: 10 <?page no="247"?> 247 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) sich von dessen Blumenportraits inspirieren? Als Todesdatum des Malers wird das Jahr 1637 angegeben, 199 so dass er für die Ausführung der Guirlande nicht mehr zur Verfügung stand. Ein Einfluss seines Werks auf ihre Entstehung ist jedoch nicht auszuschließen, wenngleich ohne nähere Informationen über den Auftraggeber Rabels nur darüber spekuliert werden kann, ob Montausier den Recueil de cent planches de fleurs & d’insectes gesehen und dadurch eine Vorstellung davon hatte, was er von Nicolas Robert haben wollte, als er ihn beauftragte, aus der Madrigalsammlung „La Guirlande de Julie“ ein album de fleurs zu machen. Abschließend bleibt Folgendes festzuhalten: Rabel wie Robert sind Maler, deren Darstellungen von Pflanzen, Blumen und Tieren in Handschriften und Büchern Verbreitung fanden, so dass sie anderen Künstlern zur Verfügung standen, die sie ihrerseits für botanische Zeichnungen und Gravuren, aber auch für Goldschmiedearbeiten oder Stickereien nutzten. 200 Robert selbst arbeitete jedoch seiner eigenen Aussage nach ad vivum, wozu er in Blois und später in den königlichen Gärten Gelegenheit fand. Hatte er diese Möglichkeit bereits im Jahre 1641? Falls dies nicht der Fall war, würden weitere Fragen zur Entstehung der Guirlande aufgeworfen: So wäre beispielsweise zu überlegen, woher die Blumen stammen, die Robert hier portraitiert. Viele der Arten, die in der Handschrift abgebildet wurden, sind zwar wildwachsend, andere jedoch, wie die tulipe flamboyante oder die couronne impériale, werden in Gärten und Gewächshäusern kultiviert, die nicht jedermann zu jeder Zeit zugänglich waren. Und nicht zuletzt ließe sich anhand dieser Vorgehensweise des Malers abschätzen, wieviel Zeit für die Fertigstellung der Guirlande mindestens zu veranschlagen ist, da die saisonbedingte Verfügbarkeit mancher Blumen einen saisonalen Arbeitsrhythmus nach sich zieht. Vor diesem Hintergrund wird einmal mehr deutlich, dass Montausier bei der Auswahl der Künstler, die er für die Gestaltung seiner Handschrift engagiert, weder Mühe noch Aufwand scheut, um ihr jenen Prestigecharakter zu verleihen, den sie bis heute nicht verloren hat. Zugleich wirkt dieses Prestige jedoch auch auf diejenigen zurück, die sich darum verdient gemacht haben: Die hier skizzierten Künstlerkarrieren mögen sich vielleicht nicht zu hundert Prozent Aurait terni le demeurant? “ (BNF, Paris, Estampes, Rés. JA-19, nicht paginiert). Claus Nissen zufolge hat außerdem die Prüfung durch einen Experten ergeben, dass einige der ersten vélins aus Gaston d’Orléans’ Sammlung von Rabel stammen und dass Robert einer seiner Schüler war. 199 In den Katalogen der BNF. Madeleine Pinault Sörensen gibt als Lebensdaten die Jahre 1540/ 1545-1603 an (Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 98 und 99), was angesichts der von ihr selbst zitierten Datierung der Werke nur ein Fehler sein kann. 200 Vgl. Pinault Sörensen, Le livre botanique, S. 71-73; Saunders, Picturing Plants, S. 41-64. Biblio17_204_s005-419End.indd 247 11.06.13 10: 10 <?page no="248"?> 248 La Guirlande de Julie dieser Auftragsarbeit verdanken, wie es in der Literatur manchmal suggeriert wird, aber die beruflichen Erfolge, die Jarry und Robert im Laufe ihres Lebens akkumulieren, lassen dennoch auf das hohe symbolische Kapital schließen, das mit der Guirlande de Julie verbunden war. Aber nicht nur den Künstlern kommt dieses Kapital zugute. Wie ein Vergleich der Handschrift mit der Devisensammlung der Duchesse de La Trémoïlle im Folgenden zeigen wird, profitieren auch diejenigen von ihrem Glanz, die als die zentrale ‚Triade‘ der Chambre bleue gelten dürfen, d.h. neben dem Marquis de Montausier auch die Marquise de Rambouillet sowie ihre Tochter, Julie d’Angennes. 3.2.3 La Guirlande de Julie und das Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle Das Zusammenspiel von Bild und Text, das sich in beiden Handschriften niederschlägt, knüpft an das spezifische Verhältnis von lisibilité und visibilité der frühneuzeitlichen Kunst der Emblematik an. 201 Während die Guirlande de Julie nur im weitesten Sinne emblematische Züge aufweist, 202 handelt es sich bei dem Album der Duchesse de La Trémoïlle um einen recueil de devises, d.h. um jene spezifische poésie aristocratique, die sich Anne-Elisabeth Spica zufolge durch ein spannungsvolles Verhältnis zur Emblematik auszeichnet. 203 Die Devise, als eine individualisierte und vor allem weltliche Spielart des Emblems, definiert Spica als „une petite machine de concentration et de miniaturisation précieuse, un condensé d’expression en une image et un mot.“ 204 Diese verdichtende Ausdrucksform ist also das Portrait en miniature einer herausragenden Persönlichkeit, deren außergewöhnlichen Qualitäten, so sehen es zumindest zeitgenössische Traktatisten, gar nicht anders repräsentiert werden können: 201 Roger Paultre datiert den Höhepunkt der französischen Emblematik auf die Jahre 1550-1650 (vgl. Roger Paultre, Les images du livre. Emblèmes et devises. Paris, Hermann 1991, S. 55-63). Für eine systematische Untersuchung der Bild-Text-Relation, wie sie im Folgenden nicht geleistet werden kann, siehe Joachim Küpper, „Bild und Text. Zu einigen systematischen Implikaten der frühneuzeitlichen Emblematik“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 50/ 1, 2005, S. 77-109. 202 Insofern als sich auch in der Guirlande Bild und Text hermeneutisch aufeinander beziehen lassen, wobei sie auf ein Drittes verweisen, das nicht direkt abgebildet werden kann, wie beispielsweise die Tugenden Julies. Letztere werden durch die Blumen in doppelter Hinsicht ‚verkörpert‘, da sich zu der dem Bild der Blume inhärenten Symbolik die Rede gesellt, die den personifizierten Blumen in den Mund gelegt wird. 203 Vgl. Anne-Elisabeth Spica, „Les recueils de devises: une poésie aristocratique“, in: dies., Symbolique humaniste et emblématique. L’évolution et les genres (1580-1700). Paris, H. Champion 1996, S. 367-392. 204 Spica, Les recueils de devises, S. 373. Biblio17_204_s005-419End.indd 248 11.06.13 10: 10 <?page no="249"?> 249 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Typologie idéale des êtres d’exception, la devise doit caractériser de manière personnelle et originale celui qu’elle représente, et sa conformité à une singularité qu’on ne saurait mieux dire autrement en fait la qualité première. 205 Diese Merkmale treffen auch auf die Devisensammlung der Duchesse de La Trémoïlle zu. 206 Die Handschrift besteht heute aus 37 Folii aus Pergament, die jeweils von einer Zwischenlage Papier voneinander getrennt sind, auf der die Numerierung der jeweiligen Devise nachträglich erfolgte. Wie aus dem Inhaltsverzeichnis, das ebenfalls nachträglich hinzugefügt wurde, hervorgeht, fehlen drei Folii in dieser Sammlung, 207 die über mehrere Jahre hinweg Gestalt annahm und deren Devisen zu einem unbekannten Zeitpunkt in der Reihenfolge, in der sie in den Besitz der Duchesse de La Trémoïlle gelangten, zu einer Handschrift gebunden wurden. Letzteres geht aus einem kurzen Begleittext hervor, der gleichzeitig mit dem Inhaltsverzeichnis und der Numerierung der Devisen entstanden sein dürfte. 208 Die Aussage dieses Textes wird durch zwei Merkmale der Handschrift gestützt: Zum einen versammeln sich hier die Devisen von Personen, die aufgrund ihrer Lebensdaten und aufgrund der Art, wie sie zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens bezeichnet werden, nur unter der Bedingung gemeinsam ‚auftreten‘ können, dass diese Zusammenstellung über einen längeren Zeitraum - ungefähr zwischen 1640 und 1665 - erfolgte. Zum anderen weist die bildnerische Gestaltung der Devisen stilistische Brüche auf, die für sich genommen sicherlich weniger zwingend auf eine ausgedehnte Entstehungszeit des Albums schließen lassen, aber einen heterogenen Charakterzug dieser Sammlung, die sich ansonsten durch Geschlossenheit auszeichnet, hervorheben. 205 Spica, Les recueils de devises, S. 381. 206 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5217; die Devisen der Sammlung wurden vollständig reproduziert und sind unter Eingabe der Signatur der Handschrift in der banque d’images der BNF einsehbar. Sie sind numeriert, werden jedoch auch unter dem Namen der Person aufgeführt, um deren Devise es sich handelt. 207 Es handelt sich um die Devisen von Anne Marie Louise d’Orléans, Demoiselle de Montpensier (genannt „La grande Mademoiselle“), von Jeanne Hurault de l’Hospital, Dame de Choisy (Mutter des durch seine Memoiren bekannten Abbé de Choisy; die Ursprünge ihrer Verbindung zu der Besitzerin des Albums liegen vermutlich in der militärdiplomatischen Zusammenarbeit ihres Mannes mit Mme de La Tremoïlles Bruder Turenne, dessen Haus jedenfalls schon bald nach Entstehung des Albums beide Söhne Choisy wirksam protegierte) und von Emilie Prinzessin von Hessen-Kassel, Princesse de Tarente (ab 1648 Schwiegertochter der Duchesse de La Trémoïlle). 208 „Les cartouches qui sont en ce livre y ayant esté mis à mezure qu’ils ont esté donnez à madame la duchesse de La Trémoïlle, on n’a peu y observer aucun ordre ny rang.“ (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5217, s.p.). Biblio17_204_s005-419End.indd 249 11.06.13 10: 10 <?page no="250"?> 250 La Guirlande de Julie Auf diese Geschlossenheit, die vor allem unter sozialen Gesichtspunkten signifikant ist, wird im Anschluss noch näher einzugehen sein. An dieser Stelle sei zunächst auf den Aufbau der einzelnen Devisen hingewiesen, der ein spezifisches Zusammenspiel von Bild und Text erkennen lässt: Der schriftliche Teil der Darstellung besteht einerseits aus dem Namen der Person, der in seiner notariellen Form erscheint, sowie andererseits aus der Sentenz. Der bildliche Teil besteht aus dem Wappen, das zusammen mit dem Namen die entsprechende Person identifiziert, sowie aus einem reich geschmückten Rahmen, in dem die Devise symbolisch zur Darstellung kommt. Das gesamte Bildfeld wird außerdem noch einmal durch einen schmalen Rand abgezirkelt, woraus sich eine mise en abyme der Repräsentation ergibt: Die gesamte Devise samt Namen und Wappen der Person wird von einer schlichten Linie eingefasst, während das Sinnbild der Devise das innere Oval eines prunkvollen Rahmens ausfüllt. Dieser ruft die Vorstellung eines Spiegels hervor, in dem sich derjenige betrachtet, dessen Name darüber steht. So liest man beispielsweise in einer Banderole, die mit ihrem Wappen verschlungen ist, den Namen der Albumsbesitzerin, Marie de la Tour, Duchesse de La Trémoïlle. Das Oval ihres im barocken Stil mit goldenem Akantuslaub und Puttenköpfen verzierten ‚Spiegels‘, der außerdem mit Blumengirlanden und Palmenblättern geschmückt ist, beinhaltet eine Landschaft, an deren Horizont eine Stadt zu erkennen ist, die von einem Turm dominiert wird. Über dieser Szene schwingt sich ein Paradiesvogel empor, dessen goldrotes Gefieder und langer Schweif den Blick des Betrachters auf sich zieht, und der die Sentenz der Devise „Terrae contagia nescit“ zur Anschauung bringt, die sich übersetzen ließe als: „Er (der Vogel) oder sie (Mme de La Trémoïlle) kennt die Berührungen des Bodens nicht“. Wenngleich die Präsentation des Albums grundsätzlich homogen ist, sind die einzelnen ‚Spiegel‘ nach unterschiedlichen Modellen geformt. Diese Unterschiede ermöglichen eine stilistische Einordnung der Devisen, wobei zu Beginn des Albums das beschriebene Modell der Duchesse de La Trémoïlle dominiert. Ab der Devise mit der Ordnungsnummer 22 209 taucht es jedoch überhaupt nicht mehr auf, während von nun an verschiedene Modelle einander ablösen, die ihrerseits wiederum in der ersten Hälfte nicht zu finden 209 Es handelt sich um die Devise der Königin Louise-Marie und des seit 1649 mit ihr verheirateten Königs Johann II. Kasimir von Polen. Von nun an ist das Pergament, auf das die Devisen gemalt wurden, deutlich größer als zuvor. Die ‚Spiegel‘ sind üppiger geschmückt, so dass Blumengewinde, Palmenzweige oder Schildträger das gesamte Bildfeld einnehmen. Der Betrachter hat so weniger den Eindruck einer mise en abyme, wenngleich bei genauerem Hinsehen immer noch zwischen dem schmalen Rahmen der Devisendarstellung insgesamt und dem üppigen Rahmen des Sinnbilds unterschieden werden muss. Biblio17_204_s005-419End.indd 250 11.06.13 10: 10 <?page no="251"?> 251 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) sind. Dieser Bruch, der die Handschrift ungefähr in der Mitte teilt, spiegelt sich auch in der Biographie der Personen, deren Devisen in der zweiten Hälfte der Sammlung dargestellt werden: Während sich für die Entstehung der unter stilistischen Gesichtspunkten homogeneren ersten Gruppe eine Kernzeit zwischen 1643-1645 herauskristallisiert, liegt die hauptsächliche Entstehungszeit der zweiten Gruppe in den fünfziger und frühen sechziger Jahren. Diese Schwerpunkte, die natürlich nur eine Annäherung sein können und nichts darüber aussagen, wann genau diese oder jene Devise zu der Sammlung gestoßen ist, lassen sich anhand der Lebensdaten sowie an der Rangbezeichnung verschiedener Persönlichkeiten ermitteln. So ist 1643 der früheste Zeitpunkt, zu dem alle Personen, deren Devisen in der ersten Hälfte der Sammlung auftauchen, den Namen tragen, unter dem sie aufgeführt werden: Claire-Clémence de Maillé, Duchesse d’Enghien, heiratet Enghien im Jahre 1641; 210 Anne Geneviève de Bourbon, Duchesse de Longueville, ist seit 1642 mit Longueville verheiratet; 211 die im Album „gouvernante du Roy et de Monsieur“ titulierte Marie Catherine de La Rochefoucauld, Marquise de Senecey erhält ihr Amt 1643; 212 und die Regentschaft der Anna von Österreich, die mit der Bezeichnung „Regente“ in das Devisenalbum aufgenommen wurde, umfasst bekanntlich die Jahre 1643 bis 1651. Auf der anderen Seite der Skala ist das früheste Datum, an dem die Übereinstimmung aller realen Namensformen mit den Devisen des ersten Teils der Sammlung nicht mehr gegeben ist, das Jahr 1645, in dem die Eheschließung Julie d’Angennes’ mit dem Marquis de Montausier erfolgt, was mit einer entsprechenden Veränderung des Namens und des Wappens einhergeht. 1646 macht der Tod ihres Schwiegervater aus der Duchesse d’Enghien eine Princesse de Condé, 213 was zusammen mit dem Klostereintritt der Anne-Chrestienne de Nogaret de Foix de la Valette, Demoiselle d’Épernon (1649) 214 und dem Tod der verwitweten Princesse de Condé, Charlotte-Marguerite de Montmorency (1650) 215 210 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 701, Artikel I a 78. 211 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 703, Artikel I a 144. 212 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 164, Artikel A318. 213 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 9, in Artikel A20. 214 Es handelt sich um Anne-Louise-Christine de Nogaret de Foix de La Valette, Demoiselle d’Épernon, die einzige Tochter aus 1. Ehe von Bernard de Nogaret de Foix de La Valette, Duc d’Épernon, deren Namen nach ihrem Klostereintritt Sœur Anne- Marie de Jésus lautet (vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 451, in Artikel D1). 215 Vgl. Europäische Stammtafeln Bd. III/ 1, Tafel 90 sowie Bd. XIV, Tafel 130. Biblio17_204_s005-419End.indd 251 11.06.13 10: 10 <?page no="252"?> 252 La Guirlande de Julie ausschließt, dass diese Devisen zeitgleich mit den Devisen der jüngsten Generation der La Trémoïlle entstanden sind, die in dem Album vertreten ist: Die Enkel der Besitzerin, Charlotte-Amélie de La Trémoïlle, geboren 1652 sowie Charles-Belgique-Hollande de La Trémoïlle, Duc de Thouars, geboren 1655. 216 Letztere finden sich daher nicht zufällig in der zweiten Gruppe der Sammlung, in der außerdem Personen auftauchen, deren Verbindung mit dem Hause La Trémoïlle vermutlich über die Fronde (1648-1653) zustande gekommen ist, 217 deren Ehen erst in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren geschlossen wurden 218 oder die in dieser Zeit erst den Titel erhielten, unter dem sie aufgeführt sind 219 . Während sich diese zweite Gruppenbildung über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erstrecken könnte, erscheint eine engere Eingrenzung der Entstehungszeit zu Beginn der Sammlung vor allem unter folgendem Gesichtspunkt sinnvoll: Das Devisenalbum verweist auf eine soziale Praxis, die im Unterschied zu einer reinen Wappensammlung oder der Genealogie eines Adelshauses einen spielerischen Charakter hat, der die aktive Beteiligung der handelnden Personen voraussetzt, da letztere dazu aufgefordert sind, sich eine Sentenz sowie deren symbolische Visualisierung auszudenken, die von einem professionellen Maler in ein Bild übersetzt wird. Wie im Falle der Guirlande liegt es darum auch hier nahe, von einem bestimmten Zeitpunkt auszugehen, zu dem dieses Spiel in Mode kam und sich möglichst viele Mitspieler finden ließen. Es ist denkbar, dass sich dieses ‚Devisenspiel‘ über die Jahre verselbständigte und zu einer Art album amicorum wurde, in das sich zu verschiedenen Anlässen ausgewählte Personen ‚eintragen‘ lassen konnten. Diese Annahme würde beispielsweise auch erklären, warum gerade im zwei- 216 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 38, Artikel A58 sowie S. 619, in Artikel H7. 217 Zum Beispiel Armand Jean [Vignerot] du Plessis, Duc de Richelieu et de Fronsac und seine Frau, Anne de Poussard de Fors du Vigean, Duchesse de Richelieu, deren Ehe der Frondeur und La Trémoïlle-Verwandte Condé aus strategischen Gründen arrangiert hatte (vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 166, Artikel A322; S. 281, Artikel A560 sowie Béguin, Les princes de Condé, S. 434). 218 Zum Beispiel die 1662 geschlossene Ehe zwischen der Tochter der Albuminhaberin Marie de La Trémoïlle, Herzogin von Sachsen-Jena und ihrem Mann Bernhard, Herzog von Sachsen-Jena (vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 618, in Artikel H7). 219 Zum Beispiel Louis de Cossé, Duc de Brissac und seine Frau, Marguerite de Gondy de Retz (1651; vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD- ROM), S. 628, in Artikel H86) oder Marie de Cossé, Duchesse de La Meilleraye (1663; vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 424, in Artikel C2). Biblio17_204_s005-419End.indd 252 11.06.13 10: 10 <?page no="253"?> 253 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) ten Teil der Sammlung verschiedene Personen auftauchen, deren Verbindung zum Hause La Trémoïlle sich einem solchen Anlass - die Fronde oder die Anwesenheit eines Vertreters des schwedischen Adels - verdanken könnte. Die Hypothese, dass das Sammeln von Devisen als ein Spiel begann, würde außerdem die Anwesenheit Montausiers sowie der Marquise de Rambouillet und ihrer Tochter im ersten Teil der Sammlung plausibler machen, da diesen Repräsentanten der Chambre bleue gewissermaßen der Ruf vorauseilt, ausgewiesene ‚Spieler‘ zu sein. Die Devisen dieser drei Personen sind tatsächlich erklärungsbedürftig, und zwar zunächst vor dem Hintergrund ihrer schieren Existenz in diesem Album: Gerade der erste Teil der Sammlung zeichnet sich nämlich durch seine rangspezifische Homogenität aus. Montausier jedoch und die Damen Rambouillet gehören zwar zum alten französischen Schwertadel, haben aber keinen herzoglichen Rang wie die meisten anderen Persönlichkeiten, deren Devisen hier dargestellt sind. 220 Montausier könnte noch aufgrund seiner religiösen Zugehörigkeit eine privilegierte Beziehung zum protestantischen Hause La Trémoïlle aufgebaut haben, 221 er ist hier jedoch eindeutig Teil einer triadischen Konstellation, die auch die Marquise de Rambouillet und ihre Tochter einschließt. Angesichts der vermutlichen Entstehungszeit ihrer Devisen ist es einleuchtender, von der Annahme auszugehen, dass der Erfolg der Guirlande de Julie dazu beigetragen hat, die Namen dieser Personen - man entschuldige das Wortspiel - ‚salonfähig‘ zu machen. 222 Auch die Devisen 220 Außer ihnen fallen im ersten Teil der Sammlung nur noch drei weitere Personen aus diesem hochadligen Sozialprofil heraus. Deren Anwesenheit ließe sich in einem Fall mit dem hohen Amt erklären, das die betreffende Person inne hatte, sowie über weitläufige Verwandschaft (Marie Catherine de La Rochefoucauld, Marquise de Senecey; vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 164, Artikel A318). Die anderen beiden Fälle (Henry Auguste de Loménie, Comte de Brienne, 1643-1663 französischer Außenminister, und seine Frau, Louise de Béon de Luxembourg) lassen sich über außenpolitische Interessen an das Haus La Trémoïlle zurückbinden, dessen besondere Stärke seine internationalen Familienstrukturen sind. 221 Zu Bedeutung und Rollenwechsel dieser letzten großen protestantischen Dynastie Frankreichs siehe Horowski, Turenne und die Folgen, S. 171-211. 222 Diese Hypothese wird auch durch eine Zusammenstellung spielerischer Sentenzen bestätigt, die sich vermutlich ebenfalls im Besitz der Duchesse de La Trémoïlle befand, im Unterschied zu ihrem Devisenalbum jedoch Personen mit sehr unterschiedlichem Sozialprofil versammelt (vgl. Philippe Godet, „Album de Marie de La Tour, princesse de Tarente“, in: Revue de Champagne et de Brie, 5, XVIII/ 2, 1893, S. 151-158 sowie Sonja Kmec, Across the Channel. Noblewomen in Seventeenth- Century in France and England. A Study of the Lives of Marie de La Tour ‚Queen of the Huguenos‘ and Charlotte de La Trémoïlle, Countess of Derby. Trier, Kliomedia 2010, S. 299-301). Jedes Motto ist sowohl mit einem Namen als auch mit einer Jahreszahl Biblio17_204_s005-419End.indd 253 11.06.13 10: 10 <?page no="254"?> 254 La Guirlande de Julie dieser Personen lassen sich in diese Richtung interpretieren (vgl. Abb. 4-6): Am deutlichsten nimmt Mademoiselle de Rambouillet mit ihrer Sentenz „Immota“ auf die Rolle Bezug, die sie in der Chambre bleue zu spielen pflegt. Sie ist der unbewegliche, unerschütterliche Pol, der im graphischen Teil ihrer Devise durch den Nordstern im Bild des Kleinen Bären symbolisiert wird und einerseits zwar der Orientierung dient, sich andererseits aber auch jeglicher Veränderung - wie zum Beispiel einer Eheschließung - widersetzt. Auf diese Devise scheinen sowohl Montausier als auch die Marquise de Rambouillet zu reagieren, wobei sie jeweils unterschiedliche Interpretationen wählen: Die Marquise spielt mit ihrer Devise „Dirige me“ auf die Orientierung an, die der Nordstern verspricht, und symbolisiert das Vertrauen in dieses Versprechen zugleich mit einem Schiff, das in einer sternenklaren Nacht Segel gesetzt hat. Montausier hingegen wählt für seine Devise „Dant vires qui extinguere tentant“ („Sie geben Kräfte, obwohl sie [ihn oder es] auszulöschen versuchen“) ein Bild der Leidenschaft, die sich selbst gegen größte Widerstände zu behaupten weiß: In dem Oval seines ‚Spiegels‘ brennt das Feuer eines Vulkans, auf das aus allen vier Himmelsrichtungen der Wind bläst, mit dem Erfolg, dass es nur noch stärker angefacht wird. Die Hitze des Feuers steht damit in einem diametralen Gegensatz zu der Kälte des Nordhimmels, den Mademoiselle de Rambouillet zu ihrer Versinnbildlichung gewählt hat. Für den heutigen Leser sowie für einen habitué des Hôtel de Rambouillet ist diese Symbolik leicht zu entschlüsseln und die Rollenverteilung wenig überraschend. Allerdings gilt es zu bedenken, dass diese Devisen außerhalb jenes relationalen Raumes ausgestellt werden, der den Protagonisten der Chambre bleue, dieser halbfiktionalen Welt, einen gewissen Schutz bietet. Letzteres ist jenseits dieses Raumes nicht mehr gewährleistet und die Personen laufen Gefahr, ihre persona der Lächerlichkeit preiszugeben. 223 Fast scheint es darum, als würden sie sich gegenseitig Schutz gewähren: Denn während man die Devisen von Montausier und ‚Julie‘ - zumal auf der Grundlage der Guirlande - durchaus als das Ringen antagonistischer Kräfte um Veränderung verbunden, und neben den Namen der im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung interessierenden Personen - Montausier sowie Mutter und Tocher Rambouillet - wurde die Jahreszahl 1641 vermerkt. Wie außerdem jüngst Sonia Kmec dargelegt hat, zeichnet sich die Persönlichkeit der Duchesse de La Trémoïlle über sprachliche Talente und Neigungen aus, die sie die Nähe zu jenen literarisch ambitionierten Personen ihrer Zeit suchen lässt, die nicht zuletzt auch im Umkreis der Marquise de Rambouillet aktiv sind (vgl. Kmec, Across the Channel, S. 204-232, insbesondere S. 216-232). 223 Dass diese Befürchtung nicht unbegründet ist, zeigen beispielsweise die satirischen Verse, die in der Strecke „La Guirlande de Julie“ abgebildet sind, die die Handschrift des Pierre des Noyers in Chantilly enthält (vgl. Teil III, Kap. 2.2.2). Biblio17_204_s005-419End.indd 254 11.06.13 10: 10 <?page no="255"?> 255 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Abb. 4: „L’album de devises de la duchesse de La Trémoïlle“; Devise des Marquis de Montausier. Biblio17_204_s005-419End.indd 255 11.06.13 10: 10 <?page no="256"?> 256 La Guirlande de Julie Abb. 5: „L’album de devises de la duchesse de La Trémoïlle“; Devise von Mademoiselle de Rambouillet. Biblio17_204_s005-419End.indd 256 11.06.13 10: 10 <?page no="257"?> 257 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) Abb. 6: „L’album de devises de la duchesse de La Trémoïlle“; Devise der Marquise de Rambouillet. Biblio17_204_s005-419End.indd 257 11.06.13 10: 10 <?page no="258"?> 258 La Guirlande de Julie lesen kann, lenkt die Devise der Mutter den Blick auf den Eigenwert der Beständigkeit, die in der Devise der Tochter zum Ausdruck kommt. Lässt man die Bilder der Frauen in einen Dialog treten, übernimmt - anders als man erwarten könnte - die Jüngere (der „Kleine Bär“) die Führung, während sich die Ältere an jenem Stern orientiert, dessen Leuchtkraft dazu beigetragen hat, aus der Chambre bleue ein Paralleluniversum zu machen, das sogar mit dem ranghöheren, dynastisch und politisch ungleich besser vernetzten Hause der La Trémoïlle kommuniziert. Wenngleich dies durch die Salongeschichtsschreibung suggeriert wird, ist es doch keineswegs so, dass die Chambre bleue von vornherein auf allen Ebenen der französischen Gesellschaft höchstes Ansehen genossen und ihren Protagonisten auf diese Weise eine Immunität gegen Spott gewährt hätte. Die Comtesse de Caylus stellt in ihren Souvenirs einen konkreten Zusammenhang her zwischen der Preziösenkritik unter Ludwig XIV. und dem Hôtel de Rambouillet, wenn sie das anfängliche Misstrauen beschreibt, das der Monarch seiner späteren maitresse en titre und zukünftigen heimlichen Ehefrau Madame de Maintenon entgegen gebracht habe: Il faut avouer que le Roi, dans les premiers temps, eut plus d’éloignement que d’inclination pour madame de Maintenon; mais cet éloignement n’étoit fondé que sur une espèce de crainte de son mérite, et sur ce qu’il la soupçonnoit d’avoir dans l’esprit le précieux de l’hôtel de Rambouillet, dont les hôtels d’Albret et de Richelieu, où elle avoit brillé, étoient une suite et une imitation […]. 224 Natürlich gilt es bei dieser Quelle zweierlei zu berücksichtigen: Erstens handelt es sich um eine retrospektive Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Ludwig XIV., die zweitens nicht identisch sind mit denjenigen aus der Blütezeit der Chambre bleue. Diese Einschränkungen berücksichtigend und eingedenk der Möglichkeit, dass sich die Wahrnehmung der Comtesse de Caylus über die Jahre hinweg noch einmal zu Ungunsten der sogenannten préciosité verschoben haben mag, lassen sich anhand dieser Aussage jedoch interessante Schlussfolgerungen ziehen: So scheint der ‚Stern‘ des Hôtel de Rambouillet im Laufe der sechziger Jahre tatsächlich gesunken zu sein, zumindest am Hofe des Königs, der jedoch den Fluchtpunkt jeglichen sozialen Aufstiegs darstellt. Zu diesem Zeitpunkt tangiert dies die ehemaligen Protagonisten der Chambre bleue, die sich mittlerweile Duc und Duchesse de Montausier titulieren dürfen und hofprominente Ämter inne haben, nicht mehr. 225 Es zeigt jedoch auch, dass es vernünftig war, sich zu gegebener Zeit 224 Souvenirs de Madame de Caylus, S. 48. 225 Vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, Prosopographie (CD-ROM), S. 165, Artikel A321; S. 246, Artikel A475. Biblio17_204_s005-419End.indd 258 11.06.13 10: 10 <?page no="259"?> 259 Die Prachthandschrift La Guirlande de Julie (1641) nicht auf die Geschlossenheit der eigenen, literarisch-spielerischen Relationalität zu verlassen, sondern über deren Grenzen hinaus - heute würde man sagen - ‚Lobbyarbeit‘ zu betreiben und sich Zutritt zu ranghöheren Räumen zu verschaffen. Betrachtet man nun die Aufnahme der Devisen von Montausier, der Marquise de Rambouillet und ihrer Tochter in das Album der Duchesse de La Trémoïlle als eine Station dieses gesellschaftlichen Aufstiegs, so lässt sich anhand dieser Quelle das symbolische Kapital abschätzen, das mit der Chambre bleue in den vierziger Jahren verbunden ist: Greifbar wird die Konversations- und Spielkultur, die mit dem Hôtel de Rambouillet assoziiert wird, insbesondere in ihrer visualisierten Form, als deren prominentestes Beispiel die Handschrift La Guirlande de Julie gelten darf. 226 Obwohl sie mit dem Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheint - die Blumengirlanden, die die barocken ‚Spiegel‘ der Devisen schmücken, sind ein zu allgemeines Stilmittel, um als Zitat verstanden zu werden -, lassen sich die Handschriften auf der strukturellen und pragmatischen Ebene durchaus miteinander vergleichen: Zunächst handelt es sich in beiden Fällen um Prestigeobjekte, die repräsentativen Zwecken dienten und nicht zur Publikation gedacht waren. Ihrem Wesen nach stationär und einmalig, waren sie dazu bestimmt, im Familienbesitz zu verbleiben. Sie wurden vermutlich kaum jemals aus den Bibliotheken der Schlösser oder der hôtels particuliers entfernt, es sei denn, um sie Besuchern und Gästen zu präsentieren. Darüber hinaus zeichnen sich beide Werke durch einen verspielten Charakter aus, der insbesondere bei ihrer Entstehung von maßgeblicher Bedeutung gewesen sein könnte. Sie sind nicht von der sozialen Praxis zu trennen, auf die sie zurückverweisen, wenngleich sich die spezifische Dynamik des ursprünglichen Gesellschaftsspiels aufgrund der monumentalen Präsentationsform leicht übersehen lässt. Sowohl die Devisenals auch die Madrigalsammlung zeugt von der Prozessualität eines Gesamtkunstwerks, das im Schnittpunkt von sociabilité und poéticité angesiedelt und einer Transformation unterworfen ist, während derer das Bild zunehmend in den Vordergrund tritt. Nicht zuletzt sind beide Handschriften schließlich Beispiele für eine Relationalität, die sich über ein spezifisches Verhältnis von Raum, Text und Bild konstituiert. Sie können als Ausdruck eines Gruppengedächtnisses gelesen werden, das sich in der Geschlossenheit jener ‚Alben‘ spiegelt, in denen die Sammlungen zirkulierender Gedichte und auf Anfrage angefertigter Devisen schließlich Gestalt annehmen. 226 Man mag es als Ironie des Schicksals begreifen, dass diese galanterie, die als ‚Eintrittskarte‘ in die Welt der hocharistokratischen sociabilité betrachtet werden kann, zugleich die sichtbarste, wenngleich unausgesprochene Zielscheibe der Preziösenkritik unter Ludwig XIV. ist. Biblio17_204_s005-419End.indd 259 11.06.13 10: 10 <?page no="260"?> 260 La Guirlande de Julie Allerdings gilt es trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren, dass die relationalen Räume, auf die diese Alben verweisen und an deren Konstitution sie beteiligt sind, unterschiedlich beschaffen sind. Das Devisenalbum bildet in seinem Kern einen auch unabhängig von seiner Visualisierung existenten dynastischen Raum ab, der sich über verschiedene Grade der Verwandtschaft ausdehnen lässt und an den standesgemäße Beziehungen angeschlossen werden können, so dass ein Netzwerk von Personen entsteht, die sich - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - durch ein identisches Sozialprofil auszeichnen. Anders die Relationalität, die sich in der Guirlande de Julie niederschlägt: Der Raum der Chambre bleue wird nicht in erster Linie von familiären Strukturen zusammengehalten, sondern maßgeblich über ‚Erzählungen‘ und soziale Interaktionen generiert, die über die übliche Adelssoziabilität insofern hinausgehen, als sie auch Personen einschließen, die aus Standesgründen von dieser nicht erfasst werden würden. Die Guirlande ist Teil einer Fiktionalisierungsstrategie, auf der die salonspezifische Gruppenbildung beruht und ohne die der Zusammenhalt der Gruppe nicht gewährleistet wäre. Ihr Vergleich mit dem Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle ist jedoch auch deshalb von besonderem Interesse, als in diesem Album die verschiedenen Räume ineinanderragen: Der ‚Salon‘ der Marquise de Rambouillet ermöglicht den Protagonisten der Guirlande de Julie (sowie der Marquise selbst) den Zugang zu dem hocharistokratischen Devisenspiel, das möglicherweise sogar von dem Girlandenspiel inspiriert wurde. Die Chambre bleue und ihre spezifische Verschränkung von Fiktionalität und Soziabilität wird so zu einem Instrument des sozialen Aufstiegs, und zwar für den Aufstieg in einen sozialen Raum, der sich nicht über die Kunst der Konversation, sondern allein über Rang und Macht definiert. Dies allerdings wirft auch ein bestimmtes Licht auf die Konversation selbst und ihre ‚Spiele‘, die vor diesem Hintergrund alles andere als einen locus amœnus konstituieren. 4 Fazit: La Guirlande de Julie als Salonalbum Die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet gilt als Inbegriff der société polie im Frankreich des 17. Jahrhundert, als Beginn und zugleich als Höhepunkt der französischen Salonkultur. In der sogenannten Chambre bleue scharen sich sowohl Vertreter des Adels als auch Dichter und Gelehrte um die Damen des Hauses, insbesondere um die älteste Tochter, Julie d’Angennes. Ihr wird im Jahre 1641 eine Prachthandschrift zum Geschenk gemacht, die den Titel Biblio17_204_s005-419End.indd 260 11.06.13 10: 10 <?page no="261"?> 261 Fazit La Guirlande de Julie trägt. Es handelt sich um eine Madrigalsammlung, an der verschiedene Autoren und Gelegenheitsdichter aus dem Umkreis des Salons mitgewirkt haben, um ‚Julie‘ zu huldigen, indem sie ihr ein Blumengedicht widmen. Was liegt näher als die Annahme, mit dieser kollektiv gestalteten Handschrift sei das Salonalbum par excellence auf uns gekommen? Bei näherem Hinsehen ist diese Diagnose jedoch alles andere als eindeutig. Dieser Teil der Untersuchung war einem Gegenstand gewidmet, der sich durch die Verschränkung sozialer, visueller, symbolischer und narrativer Strukturen auszeichnet, und dessen mehrdimensionalen Funktionszusammenhang es zu rekonstruieren galt. Dazu mussten zunächst die Fiktionalisierungsstrategien und Figurationen - im Sinne Delphine Denis’ - herausgearbeitet werden, die das Imaginarium der Chambre bleue konstituieren und den wesentlichen Kohäsionsfaktor einer spezifischen Relationalität darstellen. Die figurative Praxis, durch die aus dem Hôtel de Rambouillet ein halbfiktionales Paralleluniversum wird, schlagen sich bereits in den Namen nieder, mit denen die Personen aufeinander Bezug nehmen. Neben dem galanten Pseudonym - beispielsweise wenn die Marquise de Rambouillet in den Texten als Artenice auftritt - stellt bereits die Nennung des reinen Vornamens eine Verfremdung des Umgangs miteinander dar. 227 So verwendet Montausier in seinen (nicht-fiktionalen) Briefen aus dem Elsaß durchweg die Anrede ‚Mademoiselle‘, wenn er an seine zukünftige Ehefrau schreibt, während er kurz zuvor seine Freunde und Bekannte dazu aufforderte, Madrigale für ‚Julie‘ zu verfassen. Die Madrigale sind Teil eines Spiels, zu dem Montausier durch die Literatur inspiriert wurde, genauer gesagt durch die Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria von Stefano Guazzo. Dieser narrativierte Dialog setzt ein Konversationsspiel in Szene, in dem Huldigungsgedichte deklamiert werden, die Guazzo bei einer Vielzahl von Personen eingeworben hat. Bereits diese Einwerbung, die nicht nur durch den Dialog, sondern auch in einer Reihe von Briefen überliefert ist, lässt sich als ein galantes Spiel betrachten, das sich Montausier zum Vorbild genommen hat. Der agonale Charakter dieses Spiels, der bei Guazzo vor allem in den Briefen deutlich wird, liegt auch der scénographie der Guirlande de Julie zu Grunde. In dieser Madrigalsammlung kommt eine Rivalität zum Ausdruck, die einen reizvollen Gegensatz zu jenem romantischen Diskursmodell darstellt, mit dem man gemeinhin die ‚Sprache der Blumen‘ verbindet. Die Streitbarkeit dieser Blumen baut eine intertextuelle Spannung auf, durch die das Album mit einem Theaterstück verglichen werden kann. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie der ‚Salon‘ der Marquise 227 Zur Frage, wie ungewöhnlich für die Zeitgenossen der Gebrauch des Vornamens war, vgl. Horowski, Die Belagerung des Thrones, S. 370-408, insbesondere S. 371f. Biblio17_204_s005-419End.indd 261 11.06.13 10: 10 <?page no="262"?> 262 La Guirlande de Julie de Rambouillet zu einer Bühne wird, auf der die Madrigale im Kampf um die Gunst der Julie d’Angennes deklamiert werden. Die Handschrift zeichnet sich also durch implizite narrative Strukturen aus, die auf eine Aufführung zu verweisen scheinen, auch wenn dadurch natürlich noch keinesfalls erwiesen ist, dass letztere im Hôtel de Rambouillet auch tatsächlich stattgefunden hat. Da einige der Gedichte jedoch nachweislich schon in den dreißiger Jahren entstanden sind, liegt der Verdacht nahe, dass sie zunächst zu einem Gesellschaftsspiel beitragen sollten, in dessen Mittelpunkt die ‚Prinzessin Julie‘ der Chambre bleue stand. Wirklich interessant werden diese Verse für die Zeitgenossen möglicherweise jedoch erst durch das prachtvolle Geschenk, das Montausier im Jahre 1641 anfertigen lässt. Davon zeugt zumindest ihre Aufnahme in diverse Handschriften und in den zweiten Band der Recueils de Sercy im Jahre 1653. Montausier beauftragt zwei junge Künstler mit der Ausgestaltung des Albums. Der Schreibmeister Nicolas Jarry führt die kalligraphische Abschrift der Madrigale aus, der Pflanzen- und Tiermaler Nicolas Robert illustriert die Sammlung der Gedichte, die jeweils eine Blume zum Gegenstand haben, mit deren Portrait. Tatsächlich besticht die Handschrift La Guirlande de Julie vor allem durch ihre materiellen und visuellen Qualitäten, die schon von den Zeitgenossen besonders hervorgehoben wurden und das Album in die Nähe anderer Prachthandschriften rücken. Insbesondere drängt sich angesichts der detailgetreuen Blumendarstellungen von Nicolas Robert der Vergleich mit dem um 1624 von Daniel Rabel gestalteten Recueil de cent planches de fleurs & d’insectes auf sowie mit dem Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle. Letzteres teilt mit der Guirlande de Julie vor allem den relationalen Charakter: In beiden Fällen handelt es sich um ein kollektives Werk sowie um die Repräsentation einer Gruppenbildung, auch wenn sich diese Gruppen in ihrem Sozialprofil grundsätzlich voneinander unterscheiden. Diese Relationalität erschließt sich in der Madrigalsammlung allerdings nicht durch die direkte Abbildung von Personen und deren Familien, wie man sie in dem Devisenalbum beobachten kann, sondern über ihren figurativen Charakter, der auf den performativen Entstehungszusammenhang der Gedichte zurückverweist. Im Unterschied zu der dynastischen Konstellation, die in den Devisen zum Ausdruck kommt, kann der Zusammenhalt der Personen, die sich an dem galanten Spiel der Madrigaldichtung beteiligen, nicht als gegeben betrachtet werden. Vielmehr wird er durch das Spiel, dessen Spuren in der Handschrift aufgehoben sind, erst gestiftet. La Guirlande de Julie kann also insofern als Salonalbum - im Sinne Margarete Zimmermanns, d.h. als Versuch, „die prinzipielle ‚Beweglichkeit‘ und Performativität des S[alons] in ein Biblio17_204_s005-419End.indd 262 11.06.13 10: 10 <?page no="263"?> 263 Fazit statisches Textbzw. Text-Bild-Monument zu übersetzen“ 228 - bezeichnet werden, als es diesen Moment der Gruppenbildung fixiert und dem Zusammenhalt stiftenden Spiel einen Gedächtnisraum schafft. Allerdings stellt sich die Frage nach dem strategischen Potential dieses Gruppenbildes: Wem nützt die Sichtbarkeit eines sozialen Gefüges, das durch den ‚Spiel-Raum‘ der Chambre bleue zusammengehalten wird? Wie der Blick auf das hocharistokratische Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle gezeigt hat, haben vor allem drei Personen einen direkten Nutzen davon, dass ihnen der Ruf vorauseilt, gute ‚Spieler‘ zu sein: Die Marquise, ihre Tochter und deren zukünftiger Ehemann. 228 Zimmermann, Salon, S. 554. Biblio17_204_s005-419End.indd 263 11.06.13 10: 10 <?page no="264"?> Biblio17_204_s005-419End.indd 264 11.06.13 10: 10 <?page no="265"?> Teil IV Die Chroniques du Samedi Eine Handschrift und der ‚Salon’ der Madeleine de Scudéry Wenn die Guirlande de Julie als das galante Meisterwerk betrachtet wird, das aus dem Salon der Marquise de Rambouillet hervorgegangen ist, dann ist die Carte de Tendre das Bravourstück, mit dem Madeleine de Scudéry ihrem ‚Freundeskreis‘, dem sogenannten Samedi, ein Denkmal gesetzt hat. 1 Aus heutiger Perspektive reiht sich die allegorische Landkarte der amitié tendre 1 Tallemant des Reáux bezeichnet die Gesellschaft der Madeleine de Scudéry in satirischer Absicht einmal als „la caballe de Mlle de Scudéry“, ein anderes Mal als „ses tendres amys“ (Tallemant, Historiettes II, S. 690). Die Selbstbezeichnung der Gruppe, die sich zumindest anfangs überwiegend an Samstagen getroffen zu haben scheint, lautet hingegen Le Samedy oder Samedi, weshalb der Ausdruck hier übernommen wird. Die Bezeichnung der Gruppe als ‚Freundeskreis‘ folgt zwar derselben Logik - die Selbsteinschätzung der beteiligten Personen -, generiert jedoch weniger unter onomasiologischen als unter konzeptionellen Gesichtspunkten einen Erklärungsbedarf, dem hier noch nicht entsprochen werden kann. Erst im Zuge der nun folgenden Untersuchungen wird deutlich werden, was die Protagonisten des Samedi unter der sie verbindenden amitié tendre verstehen und wie sie sich als Gruppe über dieses Konzept definieren. Eine Erörterung der - aus der Perspektive sowohl der historischen als auch der literaturwissenschaftlichen Forschung offenen - Frage, welcher Freundschaftsbegriff der französischen sociabilité im 17. Jahrhunderts zu Grunde liegt, wäre daher an dieser Stelle nicht hilfreich. Einen guten Überblick vermitteln das Themenheft L’amitié der Zeitschrift XVII e siècle, 205, 1999 (insbesondere die Artikel von Philippe-Joseph Salazar, „Éléments d’une théorie de l’amitié intellectuelle“, S. 583-593; Jean-Marie Constant, „L’amitié: le moteur de la mobilisation politique dans la noblesse de la première moitié du XVII e siècle“, S. 593-608; Éric Méchoulan, „Le métier d’ami“, S. 633-656; Hélène Merlin, „L’amitié entre le même et l’autre ou quand l’hétérogène devient principe constitutif de société“, S. 657-678; Emmanuel Bury, „L’amitié savante, ferment de la République des Lettres“, S. 729-747) sowie Christian Kühner, Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel des 17. Jahrhunderts. Göttingen, V&R unipress 2013. Biblio17_204_s005-419End.indd 265 11.06.13 10: 10 <?page no="266"?> 266 Die Chroniques du Samedi als Zeugnis der Konversationskunst nahtlos in die Tradition des frühen französischen salon-writing (DeJean) ein. Mindestens ebenso berühmt wie La Guirlande de Julie, fehlt sie in keiner historiographischen Darstellung der literarischen Salons des 17. Jahrhunderts, und wenn Julie die Prinzessin der Chambre bleue genannt werden darf, so ist Sapho (alias Madeleine de Scudéry) die Königin des Royaume de Tendre. Allerdings hat dieses Bild von der weiblichen ‚Doppelspitze‘ der französischen Salonkultur seine Tücken. Die Versuchung ist groß, die skizzierte Parallelführung auf einen Salonbegriff zurückzuprojizieren, der nicht weiter hinterfragt wird und als dessen typische Konfigurationen die Chambre bleue einerseits sowie der Samedi andererseits gelten dürfen. 2 Dieser Versuchung ist man in der Vergangenheit oft genug erlegen, wie Faith Beasley in ihrer Kritik der traditionellen französischen Literaturgeschichtsschreibung gezeigt hat: Together the ‚Guirlande‘ and the ‚Carte‘ create a historical image of a separate salon society that, while indicative of the century’s growing refinement, also present the salon world as separate from mainstream culture, especially literary culture, and not at all on a par with, or even intersecting with, France’s great canonical literary works of the same period produced by the ‚real‘ authors of the seventeenth century, the Corneilles, Racines, Molières, Descartes, and Boileaus, whose names one would not traditionally associate with the world that produced ‚La Guirlande de Julie‘ and the ‚Carte de Tendre‘. 3 Beasley weist zu Recht darauf hin, dass die historiographische Figur, die über die Guirlande de Julie und die Carte de Tendre konstruiert wird, zur Reduktion der frühen französischen Salonkultur auf ihre zivilisatorische Funktion („refinement“) geführt hat sowie zu ihrer Abschottung gegenüber der Literatur des 17. Jahrhunderts. Wie Beasley an anderer Stelle darlegt, geht die Parallelisierung der beiden Werke zudem mit einer Abwertung des Scudéry-Salons einher, der als bürgerliche und vor allem ‚preziöse‘ Karikatur des aristokrati- 2 Die traditionelle Forschung zum Salon der Marquise de Rambouillet wurde in Teil I dieser Arbeit vorgestellt. Zum Salon der Madeleine de Scudéry siehe vor allem: François Marcou, Etude sur la vie et les œuvres de Pellisson. Paris, Didier 1859; Edouard de Barthélemy, Sapho, le Mage de Sidon, Zénocrate. Paris 1880; Émile Magne, Le Salon de Madeleine de Scudéry ou le Royaume de Tendre. Monaco, Impr. de Monaco 1927; Claude Aragonnès, Madeleine de Scudéry, Reine de Tendre. Paris, A. Colin 1934; Georges Mongrédien, Madeleine de Scudéry et son salon. Paris, Tallandier 1946; Alain Niderst, Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leur monde. Paris, Publications de l’Université de Rouen et PUF, 1976; Nicole Aronson, Mademoiselle de Scudéry ou le Voyage au pays de Tendre. Paris, Fayard 1986; Barbara Krajewska, Du Cœur à l’esprit. Mademoiselle de Scudéry et ses samedis. Paris, Kimé 1993. 3 Beasley, Salons, History, and the Creation of seventeenth-century France, S. 9. Biblio17_204_s005-419End.indd 266 11.06.13 10: 10 <?page no="267"?> 267 Die Chroniques du Samedi schen Rambouillet-Kreises gezeichnet wird. 4 Eine literaturwissenschaftliche Arbeit, die sich heute auf diese zwei relationalen Räume konzentriert, sieht sich also mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert: So wenig befriedigend die traditionelle Dichotomie von noblesse auf der einen und préciosité auf der anderen Seite ist, so problematisch erscheint auch die Einebnung der unterschiedlichen sozialen Milieus auf der Grundlage einer traditionellen Vorstellung des salon littéraire. Auch wenn die Texte eine Fortsetzung der sozialen und ästhetischen Praxis der Chambre bleue durch die Akteure des Samedi suggerieren, ist die Vorstellung von einer einheitlichen, positiv benennbaren und auf weiblicher ‚Genealogie‘ begründeten Salonkultur problematisch, da sie einmal mehr die von Nicolas Schapira und Antoine Lilti angeratene Vorsicht im Umgang mit den Quellen ignoriert: Als Teil jener sozialen Praxis, über die sie Auskunft geben, sind es halbfiktionale Zeugnisse wie die Romane von Georges und Madeleine de Scudéry, 5 in denen eine Topographie der Salons zugleich abgebildet und hervorgebracht wird. So hätte man im Kreis um Madeleine de Scudéry sicherlich keinen Einspruch dagegen erhoben, als ‚Ableger‘ der Chambre bleue betrachtet zu werden, solange dadurch das eigene, im Vergleich rangniedrigere Sozialprofil durch die genealogische Metapher aufgewertet wird. Dieses Eigeninteresse der Protagonisten gilt es bei der Lektüre der Quellen immer mitzudenken, ohne dabei der gegenteiligen Interpretation das Wort zu reden, die den radikalen Bruch zwischen einem rein aristokratischen Milieu des Rambouillet-Zirkels und einem bürgerlichakademischen Milieu des Scudéry-Kreises postuliert. 6 4 Vgl. Beasley, Salons, History, and the Creation of seventeenth-century France, S. 228-243. 5 Das wohl bekannteste Beispiel ist das ‚Portrait‘ des Hôtel de Rambouillet und seiner Gäste in der sogenannten Histoire d’Élise aus dem siebten Band des Romans Le Grand Cyrus. Die Lektüre dieses Textes als Portraits geht auf Victor Cousin zurück, der bekanntlich den gesamten Roman ‚entschlüsselt‘ hat (vgl. Victor Cousin, La société française au XVII e siècle d’après ‚Le Grand Cyrus‘ de Mlle de Scudéry. Paris, Didier 1858). 6 Dass diese These auch heute noch vertreten wird, zeigt beispielsweise die Arbeit von Sophie Rollin, die in ihrer Studie über die Ästhetik Voitures den aristokratischen gegenüber dem bürgerlichen Salon rigoros abgrenzt: „D’un salon à l’autre [Rambouillet und Scudéry], l’atmosphère et les occupations ne sont plus les mêmes: les salons aristocratiques sont dévolus à toutes les activités de la sociabilité; les salons bourgeois, se spécialisant, deviennent, formellement ou non, autant de petites ‚académies‘.“ (Rollin, Le style de Vincent Voiture, S. 55) Im Folgenden soll im Gegenteil gezeigt werden, dass es gerade nicht die Atmosphäre ist, die von Salon zu Salon differiert, wenngleich Rollin dahingehend zuzustimmen ist, dass sich die spielerisch-ästhetischen Interaktionen hinsichtlich ihrer sozialen Voraussetzungen unterscheiden. Biblio17_204_s005-419End.indd 267 11.06.13 10: 10 <?page no="268"?> 268 Die Chroniques du Samedi Die klare Aufteilung der Salonkulturen in Vertreter des einen oder des anderen Milieus ist schon unter folgenden Gesichtspunkten problematisch: Ohne die sozialen Verwerfungen im Umkreis des Hôtel de Rambouillet hätte es der untersuchten Fiktionalisierungsstrategien zur Konsolidierung der Gruppe nicht bedurft. Die diesem Teil der Arbeit zu Grunde liegende Arbeitshypothese lautet daher, dass diese Strategien der figuration durch die biographischen Kontinuitäten, die den einen Salon mit dem anderen verbinden, im Kreis um Madeleine de Scudéry übernommen werden, auch wenn sich das Sozialprofil der Gruppe verändert hat. Diese These wird bereits durch die Biographie Conrarts gestützt, dessen aktiver Mitwirkung an der Gestaltung beider Räume wir es beispielsweise verdanken, dass ihre Überlieferungssituation vergleichbar ist: Die Recueils Conrart umfassen eine große Anzahl von Gelegenheitstexten, die nicht nur an der Konstruktion der Chambre bleue beteiligt sind, sondern auch dafür sorgen, dass sich ein spezifisches Imaginarium des Samedi entfaltet. Im Folgenden wird darum auch in diesem Teil der Studie ein erstes Kapitel den Fiktionalisierungsprozessen gewidmet sein, die sich in den Recueils Conrart - diesmal handelt es sich überwiegend um die Serie der in-folio Bände - nachzeichnen lassen und die auch hier die Voraussetzung für eine salonspezifische Gruppenbildung zu sein scheinen (was es zu prüfen gilt). Anschließend wird in einem zweiten Kapitel jene außergewöhnliche Handschrift vorgestellt werden, die unter dem Titel Chroniques du Samedi bereits Gegenstand einer Publikation wurde. 7 Dabei gilt es auch hier das Ineinanderragen der verschiedenen sozialen Felder zu berücksichtigen, auf denen sich die Protagonisten bewegen, denn wenn das symbolische Kapital literarischer Produktion, wie es beispielsweise durch die Veröffentlichung der Carte de Tendre im ersten Band des Romans Clélie erworben wurde, das Sozialprofil der eigenen Gruppe aufwertet, so erhöht deren Sichtbarkeit wiederum die Gewinnchancen auf dem ‚Spielfeld‘ der Literatur. 1 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart Ebenso wie die Serie in-4°, in der die ‚Salonstrecken‘ des Hôtel de Rambouillet enthalten sind, gelangen die achtzehn in-folio Bände der Recueils Conrart im Jahre 1771 in die Bibliothek des Marquis de Paulmy, die den Kernbestand der heutigen Bibliothèque de l’Arsenal ausmacht. Die Handschriften mit den Signaturen ms 5414-5427 sind zumeist in festes Pergament (parchemin blanc) 7 Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leurs amis, Chroniques du Samedi. Suivies de pièces diverses (1653-1654). Hg. von Alain Niderst, Delphine Denis, Myriam Maître. Paris, H. Champion 2002. Im Folgenden zitiert als [Chroniques du Samedi 2002]. Biblio17_204_s005-419End.indd 268 11.06.13 10: 10 <?page no="269"?> 269 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart oder helles Leder gebunden, und ebenso wie die vierundzwanzig in-4° Bände beinhalten sie eine Mischung aus historischen, theologischen, administrativen und literarischen Texten, die weder in einer thematischen noch in einer chronologischen Ordnung aufeinander folgen und deren Ab- oder Niederschrift von verschiedenen Händen stammt. Sie sind häufig weder datiert noch signiert, und dort, wo sich der Autor oder die Autorin - beispielsweise im Titel einer Versepistel - zu erkennen gibt, ist ihr oder sein Verhältnis zu Conrart nicht spezifiziert, so dass die Frage, wie diese Texte in seinen Besitz gelangt sind, in vielen Fällen nicht zu beantworten ist. Ausnahmen bilden jene Gelegenheitsdichtungen, die sich anhand von Widmungen oder durch die Namen der Protagonisten dem Hôtel de Rambouillet oder dem Scudéry- Kreis zuordnen lassen. Innerhalb der in-folio Serie ist letzterer vor allem in den Handschriften mit den Signaturen 5414, 5420 und 5422 vertreten, die für die folgenden Textanalysen ausgewertet wurden. Hinzu kommt eine weitere Handschrift mit der Signatur 5131, die nicht in der Serie enthalten ist und zusammen mit der Handschrift 5132 eine kleinformatige Einheit (230 x 170 mm) der Bibliothek des Marquis de Paulmy bildet, die auch als Recueil N°5 bezeichnet wird. Das auf diese Weise erschlossene Textkorpus umfasst folgende Gelegenheitsgedichte, Versepistel und galante Prosastücke: - Eine galante Korrespondenz zwischen Madeleine de Scudéry (alias Sapho) und Antoine Godeau, Bischof von Vence (alias ‚le Mage de Sidon‘) von Februar bis November 1654. 8 - Eine Salonstrecke mit dem Titel La Journée des Madrigaux, bestehend aus ca. 30 Gedichten verschiedener Autoren, eingebettet in einen narrativen, die Verse kontextualisierenden Prosatext. 9 - Eine Salonstrecke mit dem Titel Gazette de Tendre, die vierzehn ‚Berichterstattungen‘ aus fiktionalen Orten umfasst, die auf der allegorischen Carte de Tendre verzeichnet sind. 10 - Ein Prosatext mit dem Titel Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre avec le discours que fit la souveraine de ce lieu aux Habitants de l’ancienne vielle von der Hand Madeleines de Scudéry, der sich wie die Gazette de Tendre auf die allegorische Landkarte bezieht. 11 - Ein weiterer Prosatext aus diesem Kontext mit dem Titel Discours géographique pour l’utilité de ceux qui veulent apprendre la carte pour aller de Particulier à Tendre. 12 8 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5414, S. 51-81. 9 Diese Salonstrecke taucht in den Recueils Conrart zweimal auf (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5414, S. 91-124; Ms 5131, S. 613-661) sowie einmal in der Handschrift Chroniques du Samedi. 10 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5414, S. 147-158. 11 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5131, S. 1-33. 12 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5420, S. 435-440. Biblio17_204_s005-419End.indd 269 11.06.13 10: 10 <?page no="270"?> 270 Die Chroniques du Samedi Auf der Grundlage dieser Texte lassen sich zwei dominante Fiktionalisierungsstrategien herausarbeiten: An erster Stelle steht die bereits mehrfach im Zusammenhang mit salonspezifischer Konversation und ihren Spielen erwähnte Namensgebung. Der galante Name impliziert, dass die spielerische Interaktion der Gruppenmitglieder auf eine fiktionale Ebene gehoben wird, die zwar nicht diejenige der publizierten Erzähltexte ist, im Umkreis der Madeleine de Scudéry jedoch so eng mit dieser verbunden sein kann, dass es mitunter unmöglich ist zu entscheiden, was an erster Stelle gestanden hat: eine ‚galante Taufe‘ mit ihren salonspezifischen Ein- und Ausschlussmechanismen oder ein literarischer Schöpfungsakt, aus dem die Romane Le Grand Cyrus (1653) und Clélie (1654) hervorgegangen sind. 13 Zu dieser onomastischen Fiktionalisierung gesellt sich eine ebenso auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Verräumlichung. Die genannten Auszüge aus den Recueils Conrart zeichnen sich durch ein Imaginarium des Raumes aus, das in mindestens zwei imaginäre Orte unterteilt werden kann: Der ‚Garten der Sapho‘ einerseits, der als locus amœnus dargestellt wird, in dem die Vögel Konversation betreiben und die Bäume sprechende Früchte tragen, und das Royaume de Tendre andererseits, in dem die Königin Sapho herrscht und das auf der allegorischen Grundlage der Carte de Tendre beruht. In den Texten werden die allegorischen Bezüge genutzt, um von Ereignissen und Spannungen zu berichten, die - so lautet die Arbeitshypothese - einen Wiedererkennungseffekt hervorrufen, der zur Konsolidierung der Gruppe um Madeleine de Scudéry beiträgt. 1.1 Fiktionalisierung durch Namensgebung In Delphine Denis’ Studie zum Binnenraum der galanterie innerhalb des literarischen Feldes des 17. Jahrhunderts nimmt das Phänomen der galanten Namen verhältnismäßig viel Raum ein. 14 Denis betont die besondere Bedeutung dieses Phänomens, das eng mit dem Problem des Schlüsselromans verknüpft ist, handelt es sich doch um einen Artikulationspunkt sozialer und literarischer Räume, deren Ineinandergreifen sich hier besonders gut beobachten lässt: „[…] on peut penser que la clé prend place, en particulier pour l’esthétique galante, au rang de ces procédures d’articulation problématiques entre l’espace social, lui-même déjà en représentation, et le champ littéraire.“ 15 Die Ästhetik der Scudéry-Romane weist dem Namensschlüssel die Funktion eines optionalen „embrayeur référentiel“ zu, je nachdem, ob der Text als 13 Zur ‚galanten Taufe‘ siehe Denis, Le parnasse galant, S. 192-208. 14 Denis, Le parnasse galant, S. 189-235. 15 Denis, Le parnasse galant, S. 191. Biblio17_204_s005-419End.indd 270 11.06.13 10: 10 <?page no="271"?> 271 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart exemplum oder als mondäne Verrätselung gelesen werden soll. 16 Zugleich dient der Namensschlüssel auch der sozialen Distinktion und kann von jenen Publikumskreisen, die seiner nicht bedürfen, weil sie bereits Teil der im Text portraitierten Gruppe sind, denjenigen, die zur Identifikation der historischen Persönlichkeiten auf ihn angewiesen sind, vorenthalten werden. 17 Wenngleich die Referenzialität, um die es sich hier handelt, instabil ist, 18 geht es bei der spielerischen Maskierung und Inszenierung im mondänen Kontext also um die Wiedererkennung. Der galante Name ist darum auch kein Pseudonym, das eine Person annimmt, wenn sie unerkannt bleiben will, sondern eine Verkörperung - oder vielmehr Verlautbarung - der persona. 19 Ebensowenig wie sie einen Akt der Täuschung darstellt, ist die galante ‚Taufe‘ daher eine Wiedergeburt, durch die die Person in ein neues Leben eintritt und ihre ehemalige gesellschaftliche Existenz hinter sich zurücklässt. Im Unterschied zur zivilrechtlichen oder religiösen Namensgebung bleibt die Kenntnis dieses Namens und seine Nutzung auf einen ausgewählten Personenkreis beschränkt, dessen Ziel es ist, auf diese Weise die Gesetze des Alltags für eine gewisse Zeit, jedoch nicht dauerhaft zu suspendieren. Loin de se substituer au nom propre, avec lequel on voit qu’il peut frayer, le nom galant se contente donc de suspendre, pour un temps et un lieu donnés, la référence directe à la personne historique, en interposant entre le signe et le référent l’écran d’une figure. 20 16 Denis, Le parnasse galant, S. 218. 17 Zur Entstehung der Schlüssel im Kontext galanter Konversation siehe Jean Mesnard, „Pour une clef de Clélie“, in: Alain Niderst (Hg.), Les trois Scudéry. Paris, Klincksieck 1993, S. 371-411. 18 Auf diese Komplexität weist Delphine Denis wiederholt hin: „Reste que si Sapho n’est pas Madeleine de Scudéry, l’une est bien mise pour l’autre: indéniable relation dont il est indispensable d’interroger le sens et le fonctionnement.“ (Denis, Les Samedis de Sapho, S. 113). 19 Wenn Denis dennoch an dem Ausdruck pseudonyme galant festhält, so aus Gründen der Allgemeinverständlichkeit (vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 193). Der Begriff der persona, den C.G. Jung als ein zentrales Konzept der Tiefenpsychologie einführt, wurde hier direkt von Denis übernommen, die - sich an den Arbeiten Erving Goffmans und seinem Begriff des face-work orientierend - darunter das Ergebnis sozialer Interaktionsrituale zur Aufrechterhaltung des sozialen ‚Ich‘ versteht (vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 128-129). Ihr Terminus wurde hier beibehalten, da er mir im Deutschen trotz seiner tiefenpsychologischen Konnotation weniger missverständlich zu sein scheint als der Goffmansche Begriff des image, der im Deutschen ebenfalls komplex konnotiert ist. 20 Denis, Les Samedis de Sapho, S. 114. Siehe auch den onomasiologischen Exkurs, den Denis in ihrer Studie der Praxis der galanten ‚Taufe‘ aus linguistischer Perspektive widmt (Denis, Le parnasse galant, S. 194-200). Biblio17_204_s005-419End.indd 271 11.06.13 10: 10 <?page no="272"?> 272 Die Chroniques du Samedi Die Interaktion der Mitglieder dieses Kreises wird durch die galanten Namen als eine ‚Als-ob-Handlung‘ ausgewiesen und zur Wirklichkeit zweiten Grades deklariert, die nicht nach den Maßstäben der ‚realen‘ Welt beurteilt wird. 21 Der galante Name ist ein Fiktionalitätssignal, das die ‚Als-ob-Handlung‘ zudem in vielen Fällen dadurch markiert, dass er im Unterschied zu der notariellen oder alltäglichen Bezeichnung einer Person einem Register entstammt, das von den Zeitgenossen leicht als exotisch, imaginär oder literarisch identifiziert werden kann. Man denke an Namen wie Phyllis, Iris oder Damon, die direkt einem Schäferroman entnommen zu sein scheinen, oder an jene Figuren, die wie Sapho, Herminius oder Amilcar auf die Erfolgsromane der Scudéry verweisen. Ihr Verhältnis zum fiktionalen Text gestaltet sich überaus vielschichtig, und aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere die Selbstverständlichkeit von Interesse, mit der die Zeitgenossen die Oszillation zwischen persona und literarischer Figur hinzunehmen und in manchen Fällen (wie den folgenden) zu provozieren scheinen. 1.1.1 Sapho und der ‚Mage de Sidon‘: Galante Reminiszenzen an den Roman Le Grand Cyrus Bei einer der wenigen datierten Textstrecken der Recueils Conrart handelt es sich um galante Briefe, die vom Februar bis zum November des Jahres 1654 zwischen Madeleine de Scudéry alias Sapho und Antoine Godeau alias ‚le Mage de Sidon‘ hin- und hergegangen sind. 22 Das Besondere an diesen Briefen ist zunächst die Anrede, in der an die Stelle des alltäglichen der galante Name der Schreibenden gesetzt wird. Die Tatsache, dass diese Namen dem Roman Le Grand Cyrus entstammen, rückt ihren Gebrauch sehr nahe an die literarische Fiktion heran. So ist die Figur, mit deren Namen sich Madeleine de Scudéry bezeichnet, Gegenstand der Histoire de Sapho, die im zweiten Buch des zehnten Bandes erzählt wird. Der Figur des ‚Mage de Sidon‘ wird im ersten Buch des siebten Bandes ein Portrait gewidmet, für das Antoine 21 Zum Begriff der ‚Als-Ob-Handlung‘ vgl. Anita Traninger, „Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob und die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie - Stationen produktiven Missverstehens“, in: Irina O. Rajewsky, Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zu 65. Geburtstag. Stuttgart, Steiner 2008, S. 45-65; Hempfer, Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie, S. 124-133). 22 BNF, Ms. 5414, f. 51-88. Der Briefwechsel wurde im Anhang der von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître herausgegebenen Publikation der Chroniques du Samedi abgedruckt [Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 339-373], weshalb er im Folgenden in dieser Ausgabe zitiert wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 272 11.06.13 10: 10 <?page no="273"?> 273 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart Godeau Modell gestanden hat. 23 Das Anliegen der Briefe ist in erster Linie phatischer Natur: Es geht darum, sich aus der Entfernung - Godeau ist seit 1653 Bischof von Vence, wo er sich auch überwiegend aufhält - der gegenseitigen Aufmerksamkeit zu versichern. Zu diesem Zweck greifen die Korrespondenten nicht nur auf Namen, sondern auch auf narrative Versatzstücke der Romanhandlung zurück: Einer der Höhepunkte in der Liebesgeschichte zwischen Sapho und Phaon, die im zehnten Band des Cyrus erzählt wird, ist der Moment, in dem Phaon sich zu seinem eigenen Rivalen macht. Er erkennt nämlich nicht, dass der einzige Name, der in das von ihm der Sapho heimlich entwendete Liebesgedicht eingefügt werden kann, ohne die Prosodie des anonymisierten Verses zu zerstören, der seine ist. 24 Dieses Motiv des Liebenden, der eifersüchtig auf sich selbst ist, greifen die Briefe von Madeleine de Scudéry und Antoine Godeau in spielerischer Art und Weise auf. 25 Zunächst bedient sich Godeau der Strategie der Romanfigur Sapho, um Madeleine de Scudéry auf galante Weise seine Zuneigung und Bewunderung zum Ausdruck zu bingen. […] de sorte qu’au lieu de vous pouvoir dire des choses jolies, galantes et spirituelles, pour répondre à celles que vous m’écrivez; je ne puis vous en dire que de tendres, et de passionnées. Voilà un effet digne de la Sapho de Mytilène, qui ‚De chaque admirateur de son esprit charmant/ En faisant son …‘. Vous n’avez pas tant de peine à deviner une rime où la raison m’a conduit, qu’en eut le pauvre Phaon pour le nom qui était en blanc dans ces admirables vers que vous connaissez. 26 Indem er vorgibt, auf die galanten Dinge, die Sapho (alias Madeleine de Scudéry) ihm zuvor geschrieben hat, nur mit eben jener zärtlichen Leidenschaft antworten zu können, die Phaon und jeder andere Bewunderer für Sapho (die Romanfigur) empfinden, huldigt der ‚Mage de Sidon‘ sowohl der Brief- 23 Die zehn Bände des Romans Artamène ou le Grand Cyrus von Georges und Madeleine de Sudéry erscheinen erstmals in den Jahren 1649-1653. Die letzte Ausgabe des Romans, die 1656 bei Augustin Courbé erschienen ist, wurde von einer Forschergruppe der Université de Neuchâtel digitalisiert und unter der Adresse http: / / www. artamene.org verfügbar gemacht (Madeleine de Scudéry: Artamène ou le Grand Cyrus. In: Site Artamene. Institut de Littérature Française Moderne. Université de Neuchâtel). Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als [Site Artamene]. Zum Portrait der Sapho siehe: Site Artamene, S. 6901-6905; zum Portrait des ‚Mage de Sidon‘ siehe ebd., S. 4613-4617 (eingesehen am 26. März 2013). 24 Site Artamene, S. 7044-7050 (eingesehen am 26. März 2013). 25 Das Motiv erinnert an Tirso de Molinas Komödie La celosa de sí misma (1627) und das Auftreten der Figur ‚Don Luis‘ im weiteren Verlauf des Briefwechsels verstärkt diesen Eindruck. Dieser sowie der Anspielung auf die für das spanische Barocktheater so zentrale (des)engaño-Thematik insgesamt ließe sich weiter nachgehen. 26 Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 339. Biblio17_204_s005-419End.indd 273 11.06.13 10: 10 <?page no="274"?> 274 Die Chroniques du Samedi freundin als auch der Autorin, die diese Figuren ins Leben gerufen hat. Doch lässt Godeau seine persona nicht einfach an die Stelle des literarischen Phaon treten: Strukturell gesehen übernimmt ‚le Mage de Sidon‘ die Rolle der Sapho, die im Roman jene Verse geschrieben hat, die Phaon nicht zu deuten wusste, wobei er nun Madeleine de Scudéry die Rolle einer Leserin zuweist, die sich klüger anzustellen weiß als „le pauvre Phaon“. Godeau lässt es mit dieser galanten Huldigungsgeste auch nicht auf sich bewenden. Er erfindet eine eigene Figur, nämlich den schiffsbrüchigen Spanier Don Luis, den der ‚Mage de Sidon‘ bei einem seiner Spaziergänge am Meer aus den Wellen gerettet habe und von dessen Liebe für eine gewisse Palinis er Sapho nun berichtet, indem er ihr einige (nicht überlieferte) Verse zukommen lässt, die Don Luis für Palinis geschrieben habe. 27 Diese Verse geben nun wiederum Madeleine de Scudéry Gelegenheit zu einem Rollenspiel, in dessen Verlauf Sapho zugibt, eine zarte Eifersucht auf Palinis zu entwickeln und den Wunsch zu verspüren, an deren Stelle von dem Spanier geliebt zu werden. 28 Auch sie spielt hier also mit dem Leitmotiv ihrer Romanfigur Phaon, die unfähig ist zu erkennen, dass sie selbst bereits jenen Platz im Herzen des geliebten Menschen einnimmt, den sie erobern will. Denn wenn Don Luis mit dem ‚Mage de Sidon‘ identisch ist, wie Madeleine de Scudéry in ihren Briefen zu Recht vermutet, so liegt der Verdacht nahe, dass Palinis eine Metamorphose der Sapho darstellt, die infolgedessen - ebenso wie Phaon im Roman - sich selbst aus dem Herzen von Don Luis/ ‚Mage de Sidon‘ verdrängen will. Das Spiel mit den multiplen Identitäten nimmt im Verlauf des Briefwechsels immer verwirrendere Gestalt an, so dass sich Madeleine de Scudéry schließlich gezwungen sieht, die Metamorphosen explizit zu machen und dadurch zu beenden: Devinez donc, si vous pouvez, tout ce que j’ai dans le cœur, et croyez fortement, que soit que je vous regarde comme l’évêque de Vence; comme l’illustre auteur du Poème de Saint [Paul]; comme le plus grand peintre du monde; comme le Mage de Sidon, ou comme le plus galant Espagnol de la terre, je vous honore, vous estime, respecte, et vous aime également. 29 Zehn Monate, nachdem der Briefwechsel mit einem Zitat aus Le Grand Cyrus eröffnet worden war, schließt er mit einer Aufzählung der Figuren, in die sich die persona des ‚Mage de Sidon‘ im Verlauf der Zeit aufgefächert hatte. Neben dem galanten Spanier umfasst diese Liste einen Dichter und einen Maler, die - im Sinne Horaz’ (ut pictura poesis) - als die zwei Gesichter einer weiteren 27 Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 341-343. 28 Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 351-353. 29 Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 373. Biblio17_204_s005-419End.indd 274 11.06.13 10: 10 <?page no="275"?> 275 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart Maske des Bischofs von Vence verstanden werden müssen. 30 In der ‚Rolle‘ des Bischofs tritt Godeau jedoch vor allem als jene Person in Erscheinung, die fern von Paris weilt und ihre Abwesenheit durch das Schreiben kompensiert. Diese Rolle ist mit derjenigen des Marquis de Montausier zu vergleichen, der einige Jahre früher aus dem militärischen Exil galante Briefe an die Personen des Hôtel de Rambouillet geschrieben hatte, um sich bei ihnen regelmäßig in Erinnerung zu rufen. 31 Schon die Korrespondenz des Offiziers wies figurative Anredeformen auf, und so ist Godeaus Einschreibung seiner Briefe in den Kontext des Grand Cyrus nicht nur als ein literarisches Zitat, sondern auch als eine spezifische Strategie zu werten. In letzter Konsequenz sind die Briefe jedoch weder eine bloße Reminiszenz an den Roman, noch sind sie deckungsgleich mit einer typischen galanten Korrespondenz. In ihnen entwickelt sich eine ganz eigene fiktionale Handlung, die sich zügig von den Romanvorgaben emanzipiert und im dialogischen Verfahren Gestalt annimmt. Hier wird nicht nur ein Konversationsspiel aufgegriffen, das es erlaubt, die Distanz zwischen den Korrespondenten schriftlich zu überbrücken. Vielmehr entwickelt die Fiktion in den Briefen von ‚Sapho‘ und dem ‚Mage de Sidon‘ eine Dynamik, der sich die Verfasser bis zu einem gewissen Grad überlassen, bevor sie das Tempo wieder einfangen und verstärkt auf den metafiktionalen Diskurs rekurrieren, der dem Gegenüber signalisiert, dass man sich immer noch auf der Ebene der (schriftlichen) Konversation und ihrer (ungeschriebenen) Gesetzmäßigkeiten befindet. Ein weiteres Beispiel soll dieses eigentümliche Wechselspiel veranschaulichen. Tatsächlich ist die Dynamik der Parallelwelten, die hier entworfen werden, nicht ganz ungefährlich, da sie zu einem sozialen Gesichtsverlust führen kann, den es zu verhindert gilt. Die Korrespondenten müssen darum sorgfältig zwischen den Zeilen lesen, um rechtzeitig zu erkennen, ob der andere noch immer Fiktionalitätssignale sendet und ob die eigenen nicht vielleicht übersehen werden könnten. Dies würde unweigerlich dazu führen, dass der Schutz vor Gesichtsverlust nicht mehr gegeben ist. Madeleine de Scudéry scheint sich bereits sehr nahe an dieser Grenze zu bewegen, als sie den ‚Flirt‘ - man kann es nicht anders bezeichnen - zwischen Don Luis und 30 Am 23. September 1654 schreibt Mademoiselle de Scudéry ‚als sie selbst‘ an den Bischof, um ihm zur Veröffentlichung seines Werkes Saint Paul, poëme chrestien (Paris, chez Pierre Le Petit 1654) zu gratulieren. In diesem Brief kündigt sie an, dass sie eigentlich je einen Brief an den Bischof, den Dichter und den Maler schreiben müsste, was sie auch prompt tut, so dass Godeau insgesamt vier Briefe erhält, die auf diesen Tag datiert sind, und die er am 17. Oktober 1654 mit insgesamt vier Briefen (als Bischof, Dichter, Maler und Don Luis) beantwortet (vgl. Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 362-370). 31 Vgl. Teil III, Kapitel 1.2 der vorliegenden Studie. Biblio17_204_s005-419End.indd 275 11.06.13 10: 10 <?page no="276"?> 276 Die Chroniques du Samedi Palinis auf die Spitze treibt, indem sie an der amour tendre, die diese beiden Figuren miteinander verbindet, zu zweifeln beginnt: Pour votre don Luis, c’est un étrange Espagnol, qui a bien la mine d’avoir pour le moins une Palinis à tous les lieux où il passe, et je ne sais même si on ne pourrait point assurer, que le Grand Turc n’a pas plus de sultanes, qu’il a de Palinis. Aussi vous puis-je dire, sans mensonge, que si ce n’était que celle à qui il attribue particulièrement ce nom-là n’est pas trop d’humeur à engager son cœur tout entier, elle ne ferait pas grand scrupule d’avoir plus d’un don Luis, n’y ayant rien de plus équitable que de rendre fidélité pour fidélité, et inconstance pour inconstance. 32 Die Verfasserin des Briefes räumt dem Katz-und-Maus-Spiel, in das die Figuren in diesem Stadium ihrer ‚Beziehung‘ verwickelt sind, an dieser Stelle sehr viel Raum ein. Außerdem beginnen die Figuren Palinis und Sapho einander zu überlagern, so dass diese Passage gegenüber den unmittelbar vorausgehenden Briefen um eine fiktionale Dimension verkürzt erscheint. Wenngleich hier immer noch Sapho spricht - und nicht etwa Madeleine de Scudéry in ihrem eigenen Namen -, wird dadurch eine Bewegung in Gang gesetzt, die an die Auflösung einer Gleichung mit verschiedenen Unbekannten erinnert (Palinis = Sapho = ? ). Diese Bewegung, durch die das galante Spiel zunächst einmal nur auf sich selbst verweist, ließe sich im Kontext der zitierten Passage jedoch auch als einen angedeuteten Rückzug aus dem Gebiet der amitié tendre interpretieren, den Godeau leicht als Angriff nicht nur auf seine persona, sondern auch auf seine Person verstehen könnte. Aus diesem Grund muss Madeleine de Scudéry direkt im Anschluss an diese ‚Auseinandersetzung‘ deutliche Signale aussenden, um das Gesagte abzufedern: Cependant, tout volage qu’est votre Espagnol, il plaît à Palinis; il ne lui plaît pourtant pas plus que vous lui plaisez, et je puis vous assurer que l’affection qui est entre eux est si innocente, que ce prétendu don Luis n’a jamais obtenu plus de faveurs de Palinis, que vous en avez obtenu […]. 33 Die Multiplikation der Masken, die sich in diesem galanten Briefwechsel beobachten lässt, geht also über das spielerische Rollenspiel im Recueil Montausier und erst Recht über ein schlichtes Anzitieren des Romans Le Grand Cyrus hinaus. Die Verfasser dieser Texte finden sichtlich Gefallen daran, eine Maske an die andere zu reihen, um diese Reihe dann - wie Dominosteine - mit der nächsten Geste wieder in sich zusammenfallen zu lassen. Die Beiläufigkeit dieser Geste setzt eine Geschicklichkeit im Umgang sowohl mit der Sprache als auch mit dem galanten Habitus voraus, wie sie denjenigen zum Vorteil gereicht, die sich auch auf dem Gebiet der Literatur und angesichts eines 32 Le Mage de Sidon et Sapho, Chroniques du Samedi 2002, S. 371. 33 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 276 11.06.13 10: 10 <?page no="277"?> 277 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart anonymen Publikums zu profilieren haben. Dieses Publikum bleibt von der Rezeption dieser Briefe (vorerst) ausgeschlossen, was jedoch nicht bedeutet, dass die Texte selbst der stillen Lektüre vorbehalten bleiben. Vielmehr ist der Briefwechsel Teil der sozialen Praxis, die den Kreis um Madeleine de Scudéry auszeichnet. Ihre kollektive Dimension sowie die kohäsive Kraft, die diese Form der figuration entfalten kann, tritt jedoch noch deutlicher in einem weiteren Textbeispiel hervor, dem die folgenden Überlegungen gewidmet sind. 1.1.2 La Journée des madrigaux: Hommage an die Guirlande de Julie? Die Textstrecke mit dem Titel La Journée des madrigaux taucht insgesamt in drei Handschriften auf, und zwei davon sind Bestandteil der in-folio Serie der Recueils Conrart. 34 Diese Präsenz innerhalb der Gelegenheitsdichtung, die an der Konstruktion des Salons der Madeleine de Scudéry mitwirkt, zeugt von der Bedeutung, die die Gruppenmitglieder dieser Strecke beimessen. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch Ambiguitäten aus, die sich mittlerweile als durchaus salonspezifisch betrachten lassen, die Beschreibung und Einordnung der Texte allerdings erschwert: Unter gattungsspezifischen Gesichtspunkten handelt es sich entweder um eine Erzählung, die von 29 Gedichten durchschossen ist, oder um eine Madrigalsammlung, deren Verse in einen narrativen Prosatext eingebettet sind. Während die Gedichte auf ein Gesellschaftsspiel im Kreis der Madeleine de Scudéry zu verweisen scheinen, enthält der Prosatext Fiktionalitätssignale, die ihn in die Nähe des Romans Le Grand Cyrus rücken. Ein Erzähler, der selbst Teil der sich unter dem Namen Samedi versammelnden Gesellschaft ist und sich deren chroniqueur nennt, berichtet beispielsweise von den Ereignissen, die sich im Vorfeld der eigentlichen Journée des madrigaux zugetragen haben, folgendermaßen: Or depuis longtemps le sage Théodamas brûlait d’une amoureuse passion pour la belle et vertueuse Philoxène, mais d’une passion si discrète qu’elle ne scandalisa personne, de sorte que le fameux auteur du Grand Cyrus, qui a eu d’ailleurs des mémoires si particuliers et si amples de toutes les autres intrigues du monde, n’a trouvé rien à dire de celle-ci. 35 34 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, Ms 5414, Ms 5131 Rés. Die Textstrecke ist in der Publikation der Chroniques du Samedi abgebildet, aus der im Folgenden zitiert wird [La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 166-182]. Zu ihr gehört eine Fortsetzung unter dem Titel Vers faits ensuite de la Journée des Madrigaux (ebd., S. 182-190), die es jedoch von dem ‚Ereignis‘, das sich in der Journée des madrigaux niederschlägt, zu trennen gilt. Im 19. Jahrhundert wurde die Textstrecke Gegenstand einer Veröffentlichung (nach der Version Ms 5414): Emile Colombey, La Journée des Madrigaux, suivie de la Gazette de Tendre (avec la carte de Tendre) et du Carnaval des Pretieuses. Paris, Aubry 1856. 35 La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 169. Biblio17_204_s005-419End.indd 277 11.06.13 10: 10 <?page no="278"?> 278 Die Chroniques du Samedi Am auffälligsten ist auch hier wieder die Verwendung galanter Namen, die aus dem Roman Le Grand Cyrus, der diesmal sogar explizit genannt wird, stammen. Der Name ‚Theodamas‘ verweist sowohl auf eine Romanfigur 36 als auch auf die persona des Gruppenmitglieds Valentin Conrart, wobei beide onomastischen Funktionen so stark ineinandergreifen, dass der Versuch, sie auseinanderzuhalten, nur heuristischen Wert haben kann. Nicht anders verhält es sich mit dem galanten Namen ‚Philoxène‘, hinter dem sich an den Samstagen, an dem der Scudéry-Kreis zusammentritt, Madame Aragonnais verbirgt, der die Autorin des Grand Cyrus ebenfalls ein Portrait gewidmet hat. Da jedoch nicht alle in der Journée auftretenden Figuren über ein solches Portrait verfügen, entstehen Leerstellen zwischen der Welt des Romans und derjenigen der Erzählung, die nur der chroniqueur überbrücken kann. Die Figuren, die in der ‚wirklichen‘ Welt zugleich die Verfasser jener Madrigale sind, von denen der Text handelt, bewegen sich also zunächst auf verschiedenen fiktionalen Ebenen. Erst der Erzähler ebnet diese Verwerfungen ein, indem er die Gedichte in eine Rahmenhandlung einbettet, in der nicht zwischen literarischer Figur und galanter persona unterschieden wird. Im Unterschied zu dem Briefwechsel zwischen Sapho und dem ‚Mage de Sidon‘, der ebenfalls auf den Roman hinweist, ist die Journée des madrigaux also keine im Dialog sich entwickelnde Erzählung. Diesmal handelt es sich um ein kollektives Werk, das auf der Grundlage eines galanten Spiels entstanden ist und von einem Erzähler nachträglich in einen fiktionalen Rahmen gesetzt wurde. Das Verfahren erinnert - sicher nicht zufällig - an Stefano Guazzos halbfiktionalen Dialog La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria. 37 Wie in jenem Fall ist davon auszugehen, dass die Madrigale tatsächlich von den Personen verfasst wurden, die in der Erzählung unter ihrem galanten Pseudonym auftreten. Es handelt sich um Paul Pellisson (Acante), Jean- François Sarasin (Polyandre), Jean-Georges de Donneville (Méliante), Samuel Isarn (Thrasile) und Valentin Conrart (Theodamas), die mit ihren Versen der Madame Aragonnais (Philoxène), ihrer Tochter Madame d’Aligre (Télamire) sowie der später hinzukommenden Mademoiselle Le Gendre (Cléomire) huldigen. 38 Madeleine de Scudéry (Sapho) nimmt in diesem Spiel eine Doppelrolle ein, auf die noch zurückzukommen sein wird. Doch schon die Aufzählung der weiblichen Figuren zeigt, dass die Rahmenhandlung der Journée von derjenigen der Ghirlanda abweicht, sind es doch (mindestens) drei Frauen, für die insgesamt - und noch dazu aus dem Stegreif - nicht mehr als fünf Män- 36 Site Artamene, S. 4622-4626 (eingesehen am 26. Mai 2010). 37 Siehe hierzu Teil III, Kapitel 2.1 dieser Studie. 38 Zu diesen Personen siehe die Einleitung von Niderst, Denis und Maître in: Chroniques du Samedi 2002, S. 9-14. Biblio17_204_s005-419End.indd 278 11.06.13 10: 10 <?page no="279"?> 279 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart ner dichten. Tatsächlich hat das Spiel, von dem in der Journée berichtet wird, nicht viel mit dem Spiel der Ghirlanda gemeinsam: Es beginnt damit, dass sich die Gesellschaft des Samedi an einem winterlichen Abend im Hause der Philoxène versammelt. Nicht unironisch beschreibt der Erzähler, wie sich die ‚heldenhafte Truppe‘, die der zeitgenössische Leser, wie zu zeigen war, anhand einiger Namen als Figuren des Romans Le Grand Cyrus identifizieren kann, um ein wärmendes Feuer drängt: „[…] encore qu’il n’y eût là que des héroïnes et des héros de roman qui n’ont pas trop accoutumé de se chauffer, il est certain que tout le monde s’assit auprès du feu.“ 39 Diesen Moment nutzt der Erzähler in seiner Eigenschaft als chroniqueur - „à la façon des historiens célèbres“ 40 - für eine Vorgeschichte, damit die uneingeweihte Leserschaft, mit der er ganz offensichtlich rechnet, die Ereignisse, die sich im Rahmen der ‚journée des madrigaux‘ zutragen werden, besser einordnen kann: Théodamas habe Philoxène kurze Zeit zuvor ein Siegel aus Kristall geschenkt und es ihr zusammen mit einem galanten Madrigal zukommen lassen. Die Beschenkte habe jedoch bis zu jenem Abend des 20. Dezember 1653, an dem man sich in ihrem Hause versammelt, noch nicht auf diese galante Gabe reagiert. Diesen Umstand nimmt die Gesellschaft nun zum Anlass, spontan und im Namen der Gastgeberin galante Gedichte für Théodamas zu verfassen. Die Stegreifdichtung entwickelt sich zu einem Wettbewerb, in dem insbesondere die männlichen Mitglieder der Gruppe um die Gunst aller anwesenden Damen rivalisieren. Von einem regelrechten furor poeticus ergriffen, machen sich die Dichter ans Werk, und schon bald jagt ein Madrigal das nächste, atemlos kommentiert von dem Erzähler, dem chroniqueur des Scudéry-Kreises. Dieses Spiel ist nun in der Tat nicht mehr mit der gepflegten Konversation zu vergleichen, die bei Stefano Guazzo die bereits vorgefertigte Madrigalsammlung der Contessa Angela zum Gegenstand hat. Doch die Vermutung, dass sich die Protagonisten des Samedi den italienischen Dialog direkt zum Vorbild genommen hätten, ist ohnehin weniger naheliegend als die Annahme, dass die Strukturanalogie der Texte auf ein drittes Werk zielt, dem sich die Journée des madrigaux anverwandelt, wenngleich diese Anverwandlung zugleich ironisch gebrochen wird: Der humoristische Tonfall sowohl der Verse als auch des Prosatextes unterscheidet sich zwar maßgeblich von der ‚Sprache der Blumen‘ der Guirlande de Julie. Zugleich ist es jedoch gerade dieser - überwiegend selbstironische - Modus, der die Bezugnahme der Journée auf die ja durchaus auch verspielte Guirlande als eine augenzwinkernde Hommage lesbar macht. Gestützt wird diese These durch die folgende Beobachtung: Nachdem sich Pellisson (alias Acante) und Sarasin (alias Polyandre) ein 39 La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 166. 40 La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 168. Biblio17_204_s005-419End.indd 279 11.06.13 10: 10 <?page no="280"?> 280 Die Chroniques du Samedi Madrigalduell zu Ehren von Mutter (Philoxène) und Tochter (Télamire) Aragonnais geliefert haben, meldet sich Madeleine de Scudéry (Sapho) zu Wort und beschwert sich darüber, von den männlichen Mitgliedern der Gruppe nicht ebenfalls mit einem Madrigal bedacht worden zu sein. Daraufhin reimt Acante folgenden Vierzeiler für sie: Sapho, faut-il qu’on s’étonne Si nos Muses pour vous ont manqué de caquet? On ne peut sur-le-champ vous faire qu’un bouquet, Vous méritez une couronne. 41 Die Anspielung auf die ‚Blumenkrone‘ (alias Guirlande de Julie) ist deutlich, wenn auch ex negativo, da das Genre der Stegreifdichtung gerade einmal zu einem Blumenstrauß, nicht jedoch zu einer Girlande tauge. Worauf diese Zeilen galanterweise nicht hinweisen, ist jedoch ein anderes, größeres Hindernis auf dem Weg von der Journée zu einer Guirlande: Wenn Sapho die neue Julie sein will, dann darf sie nicht selbst zur Feder greifen, oder doch zumindest nicht an so prominenter Stelle, dass der Eindruck entsteht, sie beteilige sich an dem Wettstreit der Dichter. Genau diesen Fehler begeht sie jedoch in dem Moment, in dem auch sie ein Gedicht im Namen der Philoxène als Antwort auf das Madrigal des Théodamas reimt. Diesen Moment nutzt nun Polyandre zur Verteidigung gegen ihren Vorwurf, er habe sie gegenüber Télamire und Philoxène benachteiligt. Sein Argument besteht in dem lakonischen Hinweis darauf, dass sie als Dichterin schließlich in der Lage sei, sich ihre eigenen Verse zu schreiben: Vous qui faites des vers si doux, En souhaiteriez-vous des nôtres? Non, vous n’en aurez pas de nous, C’est vous qui les faites aux autres. 42 Handelt es sich hier um ein ‚vergiftetes‘ Kompliment des homme de lettres Sarasin an die femme de lettres Madeleine de Scudéry? Oder legen diese Verse einen Konflikt innerhalb der Geschlechterkodierung offen, so dass Polyandre die Dichterin Sapho gar nicht loben kann, ohne sie in ihrer Weiblichkeit zu kränken? In jedem Fall paraphrasiert Sarasin mit diesem Vierzeiler eine Textstelle, die aus einem der frühen Werke Madeleine de Scudérys stammt: In Les Femmes Illustres, ou Harangues héroïques legt sie ihrer weiblichen Hauptfigur, die signifikanterweise bereits hier schon den Namen der Sapho trägt, folgende Worte in den Mund, die sich fast wörtlich in die Verse des Polyandre - wenngleich abzüglich der ironischen Tonlage - übersetzen lassen: 41 La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 179. 42 La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 180. Biblio17_204_s005-419End.indd 280 11.06.13 10: 10 <?page no="281"?> 281 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart Vous demanderez, peut-être, s’il n’est pas assez glorieux à une belle femme que tous les beaux esprits de son temps fassent des vers à sa louange, sans qu’elle se mêle elle-même de faire son portrait. […] Croyez-moi, Erinne, il vaut mieux donner de l’immortalité aux autres que de la recevoir d’autrui, et trouver sa propre gloire chez soi que de l’attendre d’ailleurs. 43 Madeleine de Scudéry setzt hier zwei Frauen in Szene, von denen sich die eine durch Schönheit, die andere durch Klugheit auszeichnen will. Sie greift damit einen Topos auf, der im Kontext der Querelle des femmes häufig begegnet und hier eindeutig als Aufforderung an das eigene Geschlecht zu verstehen ist, zur Feder zu greifen. In der Journée des madrigaux hingegen lösen die galanten Verse, die Madeleine de Scudéry alias Sapho im Namen der Philoxène an Théodamas schreibt, regelrechten gender trouble aus. So stellen sie beispielsweise eine Herausforderung für denjenigen dar, der wie Théodamas auf dieses Madrigal, das ihm von einer Frau an Stelle einer anderen Frau geschrieben wurde, antworten muss. Die Sachlage ist sogar noch komplizierter: Sein Geschenk für Philoxène war eine Kopie, oder zumindest die Wiederaufnahme eines anderen Geschenks, das Théodamas seinerzeit Sapho gemacht hatte. Auch ihr hatte er ein gläsernes Siegel geschickt, das Intimität und Vertraulichkeit der galanten Botschaft sowie den besonderen Stellenwert symbolisiert, den die Person im Herzen des Schenkenden einnimmt. Théodamas versucht nun, diese peinliche Situation dadurch aufzulösen, dass er vorgibt, die Maskerade Saphos zu durchschauen. Er tut so, als nehme er freudig zur Kenntnis, dass die galanten Verse nicht von Philoxène, sondern von Sapho stammen, deren amitié tendre er nun wieder zu umwerben beginnt. 44 Ein Dilemma bliebt dabei jedoch ungelöst: Entweder verhält er sich galant gegenüber der Frau Sapho, was nicht zuletzt eine wenig galante Geste gegenüber Philoxène impliziert, in deren Namen Sapho schreibt. Oder er würdigt ihr literarisches Geschick - das in diesem Falle darin besteht, wie ein Mann zu schreiben, der vorgibt, eine Frau zu sein -, indem er so tut, als durchschaue er die Maskerade nicht. Diese schlichte Gleichbehandlung mit den männlichen Wettstreitern würde jedoch das Verdienst der Dichterin Sapho gleichfalls schmälern, bewältigt sie doch eine im Vergleich größere Schwierigkeit, die mit dem Standort verbunden ist, von dem aus sie schreibt. Neben der doppelten Genderfiktion bliebe in diesem Falle auch die Tatsache unkommentiert, dass Théodamas mehrere Damen gleichzeitig umwirbt, wobei Sapho stets eine singuläre Position einnimmt. Diese Position, die im Zusammenhang mit den Briefen der Chronique 43 Les Femmes Illustres, ou Harangues héroïques. Paris, A. de Sommaville & A. Courbé 1642, S. 44. 44 Zu diesem ‚Schlagabtausch‘ zwischen Sapho und Theodamas siehe La Journée des madrigaux, Chroniques du Samedi 2002, S. 176-177. Biblio17_204_s005-419End.indd 281 11.06.13 10: 10 <?page no="282"?> 282 Die Chroniques du Samedi du Samedi noch ausführlich zu erörtern sein wird, ist letztlich untrennbar mit dem Konzept der amitié tendre verbunden, das immer wieder in Konflikt mit der ‚gewöhnlichen‘ Galanterie gerät, scheint doch die vergleichsweise unproblematische Pflichterfüllung gegenüber einer Philoxène - oder auch einer Julie - mit der mehrdimensionalen Leistung, die man als männlicher Dichter für die Dichterin Sapho erbringen muss, nur schwer kompatibel zu sein. Vor diesem Hintergrund wirkt die schlichte Absage an ihre Weiblichkeit, die Polyandre der Sapho erteilt („Non, vous n’en aurez pas de nous“), wie die gewaltsame Durchtrennung des gordischen Knoten: Erfrischend ehrlich, aber wenig galant. Diese Problematik verleiht der Journée des madrigaux angesichts der Guirlande de Julie ein ganz eigenes Profil. Da sie jedoch erst durch eine Geschlechterkodierung, wie sie die Guirlande aktualisiert, virulent wird, lassen sich beide Werke dennoch aufeinander beziehen. Festzuhalten bleibt, dass die Anforderungen, die mit einem Huldigungsgedicht für Madeleine de Scudéry verbunden werden, im direkten Vergleich mit den Voraussetzungen für ein Madrigal, das der Tochter des Hauses Rambouillet zugeeignet ist, schwieriger zu erfüllen sind, schreibt sich ‚Sapho‘ doch mit eigener Hand in den Dichterwettstreit ein, während sich ‚Julie‘ darauf beschränkt, die symbolischen Blumen entgegenzunehmen. Allerdings sind die meisten Dichter des Scudéry-Kreises weit davon entfernt, die Schwierigkeiten, die mit der Doppelrolle der Frau einhergehen, die im Mittelpunkt dieser Konstellation steht, so radikal zu leugnen, wie es die Verse Sarasins nahelegen. Die Gelegenheitstexte von Godeau und Conrart, aber auch von Pellisson, wie noch zu zeigen sein wird, lassen vielmehr darauf schließen, dass diese Gruppenmitglieder die Herausforderung, einer Dichterin zu huldigen, als stimulierend empfinden und gerne annehmen. Das Gebiet der galanten figuration, auf das sie sich zu diesem Zweck begeben, gibt ihnen den ‚Spielraum‘, um mit verschiedenen Modellen der Vergesellschaftung - neben Gender vor allem auch Status und Rang, wie die folgenden Texte zeigen werden - zu experimentieren. 1.2 Fiktionalisierung durch Verräumlichung Eine Fiktionalisierungsstrategie, die sich des Raumes bedient, ließ sich bereits im Zusammenhang mit der Chambre bleue beobachten: Die Zimmerfluchten des Hôtel de Rambouillet mit seiner außergewöhnlichen Treppenkonstruktion und die spezifischen Lichverhältnisse, die diesen Ort aufgrund der durchdachten Kommunikation von Innen und Außen auszeichnen, sollen die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf das Haus lenken. Aber erst das Narrativ, die fiktional überhöhte Rede von diesem außergewöhnlichen Ort, verleiht dem Salon der Marquise de Rambouillet jene Sichtbarkeit, derer es Biblio17_204_s005-419End.indd 282 11.06.13 10: 10 <?page no="283"?> 283 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart bedarf, um das soziale Kapital aller Beteiligten maßgeblich zu vermehren. Das ‚Haus‘ Rambouillet profitiert in einem doppelten Sinne von der Chambre bleue: Unter dynastischen Gesichtspunkten wird es in den Erzählungen und Anekdoten - von der Mijoréade bis zu den galanten Briefen des Marquis de Montausier - ebenso aufgewertet wie der Familiensitz, das Hôtel de Rambouillet, dessen architektonischen Besonderheiten der Marquise zu Ehren gereichen. 45 Im Vergleich mit diesem Salon lässt die Rede von den ‚Samstagen‘ bzw. dem Samedi der Madeleine de Scudéry zunächst an eine diskursive Enträumlichung denken, ersetzt hier doch der Wochentag, an dem die Gruppe regelmäßig zusammentritt, den Ort der Geselligkeit. Tatsächlich ist die Verlagerung des Schwerpunktes vom Raum in die Zeit, die sich in dieser Gruppenbezeichnung niederschlägt, nicht zufällig, wenngleich bei näherem Hinsehen der räumliche Aspekt schließlich doch wieder die Oberhand gewinnt. Zunächst bleibt den Gruppenmitgliedern jedoch nichts anderes übrig, als auf den Wochentag ihrer Begegnungen auszuweichen, verfügen die Protagonisten des Kreises doch schlicht über keinen eigenen Ort, der dem Hôtel de Rambouillet vergleichbar wäre. Wohl trifft man sich in den Räumen der wohlhabenden, aber bürgerlichen Madame Aragonnais in der Rue de Berry. Ihren ‚Palast der Philoxène‘ setzt die Journée des madrigaux in Szene, und wie Alain Niderst gezeigt hat, verbindet Madeleine de Scudéry sowohl ein nachbarschaftliches als auch ein klienteläres Verhältnis mit dem Clan der Aragonnais, dessen Mitglieder lukrative Posten im Finanzwesen inne haben. 46 Meist kommt man jedoch in der Rue de Beauce zusammen, wo Madeleine de Scudéry im Haus des Bruders, an das ein schöner Garten angrenzt, Quartier bezogen hat. Hin und wieder kehrt man dem Marais-Viertel den Rücken, um Conrart in seinem Landhaus Athis-sur-Orge einen Besuch abzustatten, das dieser im Jahre 1654 erworben hat. 47 Dieser Vervielfältigung des realen Begegnungsortes setzt die Gruppe eine Fiktionalisierungsstrategie entgegen, die jedoch im Unterschied zu derjenigen, die sich im Zusammenhang mit der Verwandlung des Hôtel de Rambouillet in die Chambre bleue beobachten ließ, auf keinen der Narrativierung vorgängigen architektonischen Rahmen rekurrieren kann. So ist in diesem Falle die Verräumlichung mindestens ebenso auf die Fiktionalisierung angewiesen, wie es umgekehrt räumlicher Strukturen bedarf, damit die Gruppe 45 Vgl. Teil III, Kapitel 1.1; zum Zusammenhang von ‚Haus‘ und ‚Salon‘ vgl. Zimmermann, Salon, S. 550. 46 Vgl. die Einleitung von Niderst, Denis und Maître in Chroniques du Samedi 2002, S. 9. 47 Vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 244-246. Biblio17_204_s005-419End.indd 283 11.06.13 10: 10 <?page no="284"?> 284 Die Chroniques du Samedi auf einer fiktionalen Ebene sichtbar wird. Die im Folgenden untersuchten Texte aus den Recueils Conrart veranschaulichen diese Überlagerungen. Unter Bezug auf die Carte de Tendre, die sowohl im ersten Buch des Romans Clélie veröffentlicht wurde als auch in narrativierter Form handschriftlich zirkulierte, werden in diesen Texten imaginäre Teilräume generiert, die je nachdem, welche Leserschaft anvisiert wird, zur Konsolidierung der Gruppe um Madeleine de Scudéry oder zum Ruhm dieser Gruppe innerhalb des entstehenden literarischen Feldes beitragen. 1.2.1 Die Carte de Tendre im ersten Band der Clélie (1654) Über die Carte de Tendre als ‚Herzstück‘ des ersten Bandes der Clélie, histoire romaine und als topographische Darstellung der Liebeskonzeption Madeleine de Scudérys ist in den letzten zwanzig Jahren viel geschrieben worden. 48 An dieser Stelle mag es daher genügen, nur kurz auf die entsprechende Passage des Romans einzugehen, bevor der Entstehungs- und Funktionszusammenhang der Karte anhand von Texten, die sich zwar auf die Version der Clélie beziehen lassen, die selbst jedoch in handschriftlicher Form zirkulierten, näher untersucht werden soll. Der Roman schildert die Liebesgeschichte zwischen Clélie und Aronce. Er beginnt in medias res mit dem Tag der Hochzeit, an dem das Paar jedoch durch ein Erdbeben getrennt wird. Diese Trennung ermöglicht einen Rück- 48 Um nur einige Arbeiten hervorzuheben: René Godenne, Les romans de Mlle de Scudéry. Genève, Droz 1983; Baader, Dames de lettres; Chantal Morlet-Chantalat, La ‚Clélie‘ de Mademoiselle de Scudéry; de l’épopée à la Gazette: un discours féminin de la gloire. Paris, Champion 1994; DeJean, Tender Geographies; Denis, La muse galante; Myriam Maître, „Lettres de Sapho, lettres de Madeleine? Les lettres dans la Clélie et la correspondance de Mademoiselle de Scudéry“, in: Christine Planté (Hg.), L’Épistolaire, un genre féminin? Paris, H. Champion 1998, S. 53-66; Maître, Les précieuses; Nathalie Grande, Stratégies de romancières. De ‚Clélie‘ à ‚La Princesse de Clèves‘ (1654- 1678). Paris, H. Champion 1999; Doris Kolesch, „Performanzen in Reich der Liebe: Die ‚Carte de Tendre‘ (1654), in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität und die Krise der Repräsentation. Stuttgart, Weimar, Metzler 2001, S. 62-82; Doris Kolesch, „Kartographie der Emotionen“, in: Kunstkammer - Laboratorium - Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig, Berlin, New York, Walter de Gruyter 2003, S. 161-175; Delphine Denis, „Les inventions de Tendre“, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 4, 2004, S. 45-66; Jörn Steigerwald, Galanterie. - Weitere bibliographische Hinweise in: Chantal Morlet-Chantalat, Bibliographie des écrivains français: Madeleine de Scudéry. Paris, Rom, Memini (diffusion P.U.F.) 1997; Delphine Denis, Anne-Élisabeth Spica (Hg.), Madeleine de Scudéry: une femme de lettres au XVII e siècle. Paris, Artois Presses Université 2002. Biblio17_204_s005-419End.indd 284 11.06.13 10: 10 <?page no="285"?> 285 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart blick auf die Entstehung dieser Liebe, der in Form einer Erzählung durch Célère vermittelt wird. Célère war ebenso wie Aronce, Horace und Herminius Teil einer Gruppe von jungen Männern, die sich um die schöne und geistreiche Clélie scharten. Zu dem Zeitpunkt, mit dem die rückblickende Erzählung einsetzt, weiß Clélie noch nicht, dass sie Aronce einmal heiraten wird. Auf das Werben um ihre Person antwortet sie, indem sie ihren Verehrern eine ganz besondere Freundschaft, die amitié tendre, in Aussicht stellt. Auf die Bitte des Herminius’, ihr den Weg zu diesem Ort in ihrem Herzen zu beschreiben, fertigt sie die berühmte allegorische Landkarte an. Diese wird zusammen mit dem Roman veröffentlicht und gibt auf der Ebene der Rahmenhandlung dem Erzähler Célère die Gelegenheit, die nunmehr verräumlichte Liebeskonzeption, die zuvor im Gespräch zwischen Clélie und ihren Verehrern verhandelt wurde, erneut zu erläutern. 49 Die Carte de Tendre besticht in erster Linie durch ihre graphische Darstellung, die mit offenkundiger Detailfreude eine Landschaft abbildet, in der bewaldete Hügel und aufgewühlte Gewässer, kleinere und größere Felsformationen sowie Ortschaften mit ihren Häusern und Kirchtürmen zu erkennen sind. Im Vordergrund scheint eine Gruppe von Wanderern gerade im Aufbruch begriffen zu sein, und im rechten unteren Winkel der Karte ist ein Maßstab abgebildet, mit dem sich die „lieues d’amitiés“ errechnen lassen, die man von Nouvelle amitié nach Tendre zurücklegen muss. Der Anwärter auf die Freundschaft seiner Dame hat die Wahl zwischen drei Städten mit dem Namen Tendre: Er kann sich mit dem Schiff direkt nach Tendre-sur-Inclination begeben oder zu Fuß über eine Reihe von Dörfern und kleineren Ortschaften nach Tendre-sur-Estime oder Tendre-sur-Reconnaissance gehen. Dabei sollte er allerdings aufpassen, dass er sich nicht verirrt, da er sich sonst an den Ufern des Mer d’Inimité oder des Lac d’Indifférence wiederfindet. Vor allem gilt es jedoch, sich von dem Mer dangereuse fern zu halten, hinter dem sich die Terres Inconnues auftun, jenes Land der Leidenschaften, die ihn endgültig aus dem Herzen der Dame, um deren Zuneigung er ringt, verbannen würden. Dieses Schicksal wird im Roman der Figur des Horace zuteil, der hartnäckig an dem Konzept des amour passion festhält und nicht bereit ist, zu Gunsten der amitié tendre auf seine Vorstellung der Liebe zu verzichten. Die Landkarte, so präzise sie auch ist, bringt natürlich nur denjenigen ans Ziel, der dieses Ziel auch als solches anerkennt. 49 Vgl. Madeleine de Scudéry, Clélie, histoire romaine. Hg. von Delphine Denis, Paris, Gallimard 2006, S. 33-100; Madeleine de Scudéry, Clélie, histoire romaine. Hg. von Chantal Morlet-Chantalat, 5 Bde., Paris, H. Champion 2001-2005, Bd. 1, livre I, S. 49-249. Biblio17_204_s005-419End.indd 285 11.06.13 10: 10 <?page no="286"?> 286 Die Chroniques du Samedi Jeffrey N. Peters hat herausgearbeitet, in welchem Maße sich das Werk an den jüngsten Errungenschaften auf dem Gebiet der Kartographie orientiert. 50 Die Benutzer der Carte de Tendre teilen, wie Doris Kolesch gezeigt hat, das „im 17. Jahrhundert aufkommende Bedürfnis nach Analyse, Ordnung und Klassifikation.“ 51 Auch Delphine Denis hat darauf hingewiesen, dass diese Lust an der Kartographie mehr ist als eine Modeerscheinung. Vielmehr lasse es ebenso wie andere Formen der Inventarisierung sozialer und literarischer Räume auf ein Bedürfnis nach Ordnung schließen, das hier die Gestalt einer tatsächlichen ‚Ver-ortung‘ annehme: L’adoption du modèle cartographique, dans ses diverses réalisations, paraît bien plutôt le signe du besoin ressenti, en ce tournant du siècle, de procéder à un relevé des lieux les plus sensibles, qu’il s’agisse des espaces mondains (la Cour et la Ville, recomposées après la Fronde) ou du champ littéraire, l’un à l’autre articulés par la galanterie. 52 Ihre Publikation im Rahmen von Madeleine de Scudérys Roman katapultiert die Carte de Tendre in den Mittelpunkt einer Gesellschaft, die sich in einem Prozess der Neuordnung befindet. Die Tatsache, dass dabei das Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht unangetastet bleibt, da derartige Prozesse im Gegenteil gerade auf die Geschlechterdynamik einwirken, trägt sicherlich nicht unmaßgeblich zum Erfolg der allegorischen Landkarte bei. 53 Aber auch 50 Wobei es zugleich Modelle der allegorischen Verräumlichung aufruft, die überwiegend aus dem 16. Jahrhundert stammen, aber auch an mittelalterliche Traditionen anknüpfen (vgl. Jeffrey N. Peters, Mapping Discord, S. 83-88). 51 Kolesch, Kartographie der Emotionen, S. 170. „Die Karte suggeriert, man befände sich auf bekanntem, festem und überschaubarem Terrain. Liebe wird als performativer Vollzug eines vorgezeichneten Weges aufgefaßt, der durch ethische und soziale Regulative normiert wird. Sie erscheint als Resultat einer zielgerichteten und geordneten Durchführung sequenzierter Verhaltensmuster. Die taxonomische Wissenschaft der Geographie dient mithin dazu, einen diffusen Phänomenbereich zu systematisieren.“ (ebd.). 52 Denis, Le parnasse galant, S. 36. 53 Dieser Erfolg lässt sich anhand der Parodien und Imitationen ermessen, die zwischen 1654 und 1670 erscheinen (vgl. Kolesch, Kartographie der Emotionen, S. 166). Allein die Recueils de Sercy (prose) enthalten drei textuelle Kartographien, die sich deutlich als Imitationen der Carte de Tendre zu erkennen geben (1658: La Carte du Royaume des Pretieuses; La Carte du Royaume de l’Amour; 1661: La grande Description de l’Estat Incarnadin, nouuellement découuert par le Lieutenant General du Royaume de la Galanterie). Bemerkenswert ist vor allem ein Pamphlet mit dem Titel Carte géographique de la Cour, das im Jahr 1668 unter dem Verleger-Pseudonym ‚Pierre Marteau‘ veröffentlicht wird. Die scharfe Satire, die im allgemeinen Roger de Rabutin, Comte de Bussy zugeschrieben wird (zuweilen auch Armand de Bourbon, Biblio17_204_s005-419End.indd 286 11.06.13 10: 10 <?page no="287"?> 287 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart in einem kleineren Maßstab, nämlich im Kreis um Madeleine de Scudéry, lässt sich der Umgang mit den Spannungen erproben, die zwischen verschiedenen geschlechtsspezifischen Rollenmodellen aufgebaut werden. Eine solche Versuchsanordnung konnte bereits am Beispiel der Journée des madrigaux skizziert werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch eine Reihe von Texten lesen, die im direkten Zusammenhang mit der Karte entstanden, handschriftlich zirkulierten und in den Recueils Conrart überliefert wurden. 54 1.2.2 Der Discours géographique als (erste? ) narrativierte Carte de Tendre Das erste Beispiel eines Textes, der im direkten Zusammenhang mit der Carte de Tendre entstanden ist, trägt den Titel Discours géographique, pour l’utilité de ceux qui veulent apprendre la Carte pour aller de Particulier à Tendre. 55 Es handelt sich um eine Art Gebrauchsanweisung für diejenigen, die wie die Romanfigur Herminius den Weg zum Herzen einer ‚Clélie‘ (alias Sapho alias Madeleine de Scudéry) finden wollen, sich jedoch in dem Land der amitié tendre, in dem sie sich erst seit kurzem befinden, noch nicht so gut auskennen. In dem Discours géographique werden diesem Neuankömmling im Reich der Freundschaft die verschiedenen Möglichkeiten erklärt, die ihn, der sich zu dieser Zeit noch in der Stadt Particulier aufhält, direkten Weges in eine der drei Städte mit dem Namen Tendre führen. Gleichzeitig warnt man ihn vor trügerischen Abzweigungen, die ihn entweder an den See der Gleichgültigkeit oder an das Meer der Feindseligkeit bringen und die es zu meiden gilt. Bis hierhin scheint der Discours géographique mit der Romanversion übereinzustimmen. Bei näherem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass diese Wegbeschreibung von jener Karte, die die Leserschaft der Clélie kennt, an entscheidenden Stellen abweicht. Handelt es sich, wie Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître vermuten, um einen ersten Entwurf der Carte de Tendre, der dann für die Romanversion noch einmal überarbeitet wurde? 56 Fest steht, dass der Wanderer, der die amitié tendre sucht, anders als in der graphisch überlieferten Version der Karte nicht zu Fuß ans Ziel gelangen wird, denn das Land zwischen den Flüs- Prince de Conti, der sich der Feder Rabutins bedient habe), zeugt indirekt - nach dem Motto ‚viel Feind, viel Ehr‘ - von der Bedeutung der Carte de Tendre, auf die sie ironisch Bezug nimmt (vgl. Brouillant, Histoire de Pierre du Marteau, S. 65-89). 54 Da unzählige Gelegenheitstexte auf ‚Tendre‘ rekurrieren, wurde für die folgenden Untersuchungen eine signifikante Auswahl von drei Stücken getroffen. Sie wurden im Anhang der von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître betreuten Ausgabe der Chroniques du Samedi abgedruckt (ebd., S. 285-326). 55 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5420, S. 435-440; zitiert als [Discours géographique, Chroniques du Samedi 2002, S. 285-289]. 56 Vgl. Discours géographique, Chroniques du Samedi 2002, S. 285. Biblio17_204_s005-419End.indd 287 11.06.13 10: 10 <?page no="288"?> 288 Die Chroniques du Samedi sen und Städten ist unbekanntes Terrain, das bereits nicht mehr Gegenstand der (narrativierten) Kartographie ist: „Les terres qui sont au-delà des trois Tendre, entre toutes ces rivières, sont inconnus; l’on croit que c’est un pays si infertile, qu’il n’y a point d’habitants.“ 57 Dem Freundschaftsanwärter wird geraten, sich auf dem Wasserweg nach Tendre zu begeben, was ihm dadurch erleichtert wird, dass alle drei Flüsse, an denen jeweils eine der drei Städte Tendre gelegen ist, ihren Ursprung in der Stadt Particulier haben und dass sich die Flüsse Reconnaissance und Estime in den Hauptstrom Inclination ergießen. Es ist folglich möglich, von einer Stadt Tendre zur nächsten zu gelangen, vorausgesetzt, man verirrt sich nicht auf eine der kleineren Wasserstraßen, die in den Lac d’Indifférence oder in das Mer d’Inimité führen. Die Schiffe, die für diese Expedition in Particulier bereit stehen, tragen die Namen von Ortschaften, die in der Romanversion der Carte de Tendre als Stationen auf dem Landweg nach Tendre verzeichnet sind. Auf dem Fluss Inclination navigieren Grand Esprit, Jolis Vers, Billets galants und Respects, während Passagiere, die direkt nach Tendre sur Reconnaissance reisen wollen, eines der folgenden Schiffe besteigen: Complaisance, Soumission, Obéissance, Assiduité, Empressement oder Petits Soins. Die Romanversion der Karte verzeichnet hingegen neben den Ortsnamen, die mit diesen zehn Schiffsnamen übereinstimmen, noch folgende elf Stationen auf dem Weg von Nouvelle Amitié nach Tendre: Grands services, Sensibilité, Tendresse, Constante amitié, Billet doux, Sincérité, Grand Cœur, Probité, Générosité, Exactitude und Bonté. Daneben führen die Wege über weitere Ortschaften zu einem der gefährlichen Gewässer, in die sich im Discours géographique die Flussarme Oubli, Légèreté, Négligence, Perfidie und Malignité ergießen. Auch diesen Wasserstraßen entsprechen in der Romanfassung kleinere Städtchen, zu denen sich noch Inesgalité, Tiédeur, Indiscrétion, Médisance und - nicht zu vergessen - die auf einem schroffen Felsen befestigte Burganlage Orgueil gesellen. Vergleicht man nun die beiden Versionen vor dem Hintergrund des Gesamtbildes der Landschaft miteinander, so sprechen mehrere Überlegungen tatsächlich für die Annahme, bei der Wegbeschreibung des Discours géographique handle es sich um eine frühe Fassung der graphischen Carte de Tendre. Letztere umfasst insgesamt mehr Elemente, die mit einer Liebe zum Detail visualisiert wurden und erst Gestalt annehmen konnten, als die Terres Inconnues an den oberen Bildrand verschoben und von dem erschlossenen Teil des Geländes durch das Mer dangereuse abgegrenzt wurden. Doch ist es nicht die größere Ausdifferenziertheit allein, die die Vermutung einer Entwicklung nahelegt. Ein weiteres Kriterium ist der Gebrauchswert der graphi- 57 Discours géographique, Chroniques du Samedi 2002, S. 289. Biblio17_204_s005-419End.indd 288 11.06.13 10: 10 <?page no="289"?> 289 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart schen Karte, die auch als Brettspiel Verwendung gefunden haben könnte, 58 oder die doch zumindest danach verlangt, dass sich der Betrachter Geschichten ausdenkt, die sich an den einzelnen Orten zugetragen haben könnten. Diese Option der phantasievollen Ausgestaltung, die in dem folgenden Beispiel der Gazette de Tendre noch näher ausgeführt wird, bietet die Wegbeschreibung des Discours géographique in einem viel geringeren Maße. Die wichtigste ‚Erweiterung‘ der Carte de Tendre, wie sie dem Roman beigegeben wurde, liegt jedoch darin, dass hier nicht nur vier einzelne Städte durch Wasserstraßen miteinander verbunden wurden, zwischen denen sich ödes Land befindet, sondern dass die Karte ein Royaume de Tendre generiert: Das Gebiet ist von natürlichen Hindernissen begrenzt und ruft in seiner Geschlossenheit die Vorstellung von einem Land hervor, das auch über eine eigene Gesetzgebung und über eine herrschende Instanz verfügen könnte. Diese Vorstellung liegt dem zweiten und vor allem dem dritten Beispiel dieser Textreihe zu Grunde, in denen Sapho als Staatsoberhaupt inszeniert wird. Durch die Verwandlung der Schiffsin Ortsnamen und die Privilegierung des Landweges gegenüber den Wasserstraßen, wird so aus einer linearen Wegbeschreibung das mehrdimensionale Imaginarium ‚Tendre‘. 1.2.3 Die Gazette de Tendre Die Gazette de Tendre ist eine Textstrecke, die ganz offensichtlich auf der Grundlage der graphischen Carte de Tendre entstanden ist, 59 handelt es sich doch um fünfzehn Berichte aus den fiktiven Ortschaften der Karte, die von den Bemühungen einzelner Figuren Zeugnis ablegen, von Nouvelle Amitié nach Tendre zu gelangen. Im Unterschied zu der Gazette de divers endroits, die aus dem Umkreis des Hôtel de Rambouillet überliefert ist und als das Vorbild für diese fiktionale Berichterstattung angesehen werden darf, 60 ergeben hier die Depeschen aus Grand Esprit, Oubli, Négligence, Sincérité, Tiédeur, Inégalité, Grand Service, Petits Soins, Complaisance, Bonté, Respect und schließlich aus Tendre in letzter Konsequenz eine zusammenhängende Geschichte. Zunächst sieht es allerdings so aus, als hätten die Berichterstatter in den einzelnen Ortschaften nicht viel zu tun, etwa wenn aus Sincérité gemeldet wird: 58 Zum performativen Charakter der Carte de Tendre siehe Kolesch, Performanzen im Reich der Liebe, S. 70. 59 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5414, S. 147-158; zitiert als [Gazette de Tendre, Chronique du Samedi 2002, S. 306-321]. Siehe auch Colombey, La Journée des Madrigaux, in der auch diese Textstrecke enthalten ist. 60 Vgl. Teil III, Kap. 1.1. Biblio17_204_s005-419End.indd 289 11.06.13 10: 10 <?page no="290"?> 290 Die Chroniques du Samedi Il vient si peu d’étrangers dans notre petit village, qu’on pourrait ne le marquer point dans la Carte, sans que ceux qui voyagent en souffrissent nulle incommodité; car la plupart de ceux qui veulent aller à Tendre, le laissent à droite, ou à gauche, sans y passer; ce qui a tellement rompu notre commerce, que nous ne savons des nouvelles de nulle part. 61 Der erzählerische Kunstgriff des anonymen Verfassers der Gazette de Tendre liegt in der Dezentralisierung der Perspektive. Er wirft einen prismatischen Blick auf ein Ereignis, das erst in der letzten Miniaturerzählung, dem Bericht aus Tendre, Gestalt annimmt, da an diesem Ort alle Neuankömmlinge zusammentreffen und darauf warten, dass eine Entscheidung über ihre definitive Aufnahme in diese Stadt getroffen wird. Die Spannung wird dadurch erhöht, dass die Protagonisten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ereignisstränge zusammengeführt werden, namenlos bleiben. So ist zunächst nicht etwa von Thrasile (alias Isarn), Acante (alias Pellisson) oder Méliante (alias Donneville) die Rede. Vielmehr wird aus den kleineren Ortschaften, wie beispielsweise Oubli, stets nur die Durchreise eines edlen Fremden vermeldet: Il arriva ici, il y a quelques jours un étranger de fort bonne mine, qui, après avoir passé de Nouvelle Amitié à Grand Esprit; de Grand Esprit à Jolis Vers; de Jolis Vers à Billet galant; et de Billet galant à Billet doux; s’égara, en partant de cet agréable village; de sorte qu’au lieu d’aller à Sincérité, il vint dans notre ville, où il fut un jour tout entier, sans s’apercevoir qu’il était égaré. Mais aussi, dès qu’on l’en eut fait apercevoir, il partit d’ici, avec tant de diligence, qu’il y en a qui assurent, qu’il a plus fait de chemin en deux jours, qu’il n’en avait fait depuis qu’il était parti de Nouvelle Amitié. 62 Auf den Irrweg des leichtfüßigen Thrasile - denn um diese Figur handelt es sich, wie der Leser aus einer Fußnote erfährt, in der ihm auch der Name der Person mitgeteilt wird, die sich hinter der galanten Maske verbirgt 63 - werfen 61 Gazette de Tendre, Chronique du Samedi 2002, S. 308. Es erübrigt sich, an dieser Stelle ausführlich auf die offensichtliche allegorische Bedeutung dieser Passage einzugehen, in der die Tugend der Aufrichtigkeit als ein rares Gut auch auf dem Gebiet der Freundschaft dargestellt wird. Allerdings kommt man nicht umhin, sich einige Fragen zu stellen. Sollte diese Tugend ausschließlich jenen Personen vorbehalten sein, die sowieso früher oder später nach Tendre gelangen? Oder ist der Weg über diese Tugend zu beschwerlich - und möglicherweise ‚spaßfrei‘ - und daher nicht zu empfehlen? Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich hier schlicht die Freude an der Provokation niederschlägt, die sich auch in dem Bericht aus der Ortschaft Petits Soins bemerkbar macht, in der sich „toute sorte de gens, qui prétendent d’aller à Tendre“ (ebd., S. 311) aufhalten. 62 Gazette de Tendre, Chronique du Samedi 2002, S. 307. 63 Das Verfahren ist bereits aus der Journée des madrigaux bekannt: Der Text wird mit einem Schlüssel der galanten Namen versehen, der für die eingeweihten Mitglieder der Gruppe nicht nötig gewesen wäre. Biblio17_204_s005-419End.indd 290 11.06.13 10: 10 <?page no="291"?> 291 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart verschiedene Berichte ein Schlaglicht. Die zitierte erste Erwähnung seiner Reise ist jedoch besonders vergnüglich, denn man sieht seinen Schrecken bildhaft vor sich, als ihm endlich klar wird, dass er vom Weg abgekommen ist. Nach seiner überstürzten Abreise aus Oubli begegnet Thrasile dem Leser noch einmal in Respect, wo er beschließt, den Weg abzukürzen und sich schwimmend an sein Ziel zu begeben, und in Soumission, wo von seiner Aussöhnung mit Sapho berichtet wird, die ihm seinen kurzen Aufenthalt in Oubli verübelt hatte. Aus einer Fußnote geht hervor, dass dieser Aufenthalt auf einen Anflug von Melancholie zurückzuführen sei, der die Person Samuel Isarn während eines Spazierganges mit Madeleine de Scudéry überkommen habe, was eine übellaunige Schweigsamkeit zur Folge hatte, die sich in Gegenwart einer Dame nicht schickt. Indem der Autor der Gazette de Tendre dem Leser diese Information zuspielt, gibt er ihm nicht nur den Personenschlüssel an die Hand, sondern er signalisiert zugleich, dass die literarische Fiktion - die Anekdote über Thrasiles Aufenthalt in dem Städtchen Oubli - als Sanktion sozialen Fehlverhaltens gelesen werden soll: Wer den Gesetzen der Konversation zuwider handelt, muss damit rechnen, dass man sich auf seine Kosten amüsiert. Auch alle anderen Annotationen weisen darauf hin, dass es dem Autor darum geht, für einen uneingeweihten Leser die Verschränkung fiktionaler und sozialer Räume sichtbar zu machen. Dieses Verfahren, das auch in der Handschrift Chronique du Samedi zu beobachten sein wird, macht deutlich, dass die Gazette de Tendre für ein heterogenes Publikum geschrieben wurde. Der eingeweihten Leserschaft, die sich an dem Wiedererkennungseffekt erfreut, steht ein Publikum gegenüber, dem durch die mitgelieferten Schlüsselinformationen der Eindruck vermittelt wird, an der Initiationsreise der Figuren zu partizipieren und Teil jener Gruppe zu werden, die den Lektüreschlüssel nicht braucht. Ästhetisches und gesellschaftliches Vergnügen sind auf diese Weise nicht voneinander zu trennen, und die auf den ersten Blick mit salonspezifischer Leichtigkeit geschriebene Gazette de Tendre erweist sich sowohl auf der erzähltechnischen als auch auf der wirkungsästhetischen Ebene als ein wohl durchdachtes Konstrukt. Die multiperspektivische Erzählung lässt den Text außerdem als ein kollektives Werk erscheinen. Angesichts der Geschicklichkeit, mit der die einzelnen Erzählstränge zusammengeführt werden, ist die Annahme, dass mehrere Verfasser an diesem Text mitgewirkt haben, jedoch eher unwahrscheinlich. Im Unterschied zu der Journée des madrigaux werden hier vermutlich keine Einzelstücke verschiedener Autoren durch eine Erzählinstanz orchestriert. Vielmehr wird umgekehrt eine zusammenhängende Geschichte, deren Fortsetzung in einem weiteren Gelegenheitstext erzählt wird, den es im Anschluss zu betrachten gilt, zergliedert und nachträglich wieder zusammengesetzt. Erst wenn die verschiedenen Biblio17_204_s005-419End.indd 291 11.06.13 10: 10 <?page no="292"?> 292 Die Chroniques du Samedi Anwärter auf die amitié tendre in der Hauptstadt des Landes aufeinander treffen und auf ihre Einbürgerung warten, münden auch die verschiedenen Berichte in eine einheitliche Perspektive, die es erlaubt, grundlegende Fragen nach der Konstitution und Dynamik relationaler Räume zu stellen. 1.2.4 Eine Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre Die Schwierigkeiten, mit denen sich Madeleine de Scudéry und ihre Mitbegründer des Samedi konfrontiert sehen, hängen mit dem Wachstum der Gruppe zusammen. Wieviel Neuzugang verträgt ein ‚Salon‘, ohne sein Profil zu verlieren? Und wie lange kann man es sich erlauben, die Türen von Tendre geschlossen zu halten, ohne dass die Gruppendynamik zum Erliegen kommt? Diese Fragen werden sowohl in der Gazette de Tendre als auch in einer Erzählung verhandelt, die unter dem Titel Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre avec le discours que fit la souveraine de ce lieu aux habitants de l’ancienne ville überliefert ist. 64 Der Titel dieser Relation gibt bereits Auskunft über die fiktionale Konstellation, in der sich ein reales Problem spiegelt: Es geht darum, Ein- und Ausschlusskriterien zu entwickeln, die den Personenkreis um Madeleine de Scudéry in ‚alte‘ und ‚neue‘ Freunde („l’ancienne ville“ versus „nouvelle ville“) unterteilen, ohne ihn zu sprengen, sowie um Entscheidungsprozesse, die einer normativen Instanz bedürfen („la souveraine de ce lieu“). Explizite Herrschaftsausübung verträgt sich jedoch nur bedingt mit dem Freundschaftsdiskurs, der die Gruppe konfiguriert, weshalb der fiktionale Modus in doppelter Hinsicht funktional ist: Erstens dient er der Konsolidierung des Gemeinschaftsbewusstseins, und zweitens kann er als Abfederungsmechanismus verstanden werden, der es erlaubt, konfliktuelle Gegenstände und soziale Spannungen indirekt zu thematisieren. Insbesondere die Ansprache der Sapho, die als Figurenrede in der Relation wiedergegeben wird, lässt sich vor diesem Hintergrund als Aufforderung Madeleine de Scudérys an ihre langjährigen Wegbegleiter Conrart, Chapelain und Sarasin lesen, 65 sich mit der regelmäßigen Anwesenheit von Isarn, Donneville und vor allem von Pellisson zu arrangieren, dessen bedeutende Rolle im Kreis des Samedi vor allem in den Chroniques zum Ausdruck kommt. In diesem 64 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 5131 Rés.; zitiert als [Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre, Chroniques du Samedi 2002, S. 321-326]. 65 In der Relation wird auch Mégabate alias Montausier zu den Bewohnern von ‚ancienne ville‘ gezählt, doch gilt es, diese Freundschaftsbekundung mit Vorsicht zu genießen, gereicht sie doch zu deutlich vor allem Madeleine de Scudéry zum Vorteil. Zugleich unterstützt die Integration von Mégabate in den Kreis der alten Freunde jedoch die Vermutung, dass es sich bei den Männern vor allem um ehemalige habitués der Chambre bleue handelt, die bereits im Roman Le Grand Cyrus portraitiert wurden. Biblio17_204_s005-419End.indd 292 11.06.13 10: 10 <?page no="293"?> 293 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass die Relation im Unterschied zu anderen Stücken, die an die Carte de Tendre anknüpfen, in der Handschrift Madeleine de Scudérys überliefert ist. Die Materialität des Textes legt dadurch die Kongruenz der erzählenden und der verschriftlichenden Instanz nahe, wobei zu vermuten steht, dass es sich bei letzterer auch um die Autorin der Erzählung handelt. Die Rede der Sapho, in der sie zugunsten ihrer ‚neuen‘ Freunde das Wort ergreift, entpuppt sich als eine geschickte Strategie, ihren Herrschaftsanspruch scheinbar zu negieren und zugleich zu festigen. Denn noch während sie darauf hinweist, dass sie selbst Tendre und seine Gesetze der amitié tendre erschaffen hat, stellt sie die Legitimität ihrer sich daraus ergebenden Autorität dadurch unter Beweis, dass sie sie zugunsten der Freundschaft zurücknimmt: Sie verzichtet auf die Entscheidungsgewalt, die sie dem Tribunal - bestehend aus dem ‚Mage de Tendre‘ (alias Godeau), Mégabate (alias Montausier), Théodamas (alias Conrart), Aristée (alias Chapelain) und Amilcar (alias Sarasin) - zusammen mit der Verantwortung übergibt, neue Mitbewohner von Tendre nach gründlicher Prüfung aufzunehmen, damit der lebendige Austausch der Stadt mit dem Umland nicht untergraben werde: „Car enfin vous jugez bien que je n’ai pas bâti cette magnifique ville pour en faire un désert.“ 66 Dieser scheinbare Verzicht auf Machtausübung ist noch in einer anderen Hinsicht ein geschickter Schachzug. Nachdem Sapho geendet hat, berichtet der anonyme Erzähler von einer Unruhe, die durch das Gerücht zustande kommt, das die misstrauische und scharfzüngige Doralise (alias Marie Robineau), die ebenfalls zur Fraktion der ancienne ville zählt, in die Welt gesetzt habe. Sie behauptet nämlich, dass Sapho entgegen ihrer Loyalitätsbekundungen den Neuankömmlingen schon längst Zutritt zu Tendre verschafft habe. Das gesamte Tribunal droht zu einer Farce zu werden, zu einem Schauspiel, dem jene neuen Freunde, über deren Schicksal hier vorgeblich entschieden wird, von einem Nebenraum aus beiwohnen. Sapho reagiert auf diese Anschuldigungen, indem sie es den Anwesenden freistellt, besagten Nebenraum zu durchsuchen, wohl wissend, dass der von ihr kurz zuvor erbrachte Vertrauensbeweis ihren Freunden gegenüber nun deren demonstrative Zurschaustellung von Misstrauen unmöglicht macht. So bleibt schließlich auch der Erzähler - und mit ihm der Leser - im Unklaren über den tatsächlichen Status der neuen Freunde sowie über den Wahrheitsgehalt des Gerüchtes: „Mais le respect qu’on eut pour elle fut si grand que personne n’y voulut aller, ainsi on ne sait si la chose était vraie ou fausse.“ 67 Diese focalisation externe - in der Terminologie Gérard 66 Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre, Chroniques du Samedi 2002, S. 324. 67 Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre, Chroniques du Samedi 2002, S. 326. Biblio17_204_s005-419End.indd 293 11.06.13 10: 10 <?page no="294"?> 294 Die Chroniques du Samedi Genettes 68 - lässt die Aussage des Textes in der Schwebe: Wieviel Strategie und wieviel ‚aufrichtige‘ Freundschaft steckt hinter Saphos Verhalten? Und wie lässt sich das Verhalten Madeleine de Scudérys interpretieren, immer vorausgesetzt, sie ist die Autorin dieser Geschichte, in der sie ihr alter ego sowohl direkt zu Wort kommen als auch ein Geheimnis bewahren lässt? Das Ende der Erzählung erlaubt keine eindeutige Aussage über das Verhalten der Figur Sapho. Verstanden als strategische Sprachhandlung im fiktionalen Gewand lässt sich die Relation jedoch als Geste Madeleine de Scudérys deuten, die in dieser überraschenden Wendung auf den ursprünglichen allegorischen Sinngehalt der Carte de Tendre zurückverweist: Letztlich handelt es sich immer noch um eine Kartographie des ‚Herzens‘, das - um Pascals berühmten Aphorismus zu paraphrasieren - seinen eigenen Regeln folgt und sich keiner (Staats)raison unterwerfen lässt. Wem gegenüber sich dieses Herz öffnet, ist und bleibt eine intime Angelegenheit, die sich fremden Blicken entzieht. Die Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein streng durchkomponierter Text, der sich auf mehreren Ebenen lesen lässt und einen eleganten Bogen von der topographischen Darstellung der amitié tendre über die Staatsallegorie wieder zurück zu dem ursprünglichen Liebesdiskurs beschreibt. Dass die Bedeutung der Frage, wie sich die Gruppendynamik eines Salons regulieren lässt, jedoch weit über die Regungen eines einzelnen Herzens hinausgeht, 69 macht der Vergleich der Relation mit dem Bericht der Gazette aus Tendre deutlich. Dieser Bericht räumt Sapho als Staatsoberhaupt insgesamt weniger Platz ein, aber in beiden Texten geht es um Distinktionsmechanismen, die im Bild der ancienne und der nouvelle ville de Tendre diskutiert werden. Es handelt sich um ein schönes Beispiel dafür, wie eine Allegorie weitere Allegorien hervortreibt, war dieses Bild der zwei Stadtgebiete doch nicht von Anfang an in der Topographie des Freundschaftsdiskurses angelegt, sondern entstand wahrscheinlich erst durch die detailfreudige Ausgestaltung der Carte de Tendre: Deutlich ist auf dieser Karte zu erkennen, dass der Fluss Inclination die Stadt in zwei Bereiche unterteilt, die durch eine Brücke miteinander verbunden sind. Was liegt da näher, als an dem einen Ufer die ‚alten‘, an dem anderen Ufer die ‚neuen‘ Freunde anzusiedeln? Die räumliche Trennung löst allerdings noch nicht das Problem der heterogenen Sozialstruktur, die es zu ordnen gilt, auch wenn allen Beteiligten klar ist, dass diese Ordnung nur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sein kann: „[…] car quand on aura résolu que ces étrangers entreront, il faud- 68 Vgl. Gérard Genette, Figures III. Paris, Seuil 1972, S. 206-211. 69 Vgl. Denis, Les Samedis de Sapho, S. 109: „[…] les dissensions entre habitants de l’Ancienne Ville et citoyens de la Nouvelle Ville de Tendre […] ne relèvent plus du statut d’affaires intimes.“ Biblio17_204_s005-419End.indd 294 11.06.13 10: 10 <?page no="295"?> 295 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart ra encore bien du temps pour régler leurs rangs avec les anciens“ 70 , wie es der gazettier aus Tendre auf den Punkt bringt. Ausgedrückt im Bild der Rangfolge erscheint die Auseinandersetzung zwischen den Bewohnern der Alt- und der Neustadt von Tendre jedoch nicht mehr als ein Problem, das den Mitgliedern dieses Salons vorbehalten ist. Vielmehr lassen sich die Spannungen, die in den Texten rund um die Carte de Tendre thematisiert werden, von dem galanten Kontext, in dem sie entstanden sind, relativ leicht entkoppeln und als die Fiktionalisierung eines Diskurses betrachten, der insbesondere nach der Fronde das Leben der politischen Akteure am französischen Hof beherrscht. Die Mitglieder der Gruppe um Madeleine de Scudéry sind professionelle hommes et femmes de lettres, deren Aktionsradius sich nicht auf den eigenen Kreis beschränkt. Die literarischen Spiele, die ihre Gruppe zusammenhalten, sind darauf angelegt, auf mehreren ‚Spielfeldern‘ zugleich Wirkung zu entfalten, wobei die Kunst darin besteht, das Abstraktionspotential der Gelegenheitstexte nur so weit auszuschöpfen, wie es nötig ist, um sich auf dem literarischen Feld zu positionieren, ohne dass dabei der konkrete relationale Raum, dem sie entstammen, unsichtbar wird. Abstraktion und Identifikation halten sich in diesen Texten jedoch nicht nur die Waage, vielmehr sind sie über die spezifische Verschränkung von sozialen und textuellen Strukturen, die das frühe literarische Feld Frankreichs auszeichnet, untrennbar miteinander verbunden. So schließen sich auch die verschiedenen Strategien, die sich in den untersuchten Texten herausarbeiten lassen, nicht aus, sondern bedingen einander: An den Erfolg anzuknüpfen, den die Carte de Tendre im Zuge ihrer Veröffentlichung als Beigabe der Clélie erzielte, ist vor diesem Hintergrund ebenso notwendig wie das Bestreben einleuchtend, diesen Erfolg für den eigenen Kreis zu beanspruchen. Deshalb werden die Texte anhand von Fußnoten für ein externes Publikum aufbereitet, das sowohl von dem allegorischen Gehalt der Karte als auch von der Verschlüsselung angesprochen wird. Dass weder die Gazette de Tendre noch die Relation oder gar der Discours géographique als eigenständige Publikationen erschienen sind, ändert nichts an ihrer Aufgabe, die Bedeutung des Samedi auf den verschiedenen Ebenen der galanten Gelegenheitsliteratur sichtbar zu halten. Bevor nun jene Handschrift zu untersuchen sein wird, deren Bezeichnung als Chroniques du Samedi bereits darauf hinweist, dass ihr diese Aufgabe in besonderem Maße zugeschrieben wird, sollen abschließend noch einmal die hier angestellten Überlegungen zum Imaginarium des Samedi zusammengefasst werden. Dabei gilt es insbesondere jene Charakteristiken hervorzuheben, die es erlauben, das Verhältnis dieses Raumes zu jenem der Chambre bleue näher zu bestimmen, dessen literarischer Höhepunkt - La 70 Gazette de Tendre, Chroniques du Samedi 2002, S. 320. Biblio17_204_s005-419End.indd 295 11.06.13 10: 10 <?page no="296"?> 296 Die Chroniques du Samedi Guirlande de Julie - zum Zeitpunkt der Carte de Tendre immerhin bereits mehr als zehn Jahre zurückliegt. 1.3 Von der Chambre bleue zum Royaume de Tendre Die Relationalität des Raumes, auf den bereits die Zeitgenossen mit der Bezeichnung Samedi referieren, lässt sich also ebenso wie diejenige der Chambre bleue anhand von Fiktionalisierungsstrategien herausarbeiten, die in den Recueils Conrart festgehalten sind. Die strukturelle Ähnlichkeit der Gelegenheitstexte, die das Gruppengedächtnis des jeweiligen Salons konsolidieren, sowie die Vergleichbarkeit ihrer materiellen Überlieferungssituation ist dabei kein Zufall: Sie ist erstens auf die personale Kontinuität zurückzuführen, die sich in der Person des ‚Archivars‘ Conrart niederschlägt, der - wie Chapelain oder Godeau oder Madeleine de Scudéry selbst - in beide Gruppen integriert war. Zweitens verdanken sie sich dem Gestaltungswillen derjenigen, die sich um Madeleine de Scudéry nach dem Vorbild derer scharen, die sich vor der Fronde um die Marquise de Rambouillet und ihre Tochter versammelt hatten. Viele der Gelegenheitstexte, die das Imaginarium des Samedi gestalten, nehmen direkt Bezug auf die Chambre bleue oder auf die literarischen Spiele, die dort gespielt und verschriftlicht wurden. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Soziabilität des Hôtel de Rambouillet nahtlos in die Gesellschaft der Madeleine de Scudéry übergeht, deren Salon ein deutlich anderes Sozialprofil aufweist. Vielmehr deuten die intertextuellen Spuren, die die Vorstellung einer quasi ‚genealogischen‘ Nachfolge heraufbeschwören, darauf hin, dass sie bereits Teil des Imaginariums des Samedi sind. Die Hinweise sind bewusst gesetzt, ob es sich um die galante Namensgebung handelt, um eine augenzwinkernde Hommage an die Guirlande de Julie, deren galante Geste in der Journée des madrigaux aufgerufen wird, oder um eine amplifizierte Version der Gazette de plusieurs endroits, als die sich die Gazette de Tendre lesen lässt. Deren Bericht aus er Ortschaft Bonté enthält darum auch nicht zufällig den galanten Namen der Marquise de Rambouillet: „[…] un magnifique palais, qui est auprès de celui de la divine Arthénice [sic! ], à qui Sapho rend autant d’honneur qu’à une déesse.“ 71 Dieser Palast, der als Gästehaus zur Unterbringung der Fremden fungiert, die auf dem Weg nach Tendre sind, dient offensichtlich als Vorwand, um das intime und doch hierarchische Verhältnis zwischen Arténice alias Madame de Rambouillet und Sapho alias Mademoiselle de Scudéry zur Darstellung zu bringen: Während Arténice einen Palast ihr eigen nennt, empfängt Sapho ihre Gäste an einem nicht näher spezifizierten Ort innerhalb der Stadt Tendre. Gleichwohl ist es Sapho 71 Gazette de Tendre, Chroniques du Samedi 2002, S. 312-313. Biblio17_204_s005-419End.indd 296 11.06.13 10: 10 <?page no="297"?> 297 Das Imaginarium des Samedi in den Recueils Conrart (deren alter ego in Wirklichkeit über keine eigenen Empfangsräume verfügt, die mit dem Hôtel de Rambouillet vergleichbar wären) die entscheidet, wem der Zutritt zu der Hauptstadt des von ihr erschaffenen Royaume de Tendre gewährt und wem er verwehrt wird. Dass dieses imaginäre Königreich anders konstruiert ist, als das „royaume des cent marches“, das in der Mijoréade an die Zimmerfluchten der Chambre bleue denken ließ, 72 wird anhand dieses Beispiels dennoch deutlich. Die halbfiktionale Welt der Chambre bleue stellt die Idealisierung eines architektonischen Raumes dar, der nicht ausschließlich auf der diskursiven und schon gar nicht auf einer allegorischen Ebene angesiedelt ist wie das Royaume de Tendre. Projiziert man diese imaginären Räume nun auf den sozialen Status der beteiligten Personen zurück, so wird deutlich, dass von einem bruchlosen Übergang von der Chambre bleue zu der Gesellschaft des Samedi nicht die Rede sein kann. Dies zeigen nicht zuletzt die Anstrengungen, die beispielsweise Valentin Conrart unternimmt, um auf seinem Anwesen in Athis-sur-Orge Vertreter des Adels standesgemäß empfangen zu können. Nicolas Schapira hat dargelegt, dass der Erwerb dieses Hauses für Conrart eine erhebliche Investition bedeutet hat, die unter finanziellen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen ist. 73 Der Wert des Hauses bemisst sich für den neuen Besitzer offenbar ausschließlich an seiner Eignung, Gäste zu empfangen. L’achat d’Athis ne répond pas à la volonté de tirer des revenus de ce domaine: la maison, si elle comporte un vaste jardin, n’est pas entourée de terres susceptibles d’être louées. […] En revanche, relativement vaste et dotée de beaux jardins qui descendent en terrasse vers la Seine, la maison de Conrart apparaît comme un espace idéal de villégiature et de réception, et elle est chantée comme telle par ses amis. 74 Interessanterweise nutzt Conrart seinen Landsitz nicht für einen (scheinbaren) Aufstieg in die Aristokratie, da er sich niemals „Sieur d’Athis“ nennt und sich auch sonst nicht darum bemüht zu haben scheint, seine vorteilhafte Position als Vertrauter verschiedener Adelsfamilien in eine sichtbare Verbesserung seines sozialen standings umzumünzen. 75 Ihm genügt offenbar das symbolische Kapital, das sich aus den neuen Möglichkeiten für gesellschaft- 72 Vgl. Teil III, Kap. 1.1. 73 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 244. Allerdings zeigt Schapiras Untersuchung auch, wie komplex das Verhältnis von sozialem und finanziellem Kapital gerade in diesem Fall ist, sind doch die (komplizierten) Transaktionen, die es Conrart ermöglichen, das Haus zu kaufen, Ausdruck seiner Verbindungen mit dem altadligen Geschlecht der Rambouillet (ebd., S. 279-282). 74 Schapira, Un professionnel des lettres, S. 244-245. 75 Vgl. Schapira, Un professionnel des lettres, S. 245. Biblio17_204_s005-419End.indd 297 11.06.13 10: 10 <?page no="298"?> 298 Die Chroniques du Samedi liche Empfänge schlagen lässt, und kann sich dabei auf seine Freunde verlassen, die von diesen Möglichkeiten profitieren und sich für die Einladung auf literarischem Wege erkenntlich zeigen. 76 Unterschiede zwischen dem relationalen Raum der Chambre bleue und demjenigen des Samedi lassen sich jedoch nicht allein in der räumlichen Fiktionalisierung nachweisen. Ein maßgeblicher Unterschied, der die Figurenkonstellationen betrifft, ergibt sich auch aus der Überschneidung von Status und Gender. Die Position von Mademoiselle de Rambouillet ist mit der Position der Madeleine de Scudéry nicht kongruent, auch wenn die Journée des madrigaux als Hommage an die Guirlande de Julie diesen Eindruck erwecken soll. ‚Sapho‘ zu huldigen ist im Vergleich zu der Aufgabe, ‚Julie‘ mit einer Blumengirlande zu ehren, ein kompliziertes Unterfangen für die männlichen Dichter, die sich oft genug bei dem Versuch, zugleich die Frau und die femme de lettres zu ehren, in Widersprüchen verfangen. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Sprache der galanterie zu finden, die dem doppelten Standort der Schriftstellerin Rechnung trägt, die nicht nur stumm auf der Negativfolie der männlichen Rede abgebildet wird, sondern sich aktiv zu Wort meldet. Nicht umsonst verweist der galante Name der Scudéry auf die griechische Lyrikerin, und in den Gelegenheitstexten findet sich nicht nur einmal der Hinweis darauf, dass ‚Sapho‘ der fremden Huldigung nicht bedarf, da sie selbst in der Lage ist, Verse zu schmieden. Da es jedoch unmöglich oder doch zumindest im höchsten Maße lächerlich wäre, ein Huldigungsgedicht an sich selbst zu richten, muss Madeleine de Scudéry geschickt zwischen dem galanten und dem künstlerischen Pol ihrer Doppelrolle ‚Sapho‘ navigieren. Ihr Salon fungiert in diesem Zusammenhang als Versuchsanordnung: Im geschützten Raum der eigenen Gruppe kann der Umgang mit den Spannungen erprobt werden, die zwischen amour galant und amour précieux - um die Formel von Jean Michel Pelous aufzugreifen - entstehen. So lautet zumindest eine der Arbeitshypothesen, mit der im folgenden Kapitel an eine Handschrift herangetreten wird, die unter mehreren Gesichtspunkten einen Sonderfall galanter Gelegenheitsdichtung darstellt. Ebenso wie die Guirlande de Julie - und dies ist eine weitere Arbeitshypothese - lassen sich die Chroniques du Samedi einerseits als Salonalbum begreifen. Andererseits sind die Handschriften aber auch wieder so unterschiedlich, dass sich ihre Analyse gut dazu eignet - und dies ist die dritte Arbeitshypothese -, einem traditionellen, die verschiedenen Spielarten der sociabilité verschleiernden Salonbegriff zumindest in Ausschnitten ein differenziertes Bild entgegenzusetzen. 76 Davon zeugt beispielsweise eine Gelegenheitsepistel von Paul Pellisson mit dem Titel Les fauvettes du bois de Carisatis à leur Reyne la Fauvette du bois de Sapho, in der der Verfasser den Garten von Athis (alias Carisatis) besingt (vgl. Tonolo, Divertissement et profondeur, S. 675-684). Außerdem wird Conrarts Anwesen im vierten Band der Clélie portraitiert. Biblio17_204_s005-419End.indd 298 11.06.13 10: 10 <?page no="299"?> 299 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum 2 Die Chroniques du Samedi: Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Die Bibliothèque de l’Arsenal erwirbt 1977 eine Handschrift, 77 die seit Jahrzehnten als verschollen galt und von Antoine Adam in seinem Anmerkungsapparat zu den Historiettes mit jener Sammlung von Gelegenheitstexten identifiziert wurde, die Tallemant des Réaux als „Chroniques du Samedy“ bezeichnet: „Pellisson fait un recueil où il met toutes leurs lettres et tous les vers sans rien corriger. J’en trie ce qu’il y a de meilleur. Cela s’appelle les Chroniques du Samedy.“ 78 Die Handschrift, die Louis Belmont 1902 in der Revue d’Histoire Littéraire de la France erstmals beschrieben und in Auszügen reproduziert hatte und die zuvor im Besitz des gelehrten Sammlers Feuillet de Conches gewesen war, 79 enthält tatsächlich überwiegend Briefe, die im engsten Freundeskreis der Madeleine de Scudéry geschrieben wurden. Wenngleich die Briefe nicht datiert sind, lässt sich ihre Entstehung auf einen Zeitraum zwischen Sommer 1653 und Frühling 1654 eingrenzen, da sie von Ereignissen Zeugnis ablegen, die sich zwischen der Veröffentlichung des letzten Bandes des Cyrus und des ersten Bandes der Clélie zugetragen haben. Im Unterschied zu den Recueils Conrart zeichnet sich diese Handschrift außerdem durch eine Geschlossenheit aus, die auf den Gestaltungswillen ihrer Verfasser schließen und die Bezeichnung ‚Album‘ gerechtfertigt erscheinen lässt. Aber ist dieses Album, das keinen Titel trägt, mit jenem „recueil“ Pellissons, den Tallemant erwähnt, wirklich identisch? Anders als von Tallemant behauptet wird, wenn er die „Chroniques du Samedy“ beschreibt, hat eine korrigierende Hand sehr wohl Eingriffe in die hier versammelten Texte vorgenommen. Diverse Korrekturen sowie Kommentare und Randnotizen legen den Verdacht nahe, dass hier eine Auswahl jener Briefe zusammengestellt wurde, die in einer umfangreicheren Sammlung von Autographen und/ oder Abschriften vorlagen, bevor sie Eingang in das Album gefunden haben. Was Zeitgenossen als „Chroniques du Samedy“ bezeichneten, scheint also ursprünglich eine Sammelform gewesen zu sein, die noch nicht von jenem Gestaltungswillen geprägt war, der die Handschrift auszeichnet. Diese Annahme wird durch ein logisches Dilemma bestätigt, das entsteht, wenn man davon ausgeht, dass die Handschrift für diejenigen, die sie zusammen- 77 Im Original einzusehen in der Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, Ms 15156. 78 Tallemant, Historiettes II, S. 691. Zu dem Kommentar Antoine Adams siehe ebd., S. 1458-1459. 79 Louis Belmont, „Documents inédits sur la société et la littérature précieuses“, in: Revue d’Histoire Littéraire de la France, 1902, S. 646-673. Dass die Handschrift zuvor im Besitz von Feuillet de Conches gewesen war, belegt die Inschrift eines signierten Kommentares, in dem der Sammler die historischen Personen identifiziert, die an dem Werk beteiligt waren. Biblio17_204_s005-419End.indd 299 11.06.13 10: 10 <?page no="300"?> 300 Die Chroniques du Samedi gestellt haben, unter dem Titel „Chroniques du Samedy“ figurierte: Der Madrigalzyklus La Journée des madrigaux, von dem eine Abschrift in dem Album enthalten ist, trägt den Untertitel Fragment tiré des Chroniques du Samedi. Diese Präzisierung ergäbe keinen Sinn, wenn die Handschrift, in die dieses Fragment aufgenommen wurde, mit den „Chroniques du Samedi“, denen es entstammt, identisch wäre. Konsequenterweise müsste man dem Album nun einen anderen Titel geben. Es wird hier dennoch darauf verzichtet, nicht nur, um die Arbeit mit der ansonsten höchst verdienstvollen Edition der Handschrift zu erleichtern, die im Jahr 2002 von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître unter dem Titel Chroniques du Samedi herausgegeben wurde. 80 Dieser Titel wird im Folgenden auch darum beibehalten, weil tatsächlich vieles dafür spricht, dass wir es mit einer bearbeiteten Version jener Sammlung zu tun haben, die Tallemant zufolge von Pellisson angelegt wurde. So stammt beispielsweise die Mehrzahl der Kommentare, Annotationen und korrigierenden Eingriffe, die darauf hinweisen, dass in dem Album zuvor zusammengetragenes Material für die Lektüre durch Dritte aufbereitet wurde, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von seiner Hand sowie in einigen Fällen von Madeleine de Scudéry. Wie ein graphologisches Gutachten ergeben hat, wurde außerdem die kalligraphische Abschrift der Texte selbst von Pellissons Sekretär, einem gewissen Girard, ausgeführt. 81 Auch inhaltlich lassen sich einige Hinweise darauf finden, dass sich die Handschrift der Sammeltätigkeit Pellissons verdankt. Immer wieder erhält er Briefe zur Aufbewahrung, wie beispielsweise die folgenden Zeilen von Madeleine de Scudéry belegen: 82 Comme ce n’est pas l’usage de confier des papiers d’importance sans en avoir un récépissé, vous en envoierez, s’il vous plaît, un qui marque précisément que vous avez dix-neuf billets qui s’adressent à moi ou à Mme Bocquet ou à M. Conrart, et une lettre de M. Isarn, et vous vous engagerez à les restituer toutes fois et quantes que vous en serez requis. (CdS, S. 131) Seine Tätigkeit als Sammler und chroniqueur bestätigt auch folgende Briefstelle, die darauf schließen lässt, dass er nicht nur die Journée des madrigaux für 80 Chroniques du Samedi 2002. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im Fließtext zitiert, um dem Leser den Nachvollzug der Argumentation zu erleichtern. Die Seitenangabe in Klammern (CdS, S. x) hinter den Originalzitaten verweist auf diese Ausgabe, während in den Fußnoten die Kommentare der Herausgeber nachgewiesen werden. 81 Vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 8. 82 Der scherzhafte, da die administrative Sprache imitierende Tonfall Scudérys ändert nichts an dem hier angesprochenen Sachverhalt, dass Pellisson eben jene Texte anvertraut wurden, die sich in der Handschrift wiederfinden. Die Überschrift des Textes, die als Erklärung eingefügt wurde, lautet: „Billet de Sapho à Acante, en lui renvoyant tous les précédents billets pour les faire écrire“. Biblio17_204_s005-419End.indd 300 11.06.13 10: 10 <?page no="301"?> 301 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum die Gruppe des Samedi aufbereitet hat. Dieser Madrigalzyklus ist nicht das einzige Stück, das von ihm bearbeitet wurde: Voici une bagatelle que j’ai faite, elle ne vaut rien. […] Mais comme je ne cherche point d’autre gloire que celle de la prompte obéissance, je vous envoie cet ouvrage tout mauvais qu’il est, me réservant à le corriger à l’avenir si je puis. Je vous puis assurer qu’il était déjà fait avant, tant j’ai eu d’ardeur pour exécuter vos commandements. […] Mais je ne sais si tout cela pourra être fait pour le premier Samedi et s’il ne faudra point un délai de huitaine comme pour les Madrigaux. (CdS, S. 218) Pellisson redigiert also ‚im Auftrag‘ von Madeleine de Scudéry, an die dieser Brief gerichtet ist, 83 verschiedene Texte, deren Rezeption und mitunter auch Produktion (Madrigaux) kollektiver Natur sind. Von der unterhaltenden Lektüre solcher Stücke im Kreis des Samedi zu ihrer Zusammenstellung in einem Album, das sich für eine Zirkulation in eben diesem Kreis eignet, ist es nur ein kleiner Schritt, und tatsächlich spiegelt die Handschrift über weite Strecken die soziale Praxis der Gruppe. Dass die Gruppenmitglieder ein solches Album als fragmentarische ‚Chronik‘ ihres Kreises begriffen haben, liegt nahe, selbst wenn sie mit der Bezeichnung „Chroniques du Samedi“ auf eine unspezifischere Sammelform referierten und die Charakterisierung Pellissons als chroniqueur ironische Züge trägt. 84 Trotz dieser Ironie nehmen sie die Gedächtnisfunktion ihrer Sammeltätigkeit jedoch sehr ernst, wie die sorgfältig gestaltete und für die Überlieferung angelegte Handschrift deutlich zeigt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Beibehaltung des Titels Chroniques du Samedi für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand rechtfertigen, vorausgesetzt, man verliert folgende Punkte nicht aus den Augen: Erstens handelt es sich nicht um eine Sammlung von ‚Originalbriefen‘, sondern um deren Abschrift. Zweitens geht dieser Abschrift eine Auswahl voraus, die nicht mit der Sammeltätigkeit identisch ist und einen Gestaltungswillen erkennen lässt, durch den sich die Handschrift von den galanten Archiven eines Conrart oder eines Tallemant maßgeblich unterscheidet. Drittens schließlich verbindet sich dieser Gestaltungswillen mit einer Perspektivität, die über weite Strecken mit der Perspektive derjenigen kongruent zu sein scheint, die für die Aufbereitung des Materials verantwortlich sind: Paul Pel- 83 Wobei die Formulierungen „obéissance“ und „commandements“, derer sich Pellisson bedient, vage genug sind, als dass sie auch im metaphorischen Sinne verstanden werden können und dann jenem galanten Liebesdiskurs entstammen, der in den Briefen aufgerufen wird. 84 Auf den ironischen Gebrauch des Ausdrucks chroniqueur weist bereits Furetières Definition hin: „Chroniqueur. Qui a écrit des Chroniques. […] le mot est vieux & ironique.“ (Furetière, Dictionnaire universel I, p. 404). Biblio17_204_s005-419End.indd 301 11.06.13 10: 10 <?page no="302"?> 302 Die Chroniques du Samedi lisson und Madeleine de Scudéry, die nicht nur die meisten Briefe, sondern auch die erklärenden Kommentare am Rand der Handschrift verfasst haben. Diese Perspektivität scheint das Album dem polyphonen Briefroman anzunähern, wird doch in beiden Fällen eine Vielstimmigkeit durch die mise en narration gebündelt. Gerade im Falle dieses Salonalbums, das sich bereits an genügend anderen Stellen mit der literarischen Fiktion berührt, ist es jedoch besonders wichtig, die fiktive Vielstimmigkeit der literarischen Gattung des Briefromans von jener spielerischen Fiktionalität zu unterscheiden, die das kollektive Album gleich in doppelter Hinsicht auszeichnet: Erstens sind die Briefe nicht von einer einzigen Person geschrieben worden, die verschiedenen Figuren ihre Stimme leiht, sondern sie sind das kollektive Ergebnis einer im fiktionalen Rahmen des galanten Spiels angesiedelten sozialen Praxis. Auf der Ebene der Zusammenstellung dieser Briefe bewegen sich zweitens die im Unterschied zu der Herausgeberfigur des Briefromans nicht-fiktiven ‚Herausgeber‘ der Briefe, die als Verfasser der Handschrift (nicht der Texte! ) intervenieren, indem sie die Briefe durch Kommentare und erklärende Hinweise in eine ‚Erzählung‘ einbetten und so den fiktionalen Rahmen des galanten Spiels gewissermaßen erneut einrahmen. 85 Für die Analyse der Chroniques du Samedi bietet es sich vor diesem Hintergrund an, in zwei Schritten vorzugehen: Unter Punkt 2.1 wird es um die Frage gehen, was die Handschrift enthält. Hier werden die verschiedenen Briefwechsel untersucht und als sogenannte ‚Salonstrecken‘ interpretiert, wie sie bereits an anderer Stelle dieser Arbeit in diversen recueils galants herausgearbeitet wurden. 86 Dabei wird von der Hypothese auszugehen sein, dass die Briefe das Medium für eine spielerische Aushandlung jener Spannungen sind, die in der Gruppe aufgrund einer spezifischen Geschlechterkonstellation erzeugt werden. Medium und Zeugnis einer erfolgreichen Gruppenbildung zugleich, geben diese Briefe Aufschluss über das Verhältnis von ‚authentischem‘ Sprachhandeln und schriftlicher figuration der beteiligten Personen, das es im Kontext der galanten Ästhetik zu diskutieren gilt. Unter Punkt 2.2 wird uns die Frage beschäftigen, was die Handschrift insgesamt darstellt. Vor dem Hintergrund der Hypothese, dass sich ihre Funktion als Salonalbum nicht darin erschöpft, mehrere ‚Salonstrecken‘ zu beinhalten, werden Montage-Strategien untersucht, die es erlauben, die Zusammenstellung der Briefe als einen Bedeutung konstituierenden Akt zu begreifen, der sich seinerseits in das galante Spiel einfügt, das die Gruppe konstituiert und konsolidiert. Im Hinblick auf die Funktion, die das Salonalbum als ‚Chronik‘ 85 Zur Gattungstypologie des Briefromans vgl. Frédéric Calas, Le Roman épistolaire. Paris, Armand Collin 2005 [erstmals Paris, Éditions Nathan 1996], S. 24-66. 86 Vgl. Teil II, Kap. 2. Biblio17_204_s005-419End.indd 302 11.06.13 10: 10 <?page no="303"?> 303 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum einer Gruppenbildung erfüllt, sowie auf seine möglicherweise darüber hinausreichende Bestimmung ist die Genese der Handschrift, über die materielle Spuren Auskunft geben können, von besonderem Interesse. Insbesondere die nachträglich erfolgten Überschriften der Briefe sowie ein ambivalenter Umgang mit den Eigennamen der Personen, die zum Teil auch nachträglich eingefügt wurden, legen den Verdacht nahe, dass dieses Album nicht nur zur Zirkulation in ausgewählten gesellschaftlichen Kreisen bestimmt war, sondern für eine Publikation vorbereitet wurde. 2.1 Auf der Ebene der Verschriftlichung: Die Texte als Ort der figuration Die Chroniques du Samedi enthalten also überwiegend Briefe, die zwischen den verschiedenen Personen aus dem Freundeskreis der Madeleine de Scudéry hin- und hergegangen sind. Die Verfasser der Handschrift integrieren jedoch auch Prosastücke und Verse in das Album, die nicht auf der Grundlage dieser Korrespondenz entstanden sind, wie die bereits mehrfach erwähnte hybride Textform der Journée des madrigaux. 87 Zum Teil wird die Aufnahme solcher Gelegenheitsdichtung dadurch legitimiert, dass die Korrespondenten sich gegenseitig Abschriften von Stücken zusenden, die im Kontext des Samedi entstanden sind. 88 An einer anderen Stelle geben die Verfasser den Hinweis, dass Sarasins satirisches Versepos Du Lot vaincu, ou les bouts rimés détruits, dessen Abschrift ebenfalls in der Sammlung figuriert, von seinem Autor zum ersten Mal im Kreis des Samedi vorgelesen wurde. 89 In wieder anderen Fällen werden die Briefwechsel in Prosa unvermittelt durch Versepisteln abgelöst, ohne dass eine uneingeweihte Leserschaft darüber aufgeklärt wird, wie sich die Textstrecken zueinander verhalten. 90 Die Handschrift zeichnet sich also durch eine formale Heterogenität aus, die allerdings dadurch kompensiert wird, dass alle Abschriften entweder inhaltlich auf den Samedi Bezug nehmen oder zumindest - ausweislich der Anmerkungen - auf eine direkte Rezeption durch den Freundeskreis der Madeleine de Scudéry schließen lassen. Der kollektive Charakter dieser Sammlung besteht mithin in der Zusammenstellung verschiedener Formen der Repräsentation, von denen die Reproduktion der Briefe jedoch nicht nur die häufigste, sondern auch eine besonders komplexe Variante darstellt. Im Folgenden sollen drei dieser Briefwechsel näher betrachtet werden. Sie dürfen als exemplarisch für den spielerisch-fiktionalen 87 Chroniques du Samedi 2002, S. 166-182; zur Journée des madrigaux vgl. Teil IV, Kap. 1.1.2. 88 Vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 72; S. 80-85; S. 140; S. 264. 89 Vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 201-217. Die Randnotiz lautet: „Ce jour-là Monsieur Sarasin fit au Samedi la première lecture de ce poème.“ (ebd., S. 201). 90 Vgl. Chroniques du Samedi, S. 259-262; S. 264-269. Biblio17_204_s005-419End.indd 303 11.06.13 10: 10 <?page no="304"?> 304 Die Chroniques du Samedi Modus der Texte gelten, in denen sich eben jene Gruppendynamik spiegelt, die bereits anhand der Gelegenheitsdichtung der Recueils Conrart herausgearbeitet wurde. Sie tragen zu der kollektiven Erzählung von einem Royaume de Tendre bei, das auch in der Gazette de Tendre und in der Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre Gestalt annimmt. 2.1.1 Die Erfindung der Carte de Tendre Der erste Briefwechsel, den es zu untersuchen gilt, setzt sich aus verschiedenen Episoden zusammen, die sich über die gesamte Handschrift erstrecken und gewissermaßen das narrative Substrat der Chroniques du Samedi bilden. Es handelt sich um jene Briefe, die zwischen Paul Pellisson und Madeleine de Scudéry ausgetauscht wurden und den Beginn ihrer legendären Freundschaft zu dokumentieren scheinen. Erzählt wird die Geschichte einer Initiation: Pellisson, dessen Begegnung mit Madeleine de Scudéry den Auftakt dieser Textstrecke darstellt, wird eine Bewährungsfrist von sechs Monaten auferlegt, während derer er sich der amitié tendre als würdig erweisen muss. Im Laufe dieser Zeit, die den narrativen und den chronologischen Rahmen vorgibt, in dem auch alle anderen Briefe entstanden sind, nimmt das Bild einer Initiationsreise immer mehr Gestalt an, so dass Pellisson schließlich um eine Karte bittet, die ihm den Weg nach Tendre und damit zu Saphos Herzen weist. Madeleine de Scudéry verspricht ihm daraufhin, eine solche Landkarte zu zeichnen, und eine Anmerkung in der Handschrift weist darauf hin, dass an dieser Stelle die Carte de Tendre, wie sie in der Clélie veröffentlicht wurde, eingefügt werden sollte. Der Briefwechsel kann mithin als das Herzstück jenes Textkorpus’ betrachtet werden, das sich durch die mise en narration der allegorischen Landkarte auszeichnet und Gelegenheitsstücke aus den Recueils Conrart und den Chroniques du Samedi vereint. Schon dieser Intertext allein macht deutlich, dass es sich bei der Korrespondenz zwischen Pellisson und Madeleine de Scudéry nicht um eine zweistimmige ‚Autobiographie‘ handelt - oder um einen „petit roman sentimental“, von dem Alain Niderst befürchtet, er könne einer naiven Lesart der Chroniques Vorschub leisten 91 -, sondern um die spielerische Aushandlung von Umgangsformen. Auf diese zivilisatorische Prozessualität hat bereits Myriam Maître in einem wichtigen Aufsatz mit dem signifikanten Titel Sapho, Reine de Tendre hingewiesen: 91 „Allons-nous donc trouver dans les Chroniques du Samedi, sous des voiles mondains et un badinage insistant, l’histoire - amusante et émouvante à la fois - d’une union qui se fait, de deux êtres qui vont l’un vers l’autre, malgré tout ce qui peut les séparer? “ (Alain Niderst, „Pour une édition des Chroniques du Samedi“, in: Delphine Denis, Anne-Elisabeth Spica (Hg.), Madeleine de Scudéry: Une femme de lettres au XVII e siècle. Artois Presses Université 2002, S. 195-202, S. 201). Biblio17_204_s005-419End.indd 304 11.06.13 10: 10 <?page no="305"?> 305 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Dans les réduits mondains, les femmes héritent du rôle civilisateur de la Dame: ces postures anciennes, déjà profondément réinterprétées depuis la fin de la courtoisie et l’exaltation de la ‚femme forte‘, entrent en résonance, mais aussi en dissonance voire en conflit avec d’autre figurations vénérables de la sociabilité intellectuelle, qui privilégient l’égalité, l’amitié et la liberté. 92 Die Gelegenheitstexte, die im Kontext der Carte de Tendre entstanden sind, lassen im Bild der Königin moderne Gesellschafts- und traditionelle Liebesdiskurse aufeinanderprallen. In dem epistolären Dialog zwischen Pellisson und Madeleine de Scudéry lässt sich diese spannungsgeladene Begegnung zwischen den Geschlechtern besonders gut nachzeichnen, im Rahmen derer das Wissen um Formen der Vergesellschaftung nicht nur verhandelt, sondern auch erprobt wird. So liegt der Initiationsreise, die Pellissons alter ego Acante auf dem allegorischen Spielfeld der Carte de Tendre unternimmt, nicht zuletzt die Aufgabe zu Grunde, Sapho alias Madeleine de Scudéry mit den diskursiven Instrumenten traditioneller Liebesdiskurse davon zu überzeugen, dass er den Preis ihrer Freundschaft höher ansetzt als denjenigen des amour passion. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert einen kreativen Umgang mit den entsprechenden Topoi sowie eine Sprache, die es möglich und glaubhaft erscheinen lässt, die Reine de Tendre leidenschaftlich zu lieben, ohne sie zu begehren. Wie Delphine Denis gezeigt hat, verfügt der ‚Parnasse galant‘ - als deren Vertreter die Autoren der kollektiven Handschrift Chroniques du Samedi gelten dürfen - über eine Reihe von Legitimationsstrategien, die nicht erst auf der rhetorischen Ebene des elocutio, sondern bereits auf der Ebene des inventio anzusiedeln sind. L’esthétique galante suppose en effet l’élection d’un certain nombre de lieux - au sens pleinement rhétorique du terme; son examen nécessite la mise au jour de ses opérations d’inventio, de ses ‚matières‘ privilégiées, et des effets de sens qui se dégagent de ce dispositif. 93 Die Briefe Madeleine de Scudérys und Pellissons sind ein gutes Beispiel für diese Artikulation von literarischer Ästhetik und angewandter Rhetorik, weil sie bereits zum Zeitpunkt ihrer Verschriftlichung einen pacte scriptuaire mit einer potenziellen Leserschaft schließen, der gleichzeitig auf die zwei wichtigsten loci rekurriert, die Denis zufolge den galanten Diskurs legitimieren: 92 Myriam Maître, „Sapho, Reine de Tendre: Entre monarchie absolue et royauté littéraire“, in: Delphine Denis, Anne-Elisabeth Spica (Hg.), Madeleine de Scudéry: Une femme de lettres au XVII e siècle. Artois Presses Université 2002, S. 179-193, S. 194. 93 Denis, Le parnasse galant, S. 239. Biblio17_204_s005-419End.indd 305 11.06.13 10: 10 <?page no="306"?> 306 Die Chroniques du Samedi das Spiel und die Liebe. 94 Das Spannungsverhältnis zwischen amour passion und amitié tendre ist Teil jenes Initiationsspiels, das Pellisson schließlich den Zugang zum Kreis der Madeleine de Scudéry ermöglicht. 95 In der Textstrecke La Journée des madrigaux, die nicht zufällig in der Handschrift Chroniques du Samedi enthalten ist, deuteten sich diese Spannungen bereits an: Es sind Fragen wie diejenige nach dem Umgang mit einer weiblichen Stimme im Chor der um die Gunst einer Dame wetteifernden Dichter, die sie erzeugen. Verliert Madeleine de Scudéry ihren Anspruch auf Huldigung durch eine männliche Stimme, wenn sie sich selbst an der Stegreifdichtung beteiligt? Im Rahmen der Journée des madrigaux fällt die Antwort, die Pellisson auf diese Frage gibt, subtiler aus als diejenige des mit ihm konkurrierenden Sarasin. 96 Doch seine Bewährungsprobe hat Pellisson damit noch nicht bestanden. Vor und nach diesem erinnerungswürdigen Tag wird er von Madeleine de Scudéry wiederholt herausgefordert, sich zu ihrem Konzept der amitié tendre zu verhalten. So zum Beispiel in einer Textstrecke, die man mit dem Titel ‚La belle Alphise‘ überschreiben könnte und die im Folgenden näher betrachtet werden soll. 97 Die Frage, ob Acante jemals nach Tendre gelangen kann, wird insbesondere im Rahmen einer Dreiecksbeziehung immer wieder diskutiert. Sapho wirft ihm vor, Alphise (alias Geneviève Perricquet, eine junge Bürgerliche aus der Nachbarschaft Conrarts) zu lieben. Was zunächst wie schlecht verborgene Eifersucht wirkt, entwickelt sich zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über das Verhältnis und das Wesen von Freundschaft und Liebe. Während Acante beteuert, dass sich seine Liebe wie ein kleines Kind von seiner Freundschaft leiten ließe, bezweifelt Sapho, dass in einem liebenden Herzen ihre Freundschaft jemals als das gewürdigt werden könne, was sie ist, nämlich höchste Seligkeit: 94 Vgl. Denis, Le parnasse galant, S. 238-338. Als pacte scriptuaire bezeichnet Denis aus rezeptionssemiotischer Perspektive jenen Pakt mit dem Leser, „[…] que l’œuvre galant construit pour son public, et par lequel elle met en récit sa propre production.“ (ebd., S. 239). 95 Dieses Spannungsverhältnis wird in der Forschung im Zusammenhang mit dem Begriffspaar galanterie und préciosité diskutiert. Siehe hierzu Denis, Classicisme, préciosité et galanterie, sowie Teil I, Kap. 1.2.2 dieser Studie. 96 Vgl. Teil IV, Kapitel 1.1.2. 97 Für die inhaltliche Beschreibung des folgenden Beispiels eines jener Konversationsspiele, die Pellisson als Bewährungsprobe dienen, werde ich durchgängig die galanten Namen der Personen benutzen, da sie es erlauben, den Rahmen der spielerischen Fiktionalität, in dem das Ringen um die amitié tendre stattfindet, präsent zu halten. Biblio17_204_s005-419End.indd 306 11.06.13 10: 10 <?page no="307"?> 307 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum En effet, comme je fais consister toute la douceur de l’amitié à pouvoir penser que je fais la plus sensible félicité de ceux à qui j’accorde la mienne, il n’est pas étrange que je ne la donne pas avec toute sa tendresse, à ceux qui ne sont point en état de la sentir comme la plus douce chose du monde pour eux. (CdS, S. 76/ 77) Ohne der schönen Alphise ihren Platz im Herzen Acantes streitig machen zu wollen, empfiehlt sie dem Liebenden daher, sich erst dann wieder um ihre Freundschaft zu bemühen, wenn seine Seele in der Lage sei, das Glück zu ermessen, das die amitié tendre bedeute: „Car aussi bien ne sentiriez-vous pas toute la douceur de mon amitié en l’état où est votre âme“ (CdS, S. 78). Der Initiationsprozess Acantes stellt sich auf diese Weise als ein Prozess der Gesundung dar, den seine Seele durchlaufen muss, bevor sie empfangsbereit für die höheren Weihen der Freundschaft ist. Dabei greifen die Briefe auf neuplatonisches Gedankengut zurück: Die Liebe wird als eine stufenweise Erkenntnis und die Ablösung der Seele von dem - sich notwendigerweise entziehenden - materiellen Liebesobjekt als eine Heilung verstanden. 98 Acante selbst rekurriert auf dieses Denkbild, wenn er seine Liebe als eine Krankheit bezeichnet, von der er geheilt werden möchte: „Au reste je vous apprends que je suis guéri ou du moins que j’ai tant envie de l’être qu’infailliblement je le serai bientôt“ (CdS, S. 218). Den eigenen unerlösten Zustand als Durchgangsstadium zu begreifen, gehört, zusammen mit dem Wunsch nach Erlösung, zu den Grundvoraussetzungen der Initiation. Doch woran lässt sich erkennen, ob Acante hier nicht doch auf den Topos des liebeskranken Dichters rekurriert, der über seine Krankheit zwar klagt, aber von ihr eigentlich gar nicht genesen will? Sapho bleibt bis zuletzt misstrauisch und weist den beharrlichen Anwärter auf ihre Freundschaft immer wieder ab. Als Acante ihr ein Paar weiße Handschuhe zum Geschenk macht, die er als ein Zwillingspaar darstellt, deren Vater ein in Ketten gelegter Sträfling der Liebe war, vergleicht sie dessen Situation mit derjenigen eines Liebenden, der aus seinem ‚goldenen Käfig‘ nicht ausbrechen will: Car [ses] aimables jumeaux sont propres, et couverts de rubans comme nos blondins, et parfumés comme des galants d’Espagne. De sorte que si je juge du père par les enfants, je crois que la galère où vous êtes est plus magnifique que celle dans quoi Cléopâtre fut trouver Antoine; que si vous 98 Zum Verhältnis von amitié tendre und neuplatonischer Liebeskonzeption vgl. Gerhard Penzkofer, ‚L’art du mensonge‘. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen, Gunter Narr 1998, S. 160-211; Franck Greiner, Jean-Claude Ternaux (Hg.), La politesse amoureuse de Marsile Ficin à Madeleine de Scudéry. Idées, codes, représentations. Franco-Italica, 15-16, 1999; Kroll, Femme poète im Grand Siècle, S. 266-294. Biblio17_204_s005-419End.indd 307 11.06.13 10: 10 <?page no="308"?> 308 Die Chroniques du Samedi portez des chaînes, elles sont du métal dont on fait les plus précieuses couronnes: et qu’elles vous sont enfin si chères, qu’il n’est point de mains si illustres, qui ne vous fâchassent si elles essayaient de les rompre. (CdS, S. 250) Auf diese Weise entwickelt sich ein dialogue des sourds, der es den Protagonisten erlaubt, sich im wahrsten Sinne des Wortes ‚produktiv misszuverstehen‘. Denn obwohl sich dieses Ringen um die Freundschaft auf den ersten Blick nicht von der traditionellen geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung zu unterscheiden scheint - die Aufgabe der Frau ist es, abzuweisen, die Aufgabe des Mannes ist es, darüber zu klagen -, ermöglicht diese Konstellation allen Beteiligten, gleichzeitig das Spiel voranzutreiben und das ‚Gesicht‘ zu wahren. Wenn man diesen Dialog zwischen den Geschlechtern mit einer Partie Billard vergleichen wollte, so spielen die Parteien gewissermaßen ‚über Bande‘: Indem die Funktion, die das Objekt der männlichen Liebe erfüllt, auf eine dritte (stumme) Figur übertragen wird, kann die weibliche (sprechende) Figur eine Doppelrolle übernehmen; einerseits ist sie weiterhin statisch, da die Dame immer noch ‚grausam‘ sein und ihr männliches Gegenüber nicht erhören darf. Andererseits ist sie aber auch dynamisch, da sie ihrerseits von ihrem männlichen Gegenüber etwas bekommen will, das zu geben er nicht bereit ist, nämlich die Aufgabe seines Liebesobjektes. Die Dame kann auf diese Weise das Werben um ihre Gunst in Gang halten, ohne sich diesmal jedoch dem Vorwurf der Koketterie auszusetzen. Der männliche Mitspieler hat seinerseits die Möglichkeit, sein Werben dadurch zu verstetigen, dass er seinen letzten ‚Trumpf‘ - den Übertritt von der Religion der Liebe zum Glaubensbekenntnis der Freundschaft - nicht ausspielt. Ohne Madeleine de Scudéry an dieser Stelle persönliche Motive absprechen zu wollen, sei an dieser Stelle also vor allem auf die strukturellen Voraussetzungen hingewiesen, die dieses Dispositiv für den literarischen Dialog der Geschlechter geradezu herausfordern. 99 Tatsächlich ermöglicht die beschriebene Konstellation des ‚Über-Bande-Spielens‘ Madeleine de Scudéry, in ihrer Rolle als Sapho sowohl eine ‚weibliche‘ als auch eine ‚männliche‘ 99 Ein Vergleich mit dem sogenannten ‚weiblichen Petrarkismus‘ drängt sich an dieser Stelle auf, kann jedoch nicht vertieft werden, und voreilige Pauschalisierungen im Sinne einer ‚weiblichen Genealogie‘ gilt es zu vermeiden. Zur Frage der genderspezifischen Umkodierung in der Dichtung von Frauen im Italien und Frankreich des 16. Jahrhunderts siehe: François Rigolot, Louise Labé Lyonnaise ou la Renaissance au féminin. Paris, Champion 1997; Ulrike Schneider, Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento. Transformationen des lyrischen Diskurses bei Vittoria Colonna und Gaspara Stampa. Stuttgart, Steiner 2007; Stephan Leopold, Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik Früher Neuzeit. München, Wilhelm Fink 2009, S. 229-307. Biblio17_204_s005-419End.indd 308 11.06.13 10: 10 <?page no="309"?> 309 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Position im galanten Liebesdiskurs einzunehmen. Es bleibt Pellisson vorbehalten, mit dieser Herausforderung an den männlichen Part der galanterie umzugehen: Nicht nur Sapho, auch Acante trägt in dieser Konstellation viel dazu bei, dass die Spannung zwischen amour passion und amitié tendre tragfähig bleibt und das Spiel der Geschlechter nicht zum Erliegen kommt. Auch Pellisson sei ein individuelles moralisches Gerechtigkeitsempfinden - ein Sinn für die réciprocité, die sich in der Konzeption der amitié tendre niederschlägt - nicht abgesprochen, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die beschriebene Konstellation zunächst vor allem eines ist, nämlich produktiv. So führt Acantes unablässiges Werben schließlich zur Entstehung der Carte de Tendre, die ihrerseits weitere Texte hervortreibt, in denen der Versuch diverser Figuren der Chroniques du Samedi geschildert wird, Aufnahme in Tendre zu finden. Der Brief, in dem Acante um die allegorische Landkarte bittet, zeugt bereits von jenem Einfallsreichtum, den die Figuren mobilisieren, um an ihr Ziel zu gelangen: Er behauptet, sich in eine Fliege verwandeln zu wollen, um möglichst auf direktem Wege von Particulier nach Tendre gelangen zu können, wo sich ein solches Tierchen sicherlich unbemerkt einschmuggeln ließe. „Mais, Mademoiselle, quand je serai ainsi métamorphosé et métempsycosé, de quoi je ne désespère pas, le moyen de ne me point égarer en chemin? Voulez-vous qu’une pauvre mouche aille faire tout le tour du monde sans savoir où elle va? “ (CdS, S. 127/ 128). Sapho zeigt sich geschmeichelt von dieser Idee und lässt sich zu einem vagen Versprechen hinreißen, eine solche Karte anzufertigen, vorausgesetzt, Acante nähme von seiner Idee Abstand, durch die Luft anreisen zu wollen, da sie nur empfehlen könne, zu Fuß durch diese Landschaft zu gehen, in der es viele interessante Dinge zu sehen gäbe: Au reste j’ai connu quelques gens en ma vie qui avaient été de Particulier à Tendre et qui y avaient même été par le chemin le plus long. Cependant ils m’assurèrent qu’ils ne s’étaient pas ennuyés de sa longueur et qu’il y avait mille agréables choses à voir en y allant, qui divertissaient assez. Je pourrais si je voulais vous envoyer une petite carte de ce pays-là, mais comme je ne sais si vous êtes résolu d’y aller par terre, par eau ou par l’air, je ne juge pas encore qu’il soit nécessaire. (CdS, S. 130) Eine Randbemerkung von der Hand Pellissons weist an dieser Stelle der Chroniques du Samedi darauf hin, dass die Karte am darauffolgenden Samedi bereits zirkuliert. Ob es sich dabei bereits um jene Version der Karte handelt, die in der Clélie überliefert ist, sei dahingestellt. Ganz offensichtlich legen es die Verfasser der Chroniques jedoch darauf an, in dieser Handschrift nicht nur die Geschichte einer Figur zu erzählen, sondern zugleich die Entstehung der Carte de Tendre zu dokumentieren, die hier als erfolgreiches Produkt eines polyphonen Initiationsspiels präsentiert wird. Hier verlassen wir allerdings Biblio17_204_s005-419End.indd 309 11.06.13 10: 10 <?page no="310"?> 310 Die Chroniques du Samedi die Ebene der einzelnen Briefe und kommen in den Bereich dessen, was die Handschrift in ihrer Gesamtheit darstellt. Zuvor soll jedoch noch ein weiterer Briefwechsel vorgestellt werden, in dem Acante und Sapho erneut im Vordergrund des Geschehens stehen, diesmal jedoch flankiert von Théodamas (alias Conrart), dem die Rolle zukommt, die Integration des neuen Freundes in den Zirkel des Samedi so schwierig wie möglich zu gestalten. 2.1.2 Entendre raillerie: Die polyphone Initiation des Acante 100 Das Ringen der Geschlechter um die amitié tendre ist ein Spiel, das in den Briefen ausgetragen wird. Zugleich berichten diese Briefe von sogenannten jeux d’esprit - Stegreifgedichte, Rätsel, Metamorphosen und andere „folies“ -, die den Spielern abverlangt werden und in denen sich seinerseits das Geschlechterverhältnis spiegelt. Die Handschrift Chroniques du Samedi, die so zu einem regelrechten Spiegelkabinett des galanten Spiels wird, enthält einen Briefwechsel zwischen Sapho, Acante und Théodamas, in dem diese Verschränkung besonders deutlich wird. Es handelt sich um eine malice - wie die Protagonisten den Versuch bezeichnen, dem anderen einen Streich zu spielen -, die der beginnenden Freundschaft um Haaresbreite ein abruptes Ende gesetzt hätte. Im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf dem Spiel‘ steht für Acante jedoch nicht nur die Freundschaft mit Sapho, sondern sein Ansehen im Kreise ihrer Freunde, dient der galante Streich doch zugleich als Eignungstest für denjenigen, dem er gespielt wird. Dessen Eignung zur Konversation hängt insbesondere von einer Fähigkeit ab: Entendre raillerie, wie die Formulierung der Zeitgenossen lautet, deren Bedeutung es im Folgenden zunächst zu beleuchten gilt, bevor durch das Beispiel von Saphos malice die Tragweite ihrer Implikationen veranschaulicht werden können. 2.1.2.1 De la raillerie Das Verb railler hat im 17. Jahrhundert eine weniger eingeschränkte und insgesamt positivere Bedeutung als im heutigen Sprachgebrauch. Während es heutzutage nur noch im Sinne von ‚verspotten‘ Verwendung findet, wird es im Dictionnaire de Furetière, aus dem im Folgenden zitiert wird, gerade über seine Harmlosigkeit definiert: „Faire des reproches plaisants & agréables à quelqu’un, sans avoir dessein de l’offenser.“ 101 Der Ausdruck scheint sich ein Konnotationsfeld mit Verben wie ‚erheitern‘ oder ‚amüsieren‘ zu 100 Auch für die inhaltliche Beschreibung dieses Beispiels werde ich durchgängig - und zwar unabhängig von der Verfahrensweise der korrespondierenden Parteien - die galanten Namen benutzen. 101 Furetière, Dictionnaire universel, s.p.; die Zitate in diesem Absatz stammen alle aus diesem Eintrag und werden nicht mehr einzeln ausgewiesen. Biblio17_204_s005-419End.indd 310 11.06.13 10: 10 <?page no="311"?> 311 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum teilen, zumal wenn man außerdem über diejenigen, die die Kunst der raillerie beherrschen, liest: „Ceux qui raillent finement & de bonne grâce sont divertissants.“ So wird auch das Substantiv raillerie zunächst als ein unernster bis unterhaltsamer Akt dargestellt („Trait plaisant qui divertit, qui fait rire, qu’on ne dit point serieusement.“), bevor sich die Dinge zu verkomplizieren beginnen und einschränkend hinzugefügt wird: „Il y a des railleries obligeantes & qui plaisent; d’autres qui choquent, qui sont trop fortes, & qui passent la raillerie.“ Diese kontrastiven Formulierungen weisen bereits darauf hin, dass sich die ursprüngliche Harmlosigkeit der raillerie schnell in ihr Gegenteil verkehren kann: „Une marque qu’il n’y a guere de raillerie qui n’offense, c’est qu’on tache toûjours de repliquer, ce qui est une espece de vengeance.“ Projiziert man diese Aussage zurück auf das Verb, so impliziert auch die Tätigkeit des railler immer eine gewisse Angriffslustigkeit, auf die der Angegriffene reagiert. Die Frage ist nun, wie diese Reaktion ausfällt, und in diesem Punkt ist der Befund eindeutig: „Un honnête homme entend raillerie, & ne se pique point mal à propos.“ Die Formulierung entendre raillerie lässt sich nur bedingt mit dem deutschen Ausdruck ‚Spaß verstehen‘ übersetzen, geht es doch für denjenigen, der sich dem spielerischen Angriff durch einen railleur ausgesetzt sieht, nicht nur darum, den Spaß zu verstehen, sondern selbst angemessen darauf zu reagieren. Festzuhalten bleibt, dass mit dem Ausdruck raillerie und seinen Ableitungen im 17. Jahrhundert ein komplexes Wortfeld abgedeckt wird, 102 das auf ein zentrales Mikrosystem innerhalb der galanterie sowie auf eine Schlüsselfähigkeit des honnête homme verweist. Wer in diesem System gesellschaftliche Anerkennung erwerben will, muss es verstehen, das Lachen der anderen zu stimulieren, zu antizipieren und zu manipulieren. 103 Wohl geht es auch darum, sich selbst nicht der Lächerlichkeit auszusetzen, 104 aber 102 „[La raillerie] recouvre en effet les diverses manifestations de l’énonciation ludique, et traduit ‚l’esprit de joie‘ de son utilisateur. Elle est au centre d’un ensemble lexical et notionnel complexe, où figurent également la plaisanterie, le bon mot, le trait, la pointe, voire la pensée.“ (Delphine Denis, „Notice“, in: Madeleine de Scudéry, ‚De l’air galant‘ et autres conversations. Pour une étude de l’archive galante. Hg. von Delphine Denis, Paris, H. Champion 1998, S. 99-102, S. 99). 103 Vgl. hierzu Dominique Bertrand, Dire le rire à l’âge classique. Représenter pour mieux contrôler. Presses de l’Université de Provence 1994; ders., „Du bon usage du rire et de la raillerie“, in: Savoir vivre I, Lyon, Césura 1990, S. 63-84; Denis, La muse galante, S. 275-289. 104 Zum Verhältnis von ‚ridicule‘ und ‚raillerie‘ vgl. die entsprechenden Artikel von Dominique Bertrand in: Alain Montandon (Hg.), Dictionnaire raisonné de la politesse et du savoir vivre du Moyen Âge à nos jours. Paris, Seuil 1995, S. 731-750 sowie S. 781-800; Pierre Zoberman, „Entendre raillerie“, in: Thèmes et genres littéraires au XVII e et XVIII e siècle. Mélanges offerts à Jacques Truchet. Paris, Presses universitaires de France 1992, S. 179-184. Biblio17_204_s005-419End.indd 311 11.06.13 10: 10 <?page no="312"?> 312 Die Chroniques du Samedi es genügt nicht, zu diesem Zweck eine passive Haltung einzunehmen. Wer erfolgreich sein will, muss sich vielmehr mit Fragen auseinandersetzen wie: Welche zivilisatorische Bedeutung kommt dem Lachen in der höfischen Gesellschaft zu? Geziemt es sich, überhaupt zu lachen? Und wenn ja, wie darf gelacht werden und worüber? Gilt dies ebenso für Männer wie für Frauen? Was löst dieses legitime Lachen aus, und was ist hingegen einfach nur ‚lächerlich‘? Und schließlich: Wie weit darf man gehen, um die Gesellschaft auf Kosten eines anderen zum Lachen zu bringen? Madeleine de Scudéry selbst veröffentlicht 1680 im Rahmen ihrer Conversations einen Dialog mit dem Titel De la raillerie, in dem diese Fragen verhandelt werden. 105 Der Text ist die Wiederaufnahme einer Konversation aus dem neunten Band des Romans Le Grand Cyrus, auf die sich die folgenden Überlegungen beziehen: 106 Die Autorin setzt eine Gruppe von vier jungen Leuten in Szene, die in einem teils freundschaftlichen, teils amoureusen Verhältnis zueinander stehen, das jedoch nicht unbedingt der Zuordnung entspricht, die sich aus ihren verschiedenen Temperamenten ergeben würde: Der geistreich-witzige Pisistrate wirbt um Cérinthe, die ebenso temperamentvoll ist wie er und sich gern amüsiert. Sie wird jedoch auch von Théocrite umworben, einem nachdenklichen jungen Mann, dessen melancholische Disposition ihn eher der klugen, aber ernsthaften Euridamie zur Seite stellen würde. Euridamie wiederum liebt - man hat es kommen sehen - Pisistrate, der sich zu Beginn der Handlung gerade an dem schauspielerischen Talent Cérinthes erfreut, die Théocrite imitiert, dessen Abwesenheit sie dazu nutzt, sich über ihn lustig zu machen. So sind die Weichen gestellt für eine anfangs noch feindselige Auseinandersetzung zwischen den Frauen über die Legitimität von Cérinthes Verhalten, die aber schon bald in eine friedlichere Konversation über das Wesen und die Regeln der raillerie übergeht, an der sich auch Pisistrate und die Erzählerfigur beteiligen. Im Verlauf dieses Gespräches wird das Feld der raillerie zunächst ex negativo abgesteckt. Einer Aufzählung derjenigen Personen, über die man sich nicht lustig machen darf, folgt ein Katalog der mauvaise raillerie, woraufhin Euridamie aufgefordert wird, ihre Vorstellung von einer legitimen, wenn nicht gar notwendigen raillerie galante darzulegen. Am Ende ist man sich darüber einig, dass diejenigen, die durch raillerie zur Erheiterung anderer beitragen, beliebte und schätzenswerte Zeitgenossen 105 Madeleine de Scudéry, „De la raillerie“, in: dies., Conversations sur divers sujets. Bd. II, Paris, chez Barbin 1680, S. 523-614. 106 Vgl. Artamène ou Le Grand Cyrus. 10 Bde., Paris, A. Courbé 1649-1653, Bd. IX, livre III, S. 960-988. Delphine Denis hat diese Version in ihre klug kommentierte Anthologie aufgenommen (vgl. Madeleine de Scudéry, ‚De l’air galant‘ et autres Conversations (1653-1684). Pour une étude de l’archive galante. Hg. von Delphine Denis, Paris, H. Champion 1998, S. 103-114), aus der im Folgenden zitiert wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 312 11.06.13 10: 10 <?page no="313"?> 313 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum sind, dass diese Fähigkeit jedoch nicht jedem gegeben sei, sich nicht erwerben oder erlernen lasse und nur durch die natürlichen Anlagen einer Person zur Geltung kommen könne. In diesem Punkt überschneidet sich die Gabe der raillerie mit den grundlegenden Prinzipien der Konversationskunst, wie sie seit Castigliones berühmtem Dialog Il Libro del cortegiano in zahlreichen Abhandlungen zu diesem Thema diskutiert werden. 107 Delphine Denis hat zurecht darauf hingewiesen, dass die raillerie bei Madeleine de Scudéry weder nur ein Gegenstand noch ein beliebiger Bestandteil der Konversation ist, sondern nach denselben Regeln funktioniert. 108 Darüberhinaus lässt sich an dem kleinen Dialog De la raillerie jedoch vor allem eines ablesen: Die herausragende Bedeutung, die in den Kreisen, in denen sich Madeleine de Scudéry seit ihrer Jugend bewegt, der Fähigkeit des entendre raillerie beigemessen wird. 109 2.1.2.2 La malice du billet acrostiche Vor diesem Hintergrund lässt sich die Höhe des Einsatzes ermessen, um den es in der folgenden Episode der Chroniques du Samedi geht. Gegenstand des Briefwechsels zwischen Acante, Sapho und Théodamas ist ein billet acrostiche, das Sapho an Théodamas mit dem Auftrag schickt, es Acante zu zeigen, ihm damit einen gehörigen Schrecken einzujagen und ihm im Anschluss daran den Schlüssel für die verrätselte Botschaft in die Hand zu geben, damit die malice aufgedeckt und darüber gelacht werden könne. Das billet enthält unbestimmte, dafür aber umso heftigere Anschuldigungen gegen Acante, die ihn glauben lassen sollen, dass Sapho im Begriff sei, ihm ihre Freundschaft zu entziehen. Der Kunstgriff, den es zu durchschauen gilt, liegt in der ungewöhnlichen Handhabung einer literarischen Figur, des Akrostichons, die im allgemeinen nur in der Versdichtung Verwendung findet, da sich die jeweils ersten Buchstaben eines Verses in der vertikalen Lektüre zu Worten oder Sätzen verbinden lassen. Sapho überträgt dieses Prinzip auf die Prosa und ordnet die Sätze ihres Briefes so an, dass sich die - und hier liegt die besondere Schwierigkeit des Stückes - letzten Worte einer Zeile zu folgenden Sätzen ver- 107 In der von Delphine Denis edierten Ausgabe von De la raillerie werden insbesondere die Bezüge zu Castiglione, Garcian, Della Casa und Faret herausgearbeitet (vgl. Madeleine de Scudéry, De l’air galant, S. 103-114; vgl. auch Denis, La muse galante, S. 275-290). 108 „Soumise une fois de plus à l’exigence de bienséance, la raillerie relève du même principe régulateur que la conversation.“ (Denis, Notice, S. 101). 109 Für eine weiterführende Analyse des Dialoges vgl. Stephanie Bung, „‚On rit donc je suis‘: Réécritures de la raillerie dans les ‚Conversations sur divers sujets‘ de Madeleine de Scudéry“, in: Katja Gvozdeva, Alexandre Stroëv (Hg.), Savoir ludique. Pratiques de divertissement et émergence des institutions littéraires en Europe moderne. Paris, H. Champion 2013, S. 121-141. Biblio17_204_s005-419End.indd 313 11.06.13 10: 11 <?page no="314"?> 314 Die Chroniques du Samedi binden: „J’avoue que Monsieur de Pellisson n’est pas coupable. Mais avouez aussi que je ne suis pas criminelle de le tromper comme il m’a trompée“ (CdS, S. 114). Der innovative Charakter ihrer malice liegt darin, dass sie das Akrostichon von hinten aufrollt, denn die Übertragung dieser Figur in die Prosa hatte vor ihr bereits Acante selbst erprobt, als er ihr ebenfalls ein billet acrostiche geschickt hatte, auf das ihr Schlüsselsatz Bezug nimmt. So ist er zwar gewarnt und vermutet zu Recht, dass Saphos Brief ein Akrostichon enthält, da jedoch die ersten Buchstaben oder Worte der Zeilen diesmal keinen Sinn ergeben, ist er nicht im Stande, die scheinbaren Anschuldigungen als Streich zu entlarven. Vor diesem Hintergrund begeht er nun einen Fehler, der dazu führt, dass Théodamas ihn nicht wie geplant von dem Komplott in Kenntnis setzt: Anstatt sich in die Rolle des Bittstellers zu begeben, der Sapho um Gnade anfleht für ein Vergehen, das er nicht begangen hat, begegnet er dem Überbringer der Botschaft mit Arroganz. Da er sich sicher ist, dass es sich um einen Streich handelt, den man ihm spielen will, antwortet er Théodamas mit einem herausfordernden „À d’autres, Monsieur! “. Damit demonstriert er zwar Stärke gegenüber einem männlichen Gegenspieler im Kampf um Saphos Gunst, doch gibt er ihm zugleich eine Waffe in die Hand, die sich gegen ihn selbst richten lässt. Théodamas ergreift auch prompt diese Gelegenheit und setzt Sapho davon in Kenntnis, dass Acante erstaunlich selbstbewußt reagiert habe, als er sich mit der Möglichkeit konfrontiert sah, ihre Freundschaft zu verlieren. Auf diese Nachricht reagiert Sapho wie erwartet verstimmt und wendet sich diesmal direkt an Acante mit den Worten: Je ne sais comment vous l’entendez mais je sais bien que vous n’agissez pas comme un homme qui ait jamais prétendu être de mes amis. […] Cependant j’ai à vous dire que je suis fortement persuadée que quiconque ne craint point de perdre mon amitié ne mérite pas de la posséder. En effet, quand vous seriez innocent de ce dont je vous accuse et que je vous aurais voulu rendre tromperie pour tromperie, la seule manière dont vous l’auriez reçue vous rendrait assez criminel dans mon esprit pour vouloir rompre avec vous. (CdS, S. 121) Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten. Erst als Acante den Verdacht äußert, Sapho wolle sich auf diese Weise der Person entledigen, die sich hinter der Maske des Acante verbirgt (Pellisson) und ihrem Bruder ein Dorn im Auge ist, lenkt sie ein und beauftragt Théodamas mit der Aufklärung der malice. Nach dieser Eskalation haben alle Beteiligten das Gefühl, nur sehr knapp einem wirklichen Zerwürfnis entkommen zu sein, und keiner von ihnen ist wirklich zufrieden mit dem Ergebnis, wie aus den Zeilen hervorgeht, die Sapho an Théodamas schreibt: „En vérité, Monsieur, je ne suis guère propre à faire des malices, car quand elles ne réussissent point j’en suis fâchée et quand elles réussissent je n’en suis pas tout à fait aise“ (CdS, S. 123). Biblio17_204_s005-419End.indd 314 11.06.13 10: 11 <?page no="315"?> 315 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum So lautet also die Geschichte, die die Briefe erzählen. Es ist die Geschichte zweier Rivalen, die um die Gunst einer Dame wetteifern, und denen jedes Mittel Recht ist, den Gegner ins Verderben zu stürzen. Es ist auch eine Geschichte, in der es um verletzte Eitelkeiten geht, um den Versuch, sich seine ‚wahren‘ Gefühle nicht anmerken zu lassen, sowie um die immer wieder auftauchende Frage, wie weit man gehen darf, um auf Kosten eines Freundes andere Freunde zu belustigen. So wirft Acante Sapho bis zuletzt vor, in diesem Punkt zu weit gegangen zu sein, und noch seine abschließende Formulierung, mit der er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen will, lässt seine Verletzung erkennen: […] et les reproches que je vous ai faits sont les derniers que je vous ferai de ma vie. Je vous en demande encore mille pardons et vous conjure d’oublier vous-même que vous m’ayez si mal traité, de peur que vous ne soupçonniez toujours que je m’en souvienne. (CdS, S. 125) Ist es also Sapho, die gegen die Regeln der raillerie galante verstoßen hat? Oder verstößt Acante in seinem Bestreben, im Wettkampf um die geistreichere malice nicht zu unterliegen, gegen die Regeln der Ritterlichkeit, indem er einen Augenblick lang zögert, bevor er sich der weiblichen Willkürherrschaft unterwirft? Ein Ritter hat schließlich seiner Dame auch ohne Angabe von Gründen Folge zu leisten, wenn er von ihr in die Verbannung geschickt wird. Stattdessen schleudert Acante seinem Gegner Théodamas mit dem Ausruf „À d’autres, Monsieur! “ den metaphorischen Handschuh ins Gesicht, was zumindest unvorsichtig ist in einem Moment, in dem er die wirkliche Botschaft des Briefes noch nicht entschlüsselt hat. Verstößt er damit nicht auch gegen die ungeschriebenen Gesetze des ‚Spaß-Verstehens‘, eben weil er den ‚Spaß‘ ja noch gar nicht verstanden hat? Die Verhältnisse sind offenkundig zu kompliziert, um die Schuldfrage zu klären, und es bleibt dem Leser überlassen, zwischen den möglichen Lesarten dieses Briefwechsels eine Wahl zu treffen. Eine weitere Frage lässt sich jedoch an den Text selbst stellen: Gerät das ‚Spiel‘ mit der Täuschung tatsächlich außer Kontrolle? Von außen lässt sich nicht entscheiden, bis zu welchem Grade die Ereignisse auf einer Inszenierung beruhen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Acante die Finte mit dem rückwärts gewendeten Akrostichon nicht durchschaut, zumal er den Schlüssel von Anfang an in dieser literarischen Figur vermutet? Treibt er das Spiel selbst so weit, dass aus einer einfachen Täuschung die Vortäuschung einer Täuschung wird? Es stellt sich die Frage, wie weit die Protagonisten mit der Vorspiegelung von Tatsachen, die immerhin ein hohes Maß an Emotionen freisetzen, gehen dürfen, bevor aus der spielerischen ‚Als-Ob-Handlung‘ arglistige Täuschung wird. Ob es sich nun allerdings um eine einfache oder um eine komplexe Täuschung handelt, in jedem Falle ist es bemerkenswert, dass Biblio17_204_s005-419End.indd 315 11.06.13 10: 11 <?page no="316"?> 316 Die Chroniques du Samedi der Briefwechsel bereits zum Zeitpunkt seiner Entstehung eben diese Fragen, die ihm zu Grunde zu liegen scheinen, reflektiert. So stimmt beispielsweise die Position des Acante in hohem Maße mit der Argumentation überein, die in Madeleine de Scudérys Dialog De la raillerie der Euridamie in den Mund gelegt wird. Diese betont an verschiedenen Stellen der Binnenerzählung, dass sie es vehement ablehnt, wenn ein Scherz auf Kosten der Freundschaft gehe: Car enfin l’amitié est si délicate, qu’on ne peut avoir trop de crainte de la blesser: […] car après tout, ce n’est pas un défaut de ne savoir point railler, pourvu qu’on entende raillerie: mais c’en est un fort grand de n’être pas scrupuleux dans ses amitiés, et d’aimer mieux s’exposer à fâcher un ami, qu’à perdre une chose plaisante. 110 Dieses Plaidoyer für die Freundschaft spiegelt sich in der Anklageschrift des Acante, der Sapho vorwirft, ihn mit einem gut geschriebenen billet verletzt und damit seine Loyalität auf eine harte Probe gestellt zu haben: Cependant, Mademoiselle, permettez-moi de vous le dire, vous avez eu la dureté de m’affliger encore d’un billet à la vérité le mieux écrit qu’on saurait voir, mais aussi le plus offensant […]. Je vois bien, Mademoiselle, que vous ne savez point avec quelle peine un homme innocent souffre des reproches injustes ni quelle terrible épreuve c’est au plus grand et au plus profond respect du monde, ou si vous le savez, que vous ne vous êtes guère souciée de toutes les fautes où je pouvais tomber. Ce qui est peut-être moins obligeant que vous ne croyez. (CdS, S. 124) Nach den Regeln der Euridamie ist es außerdem verboten, einen Kreis von Personen dadurch zu erheitern, dass man eigene Freunde bloßstellt: „[…] car il n’est nullement juste, que vous disiez rien à vos amis, qui divertisse plus les autres qu’eux […].“ 111 Genau auf diesen Regelverstoß rekurriert auch Acante, wenn er Sapho unterstellt, es gehe ihr vor allem darum, Théodamas und Thrasile zu erheitern: „Oui, Mademoiselle, il vous semble indifférent d’affliger au dernier point l’homme du monde qui vous honore le plus, et cela seulement pour en rire et pour divertir M. Isarn et M. Conrart“ (CdS, S. 116). Selbst als er sich gezwungen sieht, sich einzugestehen, dass Sapho ihn noch nicht zu ihren engsten Freunden zählt, kann er sich auf die Argumentation der Euridamie stützen, die es ebenso verurteilt, jene zu verspotten, die man bereits in sein Herz geschlossen hat, wie jene, mit denen man gerne verkehrt: 110 Scudéry, De la raillerie, S. 113. 111 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 316 11.06.13 10: 11 <?page no="317"?> 317 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum […] je ne veux point qu’on raille non seulement de ses amis particuliers, mais même de ses connaissances: car enfin choisissez-les bien, et soyez si délicate qu’il vous plaira en les choisissant: mais quand vous les aurez choisis, je ne veux plus que vous en railliez […]. 112 Hier wird deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen dem ‚Verspotten‘, das grundsätzlich abgelehnt wird, und dem ‚Erheitern‘ sind, das zu einer guten Konversation dazu gehört. Es liegt nahe, dass derjenige, der sich als das Opfer eines Scherzes betrachtet, den Standpunkt einer Euridamie vertritt. Interessanterweise taucht diese Position jedoch auch in dem Brief auf, in dem Sapho Théodamas schließlich auffordert, dem Spuk ein Ende zu setzen und Acante über das billet acrostiche aufzuklären: En vérité, Monsieur, je ne suis guére propre à faire des malices […]. En effet, j’étais hier un peu irritée de ce que M. de Pellisson n’était pas en peine et je suis présentement en inquiétude de celle que je lui donne. Faites donc cesser toutes nos plaintes, désabusez-le promptement, je vous en conjure, et faites en sorte que ma malice ne m’ait rien fait perdre. (CdS, S. 123) Die Episode von der malice gibt also nicht nur Acante Gelegenheit, vor dem ‚Gesetz‘ der Euridamie Sapho des Mangels an bonté anzuklagen. Sapho selbst bestätigt schließlich Euridamies Warnung, durch falschen Gebrauch der raillerie sich selbst zu schaden: „[…] et que la plus difficile chose du monde, est de le faire tout à fait bien, sans choquer l’amitié, ou la bienséance, ou la probité, ou la bonté, ou sans se faire tort à soi-même.“ 113 Der Briefwechsel passt so gut in das argumentative Schema des Dialoges De la raillerie, dass man fast nicht umhin kann, seine Authentizität anzuzweifeln. Angesichts der in anderen Gelegenheitstexten hergestellten Bezüge zu dem Roman Le Grand Cyrus, 114 in dem der 1680 unter dem Titel De la raillerie erneut publizierte Text zuerst erschienen war, ist die Möglichkeit tatsächlich nicht auszuschließen, dass Pellisson und Madeleine de Scudéry die Dramaturgie des Dialoges vor Augen haben, während sie sich in die beschriebene Situation hineinmanövrieren. Andererseits werden in diesem Dialog Regeln zusammengefasst, die in vielen Konversationstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts verhandelt werden, so dass davon ausgegangen werden darf, dass Euridamie für Grundsätze eintritt, die in der französischen Gesellschaft um 1650 konsensuell sind. 115 Die folgende Frage bleibt somit im 112 Scudéry, De la raillerie, S. 106. 113 Scudéry, De la raillerie, S. 105. 114 Vgl. Teil IV, Kap. 1.1. 115 Zum Beispiel in den Werken von Castiglione, Garcian, Della Casa und Faret (vgl. Madeleine de Scudéry, De l’air galant, S. 103-114). Biblio17_204_s005-419End.indd 317 11.06.13 10: 11 <?page no="318"?> 318 Die Chroniques du Samedi Raum stehen: Sind es die Briefe, die auf der Folie der Literatur geschrieben werden, oder generiert die Literatur Emotionen und Situationen, die sich in diesen Briefen niederschlagen? Diese Frage ist umso interessanter, als für die Episode der malice gilt, was auch für die gesamten Chroniques du Samedi Geltung beanspruchen darf: Wieviel ‚Briefroman‘ steckt in dieser Handschrift? Während der Gestaltungswille der ‚Herausgeber‘ der Chroniques, auf den es im Folgenden noch näher einzugehen gilt, offensichtlich ist, lassen sich die Tendenzen zur literarischen Überformung, die sich bereits auf der Ebene der Verschriftlichung abzeichnen, weniger leicht einordnen. Sieht man einmal von der unbefriedigenden Hypothese ab, dass die Briefe nachträglich komplett umgeschrieben wurden, erweist sich auch hier der Rückgriff auf die Strategie der figuration, die Delphine Denis in der galanten Ästhetik untersucht hat, als hilfreich. Bereits auf der Ebene des spielerischen Umgangs der Korrespondenten miteinander modellieren literarische Diskurse und Figuren das Schreiben. Die Frage, wie ‚authentisch‘ die Gefühlsäußerungen sind, die Madeleine de Scudéry und Pellisson ihrem jeweiligen alter ego Sapho und Acante in den Mund legen, ist allerdings falsch gestellt: Auch wenn viele der beschriebenen Ereignisse absichtlich herbeigeführt wurden, um die Protagonisten mit einer Situation zu konfrontieren, in der sie ihre Fähigkeit zur Konversation unter Beweis stellen müssen, sind die Emotionen, die sich aus diesen Situationen ergeben, nicht fingiert. 116 Vielmehr scheinen die galanten Spiele, die innerhalb des sozialen Raumes des Samedi gespielt werden, bestimmte Emotionen hervorzutreiben, die sich in Briefen niederschlagen, die ihrerseits dazu beitragen, dass die Spiele nicht zum Erliegen kommen. Zugleich dienen sie der Konsolidierung eben jenes Raumes, in dem sie sich entfalten, so dass sich hier erneut die Konfiguration einer Gruppe beobachten lässt, deren ‚Selbst-Bewußtsein‘ von der figuration seiner Mitglieder getragen wird. Pellissons Briefe, in denen sich die Initiationsreise des Acante abzeichnet, sind nicht als das psychologische Portrait einer Einzelperson zu lesen, sondern zeichnen seine Integration in diese Gruppe nach. Die meisten seiner Bewährungsproben zeigen ihn im Wettstreit mit anderen (männlichen) Gruppen- 116 Ich beziehe mich hier auf ein performatives Konzept von ‚Emotion‘, wie es insbesondere von Doris Kolesch im Zusammenhang mit der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde (vgl. Kolesch, Theater der Emotionen; dies., Performanzen im Reich der Liebe; dies., Kartographie der Emotionen). Der Frage nach dem Zusammenhang von Emotionen und französischer Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert gehe ich außerdem in meinem Aufsatz „Mimicry und Emotionen. Zur sozialen Handlungslogik französischer Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts“ (in: Claudia Jarzebowski, Anne Kwaschik (Hg.), Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Göttingen, V&R unipress 2013, S. 129-146) weiter nach. Biblio17_204_s005-419End.indd 318 11.06.13 10: 11 <?page no="319"?> 319 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum mitgliedern, die entweder ebenfalls nach Tendre gelangen wollen, oder ihre Position in Tendre gegenüber dem Neuankömmling verteidigen. Valentin Conrart alias Théodamas als Vertreter der ancienne ville und Samuel Isarn alias Thrasile als Vertreter der nouvelle ville kommen in den Chroniques du Samedi nach den Verfassern der Handschrift am häufigsten zu Wort. Abschließend soll daher ein vierstimmiger Briefwechsel vorgestellt werden, in dem das Gruppenbewußtsein und der Gestaltungswille der Gruppenmitglieder auf der Ebene der Briefe noch einmal besonders deutlich hervortritt. 2.1.3 Commander au Pays de Tendre: Eine polyphone Konsolidierung der Gruppe Der letzte Briefwechsel, der die komplexe Form der Repräsentation veranschaulichen soll, die den Chroniques du Samedi auf der Ebene der Verschriftlichung zu Grunde liegt, wurde aus zwei Gründen ausgewählt: Zum einen handelt es sich um eine Textstrecke, in der mit einem Minimum an erzähltechnischem Aufwand ein Maximum an Gruppensolidarität sowohl abgebildet als auch erzeugt wird. Zum anderen erlaubt die Analyse dieser Briefe, verschiedene Fragen zu bündeln, die im Verlauf der Untersuchung aufgetreten sind: Das Experimentieren mit dem Geschlechterverhältnis und dem Freundschaftsbegriff, die Spannung zwischen Spiel und Täuschung, das Risiko eines ‚Gesichtsverlusts‘ sowie eine Verschränkung von Liebes- und Herrschaftsdiskursen, wie sie für jene Texte charakteristisch ist, die im Kontext der Carte de Tendre entstanden sind. Im Folgenden wird es also weniger darum gehen, den Briefen neue Erkenntnisse abzugewinnen, als bereits bekannte Strukturen herauszuarbeiten, die sich in diesem Briefwechsel wie Lichtstrahlen in einem Prisma bündeln lassen. In dem multilateralen Briefwechsel, in den neben Sapho vor allem die männlichen Protagonisten Théodamas, Acante und Thrasile involviert sind, wird folgende Geschichte erzählt: 117 Die Freunde Théodamas und Acante machen sich Sorgen um Thrasile, der sich in den Kopf gesetzt hat, eine Englandreise zu unternehmen, die ihm jedoch aus nicht näher genannten Gründen zum Schaden gereichen könnte. Théodamas bittet Sapho, den Gefährten unter Aufgebot all ihrer Autorität von dieser Reise abzuhalten, woraufhin sie in ihrer Eigenschaft als Königin von Tendre interveniert und Thrasile ein 117 Erneut werde ich bei der inhaltlichen Beschreibung des Beispiels durchgängig die galanten Namen verwenden, um die figurative Dimension des Briefwechsels zu betonen. Es sei jedoch an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass in der Handschrift - und mithin in den zitierten Passagen - die zivilrechtlichen Namen auftauchen, ein Befund, auf den im letzten Unterkapitel dieser Studie noch näher einzugehen sein wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 319 11.06.13 10: 11 <?page no="320"?> 320 Die Chroniques du Samedi Ausreiseverbot erteilt. Er nimmt daraufhin tatsächlich Abstand von seinen Plänen, und sowohl Théodamas als auch Acante schreiben einen Brief an Sapho, in dem sie sich bei ihr bedanken, wobei sie - ihrem jeweiligen Status im Freundschaftsgefüge entsprechend - der Reine de Tendre huldigen. So hebt Théodamas die langjährige Freundschaft hervor, die ihn mit Sapho verbindet: „[…] et je suis même bien aise que vous ayez reconnu quel est votre pouvoir sur un ami de trois jours, afin que vous jugiez de là quel peut être celui que vous avez sur ceux de plusieurs années […]“ (CdS, S. 112). Acante hingegen steht in direkter Konkurrenz zu Thrasile, da sie beide erst Anwärter auf Saphos Freundschaft sind und sich im Wettstreit um ihre Gunst befinden. Nachdem er sich formvollendet dafür bedankt hat, dass Sapho einen gemeinsamen Freund davor bewahrt hat, eine Dummheit zu begehen, spielt er die Karte der Eifersucht aus: „Le bonheur de M. Isarn me donne de l’admiration: mais il me donne aussi de l’envie et vous me rendez capable d’une passion que je pensais ne devoir connaître jamais“ (CdS, S. 112). Thrasiles ‚Glück‘, um das ihn der Freund beneidet, besteht in der Anteilnahme, die Sapho für sein Schicksal erübrigen kann und von der Acante - nicht ohne Humor - befürchtet, dass er selbst nicht auf sie hoffen darf: „J’avais envie de faire dessein de m’en aller en Pologne, mais vous m’auriez bien attrapé si vous ne me l’eussiez point défendu“ (CdS, S. 113). Thrasile selbst hingegen beklagt sich in seinem Antwortschreiben an Sapho darüber, dass sie nur seinen Freunden einen Freundschaftsdienst erweisen wolle und ihr im Grunde gar nicht an seinem Gehorsam gelegen sei: Car je ne doute point que M. de Pellisson qui me fait tous les jours de nouvelles malices ne vous ait priée de m’écrire un billet si obligeant et qu’ainsi vous n’ayez fait pour lui ce qu’il semble que vous avez fait pour moi.“ (S. 111) So gelingt es schließlich den drei männlichen Protagonisten, die Englandreise des Thrasile in einen spielerischen Wettkampf um die Gunst der Sapho zu verwandeln, der man in ritterlicher Manier Gehorsam und Ehre erweist. Leider fehlt es gänzlich an näheren Informationen über eine möglicherweise diplomatische Mission, die Samuel Isarn jenseits des Ärmelkanals zu erfüllen hatte, so dass sich über die historische Konstellation, in der dieser Briefwechsel zustande kommt, keine Aussage machen lässt. Was auch immer Isarn dazu bewogen und in letzter Minute davon abgehalten hat, nach England zu reisen: Interessant ist in unserem Zusammenhang vor allem das Narrativ des Royaume de Tendre, auf das aus diesem Anlass zurückgegriffen wird. So ruft Théodamas in seinem Schreiben an Sapho explizit den allegorischen Rahmen der (an dieser Stelle noch antizipierten) Carte de Tendre auf, in dem die ‚Rückrufaktion‘ stattfinden soll: Biblio17_204_s005-419End.indd 320 11.06.13 10: 11 <?page no="321"?> 321 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Ayez donc la bonté de lui écrire un billet pour l’en détourner: mais il faut, s’il vous plaît, qu’il soit en commandement, pour user des termes de lettres royaux afin d’être plus authentique, et que vous le menaciez de n’être jamais reçu aux assemblées du Samedi, s’il contrevient à la défense expresse que vous lui ferez de partir. (CdS, S. 107) Saphos Brief wiederum ist eine rhetorische Meisterleistung, mittels derer es der Autorin gelingt, einen Bogen von dem galanten Diskurs - der es ihr verbietet, jemandem Befehle zu erteilen, dessen maîtresse sie nicht ist - über einen scheinbaren Bescheidenheitsgestus im Konjunktiv bis hin zu jenem commandement im Namen der Freundschaft zu schlagen, den Théodamas in Auftrag gegeben hatte: Si j’avais autant de pouvoir sur vous que la belle ***, j’aurais dit je vous ordonne au lieu de vous dire je vous conjure. Et j’aurais peut-être même dit je vous le commande, mais après tout s’il faut quelque chose de plus fort qu’une prière pour vous obliger à ne me refuser pas, je vous déclare que si vous faites le voyage d’Angleterre, je vous interdis le Samedi plus solennellement qu’on n’interdisait autrefois le feu et l’eau et qu’il n’est rien que je ne fasse pour vous empêcher d’être de mes tendres amis. (CdS, S. 109) Dass sie sich dabei des herrschaftlichen Referenzdiskurses bewusst ist, geht aus den anschließenden Sätzen hervor, die zwar scherzhaft gemeint sind, die Analogie zwischen dem Wunsch der Sapho und einem königlichen Befehl jedoch bekräftigen und zudem über ein tertium comporationis - das Land des Königsmörders Cromwell - den Vergleich zwischen der Monarchie Frankreich und dem Royaume de Tendre nahelegen: „Car en vérité je ne puis souffrir que vous préfériez Cromwell à tant d’illustres amis que vous avez ici. Laissez donc là ce bourreau de rois et venez dans notre société du Samedi“ (ebd.). Zwar beschreibt sie „notre société du Samedi“ direkt im Anschluss als „une petite république où l’état monarchique n’a jamais été établi“, doch obwohl die Gesetze in dieser ‚Republik‘ im allgemeinen „innocentes, douces et agréables“ sind, nimmt sich Sapho hin und wieder heraus, auf tyrannische Maßnahmen zurückzugreifen („Je ne doute pas que vous ne trouviez ce que je vous dis un peu tyrannique […]“), wenn ihr dies zur Durchsetzung ihrer Wünsche notwendig erscheint (ebd.). Oszillierend zwischen verschiedenen Herrschaftsformen, bestätigt dieses Bild erneut, was Myriam Maître für das Narrativ, in das die Figur des Royaume de Tendre eingebettet ist, insgesamt herausgearbeitet hat: La figure de la souveraine de Tendre se dessine dans une tension entre la transparence des lois et les arcanes du pouvoir, faisant ainsi discrètement écho aux plus vigoureux débats du siècle sur la liberté du souverain à l’égard de ses propres engagements. 118 118 Maître, Sapho, Reine de Tendre, S. 186. Biblio17_204_s005-419End.indd 321 11.06.13 10: 11 <?page no="322"?> 322 Die Chroniques du Samedi Auch an dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sich der Briefwechsel bemerkenswert gut in den Intertext der narrativen Stücke einfügt, den die Carte de Tendre generiert. Tatsächlich greifen die Briefe so perfekt ineinander, dass man nicht umhin kann, ihre Genese zu hinterfragen. Erneut ist die Annahme, dass die Briefe umgeschrieben oder erfunden wurden, weniger befriedigend als die Vorstellung, dass bereits der Anlass, zu dem die Briefe geschrieben wurden, nicht dem Zufall überlassen wurde. Die Situation, die Sapho Gelegenheit gibt, sich als Reine de Tendre in Szene zu setzen, ist so ideal, dass ihr vermutlich eine Absprache vorausging, die zu einer Konsolidierung des imaginären Reiches beiträgt: Théodamas gibt Sapho Gelegenheit zu einem kleinen rhetorischen Meisterwerk, das wiederum Thrasile zu einem mustergültigen Unterwerfungsgestus veranlasst, den Théodamas und Acante beifällig kommentieren, woraufhin der chroniqueur diese Briefe zu einer Textstrecke vereint, die in der Gruppe, die durch dieses Spiel an Zusammenhalt gewinnt, zirkuliert. Die letzte der ausgewählten Textstrecken zeigt somit besonders eindrücklich, was für die Briefe, die in der Handschrift Chroniques du Samedi vereint wurden, insgesamt gilt: Es handelt sich um eine Repräsentationsform der Gruppe, deren fiktionale Strukturen mit jenem Imaginarium des Royaume de Tendre verwoben sind, das sich auch in anderen Gelegenheitstexten nachzeichnen lässt. Dabei unterscheiden sich die Briefe nur graduell von den übrigen narrativen Stücken, die im Umfeld der Carte de Tendre entstanden sind. Ihr unmittelbarer Gebrauchswert tritt gegenüber der figuration der Gruppenmitglieder in den Hintergrund, und die Komplexität dieser Repräsentationsform ergibt sich aus dem Bewußtsein, das die Korrespondenten von einer potenziellen Leserschaft jenseits des konkreten Adressaten haben. Da jedoch die kollektive Rezeption ein Charakteristikum galanter Epistolarität überhaupt ist, wird erst aus der Zusammenstellung dieser Briefe zu einem Album jenes Distinktionsmerkmal, das aus einer generellen sozialen Praxis die Repräsentation einer spezifischen Gruppe werden lässt. Wie hat man sich nun die Genese dieses Albums vorzustellen? Welche Hinweise geben Auswahl, Abschrift und Annotation der Briefe auf den Gestaltungswillen, der den Chroniques du Samedi zu Grunde liegt? Und lassen materielle Spuren der Montage eventuell Rückschlüsse auf einen über die Zirkulation im Freundeskreis hinausreichenden Verwendungszweck der Handschrift zu? Das folgende Kapitel setzt sich mit diesen Fragen auseinander, wobei festzuhalten bleibt, dass die Absicht, ein Album der Briefe anzulegen, die im Freundeskreis zirkulieren, nur die Verlängerung des konversationellen Spiels darstellt, das sowohl mit dem Verfassen als auch mit der kollektiven Rezeption der einzelnen Briefe bereits begonnen hat. Biblio17_204_s005-419End.indd 322 11.06.13 10: 11 <?page no="323"?> 323 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum 2.2 Auf der Ebene der Zusammenstellung: Annotation, Anordnung und Abschrift der Briefe Die Handschrift, die in der Bibliothèque de l’Arsenal unter der Signatur 15156 einsehbar ist und für die hier der gebräuchliche Titel Chroniques du Samedi beibehalten wurde, ist mit außerordentlicher Sorgfalt gestaltet worden: Sie besticht durch die einheitliche Präsentation der Briefe und Gelegenheitsstücke, durch die Kalligraphie und das Linienraster, das mit Bleistift angelegt wurde, wobei sowohl auf der Vorderals auch auf der Rückseite eines Blattes ein umlaufender Rand von mehreren Zentimetern ausgespart wurde. 119 Mit Ausnahme einiger längerer Gelegenheitsstücke wurden die Texte von einem professionellen Schreiber auf die Vorderseite eines Blattes geschrieben, während die Rückseite offenbar für Anmerkungen und Kommentare vorgesehen war. 120 Diese stammen überwiegend von der Hand Pellissons und dienen dem Verständnis und der Lesbarkeit der Briefe, die ein professioneller Schreiber - vermutlich sein Sekretär - zuvor in das Album übertragen hatte. Manchmal werden diese kontextualisierenden Erklärungen mit der Überschrift „Argument de ce qui suit“ angekündigt, an anderen Stellen erfolgen die Ergänzungen unvermittelt und können sich, wie das folgende Beispiel zeigt, zuweilen zu kleinen Erzählungen entwickeln. Au dernier Samedi avant ce billet, après qu’on eut chanté quelques airs avec le théorbe, Sapho pressa Acante de dire tout haut une élégie qu’il avait faite pour Alphise. Il s’en défendit quelques temps pour ne pas réciter ses vers devant toute cette compagnie. Mais il prit pour cela le biais que Sapho qui excluait tous les amants du nombre de ses tendres amis l’aimerait un peu moins après avoir entendu cette élégie. Sapho fit làdessus sur-le-champ ce couplet sur un des airs qu’on avait chantés. (CdS, S. 74) Mit einer Liebe zum Detail wird hier eine Situation beschrieben, die man sich als eine typische Zusammenkunft der „compagnie“ des Samedi vorstellen darf, oder zumindest vorstellen soll, denn darauf ist diese Erzählung en miniature eindeutig angelegt: Zu einem lautenähnlichen Instrument, der Theorbe, 119 Es handelt sich um ein Format in-4°, das 235 auf 185 mm misst und 291 Blätter umfasst, deren Seitenzählung nur auf der Vorderseite erfolgt. Dabei wurden nur die beschrifteten Seiten erfasst. Die Seitenzählung, die wahrscheinlich nicht zeitgenössisch ist, beginnt auf f. 4, wird zwischen f. 48 und f. 51 sowie auf f. 55 ausgesetzt. Die Numerierung endet mit der Seite 276, auf die noch sieben folii folgen. 120 Dass diese Aufteilung des Schriftraumes beabsichtigt war, lassen jene beidseitig beschrifteten Blätter vermuten, auf denen Texte abgebildet sind, die wie die Journée des madrigaux oder das Versepos Du Lot vaincu bereits über eine literarische Eigenständigkeit verfügen, so dass sich ein nachträglicher Kommentar erübrigt. Biblio17_204_s005-419End.indd 323 11.06.13 10: 11 <?page no="324"?> 324 Die Chroniques du Samedi werden einige Weisen gesungen, Verse werden sowohl rezitiert als auch aus dem Stegreif erfunden und die Konversation ist freundlich. In dieser Atmosphäre ermutigt Madeleine de Scudéry mit einigen Versen Pellisson dazu, eine von ihm selbst verfasste ‚Elegie für Alphise‘ vorzutragen. 121 Aus dem Kommentar geht nicht hervor, ob sich Pellisson schließlich dazu ‚verführen‘ lässt oder nicht, aber an anderer Stelle zeigt er sich empört darüber, dass ihm Madeleine de Scudéry im Nachhinein seine ‚Liebe‘ zu Alphise zum Vorwurf macht. Dieser spielerischen Empörung verleiht er in einem billet Ausdruck („Serait-il possible que la plus équitable personne au monde ne le fût pas en cette occasion? […] Qu’elle me défendît en prose ce qu’elle m’a permis en vers? “, CdS, S. 75), das von der Hand seines Sekretärs abgeschrieben wurde und ohne die nachträgliche Einbettung in seinen konversationellen Kontext für eine uneingeweihte Leserschaft der Chroniques du Samedi keinen Sinn ergeben würde. Die Handschrift enthält eine Vielzahl von derartigen Einbettungen, wobei sich die kleinen ‚Erzählungen‘ und arguments, wie die Zeitgenossen diese Form der Kontextualisierung nennen, nicht immer auf den Raum der rückseitigen Blätter beschränken, sondern als kürzere Anmerkungen auch neben oder zwischen den kalligraphischen Abschriften der Briefe auftauchen (vgl. Abb. 7). So identifiziert Pellisson am Rand eines Briefes, in dem von einem „fort honnête homme qui loge, ce me semble, dans la rue Saint-Martin“ die Rede ist, diese Person als „Thrasile qu’on appelait l’Inconstant et qui logeait avec Acante, dans la rue Saint-Martin“ (CdS, S. 101). Noch in dieser kurzen Notiz wird dabei die figuration der Personen sichtbar, die in den Briefen angelegt ist und in den Kommentaren fortgesetzt wird. Doch während die Korrespondenten wissen, dass man Samuel Isarn alias Thrasile den Beinamen „l’inconstant“ gegeben hatte, und daher in ihren Briefen auf dieses Attribut anspielen können, muss diese Information für alle anderen Leser explizit in der Handschrift enthalten sein, damit das Vergnügen an den Anspielungen nicht verloren geht. Vor allem jedoch enthalten alle Anmerkungen jene figurative Strategie, auf die in den Briefen selbst noch nicht durchgängig rekurriert wird, nämlich die Bezeichnung der Personen mit ihren galanten Namen. Im Unterschied zu dem Briefwechsel zwischen Sapho und dem ‚Mage de Sidon‘ aus den Recueils Conrart oder zu der hybriden Textform der Journée 121 „Pellisson que j’estime/ Infiniment,/ Racontez-nous en rime/ Votre tourment,/ Car ce n’est pas un crime/ Que d’être amant.“ Weiter heißt es: „Acante fit cette réponse à l’heure même: Adorable merveille/ De notre cour,/ Quoique l’on me conseille,/ Je veux toujours/ Ne parler qu’à l’oreille/ De mon amour./ C’est ainsi qu’on l’exprime/ D’un ton charmant/ Et qu’on entend sans rime/ Plus doucement/ Que ce n’est point un crime/ Que d’être amant.“ Biblio17_204_s005-419End.indd 324 11.06.13 10: 11 <?page no="325"?> 325 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum des madrigaux, wo die galanten Pseudonyme konsequent verwendet werden, scheint die Namensgebung in den Chroniques du Samedi keiner inneren Logik zu folgen. Dieser onomastischen Praxis, die im Hinblick auf die Genese der Handschrift aufschlussreich ist, wird in dem folgenden Kapitel anhand von materiellen Spuren der Verschriftlichung nachgegangen. Der textgenetischen Herangehensweise an den Gegenstand gilt es jedoch, einen Exkurs zur sogenannten critique génétique voranzustellen, auf die die nachfolgende Untersuchung unter methodologischen Gesichtspunkten zurückgreift. 2.2.1 ‚Textgenetisches‘ Vorgehen? Ein Exkurs zur critique génétique Die critique génétique ist ein junger Forschungsansatz, der in Frankreich vor allem in Opposition zu einer rein an der Textedition orientierten philologischen Herangehensweise entwickelt wurde. 122 Mit der Philologie teilt die textgenetische Methode die Bedeutung, die der Materialität der Entstehung und Überlieferung eines Textes beigemessen wird. Während jene jedoch darauf abzielt, eine definitive Version des Textes zu erstellen, löst sich die critique génétique von einem traditionellen Werkbegriff und konzentriert sich auf Schreibprozesse. Ihren Anspruch als „science de l’invention écrite“ löst sie Daniel Ferrer zufolge dadurch ein, dass sie sich auf einen Gegenstand konzentriert, den brouillon oder avant-texte, der sich gegen ein spezifisches Gebot der Wiederholung zu sperren scheint: On peut dire que chaque texte comporte, quelle que soit la signification qu’il véhicule, une dimension prescriptive implicite qui enjoint la répétition, et plus précisément l’exactitude de la répétition. […] Comme une œuvre musicale qui ne prend corps qu’à partir du moment où les prescriptions de la partition sont exécutées, le texte n’existe, ou du moins ne subsiste, qu’à la condition que soit respecté cet ordre de répétition. 123 Während jedem Text also eine in die Zukunft gerichtete Dimension eigne, die auf seine Identität abzielt, ließe sich der avant-texte als einen Ort begreifen, an dem die Spannungen zwischen identischer Wiederholung und kreativer Veränderung ausgetragen werden. 122 Eine umfangreiche Bibliographie, die im Rahmen einer Bestandsaufnahme textgenetischer Forschungsarbeiten von 2008-2010 erstellt wurde, findet sich in: Genesis. Manuscrits, recherche, invention. Revue internationale de critique génétique, 30, 2010, S. 285-295. 123 Daniel Ferrer: „Critique génétique et philologie: racine de la différence“, in: Genesis. Manuscrits, recherche, invention. Revue internationale de critique génétique, 30, 2010, S. 21-23, S. 22. Biblio17_204_s005-419End.indd 325 11.06.13 10: 11 <?page no="326"?> 326 Die Chroniques du Samedi L’espace de l’innovation que dessinent les brouillons d’écrivains est un espace ouvert, parce qu’il n’est pas circonscrit par le ‚répétez‘, commandement unique qui circonscrit l’espace textuel. Il est au contraire traversé par un extraordinaire foisonnement d’injonctions diverses qu’il appartient au généticien d’interpréter. 124 Anhand von Ausstreichungen und Überschreibungen werde dem Leser gewissermaßen ein widersprüchlicher Befehl erteilt. Dadurch, dass auch sichtbar bleibe, was nicht wiederholt werden soll, werde der avant-texte zu einem komplexen Gedächtnisort, an dem eine gegenläufige Bewegung aufgehoben sei. Inwiefern lassen sich nun aber diese theoretischen Prämissen für einen literarischen Gegenstand fruchtbar machen, dessen sequenzielle Überlieferung virtueller Natur ist? Die Rede von einem avant-texte setzt schließlich - und sei es auch nur, um ihn zu destabilisieren - einen modernen Werkbegriff, d.h. einen definitiven Text voraus, für dessen Existenz es im Falle der Chroniques du Samedi keine Entsprechung gibt. Dies gilt allerdings für die Mehrheit jener Gelegenheitsliteratur des 17. Jahrhunderts, die im Kontext der galanten Ästhetik entstanden ist, sowie insbesondere für jene ‚Textwelten‘, die Delphine Denis zufolge dem modernen Autor- und Werkbegriff nicht ohne Weiteres integrierbar sind. 125 Angesichts der fluktuierenden Grenzen zwischen Zirkulation und Publikation, Spiel und Fiktion und nicht zuletzt zwischen Produktion und Rezeption vor dem Hintergrund einer kollektiven Autorschaft erweist sich die Vorstellung von einem in sich selbst ruhenden literarischen Werk, von seiner Stabilität und Selbstreferenzialität ohnehin als dysfunktional. Auch wenn sie darum noch nicht unbedingt zu einem privilegierten Gegenstand der critique génétique wird, ließe sich die galante Textproduktion also durchaus mit einem enormen avant-texte vergleichen, da sie ebenso wie dieser eine Herausforderung an die Methoden darstellt, die vor dem Hintergrund des modernen Literaturverständnisses entwickelt wurden. 126 124 Ferrer, Critique génétique et philologie, S. 23. 125 „Ainsi de la problématique pensée de l’auteur, qui suppose la singularité d’une signature individuelle, là où le discours mondain s’énonce, parfois dans l’anonymat, à partir du groupe qui l’autorise ou l’interdit. Ou encore de l’œuvre elle-même, éminemment instable et labile en raison des constantes variations, réécritures et effets de ‚chaînes textuelles‘ […].“ (Denis, Le parnasse galant, S. 15f.). 126 Die Dynamisierung eines auf den publizierten Text konzentrierten Literaturbegriffs lässt den Ansatz der critique génétique für die Auseinandersetzung mit Phänomenen, die quer zu einem modernen Werk- und Autorbegriff stehen, besonders geeignet erscheinen. Die Frage, wie sich dieser Ansatz historisieren lässt, wurde in einschlägigen Publikationen immer wieder gestellt und als Desiderat der Forschung benannt (vgl. Almuth Grésillon, Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris, Presses universitaires de France 1994, S. 27f.). Biblio17_204_s005-419End.indd 326 11.06.13 10: 11 <?page no="327"?> 327 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Gerade im Hinblick auf die Chroniques du Samedi kann diese heuristische Analogie zu einem besseren Verständnis dessen beitragen, was diese Sammlung nicht nur enthält, sondern für sich genommen eigentlich darstellt. Dadurch, dass die Spuren der kollektiven Schreibprozesse, die ihr vorausgegangen sind, noch sichtbar sind, wird die Handschrift - hierin einem modernen avanttexte vergleichbar - zu einem komplexen Gedächtnisort. Ziel der folgenden Untersuchung ist es, die Prozessualität, die sich an diesem Ort niederschlägt, anhand verschiedener Textstrecken, die sich diesmal nicht inhaltlich, sondern aufgrund ihrer materiellen Verfasstheit bestimmen lassen, näher zu charakterisieren. 2.2.2 Materielle Spuren der Namensgebung: Zur Genese der Chroniques du Samedi Die von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître sorgfältig etablierte und wissenschaftlich kommentierte Edition mit dem Titel Chroniques du Samedi ermöglicht die Auseinandersetzung mit einem Text, dessen Hybridität aus heutiger Sicht fasziniert und fremdartig anmutet. Die unter diesem Gesichtspunkt verdienstvolle Edition der Handschrift hat jedoch aus textgenetischer Perspektive einen gravierenden Nachteil: Zwar weisen die Herausgeber die Annotationen sowie die meisten Korrekturen von der Hand Pellissons und Madeleine de Scudérys aus, lassen dafür aber andere nachträglich vorgenommenen Einträge von derselben Hand gänzlich unkommentiert. 127 So erfährt der Leser beispielsweise nicht, dass die in der Edition sehr dominanten Überschriften der Briefe - im Stil von Acante à Sapho, Réponse de Sapho oder Sapho à Théodamas - nachträglich hinzugefügt wurden, und es entsteht der Eindruck, dass die galanten Namen die Alltagsnamen der Protagonisten bei weitem überwiegen. Letzteres ist jedoch nicht von Anfang an der Fall, und vermutlich haben sich die ‚Verfasser‘ der Handschrift - Paul Pellisson und Madeleine de Scudéry - erst in einem zweiten Schritt dazu entschlossen, diesen Eindruck zu erwecken. Die nachträglichen Überschriften stammen nämlich von derselben Hand, die auch die Randnotizen und Kommentare vorgenommen hat (vgl. Abb. 7), in denen der Gebrauch der galanten Namen konsequent ist. Noch komplizierter wird die Angelegenheit durch die Feststellung, dass diese Hand weitere Einfügungen vorgenommen hat, die auf den ersten Blick weniger leicht zu erkennen sind, sich jedoch eindeutig von der professionellen Handschrift unterscheiden: Innerhalb der ersten 68 Briefe hat der professionelle Schreiber, der mit der kalligraphischen Abschrift der 127 Aus diesem Grund verweisen die Quellenangaben in diesem Kapitel in den Fußnoten direkt auf die Handschrift, deren Materialität im Mittelpunkt dieser Analyse steht, bevor die entsprechende Textstelle in der Edition angegeben wird. Biblio17_204_s005-419End.indd 327 11.06.13 10: 11 <?page no="328"?> 328 Die Chroniques du Samedi Texte beauftragt war, sämtliche Namen der Personen ausgespart, wobei er genügend Platz ließ, damit nachträglich durch Pellisson eingetragen werden konnte, was der Leser schließlich lesen soll (vgl. Abb. 8). Dabei handelt es sich jedoch nicht, wie man angesichts der Überschriften vermuten könnte, um die galanten, sondern um die alltäglichen Namen der beteiligten Personen. Die Briefe enthielten also zunächst einen Lückentext, der nachträglich ausgefüllt wurde, wobei an der Stelle, an der schließlich die Alltagsnamen ergänzt wurden, durch die Aussparungen des Sekretärs zuvor etwas anderes unsichtbar gemacht worden war. Diese Beobachtungen werfen verschiedene Fragen auf: Wie sahen zum Beispiel die Vorlagen aus, von denen der Sekretär eine Abschrift anfertigte? Handelte es sich um die Originalbriefe oder bereits um Abschriften der Originale? Hatte der Schreiber zunächst Weisung erhalten, die entsprechenden Namen einfach nicht zu kopieren, oder wurden sie ihm selbst vorenthalten? Lagen ihm vielleicht zunächst Abschriften der Originale vor, in der die Aussparungen bereits vorgezeichnet waren? Oder wurde ihm der Text diktiert? Da die Vorlagen, mit denen die ausführende Hand arbeitete, nicht überliefert sind, lassen sich über die Anweisungen, denen der Abb. 7: „Chroniques du Samedi“; Einfügungen und Anmerkungen. Biblio17_204_s005-419End.indd 328 11.06.13 10: 11 <?page no="329"?> 329 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum professionelle Schreiber Folge leistet, nur Vermutungen anstellen. Immerhin kann man unter textgenetischen Gesichtspunkten einige Beobachtungen machen, die es im Folgenden anhand von drei Textstrecken zu erläutern gilt. Die erste Strecke umfasst mit 68 Briefen ungefähr das erste Drittel der Handschrift und zeichnet sich durch die oben beschriebenen onomastischen Ergänzungen aus. Neben den einfachen Überschriften, die anhand der galanten Namen - Sapho à Acante, Sapho à Théodamas - nur die Korrespondenten identifizieren, finden sich auch solche Überschriften, die durch erklärende Zusätze bereits in den Bereich der Annotationen und Kommentare hineinragen: „Acante à Théodamas apres avoir veu le billet precedent“, „Sapho à Acante sur le present qu’il luy avoit fait de son Livre de l’Academie“, „Sapho à Acante en luy envoiant le dixiesme volume de Cyrus“ oder auch - besonders aufschlussreich, da die Prozessualität der Handschrift reflektierend - „Billet de Sapho à Acante, en luy renvoiant tous les precedents billets pour les faire escrire“. 128 So harmlos diese Spuren einer Überarbeitung der Handschrift 128 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 2, 19, 29 und 124; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 50, 61, 69 und 131. Auch die Überschriften von Gelegenheitstexten, die in den Briefen enthalten sein können, werden durch die annotierende Abb. 8: „Chroniques du Samedi“; Einfügungen und Anmerkungen. Biblio17_204_s005-419End.indd 329 11.06.13 10: 11 <?page no="330"?> 330 Die Chroniques du Samedi auf den ersten Blick erscheinen mögen, lassen sie doch erkennen, dass die galanten Namen hier an die Stelle von etwas treten; einer Anrede etwa, die der Überlieferung entzogen wurde. Dies wird besonders deutlich, wenn Madeleine de Scudéry einen Brief, der mit „Sapho à Acante“ überschrieben ist, mit den Worten einleitet: Bien que vostre billet commence par M[ademoisel]le ie ne commenceray pas celuy que ie vous escris par M[onsieu]r et ie veux avoir l’avantage d’avoir esté la premiere à banir une cérémonie inutile de nostre commerce. 129 In der Handschrift ist jedoch kein billet des Pellisson überliefert, das mit „Mademoiselle“ beginnt - alle seine Briefe sind mit „Acante à Sapho“ überschrieben -, und es steht zu bezweifeln, dass Madeleine de Scudéry ihr billet ursprünglich bereits mit „Sapho à Acante“ beginnen ließ. Dem Leser bleibt vorenthalten, auf welche Weise sich die Protagonisten dieses Briefwechsels tatsächlich anredeten, denn diese Passage bleibt unkommentiert. Etwas anders verhält es sich mit den Leerstellen in den Texten, in denen nachträglich die Alltagsnamen der Protagonisten eingefügt wurden: In den meisten Fällen ergibt sich aus dem Kontext, dass der nachgetragene Name mit demjenigen übereinstimmt, der zuvor an dieser Stelle geschrieben stand, etwa wenn in folgendem Stück von jener Person die Rede ist, die im zehnten Band des Cyrus - und nicht im neunten Band des Romans, wie es in der Handschrift irrtümlich heißt - unter dem Namen Méliante portraitiert wird (vgl. Abb. 8): M. de Donneville ayant connu M[ademoisel]le de Scudéry des qu’il fut arrivé à Paris luy rendit des visites fort frequentes et luy donna de grans témoignages d’estime & d’amitié. Elle de son costé le trouvant homme de merite et fort aymable, le dépeignit à M. son frere qui en fit le caractere ou le portrait qui est dans le 9. vol. de Cyrus sous le nom de Meliante. 130 Hand ergänzt. So fügt Pellisson beispielsweise zu einigen Versen, die in kalligraphischen Buchstaben schlicht mit „Madrigal“ überschrieben wurden, erklärend hinzu: „envoié par Acante avec la lettre qui est cy dessus“, und notiert außerdem am Seitenrand: „En ce madrigal Acante en faisant semblant de parler des vers qu’il veut faire décrit les principales qualités de Doralise“ (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 142; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 140). An anderer Stelle ergänzt er ein Epigramm oder ein weiteres Madrigal mit der Information „de Sappho à Théodamas“ (Arsenal, Paris, Ms 15156, S. 55 und 53; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 88 und 87), und manche unbenannten Verse erhalten, wie die Briefe auch, ihren gesamten Titel (z.B. „Vers de Thrasile à Sapho“, „Vers de Thrasile sur le Semedy) nachträglich (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 58, 127; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 90, 133). 129 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 17; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 60. 130 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 6; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 52. Biblio17_204_s005-419End.indd 330 11.06.13 10: 11 <?page no="331"?> 331 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Da der Schlüssel des Romans bekannt ist und der galante Name ‚Méliante‘ nicht erst nachträglich in den Text eingefügt wurde, lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass die Namen „M. de Donneville“ und „Mademoiselle de Scudéry“ bereits in der ursprünglichen Version dieser Passage auftauchten, dann in der kalligraphischen Abschrift des Textes eliminiert und schließlich im Zuge der Überarbeitung der Handschrift durch Pellisson wieder an eben dieser Stelle lesbar gemacht wurden. Auch wenn mit der Interpretation dieser Beobachtungen vorsichtig verfahren werden sollte, darf davon ausgegangen werden, dass in der Zeit zwischen der kalligraphischen Abschrift der Vorlagen und der Überarbeitung eine Planänderung eingetreten war: Hatte man sich zum Zeitpunkt, als die Abschrift in Auftrag gegeben wurde, offensichtlich für eine anonymisierte Version der Handschrift entschieden, so optierte man später für eine Version, in der die Identität der Personen nicht mehr verschleiert werden sollte. Diese Entscheidung fiel jedoch nicht erst nach Abschluss der gesamten Arbeit an der Handschrift, sondern bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem der professionelle Schreiber noch mit der Abschrift von Briefen beschäftigt war. Dies zeigt ein Vergleich dieser ersten mit einer zweiten Textstrecke der Chroniques du Samedi, die alle übrigen Briefe umfasst. Diese zweite Textstrecke wirkt im Vergleich mit dem ersten Drittel der Handschrift, das durch die beschriebenen Ergänzungen einen unruhigen Eindruck macht, insgesamt homogener (vgl. Abb. 9). Sowohl die Überschriften als auch die Alltagsnamen innerhalb des Textes werden von nun an durch dieselbe Hand ausgeführt, durch die auch die Kalligraphie erfolgt. 131 Zwar stammen die nachträglichen Annotationen und Kommentare weiterhin überwiegend von der Hand Pellissons, aber die Entscheidung gegen die Anonymisierung und für die Überschriften mit den galanten Namen scheint endgültig gefallen zu sein. 132 Möglicherweise hat in der Zwischenzeit auch der professionelle Schreiber gewechselt, denn die Buchstaben wirken insgesamt kleiner als zuvor. Allerdings differieren weder Tinte noch Schriftzug deutlich genug, als dass sich diese Hypothese bestätigen ließe. Insgesamt lässt sich über diese zweite Textstrecke nicht viel mehr sagen, als dass sie erst auf der Folie der ersten Strecke, deren Texte die Spuren mehrerer Arbeitsschritte in sich ber- 131 Diese Textstrecke beginnt mit dem Brief Théodamas à Sapho, dessen Incipit lautet: „J’ay mille graces a vous rendre“ (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 149; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 145). Sie umfasst 65 Briefe und eine Reihe von unverbundenen Gelegenheitsversen. Außerdem enthält sie die relativ eigenständigen Binnentextstrecken La Journée des madrigaux und Du Lot vaincu, weshalb sie insgesamt zwei Drittel der gesamten Handschrift ausmacht. 132 Zwei Briefe werden noch nachträglich überschrieben (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 151 und 155; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 147 und 150). Biblio17_204_s005-419End.indd 331 11.06.13 10: 11 <?page no="332"?> 332 Die Chroniques du Samedi gen, als das lesbar wird, was sie ist, nämlich die figurative Transposition einer Korrespondenz, die durch die galanten Überschriften der einzelnen Briefe an fiktionaler Dichte gewinnt und sich dadurch noch besser eingliedern lässt in einen über die Grenzen der Handschrift hinausreichenden Intertext, in dem das Imaginarium des Samedi beschworen wird. Bevor im folgenden Kapitel verschiedene Lesarten der Handschrift als kollektives Gesamtwerk vorgestellt werden, die mit der figurativen Transposition einhergehen, wird jedoch noch kurz auf eine weitere, sich von der Abschrift der Briefe unterscheidende Textstrecke innerhalb der Chroniques du Samedi einzugehen sein. Diese dritte hier zu betrachtende Textstrecke umfasst das bereits mehrfach angesprochene Stück La Journée des madrigaux, von dem insgesamt drei Abschriften in verschiedenen Sammlungen existieren. 133 Die Herausgeber der Edition der Chroniques haben auf die besondere Position hingewiesen - „second recueil dans le recueil“ -, die diese Textstrecke innerhalb des Albums einnimmt. 134 Dieser Eindruck bestätigt sich vor dem Hintergrund 133 Vgl. Teil IV, Kap. 1.1.2. 134 Chroniques du Samedi 2002, S. 40. Abb. 9: „Chroniques du Samedi“; Auszug aus dem zweiten Drittel der Handschrift. Biblio17_204_s005-419End.indd 332 11.06.13 10: 11 <?page no="333"?> 333 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum der materiellen Beschaffenheit der Handschrift (vgl. Abb. 10): Zunächst bleibt festzuhalten, dass im Falle der Journée des madrigaux sowohl Vorderals auch Rückseite der Blätter beschriftet sind. 135 Diese Abweichung von dem für die Briefwechsel angewandten Verfahren, in dem die Rückseiten den Kommentaren und Annotationen vorbehalten bleibt, weist bereits darauf hin, dass diesem Stück von vornherein ein höherer Grad der Abgeschlossenheit zugesprochen wird als der Korrespondenz. Der Eindruck bestätigt sich außerdem durch die Beobachtung, dass auch hier mit Kommentaren und Annotationen gearbeitet wurde, die jedoch im Unterschied zu denjenigen der Briefe von derselben Hand stammen, die den Textkörper kalligraphiert hat. Die Randnotizen sind mit Ziffern versehen, die innerhalb des Textes auf die Stelle verweisen, die kommentiert wird, so dass der Abschrift eine Systematik eignet, die der professionelle Schreiber höchst wahrscheinlich bereits von seiner Vorlage übernehmen konnte. Zu den wichtigsten Informationen, die einer uneingeweihten Leserschaft in diesem ‚Fußnotenapparat‘ zur Verfügung gestellt werden, zählt der Namensschlüssel, und hier lässt sich eine letzte interessante Beobachtung machen: Sind es in der Korrespondenz die Kommentare, in denen die galanten Namen durchgängig Verwendung finden, während in den Briefen selbst vor allem die Alltagsnamen der bezeichneten Personen auftauchen, so verhält es sich in der Journée des madrigaux genau umgekehrt. Hier erscheinen im Textkörper ausschließlich galante Namen, die in den Randnotizen ‚aufgelöst‘ werden. Diese Umkehrung des onomastischen Prinzips in Verbindung mit der Homogenität der Abschrift lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Erstens handelt es sich bei der Journée des madrigaux um eine Textstrecke, die sich durch besondere Geschlossenheit auszeichnet und der eine sorgfältige Überarbeitung bereits zuteil wurde, bevor sie Aufnahme in das Album fand. 136 Die Aufnahme des Stückes in das Album stellt zweitens eine mise en abyme jener Schreibprozesse dar, durch die die 135 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 174-185; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 166-182. Dasselbe gilt für den in Versen verfassten Text Du Lot vaincu sowie für die Gelegenheitsverse am Ende der Handschrift (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 267-284; vgl. Chroniques du Samedi 2002, S. 201-217, S. 257-269). 136 Dies wird außerdem durch die Aussage Pellissons bestätigt, der in einem Brief an Madeleine de Scudéry darauf hinweist, dass er für die „Madrigaux“ etwas länger als eine Woche gebraucht habe, um sie in eine Form zu bringen, die der Gesellschaft des Samedi präsentiert werden konnte. In Bezug auf ein anderes, nicht weiter identifiziertes Gelegenheitsstück schreibt Pellisson: „Mais je ne sais si tout cela pourra estre fait pour le premier Samedi et s’il ne faudra point un délai de huitaine comme pour les Madrigaux.“ (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 15156, S. 215; vgl. auch Chroniques du Samedi 2002, S. 218). Biblio17_204_s005-419End.indd 333 11.06.13 10: 11 <?page no="334"?> 334 Die Chroniques du Samedi Abb. 10: „Chroniques du Samedi“; Beginn der Textstrecke „La Journée des Madrigaux“. Biblio17_204_s005-419End.indd 334 11.06.13 10: 11 <?page no="335"?> 335 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Chroniques du Samedi insgesamt Gestalt annehmen. Die Montage von Briefen und anderen Gelegenheitstexten - darunter die Journée des madrigaux, die selbst eine Montage von Gelegenheitsversen ist 137 - verleiht den Chroniques eben jenen hybriden Status, der auch der Journée eignet. In beiden Fällen handelt es sich um eine heterogene Textform, der eine kollektive Autorschaft zu Grunde liegt und deren Überformung durch narrative Strukturen nach und nach erfolgt. Der Gedächtnisraum, der auf diese Weise und insbesondere durch die Verschränkung von Chroniques und Journée entsteht, ist folglich nicht einfach ein Text, sondern ein komplexer Gegenstand, durch den die Repräsentation einer Gruppe - die Prozessualität ihrer figuration abbildend - überliefert wird. Ebensowenig ist dieser Gedächtnisraum jedoch eine zufällige Ansammlung von Texten, wie dies in einem viel stärkeren Maße für die Recueils Conrart oder andere portefeuilles des 17. Jahrhunderts gelten darf. Mit Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maître könnte man ihn als livremanuscrit bezeichnen: Œuvre singulière à bien des égards, cependant. Ne serait-ce que par leur statut indédit de livre-manuscrit, les Chroniques ne sauraient se confondre avec ces ‚portefeuilles‘ si fréquent à la même époque, où des collectionneurs rassemblent en vrac copies ou autographes remarquables. 138 Analog dem avant-texte der critique génétique beinhaltet die Handschrift die Spuren ihrer Genese, und wie das Salonalbum im Sinne Margarete Zimmermanns stellt es die Repräsentation eines Gruppengedächtnisses in seiner ganzen Prozesshaftigkeit dar. 2.2.3 Recueil galant oder ‚Briefroman‘ avant la lettre? Verschiedene Lesarten der Chroniques du Samedi Von der Frage, was die Chroniques du Samedi darstellen, führt eine direkte Verbindung zu der Frage nach ihrem Verwendungszweck, auf die es im Rahmen dieser Studie zumindest mit einer Hypothesenbildung zu antworten gilt. Wie lässt sich der Erkenntnisgewinn durch die materielle Untersuchung der Handschrift in ein besseres Verständnis der sozial-literarischen Praxis übersetzen, die mit diesem Salonalbum verbunden ist? Im Folgenden werden daher zwei Lesarten der Chroniques vorgestellt, die beide in dieser Sammelform angelegt sind, auch wenn sie sich aus heutiger Sicht zunächst auszuschließen scheinen: Die erste Lesart macht sich die Perspektive der ‚Verfasser‘ der Handschrift zu eigen, insbesondere diejenige Pellissons, der gemeinsam mit Madeleine de Scudéry nicht nur die meisten Briefe geschrieben 137 Delphine Denis bezeichnet die Journée zurecht als „[e]mblème des Chroniques du Samedy dans leur intégralité“ (Denis, Les Samedis de Sapho, S. 110). 138 Chroniques du Samedi 2002, S. 38. Biblio17_204_s005-419End.indd 335 11.06.13 10: 11 <?page no="336"?> 336 Die Chroniques du Samedi hat, sondern sich auch für ihre Zusammenstellung verantwortlich zeichnet. Diese Lesart akzentuiert die in sich stimmige Erzählung von der Initiation eines neuen Gruppenmitglieds, das sich zur Bewährung mit verschiedenen Beiträgen am divertissement der Gruppe beteiligen muss. Sie folgt mithin der Stoßrichtung nach innen, die in dem Salonalbum angelegt ist und die sowohl auf die Konsolidierung als auch auf die Erneuerung des relationalen Raumes abzielt, als der sich der Samedi begreifen lässt. Die Handschrift liest sich vor diesem Hintergrund wie ein Montageroman in Briefen, der die Voraussetzungen seiner eigenen Entstehung thematisiert, will man letztere als eine Fortsetzung jener Spiele verstehen, die sich Pellisson zum Vergnügen Madeleine de Scudérys und ihrer Freunde ausdenkt. Vor dem Hintergrund der zunächst in Erwägung gezogenen Anonymisierung der Protagonisten bietet sich jedoch auch eine zweite Lesart an, derzufolge die Handschrift nicht nur für die Zirkulation innerhalb des eigenen Kreises, sondern auch oder sogar insbesondere für eine Publikation vorgesehen war. Angesichts der porösen Grenzen zwischen Zirkulation und Publikation schließt auch die Abkehr von der Anonymisierung diese Interpretation nicht aus, selbst wenn sie die Veröffentlichung des Albums in genau dieser Form unwahrscheinlich werden lässt. Weitere Abschriften des Albums sind jedoch nicht nur immer noch möglich, sondern werden in der Handschrift sogar ausdrücklich berücksichtigt, wie verschiedene Anweisungen für zukünftige Kopisten am Rand der Texte belegen. So vermerkt Pellisson zum Beispiel neben dem billet acrostiche, das er an Madeleine de Scudéry geschrieben hatte: „Si quelqu’un copie ce billet, il prendra garde de le copier en autant de lignes qu’il y en a ici, qu’elles commencent et finissent tout de même, car autrement il ne signifierait plus rien“ (CdS, S. 94). Zwar genügt dieser Hinweis bei weitem nicht, um auf eine Veröffentlichungsabsicht zu schließen, ist doch bereits mit der Zirkulation des Albums die Möglichkeit einer Abschrift immer gegeben und offenbar sogar erwünscht. Wie jedoch ein Vergleich mit einigen publizierten recueils galants des 17. Jahrhunderts zeigen soll, ist die Vorstellung, dass hier die Veröffentlichung einer großen, zusammenhängenden ‚Salonstrecke‘ geplant gewesen sein könnte, nicht abwegig. Vergegenwärtigt man sich außerdem einmal mehr die Verschränkung von sozialen und textuellen Räumen innerhalb des frühen literarischen Feldes, so schließen sich die beiden Lesarten nicht aus, sondern ergänzen einander. Die Funktion der Handschrift ist derjenigen der galanten Namen vergleichbar, die sich in ihr niederschlagen und deren Funktion Delphine Denis als janusköpfig beschreibt: Le nom galant atteste la cohésion du réseau amical, opérant dans deux directions complémentaires: vers l’intérieur du groupe d’une part, puisqu’il n’a de légitimité qu’en son sein; à l’extérieur d’autre part, dans la mesure Biblio17_204_s005-419End.indd 336 11.06.13 10: 11 <?page no="337"?> 337 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum où il contribue à publier le prix auquel s’estime le cercle, les figurations qu’il privilègie, les valeurs culturelles auxquelles il adhère. 139 Die zwei Lesarten, die der folgenden Hypothesenbildung über den Verwendungszweck des Salonalbums zu Grunde liegen, werden entlang dieser doppelten Orientierung entwickelt: nach innen, auf den Zusammenhalt der eigenen Gruppe sowie nach außen, auf die Positionierung dieser Gruppe im entstehenden champ littéraire des 17. Jahrhunderts gerichtet. 2.2.3.1 Die Handschrift als ‚Briefroman‘ Die Lesart der Handschrift als Briefroman avant la lettre schließt an die Analyse des Briefwechsels zwischen Pellisson und Madeleine de Scudéry an, die bereits einige narrative und figurative Strukturen in der Textstrecke freigelegt hat. 140 Der Fokus der Untersuchung liegt diesmal auf dem Montagecharakter der Korrespondenz: Es handelt sich um eine durchdachte Konstruktion, die an manchen Stellen an Erzähltechniken denken lässt, wie sie im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts begegnen. 141 Insbesondere der Auftakt der Chroniques, der den Leser direkt mit den (wichtigsten) handelnden Personen - nämlich Sapho (alias Madeleine de Scudéry in ihrer Rolle als Gebieterin über Tendre), Acante (alias Pellisson, Vertreter der „nouvelle ville de Tendre“) und Théodamas (alias Conrart, Vertreter der „ancienne ville de Tendre“) - konfrontiert, ist unter diesem Gesichtspunkt bemerkenswert. 142 Den ersten Brief schreibt Sapho an Théodamas, wobei sie von Beginn an die Verse Acantes lobt, die Theódamas ihr zuvor geschickt hatte: „Je ne puis vous renvoyer les vers de M. de Pellisson sans vous en rendre de nouvelles grâces, et sans leur donner de nouvelles louanges“ (CdS, S. 49). Da sich das Genre des Briefromans durch die maximale Reduzierung der Erzählerrede zugunsten der Figurenrede definiert, 143 ist der Beginn in medias res für sich 139 Denis, Les Samedis de Sapho, S. 114. 140 Vgl. Teil IV, Kapitel 2.1. 141 Dies gilt insbesondere für die Polyphonie, die eine Auffächerung der Pespektiven erlaubt. Zur Bedeutung dieser Erzähltechnik im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts siehe Laurent Versini, Le roman épistolaire. Paris, Presses universitaires de France 1979, S. 61-83; vgl. auch die gattungsspezifische Typologie in Calas, Le roman épistolaire, S. 24-47. 142 Erneut werden hier zur inhaltlichen Wiedergabe der Textstrecken durchweg die galanten Namen verwendet, weil es hier in erster Linie um den figurativen Aspekt der Handschrift geht. 143 Vgl. Calas, Le roman épistolaire, S. 43: „Dans un roman épistolaire l’action doit avoir lieu dans l’écriture. Cette adéquation présuppose l’effacement du narrateur. La narration est alors directe et distribuée à chaque personnage dès qu’il devient épistolier.“ Biblio17_204_s005-419End.indd 337 11.06.13 10: 11 <?page no="338"?> 338 Die Chroniques du Samedi genommen weniger ein Kunstgriff als eine Notwendigkeit. Interessant wird der Beginn dieser Handschrift allerdings, wenn man sich die Sparsamkeit der Mittel vergegenwärtigt, mit denen in die Haupthandlung - die Begegnung zwischen Sapho und Acante - eingeführt wird: Wie auf einer Bühne tauchen mit dem ersten Brief zunächst zwei Figuren auf, die im Gespräch eine der Hauptpersonen des Stückes in absentia charakterisieren. Acante, der von Sapho als talentierter Dichter präsentiert wird, dessen Verse sie zu höchstem Lob inspirieren, kommt erst im zweiten Brief zu Wort, den er an Théodamas schreibt. Letzterer hatte ihn Saphos Zeilen lesen lassen, was Acante scheinbar in höchste Not stürzt, da er sich nun zu einer Antwort gezwungen sieht, von der er sicher ist, dass sie niemals gut genug für die „dame la plus admirable qui soit aujourd’hui (il vaut mieux la nommer et dire […] Mlle de Scudéry)“ (CdS, S. 50) sein könne. Natürlich weiß Acante, dass Théodamas diese captatio benevolentiae direkt an Sapho weiterleiten wird, die prompt ihrerseits erneut an Theódamas schreibt, um Acante indirekt für seine schmeichelhaften Worte zu danken. Und auch Théodamas, der dem Leser zu diesem Zeitpunkt nur ex negativo, nämlich auf der Folie der (auch) an ihn gerichteten Worte, beschrieben wird, weiß, was seine Freunde von ihm erwarten und tritt als Vermittler auf, als den man ihn im Verlauf der Handlung noch öfters erleben wird. 144 So sind bereits nach den ersten drei Briefen die wichtigsten Rollen verteilt und ein Spannungsbogen wurde aufgebaut, der den Leser der Chroniques du Samedi darauf warten lässt, wie sich die Beziehung zwischen Acante und Sapho weiterentwickeln wird. Der nächste Schritt in der Annäherung zwischen diesen Figuren ist die Einführung der Sechs-Monats-Klausel, die den zeitlichen Rahmen der Initiationsreise Acantes vorgibt und den Ablauf der Geschehnisse strukturiert. Sapho stellt Acante ihre Freundschaft in Aussicht, wenngleich unter Vorbehalt, und bittet sich Bedenkzeit aus, um die Tauglichkeit des Anwärters zu prüfen. Damit die Bedeutung dieses ‚Freundschaftsvertrages‘ von einem uneingeweihten Leser auch nicht übersehen wird, 145 präzisiert ein Randkommentar von der Hand Pellissons, dass im Folgenden noch mehrfach auf diese sechs Monate Bezug genommen wird: „Ces six mois sont le fondement de beaucoup de choses dans les billets suivants“ (CdS, S. 68). Während dieser 144 Man denke beispielsweise an seine Rolle als Überbringer des billet acrostiche. 145 Wie Myriam Maître gezeigt hat, referiert die Sechs-Monats-Klausel auf zeitgenössische Gesetze zur Einbürgerung und zur Naturalisierung, von denen die allegorische Initiationsreise Acantes im Royaume de Tendre inspiriert ist: „Ainsi est-ce selon les règles des États modernes que s’acquiert la citoyenneté, au bout d’un ‚temps préfix‘ et par le biais de lettres de naturalité: six mois d’obéissance et d’épreuves sont ainsi nécessaire à Acante pour être fait, dans les formes poétiques requises, ‚citoyen de Tendre‘.“ (vgl. Maître, Sapho, Reine de Tendre, S. 183/ 184). Biblio17_204_s005-419End.indd 338 11.06.13 10: 11 <?page no="339"?> 339 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Zeit muss Acante verschiedene Aufgaben bewältigen, darunter das an anderer Stelle geschilderte Rätsel des billet acrostiche oder das Ringen zwischen amour galant und amitié tendre, mit dem sich die Herausforderung verbindet, Sapho im Modus der Freundschaft zu ‚verführen‘. 146 Nach Ablauf der Frist möchte Acante wissen, ob seine Beharrlichkeit belohnt werde („Nous voici au mois de février, incomparable Sapho, mais où suis-je, moi? “ CdS, S. 234). Aber erst als er schließlich in tiefe Melancholie zu versinken droht, signalisiert Sapho ihm, dass er sich auf dem rechten Weg befindet: „Mettez-vous donc l’esprit en repos s’il est vrai que vous l’aviez en peine, et croyez que vous ne fûtes jamais si loin de Nouvelle Amitié que vous êtes“ (CdS, S. 255). Acante geht auf diesen konzilianten Tonfall ein, indem er vorgibt, ihre Aussage „jamais si loin de Nouvelle Amitié“ mit hermeneutischer Akribie analysiert zu haben und zu dem Schluss gekommen zu sein, dass der Ort, an dem man so weit wie noch nie von seinem Ausgangspunkt entfernt ist, theoretisch auch das Ziel sein könne: „[…] et ma raison est que si un homme était assez heureux pour être dans Tendre même, il pourrait dire qu’il est plus loin que jamais de Nouvelle Amitié“ (CdS, S. 257). Mit diesem hoffnungsvollen billet, auf das nur noch Gelegenheitsverse folgen, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Beziehung zwischen Acante und Sapho steht, endet der ‚Briefroman‘. Noch die Vagheit, die diesem Ende innewohnt, dessen Intensität gegenüber dem Auftakt der Geschichte deutlich abfällt, lässt sich als Kunstgriff interpretieren, entspricht dieses Ende doch der inneren Logik einer spezifischen Initiationsreise, von der Sapho an anderer Stelle schreibt, dass sie niemals positiv beendet sein könne. Sie habe noch keinen ihrer Freunde ausdrücklich von seiner Ankunft in Tendre in Kenntnis gesetzt, weil ein Freund, der es Wert sei, so genannt zu werden, klug und sensibel genug sein müsse, um von allein dahinter zu kommen: Au reste j’ai encore à vous avertir, que je n’ai jamais eu la peine de dire à ce petit nombre d’amis privilégiés que j’ai eus en ma vie, qu’ils étaient arrivé à Tendre: car à vous dire la vérité, quand on y est on s’en aperçoit, et ceux qui ne s’en aperçoivent pas, ne sauraient jamais qu’il y auraient été. (CdS, S. 240) So darf die Initiationsreise des Acante schließlich als erfolgreich betrachtet werden. Wie diese Skizze der histoire einmal mehr zeigt, werden die Briefe durch einen narrativen Faden zusammengehalten, der sich durch das Album verfolgen lässt und durch die Anordnung der Briefe sichtbar wird. Die Chroniques du Samedi als ‚Briefroman‘ zu lesen, ist jedoch nicht allein auf der Ebene 146 Vgl. Teil IV, Kap. 2.1.1 und 2.1.2. Biblio17_204_s005-419End.indd 339 11.06.13 10: 11 <?page no="340"?> 340 Die Chroniques du Samedi der histoire aufschlussreich, sondern im Hinblick auf die Frage, wie sich das Erzählte zu dem Akt des Erzählens - oder vielmehr zu dem Montageakt - verhält. An einigen Stellen wurde dieses Verhältnis bereits angedeutet, etwa wenn sich Pellisson als die treibende Kraft bei der Erfindung der Carte de Tendre darstellt, von der ein gedrucktes Exemplar sogar in die Handschrift eingebunden werden sollte. Hier verknüpft der ‚Verfasser‘ der Chroniques geschickt seine eigene Initiationsreise im Land von Tendre mit dem allegorischen Meisterwerk, das aus dem Salon der Madeleine de Scudéry hervorgegangen ist, wodurch nicht nur der Mythos einer besonderen Freundschaft gefestigt wird, sondern zugleich derjenige eines ganzen Freundeskreises, den das Spiel mit der Landkarte sowohl zusammenschweißt als auch repräsentiert. So erweist Pellisson der Gruppe, die er zum Zeitpunkt der Entstehung der Briefe noch umwirbt, mit seiner Montage einen Dienst, der wiederum seine Position innerhalb der Gruppe stärkt und die Fokussierung der Korrespondenz auf seine Person nachträglich rechtfertigt. Selbst die Episode, in der ein billet acrostiche beinahe das Scheitern seiner Integration herbeigeführt hätte und Acante auf der diegetischen Ebene keine rühmliche - oder doch zumindest eine ambivalente - Rolle spielt, enthält aus der Perspektive eines Montagebzw. Briefromans eine interessante Pointe: Abgesehen davon, dass die Möglichkeit eines Scheiterns die Spannung erhöht, beweist Pellisson mit der Aufnahme dieses Briefwechsels in das Album, dass er sehr wohl - im Sinne der Regel der Konversationskunst - ‚Spaß versteht‘. Vorausgesetzt man interpretiert seinen Ausruf „À d’autres, Monsieur! “ überhaupt als ein Fehlverhalten, das es auszugleichen gilt, gelingt es Pellisson in seiner Eigenschaft als Verfasser der Handschrift an dieser Stelle gewissermaßen, aus dem ‚Stroh‘ seiner Briefe das ‚Gold‘ ihrer Zusammenstellung zu spinnen. Denn erstens ist ein Album, das in der Gesellschaft zirkuliert und ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, sich ad infinitum über Acante zu amüsieren, der den Schlüssel des billet acrostiche nicht finden konnte, ein noch größeres divertissement als die Episode selbst, in die zunächst nur drei Personen involviert waren. Zweitens stellt die Kombination dieser Briefe zu einem ‚Briefroman‘ ein höchst geistreiches jeu d’esprit dar, das zwar als eine direkte Verlängerung jener Spiele betrachtet werden kann, die Acante durch seine Sammeltätigkeit als chroniqueur ohnehin archiviert, aber in seiner Komplexität die figurative Überhöhung einer Journée des madrigaux beispielsweise noch übertrifft. Ruft man sich die agonalen Strukturen aller Spiele in Erinnerung, die den Raum der galanten sociabilité konfigurieren, so tritt die Bedeutung der Chroniques du Samedi noch stärker hervor: Nicht genug damit, dass sich Pellisson mit der Zusammenstellung der Briefe einen Vorteil gegenüber seinen ‚Rivalen‘ im Kampf um Saphos Gunst verschafft, er übertrifft auch sich selbst, und zwar sowohl in seiner Rolle als Acante (und dessen Fähigkeit des entendre raillerie) Biblio17_204_s005-419End.indd 340 11.06.13 10: 11 <?page no="341"?> 341 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum als auch in seiner Rolle als chroniqueur (der die Journée des madrigaux schriftlich aufbereitet hat). Alain Faudemay hat in seiner Studie La distinction à l’âge classique dargelegt, dass das Bestreben, sich selbst zu übertreffen, zu den edelsten Motiven und zu einem zentralen Topos der literarischen Praxis des 17. Jahrhunderts gezählt werden muss: Imiter; surpasser peut-être. Et de même, si l’on se prend pour objet de ces activités, se surpasser, s’imiter soi-même. Car l’on peut jouer sur son propre texte, non pour le corriger, mais pour le construire, non pour des variantes, mais selon tout un jeu de variations internes. 147 In diesem Spannungsfeld von ‚Agon‘ und ‚Mimesis‘ entfalten sich auch die Chroniques du Samedi, die sowohl in der Logik des galanten Spiels als auch auf dem Gebiet der literarischen Praxis ein savoir faire indizieren, das Pellisson mit diesem Album unter Beweis stellt. Er zieht damit gewissenmaßen einen letzten Trumpf aus der Tasche, mit dem er seinem Werben um Madeleine de Scudéry maximales Gewicht und seiner Integration in ihren Freundeskreis Legitimität verleiht. Da sich allerdings nicht genau sagen lässt, zu welchem Zeitpunkt die Zusammenstellung der Briefe erfolgt, ist es auch schwierig zu beurteilen, in welchem Maße sie noch als Fortsetzung jener Spiele verstanden werden kann, die sie enthält. Einige Randnotizen, darunter der Hinweis auf die publizierte Carte de Tendre, die in das Album eingefügt werden sollte, lassen darauf schließen, dass die Handschrift nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Clélie entstanden sein muss. Das Jahr 1654 stellt also einen terminus post quem dar, und zugleich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Album im Laufe dieses Jahres Gestalt annahm, weil in keiner Randnotiz auf den Tod Sarasins hingewiesen wird. Da der Dichter unter dem Namen Polyandre immerhin eine tragende Rolle in den Journée des madrigaux spielt, wäre es erstaunlich, aber nicht undenkbar, wenn sein Ableben nicht mit einem Nachruf, und sei er noch so diskret, gewürdigt worden wäre. Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass die Chroniques du Samedi noch in dem Jahr entstanden sind, in dem die sechs Monate ‚Bewährungszeit‘ des Acante enden, schließt das einen mehrfachen Verwendungszweck der Handschrift nicht aus. Vor allem die anonymisierten Passagen im ersten Drittel der Korrespondenz sowie die manchmal sehr ausführlichen Erklärungen am Rande der Briefe, die bei ausschließlicher Zirkulation im engsten Kreis des Samedi nicht nötig gewesen wären, geben Anlass zu der Vermutung, dass dieser ‚Briefroman‘ möglicherweise sogar jene Öffentlichkeit erreichen sollte, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Mode der recueils galants erfreut. 147 Alain Faudemay, La distinction à l’âge classique. Emules et Enjeux. Paris, H. Champion 1992, S. 340. Biblio17_204_s005-419End.indd 341 11.06.13 10: 11 <?page no="342"?> 342 Die Chroniques du Samedi 2.2.3.2 Die Handschrift vor dem Hintergrund galanter Publikationen Um Missverständnissen vorzubeugen, sei es an dieser Stelle noch einmal deutlich gesagt: Es geht nicht darum, die Chroniques du Samedi als einen der frühesten Briefromane der französischen Literatur zu lesen. Im Gegenteil sollte ja gerade die fundamentale Differenz aufgezeigt werden, die zwischen der spielerischen figuration der Schreibprozesse, wie sie sich in der Handschrift niederschlagen, und dem Briefroman besteht, in dem fiktive Briefe von der Hand eines einzigen Autors, der darüber hinaus als ebenso fiktiver Herausgeber auftreten kann, verfasst werden. Auch wenn die Montage der Briefe an Verfahren denken lässt, die auch in den Briefromanen des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielen - der Auftakt in medias res oder die Polyphonie beispielsweise -, bleibt die kollektive Autorschaft der Chroniques du Samedi ein Distinktionsmerkmal, das die galante Gelegenheitsdichtung grundsätzlich von den Briefromanen der französischen Literatur unterscheidet. Es kann also nicht darum gehen, die figurativen Verfahren der Handschrift dadurch ‚aufzuwerten‘, dass man sie mit der narrativen Struktur von Texten vergleicht, deren Konsekration durch die Literaturgeschichtsschreibung bereits erfolgt ist. Maximal ließe sich umgekehrt die Vor- und Frühgeschichte des französischen Briefromans vor dem Hintergrund dieser Montage galanter Korrespondenz differenzierter beschreiben. Ein zweites Missverständnis, das es zu vermeiden gilt, liegt in der Vorstellung, dass eine möglicherweise angestrebte Publikation der Chroniques du Samedi in Konkurrenz treten würde zu den Romanen Madeleine de Scudérys, insbesondere zu dem ersten Band der Clélie, dessen Ausarbeitung zeitgleich mit der Zusammenstellung der Briefe erfolgt. Die Tatsache, dass in der Handschrift zum Teil diesselben Personen zu Wort kommen, die auch im Roman portraitiert werden, und dass sogar eine zentrale Episode der Clélie - nämlich die Erfindung der Carte de Tendre - direkt aus den Chroniques übernommen zu sein scheint, kann nicht über die fundamentalen Differenzen dieser Werke hinwegtäuschen. 148 Auf der anderen Seite scheint es jedoch auch etwas kurz gegriffen, die Handschrift als 148 So operiert der Roman, der eben nicht nur als ein Schlüsselroman verstanden werden kann, zum Beispiel mit einer historischen Rahmenhandlung, die den Niedergang der römischen Monarchie zum Thema hat und deren Figuren (Clelia, Porsenna, Tarquinius) dem Werk des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius entstammen. Zur Verschränkung der verschiedenen Ebenen des Romans (insbesondere das Zusammenspiel von Geschichtsschreibung und galanter Verschlüsselung) siehe das Vorwort der anthologischen Folio-Ausgabe (Madeleine de Scudéry, Clélie, histoire romaine. Hg. von Delphine Denis, Paris, Gallimard 2006, S. 7-30) sowie den Aufsatz von Jean Mesnard, der vier Ebenen - „l’histoire, la fiction, la morale, l’actualité“ (Mesnard, Pour une clef de Clélie, S. 373) - der Textkonstitution unterscheidet und den Akzent auf die Verschlüsselung legt. Biblio17_204_s005-419End.indd 342 11.06.13 10: 11 <?page no="343"?> 343 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum ‚Vorstudie‘ oder ‚Matrix‘ des Romans zu betrachten, als vorläufiges Produkt einer kollektiven Schreibwerkstatt, aus der schließlich die definitive Form des Romans hervorgegangen ist. Dazu ist der Gestaltungswille, der sich in den Chroniques du Samedi niederschlägt, zu ausgeprägt. Wenn also die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass auch die Handschrift veröffentlicht werden sollte, so geschieht dies vor dem Hintergrund jener Publikationsform, die im Jahr zuvor mit dem ersten Band der sogenannten Recueils de Sercy in Mode gekommen war und sich seitdem immer größerer Beliebtheit erfreute: des recueil galant. 149 Der Recueil des pièces galantes en prose et en vers de Madame la Comtesse de La Suze et de Monsieur Pellisson, der 1664 - also rund zehn Jahre nach der Zusammenstellung der Chroniques du Samedi - zum ersten Mal erscheint, ist nicht nur aufgrund seines Titels die nächstliegende Sammlung galanter Stücke, die es an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen gilt. 150 Sie enthält bekanntlich eine umfangreiche Textstrecke, die auf den Kreis um Madeleine de Scudéry verweist und in der einige der galanten Namen aufgeführt werden, die auch in den Chroniques begegnen. Man denke beispielsweise an Verse, die mit Dialogue du sommeil de Trasille, & de l’Amour, où le Songe parle sur la fin oder Dialogue entre Acante & la Fauvette überschrieben wurden, oder an das Gedicht Caprice contre l’Estime, das Sapho gewidmet und mit dem galanten Namen „Polyandre“ (alias Sarasin) unterzeichnet wurde. Manchen dieser Stücke wurden ganz wie in den Chroniques Kommentare hinzugefügt, um sie für ein größeres Publikum verständlich zu machen. So folgt auf den Titel des ersten Textes dieser Reihe, Epistre à Achante, beispielsweise folgende Erklärung: Argument. Sapho ayant partagé les Poires de son Iardin sur l’Arbre, à un certain nombre de ses amies, & de ses amis; la Poire d’une Dame de beaucoup d’esprit, & celle d’Achante, se trouverent sur un mesme Arbre, vis à vis d’un Abricotier en espalier; Cette Dame s’en estant allée à la Campagne, pria Achante de luy garde sa Poire en son absence; & luy escrit ensuitte la première de ses [sic] Epistres. 151 Indem diese sowie die folgenden Versepisteln in den konversationellen Kontext eingebettet werden, dem sie entstammen, wird die Authentizität der Textstrecke betont. Man könnte nun einwenden, dass die recueils galants überwiegend Verse enthalten, während die Chroniques hauptsächlich aus Briefen bestehen. Diesem Einwand lässt sich mit Blick auf jene Sammelformen begegnen, die 149 Zur Mode der recueils galants vgl. Teil II, Kap. 2.1. 150 Zu dem sogenannten Recueil La Suze-Pellisson siehe Teil II, Kap 2.1.2. 151 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 45. Biblio17_204_s005-419End.indd 343 11.06.13 10: 11 <?page no="344"?> 344 Die Chroniques du Samedi Laurent Versini im Hinblick auf die Vor- und Frühgeschichte des Briefromans untersucht hat. 152 Gemeint sind die sogenannten Briefsteller (secrétaires), in denen authentische Briefe mit Modellcharakter zusammengestellt wurden, um den Zeitgenossen das Verfassen ihrer Korrespondenz zu erleichtern. 153 Versini kommt von diesen in sich geschlossenen Vorformen des roman épistolaire auf die „formule pot-pourrie“ zu sprechen, wie sie sich in den recueils galants niederschlägt und sich dabei als sehr widerstandsfähig erweist: Noch im 18. Jahrhundert machen diese Sammelformen mit einzelnen semifiktionalen Textstrecken dem integralen Briefroman Konkurrenz. 154 Bereits im 17. Jahrhundert lassen sich mithin zahlreiche Briefe und Briefwechsel in den galanten Sammelformen finden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Recueil La Suze-Pellisson von 1664 enthält einen Briefwechsel in Prosa, in dem die nicht näher zu identifizierenden Figuren Lisdamant, Menise und Linise zu Wort kommen. Der Schäfer Lisdamant sendet einen Obstkorb sowohl an Menise als auch an Linise, wobei er diese galante Geste mit jeweils einem prosimetrischen Brief unterstreicht. Menise und Linise antworten jede mit einem kurzen billet in Prosa, wobei die Pointe dieser Geschichte darin besteht, dass Menise noch glaubt, Lisdamant wolle ihr den Hof machen, während Linise sich spöttisch dafür bedankt, dass er schließlich auch sie noch mit einem Obstkorb bedacht habe, nachdem sich bereits alle anderen Damen ihrer Umgebung für einen solchen bei ihm bedankt hätten. 155 Der erste Band des Recueil de Sercy prose enthält unter dem Titel Billets galans, ou Billets Doux d’une Amante à un Amant eine Textstrecke von insgesamt siebzehn Briefen, in denen aus der Perspektive der Dame eine mondäne Liebe im zeitlichen Verlauf geschildert wird. 156 Charles de Sercy weist in seinem Vorwort zu diesem ersten Prosaband seiner recueils darauf hin, dass dieser kleine 152 Vgl. Versini, Le roman épistolaire, S. 28-60. 153 Versini zufolge entwickelt sich der französische Briefroman auf der Grundlage von zwei Textformen, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts konvergieren: Die auf einer realen Korrespondenz beruhenden Modelltexte der secrétaires auf der einen, und die fiktionalen héroïdes - lyrischen Liebesklagen historischer Figuren nachempfundene Briefe - auf der anderen Seite. Während die elegische Prosa der héroïdes immer häufiger auch zu didaktischen Zwecken herangezogen wird, betten die Herausgeber der secrétaires ihre nach dem Verwendungszweck sortierten Briefe in einen narrative Kontext ein, um ihren Werken den langweiligen Lehrbuchcharakter zu nehmen (vgl. Versini, Le roman épistolaire, S. 35-40). 154 „La formule du pot-pourri, où quelques lettres sont perdues au milieu de pièces fugitives et autres madrigaux, survivra longtemps, et on hésitera à classer parmi les romans épistolaires des recueils comme celui de Mme Levêque, Lettres et chansons de Céphise et d’Uranie (1731).“ (Versini, Le roman épistolaire, S. 41). 155 Recueil La Suze-Pellisson I, S. 97-110. 156 Recueils de Sercy prose I, S. 44-58. Biblio17_204_s005-419End.indd 344 11.06.13 10: 11 <?page no="345"?> 345 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum ‚Briefroman‘ schon seit längerem in den entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen zirkulierte und sich offenbar großer Beliebtheit erfreute: „Ie ne dy rien des Billets Doux & Galans, que tant de gens ont deia admirez lors qu’ils ont couru escrits à la main […].“ 157 Die Recueils de Sercy prose sowie der Recueil La Suze-Pellisson, der in seiner Auflage von 1668 auf drei umfangreiche Bände angewachsen ist, enthalten neben den epistolären Textstrecken zudem eine Vielzahl von Einzelbriefen, die zu der angestrebten Vielfalt von Gelegenheitsstücken und damit zu jenem Abwechslungsreichtum beitragen, den die Herausgeber dieser Sammlungen in ein ästhetisches Programm übersetzen. Das Gebot der diversité steht mithin im Vordergrund, und man darf nicht aus den Augen verlieren, dass es diesen Herausgebern ja gerade nicht darum geht, eine einzige Geschichte zu erzählen, oder den relationalen Raum einer einzigen Gruppe abzubilden. 158 Obwohl man in den recueils galants eine Anzahl von ‚Salonstrecken‘ finden kann, darf man nicht unbedingt damit rechnen, der publizierten Version eines integralen ‚Salonalbums‘ - wie es durch die Chroniques du Samedi repräsentiert wird - zu begegnen. Mit einer Ausnahme, auf die es abschließend noch einmal einzugehen gilt: Die Œuvres diverses tant en vers qu’en proses, dédiées à Madame de Mattignon par Octavie, die 1658 bei Jacques Le Gras erschienen sind. 159 Die Besonderheit des sogenannten Recueil d’Octavie liegt zunächst in seiner unaufgelösten Anonymität. Ob es sich bei Octavie, Acanthe, Madonte und anderen um galante Namen oder um fiktive Personen handelt, lässt sich in letzter Konsequenz nicht mehr herausfinden, wenngleich die Wahrscheinlichkeit, dass wir es hier mit einem weiteren Fall von galanter figuration zu tun haben, hoch ist. Der Vergleich mit dem ersten Drittel der Chroniques du Samedi bestätigt diesen Verdacht, sollten doch die Briefe, die zwischen Acante, Sapho, Theodamas und anderen hin- und hergegangen waren, zu einem bestimmten Zeitpunkt auch vollständig anonymisiert werden. Hätte sich 157 „Aux Lecteurs“, in: Recueil de pièces en prose les plus agréables de ce temps. Paris, Charles de Sercy 1658, s.p. 158 Symptomatisch hierfür ist einmal mehr das Vorwort Charles de Sercys zu seinem ersten Prosaband: „ Puis que les Poësies choisies ont eu le bon heur de vous plaire, on a crû que si on faisoit vn Recueil de Pieces en Prose, il auroit le mesme succez. La diversité qui est si aimable à toute sorte d’Esprits, ne se peut mieux trouuer que dans des Pieces diferentes pour les sujet & pour le stile, comme sont celles qui viennent de diuers Autheurs. Lors qu’elles sont fort succinctes, elles nous garantissent de l’ennuy que d’autres causent par leur longueur; Elles sont d’autant plus agreables, quand le sujet en est diuertissant; comme nous croyons qu’il doit estre en celles-cy. […].“ („Aux Lecteurs“, in: Recueil de pièces en prose les plus agréables de ce temps. Paris, Charles de Sercy 1658, s.p.). Zu dieser ästhetischen ‚Programmatik‘ der recueils galants vgl. auch Teil II, Kap. 2.1. 159 Zu dieser Sammlung siehe Teil II, Kap. 2.1.3. Biblio17_204_s005-419End.indd 345 11.06.13 10: 11 <?page no="346"?> 346 Die Chroniques du Samedi diese Entscheidung der Verfasser durchgesetzt, wäre eine Handschrift entstanden, die auch in diesem Punkt dem Recueil d’Octavie sehr ähnlich ist, mit dem sie bereits in vielerlei Hinsicht verglichen werden kann: Beide Sammlungen setzen sich aus Gelegenheitsstücken zusammen, die sowohl in Versen als auch in Prosa verfasst wurden. Obwohl auf der einen Seite die Verse (Recueil d’Octavie) und auf der anderen Seite die Briefe (Chroniques du Samedi) dominieren, zeichnen sich alle Stücke durch ihren appellativen Charakter aus. Es handelt sich entweder um Widmungstexte, die überwiegend den Figuren Sapho und Octavie zugeeignet werden, oder um dialogische Versepisteln, die direkt aufeinander Bezug nehmen. Die hohe Anzahl von Briefen in den Chroniques kann außerdem mit dem Auftakt des Recueil d’Octavie verglichen werden, der aus einem einzigen langen prosimetrischen Brief besteht, den Acanthe an Octavie schreibt und in dem sämtliche Figuren auftauchen, die später entweder selbst zu Wort kommen oder als Adressaten der Texte eine Rolle spielen. Letzteres gilt zum Beispiel für eine an anderer Stelle ausführlich kommentierte Textstrecke, die eine Reihe von Gedichten umfasst, die einer Figur namens Madonte gewidmet sind. 160 An diesem Zyklus lässt sich auch die mise en narration gut beobachten, die ebenso wie in den Chroniques du Samedi über Kommentare und Randnotizen erfolgt und einer uneingeweihten Leserschaft Informationen über den konversationellen Kontext liefert, in den die Stücke nachträglich eingebettet werden. In diesen Erklärungen sind zudem Hinweise auf den hermetischen Charakter einer Gruppe aufgehoben, die über onomastische Ein- und Ausschlussmechanismen verfügt. So erfährt der Leser der Publikation durch eine Randnotiz, dass ein gewisser Clorimante den galanten Namen der von ihm angesprochenen Madonte nicht kannte, als er seine Versepistel verfasste, weshalb ihm ein Fehler unterläuft, durch den er sich dem Spott des Acanthe ausgesetzt sieht. Die Randnotiz lautet: „Pour avoit [sic] lu, à Madonte sur un livre, afin de montrer qu’il appartenoit à Madonte, Clorimant crut qu’Amadonte estoit le nom qu’elle avoit receu.“ 161 Clorimant richtet seine Verse folglich nicht an ‚Madonte‘, sondern an ‚Amadonte‘, ein Irrtum, auf den das nächste Gedicht, das aus der Feder des Acanthe stammt, mit den Worten anspielt: „Vous, qu’on veut nommer Amadonte! “. Wenngleich dieser Spott mit Clorimant eine Person trifft, die offenbar noch nicht zu den Eingeweihten der cabale gehört, zeichnet sich hier doch die Bedeutung der raillerie ab, die auch für die ‚alten‘ und ‚neuen‘ Freunde der Madeleine de Scudéry eine zentrale Rolle spielt und sich in ihren Bemühungen niederschlägt, nach Tendre zu gelangen oder von dort nicht verdrängt zu werden. 160 Vgl. Teil II, Kapitel 2.1.3. 161 Vgl. Recueil d’Octavie, S. 111 und 113. Biblio17_204_s005-419End.indd 346 11.06.13 10: 11 <?page no="347"?> 347 Ein ‚epistoläres‘ Salonalbum Neben der Fähigkeit des entendre raillerie, die es unter Beweis zu stellen gilt, ist es jedoch vor allem die physische Anwesenheit, die von den Gruppenmitglieder erwartet wird, wie der Briefwechsel zwischen Sapho, Théodamas, Acante und Thrasile, dem ein Reiseverbot erteilt wurde, gezeigt hat. Dass diese Präsenzpflicht auch für die Mitglieder der cabale um Octavie gilt, lässt eine weitere Randnotiz des Recueil vermuten, die Acanthe diesmal als Opfer seiner eigenen Lust an der raillerie erscheinen lässt. Er verspottet nämlich das Gedicht eines Rivalen, das dieser anlässlich seiner Versöhnung mit Madonte geschrieben hat, die ihm vorübergehend ‚zu grollen‘ schien. Diese Verstimmung wird im Bild des Donnergrollens („quand par fenestres/ J’entendis battre le tambour“) beschrieben, das offenbar so wenig selbsterklärend ist, dass es in einer Randnotiz mit folgenden Worten erklärt wird: „Un mot de cabale, pour dire gronder duquel Acanthe n’étoist pas encore instruit.“ 162 Diese Randnotiz ist jedoch auch notwendig, um die folgenden Verse zu verstehen, mit denen sich Acanthe über seinen Rivalen lustig macht, dabei jedoch etwas ratlos auf das Donnergrollen Bezug nimmt: D’un Goinfre dont estes cousine, […] I’ay veu le Sonnet, & les Lettres. Pour ne rien dire des fenestre, Ny de l’intrigue du tambour Secrets, où ie n’ay point de iour; 163 Dank der nachträglich hinzugefügten Information kann sich der Leser dieser Verse nicht nur einen Reim auf diese geheimnisvolle ‚Fensteraffäre‘ machen, er darf sich auch über die Ratlosigkeit des Acanthe amüsieren, die dieser sich selbst zuzuschreiben hat: Wäre er dem Kreis um Madonte nicht so häufig fern geblieben, hätte er das Bild richtig zu interpretieren gewusst. Die Annotierung dieses Stückes verweist also indirekt auf einen nicht näher identifizierten relationalen Raum, der sich über die Verse, aber eben auch über eine Konversation jenseits der Verse konstituiert. Dies sowie die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Sammlungen berechtigt zu der doppelten Hypothese, dass es sich bei dem Recueil d’Octavie um die publizierte Form eines Salonalbums und bei den Chroniques du Samedi um ein Salonalbum handelt, das - zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt - für die Publikation vorgesehen war. Beiden Alben eignet eine Perspektivität, die über die starke Präsenz und ‚Herausgebertätigkeit‘ eines Figurenpaares entsteht: Octavie und Acanthe auf der einen stehen Sapho und Acante auf der anderen Seite gegenüber. Bei den sozialen Räumen, die diese Sammlungen repräsentieren, handelt es 162 Recueil d’Octavie, S. 109. 163 Ebd. Biblio17_204_s005-419End.indd 347 11.06.13 10: 11 <?page no="348"?> 348 Die Chroniques du Samedi sich allerdings wohl kaum um denselben ‚Salon‘. Dazu ist das Gruppengedächtnis des Samedi zu sehr mit den teilweise auf die Romane der Scudérys zurückgehenden galanten Namen verknüpft. Die Handschrift ist außerdem in einen ausufernden Intertext eingebunden, der die Selbstdarstellung des Kreises um Madeleine de Scudéry absichert und im literarischen Feld der Zeit sichtbar macht. Anders als beispielsweise die Mitglieder der Familien Rambouillet und Montausier sind die Mitglieder dieses Kreises, der sich insgesamt durch einen professionellen Umgang mit Texten und mit dem literarischen Schreiben auszeichnet, auf ein größeres Publikum angewiesen. In der Logik ihrer sozialen Praxis ist daher der (virtuelle) Akt der Veröffentlichung immer schon enthalten. Es ist diese Logik, die sich in der Handschrift Chroniques du Samedi aktualisiert und aus dieser Handschrift eine besondere Spielart des Salonalbums macht. 3 Fazit: Die Chroniques du Samedi - ein Salonalbum? Obwohl sie auf den ersten Blick wenig mit einer Prachthandschrift wie der Guirlande de Julie gemeinsam zu haben scheint, lässt sich auch für die unter dem Namen Chroniques du Samedi bekannt gewordene Sammlung Folgendes festhalten: Es handelt sich um einen komplexen Gegenstand, der sicher nicht nur, aber auch als Salonalbum bezeichnet werden kann, und zwar in dem Maße, in dem die Personen, die sich um Madeleine de Scudéry scharen und um ihre Freundschaft werben, im Prozess einer spezifischen figuration als Gruppe in Erscheinung treten. Die Handschrift, in der die Spuren einer sozialen, in ihrer langfristigen Prozessualität nachvollziehbaren Praxis aufgehoben sind, kann als Ausdruck und Instrument einer spezifischen Gruppenbildung gelesen werden. Verbunden mit dieser Gruppenbildung ist das Bemühen um Sichtbarkeit innerhalb einer Gesellschaft, in der sich der Status des Schriftstellers in erster Linie über die Abwesenheit von Status definiert. 164 Die kollektive Autorschaft, die sich in der Handschrift niederschlägt, ist nicht zuletzt auch strategischer Natur. Die sich über das Schreiben konstituierende Gruppe orientiert sich nicht zufällig an der - ihrerseits durch narrative Strukturen überhöhte - Sozialstruktur des Hôtel de Rambouillet. Dies zeigen sowohl verschiedene intertextuelle Bezüge innerhalb der Handschrift als auch Hinweise auf das soziale Verhalten der Protagonisten. In einem Brief an Pellisson bittet Madeleine de Scudéry beispielsweise um die Rückgabe der Carte de Tendre, da sie die allegorische Landkarte im Kreise einer Gesellschaft vorzeigen will, die nicht mit ihrem eigenen Zirkel identisch ist. 164 Vgl. Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature, S. 10. Biblio17_204_s005-419End.indd 348 11.06.13 10: 11 <?page no="349"?> 349 Fazit Je viens d’être assurée par Mlle Robineau que M. Conrart consent que Mme du Plessis et M. de Montausier voient la Carte que je vous ai donnée. C’est pourquoi je vous prie de me l’envoyer cachetée par ce porteur car je vais dîner à l’hôtel de Nevers avec Mlle Le Gendre pour la montrer à ces illustres personnes. (CdS, S. 234f.) An dem Empfang im Hôtel de Nevers der Familie du Plessis-Guénégaud, bei dem es sich um ein Beispiel von Adelssoziabilität mit formaler Einladung handelt, soll auch der Marquis de Montausier teilnehmen, dessen erwartbare Anwesenheit Madeleine de Scudéry dazu veranlasst, die Karte von Pellisson zurückzufordern. Es handelt sich offenbar um eine der seltenen Gelegenheiten, Montausier mit der spielerisch-literarischen Produktion des Samedi zu behelligen, was darauf schließen lässt, dass er selbst nicht Teil der Gruppe ist, die sich über das Imaginarium von Tendre definiert. Andererseits darf Madeleine de Scudéry von seinem Interesse an ihrem allegorischen Spiel ausgehen, weshalb sie es umso mehr bedauert, dass ausgerechnet er schließlich doch nicht an dem Empfang im Hôtel de Nevers teilnimmt. Einige Zeit nach dem Ereignis schreibt sie an Pellisson: Pour vous montrer que je n’ai pas dessein que beaucoup de gens aillent à Tendre, je vous en renvoie la Carte, qui n’a été vue que de Madame du Plessis, et de Mme Cornuel, parce qu’un malentendu fit que M. de Montausier ne se trouva pas au lieu de l’assignation. (CdS, S. 242f.) Da diese zwei Briefe in die Chroniques du Samedi Eingang gefunden haben, ist jedoch davon auszugehen, dass bereits die Absicht, die Karte einem Vertreter des Schwertadels zu zeigen, als ein prestigeträchtiges Merkmal des eigenen Zirkels gewertet wird. Festzuhalten bleibt jedoch auch, dass sich die Handschrift, die nicht mit der formlosen Sammlung identisch ist, auf die sich Tallemant des Réaux bezieht, wenn er die „Chroniques du Samedy“ erwähnt, durch eine starke Perspektivität auszeichnet. Der Interaktion der Gruppe wird auf diese Weise zwar ein Denkmal gesetzt, aber zugleich wird die Gruppe von einem chroniqueur benutzt, um sich selbst in Szene zu setzen. Pellisson tritt hier in verschiedenen Rollen auf: Als handelnde Figur (Acante), als Sammler der Texte (chroniqueur) und nicht zuletzt als Erzähler (chroniqueur der Journaux des madrigaux, namenlos in den Chroniques du Samedi), der die zirkulierenden Textbausteine aufbereitet, um sie in narrativierter Form wieder in Umlauf zu bringen. Wieviel von der ursprünglichen Kollektivität ist am Ende dieses Prozesse noch erhalten? Reduziert sich - ähnlich wie im Falle der Historiettes von Tallemant des Réaux - die Polyphonie nicht im Grunde auf zwei Stimmen, diejenigen Pellissons und Madeleine de Scudérys? Vergleichbar auch dem Moment, in dem die zirkulierenden Madrigale der Guirlande de Julie in eine Biblio17_204_s005-419End.indd 349 11.06.13 10: 11 <?page no="350"?> 350 Die Chroniques du Samedi Prachthandschrift Eingang finden, werden für den Betrachter der Chroniques du Samedi vor allem jene Protagonisten der kollektiven Textproduktion sichtbar, die sich für die Zusammenstellung der Briefe, respektive der Madrigale, verantwortlich zeichnen. Dies bedeutet aber auch, dass wir es im Falle weder der Guirlande de Julie noch der Chroniques du Samedi mit einer ‚Visitenkarte‘ zu tun haben, anhand derer sich die Salons der Marquise de Rambouillet oder der Madeleine de Scudéry rekonstruieren ließen. Ohne ihre Vergleichbarkeit überstrapazieren zu wollen, lässt sich diese letzte Gemeinsamkeit der beiden Handschriften nicht leugnen, zumal sie zu einer im Hinblick auf die Salonspezifik dieser Alben skeptischen Lesart einlädt. Ob und wie weit man dieser Einladung folgen möchte, hängt von der Haltung ab, die man gegenüber dem Salonbegriff insgesamt einnimmt und die es in den abschließenden Überlegungen nun noch einmal zu prüfen gilt. Biblio17_204_s005-419End.indd 350 11.06.13 10: 11 <?page no="351"?> Fazit Im Verlauf dieser Arbeit wurden verschiedene Sammelformen vorgestellt, deren Gemeinsamkeit zunächst allein darin besteht, dass durch das Zusammenwirken von kollektiver Autorschaft und orchestrierender Hand relationale Räume der Schrift geschaffen werden. Auf der Grundlage des Albumbegriffs, der im 17. Jahrhundert noch eine im Vergleich zu seinem modernen Gebrauch sehr eingeschränkte Bedeutung hat, können diese Räume miteinander verglichen werden, wobei jedoch zunächst vor allem die Differenzen zwischen dem Album amicorum und dem durch eine fremde Hand kalligraphierten Salonalbum der Frühen Neuzeit auffallen: Während sich vor dem Hintergrund der Autographie eine Verwandtschaft zwischen dem Freundschaftsalbum des 17. Jahrhunderts und dem salonspezifischen Gästebuch des 19. Jahrhunderts herausarbeiten lässt, unterscheiden sich die Sammelformen, in denen sich die spielerisch-figurative Praxis der frühen französischen Salonkulturen niederschlägt, in fundamentaler Weise nicht nur von den Alba amicorum, sondern auch untereinander. In den publizierten recueils galants sowie in den meisten Handschriften, in denen galante Gelegenheitsliteratur gesammelt wird (portefeuilles), bildet sich nicht mehr die soziale Praxis einer konkreten Gruppe ab. Der Geschlossenheit, die dem Begriff des Albums zu Grunde liegt, steht das ästhetische Prinzip der diversité entgegen, wenngleich intertextuelle Verdichtungen innerhalb einer Sammlung auf bestimmte soziale Räume hindeuten. Um letztere jedoch als Ausdruck einer salonspezifischen Relationalität zu lesen, bedarf es ihrer Einbettung in einen umfangreicheren Intertext, der das Imaginarium einer Gruppe, das der Chambre bleue oder jenes des Samedi, konstituiert. Aus diesem Intertext lassen sich narrative Strukturen herauslösen, die über den Prozess der figuration zur Sichtbarkeit der jeweiligen Gruppe im sozialen Gefüge der Zeit beitragen. Festzuhalten bleibt, dass diese Gruppen, im Unterschied beispielsweise zu ranghohen Adelshäusern, auf die kohäsive Funktion eines solchen Narrativs angewiesen sind, da sie sich einerseits durch ein hohes Maß an Informalität und Heterogenität auszeichnen. Im Vergleich mit den Konstellationen, welche sich in den untersuchten Alba amicorum abbilden, verfügen sie andererseits jedoch über eine relative Stabilität auch jenseits der Texte, die sie konsolidieren. Biblio17_204_s005-419End.indd 351 11.06.13 10: 11 <?page no="352"?> 352 Fazit Sowohl für die Gesellschaft der Marquise de Rambouillet als auch für den Freundeskreis um Madeleine de Scudéry ist eine Handschrift überliefert, die die Bezeichnung ‚Album‘ rechtfertigt. Mit den Alba amicorum, zumindest denjenigen, die aus dem französischen Sprachraum überliefert sind, teilen diese Alben eine strategische Funktion: In spielerischem Modus wird durch sie ein symbolisches Kapital sichtbar gemacht, das sich in soziales Kapital übersetzen lässt. Während jedoch die Spiele im Fall der Guirlande de Julie und der Chroniques du Samedi große strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Ziele, die mit den Handschriften verbunden sind. Es lohnt sich daher, abschließend den Vergleich dieser beiden Salonalben noch einmal zu pointieren. Beide Alben erhalten vor dem Hintergrund anderer Texte, in denen das Imaginarium eines spezifischen sozialen Raums Gestalt annimmt, ein Profil, das sich durch ähnliche narrative Strukturen auszeichnet. Dass diese Ähnlichkeit absichtlich hervorgerufen worden sein könnte, legt die Biographie der Personen nahe, die den Rambouillet-Zirkel mit dem Scudéry-Kreis verbinden. Sowohl Conrart als auch Madeleine de Scudéry übernehmen sowohl für das Hôtel de Rambouillet als auch für ihren eigenen Zirkel die Rolle des chroniqueur, wobei ihnen ein Interesse daran unterstellt werden darf, die Kontinuität von dem einen zum anderen sozialen Raum zu betonen. Intertextuelle Bezüge zwischen den Handschriften und anderen Gelegenheitstexten sind daher sicherlich nicht zufällig. Vermutlich handelt es sich zum Beispiel bei der Textstrecke La Journée des madrigaux, die in den Chroniques du Samedi enthalten ist, um ein Zitat der Madrigalsammlung La Guirlande de Julie. Und doch können diese Ähnlichkeiten nicht über die fundamentalen Unterschieden zwischen den beiden Salonalben hinwegtäuschen. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Materialität der Handschriften zu nennen: Während es sich bei der Guirlande de Julie um einen prachtvollen manuscrit d’apparat handelt, dessen Funktion in erster Linie darin besteht, einem ausgewählten Kreis von Personen präsentiert zu werden, zeichnen sich die Chroniques du Samedi vor allem dadurch aus, dass sie gelesen werden müssen. Dem Primat des Bildes im Falle der Guirlande steht die dichte Textualität der Chroniques gegenüber, deren Lektüre eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und die darauf angelegt sind, im Kreise einer mehr oder weniger restriktiven Leserschaft zu zirkulieren. Ob die Handschrift der Zirkulation vorbehalten blieb oder als Vorbereitung für eine Publikation diente, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall sehen sich ihre ‚Verfasser‘ jedoch gezwungen, das Werk und damit die Interpretationshoheit über die Briefe und Gelegenheitstexte aus der Hand zu geben, ein Umstand, den sie durch Kommentare und Annotationen ausgleichen. Dieses Problem stellt sich dem Auftraggeber der Guirlande de Julie nicht: Durch die Metamorphose vom Konversationsspiel zur Prachthandschrift Biblio17_204_s005-419End.indd 352 11.06.13 10: 11 <?page no="353"?> 353 Fazit wird die Madrigalsammlung zu einem kostbaren Gesamtkunstwerk, dessen Ruhm von seinen Betrachtern in die Welt hinausgetragen wird, ohne dass der Gegenstand selbst bewegt werden muss. So berichtet beispielsweise Daniel Huet, wie er sich von der Duchesse d’Uzès in ein Zimmer habe einschließen lassen, in dem er einige Stunden mit der berühmten Handschrift verbringen durfte. Comme je la [La Guirlande; S.B.] connoissois fort de réputation, j’avois demandé souvent à la voir, & souvent elle m’avoit été promise. Mais enfin Madame la Duchesse d’Uzès voulut bien me donner ce plaisir. Elle m’enferma sous la clef dans son cabinet une après-dînée au sortir de table avec la Guirlande; elle alla ensuite chez la Reine, & ne vint me mettre en liberté qu’aux approches de la nuit. Je n’ai guére passé en ma vie de plus agréable après-dînée. 1 Dem stationären Charakter dieses Werkes steht die Beweglichkeit der zirkulierenden Chroniques du Samedi gegenüber, ein Kontrast, durch den in Erinnerung gerufen wird, dass das Publikum, das sich mit der Guirlande de Julie auseinandersetzt, nicht einfach mit jenem Publikum gleichgesetzt werden kann, mit dem die ‚Verfasser‘ der Chroniques ganz offensichtlich rechnen. Vor dem Hintergrund der Materialität dieser Alben zeichnet sich also eine gegenläufige Bewegung der Rezeption ab: Während die Chroniques ihrer Leserschaft in die Hände gespielt werden müssen, kommt das Publikum der Guirlande in das Haus ihrer Besitzer, um sie dort zu betrachten. Wenngleich es sich in beiden Fällen um die „Verschriftlichung von Gruppengedächtnissen“ (Zimmermann) handelt, situiert sich die Guirlande de Julie am Übergang des Gruppengedächtnisses zum Familiengedächtnis, während die Chroniques du Samedi in einem viel stärkeren Maße die Verschränkung von literarischem Feld und mondäner sociabilité hervortreten lassen. Diese unterschiedliche Akzentuierung spiegelt sich auch in den Sammelformen, mit denen das jeweilige Album verglichen werden kann. Der Primat des Bildes in der Guirlande de Julie findet sich in der Devisensammlung der Duchesse de La Trémoïlle wieder, der ein ähnlich spielerischer Charakter eignet wie der Madrigalsammlung. Das Devisenalbum muss als Ausdruck einer dynastischen Relationalität gelesen werden, zu der auch die Guirlande tendiert, deren prachtvolle Ausgestaltung durch Nicolas Robert zugleich an jene wertvollen botanischen Handschriften denken lässt, die von aristokratischen Sammlern in Auftrag gegeben wurden. Die Chroniques du Samedi hingegen können mit jenen Publikationen kollektiver Gelegenheitsliteratur verglichen 1 Huetiana, ou pensées diverses de M. Huet, evesque d’Avranches. Paris, Jacques Estienne 1722, S. 105. Biblio17_204_s005-419End.indd 353 11.06.13 10: 11 <?page no="354"?> 354 Fazit werden, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Mode kommen. Diese recueils galants enthalten Verse und Prosastücke, die sowohl unter inhaltlichen Gesichtspunkten als auch im Hinblick auf ihre Präsentation - man denke an die kontextualisierenden Kommentare und Annotationen - den billets galants und Gedichten ähneln, die in den Chroniques zu einem Briefroman ‚avant la lettre‘ montiert wurden. Insbesondere die Verwendung der galanten Namen und der polyphone Charakter der Handschrift nähert sie jenem sogenannten Recueil d’Octavie an, der möglicherweise auch eine salonspezifische Gruppe repräsentiert. Wenn nun jedoch die Sammelformen La Guirlande de Julie und Chroniques du Samedi letztlich doch so stark divergieren, ist es dann überhaupt sinnvoll, sie unter dem Begriff des Salonalbums zu vereinen? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, sich den Salonbegriff in Erinnerung zu rufen: Den Salon nicht als ‚Behältnis‘, sondern als relationalen Raum zu denken, bedeutet, seine Repräsentation nicht als Konsequenz seiner Existenz, sondern als konstituierendes Moment zu interpretieren. Wenn man sich daher unter einem Salonalbum mehr oder noch etwas anderes vorstellen will als ein schönes Objekt, das im Innern eines hôtel particulier entworfen wurde und seinen Weg schließlich aus diesem ‚Salon‘ in die Öffentlichkeit gefunden hat, so tritt die gesellig-gesellschaftliche Praxis in den Vordergrund, die diesen relationalen Raum mindestens ebenso gestaltet wie sie sich ihm verdankt. Die Gemeinsamkeit dieser Objekte läge mithin weniger in ihrer Morphologie als in ihrer Funktion, die darin besteht, einen sozialen Zusammenhalt zu stiften, der nicht per se gegeben ist. Sowohl bei dem Rambouillet- Zirkel als auch bei dem Scudéry-Kreis handelt es sich um informelle Gruppen, die weder allein durch Verwandtschaftsverhältnisse noch ausschließlich über professionelle Strukturen definiert sind. Beiden Gruppen ist außerdem gemeinsam, dass ihre Mitglieder nach gesellschaftlichem Statusgewinn streben, was der Vergleich der Guirlande de Julie mit dem Devisenalbum der Duchesse de La Trémoïlle gezeigt hat. Auch die Chroniques du Samedi enthalten Hinweise darauf, dass Madeleine de Scudéry und ihre Freunde das symbolische Kapital, das mit ihren literarischen Spielen einhergeht, durchaus zu investieren wissen. Darauf lässt beispielsweise der Brief schließen, in dem Madeleine de Scudéry von Pellisson die Carte de Tendre zurückerbittet, um sie dem Marquis de Montausier zu zeigen. Betrachtet man also das Salonalbum nicht als literarische Gattung sondern vielmehr als eine Sammelform, die sich literarischer Ausdrucksformen bedient, um eine Gruppenbildung zu repräsentieren, die außergewöhnlich ist und der figuration bedarf, um sichtbar zu sein, so reflektieren die Unterschiede zwischen der Guirlande de Julie und den Chroniques du Samedi in erster Linie die Unterschiede zwischen der Chambre bleue und dem Samedi. Sie tragen mithin dazu bei, diese relationalen Räume, die in der Forschung gern Biblio17_204_s005-419End.indd 354 11.06.13 10: 11 <?page no="355"?> 355 Fazit als Kristallisationen des französischen Salons im 17. Jahrhundert betrachtet werden, anhand ihrer sozialen Praxis zu differenzieren. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Alben strahlen auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Räume zurück, und ihre Analyse erlaubt daher die kritische Betrachtung eines Salonbegriffs, der eine komplexe Überlieferungssituation hinter einer scheinbaren, durch die Terminologie suggerierten Homogenität verbirgt. Letztere verleitet zum Beispiel dazu, vor dem Hintergrund der Annahme, dass dem französischen Salon seine genuine Gestalt im Hôtel de Rambouillet verliehen wurde, den Salon der Madeleine de Scudéry als epigonal und dekadent abzuqualifizieren. Dies ist jedoch nicht das einzige Urteil, das es zu revidieren und durch ein nuanciertes Bild zu ersetzen gilt. Auch der vielzitierte mondäne Einfluss auf die französische Literatur des 17. Jahrhunderts lässt sich anhand des Albenvergleichs differenzierter betrachten. So bleibt festzuhalten, dass es sich offenbar um ein reziprokes Verhältnis handelt: Das frühe literarische Feld ragt ebenso in die sozialen Räume der mondänen Eliten hinein wie umgekehrt, und die Untersuchung der zwei Handschriften hat gezeigt, wie strategisch die Implikationen sein können, die mit dem Prozess der figuration verbunden sind. Als Gruppe sichtbar zu sein, gereicht nicht nur den hommes de lettres, sondern auch den Adelsvertretern der Chambre bleue zum Vorteil, selbst wenn es schließlich nur einige wenige Personen sind, denen der soziale Aufstieg tatsächlich gelingt. Der spielerische Modus der Texte lässt sich als Kohäsionsfaktor betrachten, der in diesem Fall vor allem die weniger starke dynastische Kohäsion, d.h. die etwas geringere machtpolitische Bedeutung der Häuser Rambouillet und Montausier kompensiert. Anders verhält es sich mit dem Kreis um Madeleine de Scudéry: Hier koinzidiert der literarische mit dem professionellen Kohäsionsfaktor, und entsprechend komplex gestalten sich die Fiktionalisierungsstrategien der Handschrift Chroniques du Samedi. Die graduellen, fein aufeinander abgestimmten Figurationen, die sich mit den galanten Namen der Protagonisten verbinden, lassen auf das professionelle Geschick schließen, mit dem die Autoren und die Autorin das mondäne Spiel für den literarischen Text fruchtbar machen und umgekehrt. So enthält die Korrespondenz beispielsweise Szenen höchster Emotionalität, von der sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob sie Pellisson (dem Autor) oder Acante (der Figur) - respektive Madeleine de Scudéry oder Sapho - zugeschrieben werden muss oder ob sie vielleicht sogar erst durch die Zusammenstellung der Briefe ihre Wirkung auf den Leser entfaltet. Gerade unter diesem Gesichtspunkt erweist sich eine dichotomische Betrachtungsweise des Albums - also die Vorstellung, es handele sich entweder um eine Sammlung von fiktionalen oder nichtfiktionalen Texten - als wenig erkenntnisfördernd. Die Annahme, dass das Schreiben eine bestimmte emotionale Verfasstheit nicht nur abbilden, sondern auch Biblio17_204_s005-419End.indd 355 11.06.13 10: 11 <?page no="356"?> 356 Fazit hervorbringen kann, ermöglicht hingegen eine bemerkenswert moderne Lektüre dieser Handschrift. 2 Was lässt sich nun abschließend über die für die literarischen Räume dieser Epoche so selbstverständlich angenommene ‚Salonspezifik‘ insgesamt sagen? Der Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung lag in einem Salonbegriff, der im Zuge der Beschäftigung mit den ‚klassischen‘ Orten der französischen Salonkultur des 17. Jahrhunderts zunehmend konturenlos geworden war. Die einschlägige Forschungsliteratur gibt keine Antwort auf die Frage, was einen Salon von der Empfangs- und Patronagepraxis beispielsweise großer Adelshäuser unterscheidet. Dies liegt daran, dass bislang weder die Rede von der ‚explosionsartigen‘ Vermehrung der Salons im Gefolge der Chambre bleue noch deren paradigmatische Status einer kritischen Prüfung unterzogen wurden. Vielmehr liess sich ein historiographischer Prozess der narrativen ‚Verdichtung‘ beobachten, deren erste Ausprägungen sich bereits im 17. Jahrhundert finden. Sainte-Beuves Causeries du Lundi kommt eine Schlüsselposition innerhalb dieser Narrativierung zu, die eine ‚typisch französische‘ Verbindung von Konversation und Weiblichkeit postuliert und durch ihre Fusion mit dem Salonbegriff des 19. Jahrhunderts ein genuin literaturwissenschaftliches Interesse an den ‚literarischen Salons‘ der Frühen Neuzeit hervortreibt. Literaturhistoriker wie Gustave Reynier, Maurice Magendie und vor allem Émile Magne knüpfen nun an jenes Narrativ an, das sie in den Historiettes Tallemants und in dem Dictionnaire des Précieuses von Somaize vorformuliert finden. Dadurch, dass sie diese Quellen jedoch nicht als Teil jener sozialen Praxis betrachten, über die sie Auskunft geben, setzen sie diese Erzählungen nicht nur fort, sondern verleihen ihnen darüber hinaus den Status von wissenschaftlicher Erkenntnis. Problematisch wird dieser vermeintliche Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die sociabilité des 17. Jahrhunderts, wenn die ‚Gefäßfiktion‘ des Salons dazu dient, Aussagen über eine Praxis - wie sie beispielsweise in Konversationstraktaten getroffen werden - unbesehen in der ‚Wirklichkeit‘ zu verankern. Eine reflektierte und seriöse Auseinandersetzung mit dem historisch aufgeladenen Salonbegriff müsste jedoch dazu führen, nicht mehr nach konkreten Orten zu suchen, in denen ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, sondern nach konkreten Praktiken, die den Raum - verstanden als relationales Phänomen - überhaupt erst konstituieren. Nur so lässt sich das Risiko minimieren, das mit dem traditionellen Salonbegriff ebenfalls verbunden ist und darin besteht, die salonspezifische Gefäßfunktion in der Rede von einem homogenen weib- 2 Sie lässt sich zum Beispiel als eine Spielart jener theatralen Gefüge verstehen, die Doris Kolesch zufolge die höfische Gesellschaft insgesamt charakterisieren (vgl. Kolesch, Theater der Emotionen). Biblio17_204_s005-419End.indd 356 11.06.13 10: 11 <?page no="357"?> 357 Fazit lichen Gegenraum zu perpetuieren. Da die Kategorie Gender jedoch nicht ohne Kategorien wie Stand und Rang gedacht werden kann, sollte es einer modernen Salon- und Genderforschung um ein differenziertes Bild jener Räume gehen, die von Frauen und Männern mit unterschiedlichem Sozialprofil gestaltet wurden. Was folgt daraus für den Salonbegriff? Zunächst bleibt festzuhalten, dass sein semantischer Mehrwert selbst in den Fällen, in denen er den differenzierenden Blick auf die vielfältigen Formen der sociabilité im Frankreich des 17. Jahrhunderts nicht verstellt, gering ist. Roger Duchêne zufolge tendiert er sogar gegen Null. So lautet zumindest seine Antwort auf die Frage, ob man die Aktivitäten jener nébuleuse de mondains, deren Einfluss auf die französische Literatur nicht von der Hand zu weisen, wenngleich im Detail schwer überprüfbar sei, noch als ‚Salon‘ bezeichnen könne: S’agit-il encore de salon? Sans doute puisque le mot ne veut rien dire, mais qu’il nous sert pourtant à désigner tout ce qui a servi très généralement d’interface, comme on a dit aujourd’hui, entre le monde des mondains et le monde de la culture. 3 Doch selbst Roger Duchêne, offenbar ein Freund deutlicher Worte, 4 plädiert interessanterweise dafür, den Salonbegriff, dessen Abschaffung angesichts seiner soliden Verankerung im allgemeinen Sprachgebrauch de facto auch kaum durchzusetzen wäre, beizubehalten - dies allerdings unter der Voraussetzung, dass man jedes Mal eine abstrakte Schnittfläche zwischen mondänen und kulturellen Räumen meint, wenn man davon spricht, dass sich diese oder jene Handlung in den Salons abgespielt habe. Das klingt nicht nur kompliziert, sondern erhebt auch den paradoxen Anspruch, an der anschaulichen Gefäßfiktion festzuhalten, während man sich eigentlich das Ineinandergreifen sozialer und literarischer Praktiken vorstellen sollte, die einen konkreten relationalen Raum überhaupt erst konstituieren. Wegen dieser Unmöglichkeit, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt, plädiere ich dafür, trotz aller heuristischen Vorteile, die der Salonbegriff eben auch bietet, in Zukunft nicht mehr von den Salons des 17. Jahrhunderts zu sprechen. Im Bedarfsfall lässt sich eine spezifische Konstellation mit jenem Namen bezeichnen, mit dem die Protagonisten operieren, um für ihre Zeitgenossen als Gruppe sichtbar zu werden, also beispielsweise das Hôtel de Rambouillet, die Chambre bleue, 3 Roger Duchêne, „De la chambre au salon: réalités et représentations“, in: Roger Marchal (Hg.), Vie des salons et activités littéraires, de Marguerite de Valois à Mme de Staël. Presses universitaires de Nancy 2001, S. 21-28, S. 28. 4 „Les salons n’existent pas au XVII e siècle, mais la nébuleuse de mondains, d’auteurs et de doctes que l’on a pris l’habitude de désigner par ce nom n’a pas pu ne pas exercer une certaine influence sur la création littéraire de l’époque.“ (ebd.). Biblio17_204_s005-419End.indd 357 11.06.13 10: 11 <?page no="358"?> 358 Fazit der Kreis um Madeleine de Scudéry oder der Samedi. Angesichts der Verschiedenheit der Ziele, die im spielerischen Modus verfolgt werden, schlage ich weiterhin vor, eine Form des Plurals beizubehalten, die es erlaubt, literarische Phänomene vergleichend zu untersuchen, deren Gemeinsamkeiten tatsächlich erst durch den historisch aufgeladenen Salonbegriff in den Blick geraten. So wenig es also einleuchtet, den Salon des 17. Jahrhunderts im Sinne des ‚Schachteldenkens‘ als einen konkreten Raum zu imaginieren, so sinnvoll erscheint der Rückgriff auf das titelgebende Kompositum dieser Arbeit, nämlich die Formulierung ‚französische Salonkulturen‘. Diese Entscheidung mag zunächst wenig konsequent anmuten, sie ist angesichts der Quellenlage jedoch pragmatisch und weniger irreführend als die Rede von den Salons, in denen sich der mondäne Einfluss auf die Literatur beobachten ließe. Sie erlaubt es außerdem, an einem dynamischen Bild der Verschränkung sozialer und literarischer Praktiken festzuhalten, das sich nicht auf die beiden prominenten Gruppen um die Marquise de Rambouillet und Madeleine de Scudéry beschränkt. Die Suche nach weiteren Konstellationen und deren literarischen Produktionen ist daher auch keinesfalls abgeschlossen, auch wenn sich der Verdacht erhärtet hat, dass der Gestaltungswille der Protagonisten in den beiden genannten Fällen entweder sehr ausgeprägt oder überdurchschnittlich erfolgreich gewesen ist. Sowohl die Chambre bleue als auch der Samedi sind Ausnahmeerscheinungen innerhalb der sociabilité des 17. Jahrhunderts. Gerade weil es sich dabei um äußerst markante Ausnahmen handelt, haben sie unser Verständnis der frühen französischen Salonkulturen maßgeblich geprägt. Biblio17_204_s005-419End.indd 358 11.06.13 10: 11 <?page no="359"?> Bibliographie Handschriftliche Quellen B IBLIOTHÈQUE NATIONALE DE F RANCE , P ARIS , S ITE R ICHELIEU , M ANUSCRITS FRANÇAIS Ms 7819: Recueil de devises [Devises pour les Tapisseries du Roy ou sont représentéz les quatre éléments et les quatres saisons de l’année]. Ms 10628: Recueil collectif sans titre, dit „Recueil Montausier“ Ms 12616: Recueil collectif sans titre, dit „Recueil Maurepas“ [Contient des pièces intitulées „La Guirlande de Julie“]. Ms 14851: Le Psaultier de Jésus, contenant de très dévotes prières et Pétition faict à Paris 1641. Ms 18986: Recueil collectif sans titre [Album amicorum de la famille La Chambre]. Ms 19142: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces intitulées „La Guirlande de Julie“]. Ms 23993: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces (épitaphes, sonnets, rondeaux, etc.) sur la mort du cardinal de Richelieu]. Ms 24320: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces diverses, en prose et en vers, formé par Anne Olivier de Villarceaux ou pour elle]. Ms 24321: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces (lettres, vers, épitaphes, etc.) relatives au règne de Louis XIII]. Ms 24443: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces imprimées et manuscrits (sonnets, ballades, madrigaux, épigrammes, etc.), relatives aux règnes de Louis XIII et de Louis XIV]. Ms 24446: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces satyriques (épigrammes, sonnets, madrigaux, épigrammes, etc.), en vers et en prose, en francais et en latin, relatives au règne de Louis XIV]. Ms 24447: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces imprimées et manuscrites, en prose et en vers, relatives aux règnes de Louis XIII et de Louis XIV]. Ms 25185: Recueil collectif sans titre [Album amicorum, avec blasons coloriés, des élèves de Morel, maître de luth, orléanais (1621-1630)]. Ms 25436: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces relatives à Claude Bosc, Sieur du Bois, prévôt des marchands de Paris] Ms 25556: Recueil collectif sans titre [Contient des lettres et pièces littéraires du règne de Louis XIII]. Ms 25561: Recueil collectif sans titre [Contient des poèmes, paraphrases, sonnets, lettres, etc. du XVII e siècle]. Biblio17_204_s005-419End.indd 359 11.06.13 10: 11 <?page no="360"?> 360 Bibliographie Ms 25565: Recueil collectif sans titre [Contient des madrigaux, sonnets, énigmes adressés à Louis XIV, au duc de Bourgogne etc.]. Ms 25567: Recueil collectif sans titre [Contient des pièces fugitives sur divers personnages du temps de Charles IX]. B IBLIOTHÈQUE NATIONALE DE F RANCE , P ARIS , S ITE R ICHELIEU , N OUVELLES A CQUISITIONS F RANÇAISES Ms NAF 716: Recueil collectif sans titre [Album amicorum de Baullain, maître des armes, Angers] Ms NAF 1741: Recueil collectif sans titre [Album amicorum de Marc Vulson de La Colombière]. Ms NAF 19735: La Guirlande de Julie. Pour Mademoiselle de Rambouillet Julie-Lucine d’Angennes. Escrit par N. Jarry. 1641. B IBLIOTHÈQUE NATIONALE DE F RANCE , P ARIS , S ITE R ICHELIEU , E STAMPES Rés. JA-19: Recueil botanique sans titre, dit „Recueil de cent planches de fleurs & d’insectes“. B IBLIOTHÈQUE NATIONALE DE F RANCE , P ARIS , B IBLIOTHÈQUE DE L ’A RSENAL Ms 4106-4129: Recueils sans titre, dits „Recueil Conrart in-4°“ Ms 5410-5427: Recueils sans titre, dits „Recueil Conrart in-folio“ Ms 3135: Recueil sans titre, dit „Recueil Conrart“ [Contient des pièces intitulées „La Guirlande de Julie“]. Ms 5131 Rés.: Recueil sans titre, dit „Recueil Conrart“ [Contient „La Journée des Madrigaux“ et „Relation de ce qui s’est depuis peu passé à Tendre avec le discours que fit la souveraine de ce lieu aux habitants de l’ancienne ville“]. Ms 5217: Recueil sans titre, dit „L’album de devises de la Duchesse de La Trémoïlle“. Ms 5414: Recueil sans titre, dit „Recueil Conrart“ [Contient „La Journée des Madrigaux“ et „La Gazette de Tendre“]. Ms 5420: Recueil sans titre, dit „Recueil Conrart“ [Contient „Discours géographique, pour l’utilité de ceux qui veulent apprendre la Carte pour aller de Particulier à Tendre“] Ms 14363: Recueil collectif sans titre [Album amicorum de Mme de Heredia]. Ms 15054: Album de Maria de Marches. Ms 15156: Recueil collectif sans titre, dit „Chroniques du Samedi“ [Contient des pièces relatives au salon de Madeleine de Scudéry, 1652-1657]. Ms 15156: Recueil sans titre, dit „Recueil Conrart“ [Contient „La Journée des Madrigaux] Ms 15303: Recueil collectif sans titre [Album amicorum de Claudius Popelin] Ms 15437: Recueil [Album amicorum romantique] Ms 15439: Recueil sans titre [Album amicorum et journal de la duchesse de Camastra née Rose Ney d’Elchingen. Villa Camastra, 1913-1923]. Biblio17_204_s005-419End.indd 360 11.06.13 10: 11 <?page no="361"?> 361 Bibliographie B IBLIOTHÈQUE M AZARINE , P ARIS Ms 2212: Le Temple de la Gloire, ou l’on peut voir les Eloges et les Portraits des Illustres Princesses de l’auguste Maison d’Austriche qui ont porté le nom d’Anne. N. Jarry, Paris, scribebat anno 1647. Ms 2211: Imago Cardinalis Mazarini. N. Jarry Paris. Scribebat 1658. B IBLIOTHÈQUE ET A RCHIVES DU C HÂTEAU DE C HANTILLY N° 88: Heures de Nostre-Dame, ecrites à la main par N. Jarry, parisien, 1647. N° 104: Preces Biblicae, ad illustrissimum V. Henricum Ludovicum Habertum Montmorum. N. Jarry scripsit, anno domini 1641. N° 535: Recueil de poésie sans titre, dit „Recueil Pierre des Noyer“ [Contient des pièces intitulées „La Guirlande de Julie“]. N° 666: Recueil de poésie sans titre [Avec les armes de Maximilien de Béthune, duc de Sully, grand-maître de l’artillerie]. N° 777: Recueil de poésie sans titre, dit „Album d’Honorée de Bussy“. N° 1286: Panégyrique de Monseigneur le Duc de Guise, pair et grand chambellan de France par Monsieur de la Serre, conseiller ordinaire du Roy en tous ses conseils et son hisoriographe. Paris, escript par N. Jarry, Parisien, 1656. N° 105: Exercice du Chrestien, escrit par N. Jarry, 1644. N° 541: Le Temple de la Gloire. N. Jarry Paris, scripsit 1646. Gedruckte Quellen ‚In ewiger Freundschaft‘. Stammbücher aus Weimar und Tübingen. Ausstellungskatalog. Hg. vom Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen 2009. Colombey, Emile, La Journée des Madrigaux, suivie de la Gazette de Tendre (avec la Carte de Tendre) et du Carnaval des Pretieuses. Paris, Aubry 1856. Guazzo, Stefano, La Civil conversatione del signor Stephano Guazzo, Gentilhuomo di Casale di Monferrato, divisa in quattro libri. Brescia, Tomaso Bozzola 1574. Guazzo, Stefano, La Ghirlanda della contessa Angela Bianca Beccaria. Contesta di Madrigali di diversi Autori. Raccolti, & dicchiarati dal Sig. Stefano Guazzi, Gentil’huomo di Casale di Monferrato. Que s’introducono diverse persone à ragionare, nella prima giornata delle Frondi, seconda de’ Fiori, terza de’ Frutti intrecciati in essa Ghirlanda. Genua, per gli heredi di Girolamo Bartoli 1594. Guazzo, Stefano, Lettere del signor Stefano Guazzo, Gentilhuomo di Casale di Monferrato. Ordinate sotto i Capi seguenti. Di Ragguagli. Di Lode. Di Raccommandatione. Di Essortatione. Di Ringratiamenti. Di Congratulatione. Di Scusa. Di Consolatione. Di Complimenti Misti […]. Vinegia, Barezzo Barezzi 1606 [erstmals 1590]. Huetiana ou pensées diverses de M. Huet, evesque d’Avranches. Paris, chez Jacques Estienne, 1722. Iardin d’hyver ou Cabinet des fleurs […], par Jean Franeay. Douay, Pierre Borremans 1616. Biblio17_204_s005-419End.indd 361 11.06.13 10: 11 <?page no="362"?> 362 Bibliographie La Guirlande de Julie, offerte à Mlle de Rambouillet, Julie-Lucine d’Angenes [sic], par M. le marquis de Montausier; avec une notice par M. de Gaignières. Paris, Imprimerie de Monsieur 1784. La Guirlande de Julie, offerte à Mlle de Rambouillet Julie Lucine d’Angenes [sic], par le Marquis de Montausier. Paris, Didot le jeune 1818. La Guirlande de Julie. […] ornée de 30 gravures. Dessinés et peintes par Mme Legendre. Édition papier vélin double satiné. Paris, Didot le jeune 1818. La Guirlande de Julie. […] ornée de 30 gravures. Dessinés et peintes par Mme Legendre. Édition papier vélin double satiné. Paris, Didot le jeune 1818. [BNF, SMITH LESOUEF R-806; mit farbigen Illustrationen] La Guirlande de Julie. Expliquée par de nouvelles annotations sur les madrigaux et sur les fleurs peintes qui la composent, par M. Amoreux […]. Paris, Gabon 1824. La Guirlande de Julie, offerte à Mademoiselle de Rambouillet, par M. de Montausier; remarques préliminaires de Charles Nodier et une notice sur la Guirlande de Julie par M. de Gaignières. Paris, N. Delangle 1826. La Guirlande de Julie. Augmentée de documents nouveaux, publiée avec notice, notes et variantes, par Octave Uzanne. Paris, Librairie des bibliophiles 1875. La Guirlande de Julie. Augmentée de pièces nouvelles, publiée sur le manuscrit original avec une notice de Gaignières et de Bure et des notes par Ad. Van Bever. Paris, Sansot 1907 (Petite bibliothèque surannée). La Guirlande de Julie. Bois gravé de Clément Serveau. Paris, Édition de la Main- Tierce 1947. La Guirlande de Julie. Offerte à Mademoiselle de Rambouillet Julie-Lucine d’Angennes par M. le Marquis de Montausier. Édition hors-commerce réservée à tous les amis de Maurice Robert éditeur 1967. La Morlière, Adrien de, Le Premier livre des Antiquitez, histoire et choses plus remarquables de la ville d’Amiens. Paris, chez Denys Moreau 1627. La Muse Coquette ou les Délices de l’honneste amour et de la belle galanterie. Première Partie. Recueillie par le sieur Colletet. Paris, chez Jean-Baptiste Loyson […] 1665. La vie de M. le