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Versöhnung oder Subversion?

Deutsch-französische Verständigungs-Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit

1022
2014
978-3-8233-7728-3
978-3-8233-6728-4
Gunter Narr Verlag 
Hans Manfred Bock

Mit dem vorliegenden Buch erscheint der dritte und letzte Band einer Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen und kulturellen Kontakt- und Kenntnisvermittler zwischen Deutschland und Frankreich in den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten. In den deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit gab es vielfältige Verständigungsinitiativen, die eine wichtige Erfahrungsgrundlage für die Neugestaltung der bilateralen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg wurden. In den verständigungspolitischen Organisationen und Netzwerken der Jahre 1919 bis 1939 waren (teilweise widersprüchliche) Motive mit friedens-, kultur- und wirtschaftspolitischer Zielsetzung am Werke, die hier erstmals überschaubar gemacht werden von dem Autor, der mit seinen Arbeiten seit Jahrzehnten maßgeblich zur Erforschung der zivilgesellschaftlichen Dimensionen der deutsch-französischen Beziehungen beigetragen hat. Eine umfassende bibliographische Zusammenstellung der bisher vorliegenden Studien zu Einzelaspekten der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen 1919-1939 und ein Index der Personennamen aller drei Bände erhöhenden Gebrauchswert des vorliegenden Abschlussbands.

<?page no="0"?> edition lendemains 30 Hans Manfred Bock Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs-Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit <?page no="1"?> Ve VV rsöhnung oder Subversion? <?page no="2"?> edition lendemains 30 herausgegeben von Wo WW lfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Hans Manfr ff ed Bock Ve VV rsöhnung oder Subversion? Deutsch-fr ff anzösische Ve VV rständigungs-Organisationen und -Netzw zz e ww rke der Zw ZZ ischenkriegszeit <?page no="4"?> Bibliografi ff sche Info ff rmation der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi ff e; detaillierte bibliografi ff sche Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufb ff ar. Fotos auf dem Umschlag (von oben): 1. Gruppe von Te TT ilnehmern an einer Pontigny-Dekade von 1922 (von links nach rechts: Edmond Jaloux, André Gide, Jean Schlumberger, Ro RR bert du Tr TT az, Ro RR ger Martin du Gard, Maria van Ry RR sselberghe). © Archives Pontigny-Cerisy. yy 2. Pressekonfe ff renz von Gustav aa Stresemann 1926 in Locarno im Kreise seiner Berater (dritter von rechts Edgar Stern-Ru RR barth). Entnommen aus: Edgar Stern-Ru RR barth : 3 Männer suchen Europa, Wi WW lli We WW ismann Ve VV rlag, München 1948. 3. Aufm ff arsch des »Großdeutschen Bundes« der Jugendbewegung in Munsterlager (Lüneburger Heide) 1933. © Archiv der deutschen Jugendbewegung, Nachlass Julius Groß. 4. Aufm ff arsch der deutschen und fr ff anzösischen Kriegsveteranen in Freiburg i.B. 1937. Vo VV rlage: Stadtarchiv Freiburg M 75/ 1. © 2014 · Narr Francke Attempto Ve VV rlag GmbH + Co. KG KK Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das We WW rk einschließlich aller seiner Te TT ile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ve VV rwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ve VV rlages unzulässig und strafb ff ar. Das gilt insbesondere fü ff r Ve VV rvielfä ff ltigungen, Übersetzungen, Mikroverfi ff lmungen und die Einspeicherung und Ve VV rarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefr ff eiem und alterungsbeständigem We WW rkdruckpapier. Internet: http: / / ww ww w ww . ww narr.de E-Mail: info ff @narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6728-4 <?page no="5"?> In memoriam Nicole Racine (1940 - 2012) Michel Trebitsch (1948 - 2004) <?page no="7"?> 7 Inhalt Vorwort ............................................................................................................ 9 I. Dimensionen und Konzepte transnationaler Gesellschafts- und Kulturbeziehungen .................................................................. 11 II. Deutsche Liga für Menschenrechte und Ligue des Droits de l’Homme von 1915 bis 1933 ........................................... 33 III. Union pour la Vérité und Décades de Pontigny von 1922 bis 1939 ............................................................................... 69 IV. Deutsch-Französische Gesellschaft von 1926 bis 1934 ............ 111 V. Ligue d'Etudes Germaniques von 1928 bis 1936 ....................... 159 VI. Deutsch-Französische Gesellschaft und Europäischer Zollverein von 1925 bis 1933 ......................................................... 175 VII. Deutsch-Französische Gesellschaft der Nationalsozialisten und Comité France-Allemagne von 1935 bis 1939 .................... 203 VIII. Deutsch-Französisches Studienkomitee (Mayrisch-Komitee) von 1925 bis 1930 ....................................... 285 IX. Colpacher Kreis als Netzwerk der Eliten zwischen Luxemburg, Frankreich und Deutschland von 1917 bis 1939 ............................................................................. 311 X. Austauschstrukturen der Avantgarde zwischen Berlin und Paris von 1925 bis 1936 .......................................................... 361 XI. Deutsch-Französische Union/ Union franco-allemande 1938 bis 1940 ..................................................................................... 405 XII. Studien zu den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit............................. 487 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................ 645 Nachweis der Erstveröffentlichung........................................................ 647 Namensindex .............................................................................................. 649 <?page no="9"?> 9 Vorwort Mit dem vorliegenden dritten Band zu den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit kommt ein längerfristiges Forschungsprojekt zum (einstweiligen) Abschluß, das aus dem wissenschaftlichen Engagement und lebensgeschichtlichen Verkehr zwischen Deutschland und Frankreich entstand. Der Verfasser gehört zu der Generation, die (im Zweiten Weltkrieg geboren) seit einem halben Jahrhundert versucht, die Entwicklung des Nachbarlandes und der deutsch-französischen Beziehungen als teilnehmender Beobachter zu enträtseln und mitzuformen. Aus diesem Anspruch entsprang seine 25-jährige Mitherausgeberschaft der Zeitschrift „Lendemains“, eine Tätigkeit, der er zahlreiche Anregungen und Mühen verdankt. Der vorliegende Band ist den französischen Kollegen gewidmet, die (annähernd zur selben Generation gehörend) für die Aufgabe der kritischen Erhellung der extremen Widersprüchlichkeiten und Aporien der Zwischenkriegsperiode von ihrem Arbeitsfeld der Intellektuellengeschichte her verdienstvoll beigetragen haben. Über die gemeinsame Arbeit an dem Forschungsprojekt wuchs eine freundschaftliche Kollegialität heran, die im Wissenschaftsbetrieb der deutsch-französischen Gegenwartsbeziehungen noch keineswegs zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Dank gebührt all denjenigen, die an der technischen Herstellung dieses Bandes mitgearbeitet haben. Stellvertretend auch für andere Mitarbeiter gilt dieser Dank Katharina Hirsch, ohne deren hilfreiche Geduld das Buch nicht zustande gekommen wäre. Mit der Erstellung des Namensregisters für die drei Bände hat sich Janina Konopatzki verdient gemacht. Als Berater in Fragen der elektronischen Datenverarbeitung stand mir wiederum Johannes Hocke hilfreich zur Seite. Dank gebührt schließlich auch den Verlagen, die ihre Einwilligung zum überarbeiteten Wiederabdruck bei ihnen erschienener älterer Texte dieses Buchs gegeben haben. Kassel, den 1. August 2014 Hans Manfred Bock <?page no="11"?> 11 I . Dimensionen und Konzepte transnationaler Gesellschafts- und Kulturbeziehungen Geschichtspolitik entscheidet über das, was in einer Gesellschaft von ihren Mitgliedern aus der Historie für erinnerns- und wissenswert gehalten wird. Von ihr werden die Themenkonjunkturen der wissenschaftlichen Arbeit in aller Regel stark beeinflusst. Das gilt in besonderem Maße für die historischen Dimensionen der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Rahmen der neu belebten Europapolitik der französischen und der bundesdeutschen Regierungen seit den späten 1970er Jahren, vor allem aber unter dem Eindruck der deutschen Vereinigung von 1989 und der von ihr stimulierten Institutionalisierungsschritte der europäischen Integration im nachfolgenden Jahrzehnt wurde das Forschungsinteresse in Frankreich wie in Deutschland hingeführt auf die Aufgabe einer europäischen Sozialgeschichte. Dieser Aufgabe stellten sich die Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaftler beider Länder mit den Fragestellungen, Erkenntnis-Interessen und -Verfahren, die sie aus ihren national geprägten Wissenschafts-Kulturen und -Gemeinschaften mitbrachten. 1 In enger Verbindung und Wechselwirkung mit diesem Konstituierungsvorgang einer europäischen Sozialgeschichte (der immer noch im Stadium fortgeschrittenen Anfangs steht) konnte sich in den letzten rund 25 Jahren das Forschungsfeld der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit positionieren und etablieren. Es war von Anfang an pluridisziplinär definiert und im deutschfranzösischen Vergleich in unterschiedlichem Maße in der Praxis pluridisziplinär eingebunden. In Frankreich nahmen sich die Vertreter der „civilisation“- Komponente in der Hochschulgermanistik des Themenfeldes „Deutsch-Französische Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit“ teilweise federführend an. In den französischen Geschichtswissenschaften blieb das gouvernementale Handeln im Zentrum des Forschungsinteresses; dieses öffnete sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts jedoch fortschreitend dem Themenbereich der soziokulturellen Interaktion zwischen den Nationen. 2 In Deutschland kam es nicht zu 1 Cf. Dazu Rainer Hudemann, Hartmut Kaelble, Klaus Schwabe (ed.): Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert. Bewusstsein und Institutionen, München 1995. René Girault (ed.): Identité et consciences européennes au XX ℮ siècle, Paris 1994. 2 Z. Bsp. René Girault, Gérard Bossuat (ed.): Europe brisée, Europe retrouvée. Nouvelles réflexions sur l’unité européenne au XX ℮ siècle, Paris 1994. Gérard Bossuat (ed.): Inventer l’Europe. Histoire nouvelle des groupes d’influence et des acteurs de l’unité européenne, Brussel 2003. <?page no="12"?> 12 einer vergleichbaren Symbiose zwischen Geschichtswissenschaften und Romanistik, 3 wohl aber zu thematischen Schnittflächen und Berührungspunkten zwischen zeitgeschichtlicher, sozialwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit. Die wissenschaftsorganisatorischen Unterschiede und die epistemologischen Gleichläufigkeiten in der neuesten Entwicklung der europäischen und bilateralen Vergleichs- und Beziehungsforschung zeichnet sich deutlich ab in der Zusammensetzung bzw. den Themenpräferenzen der beiden Sektionen des Deutsch-Französischen Historikerkomitees/ Comité franco-allemand des historiens, das 1988 von deutschen und französischen Zeithistorikern ins Leben gerufen wurde. Dies Komitee ist eine privatrechtliche, binationale Vereinigung „deutscher und französischer Historiker sowie Wissenschaftler benachbarter Fachrichtungen, die mit geschichtswissenschaftlichen Metho-den arbeiten.“ 4 Im Programm der Kongresse der binationalen Vereinigung hat der Arbeitsbereich der bilateralen Vergleichs- und Beziehungsforschung inzwischen einen festen, wenngleich auch keinen hervorgehobenen Platz eingenommen. Etwa gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit des Deutsch-Französischen Historikerkomitees (aber ohne korporative Verbindung mit demselben) entstand im außenkulturellen Zusammenhang die Initiative der Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und des dortigen Institut d’Histoire du Temps Présent (IHTP) für die Veranstaltung eines Großkolloquiums zum Thema der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Mit dieser Initiative wurde der Versuch gewagt, die hochkomplexe und kontroverse Vorgeschichte des nationalsozialistischen Okkupationsregimes von der Ebene der vordiplomatischen, soziokulturellen Beziehungen her zu erhellen und zum eigenständigen Thema zu erheben. Das war umso dringender und wichtiger, weil die damals vorherrschende Zeitgeschichtsforschung zum Vichy-Regime 5 in vielfacher Weise auf die beiden Zwischenkriegs-Jahrzehnte zurückverwies und weil die Gesellschafts- und 3 Dazu Roland Höhne: „Die Diskussion um die Landeskunde in der deutschen Romanistik seit den 1970er Jahren“, in: Michel Grunewald, Hans-Jürgen Lüsebrink, Reiner Marcowitz, Uwe Puschner (ed.): France-Allemagne au XX ℮ siècle. La production de savoir sur l‘autre (vol. 1). Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Akademische Wissensproduktion über das andere Land (Bd. 1), Bern 2011, p. 55-68. Komplementär dazu Hans- Jürgen Lüsebrink: „Frankreichforschung und deutsch-französische Beziehungen in der (Franko-) Romanistik“, in: Ibidem, p. 69-96. 4 Cf. Reiner Marcowitz: „Das Deutsch-Französische Komitee für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte im 19. Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichtswissenschaft? “, in: ID., Michel Grunewald, Hans-Jürgen Lüsebrink, Uwe Puschner (ed.): France-Allemagne au XX ℮ siècle. La production de savoir sur l‘autre (vol. 3). Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Akademische Wissensproduktion über das andere Land (Bd. 3), Bern 2013, p. 85-106. 5 Cf. Philippe Burrin: La dérive fasciste: Doriot, Déat, Bergery 1933-1945, Paris 1986. Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1987. <?page no="13"?> 13 Kulturgeschichte dieser Zeitspanne in den 1980er Jahren zum Gegenstand heftiger nationaler Kontroversen geworden war. 6 Die konzeptionelle Vorbereitung des Pariser Kolloquiums und die publizistische Auswertung seiner Ergebnisse wurde der Obhut engerer und weiterer Mitarbeiter des IHTP (Michel Trebitsch und Nicole Racine vom Politikwissenschaftlichen Institut IEP - Paris) sowie Reinhart Meyer-Kalkus (Leiter des DAAD - Büros in Paris, und dem Autor des vorliegenden Buches (Politikwissenschaften Universität Kassel) anvertraut. Das Buch („Entre Locarno et Vichy“, 1993), das aus dieser Kooperation hervorging, wurde in der Folgezeit zum (längst vergriffenen) Standardwerk, zur Basis anhaltender Zusammenarbeit der Beteiligten 7 und zur Motivationsgrundlage für die fortgesetzte Arbeit und Beobachtung zu den Forschungsaktivitäten in diesem Forschungsfeld. Ob dieses Themenfeld auch ein Forschungsfeld mit expliziten epistemologischen Kategorien ist oder ein Ensemble von historischen Quellenparaphrasierungen ohne greifbare Erkenntnisabsicht, das ist heute wie vor 25 Jahren eine berechtigte Frage. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre stellte sich das Problem der übergreifenden Leitfragen, die geeignet erschienen, die Vielfalt der offensichtlich zusammengehörigen Detailstudien zu bündeln und zum Gegenstand gegenwartsrelevanter Erkenntnisbemühungen zu machen. Im Kontext des Pariser Kolloquiums wurde dies Problem erst einmal angegangen mit der akteursbezogenen Leitfrage nach den Vektoren zwischenstaatlicher Gesellschafts- und Kulturbeziehungen. Es galt, die Entstehungsbedingungen, Handlungsstrategien und Wirkungsweisen der gesellschaftlichen Träger national grenzüberschreitender Begegnungs- und Austauschaktivitäten zu klären. Diese Erkenntnis- und Zielsetzung ging teilweise in die Gliederung des Buches ein, das die Ergebnisse des Pariser Kongresses präsentierte. Für die Konstituierung des Themenfeldes „Deutsch-Französische Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit“ als Forschungsfeld schien es angezeigt, die jeweils immanente Logik der Akteursebenen Privatpersonen, offiziöse Vereine und offizielle Kulturinstitutionen zu unterscheiden und die Ansatzpunkte ihres Zusammenwirkens im Strom zwischennationalen Kulturaustauschs darzu- 6 Die insbesondere um das Buch entbrannt waren: Zeev Sternhell: Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Bruxelles 1987. Cf. dazu auch Hans Manfred Bock: „La crise des idéologies et l’idéologie de la crise. Les chassés-croisés idéologiques et la recherche de la ‚troisième voie’ en France et en Allemagne“, in: Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droite: les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’entre-deux-guerres, Talence 1995, p. 299-311. 7 Dies insbesondere im Bereich der Intellektuellenforschung. Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Zur Überwindung nationaler Begriffsmodellierung des Intellektuellen. Neukonzeptualisierungen in Frankreich und ihre deutschen Filiationen“, in: Christiane Solte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling (ed.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutschfranzösischer Perspektive, Stuttgart 2013, p. 195-209. <?page no="14"?> 14 stellen. 8 Es wurde deutlich, dass im 20. Jahrhundert der Gesellschafts- und Kulturaustausch zwischen Nationen nicht mehr allein von gouvernementalen und gesellschaftlichen Eliten befördert wurde, sondern dass die soziokulturellen Vereine, Bewegungen und Zusammenschlüsse in zunehmendem Umfang zu den Initiatoren grenzüberschreitenden Gesellschafts- und Kulturverkehrs avancierten. Diesem neuen Sachverhalt trug ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur die offizielle Auswärtige Kulturpolitik (besonders zwischen Deutschland und Frankreich) Rechnung, 9 sondern auch in den zuständigen Geistes- und Sozialwissenschaften wurden seit den 1990er Jahren in der Folge des „cultural turn“ die konzeptuellen Suchraster neu eingestellt. Ein weiterer Impuls für das Forschungsinteresse an den nicht-gouvernementalen Akteuren in den internationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen kam in den 1990er Jahren aus der breit entfalteten Diskussion über die politische Akteurs-Kategorie der „Zivilgesellschaft“, die sich in den Umbrüchen der osteuropäischen Staaten modellhaft abzeichnete und in den westeuropäischen Ländern als demokratietheoretisches Belebungselexier aufgenommen wurde. Sie erwies sich in der Anwendung auf die bilaterale Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Frankreich als praktikabel und ermöglichte die Neubewertung soziokultureller Netzwerke der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart. 10 Die Anzahl und Qualität materialreicher Monographien, die sich auf diesen Fragenhorizont bezogen und neues Quellenmaterial erschlossen, wuchs beträchtlich seit den 1990er Jahren (und ist in Kapitel XII „Studien zu den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit“ dokumentiert). Ein parallel zu dem akteursbezogenen Ansatz seit den 1990er Jahren entwickelter Vorschlag zur Konstituierung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen als Forschungsfeld ist aus dem Bereich der germanistischen Kulturstudien in Frankreich vorgelegt worden und hat einen textwissenschaftlichen Ursprungsort. 11 In der akteursbezogenen 8 Hans Manfred Bock: „Zwischen Locarno und Vichy. Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der dreißiger Jahre als Forschungsfeld“, in: ID., Reinhart Meyer- Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles francoallemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 25-61. 9 Cf. dazu Bd. 2 dieser Monographie: Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010, p. 269sq.: „Vom Elitenaustausch zur zivilgesellschaftlichen Gruppenbegegnung“. 10 Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: ID. (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, p. 11-120. 11 Cf. Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII ℮- XIX ℮ siècle), Paris 1988. Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Qu’est-ce qu’une littérature nationale? Approches pour une théorie interculturelle du champ littéraire, Paris 1994. Michel Espagne: Le paradigme de l´étranger. Les chaires de littérature étrangère au XIX ℮ siècle, Paris 1993. <?page no="15"?> 15 Forschungskonzeption stehen die Urheber, Motive und Formen des zwischennationalen Austauschs im Mittelpunkt des Interesses, vorangig also die Produzenten der Begegnungsvorgänge. In der transferzentrierten Konzeption stehen die offensichtlichen oder uneingestandenen Verschränkungs- und Verfugungsaspekte beider Nationalkulturen (métissage bzw. imbrications) in den kulturellen Artefakten zu oberst, in erster Linie also die hybriden Eigenschaften der Produkte von Austausch- und Begegnungsvorgängen. 12 Auch dieser transferzentrierte Ansatz ist, vornehmlich in den Text- und Kulturwissenschaften, vielfach erprobt worden und hat seit den 1990er Jahren mit einer größeren Zahl von Studien (Schwerpunkt 18. und 19. Jahrhundert) zur komparatistischen Öffnung der Germanistik beigetragen. Als Teil dieser transferorientierten Studien ist die kritische Neubelebung der Fachgeschichte (der Germanistik in Frankreich und der Romanistik in Deutschland 13 ) zu sehen. Das auf diesen Wegen in Umlauf gebrachte Konzept des „Transfers“ ist inzwischen zum Allerweltsbegriff geworden („Transferstudien“) und bedarf als solcher der weiterführenden kritischen Erörterung. 14 Gemeinsam ist der akteurszentrierten und der transferorientierten Konzeption des Studiums zivilgesellschaftlicher Beziehungen zwischen Nationen die Abkehr vom Begriff des „Einflusses“ einer Nationalkultur auf die andere, der seit Generationen das Nachdenken, zum Austausch- und Beziehungsverkehr über die nationalen Grenzen hinweg beherrscht. Die „Einfluss“- Theoreme fanden ihre Legitimation vor allem im geisteswissenschaftlichen Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bestimmten weitgehend die frühen Entwürfe gouvernementaler Auswärtigen Kulturpolitik. 15 Sie unterstellten die Existenz von „Nationalgeist“ und „Nationalcharakteren“ und waren geeignet, die wechselseitige Einwirkung derselben in friedlicher oder feindlicher Absicht zu rechtfertigen und zu fördern. In jedem Fall vollzogen sich in diesem Denken die grenzüberschreitenden Übertragungsvorgänge gleichsam hinter dem Rücken der Akteure und auf unbestimmbaren Transferwegen. Im Gegensatz zu dieser naiven Vorstellung vom Aufeinanderwirken von Nationalkulturen gehen 12 Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. 13 Dazu: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900- 1970), Paris 1994. Frank-Rutger Hausmann: Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, Frankfurt/ Main 2011. 14 Ansätze und Anregungen dazu in: Hartmut Kaelble, Jürgen Schriewer (ed.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ Main 2003. Hans-Jürgen Lüsebrink (ed.): Interkulturelle Kommunikation. Interaktion - Fremdwahrnehmung - Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar 2005. Christiane Solte- Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling (ed.): Zwischen Transfer und Vergleich, op. cit. 15 Die kritische vergleichende Studie zur deutschen und französischen „Nationalcharakterologie“ muß noch geschrieben werden. Cf. zu dieser Aufgabe Manfred Beller, Joep Leersen (ed.): Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey, Amsterdam 2007. <?page no="16"?> 16 die akteurs- und transferbezogenen Ansätze davon aus, dass Nationen keine beziehungslose Monaden sind, sondern sich erst durch Verkehr und Kommunikation miteinander konstituieren und fortlaufend verändern. Die Argumentation beider Ansätze folgt damit dem Gang der Nationalismus- Forschung, die unter dem Einfluss der soziologischen Denkweise im 20. Jahrhundert von einer essentialistischen zu einer konstruktivistischen Auffassung von Nationen verlief. 16 Der Unterschied beider Konzeptualisierungsansätze zum Erkennen und Verstehen des soziokulturellen Austauschs zwischen Nationen liegt vor allem darin, dass in den Transferstudien die Akteursebene zwar zur Kenntnis genommen, aber kulturanthropologisch enthistorisiert und damit verkürzt wird. Für die historisch-soziologisch angeleiteten Akteursstudien liegt die erkenntnispragmatische Herausforderung hingegen gerade darin, die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen soziokulturellen Verkehrs zwischen Nationen möglichst genau zu erfassen. So begnügen sich prominente Transferstudien damit, vom 18. bis zum 20. Jahrhundert weitgehend gleichbleibende Einzelpersonen und Berufsgruppen als Vektoren soziokultureller Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland festzustellen, die jeweils durch Migrationsbewegungen ins andere Land gelangten. 17 Es mag plausibel sein, Einzelpersonen (Wissenschaftlern und Künstlern) und Berufsgruppen eine solche Vektorenrolle für den Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert zuzuschreiben. 18 Es wäre jedoch ganz unzulänglich, das Spektrum der treibenden Kräfte im 20. Jahrhundert auf diese beiden Akteurs-Kategorien einzuschränken. Teilweise schon vor dem Ersten Weltkrieg, in vollem Umfang aber nach 1918, bewirkten die Entwicklung der Verkehrs- und Nachrichten-Technologien, aber auch die Expansion des gesellschaftlichen Vereinswesens in beiden Ländern eine ganz neue Konstellation für die deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen: Es entstanden erste Ansätze multilateraler Kulturinstitute (Institut International de Coopération Intellectuelle), die nationalen Außenministerien bauten ihre Kulturabteilungen aus und schufen Organisationen der Auswärtigen Kulturpolitik (Office National des Universités et Ecoles Françaises, Deutscher Akademischer Austauschdienst u.a.); es entstanden europäische Bewegungen und Organisationen in Verbindung mit ökonomischen Interessen und bilateral angelegte Verstän- 16 Cf. Hans Manfred Bock: „Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibung“, in: ID.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 11-37. 17 Cf. Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands, op. cit., p. 27 sq. 18 Z. Bsp. Espagne, Werner (ed.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII e - XIX e siècle), op. cit. Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt (ed.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770-1815, Leipzig 1999, 2 Bde. Zur konzeptuellen Debatte Solte-Gresser, Lüsebrink, Schmeling: Zwischen Transfer und Vergleich, op. cit. <?page no="17"?> 17 digungsorganisationen in Verbindung mit bildungsbürgerlichen Interessen. 19 Einzelpersonen und Berufsgruppen spielten auch in dieser neuen deutsch-französischen Beziehungskonstellation eine Rolle, waren jedoch in einem komplexen Institutionen- und Organisations-Kontext eingebunden, der ihrem Gestaltungswillen Möglichkeiten bot und Grenzen setzte. Insgesamt erscheinen diese neuartigen Vektoren grenzüberschreitenden Gesellschafts- und Kulturtransfers aus der Sicht der Gegenwart als Vorbereiter und Antriebskräfte transnationaler Überformung heutiger Staaten und Länder, die in den letzten 25 Jahren in den Mittelpunkt zahlreicher Analysen getreten ist. Nach der differenzierenden Freilegung unterschiedlicher Akteursebenen im internationalen Verkehr und nach der Entdeckung der Zivilgesellschaft als Movens zwischenstaatlicher Kontakt- und Kenntnisvermittlung zeichnet sich in den Beobachtungen und Überlegungen zur „Transnationalisierung“ ein weiterer und zukunftsträchtiger Schritt ab für die Konstituierung des Forschungsfeldes „Gesellschafts- und Kulturbeziehungen“ im übernationalen Kontext. Die laufende Diskussion über „transnationale Vergesellschaftung“ steht im inneren Zusammenhang mit der seit den 1980er Jahren konstatierten „postnationalen Konstellation“, in der sozioökonomische und soziokulturelle Verflechtungen zwischen Nationen von der bahnbrechenden Ausnahme zur unverzichtbaren Regel geworden sind. 20 Unter „Transnationalisierung“ wird in diesem Zusammenhang „weniger das Ergebnis als vielmehr die Dynamik von Vergesellschaftung als etwas Prozeßhaftes“ verstanden: „Transnationalisierung ist dabei ein historisch nicht völlig neuer, wohl aber in den verschiedenen Dekaden im Kontext zunehmender internationaler Bewegungen von Gütern, Menschen und Informationen sich ausweisender Prozeß der Herausbildung relativ dauerhafter und dichter pluri-lokaler und nationalstaatliche Grenzen überschreitender Beziehungen von sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten. Diese emergenten grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Formationen können eine vorwiegend ökonomische, soziale, kulturelle oder politische Dimension haben - in aller Regel ist ihre Dynamik aber durch die komplexe Wechselwirkung zwischen diesen Dimensionen bestimmt.“ 21 Diese Leitfrage der Transnationalisierung ist anschlussfähig an die vorab dargestellten Perspektiven der Akteursidentifizierung und der zivilgesellschaftlichen Handlungsebene in den „zwischenstaatli- 19 Als Überblick Hans Manfred Bock: „Das virtuelle Europa. Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit“, in: Lothar Albertin (ed.): Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union, Tübingen 2010, p. 31-54. 20 Hans Manfred Bock: „Transnationalisierung als zeitdiagnostisches Kennwort und zeitgeschichtliches Konzept für die deutsch-französischen Beziehungen“, in: Corine Defrance, Michael Kißener, Pia Nordblom (ed.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen 2010, p. 349-377. 21 Ludger Pries: Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialstruktur jenseits von Nationalgesellschaften, Frankfurt/ Main 2008, p. 44sq. <?page no="18"?> 18 chen Gesellschaften“, wie man in der Sprache der diplomatischen Akten der Zwischenkriegszeit diese neuen Handlungsträger im Bereich der interkulturellen Beziehungen zwischen Nationen nannte. Wenn man lange Zeit diesen neu entstehenden Vektoren transnationaler Begegnung und Kommunikation in den zuständigen Wissenschaften kaum mehr als beiläufige Beachtung zubilligte, so lag das wesentlich daran, dass man nicht über angemessene Leitfragen verfügte, die den Erkenntniswert der entsprechenden Dokumentationsbestände zu erschließen vermochten. Diese Leitfragen sind heute formulierbar und ermöglichen in Gestalt der Akteursdifferenzierung, der zivilgesellschaftlichen Wirkungsmechanismen und der Transnationalisierungs-Vorgänge konkrete Dimensionen und Konzepte des soziokulturellen Austauschs zwischen Nationen zu benennen. Angesichts der Vervielfältigung der Akteursebenen, der Aktivierung zivilgesellschaftlicher Kräfte und der unaufhaltbaren transnationalen Verflechtung von Interessen und Problemen im ausgehenden 20. Jahrhundert büßt der rein kulturwissenschaftliche Transfer-Begriff seine heuristischen Qualitäten und Leitfunktionen weitgehend ein. Er bedarf der Erweiterung, verdient jedoch keineswegs die Eliminierung aus dem Begriffsinventar des Forschungsfeldes „Gesellschafts- und Kulturbeziehungen“ bzw. generell der Erforschung des soziokulturellen Austauschs zwischen Nationen oder übernationalen Einheiten. Als angemessen komplexer Substitutionsbegriff liegt den in diesem Band (und in den beiden vorangegangenen Bänden) versammelten Studien die Kategorie der „Transaktion“ zugrunde, die spätestens seit der Jahrhundertwende in der „Transnationalen Geschichtsschreibung“, in der Soziologie der „transnationalen Vergesellschaftungsformen“ und in der politikwissenschaftlichen Befassung mit den transnationalen Gesellschaftsgrundlagen des internationalen Staatensystems zum Gegenstand eingehender Forschungsarbeit geworden ist. 22 Die „Transaktions“-Kategorie ist bezogen auf das nationalstaatliche Grenzen überschreitende Handeln von Einzelpersonen, Organisationen und Institutionen. Sie schließt ein die Komplementärsaspekte der wechselseitigen Wahrnehmung der involvierten Akteure (Perzeption) und deren Funktion als Agenten der Übernahme fremdnationaler Hervorbringungen in Gesellschaft und Kultur (Rezeption). Im Rahmen eines so verstandenen Paradigmas (Transaktion, Perzeption, Rezeption) bleibt der Akteursbezug erhalten, wird aber erweitert um die Dimensionen der handlungsbestimmenden Wahrnehmung und der selektionsgesteuerten Aneignung soziokultureller Muster des transnationalen Interaktionspartners. Durch alle drei Dimensionen transnationalen Gesellschafts- und Kulturverkehrs reicht der historisch wandelbare Interessen- Begriff hindurch, der in den rein diskursanalytischen Transfer-Studien in der Regel unter die Räder kommt. Auch der kritische Einwand der „Unili- 22 Dazu resümierend Bock: „Transnationalisierung“, loc. cit., p. 351-360. <?page no="19"?> 19 nearität“, der zu den Transfer-Studien erhoben wurde, 23 trifft auf das Transaktions-Paradigma nicht zu, da in ihm Interaktivität, Reziprozität und Mehrdimensionalität konstitutive Merkmale sind. Die drei heuristischen Kategorien des Transaktions-Paradigmas (Akteursebene, Perzeption und Rezeption) sind gleichermaßen abgeleitet aus der theoretischen Reflexion wie aus der praktischen Arbeit im Bereich der transnationalen Begegnung und Kommunikation zwischen Deutschland und Frankreich der jüngsten Jahrzehnte. 24 Sie sind auf dem halben Wege zwischen einer weithin theoriefernen Praxis auswärtiger Kulturpolitik 25 und einer weiterreichenden wissenschaftlichen Konzeptualisierung dieses Politikfeldes 26 angesiedelt. Das Forschungsfeld der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert ist mit der Kategorie Transaktion im hier vorgestellten Sinne weitgehend erschließbar unter der Voraussetzung, dass man die Konzeptangebote mehrerer geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen sinnvoll heranzieht und zusammenfügt. Das soll im Folgenden beispielgebend versucht werden, indem zu jeder Dimension der Transaktions-Kategorie (Akteursformen, Wahrnehmungsmuster, Rezeptionswege) verfügbare (oder wünschenswerte) Konzepte erörtert werden. Von den drei Ebenen der Akteursdimension (private, offiziöse und offizielle Initiativen) fand in den wissenschaftlichen Arbeiten zum transnationalen Gesellschafts- und Kulturaustausch lange Zeit die dritte Handlungsebene, diejenige der gezielten Einflußnahme der politischen Administration, bevorzugte Beachtung. Diese Schwerpunktsetzung kennzeichnet die Pionierarbeiten zur Auswärtigen Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich. 27 Sie hängt ursächlich zusammen mit der Notwendigkeit der (weit- 23 Anke Bosse: „Interkulturalität - von ‚Transfer’ zu ‚Vernetzung’“, in: Christiane Solte- Gresser e.a. (ed.): Zwischen Transfer und Vergleich, op. cit., p. 65-78. 24 Zu den forschungs- und lehrpraktischen Herausforderungen cf. jetzt meinen Beitrag: „Transnationale Kompetenz. Theoretische und praktische Implikationen eines Leitbegriffs landeswissenschaftlicher Studien“, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Jérôme Vaillant(ed.): Civilisation allemande / Landes-Kulturwissenschaft Frankreichs. Bilan et perspectives dans l’enseignement et la recherche. Bilanz und Perspektiven in Lehre und Forschung, Villenenve d’Ascq 2013, p. 229-246. 25 So die Politikwissenschaftler Volker Riltberger, Verena Andrei: „Macht, Profit und Interessen. Auswärtige Kulturpolitik und Außenpolitiktheorien“, in: Kurt Jürgen Maaß (ed.): Kultur und Außenpolitik, Baden-Baden 2005, p. 31-52. 26 In diese Richtung zielen in der neueren Literatur die Sammelbände, die einschlägige Fallstudien vereinen und deren konzeptuelles Angebot weit auseinander liegt: Anne Dulphy, Robert Frank, Marie-Anne Matrard-Bonucci, Pascal Ory (ed.): Les relations culturelles internationales au XX e siècle. De la diplomatie culturelle à l’acculturation, Bruxelles, Bern 2010. Johannes Paulmann (ed.): Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln, Weimar 2005. 27 Albert Salon: L’Action culturelle de la France dans le monde, Paris 1983. Manfred Abelein: Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, Köln, Opladen 1969. Kurt Düwell: Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln 1976. <?page no="20"?> 20 gehend juristischen) Abgrenzung des neuen Politikfeldes, das in beiden Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gestalt annahm. Im Mittelpunkt dieser Klärungsversuche standen die Fragen der Kompetenz- und der Ressourcen-Verteilung zwischen den drei Akteurstypen, ein Fragenkomplex, der aufgrund des Kulturföderalismus in Deutschland besonders schwierig aufzulösen ist. 28 Aber auch in Frankreich, dessen zentralstaatliche Struktur dies Problem weniger umständlich zu überwinden erlaubte und das in der administrativen Institutionalisierung der Auswärtigen Kulturpolitik Deutschland immer einige Schritte voraus war, ist die Mehrschichtigkeit der Akteursebenen niemals aufgehoben worden. Bereits eine der Pionierstudien zur Geschichte dieses Politikfeldes kommt zu dem Schluß: „Au terme de ces développements sur les acteurs privés on ne peut que constater que, quel que soit le titre, principal ou accessoire, auquel ils contribuent á notre action culturelle dans le monde, ce sont eux qui, au total, en assurent la plus grande part.“ 29 In der weiteren Entwicklung der Forschung zu den transnationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen stellt der langjährige Leiter des IHTP mit Rückbezug auf diese These in der Gegenwart eine fortgeschrittene Kenntnis der verschiedenen Akteursebenen und ihrer Verschränkung fest. Man unterscheide zu Recht zwischen „politique culturelle“ und „action culturelle“ im zwischenstaatlichen Bereich. Die (auswärtige) Kulturpolitik sei Sache des Staates, der relativ präzise Interessen damit verbinde wie Macht, Einfluß, Zusammenarbeit und Sichtbarkeit im Ausland. Die Kulturbeziehungen („action culturelle“) seien Sache der Gesamtnation und ihrer Gesellschaft, deren Ziele ganz anders als die des Staates und verbunden sein könnten mit Handelsinteressen und humanitären Handlungsmotiven: „On peut conserver cette distinction, en sachant cependant que les interférences sont nombreuses, tant les Etats utilisent les acteurs, agents et médiateurs de la société civile dans leur politique culturelle, et tant les acteurs de l`action culturelle à l`extérieur font appel aux Etats pour renforcer leurs initiatives.“ 30 Die „Kulturdiplomatie“ umfasse insofern Akteure, die im Dienste der staatlichen auswärtigen „politique culturelle“ wirken und solche, die sich in den Dienst der nichtstaatlichen Kulturbeziehungen stellen. Die Kulturbeziehungen seien in der Regel nicht institutionalisiert und informellen Charakters, die Kulturpolitik sei hingegen wesentlich gouvernemental oder intergouvernemental. 31 Die 28 Cf. dazu (als Analyse und Symptom) dieser Komplexität die steuerungstheoretisch angelegte Fallstudie Karl-Sebastian Schulte: Auswärtige Kulturpolitik im politischen System der Bundesrepublik. Konzeptionsgehalt, Organisationsprinzipien und Strukturneuralgien eines atypischen Politikfeldes am Ende der 13. Legislaturperiode, Berlin 2000. 29 Albert Salon: L’Action culturelle de la France dans le monde, Thèse d’Etat, Paris I, 1981, p. 720. 30 Robert Frank: „Conclusion“, in: Anne Dulphy e.a. (ed.): Les relations culturelles internationales, op. cit., p. 670. 31 Das gilt insbesondere für die multilaterale auswärtige Kulturpolitik, die seit den Anfängen in den 1920er Jahren ein Vorrecht der gouvernementalen Akteursebene ist. <?page no="21"?> 21 in Deutschland unternommenen Studien zur Auswärtigen Kulturpolitik waren anfänglich noch ganz zentriert auf die (inter-)gouvernementale Akteursebene, widmen neuerdings jedoch auch einen Teil ihres Forschungsdesigns den zivilgesellschaftlichen Mittlern in der Auswärtigen Kulturpolitik wie z.Bsp. den Mittlerorganisationen, den Nichtregierungsorganisationen, den (Politischen) Stiftungen und den Professionalisierungstendenzen in diesem Politikfeld. 32 Wenn es schwer fiel, die nicht institutionalisierten Akteure in diesem Bereich zur Kenntnis zu nehmen, so lag eine der Hauptursachen für diese Ausblendung darin, daß die Forschung erst allmählich die Begriffe bereitstellte, die für die Aufschlüsselung dieses nicht formal verfaßten Akteurbereichs der Auswärtigen Kultur-Politik und Kultur-Beziehungen brauchbar sind. Die Entwicklung der für diese Erkenntnisarbeit zuständigen Politischen Soziologie illustriert die Schwierigkeiten bei der Abkehr vom normativen Begriffsinventar des Öffentlichen Rechts und bei der Hinwendung zu empirisch überprüfbaren Konzepten politischen Handelns. Dieser Entwicklungsgang der Politischen Soziologie verlief (in Deutschland und Frankreich phasenverschoben, aber doch vergleichbar) von der relativ frühen Anerkennung gesellschaftlicher Vereine, 33 zur späteren Akzeptanz der unentbehrlichen Funktion von politischen Parteien im demokratischen Politikprozeß, 34 zur Entdeckung der Politischen Bewegungen als Korrektiv der Parteiendemokratie 35 und schließlich zur jüngsten Aufdeckung von sozialen Netzwerken als gesellschaftliche Elementareinheiten des politischen 32 Cf. Kurt-Jürgen Maaß (ed.): Kultur- und Außenpolitik, op. cit., p. 205-240. 33 Cf. Stefan Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914, Göttingen 2003. Etienne François (ed.): Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1750-1850, Paris 1986. 34 In Deutschland wurden sie vom Öffentlichen Recht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „extrakonstitutionelle Phänomene“ angesehen. In der Verfassung anerkannt wurden sie erst im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. 35 Als frühen Konzeptualisierungsansatz der „Neuen sozialen Bewegungen“ cf. Joachim Raschke: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/ Main 1985. Cf. auch Ansgar Klein: Hans-Josef Legrand, Thomas Leif (ed.): Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Köln 1998. In Frankreich existiert keine vergleichbare Diskussion zu den Neuen sozialen Bewegungen, wie sie in Deutschland seit Jahrzehnten in dem Periodikum Forschungsjournal Soziale Bewegungen geführt wird. In der zeitgenössischen Historiographie wird diesem zivilgesellschaftlichen Phänomen vor allem in der Zeitschrift Relations Internationales Aufmerksamkeit gewidmet. Cf. z.Bsp. Jean-Claude Allain: „De la personnalité au groupe de décision : Leur pouvoir sur le cours de l’histoire internationale“, in: Relations Internationales, 1995, Nr. 83, p. 317-326. Als Beispiel für die quellengestützte Analyse der Schnittstellen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren (Bewegungen und Gruppen) und politischen Entscheidungsträgern cf. u.a. Laurence Badel: „Associations privées et Europe“, in: ID.: Un milieu libéral et européen. Le grand commerce français 1925-1948, Paris 1999, p. 131-192. <?page no="22"?> 22 Prozesses. 36 Es sind in erster Linie die Konzepte der Bewegungs- und der Netzwerks-Forschung, die zum angemessenen Verständnis des breitesten soziologischen Fundaments der transnationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen geeignet erscheinen. Die historiographischen Folgerungen aus dieser These leiten die Darstellung der vorliegenden Monographie zu den soziokulturellen deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Die Tragfähigkeit und Generalisierbarkeit dieser These zur relativen Bedeutung der Akteursebenen kann an den Fallbeispielen zu den Einzelpersonen, den Organisationen und den Institutionen ermessen werden. Sie enthält die Aufforderung zur Diskussion. Die dritte Akteursebene, diejenige der transnational wirkenden Einzelpersonen, scheint weniger kontrovers, da sie neben den gouvernementalen Vektoren grenzüberschreitenden Verkehrs als „Mittler“ am sichtbarsten in Erscheinung treten. 37 Bei der genaueren Betrachtung erweist sich jedoch auch dieser gesellschaftliche Akteurtypus als komplexes Phänomen. Er steht in variabler Wechselwirkung mit der gouvernementalen Ebene und mit den zivilgesellschaftlichen Schrittmachern des transnationalen Austauschs. Er steht ebenso in einem Austausch-, nicht aber in einem Auftragsverhältnis mit den ökonomischen und politischen Eliten der nationalen Gesellschaft, der er angehört. Im 20. Jahrhundert ist es vornehmlich die Sozialfigur des Intellektuellen, die als Einzelperson im transnationalen Verkehr wirksame Impulse zu geben vermag. Ähnlich wie für den kollektiven Typus der Bewegungen und der Netzwerke ist die Entstehungs- und Wirkungsweise dieses individuellen Akteurs in den Gegenwartsgesellschaften erst in den jüngsten Jahrzehnten in vergleichende Absicht ver- 36 Cf. Bettina Holstein: Grenzen sozialer Integration. Zur Konzeption informeller Beziehungen und Netzwerke, Opladen 2011. Jan Fuhse, Sophie Mützel (ed.): Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende in der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010. Cf. auch den Überblick in Hans Manfred Bock: „Kulturelle Netzwerke. Ihre Entstehung und Wirkung im transnationalen Verkehr“, in: Grunewald, Lüsebrink, Marcowitz, Puschner (ed.): France-Allemagne au XX ℮ siècle - La production de savoir sur l’autre (vol.1), op. cit., p. 201-219 Als Sammelband angewandter Netzwerk-Forschung cf. Christophe Charle, Jürgen Schriewer, Peter Wagner (ed.): Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt/ Main 2004. 37 Nicole Colin, Joachim Umlauf: „Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erneuerten Mittlerbegriff“, in: Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf (ed.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013, p. 69-80. Katja Marmetschke: „Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biographische Arbeiten zur Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland“; in: Lendemains. Etudes compareés sur la France, 2000, Nr. 98/ 99, p. 239-257. Hans Manfred Bock: „Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de médiateurs socio-culturels entre la France et l’Allemagne au XX ℮ siècle“, in: Revue d’Allemagne, 2001, Nr. 4, p. 101-115. <?page no="23"?> 23 deutlicht worden. 38 Die in der vergleichenden Intellektuellenforschung erprobten Konzepte der Generationszugehörigkeit, der Netzwerkeinbindung und des geistigen Itinerarium („itinéraire intellectuel“) 39 enthalten bei sinnvoller Übertragung auf das Feld der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen fruchtbare und operationalisierungsfähige Fragestellungen. Gewiß wird man für das 20. Jahrhundert den Wandlungen dieser Sozialfigur des Intellektuellen Rechnung tragen müssen, die in den Veränderungen ihrer Öffentlichkeitskanäle ihren Ursprung haben. Für die Zwischenkriegszeit waren die Universitäten und die Verlage die Königswege für den Zugang der Intellektuellen zur nationalen und internationalen Öffentlichkeit. 40 Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben sich diese Wege im Zeichen der audio-visuellen Medien verzweigt und sie haben ihr Monopol eingebüßt. 41 Man wird sinnvoller Weise die Transaktionsleistungen der Einzelpersonen im zivilgesellschaftlichen Zusammenhang unterscheiden gemäß ihrer Aktivität im hochkulturellen und im populärkulturellen Bereich. Die funktionale Statusgruppe der Intellektuellen, die charakterisiert ist durch kulturelle Kompetenz und politische Intervention, übt ihre Tätigkeit herkömmlicher Weise aus in den Sektoren Wissenschaft, Literatur und Kunst der Hochkultur. In der Populärkultur, die überwiegend außerhalb der offiziellen und offiziösen Austauschstrukturen und in enger Anlehnung an die Unterhaltungsindustrie Ideen, Moden, Verhaltensweisen und Artefakte transnational zirkulieren läßt, gibt es die Sozialfigur des Entertainers. Von ihr meinen manche Beobachter, sie stelle eine neue Art von Intellektuellen dar („Medienintellektuelle“) 42 auf die Gefahr hin, hier den historischen Intellektuellenbegriff zu überdehnen. In jedem Fall hat die transnationale Populärkultur eigene Zirkulationsagenten soziokultureller Objekte und Praktiken, die sich in der Zwischenkriegszeit bereits im Sport, Film, Theater und in der Musik abzeichnen. 43 Von den gesellschaftlichen Motiven für transnationale Mobilität von Einzelpersonen (dem Bildungsstreben, Er- 38 Hans Manfred Bock: „Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen“, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2011, Bd. 51, p. 591-643.“ 39 Dazu: Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entre-deux-guerres, Paris 1988. ID: „Le hasard ou la nécessité? Une histoire en chantier: l’histoire des intellectuels“, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire, 1986, p. 97- 108. Michel Leymarie, Jean-François Sirinelli (ed.): L’histoire des intellectuels aujourd’hui, Paris 2003. 40 Michel Trebitsch: „L’Histoire des intellectuels en France: Nouvelles approches“, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005, p. 23-48. 41 Hans Manfred Bock: „Von der Stellvertretung zur Selbstinszenierung. Medienintellektuelle in Frankreich“, in: Herbert Willems (ed.): Theatralisierung der Gesellschaft. Medientheatralität und Medientheatralisierung, Frankfurt/ Main 2009, p. 81-99. 42 Cf. David Buxton, Francis James (ed.): Les intellectuels de médias en France, Paris 2005. 43 Dazu Bd. 2 dieser Monographie: Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010, p. 123-164: „Berlin-Paris, Paris-Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära“. <?page no="24"?> 24 werbsstreben, Zufluchtstreben) 44 kam in der Zwischenkriegszeit dem Verursachungsfaktor der Verfolgung und des Exils eine außergewöhnliche Bedeutung zu, die während der Jahre 1933 bis 1939 in Art und Umfang wenig Vergleichsmöglichkeiten in der Geschichte der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen zuläßt. Neben der Dimension der mehrfachen Akteursebenen, die mit den skizzierten Konzepten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erschlossen werden kann, stellt sich die Dimension der fremdnationalen Wahrnehmung als unverzichtbarer Teil der hier vertretenen Transaktions-Forschung dar. Diese Perzeptionsthematik muß ebenfalls nicht ganz neu erfunden werden, sondern kann sich auf Fragestellungen und Erkenntnisse der Sozial- und der Kulturwissenschaften stützen. 45 Sie ist nicht formulierbar ohne Bezug auf die Akteurdimension in den interkulturellen Beziehungen und hat deshalb im primär textwissenschaftlichen Transfer-Ansatz der Analyse der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen keinen ausdrücklichen heuristischen Stellenwert. Sie ist ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts federführend von der sozialwissenschaftlichen Vorurteils- und Stereotypen-Forschung auf den Begriff gebracht worden in kritischer Reaktion auf die Hypostasierung des Nationalismus der voraufgegangenen Jahrzehnte. Ein Autor, der dieser Denkbewegung verpflichtet war, hat sich die Frage gestellt, wie Vorstellungen von fremden Nationen, die man nicht von innen kennt, zustande kommen. Er schlug zur Beantwortung dieser Frage vor, fünf gesellschaftlich gestaffelte „Meinungsreservoirs“ zu unterscheiden. Diese reichen von den sozioökonomischen und politischadministrativen Eliten über das Massenkommunikations-System zum „Netz örtlicher Leitpersonen“ bis zum politisch partizipierenden Teil der Bevölkerung eines Landes. 46 Im Verhältnis zueinander sind diese „Meinungsreservoirs“ charakterisiert durch eine verdichtete Kommunikation innerhalb jeder Stufe der Kaskade und durch eine abnehmende Qualität und Quantität der Kommunikation von oben nach unten. Für die Perzeptions-Thematik öffnet dieses „Kaskaden-Modell“ den Blick für die Verbindung des fremdnationalen Wahrnehmungsmusters mit verschiedenen (politischen, ökonomischen und kulturellen) Interessen und für ihre Entstehungs-, Veränderungs- und Wirkungsweise. Diese Fragestellung zielt auf die Revision der „Bild vom Anderen“-Forschung, die in den Geschichts- und Literaturwissenschaften eine längere Tradition aufweist und 44 Hans Manfred Bock: „Zivilgesellschaftliche Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (ed.): Handbuch Frankreich. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft, Berlin 2002, p.607-613. 45 Ein kompakter und kompetenter Überblick dazu in Katja Marmetschke: Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutschfranzösischen Beziehungen, Köln, Weimar 2008, p. 13-74: „Anmerkungen zum Forschungsfeld ‚Perzeption und Nation’.“ 46 Karl W. Deutsch: Analyse internationaler Beziehungen. Konzeptionen und Probleme der Friedensforschung, Frankfurt/ Main 1968, p. 147sq. <?page no="25"?> 25 in der Regel auf das Herauspräparieren von mehr oder minder stimmigen Alteritätskonstruktionen hinauslaufen, die das kollektive Verhalten einer Nation zur anderen bestimmen. Zur Überwindung der älteren „Bilder“- Forschung (die meist in der Tradition der „Volksgeist“- und „Nationalcharakter“-Prämisse standen) haben z.Bsp. die Feindbild-Studien der Historiker und die Imagologie der Literaturwissenschaftler beigetragen. 47 Aber auch in neueren Fallstudien zur Wahrnehmungs-Thematik, die der Tradition und Funktion der zwischennationalen kollektiven Vorstellungen voneinander gewidmet sind, setzt sich die Einsicht durch, daß deren Inhalte nicht ein für allemal feststehen, sondern daß sie jeweils von ermittelbaren Produzenten mit erkennbaren Motiven in Umlauf gesetzt werden. 48 An die Stelle der Identitätsbeschreibung, die in der „Nationalcharakter“- und „Volksgeist“-Argumentation vorherrscht, tritt damit in der neueren kritischen Perzeptions-Analyse der Nachweis der eigen- und fremdnationalen Identitätszuschreibung. In der Analyse der Wahrnehmungsmuster kann man unterscheiden zwischen denjenigen der Eliten (der beiden obersten Stufen des Kaskaden-Modells) und denen der Öffentlichen Meinung (die sich zusammensetzt aus den drei unteren Stufen der Kaskade). 49 Generell wäre zu fragen: Welche Elemente des Identitätsdiskurses einer Nation zu einer gegebenen Zeit in das Wahrnehmungsmuster einer anderen Nation selektiv aufgenommen werden; welche gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Akteure und Interessen diese Selektions- und Interpretationsvorgänge steuern; und über welche Kommunikationswege die so entstandenen autoritativen Deutungsmuster des anderen Landes breitenwirksam und urteilsprägend in Umlauf gesetzt werden. Die älteren Studien zu den fremdnationalen Wahrnehmungsmustern waren überwiegend an den Fragestellungen der Literaturwissenschaft orientiert und hielten die fiktionale Literatur für den wichtigsten Generator von Vorstellungen über den Anderen. 50 Seit geraumer Zeit wird jedoch den nichtfiktionalen Texten und Zeichensystemen (Bildern) ein gesteigertes Interesse gewidmet, die eine nachweisbare Bedeutung für die Entstehung und Überlieferung nationaler Wahrnehmungsmuster haben und im Sozialisationsprozeß vermittelt werden. Dergleichen Textsorten mit präformierender Wirkung sind Lehrbücher, Reiseberichte, Reiseführer, Essays und Länder- 47 Cf. z.Bsp. Birgit Aschmann, Michael Salewski (ed.): Das Bild „des Anderes“. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2000. Alain Montandon (ed.): Mœurs et images. Etudes d’imagologie européenne, Clermont-Ferrand 1997. 48 Cf. dazu Katja Marmetschke, op. cit. Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008. Ruth Florack: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000. 49 Cf. Karl W. Deutsch, loc. cit. 50 Z.Bsp. Wolfgang Leiner: Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt 1989. Bernhard Trouillet: Das deutsch-französische Verhältnis im Spiegel von Kultur und Sprache, Weinheim 1981. <?page no="26"?> 26 Monographien. 51 Sie erzeugen „Vormeinungen“ und „informationelle Filter“, die in vielen Fällen dauerhafter sind als die direkten Erfahrungen, welche man im unmittelbaren Kontakt mit dem Zielland macht, und deren Erkenntnis Ansatzpunkte für den Erwerb transnationaler Kommunikationsfähigkeit an die Hand gibt. 52 Nachdem in der historiographischen Literatur zu den Internationalen Beziehungen der Perzeptions-Thematik ein fester Stellenwert in Frankreich wie in Deutschland zugeschrieben worden ist 53 , kann diese Dimension der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen nicht länger ausgeblendet werden. Sie bedarf allerdings der fortgesetzten Diskussion und Angleichung der Konzepte, die bisher arbeitsteilig in den Sozial- und den Kulturwissenschaften für ihre Analyse vorgeschlagen worden sind. Im konkreten Fall der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Nationen in der Zwischenkriegszeit wird die verhaltensorientierende Funktion der wechselseitigen Wahrnehmung deutlich konturiert sichtbar: In der ambivalenten Wahrnehmung Deutschlands durch die „nonkonformistische“ Generation in Frankreich, die im Laufe der 1930er Jahre sowohl zur teilweisen Identifizierung mit der nationalsozialistischen Bewegung als auch zur entschlossenen Ablehnung derselben führen konnte. Und in der polarisierten Wahrnehmung Frankreichs durch die „briandistische Generation“, der zufolge das Nachbarland das Recht auf seine nationale Eigenart hatte unter der Voraussetzung, daß es die nationalsozialistische „Wiedergeburt“ der deutschen Nation anerkannte, auf der einen Seite; auf der anderen Seite die pazifistisch-republikanischen Kräfte, die, als „Französlinge“ desavouiert, vom NS-Regime ins Exil gejagt wurden und dies in großer Zahl in Frankreich fanden. 54 Wenn die Dimension der Perzeption überwiegend als Resultat des Wirkens von nationalen Sozialisationsagenturen verstanden werden kann und eine entsprechend passive Verhaltenskomponente enthält, so impliziert die Dimension der Rezeption in den transnationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen eine sehr viel aktivere Verhaltensweise der Akteure. Ver- 51 Cf. u.a. Alfons Söllner (ed.): Deutsche Frankreich-Bücher aus der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2011. Gerhard A. Kaiser, Erika Tanner (ed.): Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole in der nicht-fiktionalen deutschsprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr und Joseph Roth, Heidelberg 2002. 52 Zur einschlägigen Diskussion cf. Peter H. Koehn, James N. Rosenau: „Transnational Competence in an Emergent Epoch“, in: International Studies Perspectives, 2002, p. 105 - 127; dazu auch Hans-Manfred Bock: „Transnationale Kompetenzen“, loc. cit. Zu Rosenau und der von ihm vertretenen Position in der politikwissenschaftlichen Forschung zu den Internationalen Beziehungen cf. Michel Girard (ed.): Les individus dans la politique internationale, Paris 1994. 53 Robert Frank: „Mentalitäten, Vorstellungen und internationale Beziehungen“, in: Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel (ed.): Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, p. 159 - 185. Gottfried Niedhart: „Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma“, in: Ibid., p. 141 - 157. 54 Cf. Kapitel VII und XI dieses Buches. <?page no="27"?> 27 stand man lange Zeit unter interkultureller Rezeption die aktive Registrierung, Kommentierung, Übersetzung und Eingliederung fremdnationaler Kulturobjektivationen in den eigenen Bildungskanon, so ist diese Dimension transnationaler Gesellschafts- und Kulturbeziehungen heute ungleich differenzierter definierbar. Schon in den herkömmlichen Rezeptionsstudien, die sich mit Literatur-, Kunst-, Musik-, Philosophie- oder Wissenschafts-Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Ländern befassten, spielte die Frage der Motive für die aktive Aneignung fremdnationaler Kulturprodukte eine (eher implizite) Rolle. In der nationalistischen Version dieser Rezeptionsstudien interessierte man sich z.Bsp. für die Fälle von Aneignung eigener Kulturobjektivationen in einer anderen Nation nach dem Motto „Was die Welt den Deutschen (bzw. den Franzosen) verdankt“. Neben dieser narzißtischen Motivation gab es spätestens seit dem 19. Jahrhundert einen pragmatischen Antrieb für die wechselseitige Kenntnis und Aneignung von Ideen, Methoden und Verfahren in den Wissenschaften und Künsten, der seine Stärke aus der Konkurrenz der einzelnen Nationen ableitete und der in Krisenperioden am wirksamsten war. 55 Konzeptuelle Ansätze zur genaueren Kenntnis der Agenten, Motive und Wege transnationaler Rezeptionsströme sind entwickelt worden in der vergleichenden Forschung zu den Universitätssystemen, den kulturellen Hauptstädten und den Intellektuellen-Netzwerken verschiedener Nationen. In den Universitäten fand die Auswärtige Kulturpolitik am frühesten ein günstiges Terrain der administrativ gezielten Werbung für die eigenen soziokulturellen Manifestationen in anderen Nationen. 56 Die (teilweise quantifizierbare) Besuchs-, Aufenthalts-, Austausch- und Kooperations-Dichte von Professoren, Lektoren und Studierenden in anderen Ländern ist das bevorzugte Untersuchungsfeld der vergleichenden Hochschulforschung und stellt eine schätzenswerte Menge von (nicht immer koordinierten) Konzepten bereit. 57 55 Als Klassiker dieser Fragestellug cf. Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française (1870 - 1914), Paris 1992 (2. Auflage). Von dieser Fragestellung angeleitet auch mehrere Beiträge in: Etienne François, Marie-Claire Hoock-Demarle, Reinhart Meyer- Kalkus, Michael Werner (ed.): Marianne und Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext. Les transferts culturels France-Allemagne et leur contexte européen 1789 - 1914, Leipzig 1998, 2 Bde. 56 Cf. Jürgen Schriewer, Edwin Kleiner, Christophe Charle (ed.): Sozialer Raum und akademische Kulturen. A la recherche de l’espace universitaire européen, Frankfurt/ Main 1993. Hans Ulrich Jost, Stefanie Prezioso (ed.): Relations internationales, échanges culturels et réseaux intellectuels, Lausanne 2002. Christophe Charle, Jürgen Schriewer, Peter Wagner (ed.): Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt/ Main 2004. 57 Z.Bsp. Christophe Charle: „Die intellektuellen Netzwerke zweier Zentraluniversitäten. Paris und Berlin 1890- 1930“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 103-132. Zur außenkulturpolitischen Steuerung dieser Strukturen cf. Peter Alter (ed.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben, Bonn 2000, 2 Bde. Dominique Bosquelle: L’Allemagne au cœur de la politique culturelle de la France en Europe centrale et nordique dans l’entredeux-guerres, thèse Aix-Marseille I, 2001, 4 Bde. <?page no="28"?> 28 In den vergleichenden Studien zu den kulturellen Hauptstädten („capitales culturelles“), die als primäre Anlaufstelle für transnationalen Kulturaustausch interessieren, werden kulturelle Bewegungen, Einrichtungen und Praktiken dieser Orte verdichteter Kultur-Produktion und -Aneignung thematisiert und (nicht immer) die Wege transnationaler Vermittlung nachgewiesen. 58 In der vergleichenden Intellektuellen-Forschung schließlich wird ein Aspekt der transnationalen Kulturbeziehungen zum Gegenstand der Beobachtungen gemacht, der in den Studien zu den Universitätssystemen und kulturellen Hauptstädten selten vertieft wird: die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Rolle der Intellektuellen (Wissenschaftler und Künstler) in der Öffentlichkeit ihres jeweiligen Herkunftslandes, die stark durch die Traditionen der politischen Kultur der verschiedenen Nationen geformt wird und die für die Chance, ausländische Kulturprodukte im eigenen Land zu implantieren, maßgeblich ist. 59 Einen bemerkenswerten Schritt zur Neukonzeptualisierung der Rezeptionsstudien im transnationalen Kontext stellen seit den 1990er Jahren die Arbeiten der Transfer-Forschung dar. 60 Ansatzpunkt ihrer Argumentation war die Kritik an den nationalen Identitätsvorstellungen, die in den bisherigen Vergleichs- und Rezeptionsstudien unbefragt dominiert hatten und die den gängigen „Einfluß“-Theoremen zugrundelagen. 61 Die Neuausrichtung der Rezeptionsforschung wurde in einer Reihe von empirischen Untersuchungen zum 18. und 19. Jahrhundert zur Anwendung gebracht und fortlaufend differenziert. Sie hat mindestens zwei Revisionen in den Fragestellungen der Rezeptionsforschung bewirkt: die Ausweitung der Objektbereiche transnationaler Kulturrezeption und die Differenzierung der Motive, die in diesen Vorgängen wirksam sind. Die Transferstudien nehmen nicht allein Objekte der Hochkultur ins Blickfeld, die von einem Land ins andere übertragen bzw. übernommen werden, sondern auch soziokulturelle Erfindungen und Praktiken („Wissen, Fertigkeiten, Handlungsstra- 58 Cf. Christophe Charle, Daniel Roche (ed.): Capitales culturelles. Capitales symboliques. Paris et les expériences européennes XVIII ℮ - XX ℮ siècle, Paris 2002. Gerhard Brunn, Jürgen Reulecke (ed.): Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1870 - 1939, Bonn, Berlin 1992. 59 Cf. Christophe Charle: Les intellectuels en Europe au XIX ℮ siècle. Essai d’histoire comparée, Paris 1996. Stefan Collini: Absent minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2009, p. 201-300. „Comparative perspectives“. 60 Als Rückblick auf ihren Gang cf. Johannes Paulmann: „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts“, in: Historische Zeitschrift, 1998, p. 649-685. 61 Als Programm-Aufsätze: Michel Espagne, Michael Werner: „Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des CNRS“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 1985, p. 502-510. Espagne, Werner: „La construction d’une référence culturelle allemande en France. Genèse et histoire“, in: Annales, 1987, p. 969-992. <?page no="29"?> 29 tegien“ 62 ). Sie richten ihr primäres Augenmerk auf die Schnitt- und Fusionsstellen der Nationalkulturen und zeigen die pragmatischen Motive für die Aufnahme und Anpassung der so entstehenden transnationalen Kulturimporte auf. Sie stellen sich auch der „Herausforderung des Transnationalen“, sind jedoch den Beweis der Anwendbarkeit ihrer historiograhistoriographischen Postulate auf Phänomene der jüngeren Vergangenheit bislang schuldig geblieben. 63 Die prinzipielle Praktikabilität und Fruchtbarkeit der transferanalytischen Erweiterung und Differenzierung der Rezeptionsforschung ist anhand zahlreicher Austausch- und Begegnungs-Episoden in den deutschfranzösischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit belegbar. So etwa an Beispielen der Rolle von Dritten bei der Anbahnung und Förderung von bilateralen Transfers. Die große Rezeptivität der Generation der nonkonformistischen Jugend im Übergang von den 1920er zu den 1930er Jahren bezüglich der deutschen Philosophie des Hegelianismus, der Phänomenologie und der frühen Existenzphilosophie wurde nachweislich gefördert durch die Vermittlertätigkeit russischer Immigranten. 64 Die katalysatorische Funktion der US-amerikanischen „philanthropischen“ Stiftungen (namentlich der Carnegie- und der Rockefeller- Stiftung) für die Wiederaufnahme der aktiven Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der französischen Republik in den Zwischenkriegsjahren gehört in diesem Zusammenhang und wird neu entdeckt. 65 Weniger beachtet wurde bislang die Vermittlerfunktion kleinerer Länder für den Kulturtransfer zwischen beiden Nationen. Hier sind vor allem Luxemburg und die im Umkreis von Schloß Colpach geleisteten kulturellen (und ökonomischen) Mittlerfunktionen zu nennen. 66 Eine ähnliche Rolle wurde in 62 Michael Werner: „Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen“, in: Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf (ed.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013, p. 25. 63 Michael Werner, Bénédicte Zimmermann: „Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der ‚histoire croisée’ und die Herausforderung des Transnationalen“, in: Geschichte und Gesellschaft, 2002, p. 607-636. 64 Michel Espagner: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1994, p. 153-178: „Les transferts culturels triangulaires“. 65 Zur Tätigkeit der Carnegie-Stiftung cf.: Topographie deutscher Kulturvertretung, op. cit., Kap. II. An monographischen Studien zur Carnegie-Stiftung: Helke Rausch: „Professionalisierung als diplomatische Strategie: das US-amerikanische Carnegie Endowment in Europa vor 1945“, in: Hannes Siegrist (ed.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart 2012, p. 217-225. Giuliana Gemelli, Roy McLeod (ed.): American Foundations in Europe. Grant-Giving Policies. Cultural Diplomacy and Transatlantic Relations 1920 - 1980, Brüssel 2003, Ellen Condliffe Lagemann: The Politics of Knowledge. The Carnegie Corporation, Philanthropy and Public Policy, Middletown 1989. 66 Dazu in diesem Band die Kap. VIII und IX; jetzt auch Hans Manfred Bock: „Colpack als transnationales Netzwerk“, in: Cornel Meder (ed.): Toute la noblesse de sa nature. Recueil des écrits publiés par Aline Mayrisch-de Saint-Hubert, Luxembourg 2014, p. 315- 402. <?page no="30"?> 30 der Schweiz durch die Internationalen Hochschulkurse von Davos in den Jahren 1928 bis 1931 übernommen. 67 Die direkten bilateralen Austausch- und Begegnungsbeziehungen zwischen beiden Nationen im soziokulturellen Bereich wurden infolge des nationalsozialistischen Herrschafts-Systems in Deutschland und seines Okkupations-Regimes in Frankreich bis an die Schwelle der 1990er Jahre so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Bedeutung des vom Völkerbund ins Leben gerufenen „Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit“ („Institut International de Coopération Intellectuelle“) für die deutsch-französischen Beziehungen ist erst ansatzweise erschlossen. 68 Auf institutioneller Ebene gab es den aufschlußreichen Fall transfergenerierter Übernahme des Modells der „Ecole libre de Science Politique“ in Deutschland mit der Gründung der „Hochschule für Politik“ 1920 in Berlin, der seiner kulturpolitischen Würdigung noch in vielen Aspekten harrt. 69 Vor allem aber wurden im zivilgesellschaftlichen Bereich während der beiden Zwischenkriegsjahrzehnten die Schleusen wechselseitiger Rezeptionsströme zwischen beiden Nationalkulturen relativ weit geöffnet. Ohne die Kenntnis dieser bilateralen Organisationen und Netzwerke, die im vorliegenden Band erstmal umfassend dargestellt werden, verfehlt man das Verständnis der langfristigen Umstrukturierung des soziokulturellen Verkehrs zwischen Deutschland und Frankreich und der mit ihm einhergehenden Rezeptionswege im 20. Jahrhundert. Man hat diesen Wandel der „Kulturdiplomatie“ zu fassen versucht mit dem Begriff des „rayonnement culturel“ der jeweiligen Nation, der am Anfang die Richtschnur für den transnationalen Kulturaustausch vorgab, und dem Begriff der „Akkulturation“, der am Ende dieser Entwicklung zum vorherrschenden Rezeptionsmodus von Elementen der anderen Kultur geworden sei: „Entre l’émission et la réception d’un produit, d’un style, d’une pratique, d’un modèle, des changements ont lieu. La vieille notion d’acculturation […] a dès lors un sens: elle existe dès qu’il y a transformation du produit importé, dès que le processus d’appropriation ou de réappropriation opère des métamorphoses 67 Zu deren Gründerpersönlichkeit und Wirken cf. jetzt auch: „Gottfried Salomon- Delatour und die Gründung der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Frankfurt am Main“, in: Hans Georg Soeffner (ed.): Transnationale Vergesellschaftungen, Wiesbaden 2013, p. 1007-1037. Weitere Arbeiten zu Davos sind in Vorbereitung. 68 Neben den grundlegenden Arbeiten von Jean-Jacques Renoliet (cf. Kap. XII) neuerdings zum Personal der deutschen Vertretung im IICI meine Skizze zur dortigen Tätigkeit von Werner Picht in Kap. III von Topographie deutscher Kulturvertretung, op. cit., p. 97-120, und die Aufsätze von Ute Lemke (cf. Kap. XII dieses Buches). 69 Cf. Steven D. Korenblat: „A School for the Republic? Cosmopolitans and Their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik 1920-33”, in: Central European History, 2006, p. 314-430. Manfred Gangl: „Die ‚Ecole libre de Science politique’ in Paris und die Berliner ‚Deutsche Hochschule für Politik’“, in: Bock, Mieck (ed.) Berlin-Paris (1900-1933), Bonn 2005, p. 69-104. <?page no="31"?> 31 entre l’émission et la réception“. 70 Auf diese Weise entstehen die soziokulturellen „Verzahnungen“ (imbrications), die gemäß dem „Transfer“- Ansatz die neue postnationale Qualität der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen ausmachen. 71 Die Genese des so beschriebenen Wandlungsprozesses der bilateralen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich beginnt (so die zentrale These des vorliegenden Bandes) in den Zwischenkriegs-Jahrzehnten und wird von den Verständigungs-Organisationen und -Netz-werken dieser Periode eingeleitet. Von den Protagonisten des bilateralen Austausch- und Begegnungsverkehrs ist die Zwischenkriegs-Periode gelegentlich als „Versunkener Garten“ charakterisiert worden. 72 Das ist angesichts der politischen Konflikte und Katastrophen dieser Zeitspanne eine unzulässige Harmonisierung und Verharmlosung. Richtig ist hingegen an diesem Bild (und mehr noch an den Berichten über die deutsch-französischen Begegnungs-Initiativen dieser Jahre), daß die Gesamtheit der Verständigungs-Organisationen und -Netzwerke von 1919 bis 1939 in der Nachkriegszeit beider Länder einem versunkenen Archipel glich. In der Bundesrepublik wurden gerade die soziokulturellen Beziehungen zum Nachbarland in der Memoiren-Literatur zum Gegenstand der politischen Rechtfertigungsliteratur. 73 In Frankreich wurden die 1930er Jahre vorwiegend als Vorgeschichte der Collaboration während des NS-Besatzungsregimes der Kriegsjahre aufgefaßt. 74 Der kriti- 70 Robert Frank: „Conclusion“, in: ID., Dulphy, Matard-Bonucci, Ory (ed.): Les relations culturelles internationales au XX ℮ siècle, op. cit., p. 671. Allerdings sind gegenüber diesem Synthetisierungsversuch zwischen sozialgeschichtlichem und kulturwissenschaftlichem Ansatz der Analyse von Gesellschafts- und Kulturbeziehungen einige Vorbehalte anzumelden, da neuerdings in den historiographischen Überlegungen z.Bsp. von Michael Werner die unentbehrlichen gesellschaftsgeschichtlichen Referenzen ganz aus der Argumentation herausfallen und Kultur nur noch aus Kultur erklärt wird. Cf. dazu: Michael Werner: „Konzeptionen und thematische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen“, in: Colin, Defrance, Pfeil, Umlauf (ed.): op. cit., p. 23-31. In Michel Espagnes neuesten Arbeiten werden die Vergleichskomponenten (die ebenso unentbehrlich sind) eliminiert oder in Frage gestellt; z.Bsp. Michel Espagne: „Transfert de comparaisons“, in: Solte-Gresser, Lüsebrink, Schmeling (ed.): Zwischen Transfer und Vergleich, op. cit., p. 261-271. Diese Kontroverse führt den Transferansatz auf den Weg der Selbstreferenzialität und erschwert den Anschluß an sozialwissenschaftliche Konzepte. Cf. dazu Thomas Keller: „Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen“, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (ed.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, p. 101-114. Zur Diskussion auch Hans- Jürgen Lüsebrink: „Der Kulturtransferansatz“, in: ID. Solte-Gresser, Schmeling (ed.): Zwischen Transfer und Vergleich, op. cit, p. 38-50. 71 Michael Werner: „Konzeptionen und theoretische Ansätze“, loc. cit., p. 29 sq. 72 Klara Marie Faßbinder: Der versunkene Garten. Begegnungen mit dem geistigen Frankreich des Entre-deux-guerres, 1919-1933, Heidelberg 1963. 73 Otto Abetz: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik, Köln 1951. 74 Pascal Ory: La France allemande. Paroles du collaborationnisme français (1933-1945), Paris 1977. <?page no="32"?> 32 sche Umgang mit dem Thema der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegs-Periode blieb dann die Aufgabe nachgeborener Wissenschaftler-Generationen in beiden Ländern. Sie fanden sich im Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren in einem korrespondierenden Interesse am Thema Exil und Widerstand, an der Geschichte der europäischen Integration und an den Fragen der Neuformulierung adäquater Konzepte zur Erschließung der transnationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen, die hier in Umrissen nachgezeichnet wurden. <?page no="33"?> 33 II. Deutsche Liga für Menschenrechte und Ligue des Droits de l’Homme von 1915 bis 1933 Wenn die Ligue des Droits de l’Homme (LDH) in Frankreich sich ursprünglich im Kontext innerstaatlicher Fragen der individuellen Rechtssicherheit konstituierte und erst im Ersten Weltkrieg die Fragen zwischenstaatlicher Rechtsordnung und Friedenssicherung für sich entdeckte, 1 so verlief die Entstehungsgeschichte der Deutschen Liga für Menschenrechte (DLM) gerade umgekehrt. Hier stand am Anfang die Frage des Friedensschlusses und der Friedenssicherung, die während des Ersten Weltkrieges auf die Tagesordnung gesetzt worden war, und die DLM entdeckte erst in der Weimarer Republik den Kampf für die praktische Durchsetzung der individuellen Rechtsgarantien, die von der Verfassung proklamiert, aber unzulänglich verwirklicht wurden. In der Weimarer Republik gab es keine Organisation, die so früh und so konstant die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten in Frankreich suchte wie der Bund Neues Vaterland (BND), der sich 1922 in Deutsche Liga für Menschenrechte umbenannte. In dieser kurz nach Kriegsende beginnenden Zusammenarbeit wurden die übernationalen Werte der Respektierung der Menschenrechte und der Sicherung des Friedens prinzipiell höher geachtet als die nationalkulturelle Eigenart, deren Wahrung in den deutsch-französischen Verständigungsbewegungen der Locarno-Ära ab 1925 eine deutlich größere Rolle spielte. 2 Die deutsche Menschenrechtsliga bekannte sich im Laufe der Weimarer Republik mit zunehmendem Nachdruck zu diesen universellen Werten, da in der größten Mehrheit der politischen Kräfte und der Bevölkerung Deutschlands die trotzige Überbetonung des Nationalen fortschreitend zunahm. Die DLM setzte sich mit ihrem Bekenntnis zu den republikanischen Werten der Herrschaft des Rechts in den inner- und interstaatlichen Beziehungen sowie mit ihrem demonstrativen Willen zur Zusammenarbeit mit Frankreich im eigenen Lande den schwersten Anschuldigungen der nationalen Unzuverlässigkeit und den aggressivsten Verfolgungen derjenigen aus, die im Versailler Vertrag und dem von Frankreich instituierten Versailler System die Ursache der deutschen Misere sahen. Tatsächlich waren die maßgebli- 1 Cf. dazu Emmanuel Nacquet: „La Ligue des Droits de l’Homme De la défense de l’individu à la défense des peuples? (1898-1919)“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1998, Nr. 89, p. 14sq. 2 Cf. dazu den neuesten Überblick in: Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: ID. (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung, Opladen 1998, p. 27-55. <?page no="34"?> 34 chen Wortführer der DLM jedoch alles andere als „vaterlandslose Gesellen“. Sie waren überwiegend bürgerliche Intellektuelle und sie standen (trotz der statutarischen parteipolitischen Neutralität) faktisch den Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) nahe. Die DLM-Protagonisten wollten und konnten sich gar nicht außerhalb des Weimarer Verfassungssystems stellen, sondern sie sahen sich als treibende gesellschaftliche Kraft für die konsequente Verwirklichung der Programmsätze des Weimarer Verfassungsdokuments. Obwohl die Menschenrechtsliga nur eine unter rund 30 pazifistischen Organisationen in der Weimarer Republik war (und unter ihnen keineswegs die größte), 3 verdient sie gleichwohl ein genaueres wissenschaftliches Interesse, das ihr bislang nicht zuteil wurde. 4 Dies Interesse richtet sich im folgenden in vergleichender Perspektive auf das programmatische und organisatorische Profil der DLM, auf die Schwerpunkte ihrer innerpolitischen Aktivitäten und auf ihre Beziehungen zu Frankreich, bzw. ihre internationale Zusammenarbeit mit der französischen Schwesterorganisation, der Ligue des Droits de l’Homme. 1. Vom Bund Neues Vaterland zur Deutschen Liga für Menschenrechte Nachdem die Intellektuellen wie die anderen gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland bei Kriegsbeginn im August 1914 nahezu geschlossen ihre Zustimmung zur Politik der nationalen Einheit („Burgfrieden“) gaben, war es für kritische Geister unmöglich, sich Gehör zu verschaffen im nationalen Kriegstaumel. Dem Aufruf „An die Kulturwelt“, in dem am 4. Oktober 1914 93 Künstler und Gelehrte sich blindlings der deutschen Kriegspropaganda anschlossen, 5 versuchten einige versprengte Kräfte einen Aufruf 3 Als knappen Überblick cf. Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, Göttingen 1985, p. 143-236. Zu den Einzelporträts der Organisationen des Pazifismus in Deutschland cf. Reinhold Lütgemeier- Davin: Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das Deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik, Köln 1982. 4 Die vereinzelten Forschungsarbeiten bezogen sich bislang vor allem auf den Bund Neues Vaterland. Cf. dazu die materialreiche (nach dem Konfektionsmuster der DDR-Historiographie verfasste) Dissertation Erwin Gülzow: Der „Bund Neues Vaterland“. Probleme bürgerlich-pazifistischer Demokratie im Ersten Weltkrieg (1914-1918), Diss. Humboldt-Universität Berlin 1969, Ms.-S. Pierre Grappin: Le Bund Neues Vaterland (1914-1916). Ses rapports avec Romain Rolland, Lyon, Paris 1952. Als Materialsammlungs- und Einordnungsversuch der Deutschen Liga für Menschenrechte cf. Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 23-27. 5 Cf. dazu die umfassende Dokumentation Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf „An die Kulturwelt! “. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996. <?page no="35"?> 35 „An die Europäer“ entgegenzusetzen. 6 In diesem Manifest mahnten die Professoren Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster und Georg Friedrich Nicolai, es sei „bitter nötig, daß die gebildeten Männer aller Staaten ihren Einfluß dahin aufbieten, daß - wie auch der heute noch ungewisse Ausgang des Krieges sein mag - die Bedingungen des Friedens nicht die Quelle künftiger Kriege werden.“ 7 Das Manifest fand keine Möglichkeit der Veröffentlichung. Aus demselben Motiv, im Hinblick auf den Friedensschluss schon im Kriege die Bedingungen für die Stabilität des friedlichen Zusammenlebens der europäischen Nationen zu sichern, schlossen sich jedoch am 16. November 1914 in Berlin einige Oppositionelle zusammen zum Bund Neues Vaterland (BNV). Diese Gruppierung war soziologisch sehr heterogen, denn sie umfasste sowohl Männer aristokratischer Herkunft als auch Vertreter des Groß- und Kleinbürgertums. Gemeinsam war mehreren Mitgliedern der Initiatorengruppe, dass sie in den Vorkriegsjahren in ethischen und freidenkerischen Strömungen der Lebensreformbewegung 8 tätig gewesen waren (Kurt von Tepper-Laski, Graf Georg von Arco, Otto Lehmann-Rußbüldt, Ernst Reuter und Lilli Jannasch 9 ). Die erklärten politischen Gegner des BNV waren die Alldeutschen und die in den Kriegsjahren von ihrer Argumentation erfassten Anhänger eines Annexions-Friedens, d.h. also einer Politik, die für den Fall des deutschen Sieges territoriale Annexionen (u.a. Belgiens) vorsah. Es war charakteristisch für die Aktionsweise des BNV während des Jahres seiner öffentlichen Wirksamkeit von Ende 1914 bis Ende 1915, dass er die Unterstützung kritischer Diplomaten 10 fand und das Gespräch mit dem Auswärtigen Amt suchte. In den Gesprächen mit den Vertretern des Ministeriums in der Wilhelmstraße waren die Sprecher des BNV bemüht, ihren Freiraum für öffentliche Tätigkeit zu retten durch den Hinweis auf die katastrophalen Folgen des „Aufrufs der 93“ in der Öffentlichkeit der Kriegsgegner, der man wohlfeile Gründe geliefert habe für die These von der restlosen „Militarisierung des Geistes“ in Deutschland. Der Versuch des BNV, durch seine Existenz den Gegenbeweis gegen diese These anzutreten, misslang. Der Vereinigung wurde Anfang Februar 1916 für die 6 Cf. dazu Erwin Gülzow, op. cit., p. 50sq. 7 Zitiert in Ungern-Sternberg, op. cit., p. 63. 8 Als Überblick noch immer brauchbar Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974. 9 Zu den biographischen Angaben für diese und andere Protagonisten des organisierten Pazifismus existiert ein vorzügliches Handbuch: Helmut Donat, Karl Holl (ed.): Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf 1983. 10 Dazu eine entsprechende Dokumentation im geschichtlichen Abriss der DLM von deren erstem Generalsekretär: Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte, vormals Bund Neues Vaterland, für den Weltfrieden 1914-1927, Berlin 1927, p. 18sq. und p. 44sq. <?page no="36"?> 36 Dauer des Krieges die öffentliche Tätigkeit „durch Herstellung und Versendung von Mitteilungen, Sonderdrucken, Flugschriften“ usw. verboten. 11 Der BNV stellte sich nicht als pazifistische Organisation dar, sondern als realpolitische Alternative zur vorherrschenden Kriegspolitik. Er wollte parteipolitisch, gesellschaftlich und konfessionell gegensätzliche Kräfte mit der gemeinsamen Zielsetzung eines (baldigen) Verständigungsfriedens und der Ermöglichung übernationaler konstruktiver Kooperation nach dem Krieg zusammenführen. Die Kernsätze seiner Satzung hießen: „Daher beabsichtigt der Bund: 1. die direkte und indirekte Förderung aller Bestrebungen, die geeignet sind, die Politik und Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs und des überstaatlichen Zusammenschlusses zu erfüllen, um eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen. Dieses ist nur möglich, wenn mit dem seitherigen System gebrochen wird, wonach einige Wenige über Wohl und Wehe von hunderten Millionen Menschen zu entscheiden haben. - 2. Insoweit sich bei der Arbeit für dieses Ziel ein Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik der Staaten ergibt, darauf einzuwirken, beide in volle Übereinstimmung zu bringen - zum besten des deutschen Volkes und der europäischen Kulturwelt.“ 12 Zu diesen Zielen bekannten sich durch ihren Beitritt zum BNV eine bemerkenswert große Zahl von Adeligen und von bürgerlichen Pazifisten. Aber auch Bankiers auf der einen (Hugo Simon) und Arbeiterführer auf der anderen Seite (Karl Liebknecht 13 ) schlossen sich an. Zu den aristokratischen Fürsprechern der friedenspolitischen Ziele des Bundes zählten außer dessen Vorsitzendem Kurt von Tepper-Laski und seinem Stellvertreter Graf Georg von Arco zwölf weitere Repräsentanten dieser Gruppe. Neben 24 Professoren und Privatgelehrten fanden sich unter den 135 Mitgliedern des BNV im Herbst 1915 folgende namhafte Publizisten und Schriftsteller: Rudolf Breitscheid, Lujo Brentano, Wilhelm Herzog, Magnus Hirschfeld, Arthur Holitscher, Gustav Landauer und René Schickele. 14 Nachdem der in der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) organisierte Pazifismus bei Kriegsbeginn eine defensiv-abwartende Haltung eingenommen hatte 15 und die Initiative auf den BNV übergegangen war, fanden sich dann auch viele bekannte Protagonisten des organisierten Vorkriegspazifismus in den Reihen der neuen Organisation ein. Zum Beispiel waren im Herbst 1915 Hellmut von Gerlach, Otfried Nippold, Paul Oestreich, Ludwig Quidde, Martin Rade, Walter Schücking und Hans Wehberg Mitglied des BNV und Fried- 11 Ibid., p. 59. 12 Ibid., p. 139. 13 Cf. die vollständige Mitgliederliste in ibid., p. 140sq. 14 Cf. dazu Friedrich-Karl Scheer: Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892-1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele, Frankfurt/ Main 1981, p. 234sq. 15 So Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 141sq. Cf. auch Friedrich-Karl Scheer, op. cit., p. 245sq., zum BNV. <?page no="37"?> 37 rich Wilhelm Foerster wurde als Sympathisant der Vereinigung angesehen. 16 Der Bund Neues Vaterland trat nach der 1916 von den Militärbehörden erzwungenen Periode der Inaktivität im Oktober 1918 wieder an die Öffentlichkeit mit einem Programm, das nunmehr auch explizite innenpolitische Forderungen enthielt. In einer Kundgebung im Berliner „Esplanade“ wurde am 19. Oktober 1918 festgestellt, nachdem die Regierung das Programm eines Völkerbundes nun selbst vertrete, seien folgende Aktionsziele zu verfolgen: „Glatte Aufhebung des Belagerungszustandes, der Zensur, der Schutzhaft, sowie Amnestie für alle politischen Vergehen. Untersuchung der Schuldfrage am Kriege, Einführung völliger Versammlungs-, Presse- und Redefreiheit und Bekämpfung des militaristischen Geistes, besonders in der Jugenderziehung. Darüber hinaus hält der Bund eine völlige Umgestaltung der deutschen Verfassung und Verwaltung im demokratischen Geiste für erforderlich, und zwar durch die Einberufung einer gesetzgebenden Nationalversammlung mit gleichem, geheimem und direktem Wahlrecht auch für Frauen und Soldaten.“ 17 Mit der Forderung der Einberufung einer Nationalversammlung stellte sich der BNV in Gegensatz zu den linksradikalen Kräften in der November-Revolution, deren Vorstellungen auf die Errichtung eines Rätesystems zielten. Mit den Forderungen nach Wiederherstellung der Grundrechte, nach demokratischer Neugestaltung der Verwaltung sowie der politischen Generalamnestie und der antimilitaristischen Erziehung stellte sich die Vereinigung bald schon 1919 in Gegensatz zur sozialdemokratischen Regierungspraxis. Ihre Mitglieder verstanden sich als konsequente Vorkämpfer der republikanischen Umgestaltung des öffentlichen Lebens in Deutschland. Sie gerieten mit dieser Zielsetzung in der Entwicklung der Weimarer Republik je länger je mehr in Konflikt mit den antidemokratischen Kräften, deren verdeckte gesellschaftliche Machtpositionen noch größer waren als ihre offene politische Repräsentanz. In den aufeinanderfolgenden Fassungen der Programmsätze des BNV bzw. der DLM bilden sich die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten ab. Als „Zweck des Bundes“ war 1915 bezeichnet worden, „an den Aufgaben, die dem deutschen Volke aus dem europäischen Kriege erwachsen, mitzuarbeiten“. 18 In der Neufassung der BNV-Statuten von 1919 wurde die innenpolitische Seite des Programms erweitert und präzisiert. Der § 1 der Satzung hieß nun: „Der BNV ist eine Vereinigung von Männern und Frauen, die sich zusammenschließen, um ohne Verpflichtung auf ein bestimmtes Parteiprogramm an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerversöhnung mitzuarbeiten. Von den Grundsätzen echter Demokratie ausgehend, will der Bund an deren Vertie- 16 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 80sq. 17 Ibid. 18 Ibid., p. 139. <?page no="38"?> 38 fung, Verbreitung und damit Verwirklichung mitwirken.“ 19 Dies Revolutionsprogramm umriss folgende Arbeitsgebiete: Die Zusammenarbeit mit ähnlich gerichteten Organisationen im Ausland, die die bewaffnete Gewaltanwendung als Mittel politischer Konflikte ablehnten; den Kampf für die Menschenrechte und für soziale Gerechtigkeit durch Einflussnahme auf Presse, Parteien und Regierungen; die Verwirklichung des Sozialismus im Sinne der englischen Fabian Society; und schließlich eine „geistige Revolution“, die durch die freie Persönlichkeitsentwicklung der Individuen und die Gleichheit ihrer Chancen charakterisiert sein sollte. Dies umfassende Erneuerungsprogramm für eine politisch-moralische Fundamentierung der Republik in Deutschland wurde in der Phase der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik von der DLM revidiert. Nachdem deren Hoffnung auf eine grundstürzende Erneuerung der kollektiven Verhaltensdisposition der Deutschen in den Jahren 1919 bis 1924 enttäuscht worden war und auch die spontanen pazifistischen Bewegungen (Nie-wieder-Krieg- Bewegung) 20 Mitte der zwanziger Jahre ihr Mobilisierungspotential einbüßten, schien es angezeigt, die Kräfte eher auf die Verteidigung der Republik zu konzentrieren. Diese defensiv-pragmatische Wende vollzog die DLM nach längerer (schon 1921 begonnener) Diskussion im Mai 1927 mit der Neufassung des § 1 ihrer Satzung. Dort wurde nunmehr als übergeordneter Zweck der Vereinigung „die Erringung und Wahrung der Menschenrechte“ festgeschrieben. 21 Die Menschenrechte waren im Jahre 1919 als ein Mittel zum Zweck der Errichtung der „deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage“ genannt worden. Sie wurden in der Statutenversion von 1927 vom Mittel zum Zweck erhoben. Eine letzte Statuten-Revision der DLM von 1932 änderte an dieser Formulierung des konstitutiven Ziels der Vereinigung dann nichts mehr, während ihre organisatorischen Strukturen neu definiert wurden. 22 Die Entwicklung der Organisationsstrukturen des BNV bzw. der DLM war gekennzeichnet durch eine eher ungewollte quantitative Ausdehnung. Der BNV hatte während der Kriegsjahre und bis 1922 niemals mehr als 150 bis 200 Mitglieder gezählt. Die Stärke seiner Organisation lag nicht in der Quantität, sondern in der Qualität dieser Mitglieder und in ihren vielfältigen Verbindungen mit anderen Vereinen, Institutionen und Persönlichkeiten der politischen Öffentlichkeit. Die DLM behielt auch nach schubartigen Rekrutierungserfolgen in den Jahren 1923/ 24 (ca. 1000 Mitglieder) und 1931 (annähernd 2000 Mitglieder) die Arbeitsweise eines Intellektuellen- 19 Ibid., p. 91sq. Cf. auch die Analyse des Revolutionsprogramms des BNV bei Erwin Gülzow, op. cit., p. 399sq. 20 Cf. dazu Reinhold Lütgemeier-Davin: „Basismobilisierung gegen den Krieg: Die Nie- Wieder-Krieg-Bewegung in der Weimarer Republik“, in: Karl Holl, Wolfram Wette (ed.): Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn 1981, p. 47ff. Zum Niedergang bes. p. 74 sq. und p. 149 sq. 21 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 129. 22 Die Menschenrechte vom 22.4.1932. <?page no="39"?> 39 Komitees bei. Sie war charakterisiert durch die relative Konstanz ihrer öffentlichen Wortführer und Vorstandsmitglieder, durch deren (auf fachlicher oder kultureller Kompetenz begründete) Notorietät und durch die Konzentration auf die Reichshauptstadt Berlin. Der Mitgliedergewinn der Jahre 1923/ 24 kam vor allem durch den korporativen Beitritt des Deutschen Monistenbundes 23 und einiger lokaler Gewerkschaftskartelle zustande. 24 Die große Zahl von Neumitgliedern ab 1931 ergab sich aus dem Versuch, aus finanzieller Not nun doch Breitenwerbung zu betreiben; auch die wachsende Brutalisierung der öffentlichen Auseinandersetzung durch die Nationalsozialisten und die Kampagne gegen die Verurteilung des DLM- Vorstandsmitglieds Carl von Ossietzky 25 trug wahrscheinlich zu diesen Rekrutierungserfolgen bei. Die Statutenreform von 1932 sah die Umstellung von lokalen „Arbeitsgemeinschaften“ der DLM auf „Ortsgruppen“ dort vor, wo mehr als 10 Mitglieder existierten. 26 Dieser Versuch, die Organisation der Liga auf breitere Mitgliederwerbung umzustellen, kam zu spät und wurde durch die faktische Beendigung ihrer öffentlichen Tätigkeit 1933 zunichte gemacht. 27 Die Verankerung der DLM außerhalb der Reichshauptstadt blieb instabil. Im Jahre 1925 meldete man die Gründung mehrerer neuer „Arbeitsgemeinschaften“, deren Aktivitäten allem Anschein nach nicht kontinuierlich waren. Im Jahresbericht für 1925 wurden als aktive Orts- und Regionalvereine der DLM Danzig und Wiesbaden sowie Westfalen und Sachsen aufgeführt. 28 Im Jahre 1926 war dann von 23 Arbeitsgemeinschaften im Reiche die Rede, 29 deren öffentliche Wirksamkeit vorwiegend auf Vorträge bekannter Pazifisten oder reichsweite Kampagnen in Fragen des politischen Strafrechts eingegrenzt blieb. Das intellektuelle und logistische Zentrum der DLM war Berlin. Dort hatte der BNV in der Umbruchsituation der Jahreswende 1918/ 19 aus der Auflösung der zahlreichen Militärämter der Kriegsjahre einen räumlich großzügig bemessenen und prestigereichen Sitz in der Wilhelmstraße 48 zugesprochen bekommen, 30 den er bis Oktober 1927 beibehielt. In 23 Cf. die Skizze des 1906 von Ernst Haeckel gegründeten Deutschen Monistenbundes, in: Reinhold Lütgemeier-Davin: Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation, op. cit., p. 69sq. Cf. neuerdings auch Frank Simon-Ritz: Die Organisationen einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland, Gütersloh 1997. 24 So Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 127. 25 Cf. dazu unten Abschnitt 2 und als Überblick Kurt R. Grossmann: Ossietzky. Ein deutscher Patriot, Frankfurt/ Main 1973, p. 195sq. 26 Die Menschenrechte, 22.4.1932. 27 Die dem Verfasser vorliegende Kopie des Verbandsorgans Die Menschenrechte bricht im Juni 1932 ab; vermutlich existierte das Periodikum noch bis Anfang 1933. 28 „Warte für Menschenrechte“. Beilage zu: Das Andere Deutschland vom 20.2.1926. 29 Die Menschenrechte vom 1.2.1927. Genannt wurden neben Berlin: Aue im Erzgebirge, Chemnitz, Dreisel, Dresden, Erfurt, Frankfurt/ Main, Friedrichsfeld bei Wesel, Hamburg, Herford, Insterburg, Leipzig, Liegnitz, München, Mönchen-Gladbach, Stuttgart, Urach, Vietz, Villingen, Weimar, Wels, Wiesbaden, Zwickau. 30 Cf. Kurt R. Grossmann, op. cit., p. 68. <?page no="40"?> 40 unmittelbarer Nähe des Auswärtigen Amtes und im Zentrum der meinungsbildenden Hauptstadt angesiedelt, wurde der Berliner Sitz der Liga zu einem Treffpunkt deutscher und internationaler Pazifisten und zum Anziehungspunkt juristisch ausgebildeter oder interessierter Intellektueller. Zu dieser Funktion trug bei, dass dort auch der Sozialwissenschaftliche Club der DLM, der „gesellschaftliche Zweig des Bundes“, 31 untergebracht war, der ein anspruchsvolles Vortrags- und Diskussionsprogramm anbot und Beziehungen zur (privat gegründeten) Hochschule für Politik unterhielt. 32 Andere ständige Einrichtungen der Liga waren die Rechtsstelle, die im November 1925 gegründete Jugendgruppe und die von der DLM mit initiierte, dann jedoch organisatorisch selbständige Republikanische Beschwerdestelle. Eine enge Zusammenarbeit entstand zwischen der DLM und dem Bund entschiedener Schulreformer (BeS), der wie die Liga die antimilitaristische Erziehung und die deutsch-französische Versöhnung förderte. Namentlich der Berliner Reformpädagoge Siegfried Kawerau (1886-1936) verkörperte als zeitweiliges Vorstandsmitglied der DLM und tatkräftiger Organisator deutsch-französischen Schüleraustauschs diese Zusammenarbeit. Mit der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) hatte die Kooperation qua Doppelmitgliedschaft führender Sprecher beider Organisationen schon im BNV der Kriegsjahre begonnen. Sie setzte sich nach 1918 fort durch die Mitgliedschaft und Wirksamkeit in beiden Organisationen, die z.B. für den Heidelberger Hochschullehrer Emil Julius Gumbel (1891- 1966) 33 feststellbar ist. Von den in der DFG konkurrierenden Richtungen stand die DLM dem Westdeutschen Landesverband (WLV), der 1924 von Fritz Küster (1889-1966) ins Leben gerufen wurde, 34 am nächsten, der wie Friedrich Wilhelm Foerster davon überzeugt war, dass Deutschland nach wie vor ein potentieller Kriegsherd sei. In der von Küster gegründeten Zeitschrift „Das Andere Deutschland“ verfügte die DLM ab April 1925 über eine Beilage (Warte für Menschenrechte), die der internen Kommunikation in der Liga dienen und zugleich deren Stimme in die Debatten der DFG tragen sollte. Ab April 1926 verfügte die DLM dann über eine eigene 31 Ibid. 32 Mit großer Wahrscheinlichkeit ging er hervor aus der Gesellschaft für republikanisch-demokratische Politik, die 1922 gegründet worden war und u. a. Hellmut von Gerlach und Harry Graf Keßler zu ihren Wortführern zählte. Am Jahresende 1924 fusionierte die Gesellschaft mit der DLM. Cf. Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 27. 33 Zu dieser intellektuellen Schlüsselgestalt des organisierten Pazifismus in der Weimarer Republik cf. Christian Jansen, Emil Julius Gumbel: Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991. 34 Zur Rolle und zu den Zielen des Westdeutschen Landesverbandes und seiner Affinität zur DLM cf. Friedrich-Karl Scheer, op. cit., p. 511; er gilt dem Autor als „die geschlossenste radikale Gruppe innerhalb der Friedensgesellschaft“. Zu Fritz Küster und seinem Periodikum „Das Andere Deutschland“ cf. auch knapp und informativ den entsprechenden Artikel von Helmut Donat, in: Id., Karl Holl (ed.): Die Friedensbewegung, op. cit., p. 241sq. <?page no="41"?> 41 Monatsschrift „Die Menschenrechte“, die anfangs von Jürgen Kuczynski und zuletzt von Kurt Grossmann (1897-1972) geleitet wurde. Mehr Publizität zu erreichen, als dies mit den auf das pazifistische Milieu beschränkten Periodika möglich war, versuchte die DLM in ihrer organisatorischen Praxis durch die Herausstellung bekannter Persönlichkeiten. Das öffentliche Bekenntnis zu Frieden, Völkerverständigung und sozialer Reform durch bekannte Persönlichkeiten aus Aristokratie und Bürgertum war bereits ein wirksames Werbungsinstrument des BNV im Kriege gewesen. Kurt von Tepper-Laski (1850-1931), ein Star des Hindernisreitens, und Graf Arco (1869-1940), weithin bekannter technischer Direktor von Telefunken, setzten ihr soziales Kapital für die gerechte Sache ein und ihr Bekenntnis sollte andere Menschen überzeugen. Die DLM berief sich nachdrücklich in vielen Artikeln und Hinweisen auf namhafte Mitglieder des BNV, die im Kampf gegen Nationalismus und Militarismus mit ihrem Leben bezahlt hatten: der Schriftsteller und Philosoph Gustav Landauer (1870-1919), der unabhängige Sozialdemokrat und bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (1867-1919) und der ehemalige Kolonialoffizier und Publizist Hans Paasche (1881-1920). 35 Diese und andere Opfer politischer Mordanschläge aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik wurden in der Öffentlichkeitsarbeit der Liga als Blutzeugen für die Notwendigkeit des republikanischen Rechtsstaats und der Friedenssicherung angerufen. Von den Vorstandsmitgliedern der DLM gehörten viele zu den habituellen Unterzeichnern der zahlreichen Manifeste, in denen flagrante Verletzungen individueller Grundrechte in der Geschichte der Weimarer Republik angeprangert wurden. Der Vorstand der Liga umfasste zwischen 10 und 15 Mitglieder und er wurde unterstützt von einem etwas größeren „politischen Beirat“. Eine Zufallsstichprobe der Zusammensetzung des DLM- Vorstandes gibt einen Eindruck von der vorherrschenden Honoratioren- Struktur des Verbandes. 1925 gehörten z.B. zum gewählten Führungsgremium 36 die folgenden Persönlichkeiten: der Senatspräsident am Berliner Kammergericht Arnold Freymuth (1872-1933), der sich maßgeblich in der Republikanischen Beschwerdestelle engagierte; der österreichische Sozialphilosoph und Publizist Rudolf Goldscheid (1870-1931); der Offizier und Publizist Paul Freiherr von Schoenaich (1866-1954), der über die linksliberale DDP zur Friedensbewegung gekommen war; der Marineoffizier und Publizist Lothar Persius (1864-1944), der regelmäßig in der „Weltbühne“ schrieb; der langjährige Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Berlin- Schöneberg Robert Kuczinsky (1876-1947), der besonders in den Beziehungen der Liga zur französischen Ligue des Droits de l’Homme in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine zentrale Rolle spielte; und schließlich der Jurist, vormalige Vorsitzende der Zentrale der KPD und derzeitige sozial- 35 Zu diesem Vorkämpfer der DLM, in deren Presse oft beschworen, cf. Helmut Donat, Helga Paasche (ed.): „Ändert Euren Sinn! “ Schriften eines Revolutionärs, Bremen 1992. 36 Cf. Warte für Menschenrechte vom 30.1.1926. <?page no="42"?> 42 demokratische Reichstagsabgeordnete Paul Levi (1883-1930). Die Geschäftsleitung der DLM oblag dem BNV-Mitbegründer Otto Lehmann- Rußbüldt (1873-1964), der 1926 wegen eines Konflikts über Unregelmäßigkeiten in der Ausübung seines Amtes abgelöst wurde; im Zusammenhang mit diesem innerorganisatorischen Streit zogen sich A. Freymuth, L. Persius und (zeitweilig) auch Hellmut von Gerlach von der Liga zurück. Die Geschäftsführung ging im Juni 1926 über auf den gelernten Bankkaufmann und Sozialdemokraten Kurt Grossmann (1897-1972), der die Liga bis zu ihrem Ende 1933 leitete. Der DLM-Vorstand, der 1927 amtierte, 37 zählte neben von Schoenaich, Kuczynski und Lehmann-Rußbüldt auch Emil J. Gumbel in seinen Reihen, dem seit Mitte der zwanziger Jahre die Rachsucht seiner nationalistischen Heidelberger Hochschulkollegen wegen seines republikanischen Engagements galt. Neu waren als Vorstandsmitglieder auch die renommierten Schriftsteller Arthur Holitscher (1869-1941), der bereits Mitglied des BNV im Weltkrieg gewesen war, und Kurt Tucholsky (1870-1935), der Weltbühnen-Autor, der auch im DLM-Organ Die Menschenrechte publizierte und in der Nie-wieder-Krieg-Bewegung der Jahre 1920 bis 1926 mitgearbeitet hatte. Im letzten, 12 Mitglieder umfassenden Führungsgremium der DLM im Jahre 1932 waren u.a. Gumbel und Lehmann-Rußbüldt wiederum vertreten. 38 Von den bekannten Protagonisten des deutschen Pazifismus traten nunmehr hinzu: Hellmut von Gerlach, Siegfried Kawerau, sowie die Schriftsteller Carl von Ossietzky (1889-1938) und Ernst Toller (1893-1939). Die wechselnde Zusammensetzung der jährlich neu gewählten obersten Repräsentanz der DLM belegt außer der dominanten intellektuellen Honoratiorenstruktur auch eine ausgeprägte Symbiose mit anderen Organisationen der Friedensbewegung. 39 Sie zeigt aber auch deren weitgehende subkulturelle Abschließung in der Weimarer Gesellschaft, denn ganz neue Namen tauchten im DLM-Vorstand während der zweiten Hälfte der Weimarer Republik nicht mehr auf. Die zunehmende Aufsplitterung der organisierten Friedensbewegung, ihr endogenes Scheitern, 40 trug in der Spätphase der Weimarer Republik dazu bei, dass sie 1933 zum wehrlosen Opfer ihres extremsten Gegners, des Nationalsozialismus, wurde. 37 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 129. 38 Die Menschenrechte vom 22.4.1932: „Jahresversammlung der Deutschen Liga für Menschenrechte“. 39 Zu den Affinitäten und wechselnden Aktionsgemeinschaften im Lager des organisierte Pazifismus cf. vor allem Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 105sq., und Friedrich-Karl Scheer, op. cit., p. 356sq. 40 Cf. dazu detailliert Otmar Jung: „Spaltung und Rekonstruktion des organisierten Pazifismus in der Spätzeit der Weimarer Republik“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1986, p. 207sq. <?page no="43"?> 43 2. Die Republik als Garant der Menschenrechte: Der Kampf der DLM für die Herrschaft des Rechts in Rechtsprechung, Reichswehr und Schule Im Gegensatz zu dem bis heute gängigen Diktum, der Weimarer Staat sei eine Republik ohne Republikaner gewesen, waren die zeitgenössischen Wortführer der DLM der Auffassung, es gebe in Deutschland Republikaner, aber noch keine Republik. Diese Republik galt es in Deutschland überhaupt erst zu ermöglichen durch den Kampf gegen die gesellschaftlich starken Bastionen der Monarchie und des preußischen Militarismus. Die praktische Durchsetzung der Menschenrechte, die Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik waren in dieser Sicht die Bedingungen für die Möglichkeit eines republikanischen Gemeinwesens. Diese Bedingungen wollte die DLM schaffen durch eine Art republikanische Wächterrolle in der Tagespolitik der Weimarer Demokratie. Als Brennpunkte ihrer Aufmerksamkeit waren aufgrund der gesellschaftlichen Kontinuitäten vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik vorgegeben: der Justiz- und Beamtenapparat und die Reichswehrführung. Die Liga war mit ihren geringen Kräften allein nicht imstande, gegen Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen in diesen staatlichen Kernbereichen einzuschreiten. Aber sie verfolgte ihre Ziele in der tagespolitischen Kleinarbeit als Anwalt der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Opfer von Fehlentscheidungen und in mehreren Fällen (in Verbindung mit anderen republikbejahenden Kräften) auch als Initiator in größeren Kampagnen gegen manifeste Fehlentwicklungen staatlicher Institutionen (insbesondere in der Reichswehr).Die größte Intensität erreichten diese Aktivitäten der DLM in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten im Jahre 1925 steigerte ihre kritische Aufmerksamkeit. Die von ihr aufgegriffenen Fälle prägten in erheblichem Maße das Bild, das in der französischen Menschenrechtsliga von den Zuständen in Deutschland vorherrschte. Der wesentliche Unterschied des innenpolitischen Engagements der deutschen Liga im Vergleich mit den Wirkungsmöglichkeiten der LDH bestand darin, dass die Protagonisten dieser Vereinigung in Deutschland als Abtrünnige ihrer Klasse oder ihres Standes angesehen wurden und ihnen hohe staatliche Ämter verschlossen blieben, während die französischen Liga-Mitglieder (zumal seit der Regierung des Cartel des Gauches ab Mai 1924) in verantwortliche Positionen einrücken und ihre Wertmaßstäbe dort zur Geltung bringen konnten. An einigen Beispielen seien im folgenden exemplarisch die anonymen Hilfs- und die spektakulären Enthüllungsaktionen der deutschen Menschenrechtsliga aufgezeigt. Die DLM-Statuten von 1927 umrissen einen Katalog der bevorzugten Aktionsformen. Zur Verwirklichung ihrer Ziele sollten dienen: „1. Herstellung und Verbreitung aufklärender Flugschriften; 2. Veranlassung wissen- <?page no="44"?> 44 schaftlicher Untersuchungen und gutachterlicher Äußerungen erfahrener Praktiker und deren Verwertung durch Eingaben an Staatsleitung, Parteien und Fachorganisationen; 3. Veranstaltung von Diskussionsabenden zum Zwecke der Klärung und Vertiefung wichtiger Fragen; 4. Veranstaltung von öffentlichen Vorträgen und Kundgebungen; 5. Rechtsberatung und nach Möglichkeit Rechtsschutz bei politischen Rechtsstreitigkeiten; 6. Pflege der Beziehungen zu verwandten Organisationen des In- und Auslandes mit dem Ziel der Völkerverständigung.“ 41 Die Satzung der DLM von 1932 ergänzte diesen Katalog um den Punkt „Jugendpflege“. 42 In der praktischen Anwendung dieses Instrumentariums zeichnen sich in der Tätigkeit der DLM die Beratungsaktivität für die Opfer, sowie die justiz- und militärkritische Öffentlichkeitsarbeit gegen die Urheber des Unrechts als Schwerpunkte ab. Die Berliner Rechtsstelle der Liga begann 1924 ihre Tätigkeit unter der Leitung des Rechtsanwalts Konrad Ziffer. Sie bearbeitete 1925 bereits 307 Fälle politischer Strafjustiz 43 und baute ihre Beratungstätigkeit besonders unter der DLM-Geschäftsführung von Kurt Grossmann ab Mitte 1926 aus. 1926 erreichten die DLM-Beratungsstelle 765 Eingänge, im Jahre 1929 waren es 4.220, die vor allem im Zusammenhang standen mit Fragen des Gnadengesuchs, der Strafwiederaufnahme-Verhandlung, des Strafvollzugs und des Fremdenrechts. Von 1926 bis 1929 durchliefen rund 15.000 Gesuche die Rechtsstelle der DLM. Von diesen konnten etwa 40% bearbeitet werden. In der Bilanz für das Jahr 1929 hieß es zu den praktischen Ergebnissen dieser Rechtshilfe: „Im letzten Jahr ist es uns gelungen, das Netz unserer Mitarbeiter für die Rechtsstelle über die wichtigsten Plätze auszubreiten. Soweit wir unsere Erfolgsstatistik führen konnten, sind im letzten Jahr 174 Erfolge aufzuweisen. Damit ersparten wir 344 Jahre Einsperrung, erzielten drei Freisprüche, 35 Aufenthaltserlaubnisse (Ausweisungsverfügungen wurden zurückgezogen), Unterstützungen in der Höhe von 9.000 M., diverse Male Strafvollzugserleichterungen, Strafurlaub, Aufhebungen von Todesurteilen in Auswirkung des Falls Jakubowski. Abschließendes kann mit dieser Statistik nicht gegeben werden, weil die Anwälte zum Teil noch die Sachen in Händen haben, die Petenten sich oft nach dem Erfolge nicht mehr melden usw.“ 44 41 Abgedruckt in Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 129sq. 42 Die Menschenrechte vom 22.4.1932, p. 57. 43 Warte für Menschenrechte vom 20.2.1926: „Bericht der Geschäftsstelle über das Jahr 1925“. 44 Ibid. Zu dem Fall Jakubowski cf. auch die Sondernummer von Die Menschenrechte, 1929, Nr. 7/ 8. Die DLM führte über Jahre einen Kampf um die Wiederaufnahme des 1925 wegen Mordes verurteilten und hingerichteten Landarbeiters Jakubowski. In der Wiederaufnahme des Falles wurde die Schuld des Verurteilten 1929 für nicht erwiesen erklärt. Die DLM errichtete eine Jakubowski-Stiftung und berief sich auf den Fall in ihrem Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe. Im Fall Jakubowski ging es ihr (ähnlich wie im Fall Bullerjahn) im zivilrechtlichen Bereich exemplarisch um die Verwirklichung elementarer Menschenrechte und um die Aufdeckung von Justizunrecht. <?page no="45"?> 45 Einem ähnlichen Grundgedanken entsprach die Republikanische Beschwerdestelle, die um die Jahreswende 1924/ 25 mit Hilfe von Vorstandsmitgliedern der DLM ins Leben gerufen wurde. Auch dieses locker geknüpfte Netz von entschiedenen Befürwortern der Republik beabsichtigte, deren Prinzip der Volksherrschaft in der alltäglichen Verwaltungspraxis der Ämter und Behörden zur Geltung zu bringen. Sekretär dieser Einrichtung, die als eingetragener Verein mit Sitz in Berlin eine eigene Rechtsperson darstellte, war der Publizist Alfred Falk (geb. 1896, gestorben nach 1945 in Nizza). 45 Zur Arbeitsweise der Republikanischen Beschwerdestelle schrieb Falk im April 1926: „Wir kämpfen für die Republik, nicht für diese Republik, sondern für einen wirklichen freien Volksstaat [...]. Die Beschwerdestelle sammelt das Material über Verstöße gegen die Hoheit und Sicherheit der Republik und unterbreitet es sinngemäß und unter Benutzung der entsprechenden Gesetze und Verordnungen den zuständigen und verwantwortlichen Behörden des Reichs, der Länder und der Kommunen. D.h. also: Die Beschwerdestelle kann als Privatorganisation natürlich nichts selbst veranlassen, wohl aber kann sie den Behörden sagen: hic Rhodos, hic salta! Die gesetzliche Grundlage bietet der Art. 126 der Reichsverfassung, nach welchem jeder Deutsche für sich allein und auch in Gemeinschaft mit anderen ausdrücklich das Beschwerderecht hat. Im Laufe der Zeit erreichten wir es, daß wir nahezu in jeder größeren Stadt mehrere Mitarbeiter fanden. Vertrauensleute, unbedingt zuverlässige Republikaner, die alles Wesentliche an die Zentrale meldeten.“ 46 Von Oktober 1924 bis Mai 1927 wurden von der Vereinigung mehr als 2.000 Fälle bearbeitet, die u.a. Bezug hatten auf Herausstellung monarchistischer Symbole, Schmähung der Republik, kriegsfördernde Schulbücher und Unterrichtsleiter. 47 Die anfangs im DLM-Organ häufigeren Nachrichten über Interventionen der Beschwerdestelle gegen antirepublikanisches Handeln der Behörden wurden gegen Ende der zwanziger Jahre seltener. Sicher ist jedoch, dass Alfred Falk vor der Gründung der Republikanischen Beschwerdestelle und nach der Unterdrückung der DLM ab 1933 der deutschen Menschenrechtsliga engstens verbunden war. Er leitete nach einer Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung den BNV bzw. die DLM in Berlin-Nord gemeinsam mit seinem Freund Robert W. Kempner (1899-1993), dem späteren stellvertretenden Hauptankläger beim Internationalen Militärgericht in Nürnberg 1946. Und er leitete nach Antritt des Exils im März 1933 die Ligue allemande pour la Défense des Droits de l’Homme et du citoyen in Straßburg, die eine wichtige Rolle spielte in der internationalen Öffentlich- 45 Zur Biographie cf. den Beitrag von Helmut Donat in: Ders. und Karl Holl (ed.): Die Friedensbewegung, op. cit., p. 106sq. 46 Alfred Falk: „Die Republikanische Beschwerdestelle. Was ist sie und was will sie? “, in: Die Menschenrechte, April 1926. Als umfassende Monographie cf. Otmar Jung, „Verfassungsschutz privat. Die Republikanische Beschwerdestelle e.V. (1924-1933)“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1987, p. 65-93. 47 Cf. Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 120. <?page no="46"?> 46 keitskampagne für die Verleihung des Friedens-Nobelpreises an Carl von Ossietzky. 48 In der politischen Manifest- und Protestkultur der Weimarer Republik nahm die DLM vermittels des Engagements ihrer bekannten Sprecher oder als kollektiver Akteur eine hervorragende Stellung ein. In vielen ad-hoc- Aktionen griff sie Missstände im Strafvollzug auf oder befürchtete Einschränkungen der Freiheit der öffentlichen Meinung (durch entsprechende Gerichtsurteile bzw. durch die Verschärfung der Zensurbestimmungen) und machte sie zum Gegenstand öffentlicher Diskussion. Zum Beispiel führte die DLM am 25. Januar 1929 in Berlin eine Versammlung gegen staatliche Zensurmaßnahmen durch. Die stark besuchte öffentliche Veranstaltung wurde geleitet u.a. von Arthur Holitscher, Herbert Ihering, Walter Hasenclever und Paul Hermann Oestreich (Bund entschiedener Schulreformer). Sie erhielt Solidaritäts-Bekundungen von Thomas Mann, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Ödon von Horwarth und vielen Gruppen. 49 Ab 1930 hatte die Liga Veranlassung, ihre Bemühungen für die innere Demokratisierung des Bildungssystems um einen neuen Kampfplatz zu erweitern. Sie protestierte gegen die Berufung des Schriftstellers Dr. Hans Günther auf eine Professur für Rassenkunde, die für ihn an der Universität Jena eingerichtet worden war: „Die Liga weist darauf hin, daß die ernste anthropologische Wissenschaft die Schriften von Dr. Hans Günther als ein Sammelsurium tendenziöser Klitterung betrachtet, dass die Berufung eines solchen Schriftstellers an eine der angesehensten deutschen Universitäten offensichtlich parteipolitische Zwecke verfolgt; und dass die Tätigkeit eines solchen Universitätslehrers bei der Ausbildung der Jugend im empörenden Widerspruch zu dem Artikel 148 der Reichsverfassung steht. - Aus diesem Grunde und weil ferner die Betrauung eines solchen politischen Schriftstellers mit einem Lehramt dem Rufe und der Würde der deutschen Wissenschaft in der gesamten Welt schadet, zumal die Universität Jena durch ihre große Tradition aus dieser Zeit unserer Klassiker und Humanisten ein nationales Heiligtum für das ganze Volk darstellt, verlangt die Deutsche Liga für Menschenrechte das Einschreiten der Reichsregierung.“ 50 Dem Protest schlossen sich 30 Hochschullehrer und einige Reichstagsabgeordnete (aus den Reihen der Weimarer Koalitlion) an. 51 48 Cf. Helmut Donat: Alfred Falk, loc. cit., p. 107; Falk nahm 1940 die französische Staatsbürgerschaft an. 49 „Gegen die Zensur, für die Geistesfreiheit! “, in: Die Menschenrechte, Februar 1929. 50 „Hochschullehrer gegen Dr. Günther! “, in: Die Menschenrechte, 1930, Nr. 5/ 6, p. 19. 51 Cf. dazu auch Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 121, der nachweist, dass der BNV seit 1918 gegen „Judenhetze“ eingeschritten sei. Bereits im November 1923 hatte die DLM (anlässlich des Hitler-Putsches in München) im Scheunenviertel von Berlin eine Demonstration zum Thema „Die nationale und kulturelle Schande der Judenhetze“ durchgeführt, (cf. ibid.). Im September 1930 hieß es in einem (u. a. von Gerhart Hauptmann und Thomas Mann unterzeichneten) Aufruf gegen den Antisemitismus: „Die schwierige wirtschaftliche Lage wird von unverantwortlichen Elementen dazu benützt, eine schamlose antisemitische Hetze zu entfalten, die sich in letzter Zeit so <?page no="47"?> 47 Über dergleichen beharrliche Tagesarbeit hinaus, die mit dem Ziel geführt wurde, aus der proklamierten Republik eine gelebte Republik zu machen, war die DLM aktiv einbezogen in politische Großkampagnen, die die Aufmerksamkeit der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit erregten. Drei solcher Kampagnen, die teilweise über mehrere Jahre dauerten, waren: der Volksentscheid zur Fürstenabfindung, die Aufhebung des Zuchthaus-Urteils wegen Landesverrats gegen Felix Fechenbach und die Begnadigungsaktion für den wegen Landesverrats verurteilten Carl von Ossietzky. Die erste dieser Kampagnen zielte u.a. auf die Erschütterung der gesellschaftlichen Machtbasis der preußischen Aristokratie. Die beiden anderen dekouvrierten den politischen Missbrauch des Straftatbestandes des Landesverrats durch antirepublikanisch voreingenommene Richter. Die Frage der Fürstenenteignung kam im November 1925 auf die Tagesordnung, nachdem Repräsentanten der DDP und der KPD Reichsgesetz-Entwürfe zur Entscheidung über das Vermögen der politisch 1918 entmachteten Fürstenhäuser vorgelegt hatten. Da diese Entwürfe auf dem parlamentarischen Wege keine Chance hatten, übernahm die DLM im Dezember 1925 die Initiative für die Konstituierung eines Ausschusses zur Durchführung des Volksentscheids für entschädigungslose Enteignung der früheren Fürstenhäuser. Diesem Ausschuss, dem Robert Kuczynski, Ludwig Quidde und Helene Stöcker vorstanden, 52 traten 17 andere Verbände bei, und zwar u. a. auch die KPD. Eine Zusammenarbeit der DLM mit der KPD war zuvor nie versucht worden; sie wurde erst durch die Einheitsfront-Strategie der Kommunisten ermöglicht. Der Gesetzentwurf dieses Ausschusses vom 18. Januar 1926 sah vor: die Verteilung des Kapitalvermögens der Fürstenhäuser an Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, die Übertragung des Eigentums an Grund und Boden an Kleinbauern und Pächter sowie die Nutzung der Schlösser und Immobilien zu Wohlfahrts- und Erziehungszwecken. 53 Die anfänglich ablehnende SPD schloss sich der Fürstenenteignungs-Bewegung schließlich an, und es wurde ein gemeinsamer Gesetzentwurf des Ausschusses der pazifistischen Verbände, der SPD und der KPD Ende Januar 1926 dem Reichsinnenministerium vorgelegt. Die Agitation und Werbung für die Unterstützung des Volksentscheids lag von Januar bis Juni 1926 überwiegend bei den „Kuczynski- Ausschüssen“ im Reich. Das organisatorische Zentrum der Fürstenenteiggesteigert hat, dass offene Pogrome angedroht werden. Das Bestreben, eine besondere Schicht des deutschen Volkes für die wirtschaftliche Depression verantwortlich zu machen, muss von jedem anständigen Menschen auf das allerschärfste zurückgewiesen werden.“ Die Menschenrechte vom 10. September 1930. 52 Cf. dazu u.a. die Flugschriften von Fritz Rück: Reiche Fürsten - Arme Leute. Der Volksentscheid für entschädigungslose Enteignung der Fürsten. Mit Einleitung von Robert Kuczynski, Berlin 1926. Arnold Freymuth: Fürstenenteignung - Volksrecht, Berlin 1926. Zur Geschichte der Kampagne cf. auch die Darstellung bei Friedrich-Karl Scheer, op. cit., p. 497sq. und Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 229sq. 53 „Gesetzentwurf über Enteignung der früheren Fürstenhäuser“, in: Warte für Menschenrechte vom 23.1.1926. <?page no="48"?> 48 nungskampagne war der Sitz der DLM in der Berliner Wilhelmstraße 48. 54 Bei der Abstimmung am 20. Juni 1926 votierten rund 14,5 Millionen (37% der Wahlberechtigten) mit Ja. Das war ein eindrucksvoller Erfolg, aber nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Reichstag und Länderregierungen beschlossen in der Folgezeit Abfindungen der Fürstenhäuser, deren Höhe im Trend der vorausgegangenen Richtersprüche bei den vermögensrechtlichen Prozessen der betroffenen Adelshäuser lag. Gegen diese Art der Voreingenommenheit der deutschen Richter zugunsten der vordemokratischen Kräfte in der Republik stritt die DLM auch dauerhaft in Zusammenhang mit dem politischen Strafrecht. 55 Deutlicher als in der Episode der Fürstenabfindungs-Kampagne stand dies Ringen der DLM (und des BNV) im Mittelpunkt ihrer öffentlichkeitsbezogenen Aktivitäten während der ganzen Periode der Weimarer Republik. In den Buch- und Flugschriften-Publikationen der DLM nahm das Thema der einseitigen Anwendung des politischen Strafrechts gegen die Linke neben der Kritik an der Reichswehr den größten Raum ein. Besondere juristische Beweis- und politische Durchschlagskraft erreichte im Zusammenhang mit diesem Dauerthema der DLM die Broschüre von Emil Julius Gumbel über den „politischen Mord“ und seine richterliche Ahndung in der Weimarer Republik. 56 Der Statistiker Gumbel hatte 1922 errechnet, dass in der Bürgerkriegsphase von 1918 bis 1922 insgesamt 376 politische Morde verübt worden waren. Davon waren 354 Morde von rechtsstehenden Tätern, 22 Morde von Linken begangen worden; ungesühnt blieben auf der Seite der Rechten 326 von 354, auf der Seite der Linken 4 von 22 politisch motivierten Kapitalverbrechen; in der Strafzumessung bei den gesühnten Morden erhielten im statistischen Durchschnitt die Delinquenten der Linken 15 Jahre, diejenigen der Rechten 4 Monate Freiheitsentzug; 10 der Täter von links wurden hingerichtet, während für die rechtsstehenden Mörder keine einzige Todesstrafe verhängt und durchgeführt wurde. 57 Das hier zutage tretende groteske Missverhältnis in der gerichtlichen Verfolgung und Strafzumessung gegenüber der politisch Rechten und Linken wurde von 54 Dort erschienen u.a. auch die Mitteilungen des Ausschusses zur Durchführung des Volksentscheides für entschädigungslose Enteignung der Fürsten (Kuczynski- Ausschuss) von Januar bis Juli 1926. 55 Cf. dazu zahlreiche Experten-Stellungnahmen zu Fragen des Strafrechts und des Richterrechts in: Die Menschenrechte; z.B.: „Zum Strafgesetzentwurf (31.12.1928)“; „Erst Richterreform - dann Strafrechtsreform (1.2.1927)“. 56 Cf. dazu von Emil Julius Gumbel die folgenden Broschüren: Zwei Jahre Mord. Mit einem Vorwort von Prof. G. F. Nicolai, Berlin 1921; Vier Jahre Mord, Berlin 1922; Verräter verfallen der Ferne, Berlin 1929; „Laßt Köpfe rollen“. Faschistische Morde 1924-1931, Berlin 1931. 57 Cf. dazu auch Franz-Josef Lersch: „Politische Gewalt, politische Justiz und Pazifismus in der Weimarer Republik. Der Beitrag E.J. Gumbels für die deutsche Friedensbewegung“, in: Karl Holl, Wolfram Wette (ed.): Pazifismus in der Weimarer Republik, op. cit., p. 113sq. <?page no="49"?> 49 der DLM auch angeprangert in der richterlichen Handhabung der Anklage des Landesverrats. In der mittleren Phase der Weimarer Republik häuften sich die Verfahren wegen Landesverrats gerade gegen die pazifistischen Kritiker der offensichtlichen Mängel in der Verfassungswirklichkeit der Republik. Gumbel, von Gerlach, Lehmann-Rußbüldt, Küster u.a. DLM-Mitglieder wurden des publizistischen Landesverrats beschuldigt, jedoch nur in wenigen Fällen konnte die Anklage tatsächlich mit einer Verurteilung abgeschlossen werden. 58 In zwei solcher Verurteilungen wegen angeblichen Landesverrats gegen Mitglieder der eigenen Vereinigung führte die deutsche Menschenrechtsliga einen langen Kampf um die Aufhebung der Urteile. In beiden Fällen, demjenigen von Felix Fechenbach und dem des Carl von Ossietzky, war die DLM juristisch erfolgreich, aber politisch insofern unterlegen, dass sie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die direkte bzw. indirekte Ermordung ihrer Mandanten nicht verhindern konnte. 59 Felix Fechenbach (1894-1933) war Sekretär des BNV-Mitglieds Kurt Eisner gewesen, als dieser im November 1918 Ministerpräsident in Bayern wurde. Nach Eisners Ermordung fand Fechenbach in dessen Nachlass kompromittierende Annexionspläne deutscher Politiker aus den Kriegsjahren und Dokumente zur Konstituierung rechtsradikaler militärischer Geheimbünde in Bayern aus der Nachkriegszeit und übergab sie einem Schweizer Journalisten. Dafür wurde er im Oktober 1922 von einem bayerischen Volksgericht zu 11 Jahren Zuchthaus wegen Landesverrats verurteilt. Die DLM führte von Anfang 1923 bis Ende 1924 eine breite Kampagne zur Rehabilitierung Fechenbachs durch. In deren Verlauf wurde eine Großkundgebung in Berlin im Januar 1923 und Anschlussvorträge im Reich (Hamburg, Leipzig, München, Frankfurt/ Main, Heidelberg) durchgeführt. Anerkannte Juristen (darunter Arnold Freymuth von der DLM) veröffentlichten Gutachten zugunsten des Verurteilten. 60 Die viel gelesene Kulturzeitschrift „Das Tagebuch“ (herausgegeben vom DLM- Mitglied Leopold Schwarzschild 61 ) nahm sich 1924 des Falles an. Schließlich bewirkte ein Telegramm des Deutschen Friedenskartells an den Papst, dass Fechenbach zu Weihnachten 1924 freigelassen wurde. 62 Die pazifistischen Verbände insistierten jedoch auf einem Wiederaufnahmeverfahren, das 1926 vom Reichsgericht durchgeführt wurde, ohne dass die prozessrechtlichen Mängel des Urteils von 1922 aufgedeckt worden wären. 63 Fe- 58 Cf. ibid., p. 132sq. 59 Zur Biographie cf. Hermann Schueler: „Auf der Flucht erschossen“. Felix Fechenbach 1894-1933, Köln 1981. 60 Cf. Otto Lehman-Rußbüldt, op. cit., p. 118sq. 61 Cf. dazu jetzt Antonia Opitz: „Die Stellung Frankreichs im Europadiskurs der Wochenschrift ‚Das Tagebuch‘“, in: Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes (1918-1933), Bern, Berlin 1997, p. 51sq. 62 Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 197sq. 63 Cf. „Der Fall Fechenbach“, in: Die Menschenrechte vom 1.3.1927. <?page no="50"?> 50 chenbach, der Ende der zwanziger Jahre dem politischen Beirat der DLM angehörte, blieb in den Augen der Rechtsradikalen und der Nationalsozialisten stigmatisiert als „Novemberverbrecher“. Er wurde Anfang März 1933 verhaftet und auf dem Weg in das Konzentrationslager Dachau erschossen. Die fragwürdige Anwendung des Verdachts auf Landesverrat durch die Justizbehörden stand auch im Mittelpunkt des Falles Ossietzky. Nachdem in der Weltbühne, der von Ossietzky (1889-1938) herausgegebenen öffentlichkeitswirksamen Wochenschrift, im März 1929 eine Kritik an der verdeckten Finanzierung des Flugzeugbaus mit militärischer Nutzungsmöglichkeit durch das Reichsverkehrsministerium veröffentlicht worden war, wurde im August 1929 vom Reichsgericht in Leipzig die Vernehmung des Weltbühnen-Herausgebers und seines Autors wegen Landesverrats und des Verrats militärischer Geheimnisse begonnen. 64 Das Urteil im Weltbühnen-Prozess vom November 1931 lautete auf 18 Monate Gefängnis für jeden der beiden Journalisten; es wurde in der Urteilsbegründung in seiner Härte gerechtfertigt mit dem Hinweis, hinsichtlich der Presse ein Exempel statuieren zu müssen. Anlass und Ergebnis des Weltbühnen-Prozesses hatten in der internationalen Öffentlichkeit eine beträchtliche Resonanz u.a. deswegen, weil der militärische Flugzeugbau durch den Versailler Vertrag verboten war. Die DLM berief umgehend in Berlin eine Protestkundgebung am 29. November 1932 ein, die von Siegfried Kawerau geleitet wurde. Die Jahresversammlung der DLM vom 19./ 20. März 1932 wählte als Geste der Solidarität Carl von Ossietzky (mit Ernst Toller) in den Vorstand der Vereinigung und der Weltbühnen-Herausgeber nahm die Wahl an. 65 Eine von der DLM gemeinsam mit dem PEN-Club an den Reichspräsidenten gerichtete Bitte um Straferlass oder Strafumwandlung wurde abgelehnt und Ossietzky trat am 10. Mai 1932 seine Haft im Tegeler Gefängnis an. Die DLM und der PEN-Club mobilisierten eine Unterschriftenaktion für die Begnadigung des Verurteilten, der sich über 43.000 Personen anschlossen; zu den Unterzeichnern gehörten Thomas und Heinrich Mann, Arnold Zweig, Jacob Wassermann, Lion Feuchtwanger u. a. 66 Ossietzky wurde aufgrund einer größeren Amnestie zu Weihnachten 1932 freigelassen, jedoch in der Nacht des Reichstagsbrandes erneut verhaftet und von den Nationalsozialisten in „Schutzhaftanstalten“ und im Konzentrationslager interniert, wo er gefoltert wurde und tödlich erkrankte. Das Schicksal Carl von Ossietzkys war Anlass der letzten großen Kampagne, die von den führenden Mitgliedern der DLM für die Behauptung der Menschenrechte geführt wurde, nachdem sie bereits (nach dem 28. Februar 1933) ins Exil 64 Als neuere Biographie über Ossietzky cf. Elke Suhr, Carl von Ossietzky: Eine Biographie, Köln 1988; aufgrund zahlreicher Dokumenten-Belege zur Tätigkeit der DLM immer noch unentbehrlich die Biographie Kurt Grossmann: Ossietzky, op. cit. 65 Kurt Grossmann, op. cit., p. 224. 66 „Die DLM appelliert für Ossietzky bei dem Reichspräsidenten für die Custodia honesta“, in: Die Menschenrechte vom 22.4.1932. <?page no="51"?> 51 gezwungen worden waren. Die DLM-Exilgruppen in Paris um Hellmut von Gerlach und Emil J. Gumbel, in Straßburg um Alfred Falk, in London um Otto Lehmann-Rußbüldt und in Prag um Kurt Grossmann versuchten ab Anfang 1934 erfolgreich, Ansprechpartner ihrer Gastländer zu finden, um eine internationale Solidarisierungsaktion für Carl von Ossietzky zu starten. Diese Aktion fand ab Mitte 1934 Echo in mehreren europäischen Ländern. Sie zielte darauf, am Beispiel Ossietzkys auf die unmenschliche Situation der politischen Häftlinge des „Dritten Reichs“ aufmerksam zu machen und durch internationalen Druck auf die Nationalsozialisten deren Lage und Schicksal zu verbessern. Insbesondere aufgrund der beharrlichen Arbeit der Pariser DLM-Exilgruppe um Hellmut von Gerlach war es möglich, Anfang Februar 1935 einen formgerechten Vorschlag zur Nominierung Carl von Ossietzkys für den Friedensnobelpreis vorzulegen. 67 Die DLM-Gruppe in Paris setzte ihre Bemühungen auch nach dem Tode von Gerlachs im August 1935 fort. Der Empfehlung Ossietzkys für den Friedensnobelpreis schlossen sich die Nobelpreisträger Albert Einstein und Thomas Mann öffentlich an. Am 23. November 1936 verlieh das Osloer Komitee rückwirkend für 1935 den Friedensnobelpreis an den körperlich gebrochenen Pazifisten. Seine Freunde aus der DLM sahen in dieser Verleihung einen „moralischen Sieg“ über den Nationalsozialismus. 68 3. Die Republik als „Brücke über dem Abgrund“ zwischen Deutschland und Frankreich: Der Kampf der DLM für die Friedenssicherung. Die Pazifisten und Republikaner, die sich im BNV und in der DLM zusammenschlossen, hatten als kleinsten gemeinsamen Nenner, dass sie nicht an „den Primat des Militärischen in der Politik“ glaubten. 69 Dieser Leitsatz inspirierte die Tätigkeit des BNV im Ersten Weltkrieg und die Kämpfe der DLM in der Weimarer Republik. Aus dieser Überzeugung resultierte auch einerseits ihr beharrliches Bemühen um die Herbeiführung von Gesellschaftskontakten mit anderen Nationen und andererseits die zunehmende Kritik an der Rolle des Militärs in der Entwicklung der Weimarer Republik. Beide Kontinuitätslinien der DLM-Politik, die Herstellung von Kooperations- und Freundschaftsbeziehungen (besonders mit Frankreich und Polen) sowie die Bekämpfung des sträflichen Einverständnisses zwischen Reichswehr und Regierung (besonders in der Frage der „Schwarzen Reichswehr“ und der verdeckten Aufrüstung) bedingten einander weitgehend. Der innenpolitische Kampf der DLM gegen Monarchie und Militarismus er- 67 So Kurt Grossmann, op. cit., p. 283. 68 Ibid., p. 306 sq. 69 So die Formulierung von Carl von Ossietzky in seinem viel zitierten Weltbühnen- Artikel: „Rechenschaft“, in: Die Weltbühne vom 10.5.1932. <?page no="52"?> 52 möglichte es den Vertretern der französischen LDH, auf die Existenz des „anderen Deutschland“ hinzuweisen und für eine schiedlich-friedliche Lösung der Konflikte mit dem Nachbarland zu werben. Es entstand im Organisationsbereich von DLM und LDH aufgrund der gemeinsamen Festlegung auf die Grundwerte der Republik und der Friedenssicherung über die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland hinweg das erste Kommunikationsgeflecht nach 1918, das nicht nur auf das Intellektuellenmilieu begrenzt war, 70 sondern auch (vorzugsweise über den Schüleraustausch) gesellschaftliche Verankerungspunkte aufwies. Die gemeinsamen Wertorientierungen und Begegnungsaktivitäten dieses frühesten deutschfranzösischen Verständigungsmilieus nach dem Ersten Weltkrieg schlossen tagespolitische Differenzen der Liga-Anhänger auf der einen und der anderen Seite des Rheins nicht aus; sie relativierten diese allerdings in viel höherem Maße als in den bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Verständigungsmilieus der Locarno-Ära in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Mit dem ihm eigenen Pathos artikulierte z.B. ein Vertreter der pazifistischen Jugendbewegung diese Gewissheit der übernationalen Gemeinsamkeit der Gleichgesinnten in beiden Ländern: „Ich liebe das andere Frankreich, wie ich das andere Deutschland liebe. [...]. Viele eng befreundete Männer und Frauen kämpfen drüben den gleichen Kampf mit mir. Und in den breiten Massen des Volkes fand ich dieselbe Tapferkeit, dasselbe Leid, dieselbe herzliche Anteilnahme und Menschlichkeit, wodurch sich das deutsche Volk so vorteilhaft von seiner Herrenkaste unterscheidet. Und ich sollte diesem Volk nicht mit derselben Liebe zugetan sein wie dem eigenen? Ich sollte seinen Feind, - Poincaré, Ludendorff - nicht mit derselben Entschlossenheit bekämpfen, wie ich den Feind meines Volkes - Ludendorff, Poincaré - bekämpfe? - Deutsche und Franzosen, wir haben die gleichen Interessen, wir haben dieselben Feinde. Ziehen wir die Konsequenzen daraus. Wir gehören zusammen. Auch ich habe einmal in Frankreich den anderen Menschen gesucht. Ich fand meinen eigenen Bruder - das Geschöpf gleicher Rasse, Verhältnisse und Zivilisation. Und auch ich suchte nach der anderen Kultur, ich fand nur die eigene wieder.“ 71 Wenngleich die Protagonisten der DLM in der Weimarer Republik je länger, je weniger heimisch wurden, so stilisierten sie Frankreich doch niemals als Ersatzheimat, sondern bezogen sich auf das Nachbarland eher als Ansporn 70 Zur milieugebundenen Reichweite der parallel verlaufenden französisch-deutschen Kommunikation im Kreis um die Nouvelle Revue Française cf. auch meine Darstellung: „La postérité européenne de Jacques Rivière. Les débats sur le rapprochement franco-allemand et l’entente européenne dans les milieux proches de la NRF durant l’entre-deux-guerres“, in: Bulletin des Amis de Jacques Rivière et d’Alain Fournier, 1998, Nr. 87/ 88, p. 97-111. 71 Hein Herbers: „Deutschland und Frankreich“, in: Warte für Menschenrechte vom 29.8.1925. Hein Herbers (1895-1968) kam aus der Freideutschen Jugendbewegung, war Kriegsfreiwilliger gewesen und wurde im Ersten Weltkrieg zum USPD- Anhänger und Pazifisten. <?page no="53"?> 53 für die Verwirklichung der Republik im eigenen Lande. Die Republik sollte gemäß der zündenden Formel des französischen LDH-Sprechers Victor Basch die „Brücke über dem Abgrund“ zwischen Deutschland und Frankreich werden und den tiefen Konflikt zwischen den beiden Hauptantagonisten der Versailler Nachkriegsordnung lösen helfen. Die Aufnahme von konstruktiven Beziehungen zwischen pazifistischen Republikanern in Deutschland und Frankreich vollzog sich in den Jahren von Kriegsende bis zum Vertrag von Locarno (Oktober 1925). Danach traten parallele bilaterale Verständigungsorganisationen (Deutsch-Französische Gesellschaft, Deutsch-Französisches Studienkomitee) auf und in der Arbeit der DLM rückte der innenpolitische Kampf ums Recht in den Vordergrund. 72 Die Kontakte zwischen der LDH und der (ungleich schwächeren) DLM hatten sich in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik bereits eingespielt und für die deutsche Liga gewann die Herstellung regelmäßiger Treffen mit der polnischen Menschenrechtsliga seit Mitte der zwanziger Jahre zunehmend an Bedeutung. 73 Diese Prioritätenverlagerung wurde z.B. sehr deutlich formuliert von Robert Kuczynski, wenn er im Juni 1926 in Wien sagte: „Die Deutsche Liga hat jahrelang - soweit ihre Zeit und Kraft nicht durch die Verteidigung der Menschenrechte in der Heimat beansprucht waren - ihr Hauptaugenmerk auf die Verständigung mit Frankreich gerichtet. Die Entspannung, die glücklicherweise endlich auch in dem Verhältnis der beiderseitigen Regierungen eingetreten ist, hat es uns ermöglicht, unsere Arbeit nunmehr dem Osten zuzuwenden. [...] So nahmen wir im Sommer 1925 die systematische Zusammenarbeit mit der polnischen Schwesterorganisation in Angriff.“ 74 Das hier zum Ausdruck gebrachte Bewusstsein, dass die eigene Pionierarbeit für die deutschfranzösische Annäherung mit dem Locarno-Vertrag politisch umgesetzt und insofern zu einem gewissen Abschluss gekommen sei, ist auch in den Stellungnahmen der LDH nachweisbar. 75 Eine Skizze des Verlaufs und der Motive der Verbindungen zwischen der französischen und der deutschen Menschenrechtsliga kann sich also auf die erste Hälfte der Weimarer Republik konzentrieren. Die wechselseitige Kenntnisnahme zwischen französischen Pazifisten und Republikanern und dem BNV begann bereits während der Kriegsjahre. Die Gründer dieser Oppositionsbewegung, besonders Otto Lehmann- Rußbüldt und Kurt von Tepper-Laski, hatten sich schon 1913 nachdrücklich öffentlich für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt und dafür im Rahmen des Deutschen Monistenbundes geworben. Die laïzisti- 72 Cf. dazu Abschnitt IV und VIII dieses Buches. 73 Dazu als Überblick Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 111sq. 74 „Die Liga für Menschenrechte und der Friede“, in: Die Menschenrechte vom 1.6.1926. 75 Cf. die Belege in: François Beilecke: „Der Deutschlanddiskurs in den ‚Cahiers des Droits de l’Homme‘ 1920 bis 1930. Begründungsstrategien der LDH für eine deutschfranzösische Annäherung“, in: Lendemains. Etudes comparée sur la France, 1998, Nr. 89, p. 42-67. <?page no="54"?> 54 sche Entwicklung in Frankreich bot dafür ebenso Anknüpfungsmöglichkeiten wie die ausgedehnten internationalen Beziehungen des bekannten Springreiters Tepper-Laski. Die späteren BNV-Gründer waren 1913 an dem deutsch-französischen Parlamentarier-Treffen in Bern und an einer deutsch-französischen Journalisten-Begegnung in Brüssel beteiligt. 76 Nach Konstituierung des BNV trat dieser im Januar 1915 mit Romain Rolland in Verbindung, indem das Gründungsmitglied Lilli Jannasch ihm die Flugschriften des Bundes zusandte. Die Vertreterin stellte ihre Organisation dar als „un groupe de personnes qui désirent combattre le chauvinisme et préparer l’opinion publique dans la direction d’une paix qui respecte l’honneur national de tous les partis combattants.“ 77 Romain Rolland begrüßte die Initiative des BNV, seine Beziehungen zu den deutschen Antimilitaristen wurden jedoch u.a. durch die denunziatorische Behauptung seiner französischen Gegener, er sei Mitglied des BNV, und durch gelegentlich sorglosen Umgang mit seinen Texten in den Mitteilungsblättern des Bundes kompliziert. 78 Einem Emissär des BNV, der ihn im Mai 1915 in Genf besuchte, billigte er Glaubwürdigkeit zu hinsichtlich der Absichtserklärung des Berliner Komitees: „Il me donne la preuve, en effet, qu’il existe en Allemagne un très fort parti contre la guerre. Loin d’abdiquer, il a toujours poursuivi avec succès sa propagande. De la façon la plus nette, Eduard Fuchs me déclare que leur but (idéal) est l’union des nations d’Europe (au moins de l’Europe occidentale) et en même temps (l’un ne va pas sans l’autre) la démocratisation de l’Allemagne. Il me parle du militarisme prussien comme de l’ennemi commun.“ 79 Die Vertreter des BNV sahen sich mit diesem Programm in Frankreich während der Kriegsjahre auch richtig verstanden und wiedergegeben in Schriften des Sozialisten Salomon Grumbach und des LDH-Repräsentanten Victor Basch. 80 Namentlich der Artikel von Basch „Les hirondelles“, mit dem er am 1. November 1914 in La Guerre Sociale auf die Existenz des gerade gegründeten BNV hingewiesen hatte, wurde von dessen Sprechern als wertvolle Ermutigung aufgefasst. 81 Der ausgewiesene Deutschlandkenner hatte dort seine These von der Kontinuität einer Alternative zum preußischen Militarismus in der politischen Kultur des Nachbarlandes vertreten: „C’est à la fois une contrevérité et une tactique imbécile de soutenir que l’Allemagne toute entière a été atteinte de la démence pangermaniste. Je l’ai dit dans ma brochure sur la Guerre de 1914 et le Droit, et je le répète aujourd’hui avec plus d’énergie encore: Il y a eu en Allemagne, avant la guerre, des forces considérables 76 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 9sq. 77 Cf. Pierre Grappin, op.cit., p. 37sq. den Brief an Rolland vom 18.1.11915. 78 Dazu eingehend die Darstellung Pierre Grappin, op. cit. 79 Tagebucheintragung vom 4.6.1915, zitiert nach Pierre Grappin, op. cit., p. 47. 80 Cf. Salomon Grumbach: Das annexionistische Deutschland. Mit Anhang: Das antiannexionistische Deutschland, Lausanne 1916; Victor Basch: La guerre de 1914 et le Droit, Paris 1915 (Ligue des Droits de l’Homme). 81 Cf. dazu das Zeugnis von Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 71sq. <?page no="55"?> 55 luttant contre le pangermanisme et l’impérialisme, et il n’était nullement certain qu’elles ne dussent pas l’emporter sur ceux-ci.“ 82 Basch sah den BNV in der Verlängerung dieser Tradition. Er umriss damit eine potentielle antipreußisch-republikanische Wertegemeinschaft zwischen Franzosen und Deutschen, die dann unmittelbar nach Kriegsende von der LDH und dem BNV wiederentdeckt wurde. Die friedenspolitischen Auslandskontakte des BNV erstreckten sich während der Kriegsjahre dann allerdings nicht auf Frankreich. Noch in einem Überblick über die „Schwesterorganisationen“ des Bundes in Europa von 1918 waren keine französischen (wohl aber niederländische, englische, schweizer, spanische und schwedische) Vereinigungen aufgeführt. 83 Sowohl die frankophilen Überzeugungen der BNV-Gründer, als auch die zentrale Bedeutung der französisch-deutschen Beziehungen für die europäische Nachkriegsordnung bewirkten jedoch, dass erste Beziehungen zwischen der deutschen pazifistisch-republikanischen Vereinigung in Berlin und der französischen Menschenrechtsliga in Paris ab 1920 hergestellt wurden. Gemäß Lehmann-Rußbüldt war es ein in Berlin weilender Deutsch-Professor, der als Mitglied der LDH 1920 erste Korrespondenzbeziehungen zwischen beiden Organisationen vermittelte. 84 Lehmann- Rußbüldt berichtete in mehreren Artikeln in der deutschen Presse über die Ligue des Droits de l’Homme, die angesichts der Empörung in Deutschland über Entstehung und Inhalt des Versailler Vertrags dort nicht zur Kenntnis genommen worden war. Der BNV-Sekretär notierte dazu: „Eine einfache Sache, die aber selbst auf der Linken wie die Entdeckung eines bis dahin nicht bekannten fremden Menschenstammes wirkte.“ 85 Tatsächlich war die außenpolitische Neuorientierung der LDH seit 1920 und die friedenspolitische Positionsbestimmung im BNV in den Jahren 1919/ 20 wohl die unabdingbare Voraussetzung für eine sinnvolle Kontaktnahme zwischen den beiden Vereinigungen. Im Lager der deutschen Pazifisten vollzog sich in den ersten Nachkriegsjahren insgesamt ein widerspruchsvoller und mühsamer Klärungsprozess zu den Fragen Versailler Vertrag, Völkerbund und Ruhrbesetzung. Innerhalb dessen ging die DLM in der Regel ihren eigenen Weg, der durch kontinuierliche Verständigungsbemühung mit den französischen Pazifisten der LDH charakterisiert war. 86 Die Prinzipien, die nach dem Willen des BNV die internationalen Beziehungen bestimmen sollten, waren im Revolutionsprogramm wie folgt umrissen: 82 Text auszugsweise abgedruckt in den Cahiers des Droits de l’Homme vom 10.1.1922, p. 7. 83 Cf. dazu die Auflistung bei Pierre Grappin, op. cit., p. 105. 84 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 101 nennt den Namen Eugen Kößler. 85 Ibid. 86 Zur politischen Stellungnahme des organisierten Pazifismus in der Weimarer Republik im allgemeinen zu diesen Kardinalfragen der Außenpolitik cf. auch Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 130sq. und p. 191sq. und: Friedrich-Karl Scheer, op. cit., p. 356sq. <?page no="56"?> 56 „Überstaatliche Organisation: Selbstbestimmungsrecht der Völker über ihre staatliche Zugehörigkeit und Regierungsform durch Urabstimmung, Errichtung eines überstaatlichen Völkerbundes mit Weltparlament, Schiedsgerichtsbarkeit und Vollzugsgewalt gegen Staaten, die sich nicht fügen wollen. Verbot von Sonderbünden und Geheimverträgen. Beseitigung aller wirtschaftlichen und persönlichen Verkehrsbeschränkungen, Freihandel.“ 87 Diese Grundsätze mussten in den tagespolitischen Existenzfragen, die durch die Siegermächte mit den Pariser Vorortverträgen vorgegeben wurden, konkretisiert werden. Der BNV hatte in der Beratungsphase der Friedensverträge durch die Ententemächte von Januar bis Mai 1919 im nationalen Rahmen die Dolchstoß-Legende bekämpft 88 und im internationalen Rahmen geworben für einen „Frieden der Gerechtigkeit und Völkerversöhnung“. 89 Der Versailler Vertrag war für die völkerrechtlichen und diplomatischen Experten, über die die Organisation verfügte, eine Enttäuschung. Ihr Angebot an die deutsche Regierung, u.a. Georg Graf Arco und Hellmut von Gerlach als Berater zur Pariser Friedensdelegation hinzuzuziehen, wurde abgelehnt. Die unmittelbare Reaktion nach Bekanntgabe des Versailler Vertrags war, die Unvereinbarkeit seiner Inhalte mit den 14 Punkten Wilsons anzuprangern. Man gab andererseits zu bedenken: „Es ist allerdings festzustellen, daß die offizielle Politik und die öffentliche Meinung Deutschlands in den letzten beiden Jahrzehnten dem pazifistischen Gedanken geradezu feindlich gegenüber gestanden haben, und dass die gesamte äußere und innere Politik Deutschlands von einem imperialistisch-militaristischen Standpunkte aus geführt wurde. Daraus erklärt sich sowohl der Hass der Welt gegen Deutschland als auch die Beurteilung der Kriegsschuld.“ 90 Die BNV- Resolution machte gleichwohl deutlich, dass der Vertrag in der vorliegenden Form nur mit dem Vorbehalt ratifiziert werden könne, dass er unerfüllbar sei. Am 20. Juni 1919 appellierte der Bund an die Parteien der Weimarer Koalition, den Vertrag anzunehmen, um den völligen Zusammenbruch Deutschlands zu vermeiden, und mit der Zuversicht, „daß internationaler Pazifismus und internationaler Sozialismus [die] Revision dieses Gewaltfriedens erzwingen werden.“ 91 In der durch Art. 231 des Vertragstextes provozierten Frage der „Alleinschuld“ der Deutschen am Ersten Weltkrieg lief das Urteil des BNV darauf hinaus, die Schuld des alten militaristischen und autokratischen Deutschland anzuerkennen, nicht aber die Verantwortung des deutschen Volkes und auch nicht die „Alleinschuld“ Deutschlands. Es gehörte in den zwanziger Jahren dann zu den Standardthemen der DLM-Presse, den Nachweis zu führen, dass in Art. 87 Pierre Grappin, op. cit., p. 117. 88 Otto Lehmann-Rußbüldt, op. cit., p. 93. Cf. dazu auch die BNV-Flugschrift Otto Lehmann-Rußbüldt: Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront? , Berlin 1919. 89 Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 93. 90 Ibid., p. 94. 91 Ibid., p. 95. <?page no="57"?> 57 231 eine alleinige Schuld des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch auch gar nicht behauptet werde: „Es steht weder darin noch sonstwo etwas von der ‚Schuld’ oder gar der ‚Alleinschuld’ Deutschlands. Es wird vom ‚Angriff’ Deutschlands und seiner Verbündeten gesprochen. Ferner wird durch die Präambel dieser Angriff dahin erläutert, daß die Zentralmächte die ersten drei Kriegserklärungen abgegeben haben und die belgische Neutralität verletzt hätten. Die Schadensersatz-Pflicht resultiert gar nicht aus dem Versailler Vertrag, sondern aus der angenommenen Lansingnote vom 5. November 1918. Würde man sich auf eine Erklärung einigen, daß der Art. 231 und der Versailler Vertrag nur juristische und historische Feststellungen und nichts über die ‚moralische’ Seite enthalten, so wäre Wesentliches zur Beruhigung aller Völker gewonnen.“ 92 Der BNV und seine Nachfolgeorganisation DLM bejahten konsequent die moralische Verpflichtung Deutschlands, für die in Nordfrankreich angerichteten Kriegszerstörungen materielle Entschädigungen und Aufbauhilfe zu leisten; sie lehnten jedoch die im Januar 1921 bekannt gewordenen langfristigen alliierten Reparationsforderungen ebenso entschieden ab, ohne indes in das in der deutschen Öffentlichkeit anhebende Protestgeschrei einzustimmen. 93 In der gemeinsamen Erklärung von LDH und BNV/ DLM vom Januar 1922 wurde diese moralische Entschädigungspflicht von deutscher Seite kombiniert mit der französischen Selbstverpflichtung auf die Akzeptierung von Reparationen durch Sachleistungen. 94 Diese Frage der Verpflichtung der deutschen Pazifisten auf den Wiederaufbau der nordfranzösischen Kriegszerstörungen erhielt in der Folgezeit einen hohen symbolischen Stellenwert in den deutsch-französischen Begegnungen dieses Milieus. Albert Einstein z. B., der dem BNV angehörte und der DLM nahestand, bekräftigte bei seinem Paris-Besuch von 1922 diese Pflicht durch die Besichtigung der nordfranzösischen Kriegszerstörungen, 95 und viele andere Frankreichbesucher der DLM wiederholten diese Geste. Die DLM akzeptierte also niemals ohne Vorbehalte die vom Versailler Vertrag begründeten Reparationsforderungen (obwohl dies ihre Gegner in Deutschland behaupteten), sondern sie suchte nach einer Formel, die den berechtigten Ansprüchen Frankreichs Genüge tun sollte, ohne der deutschen Volkswirtschaft ruinöse Bürden aufzulasten. Sie akzeptierte auch nicht den Versailler „Gewaltfrieden“, sondern setzte darauf, dass man mit ihm leben müsse und könne unter der Bedingung, ihn durch die Praxis der deutsch-französischen Verständigung zu revidieren. 92 Ibid., p. 97. Cf. dazu auch Robert Kuczynski, Hans Schwann: Über die Reparationszahlungen Deutschlands, über den Wiederaufbau in Frankreich, über Militärkontrolle und Völkerbund, Berlin 1924. 93 Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 205. 94 Cf. dazu den Text des gemeinsamen Aufrufs von LDH und BNV bzw. DLM, in: Kurt R. Grossmann: Ossietzky, op. cit., p. 335 sq. 95 Cf. dazu die interessante Darstellung Michel Biezunski: Einstein à Paris, Saint-Denis 1992. <?page no="58"?> 58 Eine ähnliche pragmatische (nicht aber prinzipielle) Akzeptanz charakterisierte auch die Haltung des BNV bzw. der DLM zum Völkerbund, der als Teil der Versailler Nachkriegsordnung ins Leben gerufen worden war. Die Idee der (west-)europäischen Integration war von Otto Lehmann- Rußbüldt bereits 1914 in einer Broschüre über „Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa“ 96 vorgetragen worden. Während des Weltkrieges verdichtete sich die Überzeugung im BNV, dass diese Idee infolge des Krieges mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus dem Bereich des utopischen Denkens in die tagespolitische Programmatik hinüberwechseln werde. In einer Denkschrift des Bundes vom März 1915 hieß es dazu: „Der BNV hat die Absicht, an der kulturellen und politischen Verständigung der europäischen Völker zu arbeiten. Wir glauben, daß die bittere Schule des Weltkrieges wohl alle, die noch nicht ganz auf bestimmte Parteimeinungen eingeschworen sind, von der unbedingten Notwendigkeit eines solchen Zieles überzeugt haben dürfte. Eine solche Politik wird man heute nicht mehr als Utopie, sondern als ernste Realpolitik bezeichnen.“ 97 Im Revolutionsprogramm des BNV von 1918 wurde dann die Errichtung eines „überstaatlichen Völkerbundes mit Weltparlament, Schiedsgerichtsbarkeit und Vollzugsgewalt“ aufgenommen. 98 Gemessen an dieser maximalistischen Vorstellung war dann die Völkerbund-Satzung, die die Entente-Mächte als Bestandteil des Versailler Vertrages vorlegten, überaus unbefriedigend. Die deutschen Pazifistenkongresse der Jahre 1919 bis 1922 befassten sich eingehend mit der Völkerbund-Satzung. 99 Die Stellungnahmen reichten von schroffer Ablehnung (Erich Fried) bis zur Annahme mit Vorbehalten (Graf Kessler, Hermann Kantorowicz). Die Vertreter des BNV neigten eindeutig der letzteren Position zu. 100 Der Bund setzte sich in den Beratungen ein für den „wahren Völkerbund“, der in Anlehnung an Graf Kessler verstanden wurde als eine „rationelle und soziale Welt- und Nationalwirtschaftsorganisation“. 101 In der Erwartung, dass der ins Leben gerufene Völkerbund entwicklungsfähig sei zu einer friedenssichernden Weltorganisation, war der BNV eine der aktivsten Organisationen der frühen zwanziger Jahre, die für den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund warben. Mitte Juli 1923 veranstaltete er gemeinsam mit der Deutschen Liga für Völkerbund eine 96 Die Schrift erschien anonym in Berlin 1914. 97 Zitiert in Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 22. 98 Pierre Grappin, op. cit., p. 117. 99 Cf. dazu den Überblick in Marianne Brink: Deutschlands Stellung zum Völkerbund in den Jahren 1918/ 19 bis 1922 unter besonderer Berücksichtigung der politischen Parteien und der Pazifisten-Vereinigungen, Diss. phil. FU Berlin 1966, p. 194sq. 100 Vom BNV wurden u. a. vertrieben die Schriften: Hermann Kantorowicz: Verteidigung des Völkerbundes, Berlin 1922, und Harry Graf Kessler: Richtlinien für einen wahren Völkerbund, Wiesbaden 1920. Zur Völkerbund-Diskussion cf. auch Otto Lehmann- Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 105sq. 101 Cf. ibid., p. 98. Zur kritischen Diskussion der Völkerbund-Konzeption von Graf Kessler cf. auch Peter Grupp: Harry Graf Kessler 1868-1937. Eine Biographie, München 1996, p. 203sq.: Völkerbundpropaganda. <?page no="59"?> 59 Großkundgebung in Berlin für den Eintritt Deutschlands in die Genfer Institution. Im September 1924 wurde eine Delegation der DLM von Herriot in Genf empfangen, der den deutschen Ligisten versicherte, Frankreich werden den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund begrüßen und sich für die Zuerkennung eines ständigen Sitzes verwenden. 102 In der gemeinsamen Erklärung von LDH und DLM vom Januar 1922 verpflichteten sich beide Organisationen darauf, für einen Völkerbund, „der nicht von Regierungen, sondern aus den Völkern gebildet wird“, und für die Aufnahme Deutschlands zu kämpfen. 103 Nach erfolgter Aufnahme Anfang September 1926 kommentierte man: „Wir freuen uns dieser Entwicklung, freuen uns besonders darüber, daß ein großer Teil der politisch Interessierten, die uns 1918 und 1919, als wir Pazifisten allein für den Völkerbund eintraten, verleumdeten und als Untertanen und Agenten des ‚Feindbundes’ usw. hinstellten, heute den Eintritt in den Völkerbund als selbstverständlich ansehen.“ 104 Als besonderer Beitrag des BNV bzw. der DLM zur Diskussion der Formen übernationaler Integration und Zusammenarbeit verdient festgehalten zu werden, dass von diesen Gruppierungen schon sehr früh die Forderung nach einer europäischen Zollunion vertreten wurde. An der Paneuropa-Bewegung Coudenhove-Kalergis ließ man die entsprechenden zollpolitischen Einsichten gelten, missbilligte aber die Ausgrenzung Großbritanniens und der Sowjet-Union aus ihrer Europakonzeption. Eine Zusammenfassung der europapolitischen Gedanken des Sekretärs der DLM von 1925 zielte auf die „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“. 105 Die Bedingungen für die Vereinigten Staaten von Europa, die unter dem Dach des Völkerbundes errichtet werden sollten, waren für Lehmann- Rußbüldt: 1. die Beseitigung der noch vorhandenen Monarchien und die Durchsetzung republikanischer Verfassungsvarianten und 2. die Schaffung der europäischen Zollunion. Deren Notwendigkeit umriss er im Juni 1926 so: „Die zweite ebenso wichtige Voraussetzung für eine Republik Europa ist der vollständige Abbau der vorhandenen Zollmauern zwischen den Staaten und die Beseitigung aller jener Hemmnisse im Verkehrs- und Währungswesen, Handelsrecht, Niederlassungsrecht, die das Leben in Europa so zwecklos erschweren, wie das vor 100 Jahren in Deutschland mit seinen 36 Staaten geschah. [...] Die Entwicklung des Luftverkehrs wird hier mehr revolutionieren als die Einsicht der Menschen. Früher taten das die Eisenbahnen. Ohne den radikalen Abbau der Zoll- und Verkehrsmauern bliebe aber die Republik Europa ein wackeliges Gebilde. Eine ausgearbeitete ‚Ver- 102 Cf. Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 106. Die Deutsche Liga für Völkerbund war eine von den Parteien der Weimarer Koalition 1918 gegründete Vereinigung, die stärker mit diesen Parteien direkt verbunden war als der BNV. Cf. zur Völkerbunds-Liga auch Marianne Brink, op.cit., p. 185. 103 Cf. den Text des Aufrufs, in: Grossmann: Ossietzky, op. cit. 104 „Deutschland Mitglied des Völkerbundes“, in: Das Andere Deutschland vom 11.9.1926. 105 Cf. dazu Otto Lehmann-Rußbüldt: Republik Europa, Berlin-Hessenwinkel 1925. <?page no="60"?> 60 fassung’ wird dann von selbst kommen.“ 106 Auf Anregung der DLM wurde Ende Juni 1926 in Brüssel ein Kongress des Internationalen Verbandes der Ligen für Menschenrechte einberufen, der dem Thema galt: „Für die Vereinigten Staaten von Europa! “. Dort referierten u.a. der französische Historiker Alphonse Aulard zur Geschichte der Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ und Robert Kuczynski (DLM) sprach zu den politischen und technischen Aspekten der „europäischen Zollunion.“ 107 Nachdem der BNV in den ersten Nachkriegsjahren also seine friedenspolitische Positionsbestimmung in der dargestellten Weise vorgenommen hatte, verdichtete sich 1921 die Kommunikation und der Austausch mit der LDH, die ihrerseits in den Cahiers des Droits de l’Homme 1920/ 21 anerkennend über die Vereinigung der pazifistischen Republikaner in Deutschland berichtet hatte. 108 Der BNV war im Spektrum des organisierten Pazifismus in Deutschland (stärker noch als der Westdeutsche Landesverband (WLV) 109 der Deutschen Friedensgesellschaft) in diesen Jahren die Gruppierung, die sich aufgrund ihres republikanischen Engagements am konsequentesten auf den Dialog mit den französischen pazifistischen Republikanern einstellte. In der Bewertung dieser programmatischen Konvergenz und praktischen Kooperation zwischen BNV bzw. DLM und der LDH kann man sich sicherlich nicht allein der Selbstaussage dieser Organisationen, aber auch nicht ihrer Charakterisierung durch ihre Gegner anschließen. In die Gefahr der letztgenannten Fehleinschätzung begibt sich folgende Bewertung: „Die Liga war weit eher als die DFG bereit, den Wünschen ihrer französischen Freunde nachzugeben, so daß häufig der Eindruck erweckt wurde, sie betreibe Liebedienerei gegenüber Frankreich. Die DFG, abgesehen von ihrem durchweg frankophil orientierten WLV, berücksichtigte mehr die nationalen deutschen Interessen“. 110 Wie in der vorausgehenden Darstellung der Einstellung des BNV zur Frage des Versailler Vertrages und des Völkerbundes deutlich wird, kann von einer „Liebedienerei“ gegenüber Frankreich und einer Hintanstellung nationaler Interessen nicht die Rede sein. Allerdings waren die Wortführer des Bundes vom unauflösbaren Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik überzeugt und setzten auf die friedenssichernde Funktion einer transnationalen Verständigung und Annäherung mit den politisch nahe-stehenden Kräften der Republik auf der anderen Seite des Rheins. Der Aufruf „An die Demo- 106 Otto Lehmann-Rußbüldt: „Die europäische Revolution. Wann schlägt ihre Stunde? “, in: Die Menschenrechte vom 16.6.1926. 107 „Für die Vereinigten Staaten von Europa! “, in: Die Menschenrechte vom 1.7.1926. Robert Kuczynski hatte sich einen Namen erworben als Wirtschaftsexperte durch die Herausgabe einer „Deutsch-Französischen Wirtschaftskorrespondenz“ 1924/ 25. 108 Cf. dazu den Beitrag von François Beilecke, loc. cit., dort bes. die in Anmerkung 58 genannten Aufsätze. 109 Der WLV war 1924 von Fritz Küster gegründet worden und vertrat eine rigorose Kritik am „preußischen Militarismus“; er trat besonders in der Aufdeckung illegaler Aufrüstung in Deutschland hervor. 110 Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 206. <?page no="61"?> 61 kratien Deutschlands und Frankreichs“, der auf der Grundlage dieser Überzeugung vom BNV und der LDH im Januar 1922 gemeinsam veröffentlicht wurde, 111 enthielt keineswegs nur einseitige Konzessionen, sondern Forderungen an beide Partnerorganisationen. Der Aufruf war das erste von gesellschaftlichen Kräften frei vereinbarte Aktionsprogramm in den deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen. Es traf im Laufe der Besuchs- und Vortragsreisen in das Nachbarland, die von der LDH und der DLM in den folgenden Jahren durchgeführt wurden, in beiden Ländern auf den massiven Widerspruch und die Ablehnung der nationalistischen Rechten. Der Wunsch, in Deutschland eine Partnerorganisation zu haben, war in der LDH schon im Sommer 1921 geäußert worden. Das Zentralkomitee- Mitglied Emile Kahn regte auf einer Sitzung am 4. Juli 1921 an, anlässlich eines Pazifistenkongresses in Luxemburg Mitte August 1921 das Gespräch mit deutschen Delegierten aufzunehmen im Hinblick auf die Gründung einer deutschen Menschenrechtsliga. 112 Die entscheidenden Gespräche zwischen französischen und deutschen pazifistischen Republikanern wurden schließlich im Anschluss an einen von Marc Sangnier im Dezember 1921 einberufenen internationalen Kongress der Demokraten geführt. Von deutscher Seite waren die Testpersonen für die Kompatibilität und Glaubwürdigkeit der beiderseitigen Konzeption der Friedenssicherung Harry Graf Kessler, Hellmut von Gerlach, Friedrich Wilhelm Foerster und Otto Lehmann-Rußbüldt. Der in Paris geborene weltmännische Intellektuelle Graf Kessler (1868-1937) hatte bei einem ersten informellen Treffen im Salon von Mme Ménard-Dorian 113 schließlich den Eindruck, einem „peinlichen Verhör“ ausgesetzt zu werden, dessen Wortführer auf Seiten der Gastgeber Alphonse Aulard, Victor Basch und Salomon Grumbach waren. 114 Dies Gespräch förderte ebenso wie die von Ende Dezember 1921 bis Januar 1922 anschließenden Interviews des Zentralkomitees der LDH mit den Vertretern des BNV die spontane Gemeinsamkeit in der Verurteilung des „preußischen Militarismus“ zu Tage. Vor allem die mit den damaligen Vorstandsmitgliedern des BNV Hellmut von Gerlach und Georg Friedrich Nicolai (1874-1964) und dem Generalsekretär des Bundes, Otto Lehmann- Rußbüldt, am 3. Januar 1922 geführten Diskussionen 115 legten den Grund für den positiven Katalog von gemeinsamen Zielen, die in dem Aufruf „An die Demokratien Deutschlands und Frankreichs“ vorgestellt wurden. Der Aufruf wurde bis auf eine Ausnahme (Mathias Morhardt) vom Zentralko- 111 Cf. Grossmann: Ossietzky, op. cit, p. 335-343. 112 „Bulletin de la LDH“, in: Cahiers des Droits de l’Homme vom 10.10.1921. 113 Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/ Main 1961, p. 261, Eintragung vom 12.12.1921: „Abendgesellschaft bei Mme Ménard-Dorian: etwa fünfzig bis sechzig linksradikale Politiker usw.: hauptsächlich ‚Ligue des Droits de l’Homme’.“ 114 Ibid., p. 262. 115 Cf. Cahiers des Droits de l’Homme vom 1.3.1922: „Les Allemands à la Ligue II. La visite des délégués du ‚Bund‘“. <?page no="62"?> 62 mitee der LDH unterschrieben und am 25.1.1922 in den Cahiers des Droits de l’Homme veröffentlicht. In Deutschland schlossen sich der deutschfranzösischen Absichtserklärung an als Mitglieder des BNV: Eduard Bernstein, Albert Einstein, Hellmut von Gerlach, Graf Kessler, Käthe Kollwitz, Georg Friedrich Nicolai, Heinrich Mann, René Schickele, Helene Stöcker, Heinrich Ströbel, Kurt von Tepper-Laski u.a.; als Nichtmitglieder gaben ihre Unterstützung für den Appell eine größere Zahl von Hochschullehrern, Abgeordneten, Richtern und Wirtschaftsvertretern. 116 Am 23. Januar 1922 wurde in der Zentralkomitee-Sitzung der LDH mitgeteilt, dass sich der BNV kürzlich umbenannt habe in „Deutsche Liga für Menschenrechte“ und dass man Vertreter der LDH zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen habe. 117 Die praktische Umsetzung der somit zwischen LDH und DLM vereinbarten Aktionsgemeinschaft erwies sich in den Jahren des Kalten Krieges zwischen Deutschland und Frankreich bis 1924 als überaus schwierig. Die Ursachen für diese Schwierigkeiten waren angelegt in den strukturellen und konjunkturellen Gegebenheiten der bilateralen Beziehungen. Der in Reaktion auf das Zustandekommen und den Inhalt des Versailler Vertrages im Deutschen Reich entstandene außenpolitische Revisionismus war eine strukturelle Grundtatsache, die (in signifikanter Abstufung) die Verhaltensdisposition aller politischen Kräfte gegenüber Frankreich von rechts bis links bestimmte. 118 Durch die von Poincaré politisch verantwortete französisch-belgische Ruhrbesetzung des Jahres 1923 kam ein konjunktureller Bestimmungsfaktor hinzu, der es auch in der gesellschaftlichen Praxis kaum zuließ, freundschaftliche oder auch nur vertrauensvolle Beziehungen zu Frankreich aufzubauen. Die DLM hatte insofern einen denkbar schwierigen Stand in ihren Bemühungen, den Dialog auf der Ebene der Gesellschaft beider Nationen wieder aufzunehmen. Für das Krisenjahr 1923 konnte die DLM auf symbolische Akte der „Schwesterliga“ in Frankreich verweisen. Z.B. habe die LDH die Begnadigung angeblicher deutscher Saboteure im Ruhrgebiet, die Ausreiseerlaubnis für Ferienkinder aus dem besetzten Ruhrgebiet und den Protest im französischen Parlament gegen Ausschreitungen französischer Soldaten während der Ruhrbesetzung bewirken können. Sie machte geltend, dass die LDH im Laufe des Jahres 1923 „über 1000 Versammlungen gegen die Ruhrgebietsbesetzung“ durchgeführt habe. 119 In den Nie-wieder-Krieg-Demonstrationen von 1922 und 1924 seien jeweils französische Redner in Deutschland aufgetreten und im Juni 1924 sei der Appell Robert Kuczynskis an die Regierung des Cartel 116 Cf. das Verzeichnis der Unterschriften in: Kurt Grossmann, op. cit., p. 337sq. 117 Cahiers des Droits de l’Homme vom 10.3.1922, p. 139. 118 Cf. dazu die Analyse Michael Salewski: „Das Weimarer Revisionssyndrom“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 12.1.1980, p. 14-25. 119 So resümierend Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 102. Differenzierend zur Haltung der LDH angesichts der Ruhrbesetzung cf. den Beitrag von François Beilecke, loc. cit. <?page no="63"?> 63 des gauches zur Amnestierung deutscher Gefangener und Ausgewiesener im „Ruhrkrieg“ erfolgreich gewesen. Das Gewicht solcher vertrauensbildenden Gesten war angesichts der kollektiven Wut und Empörung in Deutschland über die Ruhrbesetzung gering. Sie trugen jedoch längerfristig zumindest im Milieu der pazifistischen Republikaner beider Länder zur Ausbildung nicht nur deklaratorischer, sondern gelebter Solidarität bei. Gleichsam die Gegenleistung der DLM war ihre rigorose antimilitaristische Wächterrolle über die Umgehungsversuche der Abrüstungsverpflichtung der Reichswehr 120 und ihr Kampf für die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. Die unter den skizzierten Umständen mühselig anlaufenden Begegnungsaktivitäten zwischen der LDH und der DLM waren längerfristig erfolgreich in zwei Bereichen: Zum einen im Redneraustausch, zum anderen im wechselseitigen Schüleraustausch. Die am Jahreswechsel 1921/ 22 von den BNV-Vertretern ausgesprochene Einladung an die LDH zum Besuch von Kundgebungsrednern in Deutschland kam im Juni 1922 zustande. Vom 9.-17. Juni reiste der größte Teil der Verbandsspitze der LDH nach Berlin und anschließend ins Ruhrgebiet, 121 um durch Vermittlung der DLM möglichst viele Deutsche direkt kennenzulernen, um deren Sicht des deutsch-französischen Problems zu erfahren und ihre eigenen Argumente vorzutragen. Gemäß den Berichten von Victor Basch und Thédore Ruyssen verliefen die Veranstaltungen und die (viel aufschlussreicheren) Privatgespräche über Erwarten gut. Die französischen Gäste wurden u.a. am 11. Juni im Sitzungssaal des Reichstags von dessen Präsidenten, dem Sozialdemokraten Paul Löbe, begrüßt und Victor Basch prägte in seiner Rede bei dieser Gelegenheit das Diktum von der „Brücke über dem Abgrund“, die man zu bauen versuchen müsse. 122 Basch bilanzierte seine Deutschland- Eindrücke vom Sommer 1922: „Nous avons constaté par l’accueil enthousiaste qui nous a été fait, qu’il y a des forces considérables en Allemagne qui luttent pour le rapprochement des deux peuples hier ennemis, et nous croyons que ce sont ces forces qui l’emporteront définitivement. Mais, en attendant que ces forces aient abattu les énergies contraires, qui sont encore 120 Cf. dazu aus einer größeren Zahl einschlägiger Veröffentlichungen: Weißbuch über die „Schwarze Reichswehr“. Deutschlands geheime Rüstungen. Von E.J. Gumbel, Berthold Jacob, Lange, von Schöneich, Otto Lehmann-Rußbüldt: Berlin-Hessenwinkel 1925. Otto Lehmann-Rußbüldt: Die blutige Internationale der Rüstungsindustrie, Hamburg- Bergedorf 1930. Cf. auch ders.: Der Kampf, op. cit., p. 115sq.: „Der Kampf gegen die Schwarze Reichswehr“. 121 Cf. dazu Victor Basch und Théodore Ruyssen: „Notre voyage en Allemagne“, in: Cahiers des Droits de l’Homme vom 25.8.1922. Zur Reisegruppe gehörten Ferdinand Buisson,Victor Basch, Célestin Bouglé, Henri Guernut, Pierre Renaudel, Théodore Ruyssen, Mme Ménard-Dorian. 122 Cf. auch die Dokumentation in Otto Lehmann-Rußbüldt: Die Brücke über den Abgrund. Für die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Bericht über den Besuch der „Französischen Liga für Menschenrechte“ in Berlin und im Ruhrgebiet, Berlin o.J. (1922). <?page no="64"?> 64 extrêmement puissantes, il est impossible que la France ne reste pas sur ses gardes. Aux démocrates allemands à renforcer leur lutte contre la haine. Aux démocrates français à veiller à ce que leur Gouvernement use envers l’Allemagne vaincue de justice et de clémence.“ 123 Nach diesem öffentlichkeitswirksamen Besuch der LDH-Delegation, die nicht ohne Kritik von der nationalistischen Rechten, aber ohne größeren Eklat ablief, war der Redneraustausch über den Rhein durch die Ruhrbesetzung seit Januar 1923 erst einmal nachhaltig gestört. Bei einer der Routinebegegnungen deutscher und französischer Ligisten auf Pazifistenkongressen vereinbarte man nach den Wahlen in Frankreich vom Mai 1924 (aus denen das Cartel des gauches als Sieger hervorging) eine beiderseitige öffentliche Vortragsreise mit dem Ziel der Werbung für die deutsch-französische Verständigung. Die Deutschlandreise der LDH-Delegierten gestaltete sich dann teilweise dramatisch, weil die bayrische Staatsregierung das Auftreten Victor Baschs verbot und die DLM daraufhin dessen Vortrag nach Potsdam verlegte. 124 Dies wurde von der Rechten und von den ihnen verbundenen „Vaterländischen Verbänden“ zum Anlass genommen, eine Protestbewegung größten Maßstabs zu starten. Der Potsdamer Vortrag von Victor Basch konnte am 6.10.1924 nur unter großen administrativen Schwierigkeiten und unter Aufbietung von rund 800 Schutzpolizisten gehalten werden. 125 Das selbe Szenario wiederholte sich drei Tage später in kleinerer Dimension in Leipzig, und als die württembergische Regierung nach diesen Vorfällen Baschs Rede in Stuttgart verbot, unterbrach dieser seine Tournee und reiste zurück nach Frankreich. Es war in Potsdam zur besonders heftigen Konfrontation zwischen den Kräften der Republik und deren Gegnern gekommen, die in der Wahrnehmung der beiden Menschenrechtsligen ausgestanden werden musste. In der deutschen Öffentlichkeit wurden die Aussagen Baschs zur Verursachung des Weltkriegs durch die Habsburger Monarchie und den preußischen Militarismus 126 überwiegend als Provokation aufgefasst, obwohl sie völlig den Auffassungen der deutschen Ligisten entsprachen. Es lag sicherlich keine provokatorische Absicht in Baschs Ausführungen, 127 möglicherweise aber lag ihnen ein Verkennen der realen politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland und eine Überschätzung des dortigen republikanischen Konsenses zugrunde. Die öffentlichen Reden der anderen LDH-Delegierten (Ferdinand Buisson und General Verraux) 123 Cahiers des Droits de l’Homme vom 25.8.1922, p. 400. 124 Eine detailfreudige Rekonstruktion dieses Redneraustauschs zwischen LDH und DLM findet sich in der Studie von Otmar Jung: „Unterschiedliche politische Kulturen: Der Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten“, in: Detlef Mehnert, Klaus Megerle (ed.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990, p. 250-292. 125 Cf. dazu auch die DLM-Publikation Franz von Puttkammer: Victor Basch in Potsdam, Berlin 1924. 126 Cf. den Text der Rede Baschs vom 15.10.1924 im Preußischen Herrenhaus in: Cahiers des Droits de l’Homme vom 30.11.1924: „L’entente franco-allemande“. 127 Hier scheint mir das Urteil bei Otmar Jung, loc. cit., p. 271 nicht zutreffend. <?page no="65"?> 65 verliefen teils ruhig, teils konfrontativ. Die Vortragstournee der Redner der DLM in Frankreich, zu der im Oktober/ November 1924 Robert Kuczynski, Hellmut von Gerlach und Emil J. Gumbel starteten, stieß auch dort auf den Widerspruch der Rechten (Action Française) und deren Kampfformation (Camelots du Roi), 128 führte aber nicht zu ähnlich emotionalisierten öffentlichen Auseinandersetzungen wie die Reden der französischen Ligisten in Deutschland. Mit dem „Kampf um Potsdam“ war in der Geschichte des Redneraustauschs zwischen LDH und DLM die Phase der öffentlichen Konflikte abgeschlossen, die wesentlich als Nachwirkung des „Ruhrkriegs“ vom Jahr zuvor zu deuten sind. Das Auftreten von französischen Ligisten in Deutschland und von deutschen Rednern in Frankreich in öffentlichen Versammlungen wurde in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik zur Gewohnheit, in der Sicht der Beteiligten sogar zur Selbstverständlichkeit. Durch diese fortgesetzten transnationalen Kontakte formte sich ein stabiles persönliches Beziehungsnetz zwischen den Protagonisten beider Organisationen aus. Das Ausmaß persönlicher Wertschätzung und politischer Solidarität wird z. B. deutlich im Nachruf, den das DLM-Organ „Die Menschenrechte“ 1932 Ferdinand Buisson widmete. Lehmann-Rußbüldt erinnerte daran, dass Buisson als Mitbegründer der LDH „zu den Franzosen“ gehörte, „die in Berlin im Reichstag die deutsch-französische Verständigung als ‚Brücke über dem Abgrund’ von Krieg und Frieden bauen“ wollten. Als charakteristische Anekdote zum langjährigen Vorsitzenden der LDH und Friedensnobelpreisträger von 1927 berichtete er: „Einmal stand die Frage der Kriegsdienstverweigerung auf der Tagesordnung. Er, der Sohn der französischen Revolution, der Fanatiker des Gesetzes für den demokratischen Staat, sprach sich naturgemäß leidenschaftlich dagegen aus. Aber als die Diskussion sich zuspitzte, da nahm er noch einmal das Wort und sagte schlicht: ‚Gewiß, das Vaterland ist das Höchste, aber noch höher steht die Menschheit’.“ 129 Noch im Juni 1932 wurde der französische Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux von der DLM in Berlin zu einer „deutsch-französischen Verständigungskundgebung“ gegen Krieg und Faschismus empfangen und man gedachte gemeinsam eines anderen „großen Europäers“, des gerade verstorbenen Direktors des Internationalen Arbeitsamtes Albert Thomas. 130 Als nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten führende DLM-Mitglieder gefangen gesetzt wurden, appellierte die LDH in vergeblicher Hoffnung auf die Respektierung rechtsstaatlicher Gepflogenheiten und in Fortsetzung des kameradschaftlichen Verhältnisses zu den deutschen Ligisten am 17.6.1933 an den Reichsaußenminister zugunsten der Freilassung von Carl von Ossietzky 128 Cf. dazu die Dokumentation in Robert Kuczynki: „Wenn Friedensfreunde reden.“ Vorträge in Frankreich, Berlin 1924. 129 Die Menschenrechte vom 1.3.1932 mit einem Portrait von Ferdinand Buisson auf dem Titelblatt und dem Text: „Zum Tode Ferdinand Buissons“. 130 Die Menschenrechte vom 3.6.1932. <?page no="66"?> 66 und Fritz Küster. 131 Viele der vormaligen DLM-Wortführer starben im Pariser Exil (Hellmut von Gerlach, Harry Graf Kessler) oder ließen sich in Frankreich naturalisieren. Der andere Bereich neben dem transnationalen Beziehungsgeflecht, das aus dem Redneraustausch und den Arbeitskontakten der französischen und deutschen Ligisten entstand, war der Schüleraustausch, der sich von 1924 bis 1931 kontinuierlich festigte. Der frühere Generalsekretär der DLM Lehmann-Rußbüldt zählte schon 1927 diesen Teil der deutsch-französischen Verständigungsbemühungen zu den wichtigsten Ergebnissen der Verbandstätigkeit. 132 Diese Form der Begegnungsaktivität zwischen beiden Nationen stellt historisch gesehen in der Tat ein Novum dar, das in größerem Maßstab erst nach dem Zweiten Weltkrieg sich definitiv durchsetzte. Am Anfang stand 1924 die Bereitschaft der DLM, eine von der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) vereinbarte Kindererholungsreise nach Frankreich zu übernehmen, nachdem der IAH die Einreise bzw. Ausreise von den zuständigen deutschen und französischen Ministerien nicht erlaubt wurden. Die DLM intervenierte über die LDH bei Ministerpräsident Herriot und erhielt 1924 die Erlaubnis zur Einreise und Betreuung von 160 Kindern, die größtenteils in französischen Familien untergebracht wurden. 133 Der Erfolg dieses ersten Versuchs veranlasste den DLM-Vorstand, diesen Kinderaustausch jährlich weiterzuführen und auch nach Deutschland hin zu erweitern. Im Jahresbericht der DLM für 1925 hieß es: „Vorbereitende Arbeiten haben wir getroffen zur Reinigung der Schullesebücher in Deutschland und Frankreich von nationalistischen und militaristischen Verhetzungen, ebenso für einen umfassenden Austausch deutscher und französischer Schulkinder.“ 134 Für den Sommer 1925 gab es bereits eine Vereinbarung zwischen DLM und LDH über die Modalitäten des Austauschs in beiden Richtungen, an der die Pädagogen in der deutschen Liga aktiv beteiligt waren. 1926 wurden zwischen beiden Ländern 42, 1927: 115, 1928: 265, 1929: 350, 1930: 166 und 1931: 290 Kinder ausgetauscht. 135 Die Lerneffekte des Aufenthaltes in einer Gastfamilie des Nachbarlandes wurden im Verbandsorgan der DLM ausführlich dokumentiert (durch Nachdruck von Schülerbriefen) und kommentiert. Dass mit diesen Reisen seitens der Organisatoren ein friedenspädagogisches Programm verbunden war, zeigen die Kommentare in „Die Menschenrechte“; bemerkenswert ist jedoch auch, dass bereits 1925 der Plan einer deutsch-französischen Schulbuch-Revision diskutiert wurde. Angesichts der (aus heutiger Sicht) bescheiden anmutenden Zahlen des deutsch-französischen Schüleraustauschs der späten zwanziger Jahre wird deutlich, dass die innere Entfremdung 131 Cf. Kurt Grossmann, op. cit., p. 362: „Ein Pariser Ligaschnitt“. 132 Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf, op. cit., p. 132. 133 Ibid., p. 103. 134 Warte für Menschenrechte vom 20.2.1926: „Bericht der Geschäftsstelle für das Jahr 1925“. 135 Cf. Reinhold Lütgemeier-Davin, op. cit., p. 208. <?page no="67"?> 67 gerade im gesellschaftlichen Bereich zwischen beiden Nationen die Regel blieb und ihre Überwindung die Ausnahme darstellte. Dieser Bereich deutsch-französischer Begegnung unter der Regie der DLM und LDH wurde auch am frühesten wieder in Frage gestellt durch die wirtschaftliche und politische Krise in Deutschland seit 1930. Die DLM fasste diese Rückwirkungen für das Jahr 1931 zusammen: „Die ‚Abteilung Schüleraustausch’ der DLM setzte auch im letzten Jahr ihre Austauscharbeit mit Erfolg fort - trotzdem sie durch die politische und wirtschaftliche Lage erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden hatte. - Deutscherseits haben die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse und später vor allem die 100 Mark Ausreisegebühr eine große Anzahl Rücktritte vom Austausch veranlasst. - Von französischer Seite wurden zum Teil aus Furcht vor Krawallen in Deutschland (der „Stahlhelm“ in Breslau hat besonders ungünstig in dieser Hinsicht gewirkt) manche, bereits angebahnte Austauschbeziehungen abgebrochen. Die Franzosen weigerten sich vor allem, nach Berlin oder Norddeutschland zu gehen und wünschten einen Austausch möglichst nahe der Grenze.“ 136 Dieses lebensweltliche Dokument aus dem ältesten deutsch-französischen Verständigungsmilieu in der Weimarer Republik belegt schlaglichtartig, dass die versuchte Annäherung selbst hier eine Vereinbarung auf Widerruf blieb. Der gesellschaftliche deutschfranzösische Brückenschlag erwies sich unter steigender politischer Belastung als zerbrechlich. 136 Die Menschenrechte vom 1.3.1932, p. 30. <?page no="69"?> 69 III. Union pour la Vérité und Décades de Pontigny von 1922 bis 1939 Obwohl die politisch-ethische Reflexionsarbeit der Union pour la Vérité (UV) vorrangig auf die innere Festigung der Republik im eigenen Lande gerichtet war, blieb sie von ihren Anfangen bis zu ihrem Ende mit der Dritten Republik offen und aufnahmebereit für die Entwicklungen in und für Anregungen aus dem Ausland. Die Bewegungen, die Ideen und die Motive, die von dieser Intellektuellen-Vereinigung aufgenommen, diskutiert oder beobachtet wurden, änderten sich in den fast fünf Jahrzehnten ihrer Geschichte. Die weltoffene Einstellung ihrer Protagonisten blieb indessen konstant und die von dieser transnationalen Disposition genährte Aufmerksamkeit galt in erster Linie Deutschland. 1 Bevor die Formen, die Themen und die Anlässe französisch-deutscher Interaktion im Zusammenhang mit der UV im folgenden belegt und analysiert werden, ist es naheliegend, die konstitutiven Elemente aufzuzeigen, die den prägenden transnationalen Habitus ermöglichten, der in der Geschichte der Vereinigung vorherrschte. Es ist zwar wiederholt auf diese bemerkenswerte Offenheit der UV gegenüber dem Ausland hingewiesen worden, 2 die Ursachen und Antriebe, die zur Ausprägung dieses transnationalen Habitus führten, sind jedoch niemals zusammenhängend erörtert worden. 1. Die europäischen Grundlagen des „Réveil moral“ und die Perspektiven transnationaler Kommunikation in der „Union pour la Vérité“ Unter der Voraussetzung, dass man sich auf die Protagonisten der UV konzentriert, kann man versuchen, einige theoretische Prämissen und praktische Anwendungsformen der transnationalen Grundorientierung dieser Intellektuellen-Vereinigung aufzudecken, die sich im Wandel der internationalen Konstellationen als kontinuitätsstiftendes Charakteristikum abzeichnen. Die historische Variationsbreite der Ansätze transnationaler 1 Es ist das Verdienst der folgenden, bei Werner Conze in Heidelberg verfassten, Dissertation, darauf hingewiesen zu haben: Rudolf Prinz zur Lippe: Die Union pour la Vérité zur französischen Deutschlandpolitik noch 1918, Diss. phil. Heidelberg 1964. Die Arbeit beruht allerdings auf viel zu schmaler Dokumentation und hat kompilatorischen Charakter. Umsichtiger, aber rein ideengeschichtlich argumentierend und auf Heinrich Mann zentriert ist Ekkart Blattmann: Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/ Main 1985. 2 Cf. dazu François Chaubet: „Les Décades de Pontigny“, in: Lendemains, Jg. 1995, Nr. 78/ 79, p. 157-166. ID.: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Villeneuve d’Ascq 2000. <?page no="70"?> 70 Kommunikation ist im Falle der UV und ihrer Vorläuferorganisation (Union pour l’action morale) beträchtlich. Sie reicht vom Selbstverständnis der frühen Union pour l’action morale als Teil einer internationalen Bewegung zur Erneuerung der ethischen Kultur, wie sie Paul Desjardins in seiner Programmschrift „Devoir présent“ (1892) skizziert hatte, 3 bis zum letzten Experiment eines europäischen Begegnungs- und Sozialisationsforums, das Desjardins mit seinem Programm des „Anti-Babel“ in Pontigny in den späten dreißiger Jahren unternahm. 4 Die Überlegungen Desjardins’ waren anfangs, zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, fast ausschließlich auf die Bedingungen und Möglichkeiten der moralischen Erneuerung innerhalb der eigenen Nation und kaum auf die Reform des internationalen Zusammenlebens gerichtet. Dennoch enthielten seine Reflexionen in „Devoir présent“ implizit auch die kategorialen Prämissen für das Nachdenken über die Beziehungen zwischen den Nationen, die dann in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Diskussion in der rue Visconti in Paris und in Pontigny geklärt wurden und zur Gründung einer „Ligue internationale pour la défense du droit des peuples“ führten. Desjardins baute sein Programm der inneren Reform der Nation auf die Durchsetzungsfähigkeit der Kräfte positiven Denkens, der „positifs“. Diese stellte er in Gegensatz zu fast allen führenden Repräsentanten des Positivismus und Naturalismus seiner Zeit, den „négatifs“. Die Quellen, aus denen der „Réveil moral“ der Nation schöpfen konnte, sah der Autor des „Devoir présent“ sowohl in der europäischen Aufklärungs-Tradition wie in der Tradition christlicher und jüdischer Religion, aber auch in der Bereitschaft zur gesellschaftlichen Pflichterfüllung am Beispiel vieler Einzelpersonen in Gegenwart und Vergangenheit. Der Autor ließ bereits in seiner Programm-Schrift von 1892 keinen Zweifel daran, dass er von der sich festigenden Republik einen Kräftezuwachs für den „Réveil moral“ erhoffte. Er sah die Republik als eine auf „Espérance“ und „Solidarité“ gegründete Willensgemeinschaft, die ihren Konsens, ihre „âme“ noch zu formulieren im Begriff sei: „La plus vaste Association [...] est celle que nous avons en France, justement depuis peu. Je veux dire la démocratie. Venue avant terme en 1848, abusée par toutes sortes de moyens dilatoires pendant vingt ans elle commence à être consciente; il faut l’accepter et l’aimer, car elle est le droit en même temps que le fait. Elle est encore dans l’enfance, certainement, et tant qu’on n’aura pas trouvé la formule d’une représentation exactement proportionnelle, on ne sortira pas de cette tyrannie des majorités, toute barbare. Cependant son avènement est un accident si formidable qu’il est impossible de raisonner sur demain par analogie avec hier; le bouleversement est immense; il en sortira quelque 3 Paul Desjardins: Le Devoir präsent, Paris 1892; dort (50sq.) die Bezugnahme auf die U.S. amerikanischen Societies for Ethical Culture und Free Religious Associations. 4 Cf. den Programmtext in: In memoriam Paul Desjardins (1859-1940), Paris 1949, p. 107sq. <?page no="71"?> 71 chose, et je suis sûr que l’idéal moral, auquel il faut toujours en revenir, y trouvera finalement son compte.“ 5 Neben der Benennung der Quellen des „Réveil moral“ und der Postulierung der Wechselwirkung zwischen Republik und ethischer Erneuerung brachte Desjardins bereits in seiner Schrift von 1892 den Gedanken zum Ausdruck, der für die Geschichte der UV maßgeblich wurde: die Vorstellung, dass rund fünfzig entschlossene und verantwortliche Menschen in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen ausreichten, um die vorherrschenden Verhaltensdispositionen einer Nation zu verändern. 6 Damit war jegliche Strategie der Überredung anonymer und kollektiver Adressaten ausgeschlossen und der Weg der Überzeugung durch intensive Diskussion in überschaubaren Gruppen vorgezeichnet. Er wurde in den „Simples notes“ von Jules Lagneau deutlich trassiert, der es als Aufgabe der entstehenden Vereinigung bezeichnete, „une union active, un ordre laïque militant du devoir privé et social, noyau vivant de la future société“ zu bilden. 7 Die von Desjardins ins Leben gerufene Intellektuellen-Vereinigung festigte in der Dreyfus-Affaire aufgrund ihrer Stellungnahme für die Revision des Prozesses ihre republikanische Identität im nationalen Rahmen. Für ihre Selbstfindung in den Fragen der internationalen Politik spielte - nach Auskunft von Paul Desjardins 8 - die 1909 gegen alle rechtsstaatlichen Regeln erfolgte Hinrichtung des spanischen Reform-Pädagogen und libertär-sozialistischen Theoretikers Francisco Ferrer eine wichtige Rolle. Desjardins schrieb in der November-Ausgabe 1909 der „Correspondance mensuelle“ der UV eine vernichtende Kritik des spanischen Rechtssystems, das die seit der Französischen Revolution in allen zivilisierten Ländern geltenden Prinzipien des Strafrechts missachtet hätte. Zur Entstehung dieses modernen Rechts hatten nach seiner Überzeugung alle europäischen Länder in ihrem Kampf gegen despotische Willkür einen Beitrag geleistet und seine zukünftige Konkretisierung könnte eine gemeinsame Aufgabe dieser Länder sein. Die Frage, gegen welches Recht die spanische Justiz verstoßen habe, gab dem Autor das Stichwort für die programmatischen Formulierungen: „Nous ne disons pas: contre le Droit, universel, éternel, absolu, car nous ne sommes pas théologiens, mais contre le droit d’aujourd’hui, peu à peu dégagé, conquis péniblement sur l’arbitraire, dans une lutte continuée, à laquelle les libres Anglais d’abord, puis les républicains des Pays-Bas, puis nos révolutionnaires logiciens français, puis les partis jeunes de l’Italie, de l’Allemagne, des peuples Slaves, ont coopéré. La compréhension de cette lutte commune, seule, confère à l’histoire ‚moderne’ de l’Europe un 5 Paul Desjardins, op. cit., p. 36sq. 6 Cf. ibid., p. 50. 7 Jules Lagneau: „Simples notes pour un programme d’union et d’action“, in: Revue bleue, Jg. 1892, p. 217. 8 Cf. Paul Desjardins: „Les orignines de la Ligue“, in: Ligue internationale de la défense du droit des peuples, Jg. 1914, Nr. 4, p. 149sq. <?page no="72"?> 72 sens et une majesté ...“. 9 Die an diese Überlegungen anknüpfenden Versuche, eine internationale Diskussion und Kooperation zustande zu bringen, trafen auf ein positives Echo aus England, Italien, Österreich, Deutschland und aus den slawischen sowie skandinavischen Ländern. In den Jahren 1910 bis 1912 wurden im Rahmen der UV in Pontigny und im Pariser Lokal in der rue Visconti die so eingeleiteten transnationalen Gespräche fortgesetzt, in deren Mittelpunkt allerdings unversehens das Problem Elsass-Lothringen trat. Die Frage war, ob man die Annexion Elsass-Lothringens durch das Deutsche Reich als Exempel der Verweigerung der freien Entscheidung im Zusammenhang mit dem Schicksal anderer unterdrückter Völker zu sehen, also zu „internationalisieren“ habe, oder ob man dem Problem eine exklusive Bedeutung zumessen und damit letztlich nationalistischen Ressentiments freien Lauf lassen sollte. Über dieser Frage zerbrach im Frühjahr 1911 der informelle Diskussionsrahmen um die UV, da für Desjardins und seine engeren Mitstreiter allein die erste, generalisierende Auffassung des Elsaß-Lothringen-Problems gerechtfertigt war. 10 Nach diesem Klärungsprozess, der zugleich auch eine Konkretisierung der transnationalen Handlungsperspektiven herbeiführte, wurde während der Dekade „Droit des Peuples“ im August 1911 in Pontigny der begriffliche und programmatische Grundriss einer zu gründenden Organisation erarbeitet. Auf ihm baute der im Januar 1912 in französischer, englischer und deutscher Sprache veröffentlichte Appell auf, mit dem die „Ligue internationale pour la défense du droit des peuples“ erstmals an die Öffentlichkeit trat, bevor sie als eingetragener Verein am 15.12.1912 in der Sorbonne ihre Gründungsversammlung abhielt. 11 Die politischen Zielvorstellungen der internationalen Vereinigung bekannten sich zum Erbe der europäisch-atlantischen bürgerlichen Revolution und bezogen sich auf die Vervollkommnung, die Vertiefung und Verteidigung des Rechts der als politische Willensverbände aufgefassten Völker: „La tradition à laquelle nous nous rattachons est celle des Révolutions americaine et française; les Déclarations des droits formulées alors par des assemblées élues sont à nos yeux des monuments du droit public commun aux civilisés; on peut les dépasser, mais il faut en partir. L’arbitraire des gouvernements, la confusion des pouvoirs, absorbés ensemble dans le pouvoir de police, le prétendu droit de conquête, enfin tout le système de la raison d’Etat autorisant la possession de l’homme par l’homme est, à notre sens, un anachronisme condamné. Que le plus grand nombre possible de nos contemporains passent de la condition de sujets à la dignité de citoyens, c’est notre vœu.“ 12 Man definierte sich als ein transnationaler Zusammenschluss von Privatleuten, die sich keiner Regierung 9 Ibid., p. 151. 10 Cf. ibid., p. 159. 11 Cf. „Assemblée générale constitutive de la Ligue internationale pour la défense du droit des peuples“, in: Ligue internationale, Jg. 1913, Nr. 3, p. 85sq. 12 „Appel“, in: Ligue internationale, Jg. 1912, Nr. 1/ 2, p. 2. <?page no="73"?> 73 und keinem besonderen nationalen Interesse verpflichtet fühlten, jedoch in der Situation der kollektiven Bedrohung das Nationalgefühl als Handlungsgrundlage für gerechtfertigt hielten. Das oberste Ziel der Vereinigung war es, dem vernunftbegründeten Recht als verbindlichem Regulativ im Verhältnis des Bürgers zum Staat, wie im Verhältnis der Staaten untereinander zum Durchbruch zu verhelfen. Dies sollte geschehen, indem man in Fällen flagranter Verletzung dieses Rechts, die internationale „opinion commune“ zu mobilisieren und zu organisieren versuchte. 13 Es ist offensichtlich, dass die hier aufgerufene Rechts-Auffassung ein Aktualisierungs-Versuch des säkularisierten Naturrechts-Begriffs aus der Tradition der Aufklärung ist. Die hier knapp skizzierte Positionsbestimmung in den Fragen der internationalen Beziehungen, die im Umkreis der Union pour la Vérité in den Vorkriegsjahren vorgenommen wurde, erlaubt es, den sich dort abzeichnenden Konsens in den Zusammenhang ähnlich orientierter politischer und gesellschaftlicher Bewegungen der Dritten Republik zu stellen und die von der UV während der Zwischenkriegszeit in der rue Visconti und in Pontigny ausgeübte europäische Mittlerfunktion in einem neuen Licht zu sehen. 14 Auf die Affinität der „Ligue internationale pour la défense du droit des peuples“, in der neben Paul Desjardins u. a. der Historiker Edmond Denis, der Ökonom Charles Gide und der belgische revisionistische Sozialist Emile Vandervelde mitarbeiteten, zur 1898 gegründeten „Ligue pour la défense des droits de l’homme et du citoyen (LDH)“ verweist nicht nur die Parallelität in der Namensgebung beider Vereinigungen. Der „dreyfusard“ Desjardins gehörte ebenso wie andere maßgebliche Mitglieder der UV (z. B. Gabriel Séailles, Charles Gide, Léon Brunschvicg und Lucien Fontaine) zu den Gründungsmitgliedern der LDH. 15 Diese breite soziale Bewegung, der Prototyp der Menschenrechts-Bewegungen im 20. Jahrhundert, zählte 1904 bereits rund 47.000 Mitglieder 16 und wandte sich mit ihren Manifesten und Protesten gegen die Rechtsverletzungen im innerstaatlichen und interstaatlichen Bereich vorzugsweise an die Adresse der Regierungen, der Parteien (Parti radical) und der großen Öffentlichkeit. Im Vergleich zur LDH 13 Ibid., p. 1. 14 Diese Vorgeschichte fehlt bei fast allen bisherigen Darstellungen der UV Hinweis darauf bei einem deutschen Pontigny-Gast in: Europäische Revue, Jg. 1930, p. 862; dort schreibt Hans Kauders: „Wert von Pontigny“, über die Ligue internationale: „Diese Vereinigung hat einen sehr wichtigen Teil der Ideologie vorbereitet, die im Weltkrieg von der Entente vertreten wurde und ihre welthistorische Fassung in den 14 Punkten des Präsidenten Wilson fand.“ Richtig ist daran, dass Desjardins eine solche Beziehung zwischen der Ligue und dem Wilsonismus herstellte z. B. im Vorwort zu: Les Français à la recherche d’une Société des Nations depuis le roi Henri IV jusqu’aux combattants de 1914, Paris 1920. 15 Cf. Anne Heurgon Desjardins (ed.): Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Paris 1964, p. 6. 16 Henri See: Histoire de la Ligue des Droits de l’Homme (1898-1926), Paris 1927, p. 37; dort ist u.a. (p. 159) die Mitgliedschaft von Georges Séailles belegt. <?page no="74"?> 74 blieb die „Ligue internationale“, die aus der Initiative der UV hervorging, marginal und ephemer. Sie wirkte in einem Problemfeld, in dem auch die LDH aktiv war. 17 Sie zeichnete sich vor allem aus durch ihre primär pädagogische und sozialisatorische Wirkung sowie durch ihre Distanz zu den großen Organisationen und Institutionen. In einem Kommentar zum Gründungsaufruf der „Ligue internationale“ hieß es: „Notre œuvre est donc avant tout une œuvre d’éducation. Redresser et éduquer le sentiment du droit, tel est notre but.“ 18 Ein expliziter Vergleich mit der LDH wurde in diesem Kommentar nicht versucht, wohl aber eine vergleichende Standort-Bestimmung gegenüber zwei anderen politisch-gesellschaftlichen Tendenzen im zeitgenössischen Frankreich. Dies war zum einen die Bewegung, die den Frieden sichern wollte durch die Herrschaft von Rechtsnormen in den internationalen Beziehungen. In Frankreich hatte sie sich seit 1887 recht lebendig (wiederum in Symbiose mit dem Parti radical) entwickelt in einer „Association de la paix par le droit (APD)“. 19 Gegenüber dergleichen pazifistischen Bewegungen machte die „Ligue internationale“ geltend, dass sie prinzipiell dasselbe Ziel verfolge, dass sie aber im Gegensatz zu ihnen im Konfliktfall allemal das Recht über den Frieden zu stellen bereit sei. Auch mit der bürgerlich-pazifistischen Bewegung des Friedens-Nobel-Preisträgers Comte d’Estour-nelle de Constant gab es eine natürliche Affinität des Diskussions-Zirkels um die „Ligue internationale“. D’Estournelle de Constant hatte 1905 seinen langfristigen Bemühungen um die Friedenssicherung durch den Ausbau internationaler Schiedsgerichtsbarkeit einen organisatorischen Rahmen gegeben mit der Gründung der „Conciliation Internationale. Société de défense des intérêts nationaux par le rapprochement des peuples (CI)“. 20 Diese Bewegung war wie die LDH und die APD eine Intellektuellen-Vereinigung (mit starkem Anteil von Schul- und Hochschullehrern) und in dieser Hinsicht der „Ligue internationale“ Desjardins’ und der UV sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit der sozialen Rekrutierungsbasis und die teilweise identische Zielsetzung dieser politisch-gesellschaftlichen Gruppen ermöglichte einen lebendigen Austausch der publizistischen Stellungnahmen zwischen ihnen. Der Vorbehalt des Interpreten des in Pontigny ausgearbeiteten Gründungs-Aufrufs der „Ligue internationale“ mit Bezug auf die pazifistischen Bewegungen von der Art der APD und der CI lautete: „Notre but diffère de celui des associations en faveur de la paix, en ce sens que nous mettons la justice au-dessus de la paix.“ 21 17 Cf. ibid., 96 sq.: „Les peuples opprimés“. 18 Ligue internationale, Jg. 1912, Nr. 1/ 2, p. 14. 19 Cf. dazu die erste umfassende Monographie von Norman Ingram: The politics of dissent. Pacifism in France 1919-1939, Oxford 1991, p. 19sq. 20 Dazu die maßgebliche Studie von Adolf Wild: Baron d’Estournelle de Constant (1852- 1924). Das Wirken eines Friedensnobelpreisträgers für die deutsch-französische Verständigung und europäische Einigung, Hamburg 1973, bes. p. 220sq. 21 Ligue internationale, Jg. 1912, Nr. 1/ 2, p. 11. <?page no="75"?> 75 Die zweite kritische Abgrenzung des eigenen Wollens vollzog man in der Ligue internationale, indem man die Distanz zu jeglicher übersteigerten Wertschätzung einer der historisch gewordenen Nationen in Europa betonte und zugleich auch den Abstand markierte zu Organisationen, die - wie z. B. das „Office des nationalités“ - sich ausschließlich das Recht auf nationale Selbstbestimmung zum Ziel gesetzt hatten. Die konstitutive Idee, die aus den Diskussionen in Pontigny und in der Pariser rue Visconti entstanden war, projizierte ein Europa, das in seinen zwischenstaatlichen Beziehungen durch eine gemeinsame Auffassung der Vorherrschaft von Recht und Gerechtigkeit bestimmt wurde und das sich im übrigen in der ganzen Vielfalt seiner nationalkulturellen Identitäten entfalten sollte: „En soutenant le droit des peuples opprimés, nous ne nous plaçons cependant pas [...] au point de vue des nationalismes particuliers. Dans les différents peuples, nous voyons des membres de l’humanité. Chacun d’eux, par sa forme spéciale de culture, par son caractère ethnique ou historique, par sa seule volonté d’être une individualité originale, donne, ou du moins est susceptible de fournir sa contribution au trésor commun de la civilisation humaine. Empêcher ou paralyser le développement normal d’un de ces groupements, c’est enlever au patrimoine général quelque chose qui peut être irremplaçable. L’oppression systématique nous semble commettre un crime même envers l’avenir.“ 22 Paul Desjardins selbst brachte diese Europa-Idee vernunftgebotener Gemeinsamkeit in der demokratischen Rechtsauffassung und der lebendigen Vielfalt in der soziokulturellen Gestaltung in Abgrenzung gegen das reine Nationalitätenschutz-Programm des „Office des nationalités“ auf die folgende Formel: „Une conférence avec un groupe très voisin du nôtre, l’Office des nationalités, nous démontra une fois de plus que nous avions pour raison d’être, manifestement distincte, de maintenir, à côté et quelque fois à l’encontre du ‘principe des nationalités’, lequel s’appuie à une histoire ancienne interprétée par le sentiment obscur, et aboutit à une bigarrure ethnique, le principe du droit démocratique, du droit contractuel, qui tend à promouvoir au dedans de chaque nation le citoyen, et, entre les nations, une société qu’un même droit régirait.“ 23 Der Beginn des Ersten Weltkrieges beendete die hier in den Grundzügen resümierte Diskussion der Ligue internationale, in der die Union pour la Vérité sich vor 1914 ein Forum für das Nachdenken über die Beziehungen zwischen den europäischen Nationen gegeben hatte. Eine vergleichbar intensive Reflexionsarbeit ist für die UV der Zwischenkriegszeit nicht mehr dokumentierbar. Aber gerade deshalb ist die Vermutung nicht abwegig, dass sich für Desjardins und seine engeren Mitarbeiter (besonders Georges Guy-Grand) in diesen Vorkriegsdebatten Wertmaßstäbe und Handlungsorientierungen ergaben, die in ihrem stärker von internationalen Begeg- 22 Ibid., p. 11sq. in einem Text von Edmond Bernus. 23 Paul Desjardins: Les origines de la Ligue, 1. c., p. 161. <?page no="76"?> 76 nungs-Aktivitäten geprägten Wirken in den beiden Zwischenkriegs- Jahrzehnten verbindlich blieben. Besonders für Paul Desjardins selbst, die Integrationsgestalt und den „spiritus rector“ dieser Begegnungsaktivitäten, ist die langfristige Verbindlichkeit dieser Wert- und Handlungs-Muster geltend zu machen, die er sich in den Diskussionen seines reiferen Alters von fünfzig Jahren während des letzten HaIbjahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg erarbeitet hatte. 2. Die rue Visconti/ Paris als Ort französischer Deutschland-Debatte Deutschland spielte in der lebensweltlichen Erfahrung Desjardins’ keine hervorgehobene Rolle, wohl aber als Bildungserfahrung. Als kulturelle Macht war Deutschland in den Diskussionen der UV vor 1914 überwiegend in positiver Referenz gegenwärtig, als politische Macht hingegen war das wilhelminische Kaiserreich dort vorzugsweise Objekt sorgenvoller und kritischer Beobachtung. Insofern herrschte in der Union pour la Vérité der Vorkriegsjahre das Wahrnehmungsraster der „deux Allemagne“ vor, das man als dominante Deutschlandsicht der frühen Dritten Republik nachgewiesen hat. 24 Die positiven Bezugnahmen auf Deutschland sind in der Vorkriegsgeschichte der UV in drei Zusammenhängen nachweisbar: in der Hochachtung vor seiner Wissenschaftskultur, in der Rezeption der Kantschen Aufklärungs-Philosophie und in der zeitweiligen Sympathie für verwandte ethische Reformbewegungen im Nachbarland jenseits des Rheins. 2a Die „deux Allemagne“ in der Frühgeschichte der Union Paul Desjardins, der als junger Mann in den achtziger Jahren einige Male Deutschland besuchte, befand sich durchaus in Übereinstimmung mit den Auffassungen seiner intellektuellen Generation, wenn er anlässlich einer Heidelberg-Reise 1886 notierte, die nationalistischen Eiferer in Frankreich verkennten die Einflüsse der deutschen Wissenschaftskultur auf den Bildungsgang führender französischer Wissenschaftler: „Et cependant ces maîtres que nous sommes d’accord, vous et moi, à proclamer incomparables, M. Gaston Boissier, M. Gaston Paris, M. Lavisse, M. Boutroux, M. Alfred Croiset, n’est-ce pas à Berlin, à Leipzig, à Munich qu’ils ont puisé cette science dont nous avons raison d’être fiers? Ils l’ont filtrée, je le veux bien, mais ils n’en renieront jamais la source. C’est en Allemagne qu’on apprend 24 Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française 1870-1914, Paris 1992 (Neuauflage von 1959), p. 157sq. <?page no="77"?> 77 le sérieux, la gravité, la conscience scrupuleuse du travailleur. C’est là aussi qu’on apprend cette universelle curiosité des choses de lesprit que je voudrais voir pénétrer jusque chez les plus humbles abonnés de nos cabinets de lecture.“ 25 Derselbe Heidelberg-Aufenthalt, der ihn zu diesen Überlegungen veranlasste, vermittelte ihm allerdings auch den Eindruck, dass man im Deutschen Reich im Hause eines Regierungsrats den von ihm geschätzten Heinrich Heine nicht lese, weil dieser ein jüdischer Autor sei. 26 Im „Bulletin de l’action morale“, dem Publikationsorgan der Intellektuellen-Vereinigung, war vor 1914 der meist zitierte und auszugsweise nachgedruckte Autor aus Deutschland Immanuel Kant. Die in der Union u. a. durch Jules Lagneau angeregte Kant-Rezeption - die durchaus eine ausführlichere Untersuchung verdiente 27 - war begründet in der Suche nach einer aktuellen Vernunftethik. Eine Artikelfolge im Bulletin der Vereinigung aus Anlass des 100. Todestages von Kant gab diesem dominanten Interesse am Kantianismus recht plastischen Ausdruck: „Notre Union ne peut pas se désintéresser des résultats d’un des plus immenses et des plus sincères efforts de pensée qui aient jamais été faits pour libérer à la fois l’esprit et la conscience des hommes. Ce n’est point en vérité une étude de la philosophie Kantienne que nous nous proposons ici; c’est un examen de ce qu’il y a d’actuellement vivant, et en quelque sorte d’immédiatement utilisable dans cette féconde discipline.“ 28 Einige Grundgedanken von Kants Philosophie sollten auch die Nicht-Philosophen kennen, nämlich im Sinne der Union: „ceux du moins parmi les hommes qui veulent vivre ou essayer de vivre une existence raisonnable.“ 29 Ebenso deutlich wie diese Aneignung Kants in praktischer Absicht war in Desjardins’ Vereinigung die kritische Abwehr des anderen großen Philosophen in Deutschland, der als zeitgenössischer Autor in ihrem Bulletin diskutiert wurde, nämlich Friedrich Nietzsches. Eine - vermutlich durch einen Vortrag von Henri 25 Paul Desjardins: Esquisses et Impressions, Paris 1889 (2. Aufl.), p. 25. 26 Desjardins kannte übrigens den Philosophen E. Caro, der zur Ausformulierung der Vorstellung von den „deux Allemagne“ maßgeblich beigetragen hatte und widmete ihm (ibid., p. 126sq.) eine Skizze. 27 Der schweizer Philosophie-Historiker Isaac Benrubi, der Desjardins gut kannte, stellt diesen gemeinsam mit Jules Lagneau als Vertreter eines „kritischen Rationalismus“ in der Nachfolge Kants dar. I. Benrubi: Philosophische Strömungen in Frankreich, Leipzig 1928, p. 284sq. Zu klären wären hier insbesondere die Beziehungen zum Neukantianismus in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Desjardins verfolgte anscheinend die Kant-Literatur im Nachbarland mit großem Interesse. Er notierte z. B. am 26. 1. 1925: „Est arrivé d’Allemagne le Kant de Cassirer.“ Heurgon- Desjardins (ed.), op. cit. p. 278. Zur Kant-Rezeption in der Dritten Republik allgemein cf. Jean Bonnet, Dékantations. Fonctions idéologiques du kantisme dans le XIXe sièclefrançais, Bern, Berlin 2011. 28 L. Boisse: „Kant et l’esprit moderne“, in: Bulletin. Union pour l’action morale, Jg. 1904, Nr. 18, p. 351. 29 Ibid., p. 352. <?page no="78"?> 78 Lichtenberger angestoßene 30 - Debatte über Nietzsches Theorie des „Übermenschen“ wurde im Jahre 1903 von Mitgliedern der Union pour l’action morale mit heftigem Engagement geführt. Der Tenor der kritischen Diskussionsbeiträge war bestimmt durch die Überzeugung von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen und von der Verwerflichkeit einer aristokratischen Moral des „Herrenmenschen“. 31 In diesem zentralen Credo stimmten sie der Auffassung Desjardins’ zu, der die Debatte eröffnet hatte mit der Feststellung: „N’est il pas révoltant [...] de diviser ainsi l’humanité en surhommes et en esclaves? Et peut-on admettre un seul instant que des hommes, quels qu’ils soient, aient le droit de se dire supérieurs au reste du genre humain, de se croire pétris d’une autre argile, faits d’une autre essence que le commun des mortels, de traiter leurs semblables comme des inférieurs et des esclaves? Cette théorie brutalement aristocratique est la marque d’un orgueil démesuré.“ 32 Neben der Wissenschaftskultur und dem Kantianismus war in der Vorkriegsgeschichte der republikanischen Intellektuellenvereinigung in den neunziger Jahren einige Zeit lang eine ethische Reformbewegung im Deutschen Reich Gegenstand des sympathischen Interesses ihrer Mitglieder. Im Publikationsorgan der Union wurde gelegentlich versucht, den Blick nicht nur auf die autoritären und militaristischen Züge des Wilhelminischen Deutschland zu lenken, sondern auch auf Gegenbewegungen hinzuweisen. Als solche kamen die Friedensbewegung, 33 besonders aber die von Moritz von Egidy (1847-1898) ab 1890 ausgelöste kirchenkritische, moralische und soziale Reformbewegung ins Blickfeld. Von Egidy hatte - ähnlich wie fast zur selben Zeit Paul Desjardins in Frankreich - 1890/ 91 eine Schriftenreihe unter dem Titel „Ernste Gedanken“ veröffentlicht, deren rationalistische, soziale und pazifistische Inspiration den Autor zur Aufgabe seiner Offizierslaufbahn zwang und ihn zum weithin bekannten Kritiker des Wilhelminismus im In- und Ausland machte. 34 Die Entwicklung dieser das andere Deutschland repräsentierenden Bewegung, die in den neunziger Jahren Stützpunkte in vielen deutschen Städten hatte und in einem symbiotischen Verhältnis zur pazifistischen „Gesellschaft für ethische Kultur“ 35 30 Lichtenberger hatte kurz zuvor ein Nietzsche Buch veröffentlicht, das über 50 Auflagen erlebte. Cf. Henri Lichtenberger: La philosophie de Nietzsche, Paris 1898. 31 Cf. Bulletin. Union pour I’action morale, Jg. 1903, Nr. 17: „Question“; die Stellungnahmen ibid., Jg. 1903, Nr. 20, p. 933-948: „La doctrine du Surhomme dans la morale de Nietzsche“. 32 Ibid., Jg. 1903, Nr. 17, p. 809. 33 Z. B. Bulletin. Union pour l’action morale, Jg. 1898, Nr. 10: „En Allemagne“. 34 Cf. zu dieser Bewegung Heinz Herz: Alleingang wider die Mächtigen. Ein Bild von Leben und Kämpfen Moritz von Egidys, Leipzig 1970. 35 Diese Gesellschaft stand ihrerseits in Verbindung mit den amerikanischen „Societies for ethical culture“, auf die sich auch Desjardins bezog (cf. oben Anm. 3). Sie wurde 1892 in Berlin von dem Astronomie-Professor und Publizisten Wilhelm Julius Foerster (1832-1921) gegründet, der seinerseits Ehrenpräsident in Baron d‘Estournelle de Constants „Conciliation Internationale“ war. Die Gesellschaft für ethische Kultur be- <?page no="79"?> 79 stand, erweckte das Interesse der Union. In zwei größeren Aufsätzen wurde den Lesern des „Bulletin“ durch eine Sammlung von Zitaten aus den ersten fünfzig Nummern der Egidyschen Zeitschrift „Versöhnung“ 36 die Parallelität der ethischen Reformbewegung in Deutschland mit den eigenen Zielen und Aktionsformen vor Augen gestellt. Es war ganz offenbar die Verbindung von gesellschaftlichem Reformwillen mit einem (diesem kompatiblen) rationalen Kern der Religion und mit dem Gebot der Friedenssicherung, die die Sympathie in der „Union“ mit der Egidy-Bewegung ermöglichte. Desjardins konnte den Zielsetzungen in allen Nuancen zustimmen, die von Egidy in der Eröffnungsnummer seiner Zeitschrift programmatisch formuliert hatte und die im Periodikum der Union so übersetzt wurden: „Je ne m’occupe pas de la réalisation, mais seulement de la volonté qui tend à cette réalisation, et ainsi je reviens à notre pure pensée: Frayons la voie au développement; cela dit tout. Nous ne pouvons pas créer la lumière, mais nous pouvons aider à écarter l’obscurité, et ainsi la lumière se fera. [...] La vérité et la justice sont imprimées dans notre connaissance comme étoiles conductrices. Dans la mesure où nous renoncerons au mensonge et à l’égoïsme ces étoiles éclaireront l’humanité.“ 37 Die Egidy-Bewegung löste sich bald nach dem frühen Tod ihres Begründers um die Jahrhundertwende auf und man findet in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg im Periodikum der Union kein weiteres Beispiel solch spontanen Gleichklangs mit einer gesellschaftlichen Reform-Bewegung im Kaiserreich wie in ihrem Fall. 2b Die drei Deutschland-Debatten in der Union pour la Vérité In der Geschichte der UV wurden die Themen und Motive der Befassung mit Deutschland, wie sie im Rahmen der Union pour I’action morale nachgewiesen wurden, zum Teil fortgesetzt. So wurde z. B. insbesondere die kritische Diskussion über Werk und Wirkung Nietzsches unter der Anleitung von Bernhard Groethuysen, Léon Brunschvicg und Edmond Vermeil in der Zwischenkriegszeit fortgeführt 38 und Kant blieb für Desjardins ein philosophischer Fixpunkt seiner Denkweise. Die Suche nach Mitstreitern und potentiellen Verbündeten im geistigen Bemühen um ein Europa der kämpfte das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, den Antisemitismus, soziale Missstände und den Völkerhass. 36 Bulletin. Union pour l’action morale, Jg. 1895, Nr. 3/ 4 und Jg. 1896, Nr. 7: „Mouvement des idées en Allemagne“. 37 Ibid., Jg. 1896, Nr. 7, p. 155. 38 Cf. u. a. Correspondance. Union pour la Vérité, Jg. 1926, mars 1926: „Deux points de vue sur Nietzsche par Bernard Groethuysen et Léon Brunschvicg“. Ibid., Jg. 1937, avril mai 1937: „Nietzsche et la crise de l’esprit contemporain. Exposé d’Edmond Vermeil“. <?page no="80"?> 80 Gemeinsamkeit im Recht und der Vielfalt in der kulturellen Identität blieb in den dreieinhalb Jahrzehnten der UV von 1905 bis 1940 ein konstanter Beweggrund für die Aufnahme und Pflege von Kontakten zu herausragenden Persönlichkeiten des intellektuellen Lebens in Deutschland. Diese geistigen Begegnungen und Auseinandersetzungen fanden in der Regel in den Sommermonaten in Pontigny statt. In den in Paris zentrierten Bemühungen um das Verstehen des Nachbarlandes jenseits des Rheins und um die Exploration von Dialogmöglichkeiten blieben die französischen Mitglieder der UV in der Regel weitgehend unter sich. Es gab drei dergleichen kollektive Versuche zur Klärung der politisch-geistigen Befindlichkeit in Deutschland und der französisch-deutschen Beziehungen in der UV: in den Jahren 1913/ 14, Anfang 1922 und 1930/ 31. Der erste Anlauf zur Klärung dieser Fragen (der bislang in der gesamten Literatur zur UV und zu Pontigny gar nicht zur Kenntnis genommen wurde) kam zustande als 1913 eine Ligue franco-allemande gegründet wurde von gesellschaftlichen Kräften, die mit der UV unmittelbar nichts zu tun hatten. Gemäß der Gepflogenheit, in der „Correspondance“ der Vereinigung zum Zwecke der Wahrheitsfindung extrem gegensätzliche Stellungnahmen zu einem Thema zu veröffentlichen, druckte man dort den Gründungsaufruf der Ligue franco-allemande mit einer polemischen Replik von Georges Clemenceau nach. Die Leitfragen dieser ersten großen Deutschland-Debatte der UV gab Paul Desjardins vor in einer Rede aus Anlass der ersten Jahresfeier der Gründung der Ligue internationale pour la défense du droit des peuples. 39 Er stellte dort in der kritischen Diskussion mit dem Berliner Nationalökonomen Adolf Wagner, der eine Rechtfertigung der Annexion Elsass-Lothringens durch das Deutsche Reich vorgelegt hatte, noch einmal den Konsens der Ligue internationale dar. Deren subjektiv-voluntaristische Auffassung der Nation, die Desjardins diejenige der „Européens modernes“ nannte, kontrastierte er mit dem objektiv-deterministischen Verständnis von Nation, das in Wagners Rechtfertigungs-Argument von der Gemeinsamkeit der deutschen Sprache zum Ausdruck gekommen war und das als „invention romantique“ entschieden abgelehnt wurde. Desjardins pointierte - offensichtlich beeinflusst von der erhitzten Auseinandersetzung in der französischen Öffentlichkeit des Jahres 1913 um das Gesetz über die Verlängerung der Wehrpflicht auf 3 Jahre - den Gegensatz zwischen beiden kategorial verschiedenen Konzeptionen von Nation, indem er den „gallicisme“ dem „prussianisme“ gegenüberstellte: „Il y a donc lutte entre le ‚prussianisme’ et le ‚gallicisme’; non point lutte entre nous et les hommes allemands. Car les hommes allemands nous les invitons à causer avec nous de bonne amitié.“ 40 Als unverzichtbare Substanz des „gallicisme“ galt dem Gründer der UV und der Dekaden von Pontigny die Verteidigung des Rechts der Völker auf freie Selbstbestim- 39 Correspondance. Union pour la Vérité, Jg. 1913, Nr. 2, p. 123sqq. 40 Ibid., p. 133sq. <?page no="81"?> 81 mung im internationalen Kontext und des Rechts der Bürger auf freie Entscheidung im nationalen Kontext gegen die „Staatsräson“: „Nous trahirions en somme la France dans son cœur même, peut-on dire, par deux abandons possibles,; soit si nous acceptions, avec connivence, avec obéissance, que la raison d’Etat foulât le droit des peuples n’importe où, hors de chez nous,; soit si nous souffrions qu’elle s’installât chez nous, cette raison d’Etat, pour y annihiler les droits du citoyen. Car enfin ce serait pitié de nous prussianiser au dedans pour mieux tenir tête aux Prussiens du dehors.“ 41 Der Kampf gegen den prussianisme war für Desjardins keine nationale Feinderklärung, sondern die Abwehr eines politischen Prinzips, das in Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 dominant geworden war: „L’ennemi pour nous, ou du moins (ne dramatisons pas) l’étranger ce n’est pas l’Allemand, certes, ce n’est pas le Prussien, en tant qu’il se tient chez lui et travaille en paix, c’est le Prussianisme, comme système armé. Oh! cela, c’est ce que je sens m’être le plus violemment étranger. Etranger à toute notre allure française d’à présent, gênant pour notre rythme respiratoire, irréductible à notre conception. C’est contre quoi je serai toujours prêt à parier, avec tout mon sang pour enjeu, s’il y échet. Certes, le ‚tsarisme’ nous est bien lointain et même plus exotique, mais du moins, il ne fait pas sa propre théorie, il ne se donne pas comme la philosophie culminante de l’Europe, il n’envahit pas les esprits. Mais quand j’aborde les ‚Preußische Jahrbücher’ de n’importe quelle époque, ou les historiens prussiens, même les maîtres, Mommsen, Droysen, Sybel, Treitschke, la contradiction radicale, non pas entre ce qu’ils disent et ce que nous disons, mais entre ce qui pour eux et pour nous va sans dire, leur doctrine sous-entendue sur la possession de l’homme par l’homme, ne tarde pas de m’asphyxier.“ 42 Desjardins beschwor gegen den „prussianisme“ die älteren politischkulturellen Traditionen Deutschlands, in denen er die Ansatzpunkte für die aktuelle Formulierung eines modernen Europas des Rechts und der Freiheit angelegt sah: „Un Herder, un Kant, un Fichte, un Schiller, un Jhering, ces chers Allemands riches d’humanité, ces Allemands d’avant la victoire.“ 43 Er wandte sich emphatisch an die französischen Deutschlandkenner seiner Gegenwart, um zu erfahren, ob diese älteren Traditionen noch lebendig waren im wilhelminischen Deutschland: „Qu’en pensez-vous, connaisseurs experts de l’Allemagne contemporaine, Charles Andler, Henri Lichtenberger, André François-Poncet? “ 44 Von den hier angesprochenen Sachkennern schrieb der junge André François-Poncet einen sehr skeptischen Kommentar zur aktuellen Möglich- 41 Ibid., p. 135. 42 Ibid., p. 131sq. 43 Ibid., p. 133. Desjardins bezog sich sehr oft auf Rudolf von Jhering (1818-1892), der als Begründer des juristischen „Naturalismus“ gilt und das Recht auffasste als ein durch die Zwecke des einzelnen und der Gesellschaft begründetes Normengefüge. Cf. ders.: Der Kampf ums Recht, zuerst 1872 erschienen. 44 Correspondance. Union pour la Vérité, Jg. 1913, Nr. 2, p. 133. <?page no="82"?> 82 keit eines Ausgleichs zwischen Deutschland und Frankreich. 45 Auch Lichtenberger vermochte gegenwärtig, keinen tragfähigen Boden der Gemeinsamkeit zwischen beiden Nationen zu sehen. Die meisten der Beiträge in der „Correspondance“ der UV, die noch bis zum Sommer 1914 erschienen, versuchten, eine abwägende Stellung zu beziehen zwischen dem Optimismus der Ligue franco-allemande und den Sarkasmen Clemenceaus über die Illusion einer deutsch-französischen Annäherung (Isaac Benrubi, Thédore Ruyssen, Edouard Rist). Als Beispiele für eine hoffnungsvolle Einschätzung der möglichen Friedenssicherung wurden Texte zu den französisch-deutschen Beziehungen aus der Arbeiterbewegung im UV-Organ nachgedruckt (Marcel Sembat, Jean Jaurès). 46 Das Fazit dieser ersten großen Debatte über Deutschland und die französisch-deutschen Beziehungen zog Desjardins’ enger Mitarbeiter Georges Guy-Grand. Er hatte den Eindruck, dass in den Beiträgen im Verbandsorgan alle wesentlichen Positionen zum Ausdruck gekommen waren. Er bedauerte jedoch, dass die von Desjardins im Namen der Ligue internationale gestellte Frage nach möglichen Ansprechpartnern in Deutschland für die Ausarbeitung einer gemeinsamen, die nationalen Grenzen überschreitenden Rechts-Konzeption kaum beantwortet worden sei. Den Diskussionsteilnehmern sei anscheinend diese transnationale Strategie zu theoretisch und abstrakt erschienen. Guy-Grand hielt gleichwohl an ihr fest und resümierte sie in seinen Worten: „Le respect du droit des peuples est notre norme fondamentale en politique extérieure, comme le respect du droit des citoyens, du droit des producteurs, du droit des associations, sous le contrôle des droits de l’Etat, est notre pensée directrice en politique intérieure.“ 47 Man insistiere auf dieser Konzeption nicht, weil sie französisch sei, sondern „parce qu’elle appartient à l’ordre universel, qu’elle est de la raison.“ 48 Da nach den Ergebnissen der Enquête der Union pour la Vérité und gemäß den sonstigen Berichten aus dem Deutschen Reich lebendige Spuren einer solchen modernen und rationalen Denkweise nicht mehr erkennbar seien, könne man sinnvoller Weise allenfalls auf längere Sicht eine Annäherung zwischen beiden Nationen erhoffen: „Il reste donc à souhaiter qu’entre les deux peuples, entre les deux cultures, par delà les diversités de leurs génies dont il ne faut pas souhaiter qu’elles disparaissent, s’établisse à la longue cet accord sur les grands principes juridiques qui seul pourra faire disparaître les dernières résistances du cœur.“ 49 Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und den innenpolitischen Umbrüchen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich in der 45 Correspondance, Jg. 1914, Nr. 3: „Le rapprochement franco-allemand“, p. 196- 201. 46 Correspondance, Jg. 1914, Nr. 7: „Le rapprochement franco-allemand. L’opinion socialiste“. 47 Ibid., Jg. 1914. Nr. 7. Georges Guy-Grand: Le rapprochement franco-allemand. Conclusion, p. 511. 48 Ibid., p. 515. 49 Ibid., p. 521. <?page no="83"?> 83 Union pour la Vérité die Frage, die 1913/ 14 diskutiert worden war, aufs neue: Gab es unter diesen veränderten Umständen trotz der auf beiden Seiten entfesselten Kriegspropaganda für die UV die Möglichkeit, in Deutschland Ansprechpartner für die gemeinsame Diskussion über ein Projekt Europa zu finden, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Ideal des „citoyen“ gleichzeitig gelten sollten? Wiederum gab Paul Desjardins die richtungsweisenden Impulse für die Debatte, indem er in der Eröffnungssitzung dieser zweiten Gesprächsrunde in der rue Visconti am 15.1.1922 zwei Sackgassen der Diskussion von vornherein ausschloss: die des Nationalismus und die eines sentimentalen „rapprochement“-Pathos. 50 Er gab stattdessen für die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Franzosen und Deutschen die Devise aus: „D’abord: savoir; puis: peu à peu, comprendre; enfin: se résoudre.“ 51 Diese zweite Deutschland-Debatte in der Pariser rue Visconti, die von Januar bis März 1922 dauerte, versammelte ein ansehnliches Potential von Sachverstand. Beteiligt waren als germanistische oder andere Experten für das Nachbarland: Charles Andler, Henri Lichtenberger, Edmond Vermeil, Jean de Pange, Gaston Raphaël, Félix Bertaux, Marcel Drouin und Edouard Rist; als ökonomische und juristische Sachkenner u.a. Charles Rist, Arthur Fontaine; als Vertreter der Geistes- und Sozialwissenschaften u.a. Alphonse Aulard, Célestin Bouglé, Lévy- Bruhl, Elie Halévy, Léon Brunschvicg; und als literarische Repräsentanten schließlich André Gide, Jacques Rivière, Roger Martin du Gard, Georges Duhamel und Pierre Hamp. 52 Nach den Expertisen des Ökonomen Charles Rist, der die Möglichkeiten einer strikten deutschen Erfüllung der Reparationsanforderungen nach Maßgabe des Versailler Vertrags für unrealistisch hielt, und eines Offiziers über den Stand der Entmilitarisierung, den er für eher unbefriedigend hielt, trug Henri Lichtenberger ein Plädoyer für die „démobilisation spirituelle“ in den französisch-deutschen Beziehungen vor. Lichtenberger, der zu dieser Zeit als Sorbonne-Germanist auch die Tätigkeit als Deutschland-Beauftragter der „Conciliation Internationale“ des Comte d’Estournelle de Constant übernommen hatte, 53 konstatierte, dass das Ideal des „bon Européen“ durch den Weltkrieg gravierende Rückschläge erlitten habe. Er war (wie Desjardins) der Meinung, dass ein sentimentaler Versöhnungs-Diskurs in den französisch-deutschen Beziehungen weniger denn je der aktuellen Lage angemessen sei. Hingegen: „Ce qui est 50 Reprise des relations entre Français et Allemands, Sonderheft der Correspondance. Union pour la Vérité, Jg. 1925: „Avant propos par Paul Desjardins, Henri Lichtenberger. Gabriel Marcel“. Hier Paul Desjardins’ Text: „Esprit de ces Entretiens. Paroles prononcées par Paul Desjardins“, p. 9. 51 Ibid., p. 12. 52 Ibid., IV. Paul Desjardins: „Eclaircissements“. 53 Cf. Wild, op. cit., 450 sq. Zur wissenschaftlichen und verständigungspolitischen Vita Lichtenbergers cf. auch Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger, père fondateur de la germanistique française et médiateur entre la France et l’Allemagne“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, p. 155-169. <?page no="84"?> 84 possible, en revanche, et tout de suite, c’est la reprise du contact intellectuel, c’est la confrontation lucide et courtoise des opinions, la constatation en commun des faits vérifiables, la discussion sincère et patiente d’interprétations aujourd’hui encore fortement divergentes, mais qu’un échange d’idées loyal doit pouvoir rapprocher peu à peu. C’est l’œuvre à tenter.“ 54 Eine besonders lebhafte Resonanz rief der Vortrag des anderen Sorbonne-Germanisten, Charles Andler, hervor. Andler (1866-1933), der in den Weltkriegsjahren eine umfassende Dokumentation über den philosophischen „pangermanisme“ zusammengetragen hatte 55 und der mit der UV seit den Vorkriegsjahren verbunden war, extemporierte mehrere Deutungsansätze für die in der Weltkriegspropaganda zur äußersten Schärfe gesteigerten Gegensätze zwischen den vorherrschenden Wertemustern in der französischen und in der deutschen politischen Kultur. Für Andler waren diese Gegensätze historischer, nicht aber prinzipieller Natur, denn wie er gleich zu Beginn seines Beitrages sagte: „Je crois à une civilisation européenne unique, à un fond commun de culture qui tient à une longue histoire par laquelle les peuples européens sont joints.“ 56 Er hielt die rationalistische Denkweise für ein gemeinsames Erbe in Frankreich und Deutschland, das im Nachbarland allerdings seit der Reichsgründung von 1871 geradezu vorsätzlich durch den „pangermanisme philosophique“ verdunkelt und verdrängt worden sei. Andler versuchte, diese Auffassung zu verdeutlichen am Beispiel der Kodifizierung des Bürgerlichen Zivilrechts (Preußisches Landrecht und Code civil) und der Kantianischen Tradition in Deutschland, die er in der Gegenwart lebendig fortgeführt sah bis in die Schriften von Kurt Eisner. 57 Während der Sorbonne-Germanist das lebendige Erbe der europäischen Aufklärungs-Tradition also als Basis für die Wiederaufnahme des französisch-deutschen Dialogs empfahl, ließ er keinen Zweifel daran, dass er die Deutschen für politisch unreif hielt: „Je ne fais pas difficulté d’avouer que le peuple allemand, dont la culture scientifique, artistique. et morale, est certainement très élevée, me paraît politiquement inculte, ou du moins très attardé.“ 58 Die erst 1925 erfolgte Veröffentlichung der Protokoll-Auszüge dieser Deutschland-Debatte in der rue Visconti 59 wurde von Desjardins ergänzt durch eine umfangreiche Do- 54 Reprise des relations entre Français et Allemands, op. cit., p. 57. 55 Ibid., 62. Die Union pour la vérité widmete dem Andenken an Andler, einem ihrer prominenten Mitglieder, ein Sonderheft: Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1935 (oct. nov. 1935): Edmond Vermeil: Charles Andler. 56 Reprise des relations entre Français et Allemands, op. cit., p. 62. 57 Ibid., p. 78. Andler verwies in der Diskussion (ibid., 73) auf Kant als Kronzeugen für die rationalistischen Gemeinsamkeiten. „Pourtant il y a Kant! Vous méconnaissez tout le courant de Kant.“ 58 Ibid., p. 69. 59 Paul Desjardins gab im Vorwort von 1925 (ibid., IX) eine rechtfertigende Erklärung für die prinzipielle, aber nicht in die Öffentlichkeit getragene Kritik der UV an der gewaltsamen Sanktionspolitik Poincarés im Jahre 1923: „Nous éprouvions pour cette politique des sentiments aussi éloignés que possible du contentement (je ne parle pas <?page no="85"?> 85 kumentation von Briefen aus dem Rheinland, datiert von den Monaten April 1923 bis Januar 1924. 60 Diese Briefe spiegelten mit gesteigerter Intensität den Versuch des vorurteilsfreien Verstehens der aktuellen Lage in Deutschland und die (auch selbstkritische) Suche nach konstruktiven Dialogmöglichkeiten wider, die den Tenor der Deutschland-Debatte von 1922 in der UV bestimmt hatten. Der Autor dieser anonym publizierten Briefe war Pierre Viénot, der durch seinen geistigen Mentor dieser Jahre, Maréchal Hubert Lyautey (eines der Gründungsmitglieder der „Union pour l’action morale“), Ende 1922 mit Paul Desjardins in dauerhaften Kontakt getreten war. 61 Der Leiter der UV und Herausgeber der Sitzungsprotokolle, Desjardins, bilanzierte im Januar 1925: Die Gespräche über Deutschland vor drei Jahren hätten ergeben, dass es sich in den Beziehungen zwischen diesem Land und Frankreich nicht so sehr um eine gleichsam konjunkturelle Welle des Hasses, sondern um ein strukturelles Problem handele: „Une incompréhension mutuelle et chronique. Disons, si vous voulez, une diversité d’âme, laquelle peut être la condition d’un enrichissement; mais dont l’effet actuel est que nous ne pouvons nous entendre qu’à condition de ne pas pousser loin nos sondages.“ 62 Er zog gerade aus den Diskussionsbeiträgen der französischen Germanisten den Schluss, dass man diese Unterschiedlichkeit nicht mit den Kategorien der Völkerpsychologie erklären könne. „Les germanisants consultés par nous ne prétendent pas que cette hétérodoxie, qu’ils jugent profonde, soit irréductible, ethnique. Ils la datent du romantisme. L’abîme s’est creusé il n’y a guère plus d’un siècle. Et parallèlement, ceux qui étudient le passé de la France s’étonnent d’y rencontrer, au XVIII e et au XIX e siècle, des ingrédients que l’on jurerait pan-germanistes. Serait-ce que dans des cervelles françaises un „pangallisme“ eût pu tout aussi bien fleurir? Alors pourquoi le bismarckisme serait-il plus inguérissable que le napoléonisme? “ 63 Diese verhalten optimistische Einschätzung der Entwicklung Deutschlands und der deutsch-französischen Beziehungen, die in der politischen Vorbereitungsphase des Locarno-Vertrages (Oktober 1925) artikuliert wurde l’admiration, et il n’est pas besoin. il est même à craindre qu’un chef de gouvernement veuille se montrer admirable). Nous nous tûmes pourtant. Faire acte d’opposants, c’eût été, sans nul profit, accroître les chances d’échec de l’entreprise où nous étions lancés, dont la réussite certes ne pouvait être un bien, mais était un moindre mal que si l’Allemagne, relevant trop la tête, ôtait à la dure victoire de 1918 son sens, son bienfait, dont elle même, un jour. profitera.“ 60 Cf. ibid., p. 95-128. 61 Die Autorenschaft Pierre Viénots konnte ermittelt werden durch den Vergleich des gedruckten Textes mit dem Original des Briefes im Nachlass des Maréchal Hubert Lyautey in den Archives Nationales. Zu Pierre Viénots Beziehungen zu Lyautey und seiner Bekanntschaft mit Paul Desjardins cf. meine Studie: „Connaître l’Allemagne et la reconnaître. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot 1922 bis 1932“, in: Lendemains, Jg. 1992, Nr. 66, p. 27-48. 62 Reprise des relations entre Français et Allemands, op. cit., p. VI. 63 Ibid., p. VIsq. <?page no="86"?> 86 de, war fünf Jahre später bereits beendet, als die UV im Rahmen ihrer „Libres Entretiens“ in der rue Visconti zur dritten Deutschland-Debatte einlud. Die Fragestellung dieser von Dezember 1930 bis Juni 1931 stattfindenden Gesprächsserie war dieselbe wie bei den früheren Diskussionen. Georges Guy-Grand formulierte die Frage zum Stand der zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Beziehungen: „Sommes-nous plus près ou plus éloignés qu’il y a quelques années de nous mettre d’accord sur quelques principes, entendus et appliqués de même, qui pourraient constituer la base d’un esprit public européen? “ 64 Die dritte Deutschland-Debatte in der UV war durch zwei Merkmale von den früheren Gesprächsrunden deutlich verschieden. Zum einen war es die im engeren Sinne politischste Debatte, da sie ganz unter dem Eindruck der deutschen Septemberwahlen zum Reichstag von 1930 standen, die die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Fraktion im deutschen Parlament machten. Zum anderen war in dem Gesprächskreis der UV, der mehr Teilnehmer umfasste als die vorausgegangenen Debatten, erstmals eine große Zahl von jüngeren Intellektuellen vertreten, die den „nonkonformistischen“ Tendenzen der dreißiger Jahre nahe standen und den republikanischen Konsens zu überschreiten versuchten. 65 Von der auf diesen Konsens eingeschworenen alten Garde der UV waren neben Guy-Grand vor allem Arthur Fontaine und Henri Lichtenberger in der Diskussion vertreten, deren Argumentation gestützt wurde von Repräsentanten des Parti radical (Jacques Kayser, Edouard Pfeiffer); von den Wortführern der „non-conformistes“ meldeten sich namentlich Alexandre Lipiansky und Ramon Fernandez zu Worte. Paul Desjardins war in den Gesprächsrunden in der rue Visconti nicht anwesend, begleitete aber die Gespräche mit einem Aufsatz im Publikationsorgan der Vereinigung, der die Gefährlichkeit der Lage in Deutschland für den Frieden in Europa analysierte und sich mit großem Nachdruck einem französisch-amerikanischen Soforthilfeprogramm für das Nachbarland anschloss, das Wladimir d’Ormesson vorgeschlagen hatte. 66 Er formulierte zwei Ansatzpunkte der Kritik an der Entwicklung der französisch-deutschen Beziehungen in den zwanziger Jahren: In Deutschland sei die selbstkritische Befragung nach den Ursachen des Zusammenbruchs von 1918 und des Versailler Vertrags ganz unzulänglich geblieben. In Frankreich habe man den Deutschen nicht das Minimum an Selbstbestimmung gewährt, das diese Nation vor dem Absturz in die Verzweiflung, der gegenwärtig eingetreten sei, hätte bewahren können: „Si un vainqueur, n’ayant pas confiance en la possiblité d’infléchir le vouloir d’un peuple vaincu, a entrepris d’en ron- 64 „Problèmes franco-allemands d’après guerre“, Sonderheft: Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1932 (janv.avril 1932), p. 17. 65 Cf. dazu umfassend Jean Louis Loubet del Bayle: Les non-conformistes des annés 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, Paris 1987 (2. Aufl.). 66 „De l’irresponsabilité dangereuse du peuple allemand“, in: Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1931, Nr. 5/ 6 (févr.-mars 1931). Der Aufsatz erschien anonym, stammt aber von Desjardins. Cf. Heurgon Desjardins (ed.), op. cit., p. 14-67. <?page no="87"?> 87 ger la force autant qu’il le peut, et même un peu davantage, la prudence commande qu’il fasse attention à ne pas léser, au cours de l’opération, les centres nerveux, où réside chez un peuple la faculté d’anticiper l’avenir et de s’y élancer. Il faut de ces égards qui sont une invitation à des égards réciproques.“ 67 Diese Frage nach den Ursachen der aktuellen Krise, die besonders von Henri Lichtenberger als akute Infragestellung des Versailler Nachkriegssystems in Europa aufgefasst wurde, 68 und die Frage nach den noch verbleibenden Revisions- und Handlungsmöglichkeiten bestimmten den ganzen Verlauf der Deutschland-Gespräche in der rue Visconti im ersten Halbjahr 1931. Charakteristisch für diesen Gesprächsverlauf war es, dass die meisten Antworten der jüngeren Teilnehmer auf politischdiplomatische Szenarien verwiesen und damit den Bereich verließen, den die Union pour la Vérité traditionell als den Boden ihrer spezifischen Wirksamkeit betrachtete. Nämlich die geistige Klärung und gesellschaftlich-ethische Begründung für die transnationale Kommunikation zwischen Frankreich und Deutschland, die der operativen Politik der Regierungen vorgelagert sein sollte. Guy-Grand bemühte sich redlich und beharrlich, dieser Fragestellung in der Diskussion Gehör zu verschaffen. Er rekapitulierte Anlass und Ergebnis der Deutschland-Debatten der UV von 1913/ 14 bzw. 1922 und stellte - ganz in der Tradition derselben - die Leitfrage: „Est-il davantage possible aujourd’hui qu’hier, tout en respectant les diversités essentielles des deux nations, de se mettre d’accord sur quelques principes communs de pensée et d’action? “ 69 ln den Diskussionsbeiträgen der älteren UV-Vertreter (z. B. Guy-Grand und Arthur Fontaine) wurde deutlich, dass sie die von Poincaré 1923 praktizierte Linie der Deutschland-Politik entschieden ablehnten, dass sie aber den Völkerbund als einen zwar revisionsbedürftigen, sehr wohl jedoch brauchbaren Ansatz zur Lösung der deutsch-französischen Konflikte und zur Sicherung des Friedens in Europa auffassten. In den prospektiven Überlegungen von Georges Guy-Grand kam zu den traditionellen Ideen der UV und dem Bekenntnis zum Völkerbund das Konzept einer föderalistischen Neuordnung Europas hinzu: „Ce monde nouveau, c’est précisément celui qui s’approchera de plus en plus de cet ordre juridique idéal auquel je viens de faire allusion, caractérisé par le respect des droits des peuples qui complètent, avec les mêmes caractères de réciprocité, les droits du citoyen et les droits du travail. Ainsi s’ébauchera le fédéralisme du XX e siècle, qu’ont rêvé, comme conséquence de la Révolution du XVIII e , quelques-unes des meilleures têtes du XIX e et qui est amorcé, vaille que vaille, à Genève.“ 70 Als Alternative dazu sah der Nachfolger Desjardins’ an der Spitze der Union pour la Vérité den Absturz Europas in die Barbarei und dessen Selbstzerstörung voraus. 67 Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1931, Nr. 5/ 6, p. 9. 68 Cf. Henri Lichtenberger (ibid., 17sq.): „Mise au point en guise d’introduction“. 69 Ibid., p. 35. 70 Ibid., p. 93sq. <?page no="88"?> 88 Er verteidigte mit diesen Ausführungen die Notwendigkeit einer zivilgeseilschaftlichen Begründung der französisch-deutschen und europäschen Zusammenarbeit gegen die in der Krise hastig entworfenen Projekte allianzpolitischer, finanzieller und wirtschaftlicher Art, wie sie besonders von den jüngeren Diskussions-Teilnehmern vorgetragen wurden. 71 Von den deutschen Teilnehmern an der Debatte 72 wurden dergleichen längerfristige Perspektiven mit dem Argument des sofortigen Handlungsbedarfs in der ökonomischen, politischen und moralischen Krise Deutschlands schroff abgelehnt. Einen Einwand eher prinzipieller Art formulierte der junge Raymond Aron, 73 der damals Lektor an der Kölner Universität war und die Situation in Deutschland gut kannte. Er gab hinsichtlich der republikanischen Argumentation Guy-Grands, die auf die Verbindlichkeit des Rechts in den inner- und interstaatlichen Beziehungen zielte, zu bedenken, dass man von französischer Seite politisch das Vertrauen in das Recht und die Gerechtigkeit bei den Deutschen verspielt habe: „Nous avons trop exploité consciemment ou non l’idéologie de justice en vue de fins utilitaires pour protester aujourd’hui contre le scepticisme des Allemands.“ 74 Die Deutschland-Debatte von 1930/ 31 zeigte, dass im Rahmen der „Libres Entretiens“ in der rue Visconti die Grundsätze der Union pour la Vérité (parteipolitisch unabhängiges Raisonnement und Definition gemeinsamer republikanischer intra- und internationaler Rechtsnormen) in die Defensive geraten und einer nachwachsenden Generation nur noch schwierig zu vermitteln waren. 3. Die Gespräche von Pontigny als Ort französisch-deutscher Begegnung Die Tatsache, dass nicht die rue Visconti in Paris, sondern die Dekaden von Pontigny im Kontext der UV zum zentralen Ort der Begegnung und Diskussion mit Vertretern des deutschen Geisteslebens wurden, hatte mehrere Gründe. Einer davon lag darin, dass vernunftorientiertes Nachdenken über gemeinsame Probleme bzw. Handlungsmöglichkeiten und Themen ge- 71 Dazu Georges Guy Grand ibid., p. 92: „Peut être, est il préférable, si l’on veut aboutir, de chercher des ententes pratiques, au lieu de s’obstiner dans un rapprochement intellectuel dont toute discussion fait apparaître les difficultés. Mais cela ne suffira pas à résoudre le problème de fond. car, en définitive, on ne s’entend bien que lorsqu’on parle la même langue. Je veux dire lorsqu’on se fait la même idée du droit.“ 72 Als deutsche Gäste nahmen je drei Auslandskorrespondenten und Hochschul- Repräsentanten teil: Benno Reifenberg (Frankfurter Zeitung), Graf Podewils (Germania), Arthur Rosenberg (Kölner Zeilung), als Hochschullehrer Fritz Kern (Bonn), Wilhelm Friedmann (Leipzig) und Richard Rohden (Berlin). 73 Zur Rolle Raymond Arons in der UV und zu seiner Deutschland-Analyse dieser Jahre cf. Joachim Stark: „Zwischen Devoir présent und Incertitudes allemandes. Raymond Aron in den Jahren 1928 bis 1932“, in: Lendemains, Jg. 1992, Nr. 66, p. 49sq. 74 Problèmes franco-allemands d’après-guerre, op. cit., p. 146. <?page no="89"?> 89 meinsamen geistigen Interesses seit Beginn der dreißiger Jahre in Paris von tagespolitischen Konflikten und Kontroversen überlagert wurde. Die Deutschland-Debatte im ersten Halbjahr 1931 hatte das gezeigt. Überdies bot Pontigny der letztlich ja pädagogisch oder sozialisatorisch ausgelegten Konzeption der transnationalen Kommunikation die günstigeren Entfaltungsmöglichkeiten. Das durch eine lockere Organisation des Tagesablaufs und einige Rituale geregelte temporäre Zusammenleben von kulturellen Repräsentanten verschiedener Nationen in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei im Département der Yonne ermöglichte eine Intensität des geistigen Austausches, die in der Hektik der Metropole Paris nicht erreichbar war. Paul Desjardins hatte sich nach der Übergabe der Leitung der UV an Georges Guy-Grand überwiegend nach Pontigny zurückgezogen und bildete dort in der ihm eigenen diskreten Art den Mittelpunkt des zahlreichen Besucherverkehrs. Dieser wurde neben den drei alljährlichen sommerlichen Zehntages-Meetings (Dekaden) belebt durch die Gründung eines „Foyer international d’études et de repos“ im Jahre 1929 und durch die in den dreißiger Jahren zunehmende Präsenz sozialer Gruppen, für die Desjardins’ Begegnungsprogramm des „Anti-Babel“ einen interkulturellen Lernzusammenhang zu stiften versuchte. 75 3a Die „europäischen Gespräche“ als Sozialisations-Milieu Wenngleich die Intellektuellen-Vereinigung Union pour la Vérité in den Begegnungsaktivitäten von Pontigny als Gruppe kaum präsent war, so entsprachen die zahlreichen und intensiven internationalen Kontakte dort ganz und gar der Strategie transnationaler Kommunikation, wie sie bereits in den Vorkriegsjahren in der UV formuliert worden war. Paul Desjardins fasste diese Strategie zu Beginn des Jahres 1922 zusammen, in dem nach dem Ersten Weltkrieg erstmals wieder die Tradition der Dekaden von Pontigny aufgenommen wurde. Er hob die Zielsetzung und Methoden der UV in der Eröffnungsrede zur zweiten Deutschland-Debatte von den (in pazifistischen Kreisen zirkulierenden) Parolen eines humanitär-sentimentalen „rapprochement franco-allemand“ ab: „Nous ne poussons à quoi que ce soit, et la méthode impulsive n’est aucunement la nôtre: ce n’est pas une méthode de liberté. Nous voulons que les gens veuillent ce qui est juste, et 75 Zu dem Begegnungsprogramm Anti Babel, über dessen Praxis bisher wenig bekannt ist. gibt es folgenden Zeitzeugen-Bericht: „Da werden vor allem Studenten, aber auch andere junge Leute aller Länder in Pontigny versammelt. zu mehrmonatigen Kursen. zur Einführung in europäisches Denken, will ich mal sagen. In erster Linie wohl künftige Lehrer. Der Leiter scheint ein norwegischer Universitätsprofessor zu sein: Gunnar Höste. Ein solcher Kurs beginnt am 5. Januar und dauert bis Ende März.“ Brief Paul Distelbarth an seine Ehefrau vom 10. November 1937 (Familienarchiv Distelbarth, Rittelhof ). <?page no="90"?> 90 d’abord qu’ils le cherchent. D’autre part, le rapprochement, comme moyen de la paix, est plein de hasards. En se rapprochant, l’on multiplie les frottements, et alors il se peut que, mus par un désir de sympathie, l’on aboutisse à une antipathie mieux renseignée. Non: point se rapprocher, mais sans préjugés s’entre-connaître; puis ces antipathies d’épiderme, d’étranger à étranger, étant nettement sues, tenter, sur quelques étrangers choisis entre les plus grands, si l’on n’atteint pas quand même, enfin, à ce fond humain, pour lequel il n’y a plus d’étrangers. Ainsi l’on ne se rapproche, à part soi, que de l’homme, et l’on invite les autres à en faire autant de leur côté.“ 76 Eben diese Kommunikations-Prämissen lagen den Begegnungen in Pontigny stärker noch als den Treffen in der Pariser rue Visconti zugrunde: Die Sondierung der potentiellen Gemeinsamkeiten bei grundsätzlicher Anerkennung der Alterität im Gespräch zwischen eher exemplarischen als elitären Vertretern des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Frankreich und Deutschland (oder anderen Nationen). Obwohl die Mehrzahl der deutschen Gesprächspartner der Union pour la Vérité den Weg nach Pontigny ging, so blieb doch auch die rue Visconti ein gelegentlicher Treffpunkt für deutsche Besucher oder für deutsch-französische Aussprachen. Desjardins stand z. B. mit Albert Schweitzer in Kontakt und empfing ihn im Januar 1928 im Tagungsort der UV. 77 Alfred Weber referierte dort im März 1933 zum Thema „Y a-t-il faillite de l’économie mondiale? “ Im Dezember 1938 waren in der rue Visconti an der Diskussion eines Vortrages über „La doctrine allemande de la Révolution“ von Edmond Vermeil die beiden deutschen Exilanten Gottfried Salomon und Paul Distelbarth 78 beteiligt. Während der germanistische Referent Vermeil, der Soziologe Raymond Aron und der Philosoph Alexandre Koyré die Suche in der UV nach einem gemeinsamen Fundament des intellektuellen Dialogs mit Deutschland für nunmehr sinnlos hielten, machte Salomon geltend, es gebe „un abîme entre la pensée des véritables intellectuels allemands, condamnés à se taire ou à émigrer, et le primitivisme ou le primarisme des propagandistes hitlériens.“ 79 Der Protokollant der Diskussion notierte zu deren Verlauf: „Il ne faut pas dissimuler que le ‘climat’ de cet entretien était lourd d’appréhension. Il s’y débattait un sujet qui domine la politique et la vie française, et qui a toujours été une des préoccupations de l’Union: à savoir la possiblité d’un dialogue franco-allemand, de ces échanges non seulement économiques, mais intellectuels…“ 80 Es gab deut- 76 Problèmes franco-allemands d’après-guerre, op. cit., p. 9sq. 77 Cf. Heurgon Desjardins (ed.), op. cit., p. 297. 78 Zu Gottfried Salomon cf. jetzt: Ina Belitz, Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno Ära. Programme und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Münster 1995, p. 308-328; dort auch zu Distelbarth, p. 328-342. 79 Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1938, (dec. 1938-janv. 1939), Nr. 3/ 4, p. 122. 80 Ibid., p. 122. <?page no="91"?> 91 sche Mitglieder der UV aus den Reihen der Exilanten, wie z. B. Alfred Döblin, 81 die dort jedoch nicht öffentlich in Erscheinung traten. Der bekannteste Redner aus Deutschland, der in der rue Visconti auftrat, war zweifellos Thomas Mann, der bei seinem Paris-Aufenthalt im Januar 1926 im Tagungslokal der UV von Desjardins willkommen geheißen wurde. Thomas Mann, der in Frankreich zu der Zeit noch fast ausschließlich als der Herold des „pangermanisme philosophique“ seiner Weltkriegsschriften bekannt war, wurde im Verbands-Organ der UV im Mai 1925 als Hoffnungsträger der inneren Erneuerung Deutschlands dargestellt aufgrund seiner Rede anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann, von der Auszüge in Übersetzung abgedruckt wurden. 82 Desjardins begrüßte Thomas Mann in der rue Visconti freundlich, aber ohne Überschwang; er notierte in sein Tagebuch: „J’ai été hardi, franc mais avec douceur. Qu’importe si les autres furent contents ou non.“ 83 Der deutsche Intellektuelle, dessen Anregungs- und Vermittlungs-Tätigkeit zwischen seinem Herkunftsland und Frankreich in der rue Visconti (wie in Pontigny) sich am dauerhaftesten und intensivsten gestaltete, war Bernhard Groethuysen (1880-1946). Er hielt eine ganze Reihe von Vortragen und seminaristischen Veranstaltungen in der Union pour la Vérité und wurde für André Malraux und andere Mitglieder der Vereinigung zum philosophischen Ratgeber. 84 Er hielt z. B. 1926 eine Vortragsreihe über zeitgenössische Philosophie in Deutschland und sprach in dem Zusammenhang u.a. über Edmund Husserl und Friedrich Nietzsche. 85 Während eine aktive Rolle deutscher Teilnehmer in den Diskussionen in der rue Visconti in der Regel abhängig war von großer Bekanntheit oder langer Vertrautheit, war der deutsche Besucherverkehr in Pontigny breiter und starker fluktuierend. Aufgrund der verloren gegangenen Archive von Pontigny wird man zwar eine vollständige Übersicht über die Zahl und die politisch-intellektuellen Merkmale der deutschen Gäste bei den Dekaden von 1922 bis 1939 nicht mehr rekonstruieren können. Die verstreuten Zeugnisse solcher Teilnehmer an den „europäischen Gesprächen“ - wie Ernst Robert Curtius die Intellektuellen-Treffen in Pontigny nannte 86 - lassen aber durchaus ein gesichertes Gesamtbild entstehen. Dieses Bild zeigt erstens eine lange Kette von deutschen Gesprächspartnern, die überein- 81 Die Mitgliedschaft Döblins wurde von François Beilecke aus dem Mitgliederverzeichnis der UV im Archiv Guy Grand ermittelt. 82 Cf. „Quelques voix d’Outre-Rhin. Ernst Robert Curtius, Thomas Mann, Comte Hermann Keyserling“, in: Correspondance. Union pour la Vérité, Jg. 1925, (mai 1925), p. 21sq. 83 Heurgon Desjardins (ed.), op. cit., p. 285. 84 Cf. dazu das Groethuysen gewidmete Kapitel in Jean Lacouture: André Malraux. Une vie dans le siècle, Paris 1973, p. 161sq.: „Un maître“. 85 Zum Husserl-Vortrag schrieb Desjardins in sein Journal: „A la rue Visconti, conférence de Groethuysen sur Husserl: trop peu d’auditeurs (sept). Mme Salvenimi, Crémieux, Paulhan etc.,“ Heurgon Desjardins (ed.), op. cit., p. 285. 86 So in seinem ersten Bericht über Pontigny im Neuen Merkur, November 1922. <?page no="92"?> 92 stimmend beeindruckt oder begeistert waren über die vorurteilsfreie Atmosphäre und die zwanglose Form des Umgangs miteinander von Intellektuellen vieler Nationen, die durch das Interesse (und die Kompetenz) für ein bestimmtes philosophisches Thema für 10 Tage zusammengeführt worden waren. 87 Im Rahmen dieser durchgängig positiven Würdigung der Pontigny-Gespräche wird zweitens in den Reaktionen und in der Rekrutierung der deutschen Teilnehmer eine Differenzierung erkennbar, in der sich die Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Grundlagen der deutsch-französischen Beziehungen während der beiden Zwischenkriegs- Jahrzehnte deutlich abzeichnet. Einer der deutschen Zeitzeugen konstatierte 1930 eine doppelte Veränderung der Dekaden ab 1922 im Vergleich zu den Vorkriegs-Tagungen in Pontigny, die von Desjardins willentlich herbeigeführt worden sei. Zum einen sei die Zusammensetzung der Dekaden ungleich stärker zum Ausland hin geöffnet als früher: „Waren sie früher hauptsächlich als französische Veranstaltung gedacht, zu der auch ausländische Besucher zugelassen wurden, ‘begierig, die Bekanntschaft dieser oder jener wahrhaft anziehenden Pariser Persönlichkeit zu machen’, so wurde jetzt das Internationale, in seinen Zielen Übernationale der Zusammenkunft bewusst gewollt und betont. Der ‘anziehende Pariser’, seit dem Kriege fremden Welten williger geöffnet, kam mit der Absicht, nicht nur zu geben und zu belehren, sondern auch von dem - vielleicht weniger anziehenden - Ausländer belehrt zu werden und zu empfangen.“ Die zweite Veränderung konstatierte der Autor für die zwanziger Jahre mit Bezug auf die wachsende Zahl der deutschen Pontigny-Freunde; in ihren Reihen seien zu den großen Namen des Kulturlebens auch eher anonyme deutsch-französische Grenzgänger hinzugetreten: „Es kamen viele, die den deutsch-französischen Geistesbund schon vor dem Kriege in sich abgeschlossen hatten und ihn nun erneuern wollten: der Schriftsteller Heinrich Mann, der Romanist E. R. Curtius, der Philosoph Bernhard Groethuysen. Unmöglich, alle bekannten Namen hier aufzuzählen. Es kamen noch viele andere Deutsche: Lehrer und Lehrerinnen, Studenten und Studentinnen usw. Und vielleicht sind diese Anonymi für ein echtes Rapprochement von wesentlicherer Bedeutung als die großen Namen. Gerade den geistigen Mittelstand gilt es zu bekehren, er stellt den kompaktesten Block dar, in dem die nationalistischen Vorurteile am hartnäckigsten haften.“ 88 Diese soziologische Skizze zum deutschen Anteil in Pontigny lässt sich aus den Dokumenten durchaus bestätigen. Sie lässt schon für die zwanziger Jahre den Schluss zu, dass die Jahrestreffen im burgundischen Kloster vergleichsweise breitere intellektuelle Interessen- 87 Die vollständige Liste der Themen, die in den Dekaden von Pontigny erörtert wurden in Heurgon Desjardins (ed.), op. cit., p. 403 sq. 88 Hans Kauders: „Wert von Pontigny“, in: Europäische Revue, Jg. 1930, p. 864. <?page no="93"?> 93 tenkreise anzogen und zuließen als der andere „noyau de l’Europe future“ im luxemburgischen Colpach. 89 Die Beobachtungen, in denen die Zeugnisse aller beteiligten Deutschen übereinstimmten, bezogen sich auf die Rolle Paul Desjardins’ als „spiritus rector“ der Tagungen, auf das besondere Kommunikations-Milieu in der alten Klosteranlage und auf die eigenartige Intensität und Wirkung der dort geführten Gespräche. Obwohl Desjardins ein freundlicher, aber sehr diskreter Gastgeber in Pontigny war, bildete seine Persönlichkeit das natürliche Gravitationszentrum des Besucherverkehrs und der Gespräche. Paul Distelbarth (1879-1963), der sich mit der tätigen Hilfe der UV-Mitglieder in Paris den Zugang zu den vielfältigsten politischen und kulturellen Diskussionszirkeln in der Metropole eröffnet hatte und vom Hausherren in Pontigny als Referent im Rahmen des „Anti-Babel“ eingeladen wunde, 90 war geradezu fasziniert von dessen Persönlichkeit. Er berichtete im Februar 1938 aus Paris an seine Familie: „In letzter Zeit habe ich eigentlich erst so recht erfahren, wer Herr Desjardins ist und was er für eine Rolle gespielt hat: nämlich derjenige lebende Mann, der die allermeisten berühmten Leute gekannt oder zu Schülern gehabt und den allergrößten Einfluss auf diese Leute ausgeübt hat. So hat es Prof. Vermeil gestern ausgedrückt. Aber einen rein ‘moralischen’ Einfluss.“ 91 Distelbarth, der zu den Intellektuellen im allgemeinen ein eher gebrochenes Verhältnis hatte, entwickelte in seinen Beziehungen zu dem „ehrwürdigen Greis“ Desjardins eine tiefe Zuneigung. Die unaufdringliche, aber starke Präsenz des Hausherren von Pontigny beruhte zum einen auf seiner Fähigkeit, in der thematisch gebundenen, aber sonst freien Diskussion während der Dekaden die philosophische Perspektive herzustellen und die Zielrichtung der ethischen Verbindlichkeiten, die aus den Gesprächen resultierten, zu gewährleisten. Zum anderen vermochte er, durch persönliche Zuwendung auch gegenüber unbekannten deutschen Teilnehmern ein Gefühl selbstverständlicher Dazugehörigkeit, eine Atmosphäre der geistigen Vertrautheit (die der sentimentalen Vertraulichkeit entraten konnte) zu bewirken. Die erste dieser beiden Wirkungsweisen seiner Autorität wurde von einem der Gäste aus Deutschland 1930 subtil erfasst: „Es ist eine besondere Gabe Paul Desjardins’, die Redner und Reden durch seine Person, durch eine fast unmerkliche Steuerung, Belebung oder Dämpfung in Figur und Ordnung einzufangen. Diese Formgebung im Verlaufe der Dekade ist um so merkwürdiger, als eine genaue Disposition von vornherein nicht feststeht (bei der Zahl und Unbekanntheit der Teilnehmer auch nicht festgelegt werden könnte), ja, das Gespräch zum größten Teil aus Improvisationen scheinbar 89 Cf. dazu Kapitel IX des vorliegenden Buches. 90 Cf. dazu meine Darstellung: „Konservativer Einzelgänger und pazifistischer Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, p. 145-214. 91 Brief Paul Distelbarth an seine Ehefrau vom 24. Februar 1938 (Familien Archiv Distelbarth/ Rittelhof) <?page no="94"?> 94 regellos zusammenfließt.“ 92 Klara Marie Fassbinder (1890-1974), die 1928 und 1929 zu einer Dekade geladen war, berichtet, wie Desjardins eine ins Polemische abgleitende Kontroverse zwischen André Malraux und André Chamson zum rechten Moment abzubrechen wusste. 93 Sie bewunderte seine Fähigkeit, den Sinn eines Gesprächsverlaufs in einem Aperçu auf den Punkt zu bringen, als er über die angemessene Art der Befassung mit Deutschland sprach: „Niemand unterbrach den Bericht, bis jenes Wort kam, das alle Anstrengungen seiner Gefährten zusammenfasste, die wie er dieses Deutschland in seinem Kern begreifen wollten. ‚S’assimiler le dissemblable’ - das Unähnliche sich einverleiben.“ 94 Klara Marie Fassbinder, eine damals noch junge, unbekannte Pädagogin, 95 fühlte sich in Pontigny in kürzester Zeit „ungezwungen und behaglich“ und sie stellte 1928 respektvoll fest, dass Desjardins und seine Frau den deutschen Teilnehmern unbefangen und fürsorglich entgegenkamen, obwohl sie einen Sohn im Ersten Weltkrieg im Kampf gegen Deutschland verloren hatten: „Und waren zu uns Deutschen doch von solcher Freundlichkeit. Mir gegenüber waren beide von einer zarten Güte, besonders, nachdem mich einmal Tränen übermannt hatten, als die Jugend der Siegernationen so voll Zuversicht von ihren Ländern sprachen.“ 96 Dieses Gefühl selbstverständlicher Einbeziehung und geistiger Verbundenheit hatte auch Heinrich Mann, als er 1923 - während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung - in Pontigny war. Mit Desjardins und Félix Bertaux durch die burgundische Landschaft schreitend, hatte er den Eindruck: „Mir wurde bewußt, daß ich weder fremd noch einer von vielen sein sollte. Ihr Gespräch zog mich in Pariser Angelegenheiten, als ob ich sie gekannt hätte.“ Im Gespräch mit Madame Desjardins registrierte er: „Sie redete mich an wie einen Zugehörigen, der sich lange nicht hat blicken lassen, aber es ist nichts vorgefallen inzwischen.“ 97 Noch Hans Mayer (1907-2001), der im vorletzten Dekaden-Sommer 1938 in Pontigny war, bezeugt in einer etwas anderen Variante die Rolle des diskreten Regisseurs, die Desjardins dort spielte: „Paul Desjardins war zu fürchten bei solchen Dekaden. Über seinen Sarkasmus gab es viele Anekdoten.“ 98 Die rückblickende Charakterisierung des Gründers der Dekaden, den Mayer als junger exilierter Intellektueller schon als Legende kennenlernte, fasst die Merkmale seiner Persönlichkeit zusammen, die in der Sicht vieler deutscher Pontigny-Gäste vorherrschten: „So habe ich ihn erleben 92 Hans Kauders: „Wert von Pontigny“, I. c., p. 865. 93 Klara Marie Fassbinder: Der versunkene Garten. Begegnungen mit dem geistigen Frankreich des Entre-deux-guerres 1919-1939, Heidelberg 1968, p. 151sq. Zur deutschfranzösischen Mittlerpersönlichkeit von K. M. Fassbinder Ute Apel: „Klara Maria Faßbinder. Katholische Pazifistin und Mittlerin zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Lendemains, Jg. 1997, Nr. 86, p. 76-92. 94 Faßbinder: Der versunkene Garten, p. 159. 95 Ibid., p. 147. 96 Ibid. 97 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Reinbek 1979, p. 172. 98 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Frankfurt/ Main 1982, p. 226. <?page no="95"?> 95 und bewundern können, den Meister der ‘Dekaden von Pontigny’, den Mann der Dreyfus-Kämpfe und Begründer einer ‘Union pour la Vérité’, den Professor Paul Desjardins, der einmal noch alles auszudrücken schien, was man als Geist der Dritten Republik verstanden hatte, und was nun zu Ende ging, mitsamt dieser Republik; plebejische, wenngleich nicht proletarische Aufklärung; Laizismus; das Experiment in der Wissenschaft wie in der Kunst; umfassende Volksbildung; Bekenntnis zur jakobinischen Tradition.“ 99 Die von allen Zeitzeugen belegte stimulierende geistige Atmosphäre der Dekaden war bedingt durch eine Kombination mehrerer günstiger Voraussetzungen. Dazu gehörte es, dass die Teilnehmer an den Tagungen entweder durch Mitglieder der UV oder durch Teilhaber an der „Société de Pontigny“ 100 eingeladen wurden. K. M. Fassbinder berichtet, dass die Fürsprache von zwei Insidern die Voraussetzung war für die Einladung zu den Intellektuellen-Treffen. „Nur des Hausherrn ehemalige Zöglinge aus Sèvres waren ‚geborene’ Teilnehmerinnen.“ 101 Diese von den Eingeladenen in der Regel als Auszeichnung empfundene Kooptation in die Gesprächsrunden garantierte hinreichende Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit für die Diskussionen. Für die deutschen Teilnehmer bedeutete das ein gewisses Niveau an Französischkenntnissen. Für den von Max Scheler geprägten Philosophen Peter Wust (1884-1940), der 1928 an der Dekade über die „Jeunesse d’après-guerre“ beteiligt war, ist belegt, dass ihn das Fehlen dieser fremdsprachlichen Voraussetzung weitgehend um den Ertrag der Gespräche brachte. 102 Ein weiterer Faktor, der zur Besonderheit von Pontigny beitrug, war die Verbindung von urbaner Geistigkeit und rustikalem Ambiente. Neben der großen Bibliothek waren der weitläufige Garten und die burgundische Sommerlandschaft wiederkehrende Punkte der Faszination in den Berichten der Gäste aus Deutschland. Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965), der 1929 zu der Dekade „Imago Mundi Nova“ erstmals nach Pontigny eingeladen war, skizzierte diese Kombination: „Hier ist es schön. Von der Abtei steht noch ein etwas ausgebauter Teil mit einer herrlich gewölbten Halle im ersten Stock und einem fast ebenso erfreulichen kleineren Raum unten, in dem gegessen wird. Die Halle führt zu einer sehr reichhaltigen Bibliothek. Neben diesem erhaltenen Teil der Abtei steht noch die alte Kirche intakt. Ringsherum sind schöne große Gärten, 99 Ibid., p. 225. 100 Teilhaber an der Société de Pontigny waren: Léon Brunschvicg. Paul Desjardins, Charles Du Bos, Arthur Fontaine. Max Lazard. Roger Martin du Gard, André Maurois, André Siegfried und Jean Schlumberger. Heurgon Desjardins (ed.). op. cit., p. 14. 101 Klara Marie Fassbinder, op. cit., p. 145. Mit den „Zöglingen aus Sèvres“ sind die Schülerinnen oder Absolventinnen der Ecole Normale Supérieure für Frauen in Sèvres gemeint, wo Desjardins Dozent war. 102 Cf. ibid., p. 134. <?page no="96"?> 96 Wiesen und Wäldchen.“ 103 Diese räumlichen Komponenten tauchen auch in der Erinnerung Heinrich Manns auf: „Wir wohnten in den einfachen Wirtschaftsgebäuden um das Kloster, ich weder zu schlecht noch zu gut. Wir frühstückten an den langen Tischen des Refektoriums, jeder zu seiner Zeit, und holten uns das heiße Getränk in unserem großen henkellosen Napf. Der Vormittag verging den nahen Bekannten abgesondert im Garten. Ich hatte keinen, mich ihm anzuschließen. Die große Bibliothek gab eher Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen.“ 104 Dort suchte Desjardins vorzugsweise das Gespräch mit den Novizen in Pontigny. Der exilierte Schriftsteller Ernst-Erich Noth, der 1935 in das „Foyer international d’études et de repos“ eingeladen war (und dann zu einer der Dekaden im Sommer des Jahres) berichtet: „Wer die Osterspaziergänge durch die wellige, sanfte Vorfrühlingslandschaft nicht mitmachen wollte, konnte in der herrlichen Bibliothek Zuflucht suchen, bis der vermeintlich unsichtbare, aber allgegenwärtige und dazu allwissende Hausherr ihn dort aufstöberte. Als Neuling wurde man dann sehr leutselig, aber doch recht unnachgiebig ins literarische oder philosophische Gebet genommen.“ 105 Neben diesen räumlichen Vorzügen von Pontigny hatte der nordburgundische Treffpunkt europäischer Intelligenz eine zeitliche Dimension, die von Desjardins als historische Legende seit 1910 sorgsam gepflegt und auch von allen deutschen Gästen weitererzählt wurde. Bereits im Gründungs-Dokument der Pontigny-Dekaden wurde 1910 die kirchen- und kulturgeschichtliche Tradition und Aura des Ortes beschworen: Die mehr als 800jährige Geschichte der Abtei, die u. a. drei Erzbischöfe von Canterbury (darunter Thomas Becket 1164-1166) beherbergte, die kunstgeschichtlichen Spuren von der Romanik bis zum Stil Louis XVI usw. 106 Diese historischen Elemente wurden als europäisches Substrat, als verpflichtendes Erbe für die „europäischen Gespräche“ der Zwischenkriegszeit evoziert. Bei den deutschen Pontigny-Gästen gab es charakteristische Akzentuierungen in der Beschwörung des „genius loci“. Ernst Robert Curtius hielt sich an die „erlauchten Erzbischöfe von Canterbury“ und die französischen Könige, die in Pontigny zu Gast gewesen waren. 107 Hans Kauders entdeckte eher die demokratischen Hinweise in der kulturgeschichtlichen Genealogie des Ortes: Erzbischof Langton habe im Exil in Pontigny die Grundzüge der „Magna Charta“ entworfen: „Morgenanbruch der europäischen Demokratie, wie ein weisender Arm über die Jahrhunderte hinweg ...“. 108 Eine wohlüberlegte Praxis der Einladungen zu den Dekaden sowie der Reiz des Ortes und 103 Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. 2: 1918-1938, Heidelberg 1973, p. 346. 104 Heinrich Mann, op. cit., p. 172. 105 Ernst Erich Noth: Erinnerungen eines Deutschen. Hamburg 1971, p. 327sq. 106 Cf. Entretiens d’été de lAbbaye de Pontigny, Versailles o.J. (1910), p. 3sq. 107 Ernst Robert Curtius: „Pontigny“, in: ders.: Französischer Geist im neuen Europa, Berlin/ Leipzig 1925, p. 329. 108 Hans Kauders: Wert von Pontigny, I. c., p. 860. <?page no="97"?> 97 seiner Geschichte, das waren die gleichsam organisatorischen Begünstigungsfaktoren für die Intensität der Kommunikation, über die alle Zeugnisse deutscher Beteiligter berichten. Die Gespräche selbst waren eingefügt in einen Tagesablauf der Dekaden, der in seinen Grundzügen über die Jahre hin gleich blieb und der neben den thematisch vorgegebenen Diskussionen viel Freiraum ließ für Einzelgespräche und für gepflegte Geselligkeit (Lesungen, Musik, Spiele). Dieser Gesamtrahmen der Gespräche wird in folgender Skizze lebendig: „Wir hatten immer den ganzen Vormittag für uns, auch die Stunden nach dem Mittagessen um 12 Uhr und zwischen Tee und Abendessen. Der Abend vereinte noch einmal alle bis 10 oder 11 Uhr bei musikalischen Darbietungen, Dichterlesungen, Fortführung eines Punktes der Nachmittagsdiskussion oder einem geistreichen Gesellschaftsspiel. Man war bei dem strahlenden Wetter jenes Sommers auch viel draußen. Vor allem in dem alten Klostergarten mit seinem Gang aus Hainbuchen (La charmille), die eine Art Natur-Kirchenschiff bildeten, und auf den weiten Plätzen mit köstlichen riesigen Brunnenschalen und heimlichen Ecken. Die reiche Bibliothek in vielen Sprachen lockte auch, und gerade dort konnte man oft unerwartete Begegnungen haben.“ 109 Die Rolle eines Zeremonienmeisters der kulturellen Veranstaltungen und der künstlerischen Integrations-Gestalt spielte André Gide, der seit 1910 mit der Autorengruppe um die „Nouvelle Revue Française“ (NRF) die literarische der drei jährlichen Dekaden in Pontigny betreute. 110 Der Ausstrahlung des lebenden Klassikers, die von Gide ausging, konnte sich keiner der aus Deutschland angereisten Teilnehmer entziehen. Heinrich Mann umriß die Rolle Gides in Pontigny, so wie er ihn dort 1923 gesehen hatte, mit leiser Ironie: "André Gide war unbestritten erster Held in Pontigny. Die Abende unter dem weichen Lampenschein wären ohne ihn anders bei Diskussionen und weniger vergnüglich verlaufen. Mit den jungen Leuten führte er Scharaden auf, die altmodischen, reizenden Verkleidungsspiele, die Rätsel vorstellen. Aber er liebte auch, aus seinen Dichtungen zu lesen. Er hatte die schönste tenorale Sprechstimme, und hatte sie nur, wenn er sich und das Seine zur Geltung brachte. War er fertig, wurde Tilleul gereicht.“ 111 Hans Mayer berichtet, dass Gide noch 1937 in Pontigny mit Roger Martin du Gard über die gesellschaftIiche Rolle der Kunst disputiert habe. 112 Die Union pour la Vérité ehrte ihr berühmtes- 109 Fassbinder, op. cit., p. 150sq. Die Autorin hatte eine umfangreiche Dokumentation über Pontigny zusammengetragen, die nach ihrem Tode durch Unachtsamkeit verlorenging. 110 Cf. zum Anteil der NRF Equipe on Pontigny Jean Pierre Cap: „Les Décades de Pontigny et la Nouvelle Revue Française. Paul Desjardins, André Gide et Jean Schlumberger“, in: Bulletin des amis d‘André Gide, Jg. 1986, p. 21-32. 111 Heinrich Mann, op. cit., p. 173. 112 Hans Mayer, op. cit., p. 225. <?page no="98"?> 98 tes Mitglied 1935 mit einem Sonderheft ihrer „Correspondance“ 113 in der Gides Engagement in der Volksfront-Bewegung kritisch, aber loyal diskutiert wurde. Ernst Erich Noth bestätigt die überragende Rolle Gides in Pontigny, die lange Zeit bedeutender gewesen sei als die des Hausherren selbst. Die Beziehungen zwischen Charles Du Bos und Desjardins stellten sich ihm dar als „eine recht komplexe und dazu höchst intensive Feindfreundschaft zwischen zwei hochgeistigen, aber menschlich wie ideologisch mimosenhaft empfindlichen Naturen.“ 114 Von den aus Deutschland kommenden Pontigny-Gästen war Bernhard Groethuysen nach dem Eindruck vieler Besucher eine ähnliche Integrations-Gestalt in den Diskussionen und Gesprächen. Der akademische Schüler von Wilhelm Dilthey und Georg Simmel, der 1937 die französische Staatsbürgerschaft annahm, erschien Ende der zwanziger Jahre gelegentlich neben Desjardins „gewissermaßen als Vizehausvater“ von Pontigny: „Er schwebte über den Entretiens, hie und da ein treffendes Wort einwerfend oder auch zu einem längeren Diskurs anhebend.“ 115 Von Groethuysens genialischen philosophischen und kultursoziologischen Improvisationen während der Dekaden war nicht nur die mit ihm befreundete Margarete Susman beeindruckt, die er Mitte der zwanziger Jahre zu einem Vortrag über Stefan George nach Pontigny eingeladen hatte, 116 sondern auch andere junge Gäste aus Deutschland. Für Max Clauss, 117 der seine Heidelberger zeitgeschichtliche Dissertation 1925 in Paris vorbereitete und bei der Dekade „L’autobiographie et la fiction“ im September desselben Jahres in Begleitung von Alfred Fabre-Luce anwesend war, erschien Groethuysen dort als der „verzeihend lächelnde Weltbürger“, der „ohne Zutun nur Vertrauen und Zuneigung“ erweckte. Ähnlich umfassend gebildet wie der Literaturkritiker Charles Du Bos, der in den Berichten der meisten deutschen Pontigny-Gäste als weiterer Kommunikations-Mittelpunkt auftaucht, war Groethuysen unaufdringlich allgegenwärtig: „Denn dieser allumschwe- 113 „André Gide et notre temps“, in: Bulletin. Union pour la Vérité, Jg. 1935, Nr. 7/ 8, mit Beiträgen von Ramon Fernandez, Jean Guéhenno. Daniel Halévy. Gabriel Marcel, Jacques Maritain, Henri Massis, Thierry Maulnier, François Mauriac, Georges Guy- Grand. 114 Noth, op. cit., p. 311. 115 Fassbinder, op. cit., 166sq. Einen guten biographischen Abriss zu Groethuysen cf. in TonyBourg/ Jean Claude Muller: „Un ami allemand d’André Gide. Bernhard Groethuysen (1880-1946)“, in: Hans T.Siepe/ Raimund Theis (ed.): André Gide et l’Allemagne. André Gide und Deutschland, Düsseldorf 1992, p.181sq. Zu Groethuysens Denken cf. Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris. Bernhard Groethuysen (1880- 1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002. 116 Cf. dazu ihre Erinnerungen, Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt Erinnerungen, Stuttgart 1964, dort zu Pontigny 113sq. Sie hatte Groethuysen über Georg Simmel kennengelernt. 117 Zu Max Clauss cf. Guido Müller: „‚Mitarbeiter in der Kulisse...’. Der Publizist Max Clauss in den deutsch-französischen Beziehungen (1924-1943)“, in: Lendemains, Jg. 1997, Nr. 86/ 87, p. 20-48. <?page no="99"?> 99 bende Mann und Redaktionssekretär von Valérys ‘Commerce’, Enzyklopädist ohne die Anmaßung eines solchen, widerstrebte der Fixierung mit großer Scheu. Wenn er trotzdem in die Debatte eingriff, tat er das mit leiser Stimme und mit tausend gemurmelten Entschuldigungen. Den Zigarettenstummel immer zwischen den Zähnen hinter dem rötlich-grauen Bart, verhedderte er sich immer mehr, bis er mit beiden hochgehobenen Armen die Konfusion der Welt beklagte und mit einem Aschenregen auf die behäbig gewölbte Brust endete. Seltsamerweise war man dann immer ein gutes Stück weiter und dem strittigen Gegenstand erheblich näher gekommen.“ 118 Der eigenartige Zuschnitt der Gespräche von Pontigny, der als Ergebnis dieses Kommunikations-Milieus zustande kam, entsprach weitgehend der Konzeption von Paul Desjardins. Nämlich im temporären gesellig-intellektuellen Zusammenleben der Repräsentanten europäischer (gelegentlich auch außereuropäischer) Nationen zur Erkenntnis gemeinsamer Wertorientierungen zu kommen, die inhaltlich nicht ein für allemal vorgegeben, sondern immer aufs neue gesucht und definiert werden mussten. In den Zeitzeugen-Berichten deutscher Teilnehmer an den Dekaden wurde dieser Sozialisationseffekt, die nachhaltige Wirkung der Gespräche auf die Verhaltens-Disposition der Gäste in Pontigny, mehrfach sehr fein beobachtet. Ernst Robert Curtius, der 1922 und 1924 in Pontigny weilte, formulierte mit seinen nachfolgenden Beobachtungen zur Wirkungsweise der Gespräche geradezu eine praktische Bestätigung des Programms, das Desjardins den Dekaden 1922 vorangestellt hatte: „Nicht Fachmenschen treffen sich (seien es Gelehrte, Politiker oder Soziologen), sondern Menschen schlechthin. Die Lebensgemeinschaft, die Spaziergänge, die Einzelgespräche, die gemeinsamen Abendstunden, fern aller Großstadt-Unruhe, unmerklich durchwirkt von dem Eindruck großer Geschichte und friedvoll schöner Landschaft - das macht die Atmosphäre von Pontigny aus. Hier gibt es keine organisierte Belehrung, keine Kurse oder Vorträge, kein Schema und keine Statuten. Ein geistiger Kosmopolitismus und eine freie und kritische Spiritualität bestimmen die Haltung der Teilnehmer. Es ist ein Austausch lebendiger Menschen, eine Freundschaft.“ 119 Ein anderer teilnehmender Beobachter aus Deutschland variierte die Erklärung dieser Ausstrahlung der „europäischen Gespräche“: „Es ist über diesen dem Finden der Wahrheit und Gerechtigkeit bestimmten Ort eine fast kultische Weihe ausgegossen. Wollte man sich des Geistes dieser Weihe vergewissern, so würde man erkennen, dass er viel mehr mit der Haltung des antiken Weisen zu tun hat als mit der Meditation des christlichen Mittelalters. Die Strenge und Reinheit der Vernunft, die sich nichts vormachen lässt, auch nicht von der faszinierendsten theoretischen Maskerade.“ Die existenziell anrührende 118 Max Walter Clauss. Sehenden Auges. Internationale Erinnerungen, unveröffentl. Manuskript im Institut für Zeitgeschichte (München), p. 55. 119 Curtius, „Pontigny“, I. c., p. 331. <?page no="100"?> 100 Wirkung der Gespräche sah er angelegt im dort gepflegten Kommunikations-stil: „Kurze, nicht zu massige Vortrage, keine Wissensextrakte, sondern lebendige Rede. Das Bekennerische, unmittelbar Erlebnishafte wird gewollt, doch wird es nicht als ‘burst of confidence’, sondern mit Maß und Würde gewollt. Fachsimpelei und dialektische Akrobatik sind verpönt.“ 120 Curtius zog 1924 sein Fazit aus den europäischen Begegnungen im nordburgundischen Dorf, das eine Hommage war an den Gründer dieser Treffen und das auf deren Vorbildlichkeit verwies: „Die persönlichen Berührungen sind vielleicht das Wertvollste von allem, was Pontigny bietet. Das gemeinsame Leben und die Atmosphäre des Hauses, in der keiner sich als Fremder fühlt, führt die Gäste schnell zusammen. Man kann Pontigny nicht verlassen, ohne die Zahl seiner Freunde erweitert zu haben. Die gemeinsamen Diskussionen des Nachmittags sind umrahmt von vielen Einzel- und Gruppengesprächen, von Spaziergängen und Lesestunden, in denen man sich geistig und seelisch bereichert. Pontigny ist ja ein Europa im kleinen, ein europäischer Mikrokosmos.“ 121 3b Die doppelte Präsenz Deutschlands in Pontigny Derselbe Ernst Robert Curtius, der mit dieser Würdigung das Werk von Pontigny subtil erfasste, ist in seinem politisch-intellektuellen Habitus ein prominentes Beispiel für die Grenzen des französisch-deutschen Dialogs, der dort versucht wurde. Für Paul Desjardins galt es, das aktuelle Gemeinsame in Europa im Namen des Rechts innerhalb und zwischen den Staaten zu ergründen bei Wahrung der Vielfalt in der historisch-kulturellen Gestalt dieser Nationen. Für Ernst Robert Curtius galt es, die aktuellen Gegensätze zwischen den beiden wichtigsten Nationen im kontinentalen Westeuropa, Frankreich und Deutschland, herauszustellen bei der gleichzeitigen Beschwörung der Gemeinsamkeit des historisch-.kulturellen Erbes in Europa. Desjardins stand ungebrochen in der Tradition der Französischen Revolution; seine „Frömmigkeit“ war - gemäß dem Urteil von Hans Kauders - „der Glaube an die Ideen der großen Revolution.“ 122 Curtius inspirierte sich aus dem Ideen-Reservoir der politischen Romantik und konnte sich letztlich nicht mit der Vernunftethik, die Desjardins’ Projekt Europa begründete, ernsthaft einlassen. 123 Diese Gegensätze waren bereits in den 120 Kauders, Wert von Pontigny, I. c., p. 865. 121 Curtius: Pontigny, I. c., p. 341. 122 Kauders, I. c., p. 860. 123 Zu diesen ideologischen Optionen von Ernst Robert Curtius cf. Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‘Unpolitischen’. Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch intellektuellen Leben der Weimarer Republik“, in: Lendemains, Jg. 1990, Nr. 59, p. 21sq. Diese Beobachtung weitgehend bestätigend auch Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik, Frankfurt/ Main 1994. <?page no="101"?> 101 frühen zwanziger Jahren, als Curtius in Pontigny zu Gast war, in seiner äußerst heftigen Kontroverse mit dem Andler-Schüler Edmond Vermeil zu Tage getreten, 124 dessen Deutungen des Nationalsozialismus nach dem Tode von Charles Andler (1933) in der Union pour la Vérité maßgeblich wurden. Sein Verdikt gegen Vermeils „pangermanisme“-Thesen, dass sie eine Projektion von „Maßstäben der nationalen Missionsidee Frankreichs und der antideutschen Propaganda des Weltkrieges“ seien, 125 traf in seiner ganzen Wucht auch die Deutschland-Sicht der „deux Allemagne“ und die Kritik Desjardins’ am „prussianisme“. Curtius fühlte sich während seiner Aufenthalte in Pontigny nicht nur aufgefordert „gegenüber den klaren Typenbildungen der westlichen Nationen“ die „Eigenart der deutschen Geistesgeschichte verständlich“ zu machen, 126 was ja durchaus im Sinne der Desjardinschen Konzeption der Gespräche lag. Er sah seine Aufgabe der selbstbewussten nationalen Eigendarstellung nicht im Zusammenhang mit der Koexistenz der Nationalkulturen, sondern im Kontext der Konkurrenz zwischen ihnen: „Wer sich mit Frankreich messen, wer das eigene Wesen gleichgeordnet neben dem französischen vertreten und als weltgültig ausweisen will, der darf vor der französischen Kultur nicht die Augen schließen. Eigener Wert ist nur vollgültig, wenn er auch das Fremde versteht. Selbst wahre Überlegenheit ist ohne solches Verstehen nicht möglich.“ 127 Die Überlegenheit der deutschen Nationalkultur lag gemäß Curtius eben in der Fähigkeit, die anderen sich aneignen und damit übertreffen zu können. Dass hier ein anderes Europa gemeint war als das von Desjardins, das die Gleichheit in der Vielfalt suchte, mag dazu beigetragen haben, dass Curtius nach 1924 weiteren Einladungen nach Pontigny nicht mehr Folge leistete. Aus seinem akademischen Milieu in Heidelberg kam 1934 ein Teilnehmer zur politischen Dekade, die dem Thema gewidmet war: „D’une restauration de l’intolérance dans les Etats totalitaires et de l’abandon des conquêtes de l’humanisme.“ Der Besucher hatte allem Anschein nach den Schritt vieler seiner studentischen Generationsmitglieder von der Kritik an der Demokratie zur Identifizierung mit dem nationalsozialistischen Regime vollzogen. Er merkte in seinem Bericht an, dass die Beziehungen zwischen Heidelberg und Pontigny im vergangenen Jahr zeitweilig unterbrochen worden seien. Den Inhalt seines Referates fasste er selbst so zusammen: „Er stellte im wesentlichen dem individualistischen, rationalistischen Toleranzideal die deutsche Freiheitsidee entgegen, welche der Weg zur Erfüllung der Persönlichkeit im Dienst am überpersönlichen Ganzen des Volkes erblickt, und versuchte, die durch die soziale und politische Erneuerung neu eröffneten Möglichkeiten der Entfaltung lebendigen Seins 124 Zu Ernst Robert Curtius’ Kontroverse mit den französischen Germanisten cf. meine Analyse in: Die Politik des ‘Unpolitischen’. Zu Ernst Robert Curtius, I. c., p. 45 sq. 125 Curtius: Französischer Geist im neuen Europa, op. cit., p. 248. 126 Curtius: „Pontigny“, I. c., p. 334. 127 Ibid., p. 338sq. <?page no="102"?> 102 aufzuzeigen.“ 128 Zu den Reaktionen der Zuhörer - unter denen neben Desjardins u. a. Viénot, Fabre-Luce, Martin du Gard, Drieu la Rochelle waren - berichtete er, seine Darstellungen seien mit „teilweise starkem Widerspruch, aber durchgängig lebhaftestem Anteil“ aufgenommen worden. Diese nationalsozialistische Suada, die in Teilen das Gegensatz-Denken vulgarisierte, das auch Ernst Robert Curtius in Pontigny vorgetragen hatte, 129 war möglicherweise das einzige Beispiel für die ideologische Präsenz des „neue Deutschland“ bei den Dekaden. Es war in der Sicht der Union pour la Vérité eher die Wiedererstehung des „pangermanisme philosophique“ des alten Deutschland, die sich in solchen Abgrenzungs-Diskursen gegen die humanistische Aufklärungs-Tradition zeigte. 130 Das „deux- Allemagne“-Wahrnehmungsmuster aus der Vorkriegszeit fand in der neonationalistischen Wende ab 1930 und in der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 eine drastische historische Bestätigung. Deutschland war in Pontigny nach 1933 doppelt präsent: als bedrohliche Ideologie, die das Europa als republikanisches Projekt elementar in Frage stellte, und in der Person der Exilanten, die als Mitstreiter für dieses Projekt ihr Land hatten verlassen müssen und in Frankreich Aufnahme gefunden hatten. Da für die Einladungspraxis nach Pontigny parteipolitische und religiöse Kriterien keine Rolle spielten, sondern kulturelle Kompetenz und Originalität, war schon für die Zeitgenossen eine Einordnung der Tagungen in das politische Rechts-Links-Spektrum schwierig. K. M. Fassbinder fand z. B. 1929, dass die Sozialisten und die Katholiken dort nicht stark repräsentiert seien. 131 Gleichwohl waren in den internationalen Beziehungen der UV reformsozialistische Kräfte immer vertreten gewesen und innerhalb der Vereinigung formulierte ein prominentes Mitglied wie Charles Andler einen „humanisme travailliste“. Für Desardins verstärkte sich diese Affinität zum Sozialismus, nachdem er 1929 den belgischen Reformsozialisten Henri de Man (1885-1953) kennenlernte und umgehend nach Pontigny einlud. De Man, der seit 1923 in Deutschland lebte und lehrte, hatte mit seiner Schrift „Zur Psychologie des Sozialismus“ (1926) eine fundamentale Kritik am Marxismus als Grundlage der Sozialdemokratie und eine ethische Neuformulierung ihrer theoretischen Voraussetzungen veröffentlicht. 132 Dieses 128 Werner Hager: „Entretiens in Pontigny“, in: Sohlbergkreis. Cahiers franco-allemands. Deutsch-französische Monatshefte, Jg. 1934/ 35, Nr. 1/ 2, p. 36. 129 Wenn er z.B. den „westlichen Nationen“ gegenüberstellte „das stolze Unabhängigkeitsbewusstsein des alten Germanen, des freien Bauern, des städtischen Bürgers, in der Gestalt eines Ulrich von Hutten, in Dürers christlichem Ritter, im Luther- und Fichte-Deutschen ...“ usw. Curtius: „Pontigny“, loc. cit., p. 334. 130 Die Analyse der Auffassung des Nationalsozialismus im Verbandsorgan der UV, die hier nicht vorgenommen werden kann, würde dies zeigen. 131 Fassbinder, op. cit., p. 143. 132 Fassbinder (ibid., 168sq.) gibt eine Porträtskizze von Henri de Man und einen Eindruck seiner starken Präsenz in Pontigny im Jahre 1929. Zu de Man cf. Kersten Oschmann: „Hendrik de Man. Zwischen links und rechts“, in: Peter Lösche u. a. (ed.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin 1988, p. 223sq. <?page no="103"?> 103 Buch, das europaweit diskutiert wurde, kam in seiner zweiten französischen Ausgabe 133 in die Hände Desjardins’ und er schrieb nach der Lektüre spontan in sein Tagebuch: „J’ai rencontré là le plus exact et profond interprète et éclaircisseur de ma propre pensée dans l’ordre des vérités sociales. Dans cette mesure je suis socialiste.“ 134 De Man, der 1929 einen Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/ Main erhielt und bis 1933 innehatte, nahm noch im selben Jahr an der Dekade „Le procès de la bourgeoisie devant la classe ouvrière“ teil und wurde in der Folgezeit, insbesondere mit seinen Vorstellungen zum „planisme“, 135 in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen zur Autorität in Pontigny. 136 Im selben Dekaden-Sommer war allerdings auch eine Sozialistin aus Deutschland eingeladen, die mit dem Buch „Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters und die Arbeiterbildungsfrage“ 1926 hervorgetreten war. 137 Sie hieß Gertrud Hermes (1872-1942) und war als Gymnasiallehrerin seit der Vorkriegszeit in der Arbeiterbildung tätig. In den zwanziger Jahren war sie enge Mitarbeiterin von Hermann Heller, seit 1920 sozialdemokratisch engagierter Professor für Staatsrecht und einer der bedeutendsten Juristen der Weimarer Republik. 138 Nachdem Heller 1933 vor den Nationalsozialisten nach Madrid fliehen musste und dort starb, setzte Gertrud Hermes später ihre intellektuelle Arbeit mit Hellers Freund Gustav Radbruch fort, dem neukantianischen Rechtsphilosophen und zeitweiligen sozialdemokratischen Reichsjustizminister (1922/ 23), der wie sie 1933 aus politischen Gründen amtsenthoben wurde. 139 133 Die französischsprachige Ausgabe des Buches erschien zuerst 1927 in Brüssel. Dann unter demselben Titel in Frankreich: Henri de Man: Au delà du marxisme, Paris 1929 (Alcan). 134 Heurgon-Desjardins (ed.), op. cit., p. 301sq. 135 Im letzten Kapitel von Henri de Man: L’idée socialiste, Paris 1935 entwickelte der Autor seine Vorstellungen vom „socialisme planiste“. Das Buch, 1933 zuerst erschienen, wurde in flämischer, schwedischer, tschechischer, spanischer und französischer Sprache verbreitet. 136 Die Rezeption der Sozialismus-Konzeption de Mans in Frankreich harrt der Erforschung. Es wäre u. a. zu klären, welche Querverbindungen oder Analogien bestanden zur ldee der „Révolution constructive“ im Frankreich der dreißiger Jahre. Zu dieser Strömung cf. Stephane Clouet: De la rénovation à l’utopie socialistes. Révolution constructive, un groupe d’intellectuels socialistes des années 1930, Nancy 1991. 137 Das Buch erschien in Leipzig, wo Gertrud Hermes in den zwanziger Jahren in der „Leipziger Bücherhalle“ und in der Arbeiterbildung der Volkshochschule tätig war. Das Buch gilt heute als ein Klassiker der Arbeiterbildungs-Literatur. Desjardins schrieb in sein Tagebuch am 13. 8.1929: „Mme Gertrud Hermes. à son tour, raconte son évasion de sa propre famille, pour se mettre au service des prolétaires.“ 138 Heurgon-Desjardins (ed.), op. cit., p. 304. 139 Gertrud Hermes ging nach ihrer Entlassung aus dem Schuldienst 1935 ins Exil nach England, kehrte 1936 nach Deutschland zurück und trat in Kontakt zu Gustav Radbruch. 1940 ging sie nach Berlin und stand dort in Verbindung mit der Widerstandsgruppe um Adolf Reichwein (1898-1944), der von den Nationalsozialisten am 20. 10. 1944 hingerichtet wurde. <?page no="104"?> 104 Mit der Einbeziehung von Gertrud Hermes, die eine der Aufklärung verbundene demokratisch-sozialistische Argumentation vertrat, war unter den deutschen Pontigny-Gästen auch die reformsozialistische Linie des intellektuelle Spektrums der Weimarer Republik vertreten. Der republikanischen Aufklärungs-Tradition der politischen Kultur in Deutschland, auf die alle maßgeblichen Vertreter der Union pour la Vérité seit den Vorkriegsjahren und in den Jahren der Weimarer Republik ihre Hoffnung für einen konstruktiven Dialog gesetzt hatten, wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland ab 1933 der Kampf angesagt. Es lag deshalb nahe, dass die Exilanten aus Deutschland, die sich geistig den Grundsätzen der Aufklärung und des republikanischen Denkens in Europa verbunden wussten, die Sympathie der Union pour la Vérité hatten. Da diese Intelektuellen-Vereinigung sich vorsätzlich und prinzipiell von allen politischen Parteien fernhielt und über keine nennenswerten organisatorischen Mittel verfügte, konnte sie nicht zu einem Zentrum organisierter Solidarität für die Hitler-Flüchtlinge werden. Die bisher bekannten Dokumente zu den Teilnehmern deutscher Herkunft an den Pontigny-Dekaden ab 1933 belegen jedoch eindeutig, dass aus dem Ort der Begegnung nun auch wieder ein Ort der Zuflucht wurde, den Pontigny in der kirchengeschichtlichen Vergangenheit schon einmal gewesen war. Der Exilant Ernst Erich Noth, der zu dieser Zeit als Mitarbeiter der von Louise Weiss gegründeten Zeitschrift „L’Europe nouvelle“ wirkte, erhielt 1935 die Einladung zur Dekade „Au sujet de l’ascétisme et de son pouvoir créateur“. Er bezeugt die Anwesenheit von Martin Buber auf dieser Dekade, der zusammen mit Nikolai Berdjajew und dem italienischen exkommunizierten Priester Erneste Buonauitti die Gruppe der „großen Drei“, der theologisch-religionswissenschaftlichen Wortführer zu diesem Thema gewesen sei. Martin Buber war 1936 wiederum Referent in Pontigny im Rahmen der Dekade „La volonté du mal“. Noth selbst, der als Sachkenner der Situation der Jugend im NS-Deutschland galt, berichtete über den „Pseudo-Asketismus der deutschen Hitlerjugend“ und brachte damit den zeitgeschichtlich-politischen Bezug in eine eher der Aktualisierung abgewandte Disputation. Nach seinem Zeugnis trugen zur Aktualität der philosophischen Inhalte des Themas neben Groethuysen u. a. Jean Schlumberger und André Philip bei. 140 Drei Jahre später war Hans Mayer unter den Referenten der Dekade „L’ombre de César et le régime des masses“. Mayer, der damals gerade sein Buch über Georg Büchner abgeschlossen hatte und als Mitarbeiter des exilierten Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ tätig war, fasste sein Pontigny-Thema von der Seite seiner juristischen Kompetenz her auf: „Ich wählte ein Thema meiner Studien am Genfer Institut, die sich mit der Staats- und Rechtslehre des Dritten Reichs befassen mussten. Wie dort, am 30. Juni 1934 ein Führer deklarieren ließ, dass seine Befehle zur sofortigen und urteilslosen Erschießung von Menschen nicht etwa be- 140 Noth, op. cit., p. 330. <?page no="105"?> 105 fohlene Mordtaten gewesen seien, sondern rechtmäßige Anordnungen: aus dem Recht des Führerprinzips. Diese Dokumentation trug ich vor und versuchte zu analysieren, wie sich hier zum theaterhaften Cäsarentum eine Demagogie gesellte, die mit Hilfe gelenkter Propaganda so etwas vorzuspiegeln versuchte wie den Willen der ‘Massen’: in Form des ‚gesunden Volksempfindens’.“ 141 Aus dem Kreis der Diskutierenden, in dem u. a. der Politikwissenschaftler André Philip und der Philosoph Maurice de Gandillac zugegen waren, kam die Frage, in welchem Maße es sich möglicherweise tatsächlich um den „Willen der Massen“ bei den Bluttaten nach dem „Röhm-Putsch“ gehandelt habe. Eine Frage, die im Detail eine durchaus charakteristische Einstellung der Pontigny-Debatten belegt. Denn die Suche nach der Wahrheit hielt dazu an, auch den Tatsachen Rechnung zu tragen, deren Existenz man missbilligte. Aufgrund dieser skeptischen Frage-haltung konnte die Entstehung einer rein emotionalen Gemeinschaft der Gleichgesinnten gar nicht erst aufkommen. Während der dritten Dekade, Ende September 1938, stieß aus Spanien kommend ein Augenzeuge des dortigen Bürgerkrieges zur Gesprächsrunde in Pontigny. Es war der Max- Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg (1901-1944), der vor 1933 Privatdozent für Philosophie der lateinischen Länder an der Universität Bonn war und nach der NS-Machtübernahme als rassistisch Verfolgter Deutschland verlassen hatte, um in Barcelona und Santander als Universitäts-Dozent zu arbeiten. Landsberg, der über Nikolai Berdjajew, Gabriel Marcel und Alexandre Marc(-Lipiansky) mit dem personalistischen Milieu in Frankreich eng vertraut war, 142 berichtete in einer Abendsitzung von Pontigny über die „Selbstzerfleischung der Republikaner“ in Spanien mit großer Betroffenheit. Hans Mayer erinnert sich: „Diesmal hatte keiner Lust an den Gesellschaftsspielen“. 143 Die moralische Solidarität der Kreise um die Union pour la Vérité und Pontigny mit dem „anderen Deutschland“ während der Jahre 1933 bis 1939 wird auch erkennbar in Desjardins’ Beziehungen zu Martin Buber. Mit ihm verband ihn nicht nur das gemeinsame Interesse an den gesellschaftlich konstruktiven Inhalten einer entmythologisierenden Auffassung der christlichen und jüdischen Religion („Dialogik“), sondern auch eine in Pontigny gereifte fürsorgliche Freundschaft. Buber hatte 1933 seine Honorarprofessur an der Universität Frankfurt/ Main verloren und emigrierte 1938 nach Palästina. Desjardins versuchte, ihn für eine Dekade 1938 zu gewinnen, und schrieb am 3. Juli 1938 aus Pontigny an ihn: „Cher ami, où êtes-vous? Je ne doute aucunement de votre fidélité, et il est superflu de vous assurer la mienne. Mais je désire que, si vous n’êtes pas en Palestine, 141 Mayer, op. cit., p. 226. 142 Cf. dazu Thomas Keller: „Médiateurs personnalistes entre générations nonconformistes en Allemagne et en France: Alexandre Marc et Paul L. Landsberg“, in: Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droite. Les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Bordeaux 1995, p. 257sq. 143 Mayer, op. cit., p. 227. <?page no="106"?> 106 ou immobilisé par d’autres raisons, on se rejoigne ici, durant cette sombre époque de captivité. Voyez si les sujets de Décade, soit ‚primitivisme’, soit ‚solitude’, ne vous fourniraient pas quelque occasion cherchée, quelque commandement divin. Plus que jamais vôtre.“ 144 Paul Desjardins erlebte - wie er sich biblisch ausdrückte - das Ende der „sombre époque de captivité“ in Europa nicht mehr. Martin Buber, der Europa verlassen hatte, setzte seinem „unvergeßlichen Freund Paul Desjardins“ ein Zeichen der Erinnerung, indem er nach dem Zweiten Weltkrieg seine Beiträge zu den Dekaden von 1935 und 1936 zu einer selbständigen Schrift ausarbeitete. 145 Die „europäischen Gespräche“ von Pontigny schlossen in ihrem Rahmen ein deutsch-französisches intellektuelles Kommunikationsnetz, eine „sociabilité“, ein, die in der Nachkriegszeit keine vergleichbare Fortsetzung fand. Sie sind insofern ein nicht eingeholtes Vorbild geblieben und das von der „Union pour la Vérité“ projizierte Wunschbild eines republikanischen Europas hat als Modell zivilgesellschaftlich begründeten Zusammenschlusses kaum etwas an Aktualität verloren. Einer der letzten in der langen Reihe deutscher Intellektueller, die zwischen 1922 und 1939 den Weg nach Pontigny antraten, war Walter Benjamin (1892-1940). Der Philosoph und Literaturwissenschaftler hatte bereits zehn Jahre zuvor eine ehrenvolle Einladung zu den burgundischen Sommertreffen erhalten. Man hatte ihm die Teilnahme an der zweiten Dekade in Aussicht gestellt, die dem Thema: „Sur la réussite classique dans l’art“ gewidmet war. Benjamin stellte seinem Briefpartner die Pontigny-Dekaden so dar, wie der Mythos, der sich um sie gebildet hatte, es nahelegte: „Das ist die alljährliche Zusammenkunft der berühmtesten Dichter Frankreichs, von Gide begonnen die meisten großen Romanciers und Lyriker. […] Es kommen dort traditionellerweise nur die arrivierten Ausländer hin.“ 146 Aufgrund seiner Terminplanung hatte er 1929 nicht teilnehmen können. Er reiste also zehn Jahre später unter vollständig veränderten äußeren Bedingungen, aber offenbar mit unverändert hohen positiven Erwartungen in die ehemalige Zisterzienser-Abtei, deren Veranstaltungsplanung sich inzwischen weitgehend verändert hatte. Sein zehntägiger Aufenthalt in der Abbaye de Pontigny vom 10. bis 19. Mai 1939 fand statt unter mehreren ungünstigen Voraussetzungen, die sein Urteil beeinflußten. Zum einen kam er nicht zu einer der literarischen oder philosophischen Sommer- Dekaden, sondern allem Anschein nach zu einem Vortrag im Rahmen einer der Veranstaltungen, die seit 1937 für junge Werktätige überwiegend skandinavischer Herkunft dort durchgeführt wurden. Es war nicht (mehr) 144 Faksimile Wiedergabe des Briefes von Paul Desjardins mit dem Briefkopf der Société de Pontigny in: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzenten. Bd 3: 1938-1965. Heidelberg 1975, 67Z Cf. auch zu Bubers Pontigny-Aufenthalten Maurice Friedmann: Martin Bubers life and work, Detroit 1988. Bd. 2, p. 29sq. 145 Martin Buber: Bilder von Gut und Böse, Heidelberg 1964 (3. Aufl.). p. 7. 146 Brief an Gershom Scholem vom 27.7.1929 in: Christoph Gödde, Henri Lomitz (ed.): Walter Benjamin. Gesammelte Briefe, Bd. III, Frankfurt/ Main 1997, p. 478. <?page no="107"?> 107 das Pontigny der animierenden Salon-Gespräche, die eine dichte geistige Sozialisationsatmosphäre schufen, sondern ein Ort, wo von Spezialisten Wissen vermittelt wurde. Benjamin registrierte diesen Hauptzweck der Veranstaltung, indem er in einem seiner Briefe aus Pontigny mitteilte, dort würden „politische Schulungskurse“ gegeben: „Was den Fonds der Dinge betrifft, so gibt ein politischer Schulungskurs, der die Traditionen von Pontigny fortzusetzen vorgibt, dessen Einrichtung aber auf Mme Desjardins zurückgeht, darüber Aufschluß.“ 147 Als Beleg dafür führt er an einen Vortrag, der von einer CGT-Kursleiterin gehalten wurde und der ihm wegen seines „vulgärmarxistischen“ und reformistischen Diskurses zutiefst mißfiel. 148 Benjamin brachte diese Art von Schulungstätigkeit, die u.a. durch die Auftritte des belgischen antimarxistischen Sozialisten Henri de Man in Pontigny gefördert worden waren, in den unmittelbaren Zusammenhang mit dem gewachsenen Einfluß der Ehefrau von Paul Desjardins auf die Gestaltung der Zusammenkünfte in der burgundischen Abtei. 149 Zutreffend war an dieser Beobachtung, daß die Schwierigkeiten der Nachfolgeregelung für den bisherigen Leiter von Pontigny, Paul Desjardins, 1935 in der Weise gelöst wurden, daß nunmehr ein Direktorium aus vier Personen (Jean Schlumberger, Léon Brunschvicg, Paul Desjardins und seine Ehefrau) die administrative Verantwortung für das Unternehmen angetreten hatte. 150 Richtig war auch, daß die finanzielle Sicherung der Pontigny- Tradition in diesem Quartett vor allem Marie-Amélie Desjardins (geb. Savary) oblag und daß die Schulungskurse für Jugendliche Teil des finanziellen Sanierungsprogramms der Dekaden waren. 151 Ein zusätzlicher Faktor, der zu dem offenkundigen Unbehagen Benjamins beitrug, war die im Mai 1939 in Frankreich allenthalben manifeste Ausländerfeindlichkeit, die durch die allgemein akute Furcht eines Krieges mit NS-Deutschland genährt wurde. In seinem langen Brief an Max Horkheimer schrieb er dazu: „Kommt es zum Kriege, so dürfte man mit einem Besuchervisum in Amerika immer noch einer weniger harten Zukunft entgegengehen als hier, wo auf alle Fremden ohne Ausnahme - und es gibt deren über drei Millionen - sehr sicheren Informationen nach zunächst die Konzentrationslager warten.“ 152 Er war mit der Erwartung nach Pontigny gereist, dort „irgend welche materiell belangvollen französischen Beziehungen anzuknüpfen“, 153 wurde aber auch in dieser Hinsicht enttäuscht, da er mit Desjardins kaum 147 Christoph Gödde, Henri Lomitz (ed.): Walter Benjamin. Gesammelte Briefe, Bd. VI. 1938- 1940, Frankfurt/ Main 2000, p. 281. 148 Ibid., p. 281, Brief an Max Horkheimer vom 16.5.1939. 149 Ibid., p. 280. 150 Cf. dazu François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Villeneuved’Asq 2000, p. 208 sq. 151 Entsprechend auch die Beobachtungen von Paul Distelbarth. Cf. Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, op. cit., p. 145 sq. 152 Christoph Gödde, Henri Lomitz (ed.): Walter Benjamin. Gesammelte Briefe, Bd. VI, p. 280. 153 Ibid. <?page no="108"?> 108 ins Gespräch kam. Er fand ihn vor in einem Zustand fortgeschrittener Altersschwäche, jedoch als historisch gewordene Inkarnation republikanischen Denkens: „Dieses Pontigny ist ein sprechender Beweis dafür, daß die Franzosen ihre Kultur derzeit nur noch bei den kleineren Völkern absetzen können. Der angenehme Reflex davon: daß man keine Sympathien für Hitler und Mussolini hat. Auch überlebt darin noch der Geist des Hausherrn, der ein tätiger Dreyfusard gewesen ist. Aber darin - und in seiner noblen Erscheinung - allein.“ 154 Benjamin vermochte also nurmehr, den Abglanz des „noyau de l’Europe future“ wahrzunehmen, als der Pontigny den meisten der vorausgegangenen deutschen Besucher erschienen war. In seiner von Not und Angst bedrängten Exilanten-Existenz entgingen ihm gleichwohl nicht die Vorzüge dieses Ortes europäischer Eliten-Begegnung. Die Bibliothek, die nach seinen Briefen 15.000 Bände umfaßte, erschien ihm als geruhsamere Alternative zur Bibliothèque Nationale in Paris und das Ambiente der säkularisierten Klosteranlage blieb ihm nicht verschlossen: „Lage und Anlage dieser Benediktienerabtei, die aus dem zwölften Jahrhundert stammt, sind, die eine lieblich, die andere großartig.“ 155 Die übernational solidarische Gesittung, die in Pontigny gepflegt wurde, erfuhr Walter Benjamin dann ganz unmittelbar nach Kriegsbeginn im September, als er im Oktober 1939 - wie er es befürchtet hatte - mit anderen deutschen Landsleuten in einem Internierungslager gefangen gesetzt wurde. Zu den französischen Freunden, die sich angesichts seiner überragenden Verdienste um die französische Kultur für seine Befreiung einsetzten, gehörte Paul Desjardins. Benjamin schrieb am 23.10.1939: „Aussi c’est fort du témoignage de mes amis français que je compte me présenter, le moment venu, devant la commission de criblage dont on nous parle depuis quelque temps. Paul Valéry et Jules Romains m’ont bien voulu donner leur appui que j’avais sollicité lors de ma demande de naturalisation. Adrienne Monnier m’a donné maints signes d’une amitié indéfectible. Hier encore j’ai reçu la lettre touchante entre tous que Paul Desjardins m’a écrite d’une main, hélas, défaillante.“ 156 Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß Pontigny zwischen 1933 und 1939 ein Ort der Aufnahme und der Begegnung zwischen Repräsentanten republikanischen und demokratischen Denkens aus Frankreich und Deutschland war, so ist die letzte der Sommer-Dekaden ein besonders beeindruckender Beleg für diese Feststellung. Von den üblichen drei Dekaden fanden nur noch die beiden ersten statt: „La destinée“ (26.7.-5.8.1939) und „Problème des étrangers en France“ (14.8.-24.8.1939). Die dritte Zehntageskonferenz, die vom 26.8. bis 5.9.1939 den intellektuellen und kulturellen Beziehungen zwischen Großbritannien und Frankreich gewidmet sein sollte, konnte dann wegen des Kriegsbeginns nicht mehr stattfinden. Im 154 Ibid., p. 281. 155 Ibid., p. 276, Brief an Karl Thieme. 156 Ibid., p. 345. <?page no="109"?> 109 Mittelpunkt der ersten Tagungseinheit, die somit zur vorletzten der annähernd dreißigjährigen Pontigny-Tradition wurde, stand das von der Kriegserwartung diktierte Thema „La destinée“. Diese Gesprächsrunde wurde geleitet von dem Philosophen und Epistemologen Gaston Bachelard (1884-1962). Zu den Vortragenden, deren Ausführungen zum Thema Schicksal und Bestimmung die stärkste Resonanz fanden, gehörten der deutsche Exilant Paul Ludwig Landsberg (1901-1944) und der französische Kunsthistoriker Henri Focillon. 157 Landsberg sprach am 27.8.1939 zum Thema „La Destinée chez Saint Augustin“. Er hatte sich 1928 mit einer Arbeit über den Heiligen Augustinus in Bonn habilitiert und hatte im französischen Exil als Philosoph und dem Katholizismus nahestehender Intellektueller engste Aufnahme in der „Esprit“-Bewegung und ihrer gleichnamigen Zeitschrift gefunden. 158 Er verstand es in seinem Referat, den Schicksal- Begriff von Augustinus im personalistischen Sinne zu aktualisieren. Er geriet u.a. in den Disput mit Bernhard Groethuysen, der in seiner oft beschriebenen maieutischen Funktion in den Pontigny-Gesprächen Klarheit durch Widerspruch erzeugte. Der Berichterstatter zu dieser „Destinée“- Dekade stellte einmal mehr fest, daß die Atmosphäre, die sich in dieser Gesprächsrunde einstellte, mindestens so wichtig war wie die Erkenntnis- Ergebnisse der Diskussionen: Er beschrieb den charakteristischen Kommunikationsmodus: „ […] atmosphère vraiment extraordinaire au milieu de laquelle vécurent les décadistes: atmosphère d’intimité familiale, quelque chose de presque miraculeux si l’on considère le nombre des participants qui à certains jours a atteint le chiffre de 75 personnes, mais qui fut obtenu grâce au dévouement et à l’affabilité de M. et Mme Desjardins, mais en même temps atmosphère de pensée singulièrement vivante et forte, celle-ci créée par la bienveillance inlassable et la brillante intelligence du Président Henri [recte : Gaston] Bachelard, s’efforçant sans cesse d’entrer par une attentive compréhension dans les thèses les plus opposées à ses idées propres, et donnant aux débats un élan et une impulsion qui ont fait de la décade sur la destinée une des plus passionnantes qui aient jamais eu lieu.“ 159 Die vorbehaltloseste Würdigung des europäischen Lebenswerkes Paul Desjardins’ von deutscher Seite erschien dann in der Form eines Nachrufs im Pariser Publikationsorgan deutscher Exilanten „Die Zukunft“. Der Schriftsteller und Übersetzer Ferdinand Hardekopf (1876-1954), der seit 1922 in Paris lebte und tätiges Mitglied der „Deutsch-Französischen Union/ Union franco-allemande“ war, 160 gab seinen Empfindungen dankbarer Anerkennung für das Wirken des spiritus rector von Pontigny so Ausdruck: „Nach Beendigung des vorigen Krieges gewann, dank seiner nie 157 Cf. Esprit, 1939, Nr. 86: „Pontigny 39: La Décade de la Destinée“. 158 Pierre de Senarclens: Le mouvement „Esprit“ 1933-1941, Lausanne 1974. 159 Esprit, 1939, Nr. 86, p. 81. 160 Cf. dazu unten Kap XI. <?page no="110"?> 110 versagenden Aufnahmebereitschaft, das kleine Dorf Pontigny geradezu den Rang eines Wallfahrtsortes für geistige Pilger aus vielen Ländern. Es wurden dort jene reizvollen ‚Dekaden’ veranstaltet: zehntägige philosophische Parlamente zur Beratung irgend eines zentralen kulturellen Themas. Wertvolle Anregungen sind von diesen Zusammenkünften regsamer Hirne hervorgangen […]. Eine schmerzliche Wunde hat die verhängnisvolle Entwicklung des heutigen Deutschland in die hochherzige Gedankenwelt des Weisen von Pontigny gerissen. Hatte nicht jede seiner Äußerungen die tiefe Bereitschaft zur Versöhnung mit einem wahrhaft demokratischen, menschheitlich und europäisch gewordenen Deutschland bekundet? “ 161 161 Die Zukunft, 22.3.1940: „Desjardins“. <?page no="111"?> 111 IV. Deutsch-Französische Gesellschaft von 1926 bis 1934 1. „Zwischenstaatliche Gesellschaften“ und der „Geist von Locarno“ Das politisch-gesellschaftliche Phänomen, das in der Sprache der diplomatischen Akten „zwischenstaatliche Gesellschaften“ heißt, ist lange Zeit als selbständiges Untersuchungsobjekt historischer Forschung kaum beachtet worden. So kann man einstweilen auch nur vermuten, dass das Auftreten gesellschaftlicher Organisationen, deren Zweck die Förderung der auf eine andere Nation bezogenen Kenntnisse und Kontakte ist, mit dem Strukturwandel des außenpolitischen Entscheidungsprozesses seit dem Ersten Weltkrieg ursächlich im Zusammenhang stand. Man hat wiederholt darauf hingewiesen, dass seit dem Ersten Weltkrieg einerseits die öffentliche Meinung im außenpolitischen Entscheidungsprozess des eigenen Landes ein hervorragender Faktor zu werden begann, während zugleich der öffentlichen Meinung in der außenpolitischen Entscheidungsfindung des jeweils anderen Landes eine ständig wachsende Bedeutung zugemessen wurde. 1 Aus diesen Veränderungen im Prozess der Entstehung außenpolitischer Meinungen und Entscheidungen ergaben sich zum einen - besonders in Deutschland - im politischen Bereich die Bemühungen um den Aufbau einer systematisierten Auswärtigen Kulturpolitik, 2 zum anderen im gesellschaftlichen Bereich die Voraussetzungen für die Gründung von „zwischenstaatlichen Gesellschaften“. Diese Organisationen versuchen in einem variablen Grad von Unabhängigkeit von den politischen Institutionen, aber in Übereinstimmung mit den generellen außenpolitischen Zielsetzungen, die individuellen und kollektiven gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren, die für eine Intensivierung der Beziehungen mit einer jeweils bestimmten anderen Nation zu gewinnen sind. Nicht das einzige, 3 aber ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Entstehung und Wirkung „zwischenstaatlicher Gesellschaften“ sind die 1 Cf. dazu resümierend Gerhard Kiersch: Parlament und Parlamentarier in der Außenpolitik der IV. Republik, Berlin 1971, Diss. Wirschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 1, p. 26sq. 2 Cf. bes. Kurt Düwell: „Die Gründung der kulturpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt 1919/ 20 als Neuansatz“, in: Kurt Düwell/ Werner Link (ed.): Deutsche Auswärtige Kulturpolitik seit 1871, Köln/ Wien 1981, p. 47-71. Und: Kurt Düwell: Deutschlands Auswärtige Kulturpolitik seit 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln/ Wien 1976, p. 78sq. 3 Ein frühes und den besonderen Umständen des Weltkrieges entsprechendes Beispiel für die Gründung einer „zwischenstaatlichen Gesellschaft“ ist die Deutsch-Flämische Gesellschaft, die 1917 entstand und dargestellt wird in: Winfried Dolderer: Deutscher <?page no="112"?> 112 gesellschaftlichen Vereinsgründungen, die nach der spektakulären Wende in den deutsch-französischen Beziehungen durch den Locarno-Vertrag vom Oktober 1925 zustande kamen. Wie der ab 1925 viel beschworene „Geist von Locarno“ im deutschen Reich aufgefasst wurde, das ist für die politischen Parteien 4 und für die Jugendorganisationen 5 neuerdings ausführlich dargestellt worden. Weit weniger bekannt, oder teilweise unbekannt, sind hingegen die Organisationen, die als unmittelbare Derivate des „Geistes von Locarno“ entstanden und mit dem Ziel der „Verständigung“ zwischen Deutschland und Frankreich tätig wurden. Tatsächlich sind diese „Verständigungsorganisationen“ in den deutsch-französischen Beziehungen seit Mitte der zwanziger Jahre ein zusammenhängender Komplex, in dem eine größere Zahl von politischen und kulturellen Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus zusammenkamen und - entgegen verbreiteten Vorstellungen 6 - auch über das Jahr 1933 bis Kriegsbeginn 1939 existierten. Sie wurden nach 1933 von den Nationalsozialisten usurpiert oder toleriert und sie boten nach wie vor dem Datum der NS-Machtergreifung die Möglichkeit fortgesetzter gesellschaftlicher Verbindungen und kultureller Austauschvorgän-ge. Die in unmittelbarer Reaktion auf die Locarno-Politik für den besonderen Zweck der deutsch-französischen Verständigung gegründeten Organisationen waren: Das 1926 konstituierte Comité franco-allemand d'Information et de Documentation bzw. Deutsch-Französische Studienkomitee, das in der Öffentlichkeit meist nach dem Namen seines Gründers und Förderers „Mayrisch-Komitee“ genannt wurde; 7 die ebenfalls seit 1926 vorbereitete Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG), die sich parallel und in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum „Mayrisch-Komitee“ als die breitenwirksamere Organisation entwickelte; und schließlich die als „Schwesterorganisation“ der DFG konzipierte Ligue d'Etudes Germani- Imperialismus und belgischer Nationalitätenkonflikt. Die Rezeption der Flamenfrage in der deutschen Öffentlichkeit und die deutsch-flämischen Kontakte 1890-1920, Diss. phil. Kassel 1989, p. 209-238. 4 Hermann Hagspiel: Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Die deutschfranzösische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder, Bonn 1987, bes. p. 277sq. 5 Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, bes. p. 85sq. 6 So wird z.B. in der bislang eingehendsten Darstellung der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg die Annahme nahegelegt, das Deutsch-Französische Studienkomitee („Mayrisch-Komitee“) habe 1933 seine Tätigkeiten eingestellt. Cf. Fernand L'Huillier: Dialogues franco-allemands 1925-1933, Strasbourg 1971. Tatsächlich arbeitete das Komitee bis 1939 weiter. 7 In Ergänzung zum Buch von Fernand L'Huillier (wie Anm. 6) cf. dazu Jean Schlumberger e.a.: Emile Mayrisch. Précurseur de la construction de l'Europe, Lausanne 1967. Zur kulturpolitischen und geistesgeschichtlichen Rolle des Begegnungszentrums der Familie Mayrisch im luxemburgischen Colpach cf. auch: „Dossier Rencontres de Colpach“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxemburg, Jg. 1987, Nr. 2, p. 167- 219, und. Jg. 1988, Nr. 1, p. 7-36. <?page no="113"?> 113 ques (L.E.G.), die überwiegend in den größeren Städten als bilaterale Verständigungsorganisation zwischen Frankreich und Deutschland von 1928 bis 1936 wirkte. 8 Die DFG wurde 1934 von den Nationalsozialisten zur Auflösung gezwungen, ihr Name wurde jedoch 1935 von den Statthaltern der totalitären Staatsmacht als Vertrauenswürdigkeit suggerierendes Etikett weitergeführt, um eine soziologisch und ideologisch völlig andere Massenorganisation aufzubauen. 9 Ihr entsprach auf französischer Seite nunmehr die Parallelorganisation des Comité France-Allemagne. Unabhängig von diesen beiden Neugründungen bestand als locker gefügter organisatorischer Rahmen für die deutsch-französische Kommunikation überwiegend großindustrieller und aristokratischer Gesellschaftskreise weiterhin das Comité franco-allemand d’Information et de Documentation/ Deutsch-Französische Studienkomitee fort, das sich von seinen ursprünglichen Zielsetzungen nach 1933 immer mehr entfernte. 10 Diese bilateralen Organisationen standen in vielfacher Wechselbeziehung zu den schon in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre in Erscheinung tretenden Vereinigungen, die das Ziel der europäischen Integration vertraten. Diese Europa-Verbände sind vergleichsweise früher erforscht als die bilateralen Verständigungsorganisationen zwischen Deutschland und Frankreich. 11 Von ihnen wies der 1921 gegründete Europäische Kulturbund 12 eine starke Affinität auf zum Deutsch-Französischen Studienkomitee; die Deutsch- Französische Gesellschaft hingegen zeigte eine Reihe von Berührungspunkten mit dem 1925 geschaffenen Europäischen Zollverein. 13 Das Ensemble dieser gesellschaftlichen Vereinigungen bildete in der Zwischenkriegszeit eine Art organisatorische Infrastruktur für den Großteil der Gruppenkontakte und des Kulturaustauschs zwischen Deutschland und Frankreich. Die genauere Kenntnis dieses Netzes von „zwischenstaatlichen Gesellschaften“ zwischen beiden Ländern ist ein Schlüssel zum Verständnis der Motive und Verhaltensweisen der Akteure in den sozioökonomischen und sozio-kulturellen Beziehungen dieser Periode. Ein Schritt auf dem Wege zur besseren Kenntnis der in diesem Sinne verstandenen Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit ist die Darstellung und Analyse der Deutsch-Französischen Gesellschaft von 1926 bis 1934. Sie ist lange Zeit als Forschungsobjekt igno- 8 Cf. dazu die Studie im vorliegenden Band. 9 Aus der Sicht des zeitgenössischen Beobachters cf.: Wilhelm von Schramm: Sprich vom Frieden, wenn Du den Krieg willst. Die psychologischen Offensiven Hitlers gegen die Franzosen 1933 bis 1939. Ein Bericht, Mainz 1973. 10 Cf. Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005. 11 Cf. z.B. Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977. 12 Diese Organisation, die insbesondere über die Kulturzeitschrift „Europäische Revue“ einen beträchtlichen Einfluss im konservativ-intellektuellen Bürgertum hatte, wird analysiert in Guido Müller, op. cit. 13 Cf. dazu die Studie im vorliegenden Band. <?page no="114"?> 114 riert worden, obwohl die Quellenlage zu ihrer Geschichte recht günstig ist. 14 Und sie ist als historischer Ausgangspunkt der heute existierenden rund 120 lokalen deutsch-französischen Gesellschaften, die seit 1956 im binationalen Dachverband Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften in Deutschland und Frankreich/ Fédération des Associations Franco- Allemandes en France et en Allemagne zusammengefasst sind, über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. 15 2. Die Entstehung der Deutsch-Französischen Gesellschaft Es bedurfte nach dem Ersten Weltkrieg einer spektakulär neuen Konstellation in den deutsch-französischen Beziehungen, damit gesellschaftliche Initiativen für die verbesserten Kenntnisse und Kontakte zwischen beiden Ländern ab Mitte der zwanziger Jahre entstehen konnten. Nachdem während der Ruhrbesetzung des Jahres 1923 die nationalen Leidenschaften zum Paroxysmus gelangt waren, zeichnete sich nach deren Beendigung mit dem Wahlsieg des Cartel des Gauches im Mai 1924 in Frankreich und mit dem Ende der Inflation in Deutschland diese Konstellation innenpolitisch ab; außenpolitisch wurden mit dem Dawes-Plan und der Londoner Konferenz von Juni bis August 1924 günstigere Perspektiven für die Neubestimmung der deutsch-französischen Beziehungen eröffnet. Diese Zeichen einer Wende in dem seit zehn Jahren von Kriegs- und Nachkriegskonflikten zerrütteten Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich frühzeitig zu erkennen, fiel einem langjährigen kulturellen Vermittler zwischen beiden Ländern wie Dr. Otto Grautoff nicht allzu schwer. Grautoff (1876-1937) hatte sich im letzten Vorkriegsjahrzehnt einen Namen gemacht als Frankreich-Publizist, indem er aus Paris das künstlerische und literarische Leben seines Gastlandes in Zeitschriften, Zeitungen und Büchern den Deutschen nahezubringen versucht hatte. 16 In der Konflikt-Periode des Jahrzehnts von 14 Neben den sechs Jahrgängen der Deutsch-Französischen Rundschau (im Folgenden DFR abgekürzt) sind vor allem die 6 Bände „Deutsch-Französische Gesellschaft (Grautoff)“ im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (Politische Abteilung II, Frankreich, Politik 2 C) eine sehr ergiebige Quelle. Die chronologische Spanne dieser Akten reicht vom August 1926 bis November 1935. Auf sie wird im Folgenden mit der Abkürzung DFG im PA/ AA verwiesen. Die erste Buchmonographie nach dem hier neugedruckten Aufsatz war dann Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt/ Main 1997. 15 Zur Stellung der gegenwärtigen Deutsch-Französischen Gesellschaften im Ensemble der institutionell breit ausdifferenzierten bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich cf. Hans Manfred Bock: „Deutschfranzösischer Bilateralismus zwischen Begegnungsroutine und ungleicher Kooperation“, in: Lendemains. Etudes cornparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1989, Nr. 54, p. 158-166. 16 Cf. dazu erstmals die Darstellung Hans Manfred Bock: „Transnationale Begegnung im Zeitalter des Nationalismus. Der Lebensweg Otto Grautoffs (1876-1937) zwischen <?page no="115"?> 115 1914 bis 1924 hatte er gerade in den Nachkriegsjahren mit zunehmender Heftigkeit den imperialen Machtwillen Frankreichs in Europa und dessen kulturelle Überfremdungs-Absichten gegenüber Deutschland kritisiert. 17 Seine Auffassung von der nationalen und kulturellen Identität der Deutschen war in den Nachkriegsjahren maßgeblich geprägt von den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) seines engen Jugendfreundes Thomas Mann. 18 Die dort dargelegte tiefe Gegensätzlichkeit zwischen französischer „Zivilisation“ und deutscher „Kultur“ übersetzte Grautoff in den kunstwissenschaftlichen Begriffs-Antagonismus „Klassizismus“ (Frankreich) und „Romantik“ (Deutschland). Grautoff war aufgrund seiner Kriegs- und Nachkriegs-Schriften in Frankreich zwar in den Geruch geraten, ein Anhänger des „pangermanisme“ geworden zu sein. Er hatte jedoch seine Beziehungen und Kontakte in Frankreich nachweislich schon seit 1920 wieder neu geknüpft und er brachte damit die besten Voraussetzungen mit, bei der nach 1924 beginnenden Wiederbelebung der offiziellen Kulturbeziehungen zwischen beiden Nationen eine wichtige Rolle zu spielen. Diese Chance, den Neuaufbau der deutsch-französischen Kulturbeziehungen im politisch-gesellschaftlichen Vorfeld vorzubereiten, ergriff er mit großer Entschlossenheit und nicht ohne Erfolg. Grautoff hatte nach Kriegsende eine Dozentur für Kunstgeschichte an der Handelshochschule in Berlin erhalten, 19 und er stand seit den Kriegsjahren in Kontakt zum Auswärtigen Amt in der Berliner Wilhelmstraße. Auf dieser Grundlage begann er 1925 seine intensive Sondierungsarbeit in Frankreich, um Ansatzpunkte für den kulturpolitischen Brückenschlag zu finden. Diese Arbeit unternahm er in offensichtlicher Feinabstimmung mit den gleichlaufenden Bemühungen der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, die seit Ende 1924 darauf gerichtet waren, vorab den praktischen internationalen Boykott gegen die Wissenschaftsvertreter aus Deutschland zu durchbrechen, dem diese sich seit dem Weltkrieg ausgesetzt sahen. 20 Grautoff unternahm ab der ersten Hälfte des Jahres 1925 eine längere Reise durch fast alle französischen Universitäten und er schrieb darüber einen ausführlichen Bericht, in dem er namentlich der akademischen Landschaft außerhalb von Paris, der dortigen Präsenz ausländischer Studenten und dem Beitrag der Universitäten insgesamt zur Deutschland und Frankreich“, in: Gilbert Krebs (ed.): Sept décennies de relations francoallemandes 1918-1988. Hommage à Joseph Rovan, Paris 1989, p. 57-79. 17 Bes. in: Otto Grautoff: Die Maske und das Gesicht Frankreichs in Denken, Kunst und Dichtung, Stuttgart 1923. 18 Cf. deren Dokumentation in: Peter de Mendelssohn (ed.): Thomas Mann. Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boyd-Ed 1903-1928, Frankfurt/ Main 1975. 19 Er hatte 1914 mit einer kunstgeschichtlichen Arbeit in Genf promoviert. Seine Dissertation erschien im selben Jahr: Otto Grautoff: Nicolas Poussin. Sein Leben und Werk, München/ Leipzig 1914, 2. Bde. 20 Cf. dazu auch im größeren Zusammenhang: Brigitte Schroeder-Gudehus: Les Scientifiques et la Paix. La communauté scientifique internationale au cours des années 20, Montréal 1978, bes. p. 262sq. <?page no="116"?> 116 Stabilisierung des nationalen Konsens viel Aufmerksamkeit widmete. 21 Er sah die „feste Geschlossenheit des französischen Volkskörpers“ gewährleistet mit Hilfe der „Université de France“, „deren durch das Land weitverzweigte Organisation die Nationalreligion hütet, pflegt und immer von neuem belebt“. 22 Nachdem Grautoff in diesem Universitäts-Bericht schon die auf Deutschland bezogenen Forschungsaktivitäten der einzelnen Hochschulen sorgfältig registriert hatte, fasste er noch einmal die Lage der französischen Hochschul-Germanistik in einer selbständigen Studie zusammen. 23 Da ihm auffiel, dass die französischen Germanisten im Gegensatz zu den deutschen Romanisten ihr Metier in erster Linie auffassten als „Mittel zum Zweck, die staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in den germanischen Ländern kennen zu lernen“, 24 schienen sie ihm die prädestinierten kulturpolitischen Ansprechpartner für die Wiederaufnahme des akademischen Dialogs zwischen Deutschland und Frankreich zu sein. Eben diesem Ziel galt eine andere Initiative Grautoffs im Sommer 1925, mit der er öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Nach dem Besuch des französischen Erziehungsministers Anatole de Monzie beim preußischen Kulturminister Becker Ende Juli 1925 übersandte Grautoff dessen Ministerium in Paris eine ursprünglich vom Verband deutscher Hochschulen veröffentlichte Anklageschrift gegen die Ausschließung deutscher Wissenschaftler von der internationalen Forschungskooperation und den entsprechenden Kongressen. 25 Der französische Erziehungsminister sicherte daraufhin in einem zur Veröffentlichung bestimmten Brief an Grautoff 26 im August 1925 zu, er werde dafür Sorge tragen, dass „allen deutschen Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern der weiteste Zugang zu allen (französischen) Kongressen und Instituten“ ermöglicht werde. Er gab allerdings zugleich seinem Befremden Ausdruck über die Vehemenz der deutschen Anklageschrift, in der er einen „geistigen Willen zur Macht“ sah und die er angesichts des noch allgegenwärtigen „dumpfen Geruchs der Blutbäder und Gasausbrüche“ für unangemessen hielt. In seiner Rolle als Wegbereiter der deutsch-französischen Kulturpolitik und als Mittler zwischen beiden Nationalkulturen, die er mit seiner publizistischen Arbeit fortsetzte, 27 sah sich Otto Grautoff bestätigt und ermutigt 21 Cf. Otto Grautoff: Das gegenwärtige Frankreich. Deutungen und Materialien, Halberstadt 1926, p. 95-174: „Das geistige Leben in der Provinz“. 22 Ibid., p. 174. 23 Ibid., p. 175-187: „Die Germanistik in Frankreich“. 24 Ibid., p. 175. 25 Cf. dazu die Dokumentation ibid., p. 204sq.: „Die Wiederaufnahme der geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich“. 26 Cf. dazu auch Schroeder-Gudehus (wie Anm. 20), p. 265sq. 27 Die Rolle Grautoffs als Vermittler französischer Literatur in der Weimarer Republik wird neuerdings breit belegt in: Doris Harrer: Französische Literatur in der Weimarer Republik. Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Literaturrezeption bei zeitgenössischen Autoren, Konstanz 1987, bes. p. 213-215; dort eine (nicht vollständige) Auflistung seiner Kritiken zur aktuellen französischen Literatur. <?page no="117"?> 117 nach dem Vertragsschluss von Locarno im Oktober 1925. Das ganze Jahre 1926 stand für ihn im Zeichen der Bemühungen um die Gründung einer deutschen Frankreich-Zeitschrift und einer deren Existenz sichernden Förderergesellschaft. In dem 1926 erschienenen Buch über „Das gegenwärtige Frankreich“ dokumentierte er seine kulturpolitischen Schrittmacher- Aktivitäten des Vorjahres zwischen beiden Ländern. Er bezog sich nunmehr auch auf die im preußischen Kulturministerium 1924/ 25 in Gang gesetzte Reform des Neusprachlichen Unterrichts, die mit der „Kulturkunde“-Konzeption die Einführung in den „Geist“ des Nachbarlandes zum Programmsatz u.a. für den Französisch-Unterricht erhob. 28 In den einleitenden Überlegungen zu den „Neuen Aufgaben der Frankreicherkenntnis“ forderte Grautoff, nach Locarno die „Rolle und die Aufgaben der Mittler neu zu präzisieren“. Er schlug vor, als ersten praktischen Schritt zur Bewältigung dieser neuen Aufgaben ein „Frankreich-Jahrbuch“ zu veröffentlichen, „das nicht philologisch, sondern kulturkundlich Materialien“ aufbereite; als anschließenden zweiten Schritt propagierte er die Gründung eines „Frankreich-Instituts“, in dem eine Materialsammlung angelegt werden müsse, „aus der alle Frankreichdeuter schöpfen und auf die sie sich stützen können“. 29 Als Grautoff diese Vorschläge Anfang August 1926 formulierte, hatte er bereits zahlreiche Gespräche geführt, um die personelle, finanzielle und institutionelle Absicherung einer Zeitschrift zu prüfen, die anfänglich noch den Namen „Frankreich. Monatshefte für das französische Geistesleben der Gegenwart“ tragen sollte. Diese Monatsschrift sollte neben den romanistischen Fachzeitschriften eine Lücke füllen, indem sie ein größeres an Frankreich interessiertes Leser-Publikum ansprechen und „im kulturkundlichen Sinne den Frankreichstudien einen Sammelpunkt schaffen“ 30 sollte. Das geplante Periodikum sollte entschieden gegenwartsorientiert sein und „ohne Ansehen der Partei“ all diejenigen als Mitarbeiter zusammenführen, die „ein aufrichtiges und ernstes Interesse daran haben, in das Frankreich der Gegenwart einzudringen, französische Denkart in Ethik, Philosophie, Politik, Wirtschaft und Kunst verstehen zu lernen“. 31 Als Modell für die Gestaltung der Zeitschrift orientierte sich Grautoff teilweise an der „Revue Germanique“, die als Publikationsorgan der französischen Germanisten seit rund zwei Jahrzehnten erschien. 32 Sie erschien ihm aber trotz ihrem thematisch weiteren Spektrum (im Vergleich mit den deutschen Romanistik-Zeitschriften) noch zu sehr im engeren Sinne Fachzeitschrift zu sein. Organisatorisch getragen werden sollte das Frankreich- Periodikum von einer Gesellschaft der deutsch-französischen Rundschau 28 Cf. dazu Gerhard Bott: Deutsche Frankreichkunde 1900-1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag, Rheinfelden 1982, bes. Bd. 1, p. 40sq. 29 Grautoff (wie Anm. 21), p. 9. 30 DFG im PA/ AA, Bd.I, H 022794. 31 DFR, Jg. 1928, Heft 1: „Wille und Ziel“. 32 Ein Kurzporträt der von Félix Piquet in Lille herausgegebenen "Revue Germanique" in: Grautoff (wie Anm. 21), p. 181. <?page no="118"?> 118 (wie der definitive Zeitschriften-Titel dann hieß), durch deren Ausschüsse sich der Initiator der Zeitschrift der moralischen und finanziellen Unterstützung einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen versichern wollte. Die Liste solcher Gruppen, mit der Grautoff Mitte 1926 auftrat, umfasste namhafte Romanisten (u.a. Leo Spitzer, Eugen Lerch, Victor Klemperer, Ernst Robert Curtius), Kunsthistoriker, „katholische Gelehrte“ (u. a. Carl Sonnenschein, Hermann Platz), Schriftsteller (u. a. Thomas Mann, Jakob Wassermann, René Schickele, Stefan Zweig, Otto Flake, Heinrich Eduard Jacob, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Kerr), Journalisten (u. a. die Chefredakteure der „Vossischen Zeitung“, der zentrumsnahen „Germania“ und des „Berliner Tageblatt“) und schließlich Vertreter der Großindustrie und des Bankwesens. 33 Diese Liste und die in ihr aufgeführten Namen gingen eher auf Grautoffs Wunschdenken als auf tatsächlich bereits getroffene Absprachen zurück, aber sie erfüllten den Zweck, das Interesse des Auswärtigen Amtes an dem Zeitschriftenprojekt zu wecken. Es fand punktuell die Unterstützung und Befürwortung einzelner Ministerialbeamter, vor allem aus der Berliner Wilhelmstraße. So wurde z.B. in einer Stellungnahme aus dem Presseamt der Reichsregierung Ende September 1926 geltend gemacht: „Wenn die politische Entwicklung zu einer deutsch-französischen Verständigung auf breiter Basis führen soll, so ergibt sich daraus notwendig, dass die beiden Völker in Zukunft, eben um diese Verständigung auch geistig zu unterbauen, sich gegenseitig, wenigstens in ihren politischen und wirtschaftlichen führenden Schichten, mehr als bisher verstehen lernen müssen“. 34 Ähnlich wie von Grautoff wurde in der Stellungnahme auf den Mangel an Informationen über Frankreich außerhalb der künstlerischen Gebiete hingewiesen, die in Deutschland seit jeher starke Aufmerksamkeit gefunden hätten. Das Auswärtige Amt zögerte allerdings eine offizielle und eindeutig befürwortende Stellungnahme noch eine ganze Weile hinaus. Grautoff hatte um eine indirekte Befürwortung seines Projekts gebeten, um unter Berufung auf das wohlwollende Interesse der Wilhelmstraße seine Werbung bei den in Aussicht genommenen gesellschaftlichen Gruppen mit Erfolg fortsetzen zu können. 35 Frühe Resonanz fand er 1926 aus dem Bereich der Elektroindustrie (AEG) und der öffentlichen Verwaltung. Der erste Politiker aus dem Bereich der Gebietskörperschaften, der beim Auswärtigen Amt Erkundigungen einholte zu Grautoffs Plänen, war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. 36 Im Außenministerium argwöhnte man, das Grautoff-Projekt sei unmittelbar von der französischen Botschaft ge- 33 DFG im PA/ AA, Bd. 19 H 022798. 34 DFG im PA/ AA, Bd. L „Aufzeichnung über den Plan einer Zeitschrift für Frankreich- und Deutschlandstudien“, H 022789sq. 35 Z. B. DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022783sq.: Brief Grautoffs vom 7. 8.1926. 36 Brief Adenauers vom 4.10.1926 in: DFG im PA/ AA, Bd. li, H 022811. <?page no="119"?> 119 steuert, 37 und man insistierte darauf, das Prinzip der Gegenseitigkeit müsse gewahrt bleiben. Das hieß konkret, dass im Falle der Gründung einer Frankreich-Zeitschrift in Berlin eine vergleichbare französische Zeitschrift über Deutschland in Paris lanciert werden müsse. Auf diese Anregung ging Grautoff bereitwillig ein, und er fuhr Ende November 1926 auf Kosten des Auswärtigen Amtes für drei Wochen nach Paris, um dort die Voraussetzungen für eine parallele Zeitschriften-Gründung zu erkunden. Aufgrund seiner langjährigen Pariser Kontakte war er in kürzester Zeit namentlich im Quai d'Orsay erfolgreich, indem er allerdings den Stand der Meinungsbildung im Berliner Ministerium und den Stand der Unterstützungszusagen von den gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland günstiger darstellte, als dies den Tatsachen entsprach. 38 In einem Bericht Grautoffs von seiner Paris-Reise, der Mitte Dezember 1926 im Auswärtigen Amt einging, 39 gab er den Eindruck vorbehaltloser Zustimmung im Quai d'Orsay wieder, wo er vor allem mit dem Pressechef Jean Giraudoux und dem zuständigen Referenten Jean Mistler die erforderlichen Gespräche geführt hatte. Für die Konstituierung eines Komitees, das für die neue Zeitschrift in Paris die gleiche Funktion haben sollte wie die Gesellschaft der deutschfranzösischen Rundschau für die Berliner Publikation, behauptete Grautoff, neben einem halben Dutzend Universitäts-Germanisten (ihnen allen voran den Sorbonne-Germanisten Henri Lichtenberger) gewonnen zu haben u. a.: André Siegfried, Paul Langevin, Paul Valéry, Paul Desjardins, Jean Schlumberger, Jules Romains und Comte Jean de Pange. Grautoff hielt sich bei dieser Auflistung ebensowenig mit Renommiereffekten zurück, wie er das in Paris mit den Listen illustrer Mitgliedernamen seiner Gesellschaft der deutsch-französischen Rundschau getan hatte. Er zögerte auch nicht, seine Argumente so zu wählen, wie sie ihm für die Verwirklichung seiner Pläne gerade opportun erschienen. So versuchte er z. B. Anfang Januar 1927 in einem Brief an den Reichsaußenminister Stresemann, 40 diesen für die doppelte Zeitschriftengründung zu gewinnen mit Argumenten, die bislang keine Rolle gespielt hatten. Die Befürwortung des Berliner Teilprojekts durch den Minister bei „den maßgebenden Finanz- und Wirtschafts- 37 Grautoff machte keinen Hehl aus seinen Kontakten zur französischen Botschaft in Berlin. Dort war sein Ansprechpartner Prof. Oswald Hesnard, der nach seiner Auskunft 1914 Lektor in Leipzig gewesen war, dann Rektor der Universität Dijon und gegenwärtig Mitarbeiter der französischen Botschaft. Zu Hesnard cf. die biographische Skizze von Jacques Bariéty: „Un artisan méconnu des relations francoallemandes: Le professeur Oswald Hesnard, 1877-1936“, in: Media in Francia. Recueil de mélanges offert à Karl Ferdinand Werner à l'occasion de son 65e anniversaire par ses amis et collègues français, Paris 1989, p. 1-18. Neuerdings Jacques Bariéty (ed.): A la recherche de la paix franco-allemande. Les carnets d’Oswald Hesnard 1919-1931, Strasbourg 2011. 38 So jedenfalls die Darstellung des deutschen Repräsentanten des Deutsch- Französischen Studienkomitees in Paris, Krukenberg, in einem Brief vom 17.12.1926; cf. DFG im PA/ AA, Bd. 19 H 022837sq. 39 DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022846sq. 40 DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022858sq. <?page no="120"?> 120 kreisen“ wollte er offenbar erzielen mit der Zusicherung, die Deutsch- Französische Rundschau werde sich nicht befassen mit der Kriegsschuldfrage, mit der Rheinland-Besetzung und mit Elsass-Lothringen. Auf die finanzielle Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der Pariser Zeitschriftengründung zielte sein Hinweis, diese diene ”letzten Endes der deutschen Kulturpropaganda“. Grautoffs Bemühungen um die Gründung neuer publizistischer Plattformen für die deutsch-französische Annäherung im Geiste des Vertrags von Locarno im Jahre 1926 waren gekennzeichnet ebenso durch Beharrlichkeit wie durch ein erhebliches Maß an Aplomb. Diese Verhaltensweisen und seine komplizierte Persönlichkeitsstruktur schufen ihm viele Gegner und erleichterten letztlich nicht das Gelingen des ehrgeizigen Unterfangens. Aber selbst seine Feinde anerkannten seine prozedurale Geschicklichkeit, und die ihm gelegentlich aus Kreisen der Ministerialbürokratie unterstellten Motive des Geltungs- und Gewinnstrebens erklären nicht hinlänglich sein dauerhaftes Engagement. Für die Entstehungsgeschichte der DFG war im Jahre 1927 ausschlaggebend, dass es der Gesellschaft der deutsch-französischen Rundschau, die seit Anfang Oktober 1926 als eingetragener Verein existierte, nicht gelang, die finanzielle Unterstützungszusage der Repräsentanten des Industrie- und Finanzkapitals im Deutschen Reich zu erreichen. Während das Zeitschriften-Projekt in Paris mit nachdrücklicher politischer Förderung durch das dortige Außenministerium gut vorankam und schließlich aufgrund der Abonnement-Zusicherung für ein Drittel der geplanten Auflage von 3000 Exemplaren seitens des deutschen Auswärtigen Amtes auch finanziell lebensfähig war, setzte in Deutschland ein zähes Ringen ein um die wirtschaftliche Fundierung der Deutsch-Französischen Rundschau. Das Frankreich-Referat in der Berliner Wilhelmstraße schätzte das Gesamtprojekt der deutsch-französischen Zeitschriften-Gründung im Laufe des Jahres 1927 zunehmend positiver ein. Es lehnte jedoch kategorisch ab, die deutsche Frankreich-Zeitschrift materiell oder durch offensive Werbung zu unterstützen, sondern war allenfalls bereit, sie moralisch zu fördern, indem es sein Wohlwollen signalisierte, den gesellschaftlichen Gruppen aktive Förderung nahelegte und für das Eröffnungsheft einen Beitrag von Außenminister Stresemann in Aussicht stellte. Die vom Auswärtigen Amt empfohlene Förderung durch die kapitalkräftigen Repräsentanten von Industrie, Handel und Banken blieb aus und verzögerte so im Laufe des Jahres den Start der Deutsch-Französischen Rundschau. Die Ursache dafür war, dass die deutsche Gruppe des Mayrisch-Komitees am 6.2.1927 beschlossen hatte, dem Gesamtprojekt seine Unterstützung zu verweigern, da es ihr personell und geschäftlich keine Gewähr für das Gelingen und für einen sinnvollen Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung zu bieten schien. 41 Trotz mehrfachen Intervenierens des Grafen Bassenheim von der 41 Brief Alfred von Nostitz-Wallwitz vom 9.2.1927 an das AA: DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022907. <?page no="121"?> 121 Frankreich-Abteilung des Auswärtigen Amtes blieb das Deutsch-Französische Studienkomitee bei seiner ablehnenden Haltung, der sich im Laufe des Jahres die Vertreter des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, der Deutschen Bank und selbst der AEG, die anfänglich Interesse bekundet hatte, anschlossen. Der Sprecher der deutschen Gruppe des Mayrisch- Komitees Alfred von Nostitz-Wallwitz schrieb am 2.12.1927 an das Ministerium in der Wilhelmstraße, man habe gerade mit großer Mehrheit beschlossen, jegliche Unterstützung eines Zeitschriftenunternehmens abzulehnen, und man habe sich auch nicht auf eine einmalige Subvention als Starthilfe verständigen können. 42 Wenige Tage später bestätigte dann auch noch einmal der Vertreter des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, man könne an der Beschlussfassung des Mayrisch-Komitees nicht vorbeigehen, und letztlich sei das bilaterale kulturpolitische Projekt eine „Angelegenheit, die für die Industrie nur an der Peripherie ihres Interesses“ 43 liege. Dieses endgültige Scheitern der Versuche, mit Hilfe des Auswärtigen Amtes die wirtschaftlich Mächtigen in das kulturpolitische Projekt zwischen Deutschland und Frankreich einzubeziehen, veranlasste dessen Befürworter allen Anzeichen nach, vor allem auf den größeren Kreis der kulturell Interessierten im Deutschen Reich für die Verwirklichung der gesteckten Ziele zu setzen. Diese Veränderung in der Planung des ersten breitenwirksamen kulturpolitischen Unternehmens zwischen Deutschland und Frankreich hatte zur Folge, dass die anfänglich als Hilfsorgan für das Sammeln von Geldressourcen geplante Gesellschaft der deutsch-französischen Rundschau eine neue Funktion erhielt. Ende 1926 sahen die mit der Vereinsgründung verbundenen Texte vor allem die Repräsentanz namhafter „Persönlichkeiten der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kreise“ vor und daneben im breiteren Rahmen lediglich in Berlin und Paris jährlich sechs Vortragsabende. 44 Als sich 1927 die Schwierigkeiten häuften bei der Finanzbeschaffung für die deutsche Seite des Projekts, fand Grautoff Berater im Umkreis der Berliner Industrie- und Handelskammer, die sich Ende März 1927 als „Vorbereitender Ausschuss des Präsidiums der Gesellschaft der deutsch-französischen Rundschau“ konstituierten. 45 Dieser zweite Organisationsversuch des Vereins erreichte sein Ziel der finanziellen Konsolidierung der Zeitschriften-Gründung nicht, und die Beteiligten gaben ihre Verantwortung im Dezember 1927 an Grautoff zurück. In dieser Situation, als rund 18 Monate intensiver Arbeit für das deutsch-fran-zösische Gemeinschaftwerk zu scheitern drohte, konstituierte sich Ende Dezember 1927 der Verein neu unter dem Namen Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG). Er war nunmehr vorwiegend auf die Gunst des Auswärtigen Amtes 42 DFG im PA/ AA, Bd. II, H 023176. 43 Brief vom 5.12.1927 an das AA; cf. DFG im PA/ AA, Bd. II, H 023178. 44 DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022797; anfänglich war die Zusammenarbeit mit einer Société du Rapprochement pédagogique franco-allemand in Paris vorgesehen. 45 Cf. DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022955sq. <?page no="122"?> 122 und die ebenso schnelle wie umfassende Werbung von Mitgliedern und damit Abonnenten für die Deutsch-Französische Rundschau angewiesen. 3. Die Expansion der Deutsch-Französischen Gesellschaft im Zeichen der Locarno-Politik bis 1930 Beide Voraussetzungen für die Verwirklichung der deutschen Seite des bilateralen kulturpolitischen Projekts, das wohlwollende Interesse des Auswärtigen Amtes und die positive Resonanz in den breiteren gesellschaftlichen Kreisen jenseits der sozioökonomischen Machteliten, verbesserten sich von Ende 1927 bis in die zweite Jahreshälfte 1930 zusehends, obwohl auf der politisch-diplomatischen Ebene in diesen Jahren sich bereits die Schwierigkeiten der Locarno-Politik häuften. 46 Diese günstige organisatorische Entwicklung der DFG ermöglichte es der Vereinigung jedoch selbst in dieser Periode nicht, ohne massive Finanzhilfe einzelner Industrie- und Bank-Gruppen auszukommen und eine solide eigene wirtschaftliche Grundlage zu erlangen. Insgesamt zeigten die bilateralen Vereinsgründungen in beiden Ländern während dieser Jahre eine bemerkenswerte Eigendynamik. Unabhängig von ihrer kulturpolitischen Instrumentalisierung durch die Außenministerien weiteten sie sich über die Hauptstädte hinaus aus, bauten ein dichtes personelles und publizistisches Kommunikationsnetz auf und wurden zu Ausgangsbasen und Koordinationszentren kultureller und gesellschaftlicher Begegnungsaktivitäten. Das wachsende Interesse der Frankreich-Abteilung des Auswärtigen Amtes am gedeihlichen Fortgang der DFG war seit 1927 durch mindestens drei Umstände bedingt. Zum einen hatten die schnellen Fortschritte beim Aufbau der in Paris erscheinenden französischen Deutschland-Zeitschrift Revue d'Allemagne einen Zugzwang geschaffen, dem man seitens der deutschen Diplomatie nicht ausweichen konnte, ohne das gesamte kulturpolitische Projekt in Frage zu stellen. Zum anderen hatte man besonders mit der Einsetzung des Stresemann-Vertrauten Dr. Edgar Stern-Rubarth als Generalsekretär der DFG eine engere Anbindung des Vereins an die offizielle Außenpolitik ermöglicht. Und schließlich setzte man in der Frankreich- Abteilung des AA die Hoffnung darauf, dass die unter diesen Umständen übernommenen finanziellen Verpflichtungen in dem Maße wieder abgegeben werden konnten, wie die DFG sich konsolidierte und mit eigenen Mitteln arbeitete. Die Tatsache, dass seit Anfang November 1927 in Paris die Revue d'Allemagne zu erscheinen begann, war ein wichtiger Anstoß für den Schritt ins Ungewisse, den die Initiatoren der DFG schließlich unternahmen mit der finanziell unzureichend gesicherten Herausgabe der Deutsch-Französischen Rundschau (DFR) seit Anfang 1928. Da zumal die 46 Cf. dazu detailliert: Franz Knipping: Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno- Ära 1928-1931, München 1987. <?page no="123"?> 123 zuständigen Ministerialbeamten in der Wilhelmstraße ein erklärtes Interesse an der Pariser Zeitschrift hatten, die sie als Medium kulturell-werbender Selbstdarstellung Deutschlands in Frankreich auffassten, sahen sich die Initiatoren der DFG ermutigt, den Schritt zur Gründung der Berliner Frankreich-Monatsschrift zu unternehmen. Sie taten das offenbar in der Erwartung, dass das vereinbarte Prinzip der Gegenseitigkeit nach dem Vorpreschen der französischen Seite mit der Veröffentlichung der Revue d'Allemagne sich nunmehr zugunsten der deutschen Zeitschriftengründung auswirken werde. Grautoff traktierte gegen Ende 1927 das AA mit (teilweise wohl bestellten) besorgten Rückfragen aus Paris nach dem Erscheinungsdatum des deutschen Gegenstücks zur Revue d'Allemagne; und er versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass dessen Ausbleiben in Frankreich als unfreundlicher Akt und als atmosphärische Störung in den deutsch-französischen Beziehungen angesehen werde. Die Frankreich- Abteilung des AA entsprach den vom DFG-Vorstand gehegten Hoffnungen weitgehend, nachdem im Januar 1928 das erste Heft der DFR erschienen war. Sie empfahl im Februar 1928 ein Pauschal-Abonnement von 300 Exemplaren der DFR mit der Begründung, es scheine nach dem Förderungs-Abonnement von 1000 Exemplaren auf die Revue d'Allemagne „angebracht, das korrespondierende Unternehmen ‚Deutsch-Französische Rundschau’ nicht fallen zu lassen“. 47 Man könne dies umso weniger, weil man sich bei Wirtschaftsverbänden und Privatpersonen für das Zustandekommen der deutschen Revue ausgesprochen habe und daher nun auch versuchen müsse, das Unternehmen lebensfähig zu halten. Dieses Förderer-Abonnement der DFR durch das Auswärtige Amt wurde bis zum Ende der Zeitschrift 1933 ein Objekt ständigen Verhandelns zwischen DFG und AA. Das Abonnement wurde schließlich schrittweise bis zur ökonomischen Bedeutungslosigkeit reduziert, als die Finanznot der DFG chronisch zu werden begann. Die anfängliche Hilfe des Ministeriums für die Realisierung des deutschen Teils des bilateralen Zeitschriften-Projekts wurde mit großer Wahrscheinlichkeit erleichtert aufgrund der Übernahme einer zentralen Vorstandsposition in der DFG durch einen engen und langjährigen Gefolgsmann des Reichsaußenministers Stresemann, nämlich durch Edgar Stern- Rubarth (1883-1972). Stern-Rubarth brachte nach Herkunft, Kenntnissen und Neigungen die besten Voraussetzungen mit für eine Vermittlerfunktion in dem Projekt zur politischen und zur ökonomischen Seite hin. 48 Er war Spross einer wohlhabenden Frankfurter Industriellen-Familie mit musischen und kosmopolitischen Neigungen. Er war zweisprachig aufgewachsen und hatte einen Teil seines Studiums der Nationalökonomie, der Philologie und der Geschichte in der Vorkriegszeit in Paris verbracht. Er hatte 47 DFG im PA/ AA, Bd. II, H 023192sq. 48 Zum Folgenden cf. seine Memoiren: Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet...Ein Leben für Presse und Politik, Stuttgart 1964. <?page no="124"?> 124 schriftstellerisch (ähnlich wie Grautoff) u. a. in der Münchener „Jugend“ und im „Simplizissimus“ debutiert, hatte sich im literarisch-künstlerischen Milieu im Frankfurt/ Main und Paris der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg bewegt 49 und stand seit 1905 mit Gustav Stresemann in Kontakt. Nach dem Weltkrieg profilierte er sich als (wirtschafts-)politischer Autor 50 und beteiligte sich an der Wahlkampfagitation für die Deutsche Volkspartei (DVP) Stresemanns. Er wurde Chefredakteur der Nachrichtenagentur des Reiches W.T.B. (Wolffs Telegraphisches Büro) und Herausgeber der Deutschen diplomatisch-politischen Korrespondenz. Stern-Rubarth hatte als einer der ersten Publizisten in Deutschland eine Studie verfasst über die Möglichkeiten der politischen Propaganda, in der er die entsprechenden Methoden und Erfahrungen der national-kulturellen Außendarstellung anderer Staaten (u. a. Frankreichs) zusammenfasste. 51 Wirtschafts-politisch galt sein dauerhaftes Engagement der Herbeiführung einer europäischen Zollunion; er war 1925 Gründungsmitglied des Comité international d'union douanière européenne und seit 1926 Leiter der deutschen Landesgruppe dieses Europäischen Zoll-Vereins. 52 Stern-Rubarth war nicht nur an allen wichtigen Vorstandssitzungen der DFG beteiligt, sondern auch Mitherausgeber der DFR und einer ihrer beständigsten Mitarbeiter. 53 Die beifällig zur Kenntnis genommene gute Qualität der ersten Hefte der DFR und die Platzierung eines politischen Insiders der Stresemann- Administration im Vorstand der DFG bewogen das Auswärtige Amt schließlich, auch die deutsche Frankreich-Zeitschrift zu subventionieren durch ein Pauschal-Abonnement, solange diese nicht aufgrund des Regel- Abonnements der DFG-Mitglieder und durch Spenden der Wirtschaftsvertreter selbständig manövrierfähig war. Während von der Revue d'Allemagne 1928 bis 1930 für jeweils 12.000,00 RM ein Drittel der Gesamtauflage durch das AA angekauft und kostenlos weitergegeben wurde, bewegten sich die Zuschüsse des Außenministeriums für die DFR von Anfang an auf einem niedrigeren Niveau. Die Zahl der abonnierten DFR- 49 Im Jahre 1898 erstmals in Frankreich, hielt er in der Vorkriegszeit in Paris Kontakte zu den Kreisen um Romain Rolland und Anatole France. 50 Er hatte vor seiner Tätigkeit in der DFG u.a. veröffentlicht: Die Duchesse de Duras (1916); Die Propaganda als politisches Instrument (1921); Der Friedensvertrag in Stichworten (1922). Später erschienen dann: Graf Brockdorff-Rantzau. Wanderer zwischen zwei Welten (1929); Gustav Stresemann. Der Europäer (1929). In der englischen Emigration geschrieben und mit stark autobiographischen Zügen: Drei Männer suchen Europa. Briand, Chamberlain, Stresemann, München 1947 (2. Aufl. 1948). 51 Edgar Stern-Rubarth: Die Propaganda als politisches Instrument, Berlin 1921, zu Frankreich dort p. 29-52. Er stellte (p. 29) fest, Frankreich habe „wohl zuerst im breitesten Umfang jene Minierarbeit geistiger Art betrieben, die planmäßig im Dienste und unter der Anleitung der politischen Führung des Landes angelegt, den Namen Propaganda in unserem Sinne verdient.“ Cf. zu dieser Schrift auch Düwell (wie Anm. 2) p. 48. 52 Cf. dazu die Skizze in: Frommelt (wie Anm. 11), p. 24sq. und 102sq. 53 Er emigrierte 1936 nach London. Cf. zur Biographie unten, Kapitel VI dieses Buches. <?page no="125"?> 125 Exemplare war: April-Juni 1928: 200, Mai 1928-Februar 1930: 300, April 1930-Juni 1931: 50, Juli 1931-März 1933: 40. 54 Nach dem in diesen Jahren recht intensiven Schriftverkehr zwischen der Frankreich-Abteilung und Grautoff zu urteilen, diente diese Unterstützung dem AA bis Mitte 1930 nicht als Ermächtigung für die Intervention in die Redaktion der Zeitschrift. Die bis 1930 stetig wachsende Zahl der DFG-Mitglieder und die Unterstützung des AA reichten nicht aus, um die Kosten der Zeitschrift und des Vereins zu decken. Das französische Außenministerium fand sich lediglich bereit, für 1928 von jeder Nummer der DFR 20, 1929 60 und schließlich 100 Exemplare zu übernehmen. Einen Einblick in die Herkunft der ergänzenden finanziellen Ressourcen, die von Wirtschaftsunternehmen im Deutschen Reich zur Verfügung gestellt wurden, gibt der Haushaltsplan der DFG/ DFR für 1929. Etwa die Hälfte der anfallenden Kosten hoffte man, durch die Mitglieder-Beiträge einzunehmen. Die andere Hälfte schien durch die folgenden Zahlungen und Zahlungszusagen gesichert zu sein: Dr. Vielmetter, Generaldirektor der Knorrbremse RM 5 000,00 Dr. Meinhard, Generaldirektor der Osramwerke RM 2 000,00 Deutsch-Französisches Studienkomitee RM 2 000,00 Curt Sobernheim, Commerz- und Privatbank RM 3 000,00 Jakob Goldschmidt, Darmstädter u. Nationalbank RM 3 000,00 Herbert Gutmann, Dresdner Bank RM 3 000,00 Gustav Winkler, (Berliner Textilindustrieller) RM 5 000,00 Auswärtiges Amt RM 4 000,00 55 Die Hilfe durch das Mayrisch-Komitee, bzw. Deutsch-Französische Studienkomitee, die hier auftaucht, war ein einmaliger Ausnahmefall. Sie war zustande gekommen, nachdem der offenbar sehr einflussreiche Repräsentant der Dresdner Bank in Berlin, Gutmann, in einer vom AA einberufenen Besprechung am 25.10.1928 56 angekündigt hatte, er werde notfalls Druck ausüben auf das Mayrisch-Komitee. Nach seiner Vorstellung sollte die DFR von der DFG getrennt und der Patronage des Mayrisch-Komitees unterstellt werden. Die entsprechenden Gespräche wurden über mehrere Monate hin geführt, blieben jedoch ohne Erfolg. Es kam zur gelegentlichen Mitarbeit führender Mitglieder des Mayrisch-Komitees in der DFR, 57 aber die Gegensätze zwischen beiden deutsch-französischen Vereinigungen 54 Cf. DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 24195sq. 55 DFG im PA/ AA, Bd. III H 023394. 56 Das Protokoll der Besprechung in: DFG im PA/ AA, Bd. III, H 023312sq. 57 Z. B. erschienen Beiträge von Ernst Robert Curtius und Henri Lichtenberger, beide Mitglieder des Mayrisch-Komitees; ausnahmsweise auch einmal ein Sitzungsbericht des deutschen Vorsitzenden des Komitees: Alfred von Nostitz-Wallwitz: „Die Pariser Tagung des Deutsch-Französischen Studienkomitees“, in: DFR, Jg. 1929, p. 219sq. <?page no="126"?> 126 blieben unüberwindbar. 58 Sie waren, sofern die Schwierigkeiten der DFG durch organisatorische Konflikte bedingt waren, eine der Hauptursachen für die ausbleibende Festigung des Vereins im Übergang zu den dreißiger Jahren. Einstweilen schritt die organisatorische Ausweitung der DFG, auf die sich die Erwartungen des AA hinsichtlich ihrer geschäftlichen Selbstregulierungsfähigkeit bezogen, in den Jahren 1928 bis 1930 kräftig voran. Zumindest für diese Zeit trifft die rückblickende Beschreibung Stern-Rubarths der lebhaften Fortschritte und Aktivitäten der DFG zu: „Sehr bald entfaltete diese Organisation, der auf beiden Seiten alles, was Rang und Namen hatte, angehörte, eine rege Tätigkeit. Zwei anspruchsvolle, literarischpolitische Monatsschriften erschienen: die Deutsch-französische Rundschau hier, die Revue d'Allemagne dort, in der neben unseren eigenen wertvolle Beiträge aller politischen und geistigen Größen beider Länder veröffentlicht wurden. Fast allmonatlich trat in Berlin irgendein großer Franzose - Dichter, Staatsmann, Beamter, Künstler - im Rahmen glanzvoller Veranstaltungen im Hotel Esplanade als Redner auf, und Zweigorganisationen in anderen Großstädten trugen die Bewegung über das ganze Land“. 59 War der französische Partner mit der Lancierung der Revue d'Allemagne im Herbst 1927 vorangeschritten im Rahmen des zweiseitigen kulturpolitischen Gesamtprojekts, so kam nunmehr die Initiative für den Ausbau einer organisatorischen Basis für das Verständigungsunternehmen von dessen aktiven deutschen Befürwortern. Nach der Umbenennung des Berliner Fördervereins für die DFR Ende 1927 in Deutsch-Französische Gesellschaft, fand bereits am 12.1.1928 deren erste ordentliche Mitgliederversammlung statt. Grautoff gab einen Überblick über die anderthalbjährige Vorgeschichte der DFG, die getragen worden sei von dem „Gemeinschaftsgefühl einiger Franzosen und Deutschen“. 60 Er wurde zum Ersten geschäftsführenden Vorsitzenden der DFG gewählt und widmete sich nunmehr hauptberuflich der Tätigkeit als Herausgeber der DFR und seiner neuen organisatorischen Funktion. In Wahrnehmung dieser Funktion bemühte er sich im Laufe dieses und der folgenden Jahre eingehend um die Gründung von Deutsch-Französischen Gesellschaften in Großstädten außerhalb Berlins. Ende Januar 1928 hielt er einen werbenden Vortrag in Hamburg. Dort war kurz zuvor, am 13.04.1927, eine Deutsch-Französische Gruppe e.V./ 58 Und zwar sowohl aufgrund der nicht die Öffentlichkeit suchenden Arbeitsweise des Mayrisch-Komitees, wie auch aufgrund der vorwiegend großindustriellen und aristokratischen Zusammensetzung seiner Mitglieder. 59 Stern-Rubarth: (wie Anm. 48) p. 211; cf. auch ders.: Drei Männer suchen Europa (wie Anm. 50), p. 156sq. 60 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 174sq. <?page no="127"?> 127 Groupe Franco-Allemand gegründet worden 61 . Sie war zustande gekommen durch eine Initiative aus dem Umkreis des französischen Konsulats, der Kaufmannschaft und des Bildungsbürgertums. Ihre Satzung nannte (§ 2) als Zweck der Vereinsgründung, „unter Ausschaltung aller politischen und religiösen Bestrebungen einen Sammelpunkt für alle zu bilden, die an der Kultur der beiden Völker, des deutschen und französischen, oder an ihrer geistigen Annäherung Interesse haben“. 62 Grautoff nahm mit der ihm eigenen Neigung, das Ergebnis im Fluss befindlicher Dinge in der positiven Version vorwegzunehmen, die Hamburger Vereinigung bereits als Ortsgruppe der DFG in Anspruch. 63 Die Deutsch-Französische Gruppe e.V. beschloss jedoch in einer Generalversammlung am 21. 06. 1928, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Sie begrüßte die „gleichgerichteten Bestrebungen der DFG Berlin“. Sie hielt es jedoch für „unzweckmäßig“ dieser Gesellschaft als Ortsgruppe beizutreten: „Die Gruppe will als Mitglied corporativ der Gesellschaft beitreten, und will diese auch den Mitgliedern bestens empfehlen“. 64 Sie blieb in der Folgezeit über Einzelpersonen, wie den Hamburger Hochschul-Romanisten Walter Küchler, oder durch Referenten der DFG und deren Pariser Partner in Kontakt mit der Gesamtorganisation, existierte dann aber tatsächlich bis zu ihrer Auflösung am 31.07.1934 selbständig weiter. Sie hielt auch Verbindungen zum Mayrisch-Komitee. Das ausschlaggebende Motiv dafür, sich nicht allzu eng mit der DFG zu identifizieren, lag mit großer Wahrscheinlichkeit darin, dass sich die Gruppe eher gesellig-kulturellen als kulturell-politischen Zielen verpflichten wollte. 65 Einen stärker intellektuellen und politischen Zuschnitt wiesen im Vergleich mit Hamburg die Gründerpersönlichkeiten der DFG-Ortsgruppe in Frankfurt/ Main auf. Hier fand am 03.11.1928 in den Räumen des Clubs für Handel, Industrie und Wissenschaft die Gründungsversammlung der DFG-Ortsgruppe statt. Otto Grautoff akzentuierte in seinem Standardvortrag „Die Deutsch-Französische Gesellschaft im Rahmen der deutschfranzösischen Beziehungen“ besonders die geographische und politische Sonderstellung Frankfurts zwischen Deutschland und Frankreich: Die Stadt sei „viel mehr als Berlin stets die Vermittlungszentrale“ zwischen beiden Ländern gewesen. Ihre Bewohner, „deren Heimatgeschichte und Familientradition mit republikanischer, mit demokratischer Gesinnung genährt wurde“, sei prädestiniert, „gerade die Werte zu erkennen, die im 61 Dazu eingehend: Ute Primavesi: Die Deutsch-Französische Gesellschaft ‚Cluny’ in Hamburg. Zur Geschichte und Funktion einer Verständigungsorganisation, Diplom-Arbeit Kassel, 1989, p. 14-50. 62 Ibid., p. 16. 63 So z.B. im Briefkopf der DFG-Korrespondenz. 64 Primavesi (wie Anm. 61), p. 20. 65 Es mag auch der Vorbehalt gegen die Persönlichkeit Otto Grautoffs eine Rolle gespielt haben. <?page no="128"?> 128 Kulturaustausch mit unserem westlichen Nachbarn liegen“. 66 Die Frankfurter DFG-Ortsgruppe wählte den ortsansässigen Oberstudiendirektor Dr. Richard Oehlert und den Soziologen Dr. Gottfried Salomon von der Frankfurter Universität zu ihren Vorsitzenden. Die zwischen Ende 1928 und Ende 1930 in der Ortsgruppe eingeschriebenen DFG-Mitglieder kamen überwiegend aus Unternehmerkreisen im Banken- und Industriegewerbe und aus dem Universitäts- und Schulbereich. 67 Die Frankfurter DFG wurde neben Berlin zur aktivsten lokalen Sektion der DFG, und sie war ihr - wie noch zu zeigen sein wird 68 - hinsichtlich der konzeptionellen und intellektuellen Seite der deutsch-französischen Verständigungsarbeit überlegen. Im Jahre 1929 wurde die Gründung von DFG-Ortsgruppen in Mannheim, Köln und Stuttgart vermeldet. 69 Für die Art der Anbahnung solcher lokaler DFG-Gründungen war die Kontaktnahme mit den örtlichen Notabeln die Regel, von denen man wusste oder annehmen konnte, dass sie für das Ziel deutsch-französischer Verständigung ansprechbar waren. Die Konstituierung von DFG-Zweigorganisationen war somit typischerweise eine „Gründung von oben“. In Frankfurt/ Main hatte der Oberbürgermeister (Dr. Landmann) maßgeblich Anteil an der DFG-Gründung. Im Jahresbericht der DFG für 1929 hieß es, die Oberbürgermeister von Frankfurt/ Main, Köln und Mannheim seien in das Präsidium der DFG eingetreten und dies sei ein Zeichen dafür, „dass wir in diesen Städten Fuß gefaßt haben“. 70 Dafür, dass die „Gründungen von oben“ nur erfolgreich waren, wenn der über die Stadtverwaltung vermittelte Impuls von den gesellschaftlichen Gruppen aufgegriffen und in Initiativen für deutschfranzösische Begegnungen umgesetzt wurde, scheint Köln ein Beispiel zu sein. Nachdem der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer schon 1926 als möglicher Förderer der DFR angesprochen worden war, erkundigte er sich am 27.03.1928 erneut beim Auswärtigen Amt nach dessen Einschätzung der DFG, von der er zum Eintritt in die Gesellschaft aufgefordert worden war. 71 Das AA signalisierte Befürwortung, Adenauer wurde im Sommer 1928 ordentliches Mitglied und Ende 1928 in das Präsidium der DFG gewählt. 72 Die Resonanz in den gesellschaftlichen Gruppen in Köln blieb allerdings aus, und die DFG-Ortsgruppe Köln existierte vor al- 66 Gründungsberichte, in: Frankfurter Nachrichten, 5.11.1928: „Verständigung durch Arbeitsgemeinschaft. Gründung einer Ortsgruppe Frankfurt der DFG“; Frankfurter Zeitung, 4.11.1928: „Deutsch-Französische Gesellschaft“. 67 Dazu: Sabine Heimrich: Die Deutsch-Französische Gesellschaft in Frankfurt/ Main. Zur Geschichte und Funktion einer Verständigungsorganisation, Diplom-Arbeit Kassel, 1989, p. 50sq. 68 Cf. dazu unten den Abschnitt über die Verständigungs-Konzeptionen der DFG. 69 Cf. den Jahresbericht 1929 der DFG in: DFG im PA/ AA, Bd. III, H 023446. 70 DFG im PA/ AA, Bd. III, H 023446. 71 DFG im PA/ AA, Bd. II, H 023209sq. 72 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 634 und 969. Außer Adenauer waren die Oberbürgermeister von Frankfurt/ Main (Dr. Landmann), von Mannheim (Dr. Heimerich) und von Nürnberg (Dr. Luppe) Mitglieder des Präsidiums der DFG. <?page no="129"?> 129 lem auf dem Papier. 73 Einen besseren Start hatte die DFG in Mannheim, wo am 30.10.1929 mit einem Vortrag Grautoffs („Brücken zwischen Deutschland und Frankreich“) und einer Ansprache des Oberbürgermeisters (Dr. Heimerich) die lokale Zweigorganisation aus der Taufe gehoben wurde 74 und dann mit einer Reihe öffentlicher Veranstaltungen in Erscheinung trat. Im Jahre 1930 wurden noch drei neue Zweigorganisationen gegründet, von denen diejenige in Stuttgart sich nach Berlin und Frankfurt zur aktivsten Gruppe entwickelte. In Stuttgart war am 01. 11. 1929 ein Büro zur Vorbereitung der Gründung einer württembergischen Landesgruppe der DFG errichtet worden. Die besonders von dem Linoleum-Fabrikanten Richard Heilner/ Stuttgart-Bietigheim betriebene Konstituierung der Ortsgruppe fand in einer Großveranstaltung im „Haus des Deutschtums“ am 16.01.1930 statt. 75 Heilner beschwor die Notwendigkeit, im geistigen und kulturellen Bereich eine dauerhafte Grundlage in den deutsch-französischen Beziehungen aufzubauen, die von den Schwankungen und Unberechenbarkeiten der Politik unabhängig sei. Anschließend führten Otto Grautoff und der französische Deutschland-Spezialist Henri Jourdan eine Podiums-Diskussion über die Fragwürdigkeit wechselseitiger kollektiver Klischees in beiden Ländern, die von dem mehrere Hundert Menschen umfassenden Auditorium mit Beifall aufgenommen wurde. Im Anschluss an die Großveranstaltung wählten die über hundert Mitglieder der württembergischen DFG-Gruppe einen Vorstand, dem neben dem Industrieunternehmer Heilner, ein Bankvertreter, ein Studienrat und ein Universitätsprofessor angehörten. Die zweite Neugründung des Jahres 1930 einer lokalen DFG-Gruppe, die dann eine gewisse Eigendynamik an den Tag legte, fand am 18.02.1930 in Breslau statt. Dort lud ein Vorbereitender Ausschuss rund 200 „Damen und Herren, darunter Vertreter verschiedener lokaler Behörden“ 76 zu einem „Diskussionstee“ ein, der von einem Landgerichtsrat eröffnet wurde. Grautoff hielt wieder einmal sein Referat über die „DFG im Rahmen der deutsch-französischen Beziehungen“. In der Diskussion wurde das Problem entstellender Präsentation des Nachbarlandes in den Schulbüchern angesprochen, und es wurde auch gemahnt, sich den Franzosen „nicht aufzudrängen“. Als erster Vorsitzender der DFG-Ortsgruppe wurde der Romanist Prof. Dr. Fritz Neubert, als sein Stellvertreter ein Kommunalbeamter gewählt. Als letzte der DFG-Ortsgruppen entstand am 11. 12.1930 die Zweigorganisation in Nürnberg, die in den beiden folgenden Jahren noch eine bemerkenswerte Aktivität entfaltete. Der Grün- 73 In Köln sind nur 25 DFG-Mitglieder nachweisbar anhand der veröffentlichten Mitglieder-Listen. 74 DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023542, und DFR, Jg. 1929, p. 1074. Am 14.1.1930 hielt Henri Lichtenberger vor der DFG-Gruppe Mannheim einen Vortrag. Cf. DFR, Jg. 1930, p. 160sq. 75 Cf. DFR, Jg. 1930, p. 161sq. den Gründungsbericht; cf. auch DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023553 ein Bericht aus der Stuttgarter Presse. 76 Cf. DFR, Jg. 1931, p. 257sq. <?page no="130"?> 130 dungsbericht 77 verzeichnet „trotz der politisch bewegten Zeit und trotz der wirtschaftlichen Not“ eine große Beteiligung der Nürnberger Bevölkerung, besonders aus den Kreisen von Industrie und Handel, während die Lehrer bedauerlicherweise in geringerer Zahl erschienen seien. Die Tagung wurde eröffnet vom Oberbürgermeister (Dr. Luppe), der den parteipolitisch neutralen Charakter der DFG hervorhob. Grautoff wies auf das verstärkte französische Interesse an Deutschland seit Ende des Weltkrieges hin und forderte, „dass die alte französische und junge deutsche Demokratie sich verstehen lernen müssen um Europas willen“. Zum Vorsitzenden der Nürnberger DFG wurde der Oberbürgermeister gewählt, sein Stellvertreter war ebenfalls Kommunalbeamter. Mit diesen Vereinsgründungen der DFG schloss 1930 ihre Expansionsphase ab. Was bis dahin an Organisationsstrukturen und Kommunikationsnetzen aufgebaut worden war, geriet ab der zweiten Jahreshälfte unter den wachsenden und zweifachen Druck der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der Verschlechterung der politischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich. Außerhalb des Reichsgebiets gab es nominell eine DFG-Gruppe in Wien. Von ihr ist in allen erhaltenen Quellen fast nie die Rede, und es ist wahrscheinlich, dass sie im wesentlichen repräsentiert wurde vom DFR- Mitherausgeber und Wiener Korrespondenten des Berliner Tagblatt Heinrich Eduard Jacob. 78 In Frankreich erwies sich der Versuch, die Monatsschrift Revue d'Allemagne durch den Aufbau einer Société francoallemande in ihrer Arbeit zu unterstützen, als sehr schwierig. Zwar telegraphierte die deutsche Botschaft in Paris am 05.01.1929 nach Berlin, es habe sich dort Ende Dezember 1927 eine „französische Sektion der Deutsch- Französischen Gesellschaft“ gebildet, 79 deren Leitung der Zeitschriften- Herausgeber Maurice Boucher übernommen habe und der neben Universitätsprofessoren aus ganz Frankreich Schriftsteller wie André Gide und Jules Romains sowie Politiker (Anatole de Monzie u. a.) angehörten. Obwohl nach glaubhaften Berichten das Haus des Germanisten Boucher in Auteuil die Funktion eines deutsch-französischen Treffpunkts und Salons ausübte, zeigte dieser jedoch schon bald, dass er sich mit einer zusätzlichen organisatorischen Aufgabe überlastet fühlte. 80 Der deutsche Botschafter in Paris, Leopold von Hoesch, der im allgemeinen die Grautoffsche private Paralleldiplomatie in Kulturangelegenheiten eher als störend empfand, war sich in dem Wunsch nach dem Entstehen einer solchen Gesellschaft mit dem DFG-Gründer einig. Die Botschaft dachte dabei weniger an dessen Zielvorstellungen, sondern erwartete von einer solchen Vereinsgründung für ihre kulturellen Manifestationen in Frankreich „einen etwas dekorati- 77 DFR, Jg. 1931, p. 91sq.: „Gründung einer Ortsgruppe unserer Gesellschaft in Nürnberg“. 78 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 86. 79 DFG im PA/ AA, Bd. II, H 023187sq. 80 So ein Botschaftsbericht: DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023518sq. <?page no="131"?> 131 veren Rahmen“ als er bislang zur Verfügung stehe. 81 Die Ursache für das lustlose Betreiben einer Organisationsgründung als Pariser Gegenstück zur DFG sah die Botschaft in der französischen Abneigung gegen Vereinsleben jeglicher Art. Grautoff führte das schließliche Scheitern einer Société franco-allemande 1931 auf deren Verhinderung durch die nationalistische Presse in Paris zurück. 82 In dieser Annahme sah er sich bestätigt durch die überaus erfolgreiche organisatorische und publizistische Arbeit einer Vereinigung, die er außerhalb von Paris im Milieu der gymnasialen Deutschlehrer in Frankreich angeregt hatte. Es war die Ligue d'Etudes Germaniques (L.E.G.), die im April 1928 im Departement Yonne in Sens von einem mit Grautoff bekannten Deutschlehrer gegründet wurde, die schließlich weitestgehend die Funktionen einer Verständigungsorganisation übernahm. 83 Die L.E.G., die bis 1936 existierte und zeitweilig 20 Ortsgruppen in ganz Frankreich hatte, wies allerdings besonders in der Anfangszeit eine Komponente berufsständischer Interessenvertretung auf, die der DFG vollkommen fremd war. 84 Von ihren beiden Periodika diente die Zeitschrift „Se Connaître“ in erster Linie der Erörterung und dem Verständnis der aktuellen Vorgänge im Deutschen Reich, während die deutschsprachig redigierten „Deutschen Blätter“ ausschließlich dem Zweck der Unterrichts-Vorbereitung gewidmet waren. 4. Die Organisations-Strukturen und die Mitglieder- Rekrutierung der DFG Die reichsweite Verzweigung der DFG machte in den zweieinhalb Jahren ihrer Expansion von Ende 1927 bis Mitte 1930 durchaus eindrucksvolle Fortschritte. Sie blieb aber fragmentarisch, nachdem die ökonomischen, innen- und außenpolitischen Bedingungen ihres Erfolges ab der zweiten Jahreshälfte 1930 rapide zu schwinden begannen. Versucht man die Entwicklung der Deutsch-Französischen Gesellschaft historisch-soziologisch angemessen zu charakterisieren und einzuordnen, so ist zuerst festzustellen, dass durch ihre Ausdehnung über die Hauptstädte beider Länder hinaus das, was anfänglich als offiziöser Versuch deutsch-französischer Kulturpolitik begonnen hatte, sich schließlich in ein relativ dichtes gesellschaftliches Kommunikationssystem zwischen beiden Ländern transformierte. Die DFR wurde zum Öffentlichkeits-Forum dieses Kommunikationsverbunds. Alsdann ist festzuhalten, dass die lokalen deutsch-französischen Gesellschaftsgründungen der DFG und der L.E.G. als formali- 81 Ibid. Blatt 21. 82 Otto Grautoff: Franzosen sehen Deutschland. Begegnungen, Gespräche, Bekenntnisse, Leipzig 1931, p. 29. 83 Als zeitgenössische Darstellungen der L.E.G. cf. loc. cit., p. 29sq. und: A. Ravizé: „La Ligue d'Etudes Germaniques“, in: Revue d'Allemagne, Jg. 1930, p. 187sq. 84 Cf. dazu unten das Kapitel über die L.E.G. <?page no="132"?> 132 sierte Organisationen nur ein Teil umfassenderer bilateraler Organisations- und Interaktions-Strukturen waren. Und schließlich sind im Rahmen einer sozialgeschichtlichen Analyse der DFG deren soziologische Merkmale eingehender zu erörtern. Es ist bislang in der Erforschung der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit nicht hinreichend beachtet worden, dass die Locarno-Politik der späten zwanziger Jahre soziokulturelle Rückwirkungen in Deutschland und in Frankreich hervorbrachte und gesellschaftliche Kommunikationsstrukturen ermöglichte, die die Wechselfälle der diplomatisch-politischen Beziehungen zwischen beiden Staaten eine ganze Weile überdauerten. Die DFG und die L.E.G. waren hier gleichsam die Knotenpunkte in einem Netzwerk transnationaler Kommunikation, das in Deutschland bis 1933, in Frankreich sogar bis 1936 die in den späten zwanziger Jahren geknüpften soziokulturellen Verbindungen - in allerdings zunehmend grobmaschigerer Form - zusammenhielt. In der DFG und der L.E.G. überschnitten sich die deutsch-französischen Verständigungsbemühungen seit der Locarno-Ära und die Bestrebungen der teilweise schon älteren Vereinigungen mit der Zielsetzung der europäischen Integration. Beide Organisationen, die DFG und die L.E.G., suchten sehr viel nachdrücklicher als das exklusive Mayrisch-Komitee die Kooperation mit den in die Öffentlichkeit hinein wirkenden Europa-Vereinigungen. In der DFR vor allem, aber auch in der Revue d'Allemagne und im L.E.G.-Organ „Se Connaître“, wurden die entsprechenden gemeinsamen Veranstaltungen mit geradezu buchhalterischer Genauigkeit registriert. Die DFG und die L.E.G. zogen aus diesen Querverbindungen zu anderen internationalen Vereinigungen den Vorteil, größere Öffentlichkeitswirksamkeit entfalten und damit ihre organisatorische Ressourcenknappheit ausgleichen zu können. Einige Aufsätze des DFG-Repräsentanten Stern-Rubarth geben gleichermaßen Aufschluss über die Breite und Vielfalt des sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Kommunikationssystems, innerhalb dessen die deutsch-französischen Vereinigungen ihre Tätigkeit verorteten, und Einblick in die politischen Hoffnungen, die man dort in diese Parallelorganisationen setzte. In einem Überblick aus dem Jahre 1928 über die „Verständigungsorganisationen in Frankreich“ versuchte Stern-Rubarth aufzuzeigen, dass seit den letzten drei Jahren in Frankreich wie in Deutschland eine Vielzahl von organisierten Initiativen für die übernationale Kontaktnahme entstanden seien. Seit Mitte der zwanziger Jahre „tauchten ungefähr gleichzeitig und mit gleichartigen Bestrebungen die Gedankengänge der Verständigung zu beiden Seiten der Grenze auf, kristallisierten sich diese Bestrebungen in mehr oder weniger konkreten Teilprogrammen um einige wenige Köpfe, die man immer wieder an der Spitze oder unter den treibenden Kräften dieser Bestrebungen findet“. 85 Als gemeinsame Motivation 85 Edgar Stern-Rubarth: „Verständigungsorganisationen in Frankreich“, in: DFR, Jg. 1928, p. 320sq. <?page no="133"?> 133 dieser Initiatoren bürgerlicher Verständigungsorganisationen stellte er heraus: „Es sind meist keine schlechthin pazifistischen Persönlichkeiten, keine Prediger einer verwaschenen, heute nur unvollkommen übersehbaren Zukunftsstaat-Theorie, sondern gerade Männer, denen die Liebe zu ihrem Vaterland in engerem Sinne den Blick auf die Aufgabe einer übernationalen, humanitären Weiterentwicklung geschärft hat, die aber umgekehrt, eben aus dieser Anbahnung neuer zwischenstaatlicher Beziehungen Nutzen für ihr Land und Volk zu ziehen gedenken“. 86 Als Organisationen, in denen diese Persönlichkeiten wirkten, nannte Stern-Rubarth an erster Stelle - mit einem leichten Vorbehalt wegen ihrer „etwas doktrinär aufgezogenen Konstruktion“ - die Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi, die in Frankreich allerdings nur wenige Anhänger habe. In seinen Memoiren schrieb Stern-Rubarth später, die Veranstaltungen der DFG seien nicht selten mit denen der Paneuropabewegung verbunden gewesen. 87 Seit 1923 wirkte in Frankreich die Fédération pour l’Entente Européenne, der in Deutschland der Verband für europäische Verständigung entsprach. 88 Etwa gleichzeitig sei die Fédération Internationale des Unions Intellectuelles des Prinzen Rohan entstanden. Seit Anfang 1926 bestand die Organisation „Les Amitiés Internationales“, seit der zweiten Jahreshälfte 1926 die Union Douanière Euopéenne, Comité Français, das Gegenstück zu Stern-Rubarths Europäischem Zoll-Verein. Beide Organisationen spielten eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Gruppenbesuchen und bei der Einladung von Vortragsrednern der DFG. Als übergreifende Struktur der französischen Europa-Verbände stellte Stern-Rubarth das Comité Français de Coopération Européenne dar, das Anfang 1927 gegründet worden sei und dem auf deutscher Seite der Bund für Europäische Verständigung entspreche. Im 1926 entstandenen schwerindustriellen Mayrisch-Komitee sah er vor allem ein „Instrument zur objektiven Erforschung und Berichterstattung über die Verhältnisse, insbesondere die Presse des jeweils anderen Landes“; es diene mit seinen beiden Büros in Paris und Berlin „in erster Linie der wirtschaftlichen Aufklärung und den Zielen des engeren Interessenkreises, der die Organisation schuf“. 89 Der Generalsekretär der DFG war im übrigen ein enthusiastischer Befürworter der internationalen Kartellbildungen, deren Ausbreitung er in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre freudig konstatierte und als deren bedeutendste er das Internationale Rohstahlkartell 90 86 Ibid., p. 321. 87 Stern-Rubarth (wie Anm. 48) p. 211. 88 Cf. dazu Frommelt (wie Anm. 11) p. 106sq. 89 DFR, Jg. 1928, p. 322. 90 Cf. dazu Jacques Bariéty: „Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum mißlungenen ‚Schwerindustriellen Projekt‘ des Versailler Vertrages“, in: Hans Mommsen u. a.: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, p. 552-568. Als umfassende wirtschaftshistorische Monographie dazu jetzt Charles Barthel: Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux 1918-1929, Saint Paul Luxembourg 2006. <?page no="134"?> 134 betrachtete, dessen politische Verlängerung das Mayrisch-Komitee war. 91 In den Zusammenhang all dieser „Verständigungsorganisationen“ stellte Stern-Rubarth die doppelte Zeitschriften-Gründung in Paris und Berlin („ein Unternehmen, das in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen einzigartig dasteht“ 92 ) und die Entstehung der DFG. Die Deutsch-Französische Rundschau hatte die Funktion eines verbindenden Scharniers zwischen dem äußeren Kranz von deutsch-französischen und europäischen Vereinigungen und dem engeren Organisationsrahmen der DFG. Die Zeitschrift, anfänglich ja die eigentliche raison d'être der DFG, war überdies auch nach der organisatorischen Verselbständigung und Ausweitung der Deutsch-Französischen Gesellschaft im Reich deren wichtigste Integrations-Plattform. Die Berliner DFG-Gründer neigten dazu, die verbandspolitische Willensbildung als ihr Monopol zu betrachten. Zwar sah die DFG-Satzung (§ 9) eine jährlich einzuberufende ordentliche Mitgliederversammlung vor, doch blieb diese Forderung mehr Programm als Wirklichkeit. Umso wichtiger waren die Organisations- Nachrichten und die Veranstaltungs-Kalender der DFG-Ortsgruppen in der DFR als Grundlage eines Minimums an verbandsinternem Zusammenhalt. Die Satzung der DFG definierte die allgemeinen Ziele des Vereins und wies der deutschen Frankreich-Zeitschrift den ersten Platz zu in der Liste der Mittel, mit deren Hilfe diese Zielsetzungen verwirklicht werden sollten. Als Ziel der DFG nannte die Satzung (§ 3): „Die Deutsch-Französische Gesellschaft will das Verständnis für Frankreich in Deutschland heben und vertiefen. Durch Bestandsaufnahme der französischen Geistesgüter, durch tiefgreifende Erkenntnis unserer Nachbarn will sie an einer Entspannung zwischen den Ländern mitwirken und unter Wahrung des eigenen Staatsgefühls der beiden Nationen zwischen Frankreich und Deutschland Brücken schlagen. Ihr Ziel ist, Deutsche und Franzosen aus allen Kreisen und Gebieten zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen, durch den Gedankenaustausch dieser schöpferischen Völker des Okzidents Europa zu dienen“. 93 Das Programm der DFR, das wie die Satzung der DFG die Handschrift Grautoffs trug, versuchte die Arbeitsfelder umfassender „Frankreicherkenntnis“ zu präzisieren: „Unsere Zeitschrift will die politische und wirtschaftliche Struktur Frankreichs deuten, die Probleme seiner lebenden Sprache erfassen, den ständigen Wechsel seiner sozial-treibenden Kräfte, die dauernde Bewegung seiner Staatsideologie und Rechtsauffassung, die Probleme der Arbeitnehmer und Arbeitgeber behandeln und alle wissenschaftlichen und künstlerischen Erscheinungen aus dem inneren Zusammenhang mit dem Leben der ganzen Nation erkennen und darstellen“. 94 Die Zusammensetzung der Herausgeber-Mann- 91 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 236. 92 Ibid., p. 323. 93 DFG im PA/ AA, Bd. V, H 024039. 94 DFR, Jg. 1928, Heft 1: „Wille und Ziel“. <?page no="135"?> 135 schaft der DFR war offensichtlich bestimmt durch mehrere verbandspolitische Erwägungen. Zuerst musste in ihr die wechselseitige Verschränkung der deutsch-französischen doppelten Zeitschriftengründung zum Ausdruck kommen; dann mussten für die weitgespannten Arbeitsfelder, denen sich die Revue widmen wollte, sachkundige Herausgeber gefunden werden, die zugleich ins parteipolitische Bild der bürgerlichen Mitte passten; und schließlich mussten im Herausgeber-Gremium die DFG-Ortsgruppen außerhalb der Hauptstadt repräsentiert sein. Die wechselseitige Verschränkung in den Herausgeber-Gremien der deutschen Frankreich- und der französischen Deutschland-Zeitschrift wurde erreicht durch die Präsenz deutscher Direktions-Mitglieder in der Revue d'Allemagne (Otto Grautoff, Thomas Mann, Ernst Robert Curtius) sowie durch die Beteiligung französischer Mitherausgeber an der DFR (Maurice Boucher, Henri Lichtenberger, Edmond Jaloux). Grautoff, Boucher und Lichtenberger gehörten beiden Herausgeberstäben an und sind somit als Schlüsselgestalten des deutsch-französischen Kommunikationsnetzes erkennbar. Lichtenberger und Boucher waren zwei jener Persönlichkeiten, von denen Stern-Rubarth sagte, sie seien an fast allen deutsch-französischen und europäischen Begegnungsaktivitäten der späten zwanziger Jahre beteiligt gewesen. Beide hatten Anfang 1926 z.B. das Empfangs-Komitee geleitet, das Thomas Mann bei seinem Paris-Besuch begrüßt und betreut hatte. Dieser zeichnete von ihnen ein freundliches Porträt in seinem Reisebericht „Pariser Rechenschaft“ und gab beiläufig eine Momentaufnahme des Pariser „Franco-allemand“ anno 1926. 95 Lichtenberger (1864-1941) war als angesehener Sorbonne-Gerrmanist gegen Ende seiner Hochschullehrer- Tätigkeit mit einem 1924 ins Deutsche übersetzten Buch über die französisch-deutschen Beziehungen hervorgetreten, in dem er die „intellektuelle Demobilisierung“ propagierte und einen Mittelweg zwischen „schwärmerischem Optimismus“ und „pessimistischem Realismus“ für richtig hielt. 96 Er hatte seinen Einfluss dafür geltend gemacht, dass als Herausgeber der Revue d'Allemagne Maurice Boucher, sein „Lieblingsschüler“ 97 , eingesetzt wurde und nicht der Übersetzer und Freund von Thomas und Heinrich Mann Félix Bertaux, der ebenfalls im Gespräch war. 98 Maurice Boucher 95 Thomas Mann: „Pariser Rechenschaft“, in: Thomas Mann: Autobiographisches, Frankfurt/ Main 1968, p. 107-176. 96 Henri Lichtenberger: Deutschland und Frankreich in ihren gegenwärtigen Beziehungen, Leipzig 1924. 97 Mann (wie Anm. 95), p. 123. 98 Von beiden gab Grautoff Ende 1926 folgendes Porträt: „Maurice Boucher ist Germanist und einer der hervorragendsten Schüler Lichtenbergers. Er spricht so perfekt deutsch, daß er auch Artikel in deutscher Sprache schreiben kann, kennt Deutschland aus eigener Anschauung und ist ein aktiver, zuverlässiger, ernster und unabhängiger Mensch, dem die Überbrückung der deutsch-französischen Gegensätze am Herzen liegt. Auch in der deutschen Botschaft wird er geschätzt ... Auch Félix Bertaux ist Germanist, beherrscht die deutsche Sprache aber nicht so vollkommen, ist nicht so <?page no="136"?> 136 (1885-1977) war zur Zeit seiner Herausgebertätigkeit für die Revue d'Allemagne Deutschlehrer am Lycée Louis-le-Grand in Paris, ab 1934 dann Germanist an der Sorbonne; er war vielseitig begabt und interessiert als Übersetzer, Komponist, Musikkritiker und Lyriker. 99 Boucher und Lichtenberger standen im Mittelpunkt des deutsch-französischen Kommunikationsnetzes und arbeiteten aktiv mit an der DFR, während der dritte französische Mitherausgeber der deutschen Frankreich-Zeitschrift eine eher dekorative Rolle spielte. Edmond Jaloux (1878-1949), der Romancier, Lyriker und Literaturkritiker, hatte sich 1927 mit einem Buch über Rilke 100 für die französisch-deutschen Geistesbeziehungen empfohlen, seine Mitarbeit in der DFR war anschließend aber nur sporadisch. Von den deutschen DFR-Herausgebern war Grautoff zuständig für die Literatur- und Kunst- Berichte, Stern-Rubarth konzentrierte sich auf die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen. Beide wurden unterstützt als Herausgeber durch den Wirtschaft- und Finanzwissenschaftler von der Berliner Universität Rudolf Meerwarth (geb. 1883) und dem Berliner Spezialisten für Auslandsrecht Fritz Norden, der zugleich ständiger Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes war und 1932 in Genf tödlich verunglückte. 101 Heinrich Eduard Jacob (1889-1967), der Erzähler und Feuilleto-nist, brachte zusätzliche journalistische Kompetenz in die DFR-Equipe. Ab Anfang 1929 schließlich wurde diese ergänzt durch den Eintritt des Soziologen Gottfried Salomon (1892-1964), 102 der nicht nur seinen sozial-wissenschaftlichen Überblick, sondern zugleich auch als Zweiter Vorsitzender der DFG- Ortsgruppe in Frankfurt/ Main eine nicht-berliner Komponente einbrachte. Die kaum bestreitbare Tatsache, dass die DFR die umfassendste und inhaltlich vielgestaltigste deutsche Frankreich-Zeitschrift wurde, 103 war maßgeblich bedingt durch die Spannweite der in ihrem Herausgeberkreis versammelten Kompetenzen und durch den lebendigen Kontakt mit den Ansprechpartnern in Frankreich 104 sowie in den DFG-Ortsgruppen im aktiv und hat eine peinliche Polemik mit E.R. Curtius gehabt, die ihn nicht gerade empfiehlt.“ DFG im PA/ AA, Bd. I, H 022847. 99 Cf. den Nachruf auf Boucher von Robert Minder in: Bulletin de l'Association Amicale des Anciens Elèves de l'Ecole Normale Supérieure, Paris 1979, p. 37. 100 Edmond Jaloux: Rainer Maria Rilke, Paris 1927. 101 Cf. den Nachruf in DFR, Jg. 1932, p. 677sq.: Richard Schmidt, „Fritz Norden als juristischer Lehrer und Schriftsteller“. 102 Cf. zu Gottfried Salomon, der als erster sozialwissenschaftlicher Frankreichforscher in Deutschland im heutigen Sinne angesehen werden kann und eingehenderes Interesse verdient, den Nekrolog: Walter Rüegg: „Gottfried Salomon-Delatour“, in: Kölner Zeitschrift für Sozialpsychologie und Soziologie, Jg. 1964, p. 626-629. 103 So das Urteil in: Ingrid Voss, Jürgen Voss: „Die ‚Revue Rhénane‘ als Instrument der französischen Kulturpolitik am Rhein (1920-1930)“, in: Archiv für Kulturgeschichte, Jg. 1982, p. 403-451. 104 Neben Lichtenberger und Boucher waren aus dem Umkreis der L.E.G. z. B. produktive Mitarbeiter: Adrien Robinet de Clery, A. Ravizé, A. Vulliod, Ch. Sénéchal; im übrigen schrieben öfter H. Jourdan, W. d'Ormesson, Comte J. de Pange. <?page no="137"?> 137 Reich. Die Zeitschrift wurde in der Tat zum „Zentralorgan der Frankreichkunde“, wie ihre Herausgeber das im programmatischen Geleitwort des ersten Heftes der DFR formuliert hatten, indem sie weit über den Organisationsrahmen der DFG hinaus nahezu alle wissenschaftlichen und essayistischen Frankreich-Autoren zu ihren Mitarbeitern zählte: z. B. Ernst Robert Curtius, Hermann Platz, Paul Distelbarth und Paul Hartig. 105 Neben der Herausgabe der Frankreich-Zeitschrift und der Verbreitung und Unterstützung der Revue d'Allemagne nannte die Satzung der DFG (§ 3) die Durchführung von deutsch-französischen Kongressen, Vorträgen, Theater- und Musik-Aufführungen sowie von „gesellschaftlichen Veranstaltungen jeglicher Art“ als Organisationsziel. Im engeren bilateralen Kommunikationssystem der DFG und der L.E.G. weitete sich dieser Bereich der sozio-kulturellen Begegnungsaktivitäten zu einer eigenen komplementären Organisationsstruktur aus durch die Angliederung von Jugendorganisationen. Aus dem von der DFG in Zusammenarbeit mit Neuphilologen angeregten Schüleraustausch mit Frankreich entstand bereits am 21.09.1928 im Kölnischen Gymnasium in Berlin die erste lokale DFG- Jugendgruppe. 106 An dieser Gründungsveranstaltung nahm der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (Dr. Kawerau) und Otto Grautoff als Vertreter des DFG-Vorstandes teil. Nach dem Muster dieses „Foyer scolaire franco-allemand“ entstanden noch andere lokale Schülervereinigungen der DFG, von denen schwierig festzustellen ist, ob sie dauerhaft arbeiteten. Noch im Juli 1932 wurde in Bonn eine solche Schülerortsgruppe, die von Hermann Platz angeregt worden war, konstituiert, obwohl dort gar keine DFG-Zweigorganisation existierte. 107 Dauerhafter arbeitete auf jeden Fall die DFG-Studentenorganisation, die vor allem in Berlin aktiv war. Dort war am 03.12.1929 nach dem Besuch katholischer Studenten aus Frankreich die Initiative für die Gründung einer studentischen Gruppe hervorgegangen, die sich selbst definierte als „Arbeits-gemeinschaft“ für das „Studium und die Vertiefung in die französischen Probleme der Gegenwart, Lebensformen des Volkes, des Akademikers im besonderen, politische Struktur, Verfassung, Recht“. 108 Bei der schwierigen Kontaktsuche zu französischen Studentenverbänden 109 sah einer der Sprecher der DFG- Jungakademiker am ehesten Anknüpfungsmöglichkeiten bei der Ligue d'Action Universitaire Radicale et Socialiste. Er sah die Aufgabe der Gruppe darin, „Gelegenheit zu geben, sich über den anderen Gedanken zu machen“ und zugleich „Propaganda für das eigene Wesen“ zu betreiben. 110 Im 105 Zur Publizistik und Rolle dieser Autoren in den deutsch-französischen Beziehungen cf. meinen Beitrag: „Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955“, in: Francia 14 (1987), p. 475-508. 106 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 886. 107 Cf. DFR, Jg. 1932, p. 530sq. 108 DFR, Jg. 1930, p. 78. 109 Cf. dazu die Darstellung: Tiemann (wie Anm. 5), p. 209sq. 110 Rudolf Junges: „Student und Verständigung“, in: DFR, Jg. 1930, p. 488. <?page no="138"?> 138 Zusammenhang mit der Jugendarbeit der DFG stand auch eine andere komplementäre Organisationsstruktur, nämlich die Koordinationsstellen für den deutsch-französischen Schülerbriefwechsel, Schüleraustausch und Studentenaustausch. Ab Jahresanfang 1929 errichtete die DFG eine Mittelstelle für Schülerbriefwechsel, die von einem Berliner Studienrat (Dr. Max Bäcker 111 ) geleitet wurde und stark in Anspruch genommen wurde; 112 für 1931 registrierte die Mittelstelle erstmals, dass die französische Nachfrage nach Briefkontakten vom zurückgehenden deutschen Angebot nicht mehr gedeckt werden konnte. 113 Die Berliner Mittelstelle für Schülerbriefwechsel arbeitete zusammen mit der L.E.G. in Frankreich und beide Organisationen wurden von der Deutschen Pädagogischen Auslandsstelle bzw. dem in Paris zuständigen Musée Pédagogique offiziell anerkannt. Den „Status eines Organs der auswärtigen Kulturpolitik“ 114 erhielt auch die Mittelstelle für Schüleraustausch, die Mitte der zwanziger Jahre durch Privatinitiative (Dr. Helene Leroi 115 ) entstanden war und als DFG-Einrichtung bis Ende 1931 in Heidelberg, dann in Stuttgart fortgeführt wurde. 116 Die Mittelstelle für Studentenaustausch schließlich wurde gleichfalls durch die private Initiative einer Frau (Dr. Josy Schäfer) 1928 in Nürnberg ins Leben gerufen und in der Regie der DFG geführt mit der aktiven Förderung des Oberbürgermeisters der Stadt. 117 Alle bislang in der Entstehung und Entfaltung der DFG konstatierbaren Merkmale, die gesellschaftliche und politische Verwurzelung der Initiatoren und Mitarbeiter, die Orientierung an den Interessen der besitzenden und gebildeten Bevölkerungsschichten, der Gründungsmodus der Ortsvereine „von oben“ und die lockere Organisationsstruktur eines Honoratioren-Vereins, verweisen auf eine ausgeprägte bürgerliche Homogenität der DFG-Mitglieder. Diese Beobachtung kann mit vergleichsweise großer Zuverlässigkeit überprüft werden, da die Mitgliederlisten mit Angabe des Wohnorts und teilweise des Berufs fortlaufend in der DFR veröffentlicht wurden. Ihre Auswertung 118 ergibt das folgende Bild: Insgesamt gehörten von 1928 bis 1933 der DFG an: 2738 Mitglieder. Davon waren 2691 ordentliche Mitglieder und 47 korporative Mitglieder. 119 Die Zahl der Neuauf- 111 Zu seiner Person und Tätigkeit cf. auch Tiemann (wie Anm. 5), p. 166sq. 112 Cf. DFR, Jg. 1929, p. 80. 113 DFR, Jg. 1932, p. 391sq. 114 Cf. Tiemann (wie Anm. 5), p. 177. 115 Ibid., p. 174sq. 116 Durch Erich Benz; cf. dazu DFR, Jg. 1932, p. 897sq. 117 Cf. DFR, Jg. 1931, p. 1040sq. 118 Für die statistische Bearbeitung der Mitgliederlisten der DFG danke ich meiner Mitarbeiterin Simone Wiegand. 119 Z.B. waren korporative Mitglieder: Seminar-, Universitäts-, Staats- und Stadt- Bibliotheken, romanistische Seminare, Gymnasien und einzelne Wirtschaftsunternehmen. <?page no="139"?> 139 nahmen in die DFG zeigt eine deutliche Wellenbewegung, die sich 1930 bricht: 120 1928: 478 1929: 435 1930: 1035 1931: 487 1932: 194 1933: 67 Regional verteilten sich die ordentlichen Mitglieder wie folgt: Berlin: 1594 (= 59,1 %) Frankfurt/ Main: 185 (= 6,9 %) Stuttgart: 130 (= 4,8 %) Breslau: 93 (= 3,4 %) Mannheim: 74 (= 2,7 %) Nürnberg: 57 (= 2,1 %) Hamburg: 33 (= 1,2 %) Köln: 25 (= 0,9 %) Düsseldorf: 21 (= 0,8 %) Frankreich: 42 (= 1,6 %) Andere Orte: 442 (=16,4%) Bei knapp zwei Dritteln der Mitglieder kann eine sozio-professionelle Zuordnung vorgenommen werden aufgrund der Angabe der Berufe oder akademischer Titel. Bei 35,5 % der nachgewiesenen Mitglieder fehlen solche Angaben. Bezogen auf die Gesamtzahl der DFG-Mitglieder verteilten sich die anderen prozentual auf die einzelnen Berufsbzw. Status- Gruppen: Lehrer: 8,8% (237) Öffentliche Verwaltung: 7,4% (200) Fabrikanten: 7,4% (200) Justizberufe: 7,0% (189) Hochschullehrer: 4,7% (128) Journalisten, Künstler: 3,7% (100) Kaufleute: 2,8% (75) Naturwissenschaftler/ Techniker/ Architekten: 2,6% (70) Bankiers: 2,6% (69) Diplomaten: 2,4% (64) Ärzte: 2,3% (62) 120 Die folgenden Zahlen geben den Verlauf der Neueintritte in die DFG, nicht jedoch die Mitglieder-Fluktuation wieder. <?page no="140"?> 140 Studenten: 2,2% (59) Promovierte ohne Berufsangabe: 8,7% (234) Militärs: 0,3% (9) Sonstige Berufe: 1,6% (42) Die bis 1930 ansteigenden, dann wieder abfallenden und 1933 auf einem Tiefpunkt ankommenden Zahlen der Mitgliederwerbung der DFG entsprechen den Beobachtungen, die für den Verlauf der Gründung von neuen Ortsgruppen getroffen werden konnten. Sie spiegeln die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen seit der Rheinland-Räumung im Sommer 1930 121 und des politischen Durchbruchs der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im September 1930. Diese vereinten Faktoren zerstörten die Grundlagen der seit Ende 1927 recht erfolgreich verlaufenden Expansion der DFG im Reich. Dass sie über Berlin hinaus in anderen Großstädten in den drei Jahren bis 1930 tatsächlich Terrain gewonnen und aktive Unterstützung gefunden hatte, zeigt die geographische Verteilung der DFG-Mitglieder. Bemerkenswert ist hier nicht so sehr die Konzentration von 59,1% der Mitglieder in der Reichshauptstadt, sondern die Tatsache, dass in der kurzen Zeit immerhin gut 40% der in der DFG Organisierten außerhalb Berlins angeworben werden konnten. Auffallend ist auch, dass offenbar ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Mitgliederstärke der Ortsgruppen und ihren Binnen- und Außenaktivitäten bestand: Berlin, Frankfurt/ Main und Stuttgart waren nicht nur die größten, sondern auch die initiativfreudigsten DFG-Organisationen. Schließlich ist die hohe Zahl der fast 20% DFG- Mitglieder, 122 die ohne die organisatorische Stütze durch eine Ortsgruppe an Frankreich-Kenntnissen und -Kontakten interessiert waren, ein Indiz für die geographische Streuwirkung der DFG-Werbung im Reich. Die Interpretation der sozio-professionellen Zusammensetzung der Deutsch-Französischen Gesellschaften führt zu einem eindeutigen Ergebnis: Ihre Mitglieder gehörten so gut wie ausschließlich dem (akademisch) gebildeten und dem gewerblich unternehmerischen Bürgertum an. Neben den überwiegend intellektuellen Berufen (Hochschullehrer, Lehrer, Journalisten, Künstler) mit insgesamt 17,2%, gehörten mit 16% etwa gleich viele Mitglieder der Öffentlichen Verwaltung im weiteren Sinne (Verwaltungsbeamte, Justizberufe, Diplomaten) an. Der dritte gesellschaftliche Rekrutierungs- Schwerpunkt war die gewerbliche Wirtschaft, der (Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers zusammengenommen) 12,8% der DFG-Mitglieder zugehörten. Welche Verständigungs-Konzeptionen und Begegnungsaktivitäten sich im Kreise der soziologisch dergestalt profilierten Deutsch-Französischen Gesellschaften entfalten konnten, soll im folgenden aufgezeigt 121 Cf. dazu Knipping (wie Anm. 46) p. 141sq.: „Der Wettersturz des Sommers 1930“. 122 Die Addition der Mitglieder an den Orten, wo keine DFG-Ortsgruppe arbeitete, ergibt (Hamburg nicht mitgerechnet) 19,7 %. <?page no="141"?> 141 werden, bevor die krisenhafte Stagnation und schließliche Usurpation der DFG durch die Nationalsozialisten rekonstruiert wird. 5. Die Verständigungs-Konzeptionen und Begegnungs- Aktivitäten der DFG Die Verständigungs-Konzeption und die mit ihr verbundene Frankreich- Ideologie der DFG war überwiegend das Resultat außenpolitischer Programmsätze der Locarno-Ära, politisch-pädagogischer Impulse der Kulturkunde-Bewegung und konservativ-nationaler Wertvorstellungen des deutschen Bürgertums. Es gab jedoch hinsichtlich der Verständigungs- Konzeption und der Praxis der deutsch-französischen Begegnungen vor 1933 eine deutlich erkennbare Spannweite in der DFG, deren beide Pole die Ortsgruppen in Berlin und Frankfurt/ Main waren und die deshalb in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt werden sollen. Das kulturpolitische Prinzip, das vom Auswärtigen Amt immer wieder angemahnt wurde und dessen Einhaltung die Sprecher der DFG emsig zu belegen versuchten, 123 war die Gegenseitigkeit der Verständigungsbemühungen. Gegenseitigkeit hieß, für jede kulturell werbende (Selbst-)Darstellung der anderen Nation hier, dort die gleiche Möglichkeit für die eigene Nation eingeräumt zu bekommen. Diese Maxime blieb durchaus im Rahmen der „nationalen Realpolitik“ Stresemanns 124 und sie tangierte nicht die auf den Versailler Vertrag bezogenen Revisionsforderungen des Deutschen Reichs an Frankreich. Stern-Rubarth wies öfters darauf hin, dass die Verständigungsarbeit der DFG nicht „pazifistisch“ und „utopisch“ sei, sondern letztlich der Wahrung der nationalen Interessen diene. Die Zielformulierung in der Satzung der DFG (§ 3) „an der Entspannung zwischen beiden Ländern mitwirken“ zu wollen, wurde mit der Maßgabe versehen, dass dies „unter Wahrung des eigenen Staatsgefühls der beiden Nationen“ zu geschehen habe. Grautoff interpretierte diese Formel in einem programmatischen Aufsatz: „Gegenseitigkeit in den Bemühungen von Deutschen und Franzosen soll nicht zum Ziel haben, die nationalen Besonderheiten in jedem Lande zu nivellieren und aus beiden Kulturen einen deutsch-französischen Einheitsbrei herzustellen, sondern unter Wahrung der völklichen Eigenheiten jedes Landes mit der Methode rationaler Sachlichkeit bei dem Nachbar Verständnis für den Charakter des anderen zu wecken“. 125 Diesen Artikel nahm ein anderes prominentes Mitglied der 123 Grautoffs letztes Frankreich-Buch diente überwiegend diesem Zweck. Cf. Grautoff (wie Anm. 82). 124 Cf. dazu Michael-Olaf Maxelon: Stresemann und Frankreich. Deutsche Politik der Ost- West-Balance, Düsseldorf 1972, und - darauf bezogen - : Jacques Bariéty: „Stresemann et la France“, in: Francia, Jg.1975, p. 554-583. 125 Otto Grautoff: „Gegenseitigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen“, in: DFR, Jg. 1930, p. 381. <?page no="142"?> 142 Berliner DFG zum Anlass, die Auslegung des Verhältnisses zwischen nationalem Selbstbewusstsein und transnationaler Verständigungsfähigkeit zu erweitern 126 in Anlehnung an Arnold Bergsträssers 1930 erschienene Schrift über „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen“. 127 Der Berliner Autor sah in Grautoffs Ausführungen und in Bergsträssers Schrift Ansätze einer „Diskussion, die gleichsam Exegese des Gründungsmanifests der Deutsch-Französischen Gesellschaft werden soll“. 128 Nachdem er die landläufige Vorstellung zurückgewiesen hatte, Verständigung heiße „sich den Franzosen an den Hals“ zu werfen, und mehr für das Verständnis Frankreichs zu tun als dort für die Information über Deutschland getan werde, zog er aus den beiden Diskussionsbeiträgen gleichsam eine soziologische Schlussfolgerung über die Möglichkeiten der Verständigung. Die „deutsch-französische Verständigungsbewegung“ war nach seiner Erkenntnis unvermeidlich (und im Gegensatz zur popularisierungsfähigen Paneuropa-Idee) eine Angelegenheit der „gegenseitigen Einfühlung hoch kultivierter Einzelner“. 129 Da es kaum möglich sein werde, „Ziele und Methoden der DFG in dem Sinne volkstümlich zu machen, dass sie dem politisch wachen, klassenbewußten Proletarier unmittelbar etwas sagen“, sei es geboten, in der DFG das Element des „sozialen Verantwortungsgefühls“ gegenüber dem Element des „intellektuellen Spiels“ in der kulturellen Begegnung nachdrücklich hervortreten zu lassen. Arnold Bergsträsser (1896-1964), dem sich der Berliner Autor hier so bereitwillig anschloss, wirkte nicht nur durch seine „Verständigungs“-Schrift auf die DFG, sondern er war überdies gelegentlich Autor der DFR, wenngleich auch nicht Mitglied der Vereinigung. 130 Bergsträsser hatte in seiner Schrift von 1930 den emphatischen Verständigungsbegriff der Paneuropa-Bewegung, des Sozialismus und des Pazifismus einer kritischen Analyse ausgesetzt und er hatte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er den Möglichkeiten der Verständigung für eine besiegte Nation wie Deutschland enge Grenzen 126 Alexander Gutfeld: „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen. Anläßlich eines Buches von Arnold Bergsträsser“, in: DFR, Jg. 1930, p. 486. 127 Arnold Bergsträsser: Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen, München/ Leipzig 1930. Zu Bergsträssers intellektueller Biographie, insbesondere zu deren Prägung durch lebensphilosophische, kulturkritische und geisteswissenschaftliche Einflüsse cf.: Horst Schmitt: „Existentielle Wissenschaft und Synopse. Zum Wissenschafts- und Methodenbegriff des jungen Arnold Bergsträsser (1923-1936)“, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 1989, p. 466-478. 128 DFR, Jg. 1930, p. 486. 129 Ibid., p. 487. 130 Zum Mayrisch-Komitee schrieb er: „Eine stärkere Bedeutung kann eine geschlossene Gesellschaft wie das Deutsch-Französische Studienkomitee haben, die ohne in irgend einer Richtung gesinnungsbildend wirken zu wollen, die periodische Auseinandersetzung einer zahlenmäßig begrenzten Gruppe von Persönlichkeiten beider Nationen sich als Aufgabe stellt und dabei nur guten Willen, Aufmerksamkeit und selbstverständliche Achtung voraussetzt.“ Bergsträsser (wie Anm. 127), p. 70. <?page no="143"?> 143 gerade auch im kulturellen Bereich 131 gesetzt sah, da für die modernen Massendemokratien die Idee des Nationalen eine unentbehrliche Integrationsgrundlage sei: „Das Nationale hat seine selbstverständliche Bedeutung nicht allein wegen der unangetastet nationalstaatlich gebliebenen Ordnung der modernen Staatenwelt bewahrt. Im Irrationalen wurzelnd wirkt es als Erhalter jener Kräfte, aus denen der abendländischen Welt ihr höchstes Gut erwachsen ist, aus denen ihre Größe stammt“. 132 Die Begegnung mit dem Fremden berge unter der Prämisse einer naiven Verständigungsbereitschaft die Gefahr, sich selbst an das Fremdnationale zu verlieren, und nur eine verhältnismäßig kleine Schicht der Gesellschaft bringe die Voraussetzungen mit, „an sich selbst festzuhalten und zugleich den andern zu verstehen“. 133 Dass die Begegnung mit der fremden Nationalkultur zur Kräftigung des Bewusstseins der „nationalen Sonderart“, 134 dass die Befassung mit der anderen Nation als Folie für die bessere nationale Selbsterkenntnis dienen sollte, das war der politisch-pädagogische Grundsatz der Kulturkunde-Bewegung. Zu diesem Programm bekannte sich Grautoff ausdrücklich. 135 Nicht er jedoch, sondern Ernst Robert Curtius, der Heidelberger Romanist und Kollege Bergsträssers, verwirklichte dieses Programm der „Frankreicherkenntnis“ theoretisch und praktisch. Curtius veröffentlichte ab September 1928 - gleichsam im Probelauf - eine Abfolge umfangreicher Aufsätze in der DFR, 136 in denen er auf geisteswissenschaftlicher Grundlage „die französische Kulturidee“ zu erschließen versuchte und die den Grundstock für seinen Band des mit Arnold Bergsträsser 1930 veröffentlichten Gemeinschaftswerkes „Frankreich“ 137 bildeten. Curtius war vom Gewicht und Gehalt seiner Beiträge zur DFR und auch als Schlüsselgestalt der deutsch-französischen Kulturbeziehungen der Weimarer Republik 138 der sicherlich einflussreichste Frankreichdeuter in der DFG, obwohl er aus ähnlichen Vorbehalten wie Bergsträsser nicht ihr organisatorisch angehör- 131 Cf. Ibid., p. 58sq.: „Kulturelle Begegnung“. 132 Ibid., p. 91. 133 Ibid., p. 63; in der DFR, Jg. 1930, p. 486 zustimmend zitiert. 134 So Bergsträsser (wie Anm. 127), p. 70. 135 Cf. z.B. Grautoff (wie Anm. 21), p. 3sq. 136 Cf. Ernst Robert Curtius: „Frankreichkunde“, in: DFR, Jg. 1928, p. 25-32; „Wandlungen des französischen Kulturbewußtseins“, in: DFR, Jg. 1928, p. 723-745; „Die französische Kulturidee“, in: DFR, Jg. 1928, p. 827-848; „Die Religion im Aufbau der französischen Kultur“, in: DFR, Jg. 1929, p. 919-945; „Die geschichtlichen Grundlagen der französischen Kultur“, in: DFR, Jg. 1929, p. 532-558; „Goethe oder der deutsche Klassiker“, in: DFR, Jg. 1932, p. 169-195, und öfter. 137 Ernst Robert Curtius: Die französische Kultur. Eine Einführung, Berlin/ Leipzig 1930; Arnold Bergsträsser: Staat und Wirtschaft Frankreichs, Berlin/ Leipzig 1930. 138 Cf. als biographischen Beitrag zu Curtius: Arnold Rothe, „Ernst Robert Curtius in Heidelberg. Versuch einer Spurensicherung“, in: Walter Berschin/ Arnold Rothe: Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, Heidelberg 1989, p. 57-102. <?page no="144"?> 144 te, sondern dem „Mayrisch-Komitee“. 139 Curtius hatte bereits im ersten Heft der DFR das Leitmotiv des durch die DFG verbreiteten antithetischen Frankreichbildes 140 vorgegeben, indem er als Erkenntnis-Maxime für Deutsche empfahl, davon auszugehen, dass in Frankreich alles ganz anders sei. 141 Die „Frankreichkunde“ hatte die Aufgabe, über die Begegnung mit der französischen Kultur das Bewusstsein der nationalen Eigenart zu festigen. Von den Kategorien und Zielvorstellungen dieser in der DFG zweifellos vorherrschenden konservativ-nationalen Verständigungskonzeption deutlich abgehoben, aber eben eine Minderheitenposition, waren die in der Frankfurter DFG von Gottfried Salomon formulierten Überlegungen, die unter dem Einfluss seines Lehrers Franz Oppenheimer sich auf den Standort eines „liberalen Sozialismus“ beriefen. 142 Salomon, der ein fleißiger Mitarbeiter der DFR war, hatte in dem von ihm herausgegebenen „Jahrbuch für Soziologie“ deutlich gemacht, dass er von der geisteswissenschaftlich-kulturkundlichen Wesensdeutung Frankreichs nicht viel hielt. 143 In einem DFR-Beitrag zur Verständigungs-Thematik 144 versuchte er, die deutsch-französische Verständigungs-Bewegung historisch-sozio-logisch zu lokalisieren. In seinem Verständnis hatte die „geistige Militarisierung“ der europäischen Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg verursacht, dass „Nationalismus und Nationalitätenpolitik nach dem Kriege in erhöhtem Maße gegen alle ökonomische und kulturelle Vernunft“ 145 wirkten. Erst die „Krisen der Nachkriegszeit und Wandlungen des Kapitalismus“ hatten den neuerlichen „Appell an den Geist zur Rechtfertigung übernationaler Interessenvereinigung“ ermöglicht. Diese Chance galt es gemäß Salomon tatkräftig zu nutzen für die Förderung übernationaler Einstellungen. Seine theoretischen und praktischen Beiträge zur Verständigungsfrage verfolgten das Ziel, möglichst viele Schlüsselgruppen in der Gesellschaft diesseits und jenseits des Rheins durch die direkte Begegnung und den Austausch über die Probleme ihres Arbeits- und Verantwortungsbereichs in Verbindung zu 139 Rothe, (Ibid., p. 98) schreibt die DFR irrtümlich dem Mayrisch-Komitee zu. Als Versuch, Curtius‘ Standort im politisch-intellektuellen Feld der Weimarer Republik möglichst genau zu rekonstruieren cf. meinen Beitrag: „Die Politik des ‚Unpolitischen‘. Zu Ernst Robert Curtius‘ Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Republik“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1990, Heft 59. 140 Cf. dazu meine Darstellung: „Tradition und Topik des populären Frankreich- Klischees in Deutschland“ (wie Anm. 105). 141 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 29. 142 Cf. dazu die Zusammenfassung der politischen Ideen und soziologischen Theorie Oppenheimers in: Gottfried Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, Neuwied 1965, p. 642sq. 143 Jahrbuch für Soziologie, Ergänzungsband, 1927. Im Vorwort zum Schwerpunkt „Nation und Nationalität“ wies Salomon die Konzepte „Volksgeist“ und „Nationalcharakter“ als „vage Verallgemeinerungen“ mit bestreitbarem wissenschaftlichen Wert zurück. 144 Gottfried Salomon: „Zur deutsch-französischen Verständigung“, in: DFR, Jg. 1928, p. 6sq. 145 Ibid., p. 6. <?page no="145"?> 145 bringen: „Die Angehörigen der Berufsgruppen, die auf das Volk wirken, es erziehen und verwalten, die Beamten, Juristen und Lehrer, die wirtschaftlichen Angestellten und vor allem die Jugend, die Studenten und Schüler verschiedener Länder, müssen zusammenkommen. Menschen, die dieselbe Sache behandeln, müssen sich auseinandersetzen und einander aufschließen. Die Vorstellungen eines anderen Volkes werden dabei den karikaturistischen Zug verlieren. Die fables convenues, die von einem anderen Land gelten, verlieren ihre Wirkung.“ Eine deutliche Spitze gegen die geisteswissenschaftlich-kulturkundliche Frankreich-Deutung und die mit ihr verbundene konservativ-nationale Verständigungs-Konzeption enthielten Salomons Ausführungen, wenn er an-merkte: „Es ist keineswegs der Vorzug ästhetischer und individueller Figuren (,) über Traditionen hinweg ein anderes Land zu verstehen.“ Es genüge nicht, über Verständigung zu reden und das „Wesen“ oder den „Geist“ des anderen Volkes oder seiner Geschichte darzulegen; „man muss diese Geister aufeinander wirken lassen, dass sich eine Vermittlung ergibt und dass die Möglichkeit und Mannigfaltigkeiten Deutschlands und Frankreichs im concours des idées sich verwirklichen“. 146 Die Variationsbreite der Verständigungs-Konzeptionen in der DFG wird im Vergleich dieser liberal-sozialistischen und sozialwissenschaftlichen Argumentation mit der konservativ-nationalen und geisteswissenschaftlichen Auffassung von deutsch-französischem Austausch offensichtlich: Während einerseits die Begegnung mit dem Fremden als potentielle Gefährdung der nationalen Identität gesehen wurde und deshalb die nationalen Unterschiede und die Grenzen der Dialogfähigkeit diskutiert wurden, stand andererseits die Idee der produktiven Synthese und Vermittlung der Nationalkulturen im Mittelpunkt, die durch die direkte Begegnung eine übernationale Gesprächs-ebene und die Entdeckung von Gemeinsamkeiten ermöglichen sollte. Die hier aufgezeigte Unterschiedlichkeit und Variationsspanne in den strategischen Zielvorstellungen der DFG traten nicht in allen Binnen- und Außenaktivitäten der Organisation in Erscheinung, sie prägten jedoch sehr weitgehend die Praxis der Gesellschaften in Berlin und in Frankfurt/ Main. Die in der DFR geführten Debatten über die Verbesserung der Begegnungsmöglichkeiten zwischen Deutschen und Franzosen waren durchaus ideenreich und intensiv. So lancierte z. B. der DFG-Vorstand im März 1928 eine Umfrage, in der die Adressaten gebeten wurden, Stellung zu nehmen zu konkreten Möglichkeiten eines Austausches von deutschen Romanisten nach Frankreich und von französischen Germanisten nach Deutschland, des systematischen Austauschs von Historikern, Juristen, Nationalökonomen, Technikern, Zeitungsvolontären, Gymnasialpädagogen und Unternehmern in Industrie-, Handels- und Finanzbetrieben. 147 Die Enquête hatte 146 Ibid., p. 8. 147 DFR, Jg. 1928, p. 265. Cf. dazu meine Studie: „Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung“ in: Rüdiger Hohls u.a. (Hg.): <?page no="146"?> 146 eine starke Resonanz und die deutschen wie die französischen Ansprechpartner machten detaillierte Verbesserungsvorschläge, die bei den meisten offenbar auf eigenen Erfahrungen beruhten. 148 Von französischer Seite antworteten u. a. die Minister Edouard Herriot und Paul Painlevé, die Germanisten Maurice Boucher und Christian Sénéchal, der Schriftsteller Wladimir d'Ormesson; von deutscher Seite sandten Stellungnahmen u. a. Gustav Radbruch, Leo Spitzer, Ernst Toller, Arnold Zweig und Stefan Zweig. 149 Seit November 1928 registrierte ein Pariser DFR-Mitarbeiter minutiös alle diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte Deutscher in Frankreich in der Monatsrubrik „Deutsch-französische Veranstaltungen in Frankreich“ der Verbandszeitschrift. Neben dieser Art werbender Darstellung in der deutschen Öffentlichkeit für die Ausweitung der Frankreich-Kontakte eröffnete die DFG vermittels ihrer Organisations- Strukturen für ihre Mitglieder selbst vielfältige Möglichkeiten der Frankreich-Kenntnis und -Kontakte. Ein zusammenfassender Tätigkeitsbericht Grautoffs von Ende 1932 über fünf Jahre DFG 150 war zwar diktiert von der Notwendigkeit, in der damaligen Situation akuter Existenzbedrohung der Organisation deren Verdienste herauszustreichen, er enthielt jedoch keine sachlich falschen Darstellungen. Der Bericht wies zuerst auf die fünf vorliegenden Jahrgänge der DFR mit jeweils mehr als 1 000 Seiten hin und vermerkte, in den letzten Jahren habe sich das Schwergewicht der Monatsschrift „erheblich zu Gunsten der Wirtschaft und Politik verschoben“. Eine Durchsicht der DFR-Bände zeigt in der Tat ein allmähliches Zurücktreten der Beiträge, in denen die landschaftlichen, literarischen und kulturhistorischen Reize Frankreichs beschworen wurden, und ein Hervortreten zunehmend auch kontrovers abgehandelter Themen der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. 151 Grautoffs Bilanz ging eindeutig zu weit, wenn sie die Revue d'Allemagne umstandslos als „Organ der Deutsch-Französischen Gesellschaft“ vereinnahmte. 152 Aber unbestreitbar ist, dass die DFG mit ihrem Verbandsorgan - wie dessen leitender Redakteur es formulierte - „alle Gebiete der Frankreichkunde“ ihren Mitgliedern zu erschließen versuchte: „Verfassung, Verwaltung, Staatsrecht, Zusammensetzung des Parlaments, Partei- Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, p. 422-427. 148 DFR, Jg. 1928, p. 516sq.: „Deutsch-französischer Austausch“. 149 Von den anerkannten belletristischen Schriftstellern gaben Stefan Zweig und Arnold Zweig die meisten Originalbeiträge zur Veröffentlichung an die DFR. Von Thomas Mann erschien dort als Originalbeitrag nur die Rezension einer Anthologie seines Freundes und Übersetzers Félix Bertaux: „Jungfranzösische Anthologie“, in: DFR, Jg. 1931, p. 16-19. 150 In DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024143sq. 151 Zur Inhaltsanalyse der DFR, die hier nicht vertieft werden kann, cf. Béatrice Pellissier: Un dialogue franco-allemand de l’entre-deux-guerres: la Deutsch-Französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Thèse de doctorat Paris IV, 1991/ 92. 152 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024143. <?page no="147"?> 147 en, Zeitungswesen, Zivilrecht, Wirtschaftsstruktur, Kartelle, einzelne Gebiete der Wirtschaft, Hochschulen, Jugenderziehung, Jugendbewegung, Staatsideologie“. Gottfried Salomon bestätigte in einem Brief vom 14.11.1932 an Grautoff, 153 dass die DFR als „zuverlässige Informationszeitschrift“ weithin geschätzt werde und dass ihre Aufgabe oder Reduzierung die DFG in ihrer Substanz treffen würde. Außer dieser publizistischen Versorgung ihrer Mitglieder mit Informationen über Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen bot ihnen die DFG mehrere Formen des direkten Kontakts mit Frankreich und den Franzosen. Seit 1929 organisierte die (Berliner) DFG jährlich eine Frühjahrsreise nach Paris, die ebenso wie die Gruppenreisen der L.E.G. nach Deutschland 154 noch etwas recht Ungewöhnliches waren und mit entsprechender öffentlicher Aufmerksamkeit bedacht wurden. An der ersten Gruppenreise im Mai 1929 nahmen 33 Mitglieder aus Berlin und anderen Städten des Reichs teil. 155 Die Teilnehmer waren - gemäß dem Bericht der DFR - „Ärzte, Bankiers, Chemiker, Ingenieure, Juristen, Kaufleute, Künstlerinnen, Studienräte“. Die Gruppe wurde - wie in den folgenden Jahren - in Paris kunsthistorisch sachkundig angeleitet von Otto Grautoff. Sie wurde zum Empfang geladen von den Amitiés Internationales (Anwesende u. a. Anatole de Monzie, Jules Romains, Edmond Jaloux, Henri Lichtenberger), sie wurde begrüßt im Quai d'Orsay sowie in der deutschen Botschaft, und ein Teil der Gruppe war zu Gast im Hause von Maurice Boucher in Auteuil. Grautoff wurde u. a. zum Rundfunkinterview in Paris gebeten, und er erläuterte dort die Ziele und Tätigkeiten der DFG. 156 Die drei folgenden Frühjahrsreisen der DFG nach Paris umfassten unter den Umständen der Wirtschaftskrise eher weniger als mehr Teilnehmer, aber noch für den Juni 1933 war die 5. Gruppenreise fest geplant, 157 die dann nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht mehr durchführbar war. Die anderen Formen der direkten Kontaktnahme mit Franzosen wurden über die komplementären Organisationsstrukturen der DFG vermittelt. Die „Mittelstelle für Schülerbriefwechsel“ der DFG, der von den staatlichen Behörden das Monopol für diese Form der Kommunikation eingeräumt worden war, stellte in fünf Jahren über 15.000 Briefpartnerschaften zwischen deutschen und französischen Schülern 158 her. Die „Mittelstelle für Schüleraustausch“ ermöglichte insgesamt in fünf Jahren 1225 Austauschvorgänge. Die entsprechende DFG-Vermittlerstelle für den Studentenaustausch brachte zwischen 1928 und 1932 153 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024116. 154 Cf. dazu meine Darstellung (wie Anm. 8) p. 146. 155 Cf. DFR, Jg. 1929, p. 586sq.: „Bericht über die Studienfahrt der Deutsch-Französischen Gesellschaft“. 156 Der Text des Interviews in: DFG im PA/ AA, Bd. III, H 023416sq. 157 Cf. DFR, Jg. 1933, p. 264sq.: „Fünfte Studienreise der Deutsch-Französischen Gesellschaft“. 158 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024143. <?page no="148"?> 148 „mehrere 100 Studenten“ in deutschen bzw. in französischen Familien unter. 159 Die wichtigste Funktion der DFG außer der publizistischen Kenntnisvermittlung über das Nachbarland und der Ermöglichung direkter Kontakte mit Franzosen war es, in den einzelnen Ortsgruppen diejenigen Deutschen zusammenzuführen, die ein - wie auch immer geartetes - Interesse an Frankreich hatten, und ihnen im Gespräch untereinander und mit französischen Gästen die Festigung dieses Interesse zu erlauben. Dieser wichtigsten Binnenfunktion der DFG kamen die einzelnen Ortsgruppen in unterschiedlichem Umfang und vor allem auch in unterschiedlicher Art und Weise nach. Die Berliner DFG-Ortsgruppe entwickelte hier einen deutlich anderen Stil als die zweitgrößte Ortsgruppe in Frankfurt/ Main. In Berlin war das Veranstaltungs-Programm der DFG geprägt von einem umfassenden kulturellen Repräsentations-Bedürfnis. In einem recht genauen Porträt der Berliner DFG durch einen französischen Beobachter 160 wird diese 1930 dargestellt als ein lebendiger Treffpunkt von Vertretern der Wirtschaft, Politik und Kultur, die am gegenwärtigen Frankreich interessiert seien, ohne vor allem und um jeden Preis auf eine schnelle Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich zu drängen. Die DFG habe in Berlin ein Begegnungsmilieu geschaffen, „où (peuvent) se rencontrer l'élite et les forces actives des deux nations, un milieu qui ne se contente pas de recherches superficielles et qui pourtant embrasse tous les éléments nécessaires à la compréhension du peuple voisin“. 161 Der Beobachter bemerkte die Breite der kulturellen Darbietungen, die die französischen Gäste der Gesellschaft vortrugen und die von Konzerten und Dichterlesungen bis zu politischen Vorträgen und Diskussionen reichten. 162 Die Veranstaltungen zogen ein bemerkenswert großes Publikum an; nicht nur Grautoffs Angaben, sondern auch die Presseberichte wiesen Zuhörerzahlen von einigen Hundert bis zu mehr als Tausend nach. Ergänzt wurden diese Veranstaltungen durch ein Umfeld mondäner Geselligkeit, das in der Berliner DFG besonders nachhaltig gepflegt und durch die Nähe des diplomatischen Milieus begünstigt wurde. 163 Die triviale Entsprechung zu den Empfängen waren „Deutsch-Französische Mittagessen“, zu denen monatlich zwei Mal 159 Ibid., Bd.VI, H024144. 160 Henri Jourdan: „L'activité de la Société franco-allemande à Berlin“, in: Revue d'Allemagne, Jg. 1930, p. 149sq. 161 Ibid., p. 150. 162 Als Referenten traten in Berlin zwischen 1928 und 1933 auf u.a.: Maurice Boucher, César Chabrun, Pierre Cot, Abbé Desgranges, Paul Desjardins, Elie Faure, Lucien Lamoureux, Henri Lichtenberger, Pierre de Margerie, Ernest Pezet, Henri Torrès, Yves Le Troquer, Gaston Raphaël, Paul de Cassagnac, Georges Blondel. Grautoff merkt an, die französischen Gäste seien jeweils in Berlin „mit Abgeordneten und Finanzleuten der verschiedensten Richtungen in persönliche Beziehung gesetzt worden“. DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024145. 163 Grautoffs Bericht (ibid.) spricht von insgesamt etwa 30 großen Vorträgen und über 70 kleinen Diskussionsabenden in der Berliner DFG zwischen 1928 und Ende 1932. <?page no="149"?> 149 ortsansässige französische Journalisten, Kaufleute und Industrielle mit Vertretern der Berliner Presse, der Wirtschaftsverbände und der Banken zusammenkamen. 164 Diesem Stil des internen Gesellschaftslebens blieb die Berliner DFG auch trotz der in den frühen dreißiger Jahren zunehmenden Politisierung treu. Die Auflistung z.B. ihrer Veranstaltungen im Jahre 1932 165 zeigt, dass von 21 Darbietungen 12 kultureller Art (Konzerte, Vorträge über kulturgeschichtliche Themen) und die übrigen 9 politischen Fragen gewidmet waren. Sehr charakteristisch für den Stil der Berliner DFG-Veranstaltungen war eine „Ausstellung französischer Luxusdrucke der Nachkriegszeit“, die Mitte Oktober 1929 von ihr ausgerichtet wurde und unter das Protektorat des amtierenden französischen Botschafters de Margerie, einiger Minister und von Harry Graf Keßler gestellt war. 166 Es waren 29 französische Verleger vertreten; die Ausstellung und das Begleitprogramm, in dessen Rahmen die Schriftstellerin Colette auftrat, waren ein Publizitätserfolg der Berliner DFG. Fast gleichzeitig und in bezeichnendem Kontrast fand in Frankfurt/ Main eine „Frankreich-Woche“ der DFG- Ortsgruppe statt. 167 Hier standen ausschließlich gesellschaftliche und politische Fragen auf dem Programm, das vom 16.-22.10.1929 ablief. Es sah folgende Themen und Referenten vor: Hermann Platz, Universitätsdozent in Bonn, sprach über „Soziale und religiöse Unruhe im heutigen Frankreich“; der Berliner Lehrer und Sozialdemokrat Paul Hartig äußerte sich zur „Frankreichkunde“; der Hamburger Hochschullehrer Walther Küchler referierte über „Erziehung und Gesellschaft im heutigen Frankreich“; der Theologe Hans Hartmann aus Berlin stellte „die Jugendbewegung in Frankreich“ dar; der Dozent an der Berliner Hochschule für Politik Willy Haas - der auch Mitglied des „Mayrisch-Komitees“ war - befasste sich mit „Politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland“; Gottfried Salomon widmete seinen Vortrag dem Thema „Syndikalismus und Sozialdemokratie in Frankreich“; der Vortrag des sozialdemokratischen Reichstags-Abgeordneten Rudolf Breitscheid über die „Politischen Führer im heutigen Frankreich“ fiel Terminschwierigkeiten zum Opfer. Nach den Angaben des Vorsitzenden der Frankfurter DFG waren die Veranstaltungen durchschnittlich von 150 Teilnehmern besucht. Diese Dominanz politisch-gesellschaftlicher Themen kann insgesamt für die von der DFG in Frankfurt bis 1933 durchgeführten öffentlichen Selbst- 164 Ibid., Bd. VI, H 024145. 165 Gemäß dem Grautoff-Bericht und der Auswertung der Veranstaltungs-Berichte in der DFR. Cf. dazu auch meine Studie: „Otto Grautoff und die Berliner Deutsch- Französische Gesellschaft“, in Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 69-100. 166 Cf. dazu DFR, Jg. 1929, p. 851sq. und p. 987sq.: „Der Salon des Bibliophiles“; DFR, Jg. 1929, p. 855-906 das Verzeichnis der Exponate. 167 Cf. DFR, Jg. 1929, p. 85sq. und p. 978sq.: Richard Oehlert: „Frankreichwoche der Ortsgruppe Frankfurt der Deutsch-Französischen Gesellschaft“. <?page no="150"?> 150 darstellungen konstatiert werden. 168 Rein gesellig-repräsentative Zusammenkünfte scheinen eine geringe Rolle gespielt zu haben. Die französischen Referenten, die auf der „Frankreichwoche“ fehlten, waren im übrigen durchaus stark vertreten im Vortrags-Programm der Gesellschaft. Ihre Auswahl 169 war hier stärker sozialwissenschaftlich und sozialistisch orientiert: Der erste französische Referent war 1929 Célestin Bouglé, ein Durkheim-Schüler, der später Direktor der Ecole Normale Supérieure wurde; unter den anderen Franzosen, die in Frankfurt vortrugen, waren die Abgeordneten César Chabrun (Sozialist) und Jacques Kayser (Radikalsozialist). Gottfried Salomon, der in vielfältiger Weise mit dem intellektuellen und universitären Leben über Frankfurt hinaus verbunden war, 170 hatte das Jahr 1928 überwiegend in Paris verbracht, um dort über die französische Gesellschaft und Soziologie zu arbeiten, und er erhielt 1930 in Frankfurt/ Main einen Lehrauftrag für „Französische Staats- und Gesellschaftskunde“. 171 Das Programm der DFG Frankfurt wurde offensichtlich stark beeinflusst von diesen Tätigkeiten, Beziehungen und Interessen ihres 2. Vorsitzenden Salomon. Er hatte überdies gemäß seiner Verständigungs- Konzeption seit 1928 die Initiative ergriffen für die zeitweilige Zusammenführung von Repräsentanten künftiger Führungsgruppen aus Deutschland und Frankreich, aber auch aus anderen Ländern. Er galt als Gründer der von 1928 bis 1932 in Davos in der Schweiz stattfindenden mehrwöchigen Hochschulferienkurse, die vom Preußischen Kultusministerium aktiv unterstützt und von den maßgeblichen Mitarbeitern der DFG inhaltlich mitgestaltet wurden. Die Hochschulkurse von 1929 wurden z.B. durch einen Vortrag von Henri Lichtenberger eröffnet, der referierte über die „Psycho- 168 Cf. dazu Heimrich (wie Anm. 67) p. 31sq. Vor der Gründung der Frankfurter DFG hatte bereits am 7.12.1926 Henri Lichtenberger in der Frankfurter Universität einen stark beachteten Vortrag über „Goethe und Frankreich“ gehalten, der angeblich das erste öffentliche Auftreten eines Franzosen an einer deutschen Universität nach dem Weltkrieg war. Cf. dazu Fritz König, Rainer Stübling (ed.): Frankfurt und Frankreich. Eine Dokumentation politischer Beziehungen von 1871 bis 1986, Frankfurt/ Main 1986, p. 60. Einige Tage später referierte Lichtenberger in der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft über die Probleme der deutsch-französischen Annäherung im Geiste von Locarno. Die Dokumentation von König/ Stübling ist bezüglich der DFG (p. 67-69) unzulänglich. 169 Es referierten in der DFG-Ortsgruppe Frankfurt/ Main im Laufe der Jahre u.a. folgende Franzosen: Célestin Bouglé, Gaston Raphaël, Léon Brunschwicg, Paul Desjardins, Vicomte Bourdillon, Maurice Boucher, Edouard Dujardin, César Chabrun, Jacques Kayser, Abbé Delorme, Henri Jourdan, Robinet de Cléry, Gilbert Lesage. 170 Cf. dazu sehr aufschlussreich: Chryssoula Kambas: „Walter Benjamin an Gottfried Salomon. Bericht über eine unveröffentlichte Korrespondenz“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 1982, p. 601-621. Eingehender zu den Frankreich-Kontakten Hans Manfred Bock: „Gottfried Salomon-Delatour als Frankfurter Wegbereiter deutsch-französischer Verständigung und Vordenker transnationaler Begegnung“, in: Hans-Georg Soeffner (ed.): Transnationale Vergesesllschaftung, Wiesbaden 2013, p. 1209-1222. 171 Cf. Rüegg, (wie Anm. 102) p. 626. <?page no="151"?> 151 logie der deutsch-französischen Annäherung“. 172 Als offizieller Vertreter des Preußischen Kultusministeriums war der bekannte Mediziner Prof. Sauerbruch anwesend. Grautoff, der an den Hochschulkursen teilnahm, berichtete, dass 1929 insgesamt 22 deutsche, 14 französische, 1 holländischer und 7 schweizer Hochschullehrer, sowie 101 deutsche, 40 französische, 34 schweizer, 3 holländische, 3 rumänische, 3 tschechische, 3 japanische und 150 in Davos ansässige Studenten diverser Nationalität teilnahmen. 173 Der Höhepunkt der Veranstaltung von 1929 war eine mehr als fünfstündige Disputation zwischen dem Hamburger Kantianer Ernst Cassirer und Martin Heidegger über Grundfragen der philosophischen Anthropologie. Die von Grautoff beobachtete „seelische Hochspannung“ und die intellektuelle Atmosphäre der Davoser Hochschulkurse waren ganz zweifellos ein Kulminationspunkt des deutsch-französischen Dialogs der Locarno-Ära, der übrigens gerade bei den französischen jungen Intellektuellen nachhaltigen Eindruck hinterließ. 174 Die Davoser Ferienkurse waren kein unmittelbares Zweigunternehmen der DFG, aber sie entsprangen durchaus der Verständigungs-Konzeption wie sie Gottfried Salomon in Frankfurt/ Main formuliert hatte und wie sie der Praxis der dortigen Ortsgruppe entsprach. 6. Die Stagnation der DFG im Zeichen der Krise ab 1930 und ihre Usurpierung durch die Nationalsozialisten Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der politischen Krisen in den deutsch-französischen Beziehungen ab Mitte 1930 machten sich in der DFG schneller bemerkbar als in ihrem französischen Pendant, der L.E.G. Gegen Ende 1932 war die Mitgliederzahl der deutschen Vereinigung auf rund 1400 zurückgegangen, während die L.E.G. im selben Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit ihren höchsten Mitgliederstand hatte. 175 Nicht allein die Zahl der Mitglieder (und damit der Abonnenten der DFR) sank angesichts der ökonomischen Not im Reich drastisch, sondern auch die Spenden an 172 DFR, Jg. 1929, p. 354-369. 173 Otto Grautoff: „Die Hochschulkurse in Davos“, in: DFR, Jg. 1929, p. 419sq. 174 Dies ist neuerdings solide dokumentiert für die französischen Normaliens durch Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l'entredeux-guerres, Paris 1988, p. 541sq. Dort auch Hinweise auf Gottfried Salomons zentrale Rolle. Es ist erstaunlich, dass Dieter Tiemann in seiner ansonsten so verdienstvollen Arbeit über die deutsch-französischen Jugendbeziehungen (wie Anm. 5) auf die Davoser Hochschulferien-Kurse nicht eingeht. 175 Exakte Zahlen über den Mitgliederstand der Organisation für einen gegebenen Zeitpunkt sind generell schwierig zu ermitteln. Für die L.E.G. liegt eine glaubwürdige Angabe für Ende 1933 (= 1760 Mitglieder) vor; cf. meine Studie zur L.E.G. in diesem Buch. Aus einem Brief des mit der Sanierung der DFG befassten Ministerialdirektors i.R. Deutelmoser vom 13.12.1932 stammt die Mitgliederstands-Angabe von 1400; cf. DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024132. <?page no="152"?> 152 die DFG von Industrie und Banken schrumpften zusammen. Hatte die DFG im Jahre 1930 noch 29 500 Mark Spenden erhalten und dennoch mit einem Defizit von 18 000 Mark in ihrer Bilanz abgeschlossen, so war bis Mitte 1931 nur ein Spendenvolumen von 9600 Mark zu verzeichnen und Stern-Rubarth bat das Auswärtige Amt dringend um Intervention bei potentiellen Geldgebern. 176 Die Finanznot der DFG und die Existenz-Bedrohung der DFR, die zugleich diejenige Grautoffs war, 177 wurde seit 1931 chronisch. Zur Sicherung des Überlebens der Vereinigung und der Zeitschrift wurden mehrere Wege beschritten. Erstens versuchte Grautoff im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt, das Ansehen der Vereinigung zu verbessern durch die Gewinnung einer bekannten Persönlichkeit für das Amt des Präsidenten. Nacheinander wurden in diesem Zusammenhang angesprochen der ehemalige Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete Freiherr Langwerth von Simmern, der Stuttgarter Elektro- Industrielle Robert Bosch 178 und der Ministerialdirektor i.R. und zeitweilige Reichspressechef Deutelmoser. Zweitens versuchte der DFG-Vorsitzende - wie er es etwas pathetisch nannte - den „Weg in die Masse“ zu gehen, indem er im Laufe des Jahres 1932 eine Reihe von Vorträgen in Ortsgruppen der Zentrums-Partei, der DVP und der Staatspartei hielt. Drittens versuchte Grautoff im Sommer 1932, vom Pariser Außenministerium zusätzliche Subventionen für die DFR zu erhalten. 179 Keiner dieser Wege brachte die Lösung der akuten Probleme von DFG und DFR. Auch die verzweifelten Ansätze Grautoffs, durch ausführliche Darstellung der Verdienste der DFG in Briefen an Reichsaußenminister Julius Curtius 1931 und an Reichskanzler von Papen in der zweiten Jahreshälfte 1932 die Gesellschaft und ihre Zeitschrift zu konsolidieren, blieben erfolglos. Besonders in dem Brief an von Papen 180 - an dessen Hilfsbereitschaft aufgrund seiner Mitgliedschaft im „Mayrisch-Komitee“ er appellierte - betonte Grautoff die Fälle, in denen er grob diskriminierenden Darstellungen Deutschlands in der franzö- 176 Brief vom 22.5.1931 an das AA, in: DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023976sq. 177 Die persönliche Notlage Grautoffs verdeutlicht ein Brief seiner Frau an das Auswärtige Amt vom 22.11.1932. Sie schrieb u.a.: „Grautoff hat seit 5 Monaten kein Gehalt bekommen. Wir haben keinerlei Mittel mehr als die Arbeit meines Mannes für die Deutsch-Französische Gesellschaft. Jede andere Erwerbsmöglichkeit gab er dafür auf. Ich habe mein letztes Vermögen hingegeben, um den Aufbau der Gesellschaft zu ermöglichen. - Wir mußten in den letzten Monaten Schulden machen. Aber der Hauswirt - die Schule - die Nahrungslieferanten warten nicht länger.“ DFG im PA/ AA, Bd. V H 024105. 178 Cf. DFG im PA/ AA, Bd. V, H 024122sq. Die DFG hatte sich schon Anfang 1931 an Robert Bosch gewandt wegen finanzieller Unterstützung. Cf. DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023829. 179 Dort erhielt er Mitte 1931 eine Summe von 10 000 FF für die Fortführung der DFR; cf. DFG im PA/ AA, Bd. IV, H 023996. 180 DFG im PA/ AA, Bd. V, H 024047sq. Papen gab sich an der Fortführung der DFG interessiert, ließ jedoch über die Reichskanzlei wissen, dass alle die Vereinigung betreffenden Fragen weiterhin im Auswärtigen Amt geregelt werden sollten. <?page no="153"?> 153 sischen Öffentlichkeit mit positivem Ergebnis entgegengetreten war. 181 Das stärkste Argument der DFG-Sprecher war, dass man gerade in der neuerlichen Krise der deutsch-französischen Beziehungen das Werk der Verständigung nicht abbrechen dürfe. Das Argument wurde von den zuständigen Beamten des Auswärtigen Amtes geteilt und die Maßnahmen zur Rettung der DFG wurden in kleinem Maßstab auch finanziell gestützt, obwohl es seit Mitte 1930 durchaus zu sachlichen Differenzen mit Grautoff gekommen war. Dieser hatte z.B. die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit nach der Rheinland-Räumung am 30.6. 1930 182 einer bissigen Kritik ausgesetzt, indem er die nationalistischen Manifestationen als eine verpasste Gelegenheit zu einer Versöhnungsgeste von deutscher Seite verurteilte. 183 Erstmals war der DFG-Gründer deshalb vom Ministerium politisch zurechtgewiesen worden, und er gab sich eher kleinlaut. 184 Die Devise „Nun erst recht! “, mit der er diesen Artikel schloss, blieb das Leitmotiv der Kommentare in der DFR der folgenden Jahre bis zum Januar 1933. Die Existenzbedrohung dessen, was er als sein Lebenswerk betrachtete, und seine persönliche desolate Lage trugen dazu bei, dass Grautoff mit wachsender Kritik das Verhalten des deutschen Bürgertums kommentierte, das nach seiner Überzeugung gleichermaßen durch nationalistischen Taumel und durch politische Teilnahmslosigkeit seine Aufgabe des deutschfranzösischen Verständigungswerks verfehlte. Im Frühjahr 1932 z.B. prangerte er an „die Hilflosigkeit der bürgerlichen Mitte, ihre Ratlosigkeit, ihre Stumpfheit dieser Lage gegenüber und vor allem ihre Glaubenslosigkeit und die mangelnde Kraft der bürgerlichen Mitte, sich an metaphysischen Werten aufzurichten“. 185 Statt dem „Mythos“ der extremen Rechten und der extremen Linken einen eigenen Europa-Mythos entgegenzusetzen, bleibe „die bürgerliche Mitte stumpf, teilnahmslos und in materialistischen Interessen befangen, ohne asketischen Opferwillen nur darauf bedacht, die Behaglichkeit der Vergangenheit zu retten“. Sein Fazit war: „Die Wiedergeburt einer Nation oder gar eines Kontinents erfordert mehr von dem Bürger Deutschlands“. 186 Sowohl die Zeitschriften-Aufsätze des DFG- Gründers wie auch andere Beiträge in der DFR machten aus der Ablehnung der Bewegung der Nationalsozialisten keinen Hehl, wenngleich sie 181 U.a. wies der DFG-Vorsitzende (ibid.) darauf hin, er habe 1930 verhindert, „daß der berüchtigte Tirard mit seiner Person und mit Geld des französischen Kriegsministeriums in die Ligue (d'Etudes Germaniques) eintrat, die er im Sinne der extremen Rechten umformen wollte“. Paul Tirard war Hoher Kommissar und Präsident der Interalliierten Rheinland-Hochkommission in Koblenz gewesen. 182 Cf. dazu ausführlich: Knipping (wie Anm. 46) p. 141sq.: „Der Wettersturz des Sommers 1930“. 183 Otto Grautoff: „Nach der Rheinlandräumung“, in: DFR, Jg. 1930, p. 657sq. 184 DFG im PA/ AA, Bd. 111, H 023634sq. 185 Otto Grautoff: „Die deutsch-französische Verständigung in Gefahr“, in: DFR, Jg. 1932, p. 355. 186 Ibid., p. 356. <?page no="154"?> 154 eine frontale Auseinandersetzung mit ihr nicht suchten. 187 Aus dem politischen Umkreis der NSDAP kam 1932 allein der oppositionelle Otto Strasser mit einem Beitrag zu Worte, in dem er nachzuweisen versuchte, dass Frankreich von der Schaffung „Großdeutschlands“ nichts zu befürchten habe und dass die deutsche Verständigungspolitik durch die Vernachlässigung des „großdeutschen“ Ziels das „Odium des nationalen Verrats“ auf sich geladen habe. 188 Gegen diese Anschuldigung erhob im Februar 1933 ein DFG-Sprecher Widerspruch, indem er zu belegen versuchte, dass die Revisionsansprüche des Deutschen Reiches niemals in den Beiträgen der DFR aus dem Auge verloren worden seien. Insofern wollte er den Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit der deutschen Rechten an die Adresse der DFG nicht gelten lassen. Er stellte jedoch fest, die extreme Rechte stelle sich „in strammer Haltung als feindliche Front“ gegen die DFG: „Sie lehnt jede Gemeinsamkeit mit uns ab, weil Leiter, Mitarbeiter und Leser der Deutsch-Französischen Rundschau keinen Sinn für die Belange des deutschen Volkes haben, nationale Würde nicht kennen und überhaupt keine aufrechten Deutschen sind. So liest und hört man gelegentlich“. 189 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.1.1933 war die derzeit kurz vor der Eröffnung des Konkursverfahrens stehende DFG den wachsenden Pressionen der neuen Machthaber recht wehrlos ausgesetzt. Im März 1933 wurde das Pauschalabonnement der DFR von 40 auf 10 Exemplare herabgesetzt mit der Begründung, die DFG habe sich den Reorganisationsplänen des Auswärtigen Amtes im vergangenen Jahr widersetzt, und die Zeitschrift sei in erster Linie „ein rein geschäftliches Unternehmen des Verlages“. 190 Als am 19.6.1933 der Zentrums-Politiker und ehemalige Württembergische Staatspräsident Dr. Bolz verhaftet wurde mit der Begründung der „nationalen Unzuverlässigkeit“, für die u.a. seine Mitgliedschaft in der DFG angeführt wurde, geriet die residuale Organisation zum letzten Mal in Deutschland ins Licht der größeren Öffentlichkeit. Diese Maßnahme veranlasste den französischen Botschafter André François-Poncet, der selbst einige Artikel in der DFR veröffentlicht hatte, zur Anfrage beim Auswärtigen Amt, ob die Mitgliedschaft in der DFG nunmehr als inkriminierbarer Tatbestand angesehen werde und wie sich eine solche Auffassung mit den Versicherungen des Reichskanzlers Hitler vereinbaren lasse, den Weg der Eintracht und des Friedens mit Frankreich 187 Es hieß (Ibid., p. 355) z. B.: „Bietet die Hitlerbewegung nicht Zeichen genug für das metaphysische Bedürfnis, das im Volke vorhanden ist? Es liegt so offen zutage, daß Rattenfänger es entzünden und für sich gewinnen können. Der Durst unseres Volkes nach einem Mythos ist so stark, daß es sich festsaugt, selbst wenn ihm nur Essig geboten wird.“ 188 Otto Strasser: „Deutschland und Frankreich“, in: DFR, Jg. 1932, p. 542. 189 Konrad Klobser: „Querelles allemandes“, in: DFR, Jg. 1933, p. 121. 190 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024194. <?page no="155"?> 155 beschreiten zu wollen. 191 Der Vertreter des Auswärtigen Amtes lehnte es in seiner Antwort ab, die Einstellung amtlicher deutscher Stellen gegenüber der DFG als Gradmesser für die deutsch-französischen Beziehungen gelten zu lassen, und er wollte das vereinbarte kulturpoltische Prinzip der Gegenseitigkeit nur für die Zeitschriften, nicht aber für die DFG anerkennen, da diese in Frankreich keine Entsprechung habe. Die letzte nachweisbare Veranstaltung der DFG-Berlin war am 24.5.1933 der Vortrag eines jungen französischen Germanisten gewesen, der über Jules Romains' neuen Roman „Les hommes de bonne volonté“ referierte. 192 In einem Gespräch des preußischen Kultusministers Rust mit François-Poncet am 24.6.1933 wurde von der DFG berichtet, dass sie sich mehr oder weniger im Zustande der Auflösung befinde. Zugleich versicherte Rust das Interesse der neuen Machthaber an der Fortsetzung des kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich, und der französische Botschafter sprach von der Möglichkeit einer Umbildung der Deutsch-Französischen Gesellschaft. 193 Etwa gleichzeitig, Ende Juni 1933, siedelte Grautoff in richtiger Einschätzung seiner Gefährdung nach Paris über, und die DFR stellte im Juli 1933 ihr Erscheinen ein, während das Parallelorgan, die Revue d'Allemagne, noch bis Ende 1933 erschien. Die Auflösungs-Situation der DFG nutzte einer ihrer Gegner aus dem nationalen Lager, der Berliner Romanist Eduard Wechssler (1869-1949), um Ende Juni 1933 beim Auswärtigen Amt nachzufragen, ob dort Interesse daran bestehe, mit seiner Hilfe Ersatz zu schaffen. Er versicherte, der Zeitschrift ebenso ferngestanden zu haben wie der DFG („eine mondäne Veranstaltung für Berlin W.“! ); es entstehe aber im Falle des Eingehens der DFR doch „eine bedauerliche Lücke“. 194 Die Unterredungen des AA mit Wechssler gingen bis Ende Oktober 1933 und wurden beendet durch die Einschätzung, dass ein Anknüpfen an die Tradition der DFR nicht möglich und dass es verfrüht sei, einen neuen Anlauf für die Gründung einer deutsch-französischen Zeitschrift zu unternehmen. 195 Warum die Spuren der DFG getilgt werden mussten, bevor eine Neugründung vertretbar war, konnten die Ministerialbeamten des AA aus dem Bericht eines Observanten der NSDAP ableiten, der ihnen zugestellt worden war. 196 Dessen umfangreichen Exzerpten aus der DFR war das vorwegnehmende Pauschalurteil schon vorangestellt. Es hieß, die Tendenz der DFG sei falsch 191 DFG im PA/ AA, Bd.VI, H 024198sq.: „Note verbale“, und ibid. H 024200sq.: „Aufzeichnung über eine Unterredung des AA mit dem Geschäftsträger der Französischen Botschaft“. 192 Cf. DFR, Jg. 1933, p. 398. 193 DFG im PA/ AA, Bd.VI, H024208sq. 194 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024215. 195 Brief vom 20.10.1933 in: DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024244. 196 DFG im PA/ AA, Bd.VI, H024225sq.: „Die Tätigkeit der Deutsch-Französischen Gesellschaft, dargestellt anhand von Zitaten aus der Deutsch-Französischen Rundschau, dem Organ der Gesellschaft, aus den Jahrgängen 1931, 1932, und 1933“. Aus den Hinweisen des NSDAP-Spitzels ist zu schließen, dass er schon seit 1930 Berichte über die DFG verfasst hatte. <?page no="156"?> 156 gewesen aus folgenden Gründen: „Die (sic! ) einseitig aus pazifistischlinksgerichteten Persönlichkeiten zusammengesetzte (! ) Mitarbeiterkreis. Die vollkommene Verjudung der Gesellschaft. Die Vertretung politischer Interessen durch die angeblich politisch neutrale Gesellschaft in dem Sinne, dass einmal die Verständigungspoltik in einer Weise unterstützt wird, die nicht vom deutschen Interesse (,) sondern dem einer nach Frankreich hinneigenden Internationale diktiert ist, und dass weiterhin in perfider Weise systematisch gegen die nationale Bewegung in Deutschland Stellung genommen wird“. 197 Ende November 1933 erfuhr das Auswärtige Amt, dass sich inzwischen in Berlin ein „Notvorstand“ der DFG gebildet hatte und die Organisation vereinsrechtlich nicht zu existieren aufgehört habe. 198 Dem vierköpfigen „Notvorstand“ gehörte u. a. ein zeitweiliger Mitarbeiter der Abteilung VII des Propagandaministeriums an. Die Rechte an der Zeitschrift hatte der DFR-Verleger Rothschild an den „Verlag für Staatswissenschaften“ abgeben müssen. Der Eindruck des Auswärtigen Amtes war, dass der „Notvorstand“ der DFG „sich die Firma Deutsch-Französische Gesellschaft zunächst einmal für seine eigenen Bestrebungen zu sichern“ bemühte und dass ihm an deren etablierten Kontaktmöglichkeiten nach Frankreich gelegen war. Dass vor allem das Reichspropagandaministerium an dem Etikett der DFG interessiert war, zeigen auch die Sondierungsgespräche des I.G.-Farben-Vertreters Dr. Ilgner, der Ende November 1933 nach „eingehender Rücksprache“ 199 mit Goebbels eine Woche lang in Paris Unterredungen mit Repräsentanten der französischen Industrie und Politik führte. 200 Nach einem Bericht der deutschen Botschaft in Paris von 15.12.1933 hatte Ilgner die Absicht, die Deutsch-Französische Gesellschaft umzuformen zu einer zentralisierten Spitzenorganisation für deutschfranzösische Kontakte und dann selbst deren Präsident zu werden. 201 Anfang 1934 erhob auch Grautoff in einem Rundschreiben an die Mitglieder der DFG im Reich den Anspruch auf die rechtmäßige Fortführung der DFG, deren Sitz er im vergangenen Jahr aus politischen Gründen nach Paris habe verlegen müssen. Sowohl Ilgner als auch der Vorsitzende des Berliner DFG-„Notvorstandes“ behaupteten, Grautoff sei an sie herangetreten, 197 Ibid., H 024225. 198 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024245. 199 So in einem Bericht der deutschen Botschaft in Paris, in: DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024279. 200 Cf. das Dossier: „Auszüge aus den wichtigsten Besprechungen Dr. Ilgners in Paris“, in: DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024251-H 024273. 201 DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024279. Diesen Zugriffsversuch des Reichspropagandaministeriums auf die DFG hat bereits richtig erkannt: Alfred Kupfermann: „Diplomatie parallèle et guerre psychologique“, in: Relations Internationales, Jg. 1974, p. 72-95. Kupferman geht irrtümerlicher Weise davon aus, dass Grautoff selbst die Auflösung der DFG veranlasst habe. Dies ist eines von vielen Beispielen für die unbesehene Übernahme der Darstellung, die die Nationalsozialisten selbst von der Geschichte der DFG gegeben haben. <?page no="157"?> 157 um ihnen seine Dienste anzutragen. 202 Während hier der Verdacht nicht auszuschließen ist, dass die nationalsozialistischen Prätendenten auf die DFG-Führungsnachfolge diese Behauptungen aufstellten, um den DFG- Gründer zu diskreditieren, steht doch fest, dass Grautoff bestrebt war, nicht alle politisch-institutionellen Fäden nach Deutschland abreißen zu lassen. 203 Die Balgerei um die rechtmäßige Nachfolge der DFG nahm im Juli 1934 unvermittelt ein Ende, als (vermutlich durch einen Beschluss in der NSDAP-Führung) die formale Auflösung der Vereinigung dekretiert wurde. Die von den Nationalsozialisten mit dem DFG- „Notvorstand“ und dem Auswärtigen Amt abgesprochene Pressenotiz, 204 die Mitte Juli veröffentlicht wurde, gab zur Kenntnis, eine Mitgliederversammlung der DFG habe am 12.7.1934 einstimmig beschlossen, die Gesellschaft aufzulösen. Diese Auflösung bedeute jedoch keineswegs, dass man auf die Pflege der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen verzichten wolle: „Im Gegenteil soll das Verschwinden der an den Geist einer früheren Epoche gebundenen Gesellschaft den Weg freimachen für eine Reorganisation derjenigen Bestrebungen, die die Annäherung und den geistigen Austausch zwischen den beiden großen Kulturvölkern Deutschland und Frankreich zum Gegenstand haben“. 205 Als diese Erklärung in der französischen Presse abgedruckt und irrtümlich Grautoff zugeschrieben wurde, trat dieser zum letzten Mal als DFG-Sprecher in Erscheinung, indem er am 24.7.1934 ein Dementi in der Pariser Tageszeitung Le Temps veröffentlichte. 206 Er stellte richtig, dass diese Erklärung von einem Notvorstand komme, der durch Zwang eingesetzt worden sei, gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugungen: „Il se peut fort bien que ce Notvorstand ait pris les décisions qui n'ont aucun rapport avec l'esprit et l'activité de la Deutsch-Französische Gesellschaft telle que je l'ai connue et dirigée“. 207 Die DFG, deren Geschichte damit endete, fand bei den französischen Zeitgenossen Anerkennung, die Gegner der Nationalsozialisten waren, und Spott bei denen, die sich den Nationalsozialisten andienten. Im Neujahrsbrief 1933 eines französischen DFR-Mitarbeiters, der seit Mitte 1930 nicht mehr dort publiziert hatte, hieß es z.B.: „Was auf dem Gebiete der deutschfranzösischen Verständigung zu machen war, haben Sie versucht. Vielleicht war nicht mehr zu erreichen; vielleicht kommen bessere Zeiten“. 208 202 Brief von Dr. Draeger, dem Vorsitzenden des Notvorstandes, an Le Temps, in: DFG im PA/ AA, Bd.VI, H 024304sq. 203 Er erbat z.B. noch Anfang 1934 bei der deutschen Botschaft in Paris, ihm seine kunstgeschichtlichen Glasplatten per Kurier aus Deutschland zukommen zu lassen; eine Bitte, die ihm verwehrt wurde. 204 Text in: DFG im PA/ AA, Bd. VI, H 024298. 205 Ibid., H 024298. 206 Cf. ibid., H 024306sq. 207 Ibid. 208 Eugène Susini: „Jahreswende 1933“, in: DFR, Jg. 1933, p. 5. <?page no="158"?> 158 Ein anderer französischer DFR-Autor, der Mitarbeiter des Völkischen Beobachters geworden war, erging sich 1935 in Spott über die „berufsmäßigen Verständigungsmacher“ der DFG: „Ununterbrochen plätscherte dort der deutsch-französische Dialog. Manchmal erlebte man auch deutschfranzösische Küsse. Solches Treiben erklärt hinlänglich, warum in manchen deutschen Kreisen die Verständigung unbeliebt wurde“. 209 Der Nachruf auf die DFG im L.E.G.-Organ war - dem Neutralitätsgebot der Vereinigung entsprechend - sachlich, aber auch urteilslos. 210 In Deutschland gelang es den Nationalsozialisten, die Erinnerung an die deutschfranzösische Verständigungsorganisation der Locarno-Ära auszulöschen. Dies gelang ihnen schließlich, indem sie nach dem vergeblichen Anlauf der Usurpierung der DFG in den Jahren 1933/ 34 dann doch noch eine Organisation gleichen Namens und scheinbar gleicher Zweckbestimmung im Oktober 1935 gründeten. 209 André Germain: Der Weg zur Verständigung. Die politische Lage in Frankreich und ihre Auswirkung auf Deutschland, Berlin 1935, p. 25sq. 210 Se Connaître. Organe bimestriel de la Ligue d'Etudes Germaniques, Jg. 1933, Nr. 5/ 6, p. 162: „La Société franco-allemande (Deutsch-Französische Gesellschaft) de 1928 à 1933“. <?page no="159"?> 159 V. Ligue d'Etudes Germaniques von 1928 bis 1936 Im Spektrum der transnational agierenden Vereinigungen der Zwischenkriegsjahre, die sich die Interaktion zwischen Frankreich und Deutschland zur Aufgabe gemacht hatten, tritt eine Gruppe hervor, die im Vergleich zu den hier bereits vorgestellten Organisationen und Netzwerken eine sehr spezifische Funktion ausübte. Die Ligue d’Etudes Germaniques (L.E.G.) stellte das besondere berufsständische Interesse der Deutschlehrer an den französischen Gymnasien in den Vordergrund ihrer Tätigkeit. Zugleich war sie ein formal verfaßtes Netzwerk der französischen Deutschlehrer in den Städten außerhalb von Paris, das berufspraktische Materialien, Nachrichten, Informationen und Hinweise vermittelte, die unmittelbar für das unterrichtliche Handeln nützlich waren. Und schließlich war die L.E.G. in ihren rund 20 Ortsgruppen ein französisch-deutscher Begegnungsort, an dem ortsansässige oder durchreisende Deutsche unter Anleitung der lokalen Deutschlehrer mit interessierten französischen Bürgern ins Gespräch gebracht wurden. Aufgrund ihres berufsständischen Zuschnitts erreichte diese Vereinigung Bevölkerungsgruppen, die anderweitig in ihrer Lebenswelt mit den Problemen und Repräsentanten des Nachbarlandes kaum in Berührung gekommen wären. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt verdient die L.E.G. das Interesse einer sozialgeschichtlichen Studie der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen. Die Aufgabe aktiver Interessenvertretung der französischen Deutschlehrer bewirkte, daß die ausschließlich deutsch-französische Perspektive sich in der L.E.G. stärker abzeichnete als in den anderen Verständigungsorganisationen. Dennoch stand sie mit diesen nicht nur in personeller Verbindung, sondern schloß sich auch deren friedens- und europapolitischen Bestrebungen zumindest punktuell an. Von den Wortführern der DFG wurde der Verein der französischen Deutschlehrer beharrlich als „Zielgemeinschaft“ oder als „Schwesterorganisation“ bezeichnet und in der DFR wurden seine Aktivitäten ausführlich dokumentiert. Diese vereinnahmende Charakterisierung beruhte mehr auf dem Zwang der DFG-Repräsentanten, gegenüber dem Auswärtigen Amt den Beweis zu erbringen, daß in Frankreich ein Äquivalent zur eigenen Tätigkeit existierte, als auf den tatsächlichen Entsprechungen in den Zielsetzungen und Arbeitsweisen beider Vereinigungen. Das Auswärtige Amt weigerte sich konstant, die L.E.G. als gleichwertige Verständigungsorganisation anzuerkennen. Diese Weigerung belegt indirekt, daß die französische Deutschlehrer-Organisation kein Instrument der deutschen Politik in Frankreich war. Sie beruhte aber wohl auch darauf, daß die deutsch-französischen Pädagogenkontakte im Zeichen pazifistischer Überzeugung auf der französischen Seite und reform- <?page no="160"?> 160 pädagogischer Inspiration auf der deutschen Seite stattfanden. Einen zusätzlichen Grund für die Nichtanerkennung der L.E.G. durch die deutsche Diplomatie machte Otto Grautoff, einer der Geburtshelfer der französischen Organisation, geltend. In Deutschland werde eine Organisation erst ernstgenommen, wenn sie einen bürokratischen Apparat aufwies. Der sei allerdings im Falle der L.E.G. nicht gegeben, denn sie arbeite auf der Grundlage des ehrenamtlichen Engagements ihrer Gründer und Mitglieder. 1 1. Die Gründung und Zielsetzung der L.E.G. Die Vorgeschichte der L.E.G.-Gründung ist eng verbunden mit den Bemühungen des Initiators der Deutsch-Französischen Gesellschaft, in Frankreich eine Organisation zu finden, die dort in ähnlicher Weise wie die DFG in Deutschland das Ziel verfolgte, die Kenntnis des Nachbarlandes zu fördern und die durch Weltkriegs- und Nachkriegskonflikte tief verwurzelten Ressentiments und Vorurteile abzubauen. Der DFG-Gründer Otto Grautoff war nachdrücklich darauf verwiesen, ein organisatorisches Pendant in Frankreich zur DFG zu finden, weil das Auswärtige Amt vom Prinzip der Gegenseitigkeit in den Verständigungsversuchen die ideelle und materielle Unterstützung der DFG abhängig machte. Die diplomatische Erwägung, die hinter dem Imperativ der Gegenseitigkeit der gesellschaftlichen Verständigungsbestrebungen stand, war geleitet von der Furcht, dem mächtigsten kontinentalen Gegner des Deutschen Reichs nicht die Möglichkeit der positiven Selbstdarstellung und Sympathiewerbung im eigenen Lande einzuräumen, ohne entsprechende Chancen in Frankreich wahrnehmen zu können. Im Gegenzug zur Veröffentlichung der „Deutsch-Französischen Rundschau“ in Berlin war so die Lancierung der „Revue d'Allemagne“ ab 1927 in Paris erfolgt. Die Konstituierung einer „Zielgemeinschaft” für die DFG in der französischen Hauptstadt war - wie Grautoff feststellte - erheblich schwieriger; er führte die Schwierigkeiten 1931 zurück auf die „allgemeinen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, betont und ausgenutzt von der (nationalistischen) aggressiven Oppositionspresse”, die bis dahin die Gründung einer Deutsch-Französischen Gesellschaft in Paris verhindert hätten. 2 Während also die Hochschul-Germanisten in Paris und den anderen Universitätsstädten in Frankreich ihrem professionellen Interesse an Deutschland in erster Linie literarisch Ausdruck gaben, in den historischphilologischen Studien der seit 1905 erscheinenden „Revue Germanique“ und in den stärker gegenwartsbezogenen Beiträgen der „Revue d'Al- 1 Cf. Grautoff: Franzosen sehen Deutschland, Leipzig 1931. 2 Ibid., p. 40. <?page no="161"?> 161 lemagne“ seit 1927, 3 wurde die Aufgabe der Weckung und Organisierung des Deutschland-Interesses eines breiteren Publikums schließlich im Milieu der gymnasialen Deutschlehrer außerhalb von Paris aufgegriffen. Es ist anzunehmen, aber nicht belegbar, dass zu dieser Initiative die vom DFG- Gründer Grautoff 1925 unternommene Rundreise durch Frankreich und die Kontaktnahme zu zahlreichen französischen Germanisten in Hochschulen und Gymnasien beigetragen hat. 4 Grautoff stellte im Jahr des Vertragsschlusses von Locarno die „Wandlungen des französischen Geistes um 1925” bei der jüngeren Generation fest, die gegen die Vorurteile der Väter opponiere: „Sie tut große und tiefe Atemzüge im Freien und Weiten, saugt sich voll mit dem Lebensfludium, das jenseits der Landesgrenzen im Erdraum schwebt.” 5 Neben der generationsspezifischen Einstellungsveränderung kann als weiterer Anstoß für die Gründung der L.E.G. ein unmittelbares berufsständisches Interesse belegt werden. Durch einen Erlass des Erziehungsministeriums vom 25.1.1926 war die Beibehaltung des Deutschunterrichts im bisherigen Umfang aus Spargründen abhängig gemacht worden von einer Mindestzahl von Interessenten unter den Schülern der jeweiligen lycées. 6 Da die spontane Neigung zum Erlernen des Deutschen als Fremdsprache in der Nachkriegszeit generell gering war und da überdies Deutsch bei den Schülern als schwierige Sprache angesehen wurde, erwarteten die professeurs d'allemand eine weitere Reduzierung des Deutschunterrichts und waren darüber in helle Aufregung geraten. Sie konnten auf den Widersinn der Eröffnung neuer Perspektiven für die deutsch-französischen Beziehungen durch die Politik des Locarno-Vertrags und der gleichzeitigen Schließung oder Einschränkung der Möglichkeit für das Erlernen der deutschen Sprache hinweisen, und sie fanden mit dieser Argumentation Resonanz über ihre engere Berufsgruppe hinaus. Es war ein gymnasialer Deutschlehrer der jüngeren Generation am lycée von Sens, A. Gaucher, 7 der im April 1928 bei der Préfecture de l'Yonne die L.E.G. als eingetragenen Verein anmeldete. Er vertrat mit anderen Vorstandsmitgliedern Anfang Dezember 1928 die Interessen seiner Berufsgruppe hinsichtlich des Erlasses vom 25.01.1926 im Erziehungsministerium in Paris. 8 Die Vereinsgründung war verbandspolitisch nicht ganz unprob- 3 Cf. Béatrice Pellisier: Un dialogue franco-allemand de l’entre-deux-guerres: la Deutsch- Französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Thèse Paris IV 1991/ 1992, 2 Bde. 4 Cf. dazu seinen Bericht: Otto Grautoff: Das gegenwärtige Frankreich. Deutungen und Materialien, Halberstadt 1926, 75 sq.: „Die Germanistik in Frankreich“. 5 Ibid., p. 63. 6 Cf. dazu SPES. Bulletin trimestriel de la Ligue d‘Etudes Germaniques, 1929, p. 6. 7 A. Gaucher wurde 1896 geboren in Salins du Jura, war secrétaire de mairie in Theilsur-Vanne, wo seine Frau als Volksschullehrerin unterrichtete, und Deutschlehrer am lycée von Sens. Weitere biographische Spuren, um die sich 1988/ 89 der Vorsitzende der Association Franco-Allemande von Sens, M. Mettey, dankenswerter Weise bemühte, sind nicht auffindbar. 8 Dokumentiert in: SPES. Bulletin trimestriel de la L.E.G., 1929, Heft 1, p. 8. <?page no="162"?> 162 lematisch, da sie als Dissidenz von der Vereinigung der Neusprachenlehrer, der Association des Professeurs de Langues Vivantes (APLV) aufgefasst werden konnte. Diesem Verdacht trat die L.E.G. entgegen, indem sie nachdrücklich ihre Mitglieder zum Eintritt in die APLV aufforderte und die Besonderheit ihrer Zielsetzung präzisierte. Ihr Hauptzweck sei nicht, die Berufsinteressen der Neusprachenlehrer zu vertreten. Sie sei vielmehr offen für alle Franzosen und sehe ihr Ziel darin, sich politisch dafür einzusetzen, dass der deutschen Sprache und der civilisation allemande ein erstrangiger Platz eingeräumt werde im französischen Bildungssystem. Artikel 1 der Statuten der L.E.G definierte diese Zielsetzung lapidar: „Développer en France et dans les Colonies Françaises, l'étude de la langue allemande et de toutes les questions qui touchent à l'Allemagne.” 9 Die Beiträge im Verbandsorgan der Vereinigung, die der Erläuterung dieser Zielsetzung gewidmet waren, wiesen regelmäßig auf zwei Rechtfertigungsgründe für die Beschäftigung mit der deutschen Sprache und dem aktuellen Deutschland hin. Zum einen sprächen alle Vernunftsgründe für eine politische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, und diese sei in der Wahrnehmung der eigenen nationalen Interessen nur sinnvoll, wenn man die andere Seite möglichst gut kenne. Zum anderen habe das Erlernen der deutschen Sprache gerade wegen ihrer Schwierigkeiten einen hohen allgemeinen pädagogischen Wert. In einem anderen Aspekt der Zweckbestimmung der L.E.G. versuchten ihre Sprecher von Anfang an, möglichen Missverständnissen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten. Man wollte keinen Zweifel daran lassen, dass die L.E.G. ihre Aufgabe nicht in der schönfärbenden Berichterstattung über Deutschland und auch nicht in der einseitigen Darstellung der verständigungsbereiten Kräfte im Nachbarland sah. Gaucher verband z.B. in einer programmatischen Erklärung vom Frühjahr 1929 sein Bekenntnis zur Idee der französisch-deutschen Annäherung mit der Feststellung: „Nous savons qu'en Allemagne nous avons de fidèles amis; mais nous n'ignorons pas que nous y avons aussi d‘irréductibles ennemis. Nous ferons connaître les uns et les autres, par tous les moyens de notre pouvoir, sans restriction aucune et en toute franchise. Ne nous laissons pas égarer par de nobles sentiments, non plus que par des avis superficiels, ou intéressés; étudions l'Allemagne et les Allemands méthodiquement, régulièrement et avec loyauté; et quels que soient nos désirs, nos espoirs, ou nos craintes, ne nous décidons qu'en toute connaissance.” 10 Diese um größtmögliche Sachlichkeit und um parteipolitische Neutralität bemühte Haltung blieb prinzipiell verbindlich für die L.E.G., wenngleich sie eingestandenermaßen immer schwieriger wurde angesichts der innenpolitischen Entwicklung im Deutschen Reich und de- 9 Ibid., p. 2. 10 A. Gaucher: „Précisions“, in: Se Connaître. Bulletin trimestriel de la L.E.G., 1929, Heft 2, p. 1. Im gleichen Heft (6 sq.) wurden die Gegner und die Befürworter der deutschfranzösischen Annäherung in Deutschland porträtiert; der Artikel „L‘effort des allemands amis de la culture française“ war im Wesentlichen eine Darstellung der DFG. <?page no="163"?> 163 ren Rückwirkungen auf die deutsch-französischen Beziehungen in den dreißiger Jahren. Noch im letzten Heft von „Se Connaître“ wurde 1936 die Einstellung der Vereinigung zu den Vorgängen in Deutschland in der folgenden Weise charakterisiert: Die Redaktion habe sich immer bemüht, eine grundsätzlich „positive Haltung” einzunehmen, ohne ihrer Tradition der Unparteilichkeit untreu zu werden und ohne in den Fehler zu verfallen, alles was jenseits des Rheins geschehe in serviler und gutgläubiger Bewunderung aufzunehmen. 11 Ob die L.E.G. diesem Anspruch gerecht wurde, kann ansatzweise mit Hilfe einer Inhaltsanalyse ihrer Zeitschrift beantwortet werden. Aber auch ihre Organisationgeschichte enthält deutliche Anhaltspunkte für die ständig wachsenden Schwierigkeiten, den Vorrat an wohlwollendem Interesse gegenüber Deutschland und den Deutschen, mit dem die Mitglieder der Ligue angetreten waren, angesichts der neonationalistischen und der nationalsozialistischen Bewegungen während der dreißiger Jahre zu erneuern. Diese Schwierigkeiten führten langfristig zum Mitglieder- und Substanz-Verlust und schließlich 1936 zum Ende der L.E.G. 2. Zur Organisation, Verbreitung und sozialen Zusammensetzung der L.E.G. Die Statuten der L.E.G. sahen als leitendes Organ ein Zentralbüro vor, das neben dem Präsidenten zwei Stellvertreter und zwei Schatzmeister umfasste und das wegen neu hinzukommender Aufgaben später erweitert wurde. Das Zentralbüro war verpflichtet, mindestens einmal im Jahr einen Kongress oder eine Mitgliederbefragung zu organisieren, um die Richtlinien der Verbandstätigkeit festzulegen. Die Mitglieder konnten sich in regionalen „Unionen” zusammenschließen. Tatsächlich bestand die Vereinigung dann ganz überwiegend aus Ortsgruppen in Städten. Das Organisationsnetz blieb locker geknüpft und die Bereitschaft der Mitglieder, ihren Jahresbeitrag zu zahlen, gab dauernden Anlass zu Mahnungen im Vereinsorgan. Grautoff, der den langjährigen Vorsitzenden der L.E.G. Gaucher in seinem Büro in Theil-sur-Vanne in der Nähe von Sens 1929 besuchte, registrierte mit viel Sympathie, wie ganz unbürokratisch, aber dennoch effektiv dieser seinen Aufgaben nachkam. 12 Sämtliche Tätigkeiten in der L.E.G. waren ehrenamtlich. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass das Außenministerium in Analogie zur Berliner Wilhelmstraße und der DFG die L.E.G. durch das pauschale Abonnement einer festen Zahl von „Se Connaître“-Exemplaren indirekt unterstützte. 11 Se Connaître, 1936, Heft 1/ 2, p. 3. 12 Otto Grautoff: Franzosen sehen Deutschalnd, op.cit., p. 28 sq. Cf. auch den Bericht von seinem Besuch in Sens in: Deutsch-Französische Rundschau, 1929, p. 617 sq. <?page no="164"?> 164 Die Hochschul-Germanisten spielten in den organisatorischen Zusammenhängen der Vereinigung keine aktive Rolle und sie meldeten sich in deren Periodikum nicht sehr oft zu Worte. 13 Aber im Laufe der Jahre übernahm dann doch ein professorales Ehrenkomitee eine Art Patronagefunktion. Im Jahre 1931 gehörten diesem Komitee z.B. an die Universitätsprofessoren der Germanistik Henri Lichtenberger/ Paris, Jean-Edouard Spenlé/ Straßburg, Edmond Vermeil/ Straßburg, Félix Piquet/ Lille, Amédée Vulliod/ Nancy und der Politische Ökonom Henry Laufenburger/ Straßburg. Die Mitgliederzahl der L.E.G. erreichte mit größter Wahrscheinlichkeit 1932 ihren Höhepunkt. Während sich die Vereinigung mit Auskünften über den Stand ihrer Mitglieder zurückhielt, wurden in der „Deutsch-Französischen Rundschau“ regelmäßig ansteigende Zahlen genannt. Sie meldete im Herbst 1929 fortschreitende Rekrutierungserfolge und einen Stand von rund 1.000 Mitgliedern der französischen „Zielgemeinschaft” der DFG. 14 Im Frühjahr 1932 wurde in der DFR als Sensationsmeldung mitgeteilt, die L.E.G. habe nunmehr rund 4.000 Mitglieder und könne damit als Ansporn für die Deutsch-Französische Gesellschaft dienen, die ihre Mitgliederwerbung verstärken müsse. 15 Diese pauschalen Zahlenangaben spiegeln die relative Stärke der Mitgliederentwicklung der französischen Verständigungsorganisation wohl zuverlässig. Allerdings wird man annehmen müssen, dass die jeweiligen absoluten Zahlen zumindest nach oben abgerundet waren. Die DFG war seit 1930 einem ständig wachsenden Rechtfertigungsdruck gegenüber dem aggressiven Nationalismus im Reich ausgesetzt und der Nachweis analoger Bestrebungen zur Verständigung in Frankreich wurde für sie zum überlebenswichtigen Argument für die Abwehr der Verdächtigung, sie sei ein Instrument der französischen Deutschlandpolitik. Eine eher beiläufige Bemerkung des damaligen Präsidenten der L.E.G. Adrien Robinet de Clery vom Jahresende 1933, er vertrete 1760 Mitglieder, 16 ist zweifellos glaubwürdiger als die von der DFG veröffentlichten Zahlen; allerdings wies die L.E.G. nach Hitlers Regierungsübernahme vom Jahresanfang zu dieser Zeit bereits starke Erosionserscheinungen auf. Die geographische Verankerung der Vereinigung hing weitgehend ab von der Initiative der jeweiligen lokalen Gruppen. Die anfängliche organisatorische Planung war flächendeckend und Anfang 1929 gab es in 12 von 16 Académies, also Erziehungsverwaltungs-Bezirken, Beauftragte der L.E.G. Darüber hinaus gab es Korrespondenten in Berlin, Mainz, Blida/ Algerien und Casablanca. 17 In den nächsten Jahren arbeiteten „etwa 20 13 Dies obwohl prinzipiell die soziale Distanz zwischen Hochschul-Germanisten und den agrégés unter den Deutschlehrern weniger ausgeprägt war als zwischen den Romanisten und den Französischlehrern in Deutschland. 14 Deutsch-Französische Rundschau, 1929, p. 618. 15 Deutsch-Französische Rundschau, 1932, p. 391. 16 Se Connaître, 1933, p. 165. 17 Se Connaître, 1929, Heft 2, p. 2. <?page no="165"?> 165 Ortsgruppen” 18 mehr oder minder kontinuierlich und oft in Verbindung mit anderen lokalen Vereinigungen. Besonders aktiv war die Ortsgruppe in Toulouse, 19 wo der 1928 von den Germanisten H. Loiseau und J. Boyer gegründete Club franco-germanique weitgehend identisch war mit der L.E.G. In Marseille wurde noch Ende 1932 eine Ortsgruppe neu gegründet; in Lyon bildete ein Kreis von einem Dutzend Personen die Initiativgruppe. 20 In Paris gab es keine direkte Ortsgruppe, aber einige deutsch-französische Kommunikationszirkel, die über längere Zeit arbeiteten und der L.E.G. sowie der DFG gleichermaßen nahe standen. Der wichtigste und aktivste Zirkel war dort der im Februar 1929 von Mme Barrance gegründete und 2, place de la Sorbonne lokalisierte studentische Cercle franco-allemand, der in Verbindung stand zu dem 1930 mit Unterstützung der DFG gegründeten Institut d'Etudes Germaniques der Sorbonne unter der Leitung von Henri Lichtenberger. 21 Die der L.E.G. nahestehende Ortsgruppe, deren öffentliche Aktivitäten noch bis zum Frühjahr 1936 nachweisbar sind, war der Cercle d'études franco-allemandes in Lille. 22 Die soziologische Zusammensetzung der Mitgliedschaft der L.E.G. ist jenseits der Kerngruppe der Deutschlehrer des enseignement secondaire schwierig zu ermitteln. Es dürften aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Angehörigen des besitzenden und bildungsorientierten Bürgertums gewesen sein, denen entweder als Eltern schulpflichtiger Kinder oder als außenwirtschaftlich, politisch oder kulturell interessierte Franzosen an dem Zugang zur deutschen Sprache und zur kontinuierlichen Information über Deutschland gelegen war. Alle eher spärlichen und verstreuten Hinweise gehen in diese Richtung. Grautoff schrieb in seiner Darstellung der L.E.G. 1931, sie umfasse neben den Germanisten andere „Beamte, Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute und Fabrikanten.” 23 Eine Besuchergruppe der L.E.G. in Deutschland im Frühjahr 1932 umfasste neben den Germanisten Ärzte, Volkswirtschaftler und Beamte. 24 Die angeführten Indizien sprechen dafür, dass in Frankreich das organisierte Interesse am Nachbarland von denselben gesellschaftlichen Gruppen getragen und von denselben Motiven bestimmt wurde wie im Falle der DFG in Deutschland. 25 18 Otto Grautoff: Franzosen sehen Deutschland, op.cit., p. 29. 19 Cf. den Veranstaltungs-Bericht in: Deutsch-Französische Rundschau, 1931, p. 714 sq. 20 Aus den zahlreichen Berichten von den Ortsgruppen-Aktivitäten der Jahre 1931/ 32. 21 Cf. Se Connaître, 1929, Heft 2, p. 5 und Deutsch-Französische Rundschau, 1931, p. 1017 sq.: „Aus unseren Pariser Zielgemeinschaften“. 22 Se Connaître, 1936, Heft 1/ 2, p. 24. 23 Otto Grautoff: Franzosen sehen Deutschland, op.cit., p. 31. 24 Deutsch-Französische Rundschau, 1932, p. 844. Die große Berliner Besuchergruppe der L.E.G. von 1930 umfasste „Universitätsprofessoren, Germanisten und Historiker, Mediziner und Ingenieure, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte”. DFR, 1930, p. 699. 25 Für die DFG ist das soziologische Profil ihrer Mitglieder noch eindeutiger erkennbar, da ihre Mitgliederlisten, z.T. mit Berufsangaben, veröffentlicht wurden. <?page no="166"?> 166 3. Zur Deutschland-Perzeption und Verständigungs- Strategie der L.E.G. Die Sprecher der L.E.G. erinnerten unermüdlich an den vereinbarten Grundsatz der strengen Sachlichkeit und parteipolitischen Neutralität in den Berichten über Deutschland. Ganz offensichtlich waren die Beiträge im Verbandsorgan „Se Connaître“ darum bemüht, diese Regel einzuhalten. Jedoch war die Erklärung der beunruhigenden Vorgänge im Deutschen Reich seit den Septemberwahlen 1930 und dem spektakulären Wahlerfolg der Nationalsozialisten nicht voraussetzungslos möglich, d.h. ohne Rückgriff auf geläufige Deutungsmuster und politische Wertorientierungen. In den oft sehr lebendigen Deutschlandberichten in „Se Connaître“, die sich ganz überwiegend auf die politische Aktualität bezogen, sind zumindest Spuren der zeitgenössischen dominanten Deutschland-Klischees und politischen Wertmaßstäbe in Frankreich enthalten. Die Besonderheit und Lebendigkeit der Berichte war darin begründet, dass sie in der Regel auf Gesprächen, Begegnungen und Eindrücken im Deutschland der dreißiger Jahre beruhten und nicht auf einem abstrahierenden Erkenntnisinteresse. In der Berichterstattung über die politische Krise in Deutschland sind Spuren des älteren Deutungsmusters des „pangermanisme“ und eines jüngeren kulturkrisentheoretischen Deutungsansatzes erkennbar. Als vorherrschender politischer Wertmaßstab zeichnet sich ein republikanischpazifistischer Konsens ab. Alle einschlägigen Beiträge in „Se Connaître“ sahen in der Bewegung der Nationalsozialisten eine tödliche Bedrohung für die deutsch-französische Verständigung. Die allermeisten Beiträge anerkannten die wirtschaftliche Notlage in Deutschland seit 1930 zumal im Vergleich mit dem eigenen Land, und sie sahen in ihr die Ursache für den Massenzulauf zu den Nationalsozialisten. Eine ganze Reihe von Aufsätzen 26 erkannte sehr präzise, dass es besonders die alten und neuen Mittelschichten waren, die in Panik gerieten und für die NS-Bewegung votierten. Auch in der Feststellung einer seltsam angespannten, von Aussichtslosigkeit geprägten Atmosphäre in den deutschen Großstädten stimmten viele Erfahrungsberichte vor 1933 überein, die zugleich aber den Zeitungsberichten von chaotischen Zuständen im öffentlichen Leben des Reichs widersprachen. In der Kriegsschuldfrage (Artikel 231 des Versailler Vertrags), die unter Einbeziehung deutscher Gesprächspartner breit diskutiert wurde, sahen viele Beiträge die Hauptursache für die deutschen Ressentiments gegen Frankreich und eine wesentliche Voraussetzung für die Mobilisierbarkeit der tendenziell proletarisierten Mittelschichten mit Hilfe nationalistischer Agitation durch 26 Cf. z.B. Se Connaître, 1931, Heft 2, p. 6 sq.: „Le National-Socialisme, son programme économique et sa clientèle“; 1931, Heft 2, p. 6 sq.: „Simple remarques sur l‘Allemagne d‘aujourd’hui“, 1932, Heft 4, p. 1 sq.: „Réflexions sur la situation présente en Allemagne (E. Vermeil)“ etc. <?page no="167"?> 167 die Nationalsozialisten. Einige dieser Aufsätze enthielten selbstkritische Akzente. Gelegentlich wurde bedauert, dass das Verlangen nach Revision des Versailler Vertrages so allgemein sei in Deutschland, dass es selbst die Verständigung zwischen Republikanern oder Pazifisten auf der einen und auf der anderen Seite des Rheins erschwere. Neben den sozio-ökonomischen Erklärungsansätzen für den Erfolg der Nationalsozialisten wurden in den Beiträgen des L.E.G.-Publikationsorgans Argumente angeführt, die in zeitgenössischen literarisch entfalteten und einflussreichen Deutschland-Interpretationen im Mittelpunkt standen. Solche Interpretationen waren zum einen die ältere „pangermanisme“- These von Charles Andler, 27 die im europäischen Hegemonialanspruch und militärstaatlichen Charakter des Deutschen Reichs seit 1871 den Schlüssel zum Verständnis der politischen Kultur der Deutschen sah. Zum anderen war aus der jüngeren Generation, als deren Werk im wesentlichen die Gründung der L.E.G. zu sehen ist, eine Interpretation von Pierre Viénot vorgelegt worden, die in der deutschen Krise in erster Linie eine exemplarische Krise der bürgerlich-individualistischen Kultur sah. 28 Die meisten Beiträge in „Se Connaître“, die in der Disziplin, im Gehorsam und in der bedingungslosen Folgebereitschaft der Deutschen den Schlüssel zum Verständnis der Rekrutierungserfolge der Nationalsozialisten sahen, 29 sind direkt oder indirekt der Tradition einer modifizierten Fassung der „pangermanisme“-These zuzuordnen. 30 Modifiziert war diese (in der gegen Deutschland gerichteten Kriegspropaganda vor 1918 verbreitete) These deshalb, weil nunmehr Disziplin, Gehorsam und Folgebereitschaft nicht mehr als allgemeine Kollektiveigenschaften der Deutschen, sondern als besondere Disposition der nationalsozialistischen Klientel gesehen wurden. Die meisten Aufsätze zum Nationalsozialismus machten Anleihen bei diesem Vorstellungsbild. Vergleichsweise selten waren die Deutungen, die bei der Vorstellung von der Krise der bürgerlich-individualistischen Kultur ansetzten. 31 In diesen Deutungsversuchen, die allerdings die subtileren waren, wurde der Nationalsozialismus in ursächlichem Zusammenhang gesehen mit der Zurückweisung oder dem Verbindlichkeitsverlust des humanitären und individualistischen Wertekanons des Bürgertums. In einem besonders beeindruckenden Essay in „Se Connaître“ wurde nachge- 27 Cf. zur Geschichte der französischen Hochschulgermanistik Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994; cf. auch Gilbert Merlio: „L‘image de l‘Allemagne chez les germanistes français de l‘entre-deuxguerres“, in: Allemagnes d‘aujourd‘hui, Nr. 105, 1988, p. 66-83. 28 Pierre Viénot: Incertitudes allemandes. La crise de la civilisation bourgeoise en Allemagne, Paris 1931. Cf. dazu auch Hans Manfred Bock: „Friedrich Sieburg et Pierre Viénot, ou la fin du ‚Locarno intellectuel‘“, in: Allemagnes d‘aujourd‘hui, Nr. 105, 1988, p. 84-99. 29 Z.B. Se Connaître, 1931, Heft 4, p. 4 sq.; 1932, Heft 1, p. 6 sq.; Heft 4, p. 108 sq. und öfter. 30 Besonders explizit der Bezug auf Andler in: Se Connaître, 1934, Heft1, p. 4 sq.; 1933, Heft 4, p. 111. 31 Cf. Se Connaître, 1933, Heft 5/ 6, p. 144 sq.; 1934, Heft 2, p. 41 sq. <?page no="168"?> 168 wiesen, dass der Nationalsozialismus selbst ein Produkt des Einschmelzungsprozesses bürgerlicher Normen und des durch ihn hervorgerufenen sozialexperimentellen Charakters der Kultur der Weimarer Republik sei. 32 Trotz der vorsätzlichen Zurückhaltung mit (partei-)politischen Bekenntnissen und Aussagen wird der republikanische und gelegentlich auch ein pazifistischer Konsens in den Aufsätzen der L.E.G.-Mitglieder sowie in den Übersichten über die Veranstaltungen der L.E.G-Ortsgruppen deutlich. So wie im Nationalsozialismus die fundamentale Bedrohung der Verständigungsmöglichkeit zwischen Deutschland und Frankreich gesehen wurde, so galten die republikanischen Kräfte in Deutschland, als die allem Anschein nach die Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) angesehen wurden, für die natürlichen Ansprechpartner in den Verständigungsbemühungen. 33 In der Praxis der Verständigungsarbeit trat die L.E.G. öfters in lokalen Veranstaltungen gemeinsam mit der pazifistischen Bewegung um die Zeitschrift „La Paix par le Droit“ auf. Und in den jahrelangen Bemühungen um die Schulbuchrevision in Deutschland und Frankreich 34 waren führende Vertreter der L.E.G. (u.a. ihr zeitweiliger Präsident A. Ravizé/ Paris 35 ) in der Zusammenarbeit mit dem pazifistischen Syndicat National des Instituteurs 36 beteiligt. Als Hellmut von Gerlach, Zentralgestalt des organisierten Pazifismus in Deutschland, 1936 in der Pariser Emigration starb, würdigte ihn „Se Connaître“ mit einem sehr anerkennenden Nachruf. 37 Die selbst auferlegte Regel, sich im politischen Urteil zurückzuhalten, hinderte die L.E.G.-Autoren an der lapidaren Verurteilung des Nationalsozialismus; ihr republikanisch-pazifistischer Konsens machte sie jedoch immun gegen Konzessionen an die NS-Bewegung. 38 Vor dem 30. Januar 1933 hatten einige Autoren noch darüber spekuliert, ob es nicht das Beste sei, dass die NS-Bewegung vorübergehend an die Macht käme, um dort domestiziert zu werden und an den Interessenwidersprüchen ihrer gesellschaftlichen Klientel zu scheitern. 39 Hatte schon vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler letztlich keiner der Autoren diese Lösung für wünschenswert gehalten, so wuchs im Laufe des Jahres 1933 die Distanzie- 32 Ibid., p. 41 sq.: „Bolchévisme culturel et art national“. 33 Namentlich L.E.G.-Präsident A. Robinet de Clery wies wiederholt auf seine Kontakte zu Berliner Sozialdemokraten hin. 34 Cf. dazu Dieter Tiemann: „Schulbuchrevision im Schatten der Konfrontation. Deutsch-französische Auseinandersetzungen zwischen beiden Weltkriegen“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1988, p. 342-362. 35 Cf. A. Ravizé: „La question des manuels scolaires en France“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1933, p. 362 sq. Ravizé war Deutschlehrer am Lycée Buffon in Paris. 36 Cf. Michèle Cointet-Labrousse: „Le Syndicat National des Instituteurs, le pacifisme et l’Allemagne“, in: Les relations franco-allemandes 1933-1939, op.cit., p. 137-150; cf. auch Robert Schirokauer: „Die Schule im Friedenswerk“, in: DFR, 1930, p. 757 sq. 37 Se Connaître, 1936, Heft 1/ 2, p. 22. 38 Als einmal ein Hitler-Porträt in das Bildmaterial der Zeitschrift aufgenommen wurde, beeilte sich die Redaktion, dessen rein dokumentarischen Charakter zu betonen. 39 Cf. Se connaître, 1932, Heft 3, p. 65 sq.; Heft 4, p. 108 sq.; 1933, Heft 2, p. 45 sq. <?page no="169"?> 169 rung vom politischen NS-Regime vor allem anlässlich der beginnenden antisemitischen Maßnahmen. 40 Die Berichte des Verbandsorgans über öffentliche Veranstaltungen der L.E.G. wurden im Übergang von 1933 zum Jahre 1934 immer spärlicher, obwohl die Sprecher der Vereinigung gerade in dieser Zeit Konzepte zur Aufrechterhaltung der französisch-deutschen Kontakte unterhalb der politischen Konfliktebene in rein gesellschaftlichen Begegnungsaktivitäten zu formulieren und zu propagieren versuchten. Die den vielfältigen Binnen- und Außenaktivitäten der L.E.G. zugrunde liegende Verständigungs-Konzeption war von Anfang an nicht primär politisch. Es ging ihren Gründern darum, die Möglichkeiten des Erlernens der deutschen Sprache und der Information über Deutschland durch die Verbesserung des Deutschunterrichts sicherzustellen. Insbesondere dem Gründungspräsidenten Gaucher war daran gelegen, verlorengegangenes und an die Länder der südlichen Romania (Italien, Spanien) zugewiesenes Terrain für den Deutschunterricht zurückzuerobern. 41 Dieses stark berufsständische Motiv trat in der weiteren Entwicklung der L.E.G. deutlich zurück und die Aufgabe der Begegnung mit Deutschen in Frankreich, des Kennenlernens von Deutschland und seinen Menschen durch den direkten Kontakt und der Informationsvermittlung über das Nachbarland stand im Vordergrund der Praxis und der theoretischen Reflexion. Die zahlreichen und teilweise bemerkenswerten Überlegungen in „Se Connaître“ über Voraussetzungen und Ziel der Begegnungs- und Verständigungsbemühungen zwischen Franzosen und Deutschen gingen ausnahmslos von der Feststellung aus, dass es in den konkreten Lebensbezügen erheblich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen beiden gebe und dass man auf diesen Gemeinsamkeiten aufbauen müsse. In dieser Frage war es zu einer sehr aufschlussreichen Kontroverse gekommen zwischen Ernst Robert Curtius, dem einflussreichsten akademischen Frankreich-Interpreten in Deutschland, 42 und Christian Sénéchal, der Deutschlehrer am Lycée Buffon war und zeitweilig Vizepräsident der L.E.G. Sénéchal hatte zu Curtius‘ Buch über die, „Französische Kultur” 43 kritisch angemerkt, dass dessen Insistieren auf den unaufhebbaren Unterschieden zwischen Franzosen und Deutschen keine angemessene Grundlage für die Verständigungsstrategie sei: „Nous sommes là en présence d'une forme nouvelle et insidieuse de nationalisme, et non moins redoutable que l'ancienne, car si nous sommes à jamais différents, et jusque dans notre essence profonde, nous ne pouvons guère espérer voir se terminer l'ère des conflits et des violences.” 44 Curtius 40 Cf. besonders Se Connaître, 1933, Heft 4, p. 114 sq.; „Lettres d’Allemagne“. 41 Cf. SPES. Bulletin trimestriel de la L.E.G., 1929, p. 3 sq.: „Langues vivantes“. Er führte an, 1913 habe es 55% Deutschschüler in den Sekundarschulen gegeben, 1928 nur 30%. 42 Cf. zu seiner Rolle für die deutsche Frankreich-Perzeption meine Darstellung: „Tradition und Topik des populären Frankreichklischees in Deutschland von 1925 bis 1955“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 14, (1987), p. 480 sq. 43 Ernst Robert Curtius: Die französische Kultur. Eine Einführung, Berlin 1930. 44 Deutsch-Französische Rundschau, 1931, p. 684. <?page no="170"?> 170 reagierte mit einer herrischen Gebärde. Statt auf das von Sénéchal formulierte und durchaus richtig erkannte Problem deutsch-französischer Verständigungsstrategie einzugehen, antwortete er dem „subalternen Skribenten und engstirnigen Schulmeister” in Paris mit reiner Polemik, indem er ihm „aus Eitelkeit, Dummheit und Ressentiments geborene Insinuationen” 45 testierte und ihn jedes weiteren Gesprächs für unwürdig erklärte. In dieser Kontroverse, die in Paris vom Herbst 1931 bis Frühjahr 1932 noch Gesprächsgegenstand in den Kreisen der L.E.G. war, 46 schlossen sich die französischen Stimmen, über Curtius‘ maßlose Polemik sichtlich pikiert, der Auffassung Sénéchals an. Die Beiträge von Mitgliedern der L.E.G. zu den Möglichkeiten deutsch-französischer Verständigung blieben nicht nur bei universalistischen Gemeinsamkeitsbeteuerungen und bei den herkömmlichen Kontakt- und Kenntnisnahme-Rezepturen stehen. Als anspruchsvoller und mit Bewusstsein noch nicht erprobter Weg der Verständigung wurde gelegentlich programmatisch gefordert, sich zeitweilig in den alltäglichen Lebensrhythmus des Nachbarlandes zu integrieren, um es gleichsam von innen her verstehen zu können. 47 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde angesichts der zunehmenden Unwahrscheinlichkeit einer politisch-gouvernementalen Verständigung zwischen beiden Ländern von den Sprechern der L.E.G. die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kontakte in allen Formen zwischen Frankreich und Deutschland mit umso größerem Nachdruck propagiert. Ch. Sénéchal kam 1933 als Vizepräsident der L.E.G. in einem Rückblick auf 14 Jahre Verständigungsbemühungen zu dem Schluss: „Ne comptons plus sur les gouvernements! ” 48 Er empfahl die ausdauernde Diskussion und langfristige Erziehungsarbeit der gesellschaftlichen Eliten als einzigen erfolgversprechenden Weg der deutsch-französischen Annäherung. Der letzte, seit 1933 amtierende Präsident der L.E.G., A. Robinet der Clery, dessen zahlreiche Aufsätze oft einen forciert optimistischen Tenor hatten, stellte in einem Bericht vom September 1934 über die französisch-deutschen Beziehungen seit Hitlers Machtübernahme die gleiche Vorstellung dar. 49 Er vertrat die These, man dürfe die Beziehungen mit solchen Ländern, die in ihrer Innenpolitik Ziele verfolgten, deren Verbreitung man im eigenen Lande nicht wünsche, nicht einfach abbrechen. Namentlich im ökonomischen und finanziellen Bereich, im Sport und in den intellektuellen und künstlerischen Beziehungen gäbe es nach wie vor fruchtbare Möglichkeiten der deutschfranzösischen Zusammenarbeit und der Begegnung von Individuen und Gruppen. Diese Überlegungen im Rahmen der L.E.G. über die besten Ver- 45 Deutsch-Französische Rundschau, 1931, p. 778. 46 Cf. Se Connaître, 1931, Heft 4, p. 21; 1932, Heft 3, p. 84 sq. 47 Se Connaître, 1933, p. 82 sq.: „Compréhension de l’Etranger“. Diese Konzeption entsprach Viénots Programm „Sortir de soi! ” cf. Pierre Viénot: Incertitudes allemandes, op.cit., p. 11 sq. 48 Se Connaître, 1933, Heft 1, p. 1 sq. 49 Se Connaître, 1934, Heft 4, p. 110 sq. <?page no="171"?> 171 ständigungsperspektiven wurden zunehmend realitätsfern, denn die Binnen- und Außenaktivitäten der Vereinigung kamen ab 1935 aufgrund des Rückzugs ihrer Mitglieder weitgehend zum Erliegen. 4. Die Binnen- und Außenaktivitäten der L.E.G. Die im Rahmen der L.E.G. entfalteten Tätigkeiten waren insgesamt durchaus nicht unbedeutend und ihre Analyse erlaubt zumindest eine ansatzweise Evaluation der Rolle der Ligue in den Gesellschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in den frühen dreißiger Jahren. Die Interaktion mit den eigenen Landsleuten in Frankreich, die man zusammenfassend als Binnenaktivitäten bezeichnen kann, umfasste in der Praxis der L.E.G. mehrere Zielsetzungen. Zum einen ermöglichte sie ihren Mitgliedern in den Ortsgruppen die Kontaktaufnahme (oft unter Einbeziehung deutscher Gäste) und die wechselseitige Verstärkung des Interesses an Deutschland, das sie zusammengeführt hatte. Die Ortsgruppen wirkten in die lokale Öffentlichkeit hinein mit Vorträgen über Deutschland betreffende Themen; im Jahr der intensivsten Vortragstätigkeit dieser Art, 1932, waren nach Ausweis der Veranstaltungsberichte in „Se Connaître“ z.B. der Nationalsozialismus und der 100. Todestag Goethes die häufigsten Themen. Allem Anschein nach traten die délégués der L.E.G. in den Akademien gelegentlich auch in Orten als Referenten auf, in denen keine lokale Sektion der Ligue existierte. Außerdem hatte die L.E.G. die Funktion, ihren Mitgliedern technisch den Zugang zu Informationen über Deutschland zu erleichtern. Zu diesem Zweck war ein Zeitschriften-Verleihdienst eingerichtet worden, über den die L.E.G.-Mitglieder durch ein Jahresabonnement billig Zugang zu deutschen Zeitschriften erlangen konnten. 50 Seit 1930 war aus der Zusammenlegung der Bibliothek der L.E.G. mit einer in Paris existierenden deutschen Leihbibliothek ein Fundus von 4.000 Bänden entstanden, aus dem die Mitglieder auf dem Postwege entleihen konnten. Die Deutsch-Französische Gesellschaft rief regelmäßig dazu auf, dieser Bibliothek Bücher und Zeitschriften aus Deutschland unentgeltlich zu überlassen. Ergänzt wurden diese Dokumentationsquellen durch das Angebot des seit 1930 in Paris existierenden Office universitaire allemand, zu dem seitens der L.E.G. gute Beziehungen bestanden und dessen Schallplatten- Verleih sich besonderer Beliebtheit erfreute. Als wichtigste Informationsquelle und als interne Kommunikations-Plattform zugleich sollte schließlich das Verbandsorgan „Se Connaître“ 51 dienen, das jedes Mitglied mit dem Eintritt in die L.E.G. abonnierte. Die Herstellung und der Vertrieb des Periodikums banden den größten Teil der Organisationsressourcen des Zentralbüros. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten meldete die Redaktion 50 Se Connaître, 1931, Heft 2, p. 1; Heft 4, p. 19. 51 Die erste Nummer erschien unter dem Titel „SPES”. <?page no="172"?> 172 Mitte 1931 nunmehr 2.000 Abonnenten und eine aufsteigende Tendenz. 52 1932 wurde die Erscheinensweise von 4 auf 6 Hefte im Jahr gesteigert. 1935 erschienen nur mehr 2 Hefte und 1936 ein letztes Doppelheft. Eine begrenztere Zweckbestimmung hatte das Periodikum der L.E.G., das ihr Vizepräsident Sénéchal ab Frühjahr 1933 deutschsprachig in Paris herauszugeben begann, die „Deutschen Blätter. Illustrierte Monatsschrift für die französische Jugend“. Der Herausgeber hatte die „Deutschen Blätter“ von der Erwägung ausgehend geplant, dass die Kenntnis und das Verständnis des Nachbarlandes möglichst früh und in der formativen Phase der Gesellschaftsmitglieder im eigenen Land einsetzen müsse. 53 Die Erfolgsgrundlage der „Deutschen Blätter“, die in zehn Auslieferungen jährlich bis Mitte 1939 erschienen, war höchstwahrscheinlich die Tatsache, dass in ihnen Text- und Bildmaterial bereitgestellt wurde, das unmittelbar für den Deutschunterricht verwendbar war. In Ergänzung zu diesen Binnenfunktionen der L.E.G. bestand der andere Hauptzweck darin, den direkten Kontakt mit Deutschland und den Deutschen zu erleichtern. Auch hier waren die konkreten Aktivitäten zahlreich. Sie bezogen sich zum einen auf die pädagogische Aufgabe der Deutschlehrer, ihre Schüler in lebendigen Kontakt mit dem Nachbarland zu bringen; zum anderen bezogen sie sich auf die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Einzel- und Gruppen-Reisen nach Deutschland für interessierte L.E.G.-Mitglieder. Im Zusammenhang mit den professionellen Aufgaben der Deutschlehrer unter den L.E.G.-Mitgliedern stand die dauernde Bemühung um die Vermittlung französisch-deutscher Schüler-Briefkontakte. 54 Die L.E.G. unterhielt in enger Zusammenarbeit mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Berlin eine Vermittlungsstelle für den französisch-deutschen Schülerbriefwechsel. Mitte 1931 teilte A. Gaucher mit, dass die Nachfrage nach Adressen deutscher Briefpartner aus der L.E.G. größer sei als das Angebot von der anderen Seite; man könne zumindest in diesem Bereich nicht mehr von einem geringeren Eifer von seiten der Franzosen ausgehen. 55 Komplementär zu dieser Form der direkten Kontaktnahme über die Grenze hinweg fand die Idee der internationalen Ferien-Schule bei den Vertretern der L.E.G. starke Beachtung. Ihre Präsidenten A. Ravizé und A. Robinet de Clery waren nachweislich an der Durchführung schwerpunktmäßig deutsch-französischer Ferien-Schulen beteiligt. 56 Ravizé berichtete, dass insbesondere in Kooperation mit Berlin und Hamburg 1929 drei, 1930 acht und 1931 sechs deutsch-französische 52 Se Connaître, 1931, Heft 2, p. 1. 53 Se Connaître, 1933, Heft 2, p. 1 sq.: „Appel aux jeunes“. 54 Zum historischen Kontext cf. jetzt Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen, op.cit., p. 166 sq. 55 Se Connaître, 1931, Heft 2, p. 16. 56 Se Connaître, 1931, Heft 4, p. 14; cf. zum größeren Zusammenhang Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen, op.cit., p. 182 sq. <?page no="173"?> 173 „foyers scolaires“ 57 realisiert worden seien. Der Herstellung direkter Kontakte zu Deutschen diente schließlich auch die von der L.E.G. angebotene Vermittlung von Korrespondenz-Partnern und privaten Unterkunftsmöglichkeiten für Erwachsene im Nachbarland. Das hauptsächliche Interesse und der besondere Ehrgeiz des Zentralbüros der L.E.G. in diesem Bereich der Außenaktivitäten der Vereinigung galt jedoch den Sommerreisen für die Mitglieder. Die erste dieser sorgfältig vorbereiteten und von Vertretern des Zentralbüros betreuten Deutschandreisen fand im September 1930 mit einer rund 70 L.E.G.-Mitglieder umfassenden Gruppe und dem Bestimmungsort Berlin statt. In der „Deutsch-Französischen Rundschau“ wurde die Bedeutung dieses Besuchs herausgestellt: „Seit dem Krieg von 1870 besuchen zum ersten Mal so zahlreiche Mitglieder eines Verbandes französischer Intellektueller die deutsche Reichshauptstadt.” 58 Die nächste Gruppenreise fand im Goethejahr 1932 nach Frankfurt und nun im Zeichen der Krise nur mehr mit etwa 30 Teilnehmern statt. 59 Bei der dritten L.E.G.- Reise, die im Sommer 1933 nach Österreich und in die Schweiz führte, gab es bereits administrative Probleme, da dem Präsidenten A. Robinet de Clery das Durchreisevisum durch Deutschland verweigert wurde. Die letzte dieser Studienreisen führte die L.E.G-MitgIieder 1934 wiederum hauptsächlich in die Schweiz; nur der kleinere Teil der Gruppe nahm die Gelegenheit zu einem Abstecher nach München und zu den Oberammergauer Passionsspielen wahr. 60 Die in der Abfolge dieser Reisen erkennbare Entwicklung zeigt noch einmal recht sinnfällig das Dahinschwinden des empathiegeleiteten oder zumindest konstruktiven Interesses am deutschen Nachbarn. Die beiden Gruppenreisen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 standen im Zeichen des Enthusiasmus über die freundliche und offene Atmosphäre in der Begegnung mit den deutschen privaten und offiziellen Gesprächspartnern. Die beiden letzten Reisen vermieden den quasi-offiziellen Gruppenbesuch im NS-Deutschland und führten in die deutschsprachigen Länder außerhalb des Reichs. Auch wenn man darauf bedacht ist, die hier skizzierten gesellschaftlichen Begegnun im Rahmen der L.E.G. nicht überzubewerten, so ist doch als Fazit dieser ersten Darstellung ihrer bislang vergessenen Geschichte festzuhalten, dass es zwischen dem Abbruch der gesellschaftlichen Kontakte in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegs-Jahren nach 1919 und dem Phänomen der Collaboration, das sich in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg vorbereitete und unter dem NS-Besatzungsregime zu Tage trat, eine durchaus beachtenswerte, in den Grundzügen republikanische Verständigungs-Bewegung mit Deutschland in der französischen Gesellschaft gab, die in manchen Zügen bis heute sogar einzigartig geblieben 57 Se Connaître, 1932, Heft 4, p. 125. 58 Deutsch-Französische Rundschau, 1930, p. 750. 59 Cf. Se Connaître, 1932, Heft 5, p. 159 sq., ein sehr plastischer Bericht. 60 Se Connaître, 1934, Heft 4, p. 124 sq. <?page no="174"?> 174 ist. 61 Spuren der Langzeitwirkung des L.E.G.-Engagements in den französisch-deutschen Beziehungen der Zwischenkriegszeit finden sich in der Vita französischer Deutschlehrer, die in der Nachkriegszeit eine öffentliche Rolle in der Besatzungsverwaltung in Deutschland, in der Erziehungsverwaltung in Frankreich und in den internationalen Begegnungsinstitutionen spielten. 62 61 Die in der L.E.G. vereinten Funktionen entmischten sich gleichsam in den deutschfranzösischen Beziehungen nach 1945: Die Initiative der frühesten Verständigungsorganisationen kam aus einem anderen sozio-kulturellen Milieu; cf. dazu Henri Ménudier: „La Revue Française des Questions Allemandes: Documents 1945-1959“, in: Franz Knipping/ Jacques Le Rider (ed.): Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1987. (Weder den Autoren dieses Bandes noch in dem Abriss der Geschichte der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit der folgenden Neuerscheinung ist die Existenz der L.E.G. bekannt: Henri Ménudier: L‘Office franco-allemand pour la jeunesse, Paris 1988). Die von der L.E.G. auch wahrgenommene Funktion der berufsständischen Interessenvertretung wurde in der Nachkriegszeit übernommen von der Association pour la Défense de l‘enseignement de l‘Allemand en France. Die Funktion der L.E.G. als Dachverband der lokalen französisch-deutschen Gesellschaften wird seit 1956 von der binationalen Vereinigung deutsch-französischer Gesellschaften in Deutschland und Frankreich e.V./ Fédération des Associations franco-allemandes en France et en Allemagne in Mainz getragen. Zwischen diesen Organisationen und der L.E.G besteht eine gewisse funktionale Entsprechung, jedoch keine historische Kontinutität. 62 Cf. dazu die Biographie von Henry Chauchoy (geb. 1908), der in den 1950er Jahren Leiter des Instituts français in Mainz war und sich zu seiner Mitgliedschaft in der L.E.G. bekennt, in: Joseph Jurt (ed.): Die „Franzosenzeit“ im Lande Baden von 1945 bis heute, Freiburg 1992, p. 155 sq. <?page no="175"?> 175 VI. Deutsch-Französische Gesellschaft und Europäischer Zollverein von 1925 bis 1933 Edgar Stern-Rubarth (1883-1972) stand auch während seiner aktivsten Lebensperiode in der Zwischenkriegszeit niemals im Rampenlicht des parlamentarischen, parteipolitischen oder diplomatischen Lebens in Deutschland. Er war allerdings als publizistischer enger Gefolgsmann Gustav Stresemanns einer jener unentbehrlichen Mitarbeiter in den Kulissen, die für die Formung der außenpolitischen Kommunikationsvorgänge und diplomatischen Verkehrsregelungen eine durchaus mitgestaltende Rolle spielten. Im Rückblick auf seine Mitarbeitertätigkeit für Stresemann charakterisierte er gelegentlich seine Funktion in dessen publizistischem Stab und dessen Kreis der Vertrauten so: „Ich stand nicht im Rampenlicht, aber immer an irgend einem Hebel, der den Gang der Ereignisse beeinflußte“. 1 In der folgenden Studie sollen der Werdegang und die Persönlichkeitsmerkmale dieses liberalen Publizisten erstmals in Umrissen dargestellt und seine frankreichbzw. europapolitischen Aktivitäten an der Seite Stresemanns etwas eingehender belegt und beurteilt werden. Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen geschichts- und politikwissenschaftlichen Diskussion über die Rolle organisierter gesellschaftlicher Kräfte in den internatio-nalen Beziehungen ist die hier vorgelegte Fallstudie ebenso interessant wie im Kontext der Erforschung der gesellschaftlichen Vorgeschichte der europäischen Integration. 2 1. Vom nationalen zum europäischen Patrioten Edgar Stern-Rubarth war Sproß einer westfälischen Industriellen-Familie; sein Großvater war Jude und Pionier der westfälischen Gas-Industrie, seine Großmutter entstammte dem „alten Reichsadel“. 3 In Frankfurt / Main 1883 1 Edgar Stern-Rubarth: Drei Männer suchen Europa. Briand, Chamberlain, Stresemann, München 1948, p. 15. 2 Cf. dazu z. Bsp. Eckard Conze, Ulrich Lappenküper, Guido Müller (ed.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004, und: Gérard Bossuat (ed.): Inventer l'Europe. Histoire nouvelle des groupes d'influence et des acteurs de l'unité européenne, Frankfurt/ Main 2003. 3 Stern-Rubarth legte in allen Auskünften über sich selbst großen Wert auf seine Familien-Tradition. Als ergiebigste autobiographische Quellen s. Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet. Ein Leben für Presse und Politik, Stuttgart 1964, und Egon Jameson: „Mein lebenslänglicher Nachbar. Ein Fernseh-Interview mit Edgar <?page no="176"?> 176 geboren (als Sohn eines Industriellen und Finanzsachverständigen und einer Mutter aus dem Rheinland mit amerikanischen Vorfahren) wurde er in dieser Stadt im Goethe-Gymnasium, einer Reformschule, erzogen und wuchs seit früher Kindheit gleichermaßen mit der deutschen und der französischen Sprache auf. Den Familienprägungen entsprechend studierte er zuerst Nationalökonomie, wandte sich dann aber der Romanistik zu, in der er unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges an der Berliner Universität unter der Obhut des Schweizer Philologen Heinrich Morf (1854-1921) promovierte. 4 Gemäß seiner Darstellung wurde sein Karriereplan als Romanistik-Professor durch den Ersten Weltkrieg zerschlagen. Parallel zu seinen akademischen Studien übte er sich publizistisch schon vor 1914 als Verfasser von Zeitungsartikeln (u.a. auch in Pariser Blättern), von Essays und Novellen. Er veröffentlichte im „Simplizissimus“, der „Jugend“, der „Kölnischen Zeitung“ und der „Frankfurter Zeitung“. Obwohl er seit 1898 regelmäßig zu französischen Freunden in den Ardennen und nach Paris reiste, wurde er im August 1914 wie andere Nationalliberale von der Kriegspsychose erfaßt. Er machte im Berliner Kriegsministerium auf sich aufmerksam mit einem detaillierten Plan zur Sprengung des Suez-Kanals und wurde in den folgenden Kriegsjahren als Offizier vor allem mit Missionen in der Türkei und im Vorderen Orient beauftragt. 5 In seiner Selbstdeutung waren diese Erfahrungen im außereuropäischen Kulturraum einer der entscheidenden Impulse für die Entdeckung der gemein-samen europäischen Identität von Deutschen und Franzosen nach Ende des Ersten Weltkrieges. 6 Nach seiner Entlassung aus der Reichswehr war er darauf verwiesen, ab Ende 1918 seine bürgerliche Existenz ganz neu aufzubauen, zumal er inzwischen mit einer Französischlehrerin verheiratet war. Bei diesem bürgerlichen Neubeginn in der nationalen Krise kamen ihm seine zahlreichen Beziehungen in den industriellen und militärischen Kreisen sehr zupaß. Besonders jedoch setzte er ab Jahresende 1918 auf die politische Karriere von Gustav Stresemann, den er seit 1905 aus dessen Dresdner Zeiten kannte. 7 Er führte den Wahlkampf für Stresemanns DVP-Kandidaten in Rheydt anläßlich der Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und trat fast gleichzeitig eine leitende Redakteurstelle in der Ullstein-Presse in Berlin an. Ende 1920 wurde er Chefredakteur der weit bekannten „BZ am Mit- Stern-Rubarth“, in: Publizistik. Festschrift für Edgar Stern-Rubarth, Bremen 1963, p. 199- 209. Der Nachlaß Stern- Rubarths, der sich im Bundesarchiv befindet, wurde bislang noch nicht ausgewertet. 4 Er bearbeitete dort die Goethe-Rezeption in Frankreich. 5 Cf. dazu ausführlich Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle, op. cit., p. 47-100. 6 Ibid, p. 98. 7 Cf. ibid, p. 102; zu Stresemanns Dresdner Tätigkeit s. jetzt Christian Baechler: Gustave Stresemann (1978-1929). De l’impérialisme à la sécurité collective, Strasbourg 1996, p. 47- 53. Zur Gründungsphase der DVP cf. Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972. <?page no="177"?> 177 tag“ und ab 1921 schrieb er regelmäßig die „Außenpolitischen Ausblicke“ des anderen traditionsreichen Blattes, der „Vossischen Zeitung“. Stern- Rubarth nutzte diese exponierten journalistischen Plattformen unverhohlen, um für die Politik Gustav Stresemanns zu werben, und er verfügte im Gegenzug über das Privileg, von Stresemann direkt mit gouvernementalen und diplomatischen Informationen versorgt zu werden. So konnte er z.B. bei Stresemanns Ernennung zum Reichskanzler am 13. August 1923 dessen Regierungsprogramm aus erster Hand in Empfang nehmen und in der „BZ am Mittag“ veröffentlichen. 8 Diese für seine Karriere durchaus förderliche Doppelrolle als Journalist und Stresemann-Adlatus endete im Mai 1925, als er an die Spitze der halbamtlichen Nachrichtenagentur der Reichsregierung und des Auswärtigen Amtes, des Wolffschen Telegraphischen Büros (WTB), berufen wurde. 9 Stern-Rubarth hatte in diesen frühen Berliner Jahren einen großen Teil der politischen Klasse und der ausländischen diplomatischen Vertreter kennengelernt. Eine besonders enge Verbindung unterhielt er zu Graf Brockdorff-Rantzau, dem ersten Außenminister und ersten deutschen Botschafter in der Sowjetunion, dem er eine Biographie widmete. 10 Aus seiner Dozententätigkeit an der gerade gegründeten „Deutschen Hochschule für Politik“ 11 ging eine Schrift hervor, deren Thema „Die Propaganda als politisches Instrument“ 12 seinen Ruf als professioneller regierungsnaher Nachrichtenvermittler festigte. Vor allem aber schloß er enge, zum Teil freundschaftliche Verbindungen mit Vertretern des diplomatischen Milieus. So vor allem mit dem engsten deutschlandpolitischen Vertrauten von Aristide Briand, Oswald Hesnard, 13 mit dem er sich regelmäßig traf und der ihn in Kontakt brachte mit französischen Pressevertretern. Die rückblickende Beurteilung dieser Verbindung durch Stern- Rubarth entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität: Hesnard „wurde mir in der Folge der engste Gesinnungsgenosse und persönliche Freund. Mindestens einmal wöchentlich (und öfters in meiner bescheidenen Villa in Zeh- 8 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle, op. cit., p. 139. 9 Zum Presseapparat Stresemanns s. Christian Baechler, op. cit., p. 480-487; immer noch brauchbar, speziell auch zum WTB, die Dissertation Heinz Starkulla: Organisation und Technik der Pressepolitik des Staatsmannes Gustav Stresemann, München 1951. 10 Edgar Stern-Rubarth: Graf Brockdorff-Rantzau. Wanderer zwischen den Welten, Berlin 1929 (letzte Neuausgabe Herford, Bonn 1968). 11 Cf. dazu neuerdings Manfred Gangl: „Die Ecole libre des sciences politiques in Paris und die Berliner Deutsche Hochschule für Politik“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Berlin-Paris (1900- 1933). Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich, Bern 2005, p. 69sq. 12 Edgar Stern-Rubarth: Die Propaganda als politisches Instrument, Berlin 1921. 13 Cf. dazu Jacques Bariéty: „Un artisan méconnu des relations franco-allemandes: Le professeur Oswald Hesnard, 1877-1936“, in: Media in Francia. Recueil de melanges offerts à Karl Ferndinand Werner, Paris 1989, p. 1-18. Dazu jetzt Jacques Bariéty (ed.): A la recherche de la paix France-Allemagne. Les carnets d’Oswald Hesnard 1919-1931, Strasbourg 2011. <?page no="178"?> 178 lendorf) entwickelten wir allmählich ein Zusammenspiel, das vielleicht einiges zu der nachfolgenden Freundschaft zwischen Briand und Stresemann beigetragen hat.“ 14 In jedem Fall spielte Stern-Rubarth in Stresemanns Frankreichpolitik eine ähnliche beratende und weichenstellende Rolle wie Hesnard in Briands Deutschlandpolitik. Die Jahre 1925 bis 1929, in denen die Verträge von Locarno und das Wirken von Stresemann und Briand ganz neue deutsch-französische und europäische Perspektiven eröffneten, waren für Stern-Rubarth der Zenith für seine öffentlichen Aktivitäten und wohl auch der Höhepunkt seines Lebens. Er gab knapp neun Jahre lang die offiziöse „Deutsche politischdiplomatische Korrespondenz“ heraus und stellte darüber hinaus seine publizistische Kompetenz in den Dienst von zwei praktisch-organisatorischen Unternehmungen mit frankreich- und europapolitischen Zielsetzungen. Da diese beiden politischen Parallelinitiativen im folgenden eingehender dargestellt werden sollen, können sie hier erst einmal in der retrospektiven Selbsteinschätzung ihres Urhebers umrissen werden. Es handelte sich um die Gründung, Förderung und Repräsentation der „Deutsch-Französischen Gesellschaft“ (DFG) auf der einen und des „Europäischen Zollvereins“ (EZV) auf der anderen Seite. Die DFG war nicht eigentlich das Werk Stern-Rubarths, sondern des Kunsthistorikers und Frankreich-Publizisten Otto Grautoff (1876-1937). Dieser hatte die Organisation nach langem Anlauf Ende 1927 als eingetragenen Verein in Berlin ins Leben gerufen, nachdem er sich der moralischen Unterstützung durch das Auswärtige Amt und der materiellen Hilfe durch Industrie-, Banken- und Handelsvertreter vergewissert hatte. 15 Die DFG entwickelte bis zu ihrer zwangsweisen Auflösung 1934 ein umfassendes Programm zur Verbesserung der wechselseitigen Kontakte und Kenntnisse 14 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 128. Diese (bislang wenig beachtete) Verbindung beider Mitarbeiter Briands und Stresemanns wird auch bestätigt durch einen Brief, den Stern-Rubarth am 9. Mai 1938 aus London an den Bruder Hesnards, den Arzt Angelo Hesnard richtete, in dem er diesen zur Einsichtnahme in das Fragment einer Briand-Biographie bat, die der 1936 verstorbene Oswald Hesnard hinterlassen hatte: „Votre regretté frère, mon cher et fidèle ami Oswald, vous aura, j'imagine, mentionné mon nom en son temps. J'ai collaboré avec lui pendant un nombre d'années pour accomplir une tâche humanitaire et extrêmement importante à ce qu'il nous semblait la pacification du monde par un accord définitif entre la France et l’Allemagne. Pendant cette période, abolie par l'avènement de Hitler et les siens, j'ai joué le même rôle auprès de Stresemann que votre frère jouait auprès de Briand; et ä nous deux nous avons agi selon notre conscience et nos facultés pour influencer ces deux grands hommes dans une direction reconnue par eux comme la seule viable.“ Der Brief ist als Faksimile eingestellt ins Internet unter http: / / bernard.hesnard.free.fr/ Hesnard/ Oswald/ oHesnard30.html . 15 Zur Biographie Grautoffs s. Hans Manfred Bock: „Transnationale Begegnung im Zeitalter des Nationalismus. Der Lebensweg Otto Grautoffs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: ID.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 41-60. <?page no="179"?> 179 zwischen Franzosen und Deutschen und sie war organisatorisch am stärksten in der Reichshauptstadt verankert. 16 Neben dem Präsidenten der Verständigungsorganisation Otto Grautoff war Edgar Stern-Rubarth als Generalsekretär die führende Persönlichkeit der Vereinigung. Diese Rolle war durch seine Sprachkenntnisse, seine Beziehungen zur französischen Botschaft und aufgrund seiner Vertrauensposition bei Stresemann naheliegend. Man kann mit Fug und Recht annehmen, daß seine Funktion als Generalsekretär der DFG auch einen Auftrag als Wächter Stresemanns in der Vereinigung einschloß. Stern-Rubarth umriß seine vielgestaltigen Tätigkeiten im Zusammenhang mit der DFG so: „Dr. Otto Grautoff, der lange in Paris gelebt hatte, war ihr Vorsitzender, ich ihr Generalsekretär, und sehr bald entfaltete diese Organisation, der auf beiden Seiten alles, was Rang und Namen hatte, angehörte, eine rege Tätigkeit. Zwei anspruchsvolle, literarisch-politische Monatszeitschriften erschienen: die 'Deutsch- Französische Rundschau' hier, die 'Revue d'Allemagne' dort, in der neben unseren eigenen wertvolle Beiträge aller politischen und geistigen Größen beider Länder veröffentlicht wurden. Fast allmonatlich trat in Berlin irgendein großer Franzose - Dichter, Staatsmann, Beamter, Künstler - im Rahmen glanzvoller Veranstaltungen im Hotel Esplanade als Redner auf, und Zweigorganisationen in anderen Großstädten [...] trugen die Bewegung über das ganze Land [...].“ 17 Die andere Vereinigung, die in der Locarno-Ära ihre größte Regsamkeit entfaltete und in der Stern-Rubarth eine leitende Tätigkeit ausübte, war der „Europäische Zollverein“ (EZV). Nach seiner Darstellung war die Idee zur Schaffung einer solchen proeuropäischen und den Völkerbund bejahenden Vereinigung während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg von ihm entwickelt und ab 1922 in eine konkretere Form gebracht worden. Die ideengeschichtlichen Wurzeln für das Projekt der Vereinigung Europas über den Weg der Niederlegung der Zollgrenzen als erstem praktischen Schritt fand er bei Sully, Hugo Grotius, William Penn, Saint Pierre, Voltaire, Rousseau, Kant, Cobden und vor allem bei Friedrich List. 18 In dieser Ahnenreihe mochte er auch Friedrich Naumanns Konzeption von „Mitteleuropa“ nicht missen, war sich allerdings klar darüber, daß dies Projekt im Europa der Versailler Friedensordnung obsolet war. Ohne organisatorischen Zusammenhang mit den anderen Europabewegungen der frühen zwanziger Jahre - z. Bsp. der Paneuropa-Union des Grafen Coudenhove- Kalergi oder dem europäischen Kulturbund des Prinzen Rohan 19 - baute Stern-Rubarth ein grenzübergreifendes Verbindungsnetz auf, das am 16 Cf. Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in der Locarno-Ära, Frankfurt/ Main 1997 und Kapitel IV des vorliegenden Buches. 17 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 211. 18 Ibid, p. 99. 19 Er berichtet zwar, Coudenhove-Kalergi habe schon ab 1923 die Idee der Zoll-Union in sein Programm aufgenommen, aber in der Außendarstellung des EZV gab es keine Gemeinsamkeit mit Paneuropa. <?page no="180"?> 180 12.3.1925 mit einem „Appell an alle Europäer“ an die Öffentlichkeit trat und den Namen „Europäischer Zollverein“ erhielt. 20 Dessen Porträt umreißt der Mitbegründer so: „Eine Reihe von Landesorganisationen entstand in rascher Folge und umfaßte zuletzt 19 europäische Staaten. Während Frankreich dabei bewußt die führende Rolle überlassen blieb, fiel dem deutschen Verein, dessen Vorsitz ich führte, vornehmlich die Aufgabe der theoretischen und wissenschaftlichen Arbeit zu, und den verschiedenen Organen [. . .] lag es ob, die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit an die Öffentlichkeit zu tragen. Eine ganze Reihe von jungen Wissenschaftlern stellte an Universitäten Deutschlands und des Auslands Forschungsarbeiten zu den Grundfragen an [...]. Der bedeutende ungarische Volkswirtschaftler Professor Elemer Hantos leitete eine Schriftenreihe mit dem Buche ,Europäischer Zollverein und mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft’ ein und stellte die von ihm gegründeten Mitteleuropa-Institute zur Verfügung; schließlich drang die Bewegung in die Sphäre der hohen Politik ein, als ich während der Konferenz von Locarno im Oktober 1925 durch meinen Freund Professor Oswald Hesnard, Briands Vertrauensmann in Berlin, dem französischen Außenminister Aristide Briand vorgestellt worden war.“ 21 Der EZV, eine typische Nichtregierungs-Organisation mit europapolitischer Wirkungsabsicht, hatte seine größte öffentliche Resonanz bis zu Beginn der 1930er Jahre, existierte außerhalb Deutschlands formal aber noch bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges weiter. 22 Für Stern-Rubarth waren die Tätigkeit an der Spitze des offiziösen WTB-Büros und der damit verbundene tägliche Umgang mit dem diplomatischen Personal der Botschaften in Berlin ab 1925 eine günstige Voraussetzung für das Knüpfen und Verstärken der transnationalen Gesprächsfäden, die den EZV zusammenhielten. Er hatte für diese Aktivitäten zumindest die implizite Billigung Stresemanns und die explizite Ermutigung Briands. In seinem Verständnis Stresemanns, das gerade in den zwanziger Jahren auf unmittelbarer Nahbeobachtung beruhte, hatte dieser eine tiefreichende Wandlung vom Wilhelminischen Nationalisten zum überzeugten Europäer vollzogen. In einer kleinen Biographie, die Stern-Rubarth 20 Stern-Rubarth datiert (z. Bsp. ibid., p. 121) die Gründung der „Europäischen Zoll- Union“ (EZU), der internationalen Dachorganisation der Bewegung, auf den 12. April 1924; der Gründungsappell wird in der Sekundärliteratur jedoch allgemein auf den März 1925 datiert. 21 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 122. 22 Die Entwicklung und Zielsetzung der EZU ist bislang nur in Ansätzen erforscht. Am besten ist bislang die französische Sektion bekannt aufgrund der Aufsätze Laurence Badel: „Le Quai d'Orsay, les associations privées et l'Europe (1925-1932)”, in: René Girault, Gerard Bossuat (ed.): Europe brisée, Europe retrouvée. Nouvelles réflexions sur l'unité européenne au XXe siècle, Paris 1994, p. 109-131; ID.: “Les promoteurs français d'une union économique et douanière de l’Europe dans l'entre-deux-guerres”, in: Antoine Fleury, Lubor Jilek (ed.): Le Plan Briand d'Union fédérale européenne, Bern, Frankfurt/ Main 1998, p. 17-29. Zur deutschen Sektion bisher nur Simone Wiegand: Europäischer Zollverein, Union Douanière Européenne, Diplomarbeit Kassel 1991. <?page no="181"?> 181 Stresemann kurz nach dessen Tod (Anfang Oktober 1929) widmete, zeichnete er seinen „Weg nach Europa“ 23 nach und unterstellte ihm dabei dieselben Lernprozesse, die er selbst durchlaufen hatte: „Ein Überblick über diese ganze Periode des Stresemannschen Schaffens von Thoiry bis zu seinem Ende zeigt, daß er ohne Vernachlässigung der unmittelbaren, eigenen nationalen Notwendigkeiten mit geschickter Hand und zielsicherem Blick auf eine immer dichtere Verknüpfung des Gespinstes aus juristischen, wirtschaftlichen, gefühlsmäßigen und tatsächlichen Bindungen der Mächte, vor allem der europäischen Nationen, hinarbeitete und daß er damit eine ebenso vielfältige Sicherung Deutschlands gegen Übergriffe einzelner von ihnen zu erreichen vermochte.“ 24 Während Stresemann (gemäß Stern- Rubarth vor allem aus innerpolitischen Gründen) seinen Namen nicht direkt für die EZV zur Verfügung stellte, hatte Aristide Briand dergleichen Bedenken nicht und übernahm nicht nur die Ehren-präsidentschaft, sondern gelegentlich auch die öffentliche Schirmherrschaft für einen EZV- Kongreß. 25 Der WTB-Direktor hatte zwischen der Locarno-Konferenz und dem Laval/ Briand-Besuch in Berlin (September 1931) des öfteren Gelegenheit, sich mit dem französischen Außenminister über zoll- und wirschaftspolitische Fragen zu unterhalten, die im Zentrum der EZV-Bestre-bungen standen. 26 Da die französische Sektion des EZV nicht nur die stärkste der 19 Nationalsektionen, sondern auch eng mit den staatstragenden Parteien des radicalisme und der Sozialdemokratie verbunden war, hatte der französische Außenminister mehr Handlungsfreiheit als sein deutscher Kollege. Der frankreich- und europapolitisch engagierte WTB-Repräsentant und Vertraute Stresemanns hatte schon früh den Haß und die Denunziationen der Nationalsozialisten auf sich gelenkt. So wurde er im „Völkischen Beobachter“ schon 1931 als „rote Spinne“ im Netz der regierungsoffiziösen Nachrichtenagentur angeprangert. 27 Nach dem Tode Stresemanns und dem Zerfall der bürgerlichen Mittelparteien (der politischen Heimat Stern- Rubarths) ab 1930 gerieten die von ihm mit Aufbietung erheblicher Energien betriebenen Locarno-Projekte, die DFG und der EZV, in Bedrängnis. Stern-Rubarth konnte einstweilen seine Position im WTB behaupten und er trat auch mit dem neuen französischen Botschafter André François-Poncet in Berlin ab 1931 in ein konstruktives Verhältnis, 28 aber die persönliche und 23 Edgar Stern-Rubarth: Stresemann, der Europäer, Berlin o.J. (1929), p. 61-74. 24 Ibid., p. 87. 25 Cf. Stern-Rubarth: „Die Neuorganisation Europas“, in: DFR, 1931, p. 662. 26 Dazu ausführlich, teilweise in der Form eines Gedächtnisprotokolls, die Wiedergabe dieser Gespräche mit Briand in Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 180-187, 222-229 u.a.; cf. auch ID.: Drei Männer suchen Europa, op. cit., p. 185sq., 273sq. 27 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 178. 28 Der liberal-konservative François-Poncet vertrat ebenfalls ein Programm der französisch-deutschen Wirtschaftskooperation, vgl. zu Stern-Rubarths Gespräch mit dem <?page no="182"?> 182 politische Basis seines zivilgesellschaftlichen Handelns wurde brüchig. Er war 1932 an der erfolglosen Lancierung der bürgerlich-demokratischen Mittelpartei beteiligt, die den Namen „Deutscher Nationalverein“ trug und als liberal-konservative Sammlungsbewegung bewirken sollte, für die Regierung von Papen eine bürgerliche Koalitions-Alternative zu den Nationalsozialisten zu stellen. 29 Stern-Rubarth wurde wenige Wochen nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten seines Amtes im WTB enthoben. Er konnte in den folgenden drei Jahren im abnehmenden Umfang in der Presse (vor allem der ausländischen Presse) publizieren. Er veröffentlichte 1935 unter Pseudonym eine kleine Schrift über Brockdorff- Rantzau, mit der er einerseits die Wertschätzung seines vormaligen Gönners durch die Nationalsozialisten positiv beeinflussen wollte, andererseits die revisionistischen Implikationen der Politik des ersten Außenministers der Weimarer Republik deutlich hervorhob. 30 Als im Laufe des Jahres 1935 seine berufliche und politische Lage zunehmenden Infragestellungen und Gefährdungen ausgesetzt wurde, faßte er den Entschluß, Deutschland zu verlassen. Aufgrund seiner zahlreichen Beziehungen zu Frankreich, die insbesondere über seine Tätigkeit in der internationalen Organisation des EZV und in der DFG verstärkt worden waren, hätte die Wahl von Paris als Zufluchtsort nahe gelegen. Allerdings war Stern-Rubarth 1934 in Genf mit Zutun der französischen Presse in den Verdacht geraten, von Hitler „gekauft“ und mit einem Agitationsauftrag versehen worden zu sein. 31 Angesichts der „Korruption der Pariser Presse“ 32 sondierte er daraufhin bei seinen Londoner Freunden seine journalistischen Berufsaussichten und siedelte Anfang 1936 (mit der technischen Hilfe von Hjalmar Schacht) in die britische Hauptstadt über. Dort konnte er nach einigen Schwierigkeiten beruflich Fuß fassen und publizierte u.a. in der „Contemporary Review“ sowie in Zusammenarbeit mit dem „Royal Institute of International Affairs“. Sein erstes in Englisch geschriebenes Buch erschien 1939 und wurde als Zeitzeugenbericht stark beachtet. In „Three Men Tried“ 33 zeichnete er das europapolitische Engagement von Aristide Briand, Austen Chamberlain und Gustav Stresemann nach auf der Grundlage eigenen Erlebens und Beobachtens und mit der Absicht, angesichts des drohenden neuen Krieges die Chronik der vertanen Gelegenheit europäischer Einigung aufzuschreiben. In der deutschen Ausgabe des Buches, die 1947 unter dem Titel „Drei Männer suchen Europa“ erschien, umriß der Autor diese Absicht: „Dieses Botschafter ibid., p. 235sq. 29 Dazu ibid., p. 248sq. 30 Peter Laukhard: Brockdorff-Rantzau contra Versailles, Berlin 1935; zur Genese der Schrift s. auch Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 264sq. 31 Ibid., p. 262sq. 32 Ibid., p. 263. 33 Edgar Stern-Rubarth: Three Men Tried. Briand, Stresemann, Austen Chamberlain and the making of the Locarno Treaty, London 1939. <?page no="183"?> 183 Buch ist eine Geschichte Deutschlands und Europas zwischen den beiden Großen Kriegen. Im engeren Sinne ist es die Geschichte des Strebens und Kämpfens um eine neue, eine bessere Welt, unternommen von einer Handvoll weitblickender Staatsmänner mit ihrer Gefolgschaft von hochgesinnten, abwechselnd hoffnungsfreudig und verzweifelt um Verständnis für dieses Ideal werbenden Anhängern und Mitstreitern. Im engsten Sinne ist es die Autobiographie eines von ihnen, dem Zufall, Beruf und tiefverwurzeltes, altes Europäertum Gelegenheit gaben, bald als ein bescheidenes Rad in der Maschine des Weltgeschehens, bald als Zeuge und Berichter dieses Geschehens und, in besonders glücklicher Verkettung, je und eh auch als Mitwirkender an dem großen Drama teilzunehmen.“ 34 Zugleich versuchte Stern-Rubarth mit einem Abriß der deutschen Geschichte, an die Adresse des britischen Publikums gerichtet, deutlich zu machen, daß Hitler- Deutschland nicht für ganz Deutschland stand. In einem nationalcharakterologisch angelegten Buch, das er während einer Periode der Internierung als potentiell „gefährlicher Ausländer“ schrieb, 35 stellte er den Nationalsozialismus als Kampf der „savages versus civilisation“ dar und feierte Großbritannien als Hort der Menschenrechte, „for which the Nazis and their followers, having shed the thin veneer of civilisation given to their nation by their Goethes and Kants, their Beethovens and Mozarts, their Dürers and Holbeins, have nothing but contempt.“ 36 Neben dieser recht plakativ ausgefallenen Kriegsveröffentlichung nimmt sich Stern-Rubarths erstes Buch, das gleich nach Kriegsbeginn in London erschien, argumentativ profilierter und zeitgeschichtlich interessanter aus. 37 In „Exit Prussia. A Plan for Europe“ 38 machte sich der Verfasser Gedanken über die Neuordnung Europas nach dem Sieg über Hitler-Deutschland. Er wies in dieser Schrift die Schuld an dem Bruch Deutschlands mit der westlichen, demokratischen Zivilisation, den die Nazis mit der extremsten Konsequenz vollzogen hatten, der Überformung Deutschlands durch Preußen zu. Diese preußische Überformung des wahren deutschen Charakters habe mit Friedrich dem Großen begonnen, sei von Bismarck fortgesetzt worden und von Hitler - gerade weil er Ausländer sei - ins Groteske gesteigert worden. Die Preußen, „essentially Slavonic and heathen until the thirteenth Century“, hätten den Deutschen die Kollektivmerkmale des Militarismus, der Unterordnung, der Unterdrückung anderer, der Rastlosigkeit und der Intoleranz aufgeprägt. Nach dem Scheitern der Versailler Friedensordnung mußte - gemäß Stern-Rubarth - frühzeitig das Nachdenken über die zu- 34 Edgar Stern-Rubarth: Drei Männer suchen Europa, op. cit., München 1947, p. 5. 35 Dazu in seinen Memoiren (Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit.), p. 276sq. 36 Edgar Stern-Rubarth: A Short History of the Germans, London 1941, p. 153. 37 Zu recht wird es neuerdings als Quelle gewürdigt in Boris Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933-1945, München 2004. 38 Edgar Stern-Rubarth: Exit Prussia. A Plan for Europe, London 1940. Er widmete das Buch: „To the Europeans of German birth, silenced, persecuted, exiled, imprisoned or murdered, yet alive for ever.“ <?page no="184"?> 184 künftige Nachkriegsordnung einsetzen. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland würde das Ende Preußens die Grundvoraussetzung für die Neuordnung Deutschlands und Europas sein. Der zur Zeit der Veröffentlichung dieses Buches (Anfang 1940) noch staatenlose Autor entwickelte auf dieser Argumentationsgrundlage einen recht detaillierten Plan für den Neuaufbau eines föderativ gegliederten Europa, das es den Menschen erlauben sollte, neben der nationalen Loyalität einen europäischen Patriotismus zu entwickeln. Dies föderierte Europa sollte aus acht staatlichen Einheiten zusammengesetzt sein: Aus Großbritannien, Frankreich, Italien und Westdeutschland bis zur Elbe; der ostelbische Teil Deutschlands, das „irredeemably feudal Prussia“, 39 sollte einer „westslawischen Föderation“ zugeschlagen werden, die gemeinsam mit einer Balkan-, Oslo- und Iberischen Föderation die restlichen Komponenten des neuen friedensfähigen Europa darstellen könnten. 40 Diese Überlegungen Stern-Rubarths bedeuteten vor allem aufgrund ihrer radikal antipreußischen Orientierung einen klaren Schnitt mit dem Erbe Stresemanns, aber zugleich auch den Versuch, unter den neuen Nachkriegsbedingungen die Zielsetzung der Schaffung eines vereinten Europa neu zu durchdenken. Stern-Rubarth kam im Herbst 1947 erstmals als britischer Staatsbürger und Regierungsbeauftragter wieder nach Deutschland, und er knüpfte erneut Kontakte zu seinen Freunden und Bekannten aus der Zwischenkriegszeit, die das „Dritte Reich“ und den Krieg überlebt hatten. Er wurde im besetzten Deutschland zum nachgefragten Vortragsredner und Londoner Korrespondenten westdeutscher Zeitungen. Von den führenden Repräsentanten der jungen Bundesrepublik Deutschland war er aufgrund gemeinsamer liberaler Parteizugehörigkeit mit Bundespräsident Theodor Heuss bereits seit 1920 befreundet, 41 mit Bundeskanzler Adenauer war er seit den zwanziger Jahren bekannt. 42 Den Vorschlag des Bundeskanzlers, sein erster Pressechef zu werden, schlug Stern-Rubarth aus, u.a. weil er nicht bereit war, seine britische Staatsbürgerschaft dafür aufzugeben. 43 Die europapolitischen Erfahrungen und Pläne der Zwischenkriegszeit brachte er ein in die europäische Bewegung der späten vierziger Jahre durch die deutschsprachige Veröffentlichung von „Three Men Tried“, die ab 1947 mehrere Neuauflagen erfuhr, und durch einen Sammelband von 1951 mit dem Titel „Europa. Großmacht oder Kleinstaaterei“. 44 Dort versammelte er Beiträge namhafter Intellektueller sowie vormaliger Mitstreiter in der EZV-Bewegung der Zwischenkriegsjahre 45 39 Ibid., p. 17. 40 Cf. ibid., p. 145sq. 41 Cf. Edgar Stern-Rubarth,: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 99. 42 Ibid., p. 206sq. 43 So seine Darstellung ibid., p. 296. 44 Edgar Stern-Rubarth: Europa. Großmacht oder Kleinstaaterei? , Bielefeld 1951. 45 Nämlich Wilhelm Grotkopp, Gaston Riou, Carl Cremer und Stern-Rubarth; darüber hinaus trugen zu dem Band bei u.a. Richard Coudenhove-Kalergi, Salvador de Ma- <?page no="185"?> 185 und brach im Jahre der Gründung der Montan-Union eine Lanze für die wirtschafts- und zoll-politische Vereinheitlichung Westeuropas als ersten Schritt für den politischen Zusammenschluß. Der Sache nach, nicht jedoch in der Begrifflichkeit der Autoren dieses Bandes (die von den Problemstellungen der Zwischenkriegszeit diktiert war) entsprachen die hier ausgebreiteten Überlegungen durchaus dem neofunktionalistischen Ansatz des Schuman- Plans. 46 Stern-Rubarth blieb in seinen letzten Lebensjahrzehnten ein viel beschäftigter publizistischer Mittler zwischen Groß-britannien und der Bundesrepublik, die ihn mit zahlreichen Auszeichnungen ehrte. Neben seiner ständigen ehrenamtlichen Mitarbeit in der deutschen Botschaft am Chesham Place in London widmete er sich auch der zeitungswissenschaftlichen Forschung, aus deren Verbund ihm 1963 eine Festschrift aus Anlaß seines 80jährigen Geburtstages überreicht wurde. Er hatte zumindest in seinem Lebensverlauf das selbst gesteckte Ziel erreicht, als Engländer deutscher Herkunft ein „europäischer Patriot“ zu sein. Sein frankreich- und europapolitisches Wirken in der aktivsten Berliner Periode seiner politischen Vita verdient - in Erwartung einer umfassen-deren Studie 47 - eingehenderes Interesse. 2. Stern-Rubarth und die Deutsch-Französische Gesellschaft Die Gründung einer „Deutsch-Französischen Gesellschaft“ (DFG) für die Förderung der Kenntnisse und Kontakte zwischen Deutschen und Franzosen war eine private Initiative, die durch die indirekte Unterstützung (in der Form von Empfehlungen an die Adresse von Industrie, Banken und den Handel) und durch teilweise Subventionierung ihrer beiden deutschfranzösischen Zeitschriften seitens des Auswärtigen Amtes Züge einer offiziösen Einrichtung der Locarno-Politik erhielt. Otto Grautoff, der Gründer der DFG, stand seit den Kriegsjahren in beruflicher Verbindung mit dem Auswärtigen Amt, war aber als „unpolitischer“ Kunsthistoriker parteipolitisch nicht gebunden und profiliert. So lag es nahe, daß an seiner Seite einer der engsten Mitarbeiter Gustav Stresemanns, Edgar Stern-Rubarth, die Führung der DFG und die diplomatische Abstimmung mit dessen Politik übernahm. Im Redaktionskomitee der „Deutsch-Französischen Rundschau“ (DFR), dem publizistisch anspruchsvollen Organ der DFG, 48 waren neben Grautoff und Stern-Rubarth ein Schriftsteller (Heinrich Eduard Jadariaga, Eduard Spranger und Carl Severing. 46 Cf. dazu Andreas Wilkens (ed.): Interessen verbinden. Jean Monnet und die europäische Integration der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999. 47 Die insbesondere den Nachlaß Stern-Rubarths im Bundesarchiv auswerten müßte. 48 Cf. dazu die Monographie Béatrice Pellissier: Un dialogue franco-allemand de l’entredeux-guerres, la Deutsch-Französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Diss. phil. Paris IV 1991/ 92. <?page no="186"?> 186 cob), ein Soziologe (Gottfried Salomon), ein Jurist (Fritz Norden) und ein Wirtschaftswissenschaftler (Rudolf Meerwarth) vertreten; aus Frankreich zählten die beiden Hochschulgermanisten Henri Lichtenberger und Maurice Boucher sowie der Schriftsteller Edmond Jaloux zu dieser Equipe. Während Grautoff als Autor oder Akquisiteur den weiten Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaften betreute, trug Stern-Rubarth die Verantwortung vorwiegend für das Feld der Diplomatie und der Außenwirtschaftsbeziehungen. Stern-Rubarth, ein begabter journalistischer bzw. publizistischer Mehrfachverwerter seiner Texte, griff in seinen zahlreichen Beiträgen in der ab Januar 1928 erscheinenden DFR öfters Themen und Formulierungen auf, die er auch für seine „Deutsche diplomatisch-politische Korrespondenz“ benutzte. Eine kurze Analyse seiner DFR-Beiträge ermöglicht, den intellektuellen Tenor und die politische Zielrichtung seiner Gegenwartsdeutung zu erfassen. Die politisch-diplomatischen Beiträge Stern-Rubarths in der DFR, die auf seiner berufsbedingten Teilnahme an fast allen großen internationalen Konferenzen der Jahre 1925 bis 1933 beruhten, wurden flankiert und ergänzt durch eine große Zahl von Analysen und Stellungnahmen aus der Feder von Repräsentanten politischer und gesellschaftlicher Organisationen, die in Deutschland überwiegend aus der bürgerlichen Mitte und in Frankreich vor allem aus dem Spektrum des radicalisme und der sozialistischen Gruppierungen kamen. Die Zahl seiner publizistischen Kombattanten, die in der DFR sich der außenwirtschaftlichen Fragen annahmen, war weit weniger hoch. Es waren neben Stern-Rubarths eigenen Aufsätzen, die meist unter dem Rubrum „Chronik“ erschienen, vor allem der Hochschulprofessor Rudolf Meerwarth und die Wirtschaftspublizisten Alexander Gutfeld und Wilhelm Grotkopp, die in diesem Themenfeld das Wort führten. In der diplomatischen Konzeption des Generalsekretärs der DFG waren diese beiden Bereiche, der des außenpolitischen und der des außenwirtschaftlichen Handelns, miteinander unlösbar verbunden unter den Bedingungen der Zwischenkriegsjahre. Er hatte diese Konzeption bereits 1925 in den „Preußischen Jahrbüchern“ entwickelt und als den „Stresemann-Weg“ gekennzeichnet. 49 Dort legte er dar: „Stresemanns Ziel ist nicht die Rückkehr zu einer Vorkriegswelt, in eine Politik der Allianzen und Gegenallianzen, in denen ein entwaffnetes, bündnisunfähiges Deutschland immer nur geschoben und gestoßen würde, ohne daß doch die balance of powers dabei heraus käme. Erst recht nicht im Gedanklichen; denn das hieße Rückkehr in die Ideenwelt des reinen Nationalismus, dessen Übersteigerung in den Pariser Verträgen, in der Schaffung von Nationalstaaten, 49 Edgar Stern-Rubarth: „Der Stresemann-Weg“, in: Preußische Jahrbücher, 1925, Oktober- Dezember 1925, p. 454-460; der Aufsatz war ein Beitrag zu einer Kontroverse mit den Stresemann-Gegnern Graf Reventlow und dem Herausgeber des Periodikums Walther Schotte. Die programmatische Bedeutung, die Stern-Rubarth dem Text zumaß, wird deutlich darin, daß er ihn ausführlicher in seinen Memoiren zitiert. <?page no="187"?> 187 die eine Parodie auf das Selbstbestimmungsrecht darstellen, jedem mit Fingerspitzengefühl begabten Politiker das Ende dieser Epoche verrät. Wir sind auf dem Wege über das legitimistische Prinzip (cuis regio, eius religio) und das nationalistische (,So weit die deutsche Zunge klingt... ’) offensichtlich an einer Wende angelangt, wo eine neue Erweiterung der Schutzgemeinschaft und damit schließlich auch des Nationalbegriffes einsetzt [...]. An die Stelle eines herrschenden, zentralen, die anderen Landes- und Bevölkerungsteile assimilierenden Domaniats tritt in der Staatsstruktur eine Kollektivwirkung gleichgeordneter und deshalb in allen nicht auf das Gemeinschaftsziel gerichteten Lebensäußerungen selbständiger Staats- und Bundesglieder. Das vereinende Element wird mit dem wachsenden kulturellen Eigenleben in fortschreitendem Maß das wirtschaftliche; Bismarcks Reichsbau ruht auf dem Fundament des Listschen Zollvereins von 1833.“ 50 Die europäischen Nationen würden in dieser neuen Epoche gezwungen sein, sich auf diesem Wege zu einer Föderation zusammenzufinden, um den USA und - in absehbarer Zeit - auch Rußland als Wirtschaftsgroßraum auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten zu können. Stresemanns Politik folge diesem Wege, der mit der größten Wahrscheinlichkeit auch Deutschland aus seiner Not herausfuhren werde. Diese Leitgedanken seien für die deutsche Außenpolitik seit 1924 bestimmend gewesen: „Das hat uns nach London geführt, auf die Konferenz von 1924; hat uns Bundesgenossen geworben, deren wirtschaftliche Interessen politische Gegensätze entgiftet, gleiche Wegrichtung mit uns erzwungen haben. Dieser Weg hat folgerichtig weiter geführt nach Locarno; dieser wird darüber hinausführen, weil er darüber hinausführen muß, aus der immanenten Logik einer Entwicklung heraus, die nachgerade auch schon mit dem bloßen Auge sichtbar geworden ist. Die Kolonialfrage ist angeschnitten; über die Frage der Ostgrenzen ist das letzte Wort nicht gesprochen. Auch diese und andere Ziele stehen stark unter der Signatur ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, sind aber zugleich eminent politisch. Wie denn überhaupt eine reinliche Scheidung zwischen beiden Interessenssphären in unserem Zeitalter nicht mehr denkbar ist [.. ,].“ 51 In der DFR allgemein, aber auch besonders in den Aufsätzen des DFG-Generalsekretärs verbanden sich dergleichen Überlegungen mit einer enthusiastischen Wertschätzung der politischen Persönlichkeiten von Gustav Stresemann und Aristide Briand, denen im Dezember 1926 der Friedensnobelpreis für ihr Wirken zuerkannt wurde. Die beiden Außenpolitiker erschienen in dieser Sicht als die nahezu genialen Architekten des Hauses Europa, dessen Planung und Ausführung von wirtschaftlichen Notwendigkeiten und gesellschaftlichen Kräften auf die Tagesordnung der zwanziger Jahre gesetzt worden war. 52 An ihnen wurden alle nachfolgenden Politiker gemessen. 50 Ibid. p. 455. 51 Ibid. p. 456. 52 Cf. dazu z. Bsp. Stern-Rubarth: Stresemann. Der Europäer, op. cit., p. 67sq; ID.: „Die <?page no="188"?> 188 Die von Stern-Rubarth vorgegebene spezifische Argumentation im Publikationsorgan der DFG lief wesentlich darauf hinaus, die Wechselwirkung zwischen dem Handeln und Entscheiden der beiden epochemachenden Politiker Stresemann und Briand auf der einen Seite und den sie unterstützenden wirtschaftlichen Imperativen und gesellschaftlichen Interessenrepräsentanten auf der anderen Seite aufzuzeigen. So wurde auch ab 1930, nach dem Ende der Locarno-Ära 53 und dem Tode Stresemanns bzw. der fortschreitenden Schwächung der Stellung Briands, in den DFR-Beiträgen prinzipiell immer noch von der Möglichkeit der deutsch-französischen Verständigung und der europäischen Einigung ausgegangen; allerdings war nun das Leitmotiv, das von Stern-Rubarth formuliert wurde, der Kampf gehe nunmehr um ein „Locarno quand-même“. 54 Die Organisationsgründung der DFG (Ende 1927) wurde von ihrem Generalsekretär verstanden als Sammlungsbewegung für die Unterstützung und Fortentwicklung der Locarno-Politik beider Politiker, als „Verständigungsorganisation“. 55 Diese Vereinigungen seien ab Mitte der 1920er Jahre gleichzeitig auf beiden Seiten des Rheins entstanden. Sie waren nach seiner Auffassung die Garanten und Motoren für die Verlängerung bzw. Verbreitung der Locarno-Politik in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Sphäre beider Nationen. Es tauchten „ungefähr gleichzeitig und in gleichartigen Bestrebungen die Gedankengänge der Verständigung zu beiden Seiten der Grenze auf, kristallisierten sich [...] in mehr oder weniger konkreten Teilprogrammen um einige wenige Köpfe, die man immer wieder an der Spitze oder unter den treibenden Kräften dieser Bestrebungen findet. Es sind meist keine schlechthin pazifistischen Persönlichkeiten, keine Prediger einer verwaschenen, heute nur unvollkommen übersehbaren Zukunftsstaats- Theorie, sondern gerade Männer, denen die Liebe zu ihrem Vaterland im engeren Sinne den Blick für die Aufgabe einer übernationalen, humanitären Weiterentwicklung geschärft hat, die aber umgekehrt, eben aus dieser Anbahnung neuer zwischenstaatlicher Beziehungen Nutzen für ihr Land und Volk zu ziehen gedenken.“ 56 Stern-Rubarth zählte zu diesen „Verständigungsorganisationen“ die europäischen Initiativen von „Paneuropa“ (Coudenhove-Kalergi), die „Fédération Internationale des Unions Intellectuelles“/ „Europäischer Kulturbund“ des Prinzen Rohan; darüber hinaus schienen ihm Mitte 1928 bemerkenswert die französischen „Amitiés Internationales“, die „Union Douanière Européenne“, das „Deutsch-Fran- Neuorganisation Europas“, in: DFR, 1931, p. 662-666; ID.: „Deutschland und Frankreich im Haag“, in: DFR, 1929, p. 808-816; ID.: „Rund um Briands Föderationsplan“, in: DFR, 1931, p. 48-53. 53 Cf. dazu Franz Knipping: Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928- 1931, München 1987. 54 Edgar Stern-Rubarth: „Locarno quand-même“, in: DFR, 1930, p. 43-49. 55 Cf. dazu Edgar Stern-Rubarth: „Die Verständigungsorganisationen in Frankreich“, in: DFR, 1928, p. 320-324. 56 Ibid., p. 321. <?page no="189"?> 189 zösische Studienkomitee“ (Mayrisch-Komitee), das „Comité Français de Coopération Européenne“ (Emile Borel) und natürlich die „Deutsch- Französische Gesellschaft“, die in „mehrjähriger Vorbereitung in der Stille“ entstanden sei. In zusammenfassender Würdigung dieser Organisationen charakterisierte er ihre Tätigkeit: „Alle, die diesen Plänen ihre Namen und Kräfte leihen, folgen damit dem Beispiel Briands, der an der Spitze all dieser Organisationen, sei es als Ehrenpräsident, sei es als stiller Förderer und Befürworter steht. Und sie leisten eine Detailarbeit, ohne deren Erfolg die große politische Aufgabe, der in ihren Grenzen auch die Deutsch- Französische Rundschau und die hinter ihr stehende Deutsch-Französische Gesellschaft dient, aus der bloßen Initiative der beiderseitigen Regierungen erst viel später, wenn überhaupt, erfüllbar wäre.“ 57 Eine der Hauptaufgaben der DFR war es, dem deutschen Lesepublikum (das sich auf einem Sockel von rund 2700 Abonnenten aufbaute 58 ) vor Augen zu führen, daß auf der anderen Seite des Rheins ein qualitativer Mentalitätenwandel sich vollziehe, der den deutschen Bemühungen um bilaterale Konfliktlösung und europäische Einigung positiv gegenübertrete. In einem der Texte Stern-Rubarths zum Thema „Frankreich entdeckt Europa“ 59 hieß es dazu: „Und wenn der Gedanke einer paneuropäischen Schicksalsgemeinschaft, eines europäischen Zollvereins, einer europäischen Kooperation jetzt aber um so programmatischer und stürmischer gerade in den besten Köpfen und wärmsten Herzen Frankreichs Platz gegriffen hat, so geht das auf die Vorarbeit einiger weniger Männer zurück.“ 60 Dazu zählte er die Schriftsteller Gaston Riou und Francis Delaisi, 61 vor allem aber die „führenden Köpfe wie Borel, Lichtenberger, Loucheur, Painlevé, Albert Thomas, Le Trocquer, Charles Gide, Seydoux, Fernand Faure, Hennessy, Merlin, um nur ein paar aus der großen Zahl zu nennen“, die das „Werk der deutsch-französischen Verständigung fördern“. 62 Für ihn war letztlich die geistige, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fundamentierung der deutsch-französischen Verständigung und der europäischen Einigung wichtiger als die tagespolitischen Rückschläge der Diplomatie, die er ab 1930 aus nächster Nähe beobachten konnte und die insbesondere im Falle des französischen Vetos gegen den deutschösterreichischen Zollunions-Plan einen Höhepunkt erreichten. Die nicht zu 57 Ibid., p. 324. 58 Cf. Kapitel IV dieses Buches. 59 Edgar Stern-Rubarth: „Frankreich entdeckt Europa“, in: DFR, 1931, p. 331sq. 60 Ibid., p. 333. 61 Francis Delaisi, Wirtschaftspublizist, war Vorstandsmitglied der französischen Sektion des EZV; Gaston Riou gehörte zu dessen Führungsgruppe; eines seiner erfolgreichsten Bücher wurde ins Deutsche übersetzt. Gaston Riou: Europa, mein Vaterland. Aus dem Französischen von Marguerite Wolf. Einleitung von René Schickele, Straßburg 1929; cf. dazu auch die Rezension in DFR, 1930, p. 417sq. und Otto Grautoff in DFR, 1928, p. 129-134. 62 DFR, 1928, p. 323. <?page no="190"?> 190 übersehende quantitative Schwäche der französischen Befürworter einer konstruktiven Europapolitik auf der Basis bilateraler Annäherung an Deutschland führte Stern-Rubarth zurück auf die über Generationen eingewurzelte Auffassung in der französischen Gesellschaft, daß Europa letztlich nur eine Erweiterung und Ergänzung von Paris und Frankreich sein könne: „Daß ihre Zahl in Frankreich noch klein ist, erklärt sich weniger aus einer geringeren Hinneigung der Franzosen zur Einordnung in eine werdende größere Gemeinschaft, als vielmehr aus der naiven Selbstverständlichkeit, die das Ich - hier Paris und Frankreich - in den Mittelpunkt stellt, alle größeren und weiteren Gebilde also nur als Anschlüsse an den bestehenden und als im Grunde selbstgenügsam empfundenen Stamm oder Rumpf aufzufassen vermag.“ 63 Sein Mitstreiter in der DFR Wilhelm Grotkopp führte die Zögerlichkeiten der französischen Deutschland- und Europapolitik auf die Diskrepanz zwischen den (proeuropäischen) politischen Ideen und den (antieuropäischen) gesellschaft-lichen Interessen zurück. 64 Auch die Unentschiedenheiten in der Diskussion von Briands Plan einer Europäischen Union vom Mai 1930 wurden in der DFR ursächlich mit dieser Spannung erklärt. 65 Ging es dem Generalsekretär der DFG in erster Linie um die Durchsetzung der Konzeption einer wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas, so stand in der DFR die minutiöse Berichterstattung über die tagespolitischen Ansätze deutsch-französischer praktischer Kooperation ganz im Vordergrund. Hier galten Stern-Rubarth z. Bsp. der deutschfranzösische Handelsvertrag vom 27. August 1927 und die zunehmenden Internationalen Kartelle und Industrieabsprachen 66 als Beweisstücke für seine Basisthese von der unaufhaltsamen Herausbildung eines europäischen „Wirtschaftsgroßraums“. In einem größeren Beitrag wurden 1931 die positiven Auswirkungen und konjunkturgebundenen Schwankungen des deutsch-französischen Außenhandels in den einzelnen Wirtschaftsbranchen dargestellt und die Gefahren beschworen, die bei einer Nichterneuerung des Abkommens für die gesamte europäische Wirtschaft drohten: „Dieser äußerste Fall würde aber für beide Länder von großem wirtschaftlichen Nachteil sein und darüber hinaus das Gefüge der europäischen Wirtschaft in ihrem gegenwärtigen Krisenzustand derart schwer erschüttern, daß den mühevollen Versuchen europäischer Wiederaufbauarbeit ein vernichtender Schlag beigebracht würde.“ 67 Zahlreich waren in den umfangreichen Monatsheften der DFR die Aufsätze über einzelne 63 DFR, 1931, p. 334. 64 Wilhelm Grotkopp: „Frankreich und das Problem der Europawirtschaft“, in: DFR, 1930, p. 393-399. 65 DFR, 1930 passim. 66 Cf. dazu generell Clemens A. Wurm: Internationale Kartelle und Außenpolitik. Beiträge zur Zwischenkriegszeit, Stuttgart 1988. 67 Erich Dittrich: „Um das deutsch-französische Handelsabkommen“, in: DFR, 1931, p. 919. <?page no="191"?> 191 branchenspezifische Handelsabkommen, die ab Mitte der 1920er Jahre entstanden und die Expansion der Warenströme förderte Dazu gehörten in französisch-deutscher Richtung insbesondere die Agrar-, Woll- und Baumwoll-, sowie die Roheisen- und Halbfabrikate der Eisenindustrie, deren Import nach Deutschland ab 1928/ 29 aber zu sinken begann. Dazu zählten in deutsch-französischer Richtung die Warengruppen der Eisen- und Stahlindustrie (besonders die Werkzeugmaschinen), der „schweren chemischen Industrie“ und der Elektro-Industrie. Die DFR berichtete darüber hinaus auch über den Film- und Autoelektrik-Handel zwischen beiden Ländern 68 sowie über die beiderseitigen Luftfahrt- und Flussschifffahrtbeziehungen 69 mit dem Tenor der wechselseitigen Ergänzungs-Fähigkeit und -Bedürftigkeit der beiden Volkswirtschaften. Die Kartellisierungs-Bewegung in den Industrien verschiedener europäischer Länder, die machtvoll ab 1926 einsetzte und nach Stern- Rubarths Auffassung vom Rationalisierungsstreben motiviert war, diente in der Wirtschaftsberichterstattung der DFR als zweites Paradebeispiel für die Entstehung eines sich verdichtenden europäischen „Wirtschaftsgroßraums“. In einem ausführlichen Artikel 70 stellte er die zahlreichen internationalen Wirtschaftsententen und „Pakte“ dar, die in den zwanziger Jahren im Bereich der Glühlampen-Herstellung („Glühlampenkartell“ 1924), der Kali-Wirtschaft („Deutsch-französisches Kali-Kartell“ von Ende 1926), der Schienenproduktion („Internationales Schienenkartell“ von Juni 1926), der Röhrenfabrikation („Röhrenkartell“ vom Juni 1926), des „Leimsyndikats“ (Juli 1926) und vor allem der „Internationalen Rohstahlgemeinschaft“ vom September 1926 zustande gekommen waren. 71 Diese detaillierte Übersicht wurde 1930 von Alexander Gutfeld ergänzt und angesichts des praktischen Scheiterns der Internationalen Rohstahlgemeinschaft generell skeptischer beurteilt, was die politische Schrittmacherrolle der Kartellbewegung für die politische Einigung Europas anging. 72 Stern-Rubarth hatte vor Beginn der Weltwirtschaftskrise noch sein ganzes Vertrauen in die europapolitisch konstruktive Eigendynamik der kartellisierten Wirtschaft gesetzt: „Sie ist 68 Cf. z. Bsp. S. F. Seitz: „Bosch - Erzeugnisse in Frankreich“, in: DFR, 1932, p. 265-274; Egon Larsen: „Der deutsch-französische Filmhandel“, in: DFR, 1929, p. 572-579. 69 Als Bsp. G. Everard: „Die Entwicklung der französischen Handelsschifffahrt“, in: DRF, 1930, p. 229-234; Hans Erlenbach: „Die Großwasserschifffahrtsstraße Rhein- Main-Donau. Ein Gegenstand deutsch-französischer Wirtschaftsverständigung“, in: DFR, 1932, p. 548-555; Heinz Orlovius: „Die deutsch-französischen Luftverkehrsverhandlungen“, in: DFR, 1932, p. 125-129. 70 Edgar Stern-Rubarth: „Der Stand der deutsch-französischen Kartelle“, in: DFR, 1928, p. 223- 237. 71 Zur Internationalen Rohstahlgemeinschaft s. Jacques Bariéty: „Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum ‚Großindustriellen Projekt’ des Versailler Vertrags“, in: Hans Mommsen u.a. (ed.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, p. 552-568. 72 Alexander Gutfeld: „Frankreich in der internationalen Verbandsbewegung“, in: DFR, 1930, p. 817-833. <?page no="192"?> 192 keine planmäßige, von zentralen Stellen der beteiligten Länder aus geleitete oder angeregte, wenn auch Männer, wie der wirtschaftlich sehr einflußreiche frühere Wiederaufbauminister Frankreichs, Louis Loucheur, oder wie der so tragisch in diesen Tagen aus dem Leben geschiedene Präsident der Internationalen Rohstahlgemeinschaft, Emil Mayrisch, wie der belgische Expremier Theunis und wie die führenden Köpfe im Reichsverbande der Deutschen Industrie, begünstigt durch die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung, solchen Wirtschaftsententen das Wort reden. Im Einzelfalle erwachsen sie doch immer aus den mehr oder weniger akuten Bedürfnissen, aus dem steigenden Verständnis für eine Rationalisierung der Produktion bei den maßgebenden Industriellen der einzelnen Gewerbe. Und, oft uneingestanden, liegt ihnen das Bewußtsein zugrunde, daß die Zersplitterung Europas in 30 einzelne Staatsgebilde, von denen jedes einzelne Souveränität dazu gebraucht und vielfach mißbraucht, auf seinen Grenzen willkürliche Schranken für die Erzeugnisse des Gewerbefleißes anderer Länder aufzurichten, ein sinnwidriges und im letzten Ende selbstmörderisches Gebilde schafft. Daß Europa eine Einheit ist, die als solche zum mindesten wirtschaftlich den übrigen Wirtschafts-Großräumen, dem bereits bestehenden und mit gewaltigem Expansionsdrang aufwärts strebenden Amerika und einem künftigen, zu gleicher Vielseitigkeit und autarkischer Wirtschafts-Vollkommenheit berufenen, nur durch seine politischen Verhältnisse noch in der Entwicklung gehemmten Rußland, gegenübertreten muß, um als gleichwertiger und gleichberechtigter Kontrahent bei einer künftigen gemeinsamen Nutzung der Naturschätze, der Rohstoffe der Erde und bei der Verteilung der Märkte sich geltend machen zu können. Das ist der tiefere Sinn und die große Bedeutung dieser Einzelvorgänge, die sich immer mehr häufen und in ihrer Gesamtheit einschließlich unzerreißbares Gespinst von Gemeinschaftsinteressen über Europa legen.“ 73 In seinem letzten größeren DFR-Beitrag, den er am Jahreswechsel 1932/ 33 schrieb, 74 war dies wirtschaftsliberale Vertrauen geschwunden, aber der Autor bilanzierte dennoch die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre positiv unter dem Gesichtspunkt, daß die Europa- Diskussion trotz aller weltwirtschaftlichen und innerpolitischen Widrigkeiten dauerhafte Spuren in allen europäischen Ländern, besonders aber in Frankreich und Deutschland, hinter-lassen habe: „Entscheidend ist vielmehr eines: daß man heute in Frankreich wie in Deutschland und mit noch größerer Selbstverständlichkeit außerhalb der beiderseitigen Landesgrenzen den Begriff Europa als eine Notwendigkeit erkannt hat, und daß dieser Begriff Europa für keinen denkenden Menschen anders gestaltungs- und lebensfähig erscheint, als über einen deutsch-französischen Zusammen- 73 Edgar Stern-Rubarth: „Der Stand der deutsch-französischen Kartelle“, loc. cit., p. 235sq. 74 Edgar Stern-Rubarth: „1918-1933. Fortschritt oder Rückschritt der deutschfranzösischen Beziehungen? “, in: DFR, 1933, p. 50-53. <?page no="193"?> 193 schluß als die erste und entscheidende Etappe. Dieser Begriff Europa aber, sei er politisch gefaßt und also in seiner Wirklichkeit noch ferne liegend, sei er wirtschaftlich gesehen und also, im Gebiet der realen Notwendigkeit wurzelnd, eine Forderung der Gegenwart und der nächsten Jahre, sei er schließlich ein kultureller, in der geistigen und damit auch politischwirtschaftlichen Vorherrschaft der weißen Rasse wurzelnder, wird uns aufgezwungen.“ 75 Europa sei in den letzten 15 Jahren von einer „Neuforderung“ zu einem „heute bereits unverlöschlichen Gemeinschaftsgut der politischen und geistigen Führer“ geworden. 3. Stern-Rubarth und der Europäische Zollverein Als Vehikel für die Durchsetzung eines ökonomisch und gesellschaftlich verankerten Europa-Bewußtseins verstand Stern-Rubarth auch den Europäischen Zollverein, den er mit anderen Gründern Mitte der 1920er Jahre ins Leben gerufen hatte und dessen deutsche Sektion er leitete. Rückblickend stellte er die DFR in eine Reihe mit anderen Publikationsorganen des EZV. 76 Richtig ist an dieser Einordnung sicherlich, daß gerade in Berlin ein Teil der von der DFG eingeladenen Vortragsredner aus Frankreich, die politisch einiges Gewicht hatten, aus den Reihen des EZV kam. 77 So namentlich César Chabrun und Yves Le Trocquer. Andererseits war die DFR mehr als ein Vereinsorgan des EZV, denn die dort erscheinenden Abhandlungen wandten sich in erster Linie an das Bildungsbürgertum, das vor allem durch die überrepräsentierten Gruppen der Lehrer und Hochschullehrer in der Leserschaft dominierte. Gleichwohl kamen auch die Unternehmer („Fabrikanten“ mit 7,4 % die zweitstärkste Kategorie der DFR-Abonnenten) durch die zahlreichen Wirtschaftsinformationen auf ihre Kosten. Hier ist insbesondere zu verweisen auf die monatlichen Überblicke zur französischen Wirtschaftsentwicklung, die von Alexander Gutfeld von 1928 bis 1933 regelmäßig veröffentlicht wurden; dort erfuhr man als Leser die wichtigsten Daten zur Konjunktur-, Börsen- und industriellen Produktionsentwicklung im Nachbarland. Ein eigenes Publikationsorgan hatte die deutsche Sektion des EZV mit der Monatsschrift „Europa-Wirtschaft. Monats-hefte für den wirtschaftlichen Aufbau Europas“, die von Wilhelm Grotkopp von 1930-1932 herausgegeben wurde. Gemäß Stern-Rubarth waren neben diesem Periodikum und der DFR die wichtigsten publizistischen Plattformen der EZV-Bewegung: die „Europäische Wirtschafts-Union“ (Den Haag), „L’Europe de Demain“ (Paris) und „Die Wahrheit“ (Prag). 78 75 Ibid., p. 52. 76 So z. Bsp. in Edgar Stern-Rubarth: Europa. Großmacht oder Kleinstaaterei, op. cit., p. 13. 77 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Otto Grautoff und die Berliner Deutsch-Französische Gesellschaft“, in: ID. (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 69-100. 78 Edgar Stern-Rubarth: Europa. Großmacht oder Kleinstaaterei, op. cit., p. 13. <?page no="194"?> 194 Die internationale Dachorganisation der Bewegung, die „Union Douanière Européenne“ (UDE), beriet auf ihrer ersten gemeinsamen Tagung, Ende Juni 1930, die Möglichkeiten, die Außendarstellung und Propaganda der Bewegung zu intensivieren. 79 Es wurde ein gemeinsamer Pressedienst vorgeschlagen und die zielgruppenorientierte Vortragstätigkeit bei Lehrern, Rechtsanwälten, Industriellen und Kaufleuten. Die organisatorischen Ressourcen des EZV reichten für solche Aktivitäten in keinem der beteiligten Länder aus, und es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß die EZV/ UDE ihre stärkste Einflußnahme auf die Politik nicht so sehr über die Öffentlichkeitsarbeit, als vielmehr durch die unmittelbare Ansprache und Beeinflussung von Entscheidungsträgern in Regierung, Parlament, Industrie und Banken ausübte. Das wird deutlich in der genaueren Betrachtung der deutschen Sektion der UDE und der Rolle, die Stern-Rubarth in diesen Organisationen spielte. Der EZV war in der Weimarer Republik eine der fünf proeuropäischen Organisationen, die sich als Rivalen schwer taten, eine gemeinsame Operationsbasis zu schaffen, aber in vielfältiger Weise durch Personalunion ihrer führenden Mitglieder und durch Übereinstimmung ihrer ausländischen Interaktionspartner miteinander verquickt waren. 80 Die anderen vier - in der Öffentlichkeitsarbeit stärker als der EZV präsenten - Europa-Vereinigungen waren die Paneuropa-Union, die Liga für Völkerbund, der Europäische Kulturbund und der Verband für Europäische Verständigung. 81 Als quantitativ eher kleine Vereinigung unterhielt der EZV vergleichsweise kooperative Beziehungen zu den anderen Europa-Vereinen und schloß sich u.a. im Januar 1928 dem kurzlebigen „Deutschen Kartell für europäische Annäherung“ an, dessen Vorsitz der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Löbe innehatte. Zu der dort getroffenen Absprache gehörte es, daß die Paneuropa-Union die breitenwirksame Werbung für die europäische Idee übernehmen und die anderen Organisationen die gezielte Überzeugungsarbeit bei Spitzenrepräsentanten von Wirtschaft und Politik betreiben sollten. Diese letztere Funktion war eindeutig der bevorzugte Aktionsmodus des EZV. Die Organisation wurde im Laufe des Jahres 1925 als deutsche Sektion der Union Douanière Européenne (UDE) von Stern- Rubarth gegründet und erhielt den Status eines eingetragenen Vereins. Seine Aufgabe bestand vor allem darin, den Grundkonsens, der im Grün- 79 Cf. dazu Carl H.Pegg: Evolution of the European Idea, 1914-1932, Chapel Hill, London 1983, p. 147sq. 80 Cf. dazu Karl Holl: „Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik. Zur Tätigkeit proeuropäischer Organisationen in der Weimarer Republik“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 219(1974), p. 33-93. 81 Als neuere Monographien s. dazu jetzt Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005; Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas. Richard Coudenhove-Calergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger Jahren, Wien 2004. <?page no="195"?> 195 dungsaufruf der UDE vom 12. März 1925 formuliert worden war, in die deutsche Politik und Gesellschaft zu vermitteln. Im „Aufruf an alle Europäer“, den Stern-Rubarth mitverfaßt hatte, wurde die Notwendigkeit dieser Initiative so begründet: „Sept ans après la conclusion des Traités de Paix, toute l’Europe se trouve encore dans une situation troublée, tendue et remplie de matières à conflit. Le but poursuivi, lors de la création du soidisant ordre nouveau du monde, c’est-à-dire la reconstruction économique et la sécurité, n’a pas été atteint; l’Europe n’a pas encore trouvé de chemin pour sortir du chaos. Les crises catastrophiques de la production et de la consommation, conséquence de l’anarchie économique internationale, ont provoqué la misère et le mécontentement général. - Cette anarchie économique internationale résulte du droit permettant à chaque nation individuellement d’ériger sur ses frontières, selon son bon plaisir, des barrières douanières, des interdictions d’importation et d’exportation et d’exclure ainsi plus ou moins les commerçants des autres nations de son territoire. Ce droit unilatéral de s’immiscer dans les rapports économiques internationaux, droit exercé de façon souveraine, entretient une menace perpétuelle de guerre de tarifs, cause même de l’anarchie qui empêche la reconstruction et la paix économique de l’Europe.“ Gegenwärtig wachse jedoch das Bewußtsein der wirtschaftlichen Solidarität und Interdependenz zwischen den Nationen und diese neue Geistesverfassung sei verheißungsvoll: „De même qu’au XIXe siècle, les Etats d’Amérique, les Provinces de France et d’Italie n’ont pu se constituer en grandes unités nationales que grâce à la suppression de leurs douanes intérieurs, de même l’évolution naturelle du XXe siècle a érigé entre les peuples de l’Europe des rapports économiques dont le développement est lié d’une façon tellement obligatoire au respect de la loi naturelle de la liberté des échanges que les mesures autocratiques des nations isolées ne sauraient plus longtemps maintenir à leurs frontières les barrières artificielles des douanes qui s’opposent à l’exercice même des échanges.“ 82 Diese Absichtserklärung war theoretisch weder besonders anspruchsvoll, noch war sie originell. Sie war allem Anschein nach als Konsensformel gemeint, in die der liberale Grundsatz des Freihandels in der Tradition von Richard Cobden und Friedrich List einging, im übrigen aber die praktischen Folgerungen daraus von jeder nationalen Sektion erst noch abgeleitet werden mußten. Edgar Stern- Rubarth, der den „Aufruf“ gemeinsam mit dem ungarischen Volkswirt Ernö Bleier formuliert und u.a. die Unterschrift von den Wirtschaftswissenschaftlern Charles Gide (Frankreich) und Elemer Hantos (Ungarn) sowie des britischen Cobden-Club- Repräsentanten Norman Angell erhalten hatte, begnügte sich auch in der Folgezeit damit, mehr die allgemeine Perspektive der europäischen Zoll- und Wirtschaftseinheit zu vertreten; er ließ sich selten auf die volkswirtschaftlichen und die technischen Aspekte dieses Ziels ein. Das wird z. Bsp. deutlich in seiner Darlegung des „Europäis- 82 Zitat nach: L’Europe de Demain, Heft 9 (Juni 1930), p. 2sq. <?page no="196"?> 196 mus“: „Die Niederlegung der Wirtschaftsschranken, der Zollmauern und sonstigen Prohibitionsmaßnahmen für den unbeschränkten Güteraustausch und damit die Intensivierung und Steigerung der gesamten europäischen Wirtschaftsleistung, als [Antrieb] für die Schöpfung zusätzlicher Reichtümer, scheint der einleuchtendste und unverfänglichste praktische Weg des Europäismus. Die politischen Konsequenzen, für die sich jede Zeit und jede politische Gruppe ihre eigenen und neuen Gesetze schaffen muß und die deshalb nicht im Voraus theoretisch festgelegt werden können, folgen daraus automatisch. Inzwischen aber gilt es, sich der ethischen Bedeutung und der materiellen Möglichkeiten einer überall fast gleichmäßig ziemlich spontan aufgekeimten Bewegung bewußt zu werden, die unter völliger Erhaltung der kulturellen Werte, der Sprache, des Bildungswesens, der Sitten und Gewohnheiten und der Geschichte jedes einzelnen europäischen Volkes, einen neuen höheren Schutzgemeinschaftsbegriff, ein neues, weiteres, reicheres vollkommeneres Vaterland schaffen will: den seelisch und intellektuell empfundenen Begriff Europa.“ 83 Für die wissenschaftlichen und technischen Aspekte gewann er die Expertenkompetenz des Ökonomen Elemer Hantos (1881-1942), der seinerseits Mitinitiator des im September 1925 konstituierten „Mitteleuropäischen Wirtschaftstages“ 84 war und auf die zollpolitische Zusammenfassung der Nachfolgestaaten der KuK-Monarchie hinarbeitete. Die enge Zusammenarbeit zwischen Stern-Rubarth und Hantos ist augenscheinlich in der von beiden verfaßten Schrift „Europäischer Zollverein und mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft“, die als erstes Heft der „Schriftenreihe des EZV“ erschien. 85 Stern-Rubarth feierte Hantos dort als weltbekannten „Vorkämpfer auf dem Gebiet des Wirtschaftszusammenschlusses“. 86 Der so eingeführte Ökonom trug in seinen Überlegungen alle Argumente vor, die für die politisch zu erstrebende Schaffung größerer transnationaler Wirtschaftsräume sprachen, und plädierte für die stufenweise Herbeiführung von „regionalen Gruppen“ souverän bleibender Nationalstaaten, die eine „Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsgemeinschaft“ bilden sollten. Um die Frage des geographisch-politischen Zuschnitts solcher regionaler 83 Edgar Stern-Rubarth: „Europäismus“, in der Wahrheit (Prag) vom 1. Juni 1929; hier zitiert nach Dorothee Backhaus: Die Europabewegung in der Politik nach dem Ersten Weltkrieg und ihr Widerhall in der Presse von 1918-1933, Diss. phil. München 1951, p. 198sq. 84 Cf. dazu Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977, p. 104sq. Zu Hantos cf. István Nèmeth: „Die mitteleuropäische Alternative von Elemér Hantos in den 1920er Jahren“, in: Heinz Duchardt (ed.): Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegszeit, Mainz 2005, p. 71-98. Ergänzend cf. auch Gergely Fejédy: „L’idée européenne en Hongrie entre les deux guerres“, in: Geneviève Duchenne, Michel Dumoulin (ed.): Générations de fédéralistes européens depuis le XIXe siècle, Bruxelles 2012, p. 81-92. 85 Europäischer Zollverein und mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft. Mit einem Vorwort vom Internationalen Komitee des EZV. Europa als Wirtschaftseinheit, Berlin o.J. (1929). 86 Ibid, p. 13. <?page no="197"?> 197 Zollunionen entstand in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine lebhafte Debatte. Hantos vertrat in ihr mit Entschlossenheit die These, daß die österreichischen Nachfolgestaaten eine solche Union unabhängig von Deutschland bilden sollten. In der Schrift von 1929 umriß er drei sinnvolle Wirtschaftsunion-Ansätze: ein „westeuropäischer Block“ sollte Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg umfassen; ein baltischer „Wirtschaftsbund“ sollte entstehen aus Finnland, Estland, Lettland und Litauen; am vordringlichsten erschien ihm jedoch die Schaffung einer „wirtschaftspolitischen Einigung“ von Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn und Österreich. 87 In der „Mitteleuropa“-Diskussion schlossen sich die führenden Köpfe des deutschen EZV dieser These an, die auf längere Sicht aus politischen wie ökonomischen Gründen jegliche Anschluß-Perspektive Österreichs an Deutschland ausschloß. Grotkopp z. Bsp. befaßte sich 1932 mit den „wieder auftauchenden Schlagwörtern wie Mitteleuropa und Zwischeneuropa“, die zur Zeit die Köpfe vieler Jugendlicher verwirrten. Seine Position war eindeutig: „Für die deutsche Wirtschaft kann nie der Donauraum ein Ersatz für die Absatzmöglichkeiten in Frankreich oder anderen westeuropäischen Ländern oder Übersee sein.“ 88 Stern- Rubarth vertrat dieselbe Auffassung. Er wandte sich auch - in Widerspruch zu Coudenhove-Kalergi - gegen die Ausgrenzung Großbritanniens und Rußlands aus der Bewegung zur Herbeiführung Europas als „Großwirtschaftsraum“. In jedem Fall sollten die regionalen Zollbzw. Wirtschaftsunionen korrekturfähige Transitorien sein, die ihre schließliche Zweckbestimmung in der Entstehung eines politisch föderierten Europa hatten. Für die wissenschaftlichen und technischen Aspekte wurde für den deutschen EZV und für Stern-Rubarth selbst der junge Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Wilhelm Grotkopp zur unentbehrlichen Hilfe und zum viel geforderten Mitarbeiter. Er hatte 1929 eine wissenschaftliche Arbeit zur amerikanischen Schutzzollpolitik veröffentlicht 89 und übernahm 1930 die Herausgabe der Monatsschrift „Europa-Wirtschaft“, die weniger ein Vereinsorgan darstellte als ein Diskussionsorgan für die Bearbeitung wissenschaftlicher Aspekte der europäischen Wirtschaftsintegration. Gemäß Stern-Rubarth kam der deutsche EZV damit einer Absprache mit den französischen Wortführern der UDE nach, derzufolge die werbende politische Außendarstellung der Zollunions-Bewegung von der (ungleich stärkeren) französischen Sektion getragen, die wissenschaftliche und nach 87 Ibid, p. 39. 88 Wilhelm Grotkopp: „Deutschland, Frankreich und der Donauraum“, in: DFR, 1932, p. 583. Derselbe Autor prüfte auch die Voraussetzungen für eine deutschfranzösische Zollunion in: „Untersuchungen über die Möglichkeit einer deutschfranzösischen Zollunion“, in: DFR, 1930, p. 842-844. 89 Wilhelm Grotkopp: Amerikas Schutzzollpolitik und Europa, Berlin 1929; Grotkopp hatte für diese Arbeit ein Jahr in den USA verbracht; er hatte zuvor promoviert in Kiel: Wilhelm Grotkopp: Universalökonomische Gedanken bei den mittelalterlich-christlichen Sozialphilosophen, Diss. Staats- und Wirtschaftswissenschaften, Kiel 1923. <?page no="198"?> 198 innen wirkende Arbeit von der deutschen Seite geleistet werden sollte. Grotkopp konnte 1929 mit Unterstützung „freihändlerischer Kreise“ und des Kieler „Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr“ eine systematische Arbeit anfertigen, in der theoretische bzw. begriffliche Präzision und eine Zusammenfassung der jüngsten Vorschläge zur Abschaffung der Zölle als erster Schritt zur europäischen Wirtschaftseinheit angestrebt wurde. 90 Dort machte er leichte Vorbehalte gegenüber den Vorschlägen von Elemer Hantos geltend, schloß sich aber ohne Vorbehalte den allgemeinen europapolitischen Perspektiven von Stern-Rubarth an. 91 Namentlich zum EZV war sein Urteil affirmativ; dort habe man sich pragmatisch darauf geeinigt, daß die Souveränität der Staaten möglichst unangetastet bleiben solle bei dem Versuch, die am stärksten an der Schaffung eines größeren Marktes interessierten Staaten für eine gemeinsame Aktion zu gewinnen: „Es ist erfreulich, daß sich die Agitation zugunsten einer europäischen Zollunion immer mehr in diese Richtung entwickelt hat. Dies gilt vor allem für die Tätigkeit des ,Europäischen Zollvereins’, der in seiner Zielsetzung von der Einsicht ausgeht, daß das vielleicht für ferne Zukunft zu erstrebende Ziel aus den oben erwähnten Gründen noch nicht zu verwirklichen sei, daß dagegen angestrebt werden müßte, die an der Schaffüng eines größeren Marktes am stärksten interessierten Staaten für eine gemeinsame Aktion im Interesse des Zollabbaues zu gewinnen. Dies soll nach den Vorschlägen des ,Europäischen Zollvereins’ in Form eines Kollektivvertrages geschehen, der die Höchstgrenze der zwischen den dem Vertrag angeschlossenen Staaten bestehenden Zollmauern festlegen und die Staaten zu einer organischen Ermäßigung der Zollsätze verpflichten soll, so daß nach Ablauf einiger Jahrzehnte die Zollgrenzen zwischen diesen Staaten beseitigt wären. Es ist das große Verdienst des ,Europäischen Zollvereins’, an die Stelle der vielfach etwas phantastischen Vorschläge diesen konkreten nüchternen Entwurf gesetzt zu haben.“ 92 Grotkopp war dann auch beteiligt an einem Gemeinschaftswerk, in dem das von Stern-Rubarth als eigene Begriffsbildung reklamierte 93 Konzept der „Großraumwirtschaft“ diskutiert wurde und in dem sich auch ein Beitrag von Elemer Hantos befand. 94 Die anderen wissenschaftlichen Ausarbeitungen zur Idee der Zollunion, auf die Stern- Rubarth gern verwies, 95 waren Dissertationen, die bei Hochschullehrern verfaßt wurden, die ein wissenschaftliches oder praktisches Interesse an 90 Wilhelm Grotkopp: Die Zölle nieder! Wege zur europäischen Wirtschaftseinheit, Berlin 1930. 91 Cf. ibid., p. 106sq. 92 Ibid., p. 110sq. 93 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 124. 94 Wilhelm Grotkopp, Wilhelm Gürge (ed.): Großwirtschaftsraum. Der Weg zur europäischen Einheit. Ein Grundriß, Berlin 1931. Vgl. auch seine Schrift: Europäische Zollunion als Weg aus deutscher Wirtschaftsnot, Berlin 1931. 95 Z. Bsp. in: Europa. Großmacht oder Kleinstaaterei, op. cit., p. 13sq. <?page no="199"?> 199 dem Thema pflegten; 96 sie waren überwiegend historisch argumentierend angelegt. Über die durchschnittliche Mitgliederzahl der deutschen Sektion des EZV während der Jahre 1925 bis 1933 gibt es keine überprüfbaren Angaben. Man hat geschätzt, daß sie nicht wesentlich über 100 Mitglieder hinausging. 97 Bei den vom EZV-Gründer genannten Persönlichkeiten, die eine aktive Rolle in dem Verein spielten, befinden sich eine ganze Reihe von Mitgliedern, die eine nicht unbedeutende Multiplikatorenfunktion ausübten und die großenteils auch in anderen Europa-Organisationen tätig waren. Aus der Gruppe der Wissenschaftler führt Stern-Rubarth neben Grotkopp vor allem Franz Oppenheimer und Moritz J. Elsas an, die beide aus seinem Frankfurter Umfeld stammten. Oppenheimer (1864-1943) hatte in den zwanziger Jahren den Lehrstuhl für Soziologie und theoretische Nationalökonomie inne und vertrat einen sozialen Liberalismus. 98 M. J. Elsas war in dieser Zeit als Preis- und Lohn- Forscher hervorgetreten. Elsas war 1928 Mitglied des Internationalen Komitees der UDE, das seinen Sitz in Paris hatte. Dort wird auch Ludwig Stein (1854-1930) aufgeführt, der Philosophie- und Soziologie-Professor, der seine Karriere zwischen Berlin und Bern aufteilte und als Zeitschriftenherausgeber („Nord und Süd“ 99 ) und Friedenspolitiker auch im diplomatischen Milieu sehr präsent war. Schließlich war Bernhard Harms (1876-1939), der Nationalökonom, der vor 1914 in Deutschland und Frankreich studiert hatte sowie 1911 das Kieler „Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr“ gründete und bis 1933 leitete, unterstützend für den EZV tätig. Von den Politikern förderten vor allem führende Mitglieder der Mittelparteien der Weimarer Republik die Ziele des EZV. So z. Bsp. der DVP-Politiker Julius Curtius (1877-1948), der Nachfolger Stresemanns im Auswärtigen Amt, der auch Kenner des Kartell-rechts war. Der DVP-Politiker Carl Cremer, Reichstagsabgeordneter und mit Theodor Heuss, Stern-Rubarth u.a. ab 1933 Mitstreiter in einem oppositionellen Zirkel in Berlin, 100 der auch Mitglied des Verbandes für europäische Verständigung war. Rudolf Dahlberg, ein Spezialist für Währungs- und Kredit- 96 Nämlich: Ernst G. Löwenthal: Die Vereinheitlichung des europäischen Verkehrs seit dem Kriege. Ein Beitrag zum Problem eines wirtschaftlichen Europa, Diss. Wirtschafts- und Staatswissenschaften, Köln 1929; und: Heinz August Wirsching: Der Kampf um die handelspolitische Einigung Europas. Eine geschichtliche Darstellung des Gedankens der Europäischen Zollunion, Diss. Staatswissenschaften, Erlangen 1928. 97 So Reinhard Frommelt, op. cit., p. 26. 98 Er war u.a. der Doktorvater von Ludwig Erhard, der bei ihm 1925 in Frankfurt/ Main promovierte zum Thema „Wesen und Inhalt der Werteinheit“. 99 Cf. dazu die Studie Kurt Koszyk: „ ‚Nord und Süd’. Ein elitäres Friedens-Forum“, in: Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes, Bern, Frankfurt/ Main 1997, p. 15-34. Steins rechte Hand bei der Herausgabe der Zeitschrift war Antonina Vallentin, die eine enge Vertraute Stresemanns war und (neben Stern-Rubarth) eine der ersten Biographien über ihn schrieb: cf. Antonina Vallentin: Stresemann, das Werden einer Staatsidee, Leipzig 1930. 100 Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 261. <?page no="200"?> 200 politik und hoher Beamter im Reichswirtschaftsministerium. Von der Zentrumspartei gehörte zum engeren Kreis der EZV-Protagonisten Ludwig Kaas (1881- 1952), seit 1928 deren Vorsitzender und 1926-1930 Delegierter beim Völkerbund. Ebenfalls Zentrumsmitglied war der Exdiplomat und zeitweilige politische Direktor der Zentrums-Zeitung „Germania“ Richard Kuenzer (1875-1945), der aktiver Vertreter der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ war. Aus der DDP machte sich die promovierte Nationalökonomin und Frauenrechtlerin Marie Elisabeth Lüders (1878-1966), die von 1920 bis 1932 Reichstagsabgeordnete war, für die Ziele des EZV stark. Aus der SPD trat dort in Erscheinung der gelernte Maschinenbauer und Wirtschaftsminister in der ersten Nachkriegsregierung Rudolf Wissell (1869-1962), der als Sozial- und Wirtschaftspolitiker während der ganzen Weimarer Republik die Sozialdemokratie im Reichstag vertrat. Von den Repräsentanten der Großindustrie traten namentlich Richard Heilner und Robert Bosch als Förderer des EZV auf. Richard Heilner (1876-1964) war Generaldirektor der Linoleum-Werke in Stuttgart, DVP-Mitglied und Vorstandsmitglied der Paneuropäischen Union sowie Zentralgestalt der DFG in Stuttgart; 101 er stand Stern-Rubarth besonders nahe und förderte die EZV-Arbeit auch materiell. 102 Robert Bosch (1862-1941), der Stuttgarter Elektroindustrielle, förderte nicht allein die deutsch-französische Verständigungsbewegung, sondern auch nahezu alle Europa-Vereine der Weimarer Republik, vor allem die Paneuropa-Union. Zum politischen und gesellschaftlichen Wirkungsradius der EZV/ UDE- Bewegung in den Jahren 1925 bis 1933 sind nur mehr oder minder begründete Vermutungen möglich. Stern-Rubarth machte rückblickend geltend, daß ihre vergleichsweise pragmatisch angelegten Ideen zur wirtschaftlichen Vereinigung der europäischen Staaten sowohl durch die Expertise der UDE-Vertreter auf den internationalen Konferenzen des Völkerbundes als auch durch seine direkten Ratschläge an Stresemann und Briand den politischen Entscheidungsprozeß unmittelbar beeinflußt hätten. 103 Es ist sogar die These formuliert worden, daß ab 1927 die EZV/ UDF-Bewegung die wirkungsvollste und einflußreichste der proeuropäischen Organisationen gewesen sei trotz ihrer numerischen Schwäche im Vergleich z. Bsp. mit der Paneuropa-Union. 104 Für diese Behauptung spricht, daß die generellen Ziele, aber auch die zollpolitischen technischen Einzelheiten sich in Deutschland besonders in der späten Stresemann-Ära bruchlos einfügten in die außenpolitische Konzeption, die auf einen „Prozeß nüchterner Interessenangleichung, gemeinsamer Regelung und Schaffung eines einheitlichen 101 Cf. dazu Ina Belitz, op. cit., p. 452sq. 102 Sie kannten sich seit den Kriegsjahren, bevor Heilner seine Karriere als Magnat der Linoleum-Industrie begann; cf. Edgar Stern-Rubarth: Aus zuverlässiger Quelle verlautet, op. cit., p. 143. 103 Edgar Stern-Rubarth: Europa, op. cit., p. 15sq. 104 Carl H.Pegg, op. cit., p. 7. <?page no="201"?> 201 Wirtschaftsraumes“ in Europa hinauslief. 105 Stern-Rubarth flocht in seine Darstellung immer wieder ein, daß Stresemann für seine Ideen „von vornherein gewonnen“ 106 gewesen sei; er geht allerdings nicht ein auf die wirtschaftspolitisch mächtigen Ministerialbeamten und deren Einstellung zu seinen Plänen. Deren unmittelbare Einwirkung fand er wieder u.a. in Stresemanns letzter Rede vor dem Völkerbund und in der letzten Ansprache an die Auslandspresse vor seinem Tode im Oktober 1929. 107 Für die nicht unbedeutende Einwirkung der EZV/ UDE-Bewegung auf die europapolitische Entscheidungsfindung der Außenministerien spricht auch die Tatsache, daß im Quai d’Orsay die Spitzenbeamten in fortgesetztem engen Kontakt mit den Protagonisten der UDE standen. 108 Namentlich Jacques Seydoux (Direction des affaires politiques et sociales) spielte dort die wichtigste Rolle in der Kommunikation mit der 1927 gegründeten französischen Sektion der UDE, 109 nicht aber Louis Loucheur, der Stern-Rubarths bevorzugter Ansprechpartner war. Die ungleich stärkere Einbeziehung der UDE in die französische Außenpolitik (die dort nur eine von vielen privaten Organisationen mit europäischer Zielsetzung war), wird deutlich in der Tatsache, daß auch Edouard Herriot in der Nachfolge Briands die Ehrenpräsidentschaft in der UDE übernahm und daß diese Organisation ab 1927 den Status einer gemeinnützigen Vereinigung erhielt. Für die Frage der Politikrelevanz der EZV/ UDE ist auch der nachweisbare Sachverhalt von Interesse, daß die Dachorganisation der insgesamt 19 nationalen Sektionen der EZV/ UDE 110 bei allen großen außenwirtschaftlichen Konferenzen von der Weltwirtschaftskonferenz von 1927 bis zur Londoner Konferenz von 1933 beteiligt war. Die Statuten des Internationalen Komitees der UDE sahen vor, daß die Dachorganisation bei den einschlägigen internationalen Konferenzen des Völkerbundes, des Internationalen Arbeitsamtes, des Internationalen Instituts für Landwirtschaft und der Internationalen Handelskammer durch Delegierte oder durch Memoranden vertreten sein sollte. Nach Stern-Rubarth war der Appell Briands vom 17. Mai 1930 zur Konstituierung der „Wirtschaftlichen Vereinigten Staaten von Europa“ geprägt vom Erbe Stresemanns, in das die Anregungen der EZV / UDE-Bewegung eingeschrieben waren. Er urteilte 1951: „Das Werk selbst, in die Hände eines Genfer Europa-Ausschusses gelegt, verfiel dem Schicksal aller Einigungs- und Friedensbemühungen, nachdem Briand 1932 gestorben, Natio- 105 Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, p. 490. 106 So z. Bsp. Edgar Stern-Rubarth: Europa, op. cit., p. 15. 107 Ibid., p. 16. Stresemann bediente sich dort teilweise der von ihm vertretenen Argumente bzw. der von ihm gebrauchten Metaphern. S. dazu auch Peter Krüger, op. cit., p. 491sq. 108 Cf. dazu auch die Arbeiten von Laurence Badel, die in Anm. 21 genannt werden. 109 Laurence Badel: „Le Quai d’Orsay, les associations privees“, op. cit., p. 113sq. 110 Diese von Stern-Rubarth wiederholt angeführte Zahl ist zweifellos zu hoch gegriffen, da sie alle - auch individuellen - Kontakte umfaßt. 1932 waren 17 Nationen im Comité International der UDE vertreten. Cf. Simone Wiegand, op. cit., p. 156. <?page no="202"?> 202 nalismus und Diktaturen ihren Schatten auf die Landkarte unseres Erdteils geworfen hatte. Aber er hat das Verdienst, zum ersten Male nicht als ,Stimme in der Wüste’, als Utopie eines Einzelnen, sondern auf der Plattform der Welt und mit dem Instrumentarium der herkömmlichen Diplomatie die Vereinigten Staaten Europas proklamiert zu haben. Daß es ,nur’ die Wirtschaftlichen Vereinigten Staaten Europas waren - zunächst und vielleicht für eine geraume Spanne Zeit - rechtfertigte die Auffassung der Männer, die in der EZV-Bewegung den gangbaren und raschesten Weg zum Ziel gesehen hatten.“ 111 111 Edgar Stern-Rubarth: Europa, op. cit., p. 17. <?page no="203"?> 203 VII. Deutsch-Französische Gesellschaft der Nationalsozialisten und Comité France-Allemagne von 1935 bis 1939 Die Deutsch-Französische Gesellschaft, die am 25.10.1935 im Schloß Monbijou in Berlin in repräsentativem Rahmen gegründet wurde, war das Werk der nationalsozialistischen Dienststelle Ribbentrop. 1 Anders als das Goebbelsche Propagandaministerium, das versucht hatte, die direkte Erbschaft der DFG anzutreten und nach deren Muster Interessierte in den Führungskreisen von Wirtschaft und Politik zu gewinnen, setzte die Dienststelle Ribbentrop bei zwei deutsch-französischen Verständigungsbewegungen an, deren Anfänge ebenfalls in der Locarno-Ära lagen. Diese waren vor 1933 vielfältig verbunden mit der DFG und sie reichten zumindest potentiell in viel breitere Kreise der Bevölkerung als die Honoratioren- Vereinigung der bürgerlichen Frankophilen. War die DFG (wie auch das „Mayrisch-Komitee“) unter dem Aspekt ihrer Gründungsweise und ihrer soziologischen Zusammensetzung eine deutsch-französische Verständigungsorganisation „von oben“, so waren die Verständigungs-Bestrebungen zwischen deutschen und französischen Kriegsopfer-Verbänden und Jugendgruppen typischerweise Bewegungen „von unten“. Beide gruppenspezifische Bewegungen, die den Kontakt und den Dialog in beiden Richtungen über den Rhein hinweg suchten, fanden seit Beginn der dreißiger Jahre in der DFR eine Plattform ihrer Selbstdarstellung und aufmerksame Beobachtung ihrer Aktivitäten, ohne daß sie Bestandteil der Organisationsstrukturen der DFG geworden wären. Die engste Beziehung zu den Austauschbemühungen zwischen deutschen und französischen Kriegsveteranen wurde in der DFG hergestellt durch die Persönlichkeit ihres Mitglieds Paul Distelbarth (1879-1963). 2 Distelbarth, als Offizier im Ersten Weltkrieg zum Kriegsgegner geworden und seit den späten zwanziger Jahren als Vertreter des (der SPD nahestehenden) „Reichsbundes der Kriegsbeschädigten“ in Verbindung mit den entsprechenden Verbänden in Frankreich, hatte 1931 den Stuttgarter Großindustriellen Robert 1 Wolfgang Michalka: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik. Außenpolitische Konzeptionen und Entscheidungsprozesse im Dritten Reich, München 1980, p. 69 sq. „Zwischen traditioneller Revisionspolitik und nationalsozialistischer Außenpolitik. Ribbentrop und England“. Alfred Kupferman: „Le bureau Ribbentrop et les campagnes pour le rapprochement franco-allemand 1934 - 1937“, in: Les relations franco-allemandes 1933 - 1939, Paris 1980, p. 87 sq. 2 Hans Manfred Bock: „Paul H. Distelbarth. Ein Anwalt alternativer Frankreich-Sicht und Frankreich-Politik in Deutschland”, in: ID. (ed.): Paul H. Distelbarth. Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutschfranzösischen Beziehungen 1932 - 1953, Bern, Berlin 1997, p. 4 - 97. <?page no="204"?> 204 Bosch für den Plan der Intensivierung dieser Beziehungen gewinnen können. Aus dieser Interessenverbindung entstand ein Anstellungsverhältnis und Distelbarth wurde in der kurzen Zeit bis 1933 eine der bekanntesten Mittlergestalten in den Gesellschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und ständiger Mitarbeiter der DFR. 3 Der DFG-Vorsitzende schrieb Ende Oktober 1932 an das Außenministerium: „Unser Mitarbeiter Paul Distelbarth [...] hat sich in wenigen Monaten in allen französischen Kreisen glänzende Beziehungen verschafft unter Bauern, Arbeitern, Journalisten, Politikern und aktiven Ministern“. 4 Als Robert Bosch wegen der Übernahme des Vorsitzes der DFG angefragt wurde, war er gerade Anfang Dezember 1932 auf dem Wege nach Paris, um dort mit Verbands- Vertretern der „Anciens Combattants“ Gespräche zu führen über den Ausbau der Beziehungen zwischen ihnen und den deutschen Kriegsopfervereinigungen. 5 Er lehnte dann die Übernahme der DFG-Präsidentschaft ab, ließ aber erkennen, daß er die angebahnten Kontakte zu den Anciens Combattants in jedem Fall vertiefen wollte. Diese Initiative wurde unterbrochen, da Boschs wichtigster Mitarbeiter an diesem Projekt Paul Distelbarth nach der Machtergreifung der National-sozialisten sich bedroht und zur Emigration genötigt sah. Anfang März 1933 bereits hatte Ribbentrop Distelbarth zu einem längeren Gespräch geladen, in dem die Beziehungen zwischen den deutschen und den französischen Kriegsopferverbänden Gegenstand waren, in dem aber die Vorstellungen über deren Weiterentwicklung sich als unvereinbar erwiesen. 6 Gleichzeitig — und vom Ausgang dieses Gesprächs unabhängig — hatte im März die Württembergische Politische Polizei gegen Distelbarth aufgrund seiner intensiven Frankreich- Kontakte einen Haftbefehl erwirkt wegen des Verdachts auf Landesverrat. Ihm entzog sich Boschs Mitarbeiter durch die Ausreise nach Paris Anfang April 1933. Die Idee, die Versöhnung zwischen den Kriegsopferverbänden beider Länder zur Grundlage massenwirksamer Gesellschaftsbeziehungen zu machen, blieb auf beiden Seiten lebendig. Robert Bosch z. B. setzte sie noch 1934 ansatzweise in die Tat um, indem eine Gruppe von Kindern kriegsverletzter Arbeiter des Unternehmens zum Erholungsaufenthalt nach Frankreich geschickt wurde. 7 Im Juni 1935 wurde dann eine Gruppe von 45 Kriegsverletzten aus Frankreich nach Stuttgart eingeladen und anschlie- 3 Cf. dazu die sechs Beiträge Distelbarths in der DFR, nachgewiesen ibid., p. 508 sq. 4 Brief Grautoffs an das AA vom 25.10.1932, in „Deutsch-Französische Gesellschaft“ in PA/ AA, BD VI, H. 024110. 5 Ibid., H. 024153. 6 Paul Distelbarth: „Wiedersehen mit Joachim von Ribbentrop. Ein Bericht von den Nürnberger Prozessen“, in: Heilbronner Stimme vom 13.6.1946. 7 „Der Weg zum Frieden. Französische Frontkämpfer als Gäste von Herrn Robert Bosch in Stuttgart“, in: Der Bosch-Zünder. Zeitschrift für alle Angehörigen der Robert Bosch A.G., 1935, p. 135 sq. Cf. Joachim Scholtyseck: „Robert Bosch, die deutschfranzösische Verständigung und das Ende der Weimarer Republik“, in: Robert Bosch und die deutsch-französische Verständigung, Stuttgart o.J. (1996), p. 44-116. <?page no="205"?> 205 ßend von Kriegsveteranen des Bosch-Unternehmens zu einem zehntägigen Gegenbesuch zurückgeleitet. Zu dieser Zeit hatte allerdings schon eine denaturierende Umgestaltung der Selbsthilfeorganisationen der Kriegsopfer und Frontkämpfer in Deutschland stattgefunden durch ihre 1933 vollzogene Zwangsvereinigung in der „Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung“ (NSKOV). In dieser gleichgeschalteten und von den Nationalsozialisten eng kontrollierten Organisation wurden die deutsch-französischen Beziehungen der Kriegsveteranen dann fortgesetzt und zu einer der beiden soziologischen Kom-ponenten der Gesellschaftsbeziehungen im Rahmen der nationalsozialistischen Deutsch-Französischen Gesellschaft, die im Oktober 1935 lanciert wurde. Der Dienststelle Ribbentrop war es schließlich trotz der Verweigerung des aktivsten Initiators der Kriegsopferkontakte zwischen beiden Ländern gelungen, diese gruppenspezifische Verständigungsbewegung „von unten“ zu einer zentralistisch dirigierten Propagandaorganisation des NS-Staates umzufunktionieren und damit zu pervertieren. 8 Mehr Entgegenkommen als im Falle der Symbolgestalt der deutschfranzösischen Kriegsopfer-Kontakte, Distelbarth, fand Ribbentrop beim bekanntesten Repräsentanten der anderen gruppenspezifischen Verständigungsbewegung, die in lockerer Verbindung mit der DFG seit Beginn der dreißiger Jahre in Erscheinung getreten war. Seit dem spektakulären Treffen deutscher und französischer Jugendlicher vom 28.7.-3.8.1930 auf dem Sohlberg im Schwarzwald stand Otto Abetz (1903-1958) 9 im Mittelpunkt der jugendbewegten Gruppierung, die sich als „Sohlberg-Kreis“ konstituierte und in ein dauerhaftes Austauschverhältnis mit der entsprechenden Altersgruppe u.a. um die Zeitschrift „Notre Temps“ 10 in Paris trat. Diese Art der Jugendkontakte hatte zwar wenig gemeinsam mit der Studenten- 8 In den Darstellungen von Fred Kupferman und Antoine Prost („Les Anciens Combattants français et l’Allemagne (1933 - 1938)“,in: La France et l’Allemagne 1932 - 1936, Paris 1980, p. 131 sq.) bleibt die republikanische Vorgeschichte der Beziehungen der deutschen und französischen Kriegsopferverbände unausgeleuchtet. Cf. dazu neuerdings Christian Weiß: „,Soldaten des Friedens‘. Die pazifistischen Veteranen und Kriegsopfer des Reichsbundes und ihre Kontakte zu den französischen anciens combattants 1919 - 1933“, in: Wolfgang Hardtwig (ed.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 - 1939, Göttingen 2005, p. 183 - 204, und Hans Manfred Bock: „Konservativer Einzelgänger und pazifistischer Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich. Der Frankreich-Publizist Paul Distelbarth im Dritten Reich“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 1994/ 3, p. 99 - 133. 9 Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, p. 112 sq. Cf. auch Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen 1933 - 1944, Münster 1990, p. 41 - 78. 10 Claude Lévy: „Autour de Jean Luchaire. Le cercle éclaté de Notre Temps”, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 121 - 130. Zur Biographie cf. ID.: Les Nouveaux Temps et l’idéologie de la collaboration, Paris 1974, p. 11 - 28. <?page no="206"?> 206 organisation der DFG, weckte jedoch deren Interesse an der offenbar erheblich vitaleren Begegnungsaktivität des Sohlberg-Kreises und seiner französischen Partner, die sich bis April 1933 noch drei weitere Male trafen. Die Verbindung der DFG mit dem Sohlberg-Kreis war eindeutig weniger eng als die Zusammenarbeit mit dem von Distelbarth vertretenen Teil der Kriegsopfer-Verbände. Aber seine Treffen wurden in der DFR angekündigt und kommentiert. 11 Abetz und sein Pendant auf der französischen Seite, Jean Luchaire, die Integrationsgestalt der Notre-Temps-Gruppe, konnten in der DFR schreiben, 12 wie auch der Sprecher der DFG-Studentenorganisation in „Notre Temps“ zu Worte kam. 13 Die Bemühungen des Sohlberg-Kreises um die deutsch-französische Kontaktpflege wurden mit den Zielen der DFG für vereinbar angesehen. Abetz schrieb im Februar 1933 in der DFR - mit einer deutlichen Spitze gegen die dort vorherrschenden Frankreich-Deutungen und Verständigungs-Konzeptionen -, die Zukunft der deutsch-französischen Jugendbeziehungen werde „nicht der Diskussion über die verschiedene Wesensart und Vergangenheit“ gelten, „sondern dem gemeinsamen Erarbeiten neuer Lebensinhalte und neuer Lebensformen“. 14 Der Repräsentant des Sohlberg-Kreises widerstand den Offerten der Nationalsozialisten nach einigem Zögern nicht und übernahm im Juli 1934 das Frankreich-Referat der Hitlerjugend und kurz darauf die Funktion des Frankreich-Referenten in der Dienststelle Ribbentrop. Der unmittelbare Anlaß für Abetz’ Indienstnahme durch Ribbentrop waren seine auf eigene Initiative geknüpften Verbindungen zu den französischen Kriegsopfer-Verbänden, 15 zu denen der nationalsozialistischen Paralleldiplomatie offenbar seit Distelbarths Weigerung die geeigneten Kontaktleute fehlten. 16 Die gleichgeschalteten Kriegsveteranen-Verbände und Jugendverbände der Nationalsozialisten blieben die Basis für Abetz’ weitere Vorbereitungsarbeit im Solde Ribbentrops mit dem Ziel des Aufbaus von Organisationsstrukturen für eine Art von parteilich und staatlich dirigierten deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen, die mit der DFG der Locarno-Ära personell, strukturell und funktional kaum mehr etwas ge- 11 Cf. z. Bsp. Hans Steintal: „Deutsch-französisches Jugendtreffen auf dem Sohlberg“, in: DFR, 1930, p. 760 sq. 12 Jean Luchaire: „Les ,jeunes équipes‘ et les élections”, in: DFR, 1932, p. 405 sq. ID.: „Ein Bündnis Frankreich - Italien oder Frankreich - Deutschland? ”, in: DFR, 1932, p. 689 sq. 13 Rudolf Junges: „Impressions allemandes du congrès de Marseille“, in: Notre Temps, 1931, p. 164 sq. 14 Otto Abetz: „Deutsche Jugend zwischen West und Ost“, in: DFR, 1933, p. 132. 15 Otto Abetz: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik, Köln 1951, p. 41 sq. 16 Dafür spricht die spontane Rekrutierung von Abetz durch Ribbentrop, von der der künftige Frankreichreferent und spätere „Botschafter“ Hitlers im besetzten Frankreich (ibid.) berichtet. Distelbarth fand im Rückblick die stärksten Ausdrücke der Verachtung für den „Renegaten der Jugendbewegung“ Abetz. Cf. Paul Distelbarth: „Deutsch-französische Verständigung“, in: Heilbronner Stimme vom 2.11.1946. <?page no="207"?> 207 meinsam hatten 17 und die mit der Gründung der nationalsozialistischen DFG im Oktober 1935 ihre neue Gestalt unter dem Deckmantel des usurpierten alten Namens annahmen. 1. Jugend- und Kriegsveteranen-Verbände als neue Trägergruppen deutsch-französischer Gesellschaftsbeziehungen Die Substituierung der in der Weimarer Republik maßgeblichen bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Verständigungs-Initiativen durch andere gesellschaftliche Trägergruppen lag in den ersten Jahren nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in mehrfacher Hinsicht nahe. In der Sicht der Nationalsozialisten waren die zwischenstaatlichen Organisationen der Weimarer Republik Ergebnisse der verhaßten „System“-Periode und namentlich die DFG der Locarno-Jahre wurde von ihnen als „jüdisch und freimaurerisch“ denunziert. 18 Sie waren also auf der Suche nach einem neuen soziologischen Fundament für die gesellschaftliche und kulturelle Kontaktnahme nach Frankreich. Aber auch aus den einschlägig interessierten Teilen der deutschen Gesellschaft kamen spontane Vorschläge, die auf die Frontkämpfer- und Jugendorganisationen als günstige Milieus für den Neuaufbau des Gesprächs mit Frankreich verwiesen. Dies zeigt der Versuch eines deutschen Berufsoffiziers im Jahre 1934, beim Auswärtigen Amt beide Gesellschaftsgruppen als neue Kontaktbasis für die Verbreiterung der Kommunikation mit Frankreich ins Spiel zu bringen. Mit einer detaillierten Ausarbeitung vom 1. Juni 1934 wendete er sich an den nunmehrigen Abgeordneten Pierre Viénot 19 sowie an Repräsentanten mehrerer Organisationen der Anciens Combattants und setzte das Auswärtige Amt davon in Kenntnis. Sein Plan sah die Gründung einer „Association franco-allemande de réconciliation“ vor, die von den Frontkämpfern und der Jugend auf beiden Seiten des Rheins getragen werden, durch Öffentlichkeitsarbeit Versöhnung stiften und den Frieden sichern sollte. 20 Das Auswärtige Amt 17 Wilhelm von Schramm: „Sprich vom Frieden, wenn du den Krieg willst“. Die psychologischen Offensiven Hitlers gegen die Franzosen 1933 bis 1939. Ein Bericht, Mainz 1973, p. 71 weist zutreffend darauf hin, daß eine personelle Kontinuität der nationalsozialistischen DFG zur DFG der zwanziger Jahre so gut wie nicht bestand. Abetz widmete der DFG und der LEG ebenso wie dem Mayrisch-Komitee der Locarno-Jahre in seinen Memoiren einige eher urteilsneutrale und ungenaue Zeilen. Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 60 sq. 18 So der nationalsozialistische Spitzelbericht: „Die Tätigkeit der Deutsch-Französischen Gesellschaft an Hand von Zitaten aus der Deutsch-Französischen Rundschau“, in: PA/ AA, DFG, Bd. VI, H 024225 sq. 19 PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 22, H 022040 sq. 20 Projektskizze G. Bothe: „Esquisse de ce que je veux“, in: Ibid., H 022044 sq. <?page no="208"?> 208 merkte dazu Ende 1934 im interministeriellen Schriftverkehr an, daß „die von ihm in Vorschlag gebrachte Fühlungnahme deutscher und französischer Frontkämpfer- und Jugendorganisationen längst im Gange ist und eine von ihm eingeleitete Sonderaktion“ deshalb nur Verwirrung stiften könne. 21 Mit den im Gange befindlichen „Fühlungnahmen deutscher und französischer Frontkämpfer- und Jugendorganisationen“ waren die 1934 vor allem von Otto Abetz in Verbindung mit der Reichsleitung der Hitler- Jugend angebahnten Beziehungen gemeint. Während im Sohlberg-Kreis auf der Seite der französischen Mitglieder ein erheblicher Erosionsprozeß eingesetzt hatte in Reaktion auf die Politik der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland, 22 traten seit der Königsberger Rede des Hitler- Stellvertreters Rudolf Hess vom Juli 1934 an die Adresse der deutschen und französischen Frontkämpfer die Anciens Combattants immer stärker in den Mittelpunkt der Kontaktversuche des Frankreichreferenten Abetz. Das nach dem deutsch-französischen Jugendtreffen auf dem Sohlberg 1931 in Frankreich gegründete „Comité d’entente de la Jeunesse Française pour le rapprochement franco-allemand“ 23 war auf der vierten Tagung der Verständigungsbewegung im April 1933 in Paris bereits in der Auflösung begriffen. Das Treffen hatte überhaupt nur unter heftigen Protesten gegen die antisemitischen und antidemokratischen Maßnahmen und Manifestationen der Hitler-Regierung stattfinden können. 24 In dem Maße, wie das französische Kartell der Jugendorganisationen auseinanderfiel, wurden die organisatorisch stabileren und politisch gewichtigeren Massenorganisationen der Frontkämpfer und Kriegsopfer die bevorzugten Ansprechpartner nationalsozialistischer Politik in der französischen Gesellschaft. Die verbleibenden Befürworter eines Dialogs mit dem nationalsozialistischen Deutschland aus dem Kreis der französischen Jugendorganisationen spielten ab 1934 überwiegend die Rolle von ideologischen Impulsgebern. Die Anciens Combattants hingegen stellten den überwiegenden Teil der organisatorischen Infrastruktur für die französisch-deutschen Gespräche und Begegnungen. Ab Herbst 1934 öffnete der Sohlberg-Kreis seine Zeitschrift für die Appelle der Repräsentanten französischer und deutscher Frontkämpferbzw. Kriegsopferverbände zugunsten des direkten Gesprächs miteinander. 25 Jean 21 Nachricht an Reichsinformationsministerium vom 6.12.1934, in: ID.: H 022048. 22 Dieter Tiemann, op. cit., p. 125 sq. 23 Cf. Ibidem, p. 120 sq. Cf. dazu auch Olivier Dard: Bertrand de Jouvenel, Paris 2008, p. 74 sq. 24 Ibidem, p. 134 sq. Cf. dazu auch Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration. op. cit., p. 91 sq. 25 Barbara Unteutsch: op. cit., p. 111 sq. Barbara Lambauer: Otto Abetz et les Français ou l’envers de la Collaboration, Paris 2001, p. 74 sq. Gleichzeitig wurden im 2. Jg. des Sohlbergkreis. Deutsch-französische Monatshefte. Cahiers franco-allemands, Heft 1-2, Okt. - Nov. 1934 die werbenden Stellungnahmen der Veteranenverbands-Wortführer veröffentlicht unter dem Titel „Die Stimmen der Frontgeneration. La voix de la génération <?page no="209"?> 209 Luchaire gab in seiner Zeitschrift „Notre Temps“ gleichzeitig diesem Thema breiten Raum und enthüllte u. a., daß seit August 1934 bereits die ersten Treffen zwischen führenden Sprechern der Anciens Combattants und der NSKOV stattgefunden hatten. 26 Die Motive für die im Sommer 1934 beginnenden Verständigungs- Versuche zwischen französischen und deutschen Kriegsopferverbänden waren vielfältig und widersprüchlich. Diese öffentlichkeitswirksamen Bestrebungen fügten sich zweifellos ein in Hitlers Frankreichpolitik, die prinzipiell negativ war, aber in den Jahren 1933 bis 1936 vordergründig konsensorientiert auftrat und sich der Friedens- und Verständigungs- Rhetorik bediente. 27 Die Königsberger Rede von Hess an die Kriegsveteranen in beiden Ländern vom Juli 1934 diente dieser scheinbaren nationalsozialistischen Doppelstrategie gegenüber Frankreich. Die gesellschaftliche Dynamik, die mit dieser Geste vom Juli 1934 ausgelöst wurde, war in der Sicht der deutschen Diplomatie keineswegs unproblematisch. Insbesondere die deutsche Botschaft in Paris, die in größeren Materialsammlungen das Auswärtige Amt über die französischen Kriegsveteranen- und Jugendverbände als neue Akteure in der Außenpolitik zu unterrichten hatte, hielt prinzipiell die im letzten Drittel des Jahres 1934 sich beschleunigenden Aktivitäten in diesen Milieus für Störfaktoren im diplomatischen Verkehr mit Frankreich. Mitte November 1934 nahm z. B. der Botschafter in Paris dazu in folgender Weise Stellung: „Die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen den maßgebenden deutschen und französischen Frontkämpfer-Organisationen halte auch ich für ein äußerst wertvolles Moment, das bestimmt ist, in der Zukunft eine wichtige Rolle bei der Besserung der deutsch-französischen Beziehungen überhaupt zu spielen. Die Auswirkung eines solchen Vertrauensverhältnisses kann aber nur dann Frucht bringen, wenn diese Aktion unsererseits einheitlich behandelt und dem jeweiligen dauernd wechselnden Stande der außenpolitischen und auch der französischen innenpolitischen Lage vorsichtig angepaßt wird. Vorzeitige Schritte schaden meines Erachtens ebenso wie parallele Initiativen seitens verschiedener deutscher Stellen, da sie nur Unruhe in die Entwicklung bringen, maßgebende Persönlichkeiten bei den französischen Frontkämpfer-Organisationen stutzig machen und die Gefahr hervorrufen, daß die deutsche Aktion in innerfranzösische Gegensätze hineingezogen wird und du feu“; dort Texte von Georges Scapini, Rudolf Hess, Hanns Oberlindober und Henri Pichot. 26 Cf. Jean Luchaire: „Les anciens combattants face aux problèmes de la paix”, in: Notre Temps, Nr. 187, 19. Sept. 1934. Cf. auch Claude Lévy: „Autour de Jean Luchaire”, op. cit., p. 121 - 130. 27 So am frühesten Wilhelm von Schramm: „...sprich vom Frieden, wenn du den Krieg willst“, op. cit. Cf. dazu jetzt Robert W. Mühle: Frankreich und Hitler 1933 - 1935, Paderborn 1995, p. 328 sq. <?page no="210"?> 210 versandet.“ 28 Die Rolle der deutschen Diplomatie blieb auch in den folgenden Jahren darauf festgelegt, die Kalkulierbarkeit des institutionell-außenpolitischen Handelns gegenüber den neuen gesellschaftlichen Akteuren in den deutsch-französischen Beziehungen zu wahren und diesen einen klar umrissenen vorpolitischen Handlungsraum zuzuweisen. Die verständigungspolitischen Motive dieser 1934 sich profilierenden neuen Protagonisten der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen waren keineswegs miteinander vereinbar, und zwar gleich im doppelten Sinne. Zum einen definierten sich die deutschen wie die französischen Jugendorganisationen in den frühen dreißiger Jahren ganz wesentlich über ihr Generationsbewußtsein, d. h. in Abgrenzung zu der Generation ihrer Väter, die für den Krieg verantwortlich gemacht wurde. 29 Es waren jedoch gerade diese Angehörigen der Kriegsgeneration, die sich in den nach Hunderttausenden von Mitgliedern zählenden Frontkämpfer-Organisationen zusammengeschlossen hatten. Da in deren Programmen das Thema der Notwendigkeit der Friedenssicherung aufgrund eigener leidvoller Erfahrung zentral war, ergab sich zwar ein Gleichklang in der Forderung nach Aufbietung aller Kräfte für die Verhinderung eines neuen Krieges, aber der latente Generationenkonflikt wurde zwischen beiden Gesellschaftsgruppen weder in Deutschland noch in Frankreich ausgetragen, sondern eher zwangsweise harmonisiert. Zum anderen waren die Vertreter der beiden Großgruppen der Jugendlichen und der Kriegsveteranen geprägt von ihrer jeweiligen nationalen Geschichte und politischen Kultur. Die daraus sich ergebenden Unterschiede der politischen und gesellschaftlichen Wertorientierungen waren in diesen Milieus noch größer als im Falle der bildungsbürgerlichen Verständigungsorganisationen in der Weimarer Republik (DFG bzw. L.E.G. 30 ). Während man deutscherseits damals Frank-reich als Gegenpol für die nationale Selbstfindung ansah, waren die Wortführer der nationalsozialistischen Verständigungsbewegung nunmehr der Auffassung, daß ihr Land seine nationale Selbstverwirklichung vollzogen habe. Im Hochgefühl dieses neuen ideologischen Selbstbewußtseins änderte sich in der Geschichte der NS-DFG dann nicht allein der Ton des Umgangs (der fortschreitend gebieterisch wurde), sondern auch die Praxis der Begegnung mit den französischen Partnern (die mehr und mehr zur einseitigen Selbstdarstellung verkam). Die nationalsozialistischen Schrittmacher der neuen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen mit Frankreich ab 1934 trafen dort in den Jugend- und Kriegsveteranen-Verbänden auf Wertorientierungen, die im klaren Gegen- 28 Zitat des Botschafterberichts in einem Rundschreiben des Auswärtigen Amtes an 6 Reichsministerien, PA/ AA, Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte, Bd. 5, vom 19.11.1934. 29 Für die Konfliktlinie zwischen der „génération du feu“ und der „génération de la crise“ in Frankreich cf. Michel Winock: „Les générations intellectuelles“, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire, 1989, p. 17 - 38. 30 Cf. dazu Kap. IV und V dieses Buches. <?page no="211"?> 211 satz standen zu ihren völkisch-nationalen Überzeugungen. In der Geschichte des Sohlberg-Kreises hatten diese Gegensätze schon seit dem Treffen in Rethel (1931) sich desintegrierend ausgewirkt. 31 Die Übereinstimmungen zwischen den dort aktiven Teilen der bündischen und völkischen Jugendverbände und der Gruppe um die Zeitschrift „Notre Temps“ bezogen sich im wesentlichen auf ein generationsspezifisches Missionsbewußtsein: die Krise der parlamentarischen Demokratie, die Infragestellung der politischen Rechts-Links-Polarität und die Forderung einer „geistigen Revolution“. 32 Die „nonkonformistische“ französische Jugendbewegung begann jedoch gerade nach den blutigen Demonstrationen in Paris vom 6. Februar 1934 tendenziell, ihre Suche nach einem „dritten Weg“ aufzugeben, und ihre Vertreter gingen in der Folgezeit weit nach rechts oder links. Sie hatten im Ensemble der französischen Jugendorganisationen ohnehin nur einen kleinen Teil ausgemacht. In einer Expertise, die von der deutschen Botschaft über dieselben in Auftrag gegeben worden war, hieß es im April 1935 z. B., „daß alle diejenigen [Gruppen], die durch ihre Mitgliederzahl und durch die hinter ihnen stehenden Kräfte eine gewisse Bedeutung haben, in der Frage der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich leider völlig negativ zu werten sind“. 33 Dazu zählte der Informant die „chauvinistischen“ Verbände („Jeunesses Patriotes“, die Jugendgruppen der „Action Française“, die „Solidarité Française“) ebenso wie die „Volontaires Nationaux“ des Colonel de la Rocque oder die Jugendorganisationen der Linksparteien. Eine gewisse Sonderstellung nehme in den Universitäten „Ordre Nouveau“ ein, deren intellektuelle Vertreter „für Pazifismus und Völkerverständigung, innerpolitisch aber durchaus für die verblaßten Ideale der Großen Revolution“ einträten. 34 Die unter der Leitung von Jean Luchaire und Bertrand de Jouvenel stehenden Gruppen träten ehrlich und mutig für die französisch-deutsche Annäherung ein, „obwohl sie keineswegs besonderes Verständnis für die Gedankenwelt des Neuen Deutschland“ hätten. 35 In den Resolutionen der „Etats généraux de la Jeunesse“, die Ende Juni 1934 in Paris abgehalten wurden und einen Minimalkonsens der 31 Dieter Tiemann, op. cit., p. 119 - 129. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 59 sq. 32 Cf. dazu den Versuch einer vergleichenden Gegenüberstellung der intellektuellen Generationen in beiden Ländern Hans-Wilhelm Eckert: Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, München 2000; cf. auch zur Vergleichsproblematik Hans Manfred Bock: „La crise des idéologies et l’idéologie de la crise. Les chassés-croisés idéologiques et la recherche de la ‘Troisième voie‘ en France et en Allemagne”, in: Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droite: les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Talence 1995, p. 299 - 311. 33 „Die französische Jugendbewegung und ihre Bedeutung für die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland“, Agentenbericht an das AA in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 22, H 022347 sq. 34 Ibid., H 22350. 35 Ibid. <?page no="212"?> 212 französischen Jugendverbände zu formulieren versuchten, wurde festgestellt: das Scheitern des Kapitalismus sowie die Notwendigkeit der Kriegsverhinderung, der innenpolitischen Erneuerung und schließlich der Kontaktaufnahme mit der Jugend anderer Nationen unabhängig von deren politischem Regime. 36 In den Überlegungen der ab 1933 noch gesprächsbereiten Jugendvertreter in Frankreich zeichneten sich mit Bezug auf Deutschland zwei allgemeine Motive ab, die noch viel deutlicher von den Anciens Combattants zum Ausdruck gebracht wurden: 1. Die Überzeugung, daß man auf gesellschaftlicher Ebene die Beziehungen zu Deutschland intensivieren könne, auch wenn man die Wertvorstellungen des NS- Regimes nicht teile; 2. die Überzeugung, daß man im soziokulturellen Zusammenhang die französisch-deutschen Kontakte sogar verdichten müsse in dem Maße, wie die Beziehungen zwischen den Regierungen beider Länder sich unsicher und friedensbedrohlich gestalteten. In diesen verständigungspolitischen Überzeugungen trafen sich auch die beiden größten Frontkämpfer-Organisationen, obwohl sie in allen organisatorischen Merkmalen im Widerspruch zueinander und in der Innenpolitik sogar in Konkurrenz miteinander standen. 37 Die „Union Fédérale des Anciens Combattants“ (UF), zu Beginn der dreißiger Jahre mit rund 936.000 Mitgliedern der größte dieser Verbände, vertrat vorwiegend bäuerliche und kleinbürgerliche Sozialschichten, war föderativ angelegt und tief im ländlichen Frankreich verwurzelt; sie war republikanisch und pazifistisch inspiriert und verstand sich in erster Linie als Vertreter der sozialpolitischen Belange der Kriegsteilnehmer. Die „Union Nationale des Combattants“ (UN), mit etwa 858.000 Mitgliedern die zweitgrößte Frontkämpfer- Organisation, rekrutierte neben bäuerlichen und kleinbürgerlichen Kräften auch die Kreise der selbständigen Mittelschichten. In Paris von Offizieren und Militärgeistlichen gegründet, wies sie stärker zentralistische Strukturen auf und eine größere Nähe zu den parlamentarischen Institutionen als die UF. Die UN zeigte in ihren Programmen eine nachdrücklich nationale und konservative Zielorientierung. Seit Juli 1934 begannen die Kontaktnahmen zwischen Otto Abetz, dem Repräsentanten des Sohlberg-Kreises, sowie Hanns Oberlindober, dem Leiter der gleichgeschalteten Kriegsveteranen-Verbände, der „Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung“ (NS KOV), auf der einen Seite und Präsidiumsmitgliedern der UF sowie der UN auf der anderen Seite. 38 Die mehrfachen Treffen machten in dem Augenblick Schlagzeilen in der Öffentlichkeit, als der Abgeordnete und UN- 36 Ibid. 37 Cf. dazu die große Synthese von Antoine Prost: Les Anciens Combattants et la Société Française, Paris 1977, 3 Bde und ID.: „Les Anciens Combattants Français et l’Allemagne (1933 - 1938)“, in: La France et l’Allemagne (1932 - 1936), op. cit., p. 131 - 148. 38 Cf. neben den Darstellungen bei Unteutsch und Lambauer auch Roland Ray: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930 - 1942, München 2000, p. 127 - 138. <?page no="213"?> 213 Vorsitzende Jean Goy (1892-1944) mit zwei anderen UN-Vertretern am 2. November 1934 in Berlin von Hitler empfangen wurde und darüber berichtete. Henri Pichot (1895-1945) von der UF hatte schon vor ihm im Juli 1934 ein Treffen mit Abetz gehabt, fand sich jedoch erst dann zu einem Gespräch mit Hitler bereit, als Jean Goy mit seinem Berlin-Besuch öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte. Pichot suchte seinerseits nach Rücksprache mit Außenminister Pierre Laval den deutschen Reichskanzler am 20. Dezember 1934 auf, um die Glaubwürdigkeit seiner Beteuerungen der Friedfertigkeit im Verhältnis zu Frankreich beurteilen zu können. In den zahlreichen Presseartikeln über diese Hitler-Besuche der führenden Anciens Combattants-Vertreter im November-Dezember 1934 wurden die dominanten Motive in verschiedenen Varianten formuliert. Als Beispiel seien zwei Darlegungen der Gründe für das Gespräch mit den NS-Führern und den deutschen Frontkämpfern zitiert. Der UN-Sprecher Georges Scapini (1893-1976), der später mehrjähriger Vorsitzender des Comité France-Allemagne wurde, rechtfertigte die Kontakte mit dem nationalsozialistischen Deutschland am 1.12.1934 u. a. so: „En un mot, il faut d’abord définir le statut de nos rapports et pour cela il faut parler et non repousser à priori, avec horreur et effroi, toutes les tentatives (comme celle de Goy, notamment) qui visent à obtenir une détente et un éclaircissement dans nos relations. - Nous sommes d’une génération qui, au cours d’une existence encore brève, a vu couler trop de sang pour qu’elle ne tente pas l’impossible afin d’éviter le retour du carnage. - N’y aurait-il qu’une chance sur mille, il faudrait la tenter. La guerre des temps modernes n’épargnerait ni femmes, ni enfants...“ 39 In einem viel zitierten Artikel von Mitte Dezember 1934 schrieb der UF-Präsident Henri Pichot: „D’abord, à chacun son métier. Combattants nous sommes et non gouvernements, parlementaires ou diplomates. J’assure ces Messieurs de la Chambre que nous ne nous livrons à aucune tentative d’expropriation politique. Pas plus que nous ne l’avons fait hier, nous n’allons commettre l’erreur qui serait à notre détriment, de vouloir substituer notre responsabilité limitée de libre association à la responsabilité gouvernementale et parlementaire. Nous évaluions sur le terrain qui est le nôtre, sur le terrain ancien combattant; cela nous suffit car c’est un vaste terrain, propice dans l’ordre international à des très grandes manœuvres qui peuvent déborder son cadre.“ Den naheliegenden Einwand aufgreifend, daß er sich politisch mit einem völlig entgegengesetzten Wertsystem einlasse, wenn er das Gespräch in Deutschland suche, gab er zur Antwort: „L’Allemagne est-elle hitlérienne? Je le sais bien, je demanderais volontiers à nos contradicteurs d’aujourd’hui pourquoi ils étaient déjà nos contradicteurs d’hier quand l’Allemagne était en République! Et puis, […] la démocratie n’est pas un article d’exportation et nous n’inscrivons pas l’hitlérisme au nombre de nos articles d’impor- 39 Georges Scapini: „Adoptons enfin une politique“, in: Le National vom 1.12.34. <?page no="214"?> 214 tation.“ 40 Der doppelte Irrtum dieser Strategie bestand darin, daß Henri Pichot und seine Mitstreiter glaubten, man könne die Außenpolitik eines totalitären Staates unabhängig von dessen inneren Voraussetzungen sehen, und daß die Stärke der von ihm vertretenen Gesellschaftsgruppe ausreichend sei, um nachhaltig Einfluß zu nehmen auf die gouvernementalen Entscheidungen der dreißiger Jahre. 2. Gründung und Entwicklung der NS-DFG und des CFA Der Plan für die Wiedergründung einer Deutsch-Französischen Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinne erhielt also nach dem Scheitern der direkten Usurpierungsversuche und der Auflösung der DFG aus der Weimarer Republik im Juli 1934 41 einen neuen Auftrieb durch die Verständigungs-Initiativen der Jugend- und Frontkämpfer-Verbände beiderseits des Rheins, die am Ende des Jahres 1934 sich zu einer neuen gesellschaftlichen Basis für dergleichen Projekte verdichtet hatten. Diese gesellschaftliche und ideologische Neufundierung für eine deutsch-französische Verständigungs-Organisation war das Ergebnis eines Wechselspiels politischer Signale von beiden Seiten in der zweiten Hälfte des Jahres 1934. Das Auswärtige Amt, das diese gesellschaftlichen Initiativen eher kritisch sah, wurde von den Protagonisten der neuen Verständigungs- Bewegung über deren Fortgang auf dem Laufenden gehalten. Im Februar 1935 berichtete Otto Abetz in der Wilhelmstraße über die Begegnungsaktivitäten zwischen deutschen und französischen Jugendorganisationen, über die Gespräche zwischen den Kriegsveteranen-Verbänden und die Perspektive der Neugründung einer deutsch-französischen Organisation. 42 Die Liste der für 1935 vorgesehenen Aktivitäten zwischen der HJ-Führung und dem Sohlberg-Kreis auf der einen und nicht näher spezifizierten französischen Jugendvertretern auf der anderen Seite umfaßte gemeinsame Lagertreffen, Hauptstadtbesuche, Schriftenaustausch und Rundfunkveranstaltungen. Zu den Veteranen-Kontakten berichtete Abetz, daß von Ribbentrop die Gespräche mit Jean Goy (UN) einem pensionierten Rittmeister und die Kontakte mit Henri Pichot (UF) dem NSKOV-Leiter Oberlindober übertragen hatte. Zur Frage einer neuen bilateralen Organisationsgründung ließ der betriebsame Jugendverbands-Vertreter wissen, daß von Ribbentrop zunächst einmal habe klären lassen, ob „in Paris die Voraussetzungen einer Société franco-allemande gegeben“ seien. Beim gegenwärtigen Stand der 40 Henri Pichot: „Français, Allemands et les autres“, in: Cahiers de l’Union Fédérale, 15.12.1934. 41 Cf. dazu oben Kap. IV. 42 „Aufzeichnung“ vom 12.2.35 des Legationsrates von Rintelen, in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 23, H 022320 sq. <?page no="215"?> 215 Dinge sei eine Reihe von Persönlichkeiten in der französischen Hauptstadt durchaus bereit, in einer solchen bilateralen Gesellschaft mitzuwirken; neben den UN-Vertretern Georges Scapini und Jean Goy wurden namentlich ein radikalsozialistischer und ein neosozialistischer Abgeordneter genannt. Im August 1935 berichtete die Berliner Zentrale des Auswärtigen Amtes unter Berufung auf einen Bericht von Abetz der deutschen Botschaft in Paris, daß der „Stand der Bemühungen zur Schaffung einer deutsch-französischen Gesellschaft in Berlin unter gleichzeitiger Bildung einer entsprechenden französisch-deutschen Vereinigung in Paris“ gut vorangekommen sei. 43 Für die deutsche Vereinsgründung stand zu dieser Zeit Emil Georg von Stauss, Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank, als Vorsitzender bereits fest. Als Vorstandsmitglieder waren im Gespräch: die Professoren Achim von Arnim von der Technischen Hochschule Berlin, Ernst Robert Curtius von der Universität Bonn, Friedrich Grimm (Essen) und der Dirigent Wilhelm Furtwängler. Als Vertreter der Kriegsopferverbände waren der NSKOV-Präsident Hanns Oberlindober und als Sprecher des Sohlberg- Kreises der Weggefährte von Abetz Friedrich Bran vorgesehen. In Paris hatten gemäß diesem Bericht „lebhaftes Interesse“ bekundet u. a. die Anciens Combattants-Sprecher Georges Scapini, Jean Goy und Henri Pichot, die Schriftsteller Jules Romains und Drieu La Rochelle, die Publizisten Henry de Jouvenel und Fernand de Brinon, die Germanisten Henri Lichtenberger und Edmond Vermeil sowie Comte Régis de Vibraye und Ernest Mercier, die beide eine nicht unbedeutende Rolle im Deutsch-Französischen Studienkomitee spielten. 44 Die Hauptschwierigkeiten lagen offenbar bei der französischen Seite, wo mehrere Gruppen miteinander um ihren Einfluß in der geplanten Vereinigung rivalisierten. Die Fortsetzung dieser Gespräche, die sich insbesondere um die Besetzung der Positionen des Präsidenten und des Vizepräsidenten der französisch-deutschen Vereinigung drehten, war für den Herbst vorgesehen. Interessant ist die Bewertung dieser Vorgänge im Auswärtigen Amt. Es hieß dort: „Für das Auswärtige Amt liegt zu einem Eingreifen in dieser Sache kein Anlaß vor, da es einmal erwünscht erscheint, daß die Gründung möglichst außerhalb des Rahmens der amtlichen Politik zustande kommt, und andererseits diesmal offenbar nicht zu befürchten ist, daß sich wieder eine einseitige Gesellschaftsgründung in Deutschland vollzieht, ohne daß gleichzeitig in Paris eine entsprechende französisch-deutsche Gesellschaft geschaffen wird“. 45 Es war dies die herkömmliche Besorgnis der offiziellen Auswärtigen Kulturpolitik, der anderen Seite Möglichkeiten der Selbstdarstellung im eigenen Land einzuräumen, ohne im anderen Land dieselben Chancen 43 Schreiben vom 14.8.35, in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutschfranzösischen Verständigung, Bd. 24. 44 Comte Régis de Vibraye war zeitweilig der französische Stellvertreter des deutschen Büroleiters in Paris des Mayrisch-Komitees zu Beginn der 1930er Jahre. 45 Schreiben vom 15.8.35 , in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutschfranzösischen Verständigung, Bd. 24. <?page no="216"?> 216 der Darstellung seiner Sicht der Dinge zu erhalten. Es war die habituelle Subversionsfurcht, die in den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten die deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen dominierte. In der Sicht des Auswärtigen Amtes war also die L. E. G., die „Zielgemeinschaft“ der demokratischen DFG der Weimarer Zeit, niemals ein Äquivalent zu der deutschen Organisationsgründung gewesen, da sie seinem Einfluß verschlossen blieb. Das sollte offenbar im Falle der Neugründung einer Französisch-Deutschen Gesellschaft anders werden. Die Konstituierung des Comité France-Allemagne (CFA) wurde von breiteren Schichten der französischen Gesellschaft getragen, als dies bei jeder anderen Vereinsgründung mit Bezug auf Deutschland seit 1919 der Fall gewesen war. Die Organisation verstand sich zur Zeit ihrer Gründung im November 1935 keineswegs als Apologet des nationalsozialistischen Deutschland oder etwa gar als dessen Erfüllungsgehilfe, sondern als nationalbewußter gesellschaftlicher Schrittmacher einer Politik des französischdeutschen Ausgleichs und der Friedenssicherung. Wenn das CFA dennoch in den wenigen Jahren seiner Existenz von November 1935 bis Mai 1939 schrittweise zu einem Faktor der französischen Beschwichtigungspolitik und zu einem Fürsprecher fortgesetzter Konzessionen an die nationalsozialistische Außenpolitik der gewaltsam geschaffenen vollendeten Tatsachen wurde, so hat das außer der illusionären Strategie mehrere Gründe, die in der Organisationswirklichkeit dieser Doppelgründung wirksam waren. Zum einen wies das CFA im Verhältnis zur NS-DFG von Anfang an ein strukturelles Ungleichgewicht auf, das vor allem in der unterschiedlichen Ressourcen-Ausstattung angelegt war. Zum anderen war es in seiner Zusammensetzung heterogener und zerbrechlicher, so daß jede nationalsozialistische Provokation in der Außenpolitik — vom Einmarsch in die entmilitarisierte Rheinlandzone (März 1936) bis zum Einmarsch deutscher Truppen in Prag (März 1939) — das Wegbrechen von Teilen seiner Mitglieder zur Folge hatte und am Schluß nur noch ein harter Kern bedingungsloser Anhänger übrigblieb, der den Weg in die „Collaboration“ während der Kriegsjahre ging. 46 Es lag in der Logik der mehr als einjährigen Vorbereitungszeit der deutsch-französischen Doppelgründung DFG/ CFA, daß die Berliner Organisation als erste an die Öffentlichkeit trat und die Pariser Vereinigung diesen Schritt dann nachvollzog. Allein schon die zahlreiche Beteiligung offizieller Funktionsträger (darunter der „Sonderbotschafter“ Joachim von Ribbentrop und der französische Botschafter André François-Poncet) läßt auf eine längerfristige Planung des Festaktes im Berliner Rokoko-Schloß Monbijou am 25. Oktober 1935 schließen. Es scheint, daß Botschafter François-Poncet anläßlich einer privaten Reise nach Paris um den 12. No- 46 Cf. dazu das Beispiel des Schrittmachers der Kontakte zwischen den Kriegsveteranen-Verbänden, Henri Pichot, in: Claire Moreau Trichet: Henri Pichot et l’Allemagne de 1930 à 1945, Bern 2004. <?page no="217"?> 217 vember 1935 herum den Gründungsvorgang des dortigen Komitees zum Abschluß zu bringen versuchte. 47 An den abschließenden Gesprächen vor der Konstituierung des CFA am 27. November 1935 waren gemäß einem Bericht der deutschen Botschaft in Paris auf der französischen Seite beteiligt Henri Pichot, Jean Goy, Fernand de Brinon, Henri Lichtenberger, Edmond Vermeil, Paul Morand, Georges Suarez, Ernest Fourneau und Régis de Vibraye; deutscherseits waren in die Gespräche einbezogen Otto Abetz und ein „Vertreter der deutschen Kolonie in Paris“ (Westrick). 48 Während die Eröffnungsveranstaltung in Berlin, an der 200 bis 300 Gäste teilnahmen, in der Presse beider Länder kommentiert wurde, war die publizistische Resonanz auf das erste öffentliche Auftreten des Comité France- Allemagne am 29.11.1935 mit einem Empfang für 160 Personen im Prestige-Hotel „Georges V“ sehr zurückhaltend. Ein so unmittelbar interessierter Beobachter wie Paul Distelbarth hatte Schwierigkeiten, aus der Presse in Paris die genaue personelle Besetzung der französischen Organisation in Erfahrung zu bringen. 49 Die Auswahl der führenden Repräsentanten der beiden bilateralen Organisationen DFG/ CFA ist zweifellos noch aufschlußreicher über deren verständigungspolitisches Potential als ihre Entstehungsgeschichte. Die Ehrenpräsidentschaft der NS-DFG übernahm der seit längerem für die Funktion bereitstehende Industrievertreter und Bankier Emil Georg von Stauss (1877-1942). Von Stauss hatte seit der Vorkriegszeit als Privatsekretär des Bankengründers und Leiter des internationalen Petroliumgeschäfts der „Deutschen Bank“ eine steile Karriere als „politischer Bankier“ gemacht und hatte noch 1918 den persönlichen Adelstitel erhalten; er war in der Eisenbahn-, Luftfahrt- und Autoindustrie als führender Reorganisator tätig und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion des Mayrisch-Komitees. 1930 war er auf der Liste der NSDAP in den Reichstag gewählt worden und er stand namentlich Hermann Göring nahe. Die Nationalsozialisten hatten ihn 1934 aufgrund seiner aktiven Förderung ihrer Bewegung zum Preußischen Staatsrat und zum Vizepräsidenten des Deutschen Reichstages gemacht. 50 Neben dem Repräsentanten der Finanzaristokratie stand an der Spitze der NS-DFG ein Sproß der preußischen Aristokratie. Achim von Arnim (1881-1940), der seit der Vereinsgründung 47 Gemäß den deutschen Akten war insbesondere die Frage des Vorsitzes in der französischen Organisationsgründung lange Zeit kontrovers. Zur Schlußphase der Gründungsvorbereitungen cf. Rita Thalmann: „Du Cercle de Sohlberg au Comité France - Allemagne. Une évolution ambiguë de la coopération franco-allemande“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 81 sq. 48 Bericht der Pariser Botschaft vom 6.12.35, in PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 23, H 022320 sq. 49 Cf. Hans Manfred Bock: „Paul H. Distelbarth. Ein Anwalt alternativer Frankreich- Sicht und Frankreich-Politik“, op. cit., p. 44 sq. 50 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt/ Main 2011, p. 441. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 307. <?page no="218"?> 218 Vorsitzender der DFG war, vereinte eine ähnliche Vielzahl von Interessen und nationalistisch-konservativen Merkmalen in seinem Persönlichkeitsprofil wie von Stauss. Der Berufsoffizier ging aus dem Ersten Weltkrieg mit dem Orden „Pour le mérite“ hervor, studierte Staatswissenschaften (Dr. rer. pol. 1924) und versuchte sich als Komponist. 51 Über den nationalkonservativen Frontkämpferbund „Stahlhelm“ kam er 1932 zur SA und zur NSDAP, erhielt im Mai 1933 eine Professur an der TH Berlin-Charlottenburg für das Fach „Wehrwissenschaft“ und war seit 1935 u. a. Ratsmitglied von Berlin. Die aktive Loyalität und die funktionale Einbindung der beiden symbolischen Führungsgestalten der DFG im politischen System des NS-Staates war für jedermann offensichtlich. In der Person von Arnims zumal trat ein nationalsozialistischer Gefolgsmann an die Spitze der NS- DFG, der keinerlei besondere Beziehungen zu Frankreich aufzuweisen hatte, sondern im Sinne des NS-Regimes wohl als besonders markanter Deutscher mit klangvollem Namen auftreten sollte. Von Stauss empfahl sich den neuen Machtinhabern durch seine weitläufigen Erfahrungen und Kontakte im europäischen bzw. deutsch-französischen Banken- und Industriebereich; er war das einzige namhafte Gründungs-mitglied des Mayrisch- Komitees auf deutscher Seite, das sich in den Dienst der NS-DFG stellte. Die stellvertretenden Vorsitzenden der neuen DFG waren Exponenten der organisierten Kräfte, die in ihrer Vorbereitung eine Rolle gespielt hatten, und allesamt Nationalsozialisten: Hanns Oberlindober (1896-1949) leitete seit März 1933 die NSKOV, in die schrittweise dann alle anderen Kriegsteilnehmer-Verbände zwangsweise überführt wurden. 52 Friedrich Grimm (1888-1959) hatte sich seit dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht als Experte in deutsch-französischen Rechtsfragen, war seit 1927 Außerordentlicher Professor für Internationales Recht an der Universität Münster, militierte in der DNVP für ein aggressiv revisionistisches Programm der deutschen Außenpolitik, trat im Mai 1933 in die NSDAP ein und wurde u. a. Reichstagsabgeordneter. 53 Der dritte Stellvertreter von Arnims, Hermann von Raumer (1893-1977), kam wie Grimm aus der DNVP, wurde 1930 Mitglied der NSDAP und war seit Oktober 1935 Leiter des Ost- 51 Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, p. 16. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 307 sq. 52 Cf. dazu die umfassenden biographischen Ermittlungen in James M. Diehl: „Victors or Victims? Disabled Veterans in the Third Reich“, in: The Journal of Modern History, Bd. 59, 1987, Nr. 1, p. 705 - 736 und ID.: „Germany. Veterans‘ politics under three flags“, in: Stephan R. Ward (ed.): The War Generation. Veterans of the First World War, Washington, London 1976, p. 135 - 168. Gemäß Robert Weldon Whalen: Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914 - 1939, Ithaca, London 1984, p. 176 waren einige lokale Organisationen des republiktreuen Reichsbundes der Kriegsbeschädigten im Frühjahr von den Nationalsozialisten oder von der Polizei zerschlagen worden und der Verband löste sich im Sommer 1933 auf. 53 Cf. das kritische Porträt Fritz Taubert: „Friedrich Grimm, patriote allemand, européen convaincu“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 107 - 120. <?page no="219"?> 219 referats in der Dienststelle Ribbentrop. 54 Die Zusammensetzung dieser Stellvertreter-Mannschaft veränderte sich im Lauf der Jahre (u. a. aufgrund des Rückzugs von Raumers). Im Jahre 1939 waren neben Oberlindober und Grimm Otto Abetz und Rudolf Schleier (1899-1959) dort vertreten, der von 1935 bis 1938 Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in Frankreich gewesen war. Die DFG der National-sozialisten hatte (wie das CFA) einen Ehrenvorstand, der politisch ebenso homogen war wie der geschäftsführende Vorstand. Ihm gehörten an u.a. Propagandaminister Goebbels, Arbeitsminister Seldte, Justizminister Frank, Botschafter von Ribbentrop, Reichssportführer von Tschammer und Osten und Reichsschrifttumskammer-Präsident Hans Friedrich Blunck. Bemerkenswert ist an der Zusammensetzung des Ehrenkomitees, daß dort keinerlei kulturelle Frankreichkompetenz vertreten war; weder Ernst Robert Curtius, der (möglicherweise ungefragt) im August 1935 noch im Gespräch war für die DFG, noch die Hochschul-Romanistik insgesamt war in der Frankreich- Organisation an führender Stelle beteiligt. In der soziologischen und räumlichen Organisations-Struktur der DFG wird deutlich, daß die als Verständigungsbewegungen „von unten“ angetretenen Kriegsveteranen- und Jugendverbände durch den national-sozialistischen Zugriff entmündigt und einem einheitlichen politischen Willen unterworfen wurden. In soziologischer Hinsicht erfolgte diese Art der nationalsozialistischen Mediatisierung der Trägergruppen der DFG durch den korporativen Beitritt einer großen Zahl gesellschaftlicher Organisationen, die der NSDAP unterstellt waren oder als Untergliederung der Partei fungierten. So waren z. B. korporative Mitglieder der NS-DFG: Deutsche Arbeitsfront, Reichsnährstand, Reichshandwerkskammer, Reichswirtschaftskammer, Rechtswahrerbund, Reichsjugendführung, Reichsarbeitsdienst, NS-Frauenschaft, NS-Studentenbund, NS-Dozentenbund, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft, Reichsschrifttumskammer, Reichsmusikkammer, Reichsrundfunkkammer, Reichspressekammer, Reichsfilmkammer und Reichskammer für bildende Künste. 55 Je ein Vertreter dieser Organisationen gehörte dem Erweiterten Vorstand der DFG an, der gemäß den Statuten einmal im Jahr tagen sollte. Zu einer kontinuierlichen oder auch nur selbständigen Befassung mit Frankreich waren diese kooptierten Organisationsteile der DFG weder fähig noch vorgesehen. Sie spielten aber eine Rolle bei der Ermöglichung des Reiseverkehrs zwischen NS-Deutschland und Frankreich in den Jahren 1936 bis 1939. 56 Die andere Eigenart der NS-DFG war ihre Gebietsgliederung. Im Gegensatz zur DFG der Locarno-Ära, deren Untergliederungen in 54 Christian W. Spang: „Wer waren Hitlers Ostasienexperten? Teil I“, in: OAG Notizen, 2003, Heft 4, p. 14 sq. 55 Barbara Unteutsch, op. cit., p. 128. 56 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit“, in: ID., Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010, p. 249 - 266. <?page no="220"?> 220 den Städten lokal entstanden und arbeiteten, wurden in der NS-DFG die ab 1936 gegründeten Filialen außerhalb der Reichshauptstadt regional zusammengefaßt. Es entstanden von 1936 bis 1939 sieben solcher regionalen Einheiten: Im November 1936 die DFG der Hansestädte mit Sitz im Hamburg, wo neben Rudolf Schleier der Hamburger Bürgermeister Vincent Krogmann eine starke Stellung hatte; im Mai 1937 die DFG im Rheinland mit Sitz in Köln; im August 1937 eine DFG in Südwestdeutschland mit Sitz in Heidelberg, die bald ersetzt wurde durch die Gründung der DFG Baden im Herbst 1937 (Sitz: Karlsruhe), und die DFG Württemberg im September 1938 (Sitz: Stuttgart); die DFG Rhein-Main-Gebiet, die im September 1938 mit Sitz in Frankfurt / Main konstituiert wurde; und schließlich noch, nach dem „Anschluß“ Österreichs, eine DFG Ostmark mit Sitz in Wien, die im Februar 1939 eröffnet wurde. 57 Die regionale Zusammenfassung diente der Ressourcenbündelung, aber auch der Aufsicht über die peripheren DFG- Aktivitäten. Deren geographische Schwerpunktbildung weist neben der offensichtlichen Konzentration im Westen Deutschlands Merkmale der Zufälligkeit auf. Die DFG-Filialen außerhalb Berlins sollten gemäß einer Auskunft von Arnims „in Fühlungnahme mit den für sie örtlich zuständigen Vertretern der Partei und des Staates auf Grund des Führerprinzips“ ihre Aktivitäten „selbständig“ gestalten. 58 Von den regionalen DFG-Gliederungen war diejenige in den Hansestädten die bei weitem aktivste Gruppierung im deutsch-französischen Besuchsverkehr. 59 Vergleicht man nun diese personellen und organisatorischen Spezifika der NS-DFG mit den entsprechenden Merkmalen des CFA, dann wird das strukturelle Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Partnerverbänden sofort evident. Während der zunehmend hektischen Endverhandlungen über die Pariser Organisationsgründung hatte man sich in der umstrittenen Frage der Präsidentschaft im November auf den pensionierten Berufsoffizier Commandant René Michel L’Hôpital (1871-1939) geeinigt. Er war zum einen als ehemaliges Stabsmitglied von Marschall Foch, dem militärischen Verantwortlichen für die siegreichen Schlußoffensiven im Ersten Weltkrieg, 60 im Milieu der ehemaligen Frontkämpfer ausreichend bekannt. Und er war zum anderen als Generalsekretär der katholischen Pfadfinderbewegung im Felde der Jugendorganisationen kein Unbekannter. Er verband also in seinen Persönlichkeitsmerkmalen den Bezug zu den beiden 57 Barbara Unteutsch, op. cit., p. 129 sq. Roland Ray, op. cit., p. 180. 58 Ibid., p. 129. Der gebieterische Zentralisierungswille in der Organisation war auch bei Oberlindober stark ausgeprägt. Zur politischen Karriere und Praxis Oberlindobers cf. Robert Weldon Whalen, op. cit., p. 174 sq. Dazu eingehend James M. Diehl, „Victors or Victims“, op. cit. 59 Dazu unten die Darstellung der Austauschaktivitäten der DFG/ CFA. 60 Ein lebendiges Porträt des ersten CFA-Präsidenten gibt Paul Distelbarth in seinen Pariser Briefen an seine Familie in Deutschland; cf. meine Darstellung in: „Paul H. Distelbarth, Ein Anwalt alternativer Frankreich-Sicht und Frankreich-Politik“, op. cit., p. 45, Anm. 149. <?page no="221"?> 221 Trägergruppen, Anciens Combattants und Jugendverbände. Er faßte die Aufgabe des CFA nicht als Instrument der politischen Annäherung, sondern als Grundlage für die Verbesserung der wechselseitigen französischdeutschen Kenntnis auf gesellschaftlicher Ebene auf: „Nous n’envisageons pas cette action comme une tentative de rapprochement politique, mais de pays à pays. Dans chaque nation on peut être foncièrement patriote, sans pour cela rester fermé à toute compréhension extérieure“. 61 Nach dem deutschen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands am 7. März 1936 reagierte der erste Vorsitzende des CFA bereits mit seiner Demission; er veröffentlichte 1938 eine Biographie über den Maréchal Foch, in der er seine politische Philosophie darlegte. 62 An seine Stelle trat der Leiter des Frontkämpfer-Verbandes der Kriegsblinden (Union des aveugles de guerre) Georges Scapini (1893-1976). Dieser blieb dann an der Spitze des Komitees bis 1939 und vertrat dort im wesentlichen die Deutschland-Sicht und die Interessen der Frontkämpfer-Vereinigungen, nicht jedoch die einer Partei. In der relativen personellen Instabilität und parteipolitischen Unabhängigkeit der CFA-Leitung ist ein erstes wesentliches Unterscheidungsmoment im Vergleich zur DFG zu erkennen. Dem CFA-Präsidenten waren drei Vizepräsidenten zugeordnet. Zwei von ihnen militierten seit 1934 für die Schaffung einer französisch-deutschen Verständigungsorganisation. Fernand de Brinon (1885-1947), der Publizist, der als Mann der gemäßigten Rechten am 16. November 1933 das erste französische Interview mit Reichskanzler Hitler geführt hatte und sich von dessen Glaubwürdigkeit hatte überzeugen lassen, 63 war einer der unermüdlichsten Vortragsredner im französisch-deutschen Grenzverkehr der Jahre 1935 bis 1939. In den Wissenschaftskontakten dieser Jahre zwischen beiden Ländern sah der Chemiker Ernest Fourneau (1872-1949), hoch dekorierter Spezialist für das Feld der therapeutischen Chemie und seit 1911 Forscher im Institut Pasteur, seine Domäne. Er hatte um die Jahrhundertwende lange Zeit in der pharmazeutischen Industrie in Deutschland gearbeitet und war von lange her ein überzeugter Fürsprecher französisch-deutscher Zusammenarbeit; sein Name taucht seit Mitte 1934 in allen Gesprächszusammenhängen über eine bilaterale Organisationsgründung auf. Der dritte Vizepräsident des CFA, Gustave Bonvoisin, war politisch so unbekannt, daß die deutsche Botschaft in Paris Mühe hatte, biographische Informationen über ihn zu erhalten. 64 Er war Direktor des „Comité central des allocations familiales“ und stellte mutmaßlich die Verbindung der Anciens Combattants zur Sozialpolitik her, die einen großen Teil ihrer innenpolitischen Tätigkeit ausmachte. 61 René-Michel L’Hôpital in einem Interview in: Le Journal vom 27.11.35. 62 René-Michel L’Hôpital: Foch, l’armistice et la paix, Paris 1938. 63 Corinna Franz: Fernand de Brinon und die deutsch-französischen Beziehungen 1918 - 1945, Bonn 2000, p. 96 sq. 64 Handschriftlicher Vermerk in der Aufzeichnung der deutschen Botschaft in Paris vom 23.11.35. <?page no="222"?> 222 Diese Equipe der Vizepräsidenten blieb von 1935 bis 1939 intakt. Sie nahm überwiegend repräsentative Funktionen im CFA wahr. Dies gilt auch für das Comité d’honneur, das der französischen Deutschlandorganisation das gesellschaftliche Gewicht der Bekanntheit seiner Mitglieder verleihen sollte. An der Spitze stand als Ehrenvorsitzender der Diplomat im Ruhestand Joseph Noulens, der u. a. 1917-1919 Botschafter in Rußland und dann einer der Kommissionsleiter bei den Pariser Friedensverhandlungen gewesen war. Noulens und L’Hôpital waren Exponenten der „französischen Rechtskreise“, an die sich — nach dem kritischen Urteil Distelbarths 65 - die deutschen Initiatoren der DFG/ CFA vor allem gewandt hatten. Während L’Hôpital nach wenigen Monaten den Vorsitz der CFA wieder abgab, blieb Botschafter Noulens bis 1939 in seiner Funktion des Ehrenvorsitzenden, hielt sich jedoch im Vergleich zu seinem Amtskollegen von Stauss (DFG) ganz im Hintergrund. Damit kontrastierte sein Verhalten mit demjenigen der recht zahlreichen Intellektuellen im Ehrenvorstand des CFA, die als Männer der Feder die Öffentlichkeit suchten. Von ihnen sind vor allem einige zu nennen, die in den französisch-deutschen Begegnungs- Veranstaltungen der Jahre 1935 bis 1939 überdurchschnittlich oft beteiligt waren. Louis Bertrand (1866-1941), der 1926 in der Académie Française den Sitz von Maurice Barrès übernommen hatte und als Romancier bzw. Kritiker erfolgreich war, stand der intellektuellen Rechten nahe; er vertrat einen offensiven Antibolschewismus und eine abendländische Europa-Idee. Seine 1936 erschienene Broschüre über Hitler, 66 die nach der Teilnahme am Reichsparteitag in Nürnberg verfaßt worden war, wurde im DFG- Publikationsorgan als Bekräftigung des eigenen Willens dargestellt. 67 Pierre Benoit (1886-1962), der andere „Académicien“ im Ehrenkomitee des CFA, war ebenfalls ein Mann der politischen Rechten; er hatte seinen literarischen Erfolg auf Abenteuer- und Exotik-Romane gebaut und war in den Literatur- und Film-Austausch zwischen Paris und Berlin der späten dreißiger Jahre einbezogen. Eine literarische Berühmtheit anderer Prägung, die als Mitglied im Ehrenkomitee des CFA auftrat, war Jules Romains (1885-1972). Der Epiker des Unanimismus unterhielt in Frankreich enge Beziehungen zum Milieu der Anciens Combattants und er war aufgrund seiner langjährigen Bekanntschaft mit Hans Friedrich Blunck (Präsident der Reichsschrifttumskammer 1933-1935) ab 1934 sehr aktiv an der Vorbereitung des CFA 65 Brief Distelbarths an seine Familie vom 21.11.1935. 66 Louis Bertrand: Hitler, Paris 1936. Rezensiert in DFM, 1936, p. 117 sq. 67 Er war in Nürnberg von Otto Abetz geleitet worden. Cf. Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 81 sq. Bertrand fand in der Zeitschrift der DFG/ CFA weit weniger Beachtung als die jungen Schriftsteller der französischen Selbstkritik von der Art Brasillachs, de Jouvenels, Fabre-Luces oder de Montherlants aber auch im Vergleich mit seinem Altersgenossen Jules Romains. <?page no="223"?> 223 beteiligt. 68 Jules Romains gehörte anders als die beiden „Académiciens“ nicht zur Rechten und seine Beziehungen zu Deutschland waren älter als das „Dritte Reich“. Wenngleich der Schriftsteller später seine Arbeit im Zusammenhang mit dem CFA nicht wahrhaben wollte, 69 so figurierte doch sein Name bis 1939 im Organigramm dieser Organisation in den „Deutsch- Französischen Monatsheften / Cahiers franco-allemands“, in denen auch seine Neuveröffentlichungen ausführlich rezensiert wurden. Sein „Couple France-Allemagne“, 70 ein Titel, der bald emblematischen Wert gewann, wurde im Periodikum der DFG/ CFA politisch so zurechtgestutzt: „Er weist nach, daß Antimarxismus und Antisemitismus dem deutschen Gefühl gemäß sind. Die Volksaufklärung habe in Deutschland dafür gesorgt, daß man sich über die Furchtbarkeit eines kommenden Krieges keine Illusionen mache. Es hänge viel vom Verhalten Frankreichs ab, wie sich das deutsche Gesicht in Zukunft gestalte“. 71 Zumindest in den Anfängen des CFA bewegte sich Romains auf den Kommunikationswegen zwischen Frankreich und Deutschland, die von den beiden Komitees gebahnt wurden. Aus dem intellektuellen Feld kam auch das Ehrenvorstands-Mitglied des CFA Henri Lichtenberger (1864-1941), während sein Germanistik- Kollege an der Sorbonne Edmond Vermeil nach Beteiligung an den Vorgesprächen für die Komiteegründung in dessen Organigramm nicht auftaucht. Auch Lichtenberger, ein politisch-kultureller Deutschlandexperte seit mehreren Jahrzehnten, 72 war kein Parteigänger der Nationalsozialisten, hielt aber die Fortführung des Gesprächs mit den Deutschen für erforderlich, um einen neuen Krieg zu vermeiden. In seinem Buch über das neue politische Regime in Deutschland, das 1936 erschien, zeigte er deutlich die divergierenden Grundwerte beider Staaten und zeigte sich allenfalls angesprochen vom „corporatisme“ in der Gesellschafts-politik des neuen Regimes. 73 Er war seit 1935 auch in politikberatender Funktion tätig als Leiter der „Section franco-allemande“ des „Centre d’Etudes de Politique Etrangère“. Neben dieser kompakten Vertretung von hommes de lettres, der auf der deutschen Seite im DFG-Ehrenvorstand nur der Literaturfunktionär Blunck entsprach, umfaßte das Comité d’honneur zwei Senatoren, einen Unternehmervertreter (Etienne Fougère) und einen Komponisten. 68 Dazu mehrere Dokumente, die im Oktober 1934 an Goebbels adressiert und u. a. von Hans Friedrich Blunck verfasst wurden in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 22, H 092 - 098. 69 Cf. Olivier Rony: Jules Romains ou l’appel au monde, Paris 1993, p. 424 sq. 70 Jules Romains: Le Couple France-Allemagne, Paris 1935. 71 Rezension der Textsammlung von Jules Romains, Le couple France - Allemagne, in: Sohlbergkreis. Deutsch - Französische Monatshefte 1934/ 35, Nr. 4/ 5, p. 128. 72 Hans Manfred Bock, „Henri Lichtenberger. Begründer der französischen Germanistik und Mittler zwischen Frankreich und Deutschland“, in: ID.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundts, Tübingen 2005, p. 217 - 231. 73 Henri Lichtenberger: L’Allemagne nouvelle, Paris 1936; cf. dazu auch Hans Manfred Bock „Henri Lichtenberger“. op. cit., p. 227 sq. <?page no="224"?> 224 Die Generalsekretäre des CFA hatten einen starken Einfluß auf dessen Entwicklungen und Tätigkeiten, da hinter ihnen die Großverbände der Kriegsveteranen standen. Diese Funktion hatten Henri Pichot von der UF und Jean Goy von der UN übernommen. Die korporative Mitgliedschaft im CFA beschränkte sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf diese beiden Verbände und entsprechend prekär war die finanzielle Situation des Komitees. 74 Wenn das Erscheinungsbild des CFA unvergleichlich stärker von den Intellektuellen im Comité d’Honneur (und in der Gruppe der Beisitzer („Assesseurs“)) geprägt wurde als die NS-DFG, so lag im französischen Komitee die reale Entscheidungskompetenz und die offizielle Vertretung doch jederzeit bei den Repräsentanten der Kriegsveteranen-Verbände Pichot, Goy und Scapini. Deshalb ist die Skizze ihres politisch-gesellschaftlichen Standorts für die Analyse der verständigungspolitischen Antriebskräfte im CFA unabdingbar. Henri Pichot war ein rundum typischer Vertreter republikanisch-pazifistischer Überzeugungen wie sie in den Lehrberufen der Dritten Republik dominant waren. 75 Er kannte Deutschland und die deutsche Sprache durch Studienaufenthalte vor 1914 und aufgrund seiner Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1914/ 15. Sein Deutschlandbild war durchaus konventionell und für ihn stand die Kriegsschuld Deutschlands sowie ein bestimmter Nationalcharakter der Deutschen fest. Er vertrat einen nicht nationalistischen Patriotismus, den er auch den Zugehörigen anderer Nationen zubilligte und der sich für ihn mit einem tief wurzelnden Pazifismus verband. In den dreißiger Jahren wurde Pichot mit kurzen Unterbrechungen immer wieder zum Vorsitzenden der „Union Fédérale“ gewählt. Er setzte nach dem 30. Januar 1933 seine Zusammenarbeit mit den deutschen Kriegsopfer-Verbänden fort, obwohl seine langjährigen Bekannten vom SPD-nahen „Reichsbund“ (Erich Rossmann, Paul Distelbarth) bald Verfolgte des NS-Regimes wurden. Dabei bestimmte eindeutig die Hoffnung sein Handeln, daß das zwischen 1922 und 1933 aufgebaute Fundament der solidarischen Kontakte zwischen den ehemaligen Frontsoldaten beider Länder als gesellschaftlicher Faktor der Friedenssicherung erhalten werden müsse. Im Zuge der innenpolitischen Polarisierungswirkung der gewaltsamen Demonstrationen in Paris vom 6. Februar 1934 verfestigte sich bei Pichot neben sozialpolitischen Reformvorstellungen die Idee, daß im verfassungspolitischen Bereich der republikanische Staat autoritäre Züge annehmen müsse. Im selben Zusammenhang verschärften sich auch die Gegensätze zwischen der Union Fédérale und dem Konkurrenzverband Union Nationale, dessen Vorsitzender seit Ende 1935 Jean Goy, der andere Generalsekretär des CFA, 74 Cf. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 133 sq. 75 Dazu Claire Moreau Trichet: Henri Pichot et l’Allemagne de 1930 à 1945, op. cit., p. 28 sq. und 38 sq. Cf. dazu auch die Darstellung des Wirkens der Kriegsbeschädigten- Verbände (insbesondere der Union fédérale) in: Paul H. Distelbarth. Das andere Frankreich, op. cit., p. 195 - 222. <?page no="225"?> 225 war. 76 Goy war seit 1919 Parlamentarier der Rechten und Berufspolitiker mit engen Beziehungen zur Industrie (Ernest Mercier). 77 Er war Urheber eines Appells der UN an die Presse und eines Bündnisses mit dem rechtsextremen Parti Social Français (PSF), wo in beiden Fällen nach Bildung der Volksfront-regierung im Mai 1936 zum Kampf gegen die „kommunistische Revolution“ aufgerufen wurde. Der andere der Rechten angehörige Parlamentarier , Georges Scapini, der im Frühjahr 1936 das Präsidium des CFA übernommen hatte, war durch Kriegsverletzung erblindet. Er war Gründer und Repräsentant der Union des aveugles de guerre, einer der kleineren Veteranenorganisationen. 78 In dieser Eigenschaft stärkte er zum einen die symbolische Sichtbarkeit der Anciens Combattants an der Spitze des CFA und vermied zum anderen im Organisationsbereich der Kriegsveteranen ein Gerangel zwischen den beiden größten Verbänden, der Union fédérale und der Union nationale, um die Präsidialfunktion in dem französischdeutschen Verständigungskomitee. Das CFA blieb im wesentlichen ein lockerer Verbund der in ihm vertretenen Organisationen und Individuen, dessen Aktionsradius sich auf Paris beschränkte. Im Gegensatz zu den Regionalgliederungen der NS-DFG und anders als in der L.E.G. der Locarno-Jahre (die fast ausschließlich in den französischen Provinzstädten verankert war) sind Relaisstationen des CFA außerhalb von Paris kaum nachweisbar. Allein in Lyon ist in den Jahren 1937/ 38 eine Filiale mit einem gewissen Eigenleben belegbar. 79 Charakteristisch für den Mangel an einer verbandspolitischen Absprache innerhalb der Führung des CFA in Fragen des Verhaltens gegenüber der deutschen Seite war es, daß seine bekannten Repräsentanten auf die Schockwellen der nationalsozialistischen Außenpolitik (vom Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes (1936) bis zum Einmarsch in Prag (1939)) jeweils in eigener Regie und Verantwortung reagierten. An zwei einschlägigen Fällen, demjenigen von Henri Pichot und von Fernand de Brinon, läßt sich diese Reaktionsweise verdeutlichen. Der CFA-Generalsekretär Pichot, ein im nationalsozialistischen Deutschland stark nachgefragter Redner, ließ sich von 1934 bis Ende 1938 von der Idee leiten, daß alles getan werden müsse, um einen neuen Krieg zu verhindern, und daß der zivilgesellschaftliche Austausch zwischen Frankreich und Deutschland gerade auch in Zeiten diplomatischer Konflik- 76 Ibid.,p. 167 sq. 77 Antoine Prost: Les Anciens Combattants et la Société Française, op. cit., Bd. 1, p. 101 sq. 78 Ibid., Bd. 2, p. 71 sq. 79 So auch Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, p. 133. Das CFA Lyon wurde Ende Oktober 1937 ins Leben gerufen. Es finden sich in den Akten der Pariser Botschaft im November 1937 Hinweise auf die Gründungsvorbereitungen einer CFA-Regionalorganisation in Nizza. Deutsches Generalkonsulat in Marseille an deutschen Botschafter in Paris mit Schreiben vom 29.11.1937, PA/ AA Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 23. <?page no="226"?> 226 te ein Mittel der Friedenssicherung sei. 80 So hatte er noch das Münchener Abkommen vom September 1938 lebhaft begrüßt und Daladier dafür persönlich seinen Dank ausgesprochen. Der entscheidende Bruch in seiner Gewißheit von der Richtigkeit seiner deutschlandpolitischen Konzeption vollzog sich zwei Monate später angesichts der reichsweiten Pogrome in Deutschland („Kristallnacht“ vom 9./ 10.11.1938). Er reagierte auf die antisemitischen Gewalttaten im Nachbarland mit einem Zeitungsartikel „Pour être lu à Berlin“. 81 Dort berief er sich auf 15 Jahre Verständigungsarbeit zwischen beiden Ländern als Legitimationsgrundlage für seine kategorische Verurteilung dieser Gewalttaten: „La condition inhumaine faite aux juifs allemands provoque l’universelle stupeur et l’universelle indignation, et personne hors d’Allemagne ne peut croire que le spectacle des sévices, des incendies et des pillages dont le monde s’indigne soit l’effet spontané d’une explosion populaire de colère et de vengeance: il n’en peut être ainsi dans un pays où tout est ordonné, où rien ne se passe sans permission et dont les chefs ne cessent de louer et de donner en exemple aux pays voisins l’esprit d’obéissance et de discipline“. 82 Der Autor sprach Hitler-Deutschland jegliches Recht auf weitere internationale Forderungen und auf Einmischung in die französische Innenpolitik ab, vermochte aber nicht sofort alle praktischen Konsequenzen aus dieser politisch-moralischen Verurteilung zu ziehen. So hieß er die deutsch-französische Erklärung vom 6. Dezember 1938 für gut 83 und zog erst nach der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ durch Hitler-Deutschland im März 1939 den Schlußstrich unter sein verständigungspolitisches Engagement, indem er — in Absprache mit Jean Goy — die Auflösung des CFA beantragte. In einem offenen Brief an den Direktor der Tageszeitung „Le Temps“ resümierte er am 25. April 1939 noch einmal die Prinzipien seiner Arbeit im CFA, die er nicht verleugnen wollte, für die er aber die Geschäftsgrundlagen nicht mehr gegeben sah. In der Zusammenfassung durch die Deutsche Botschaft in Paris, die den Erklärungen des Leiters der Union fédérale viel Aufmerksamkeit widmete, bilanzierte Pichot seine CFA-Aktivitäten so: „Herr Pichot verteidigt zunächst seine Tätigkeit im Comité France-Allemagne, das außerhalb jeder politischen Tätigkeit und Tendenz die Aufgabe gehabt habe, Franzosen und Deutsche aller sozialen Schichten durch Reisen, insbesondere von Jugendgruppen, und durch kulturellen Austausch in gegenseitige Berührung zu bringen, um dadurch, wenn möglich, Verständnis und Sympathie zu erwecken. Er selbst habe häufig in Deutschland gesprochen, ohne daß die deutschen Behörden ihn wegen seiner Ausführungen belästigt hätten und er habe den herzlichen 80 Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 75 sq. 81 L’Œuvre 16.11.1938. Cf. dazu Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 213 sq. 82 L‘Œuvre 16.11.1938. Die deutsche Botschaft in Paris sandte ein Resumee des Artikels an das AA in Berlin, PA/ AA, Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte, Bd. 5. 83 Cf. dazu Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 209 sq: „1938 - 1939, le renoncement à l’entente franco-allemande“. <?page no="227"?> 227 und manchmal begeisterten Empfang nicht vergessen, den seine Zuhörer, die nichts sehnlicher gewünscht hätten und noch wünschen, als daß Deutschland und Frankreich in glücklicher Nachbarschaft zusammenlebten, ihm bereitet hätten. Allerdings zählten diese Bemühungen wenig, wenn die Politik des Führers sie letzten Endes doch illusorisch und vergeblich machten. [...] Wenn die Deutschen nicht die Erinnerung an seine Besuche und die anderer Franzosen verloren hätten, werde man sich vielleicht eines Tages erneut an die Arbeit machen müssen.“ 84 Pichots Deutschland- Wahrnehmung veränderte sich 1938/ 39 unter dem Druck der politischen Ereignisse zum kritisch-negativen Bild vom Nachbarland. Entsprechend dieser Einstellungsveränderung stellte er sich 1940 dem Marschall Pétain, nicht aber der deutschen Besatzungsmacht zur Verfügung 85 und starb mit 50 Jahren im Januar 1945. Ein anderes Persönlichkeitsprofil und Reaktionsschema angesichts der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik ist bei dem CFA-Vizepräsidenten Fernand de Brinon (1885-1947) erkennbar. Politisch schwierig zu verorten, aber anfänglich den „radicaux“ nahestehend, bewegte sich der Publizist im Zwischenbereich von Journalismus und Diplomatie. 86 Im Vergleich zu den selbstlosen verständigungspolitischen Bestrebungen eines Henri Pichot war die Tätigkeit de Brinons zwischen Frankreich und Deutschland eindeutig stärker bestimmt von politischem Geltungsbedürfnis und Opportunismus. Er war Vertreter einer expliziten Appeasement- Politik nach englischem Vorbild und schließlich Protagonist einer politischen Konzeption der Teilung der Interessensphären in Kontinentaleuropa zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland, das freie Hand im Osten haben, und der Französischen Republik, die sich auf ihr Kolonialreich stützen sollte. 87 Selbst einen politischen Hasardeur wie de Brinon ließen die Akte gewaltsam geschaffener außenpolitischer faits accomplis durch Hitler nicht unerschüttert in seinem Glauben an die Tragfähigkeit französischdeutscher Zusammenarbeit in der DFG/ CFA. So legte er nach dem „Anschluß“ Österreichs im März 1938 im ersten Affekt seine Tätigkeit als Vizepräsident des CFA nieder aus Protest gegen diesen Tabubruch in den bilateralen Beziehungen, der selbst für Aristide Briand immer als Kriegsanlaß gegolten hatte. 88 Er besann sich aber bald eines anderen und setzte seine rege Vortrags- und paradiplomatische Vermittlungs-Tätigkeit zwischen Frankreich und Deutschland fort. Ihretwegen geriet er um die Jahreswende 1938/ 39 in das Kreuzfeuer linker und konservativer Kritik, die mit seinem Namen den Verdacht verknüpfte, sich der hochverräterischen Informationsweitergabe an die Deutschen und der Korruption schuldig gemacht zu 84 PA/ AA Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte, Bd. 5. 85 Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 238 sq. 86 Cf. zum folgenden Corinna Franz, op. cit., p. 16 sq. und p. 75 sq. 87 Ibid., p. 195 - 200. 88 Ibid., p. 184. <?page no="228"?> 228 haben. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag im März 1939 trat de Brinon anders als Pichot nicht für die Auflösung des Comité France- Allemagne ein, zog sich aber in das Privatleben zurück. Aus dieser Isolierung ließ sich der ehemalige Vizepräsident des CFA im Juni 1940 bereitwillig herausholen durch den Auftrag der Vichy-Administration, den Kontakt mit der deutschen Besatzungsverwaltung in Paris herzustellen. De Brinon wurde als „Botschafter“ Vichys in Paris eine der bekanntesten Gestalten der Collaboration. Er wurde nach 1944 von der französischen Justiz zum Tode verurteilt und im Mai 1947 durch Erschießen hingerichtet. Die hier in Umrissen dargestellten, kontrastreichen Motivationen und Verläufe der verständigungspolitischen Arbeit von Protagonisten des CFA 89 belegen zwei Sachverhalte, die meist durch die spektakulären Fälle personeller Kontinuität vom CFA zur Collaboration (neben de Brinon z. B. die Entwicklung von Georges Scapini 90 ) nicht recht deutlich werden: Es gab keinen zwangsläufigen Weg vom CFA zur Collaboration der Kriegsjahre und selbst bei den verblendetsten Verständigungsaktivisten des CFA war ihr Engagement oft eine Option auf Widerruf. Das wird auch bestätigt durch einen Blick auf den Auflösungsvorgang des CFA im Frühjahr 1939. Nachdem z. B. Bertrand de Jouvenel (1903-1987) 91 schon nach dem Münchener Abkommen und Georges Scapini aus Protest gegen die sozialpolitische Verschlechterung der Anciens Combattants durch die Regierung Daladier schon vor dem 15. März 1939 ihre Tätigkeit im CFA niedergelegt hatten, folgten nach diesem Ereignis u. a. Jules Romains, Pierre Benoît, Joseph Noulens und andere Repräsentanten des Komitees mit ihrer Abwendung vom CFA. 92 Die bislang seltenen Studien zum Verhalten von regionalen CFA-Militanten bestätigen die These von ihrem verständigungs-politischen Engagement auf Widerruf und vom divergierenden Verlauf ihrer politischen Entwicklung, der teilweise in die Collaboration, zu nicht unerheblichen Teilen aber auch in den privaten Rückzug oder in die Résistance führte 93 nach der praktischen Auflösung des Comité France- Allemagne. Nach dem Austritt von Henri Pichot und Jean Goy aus dem CFA in Reaktion auf den Gewaltstreich Hitlers in Prag vom 15. März 1939 faßte der Komitee-Vorstand am 24. Mai 1939 den Beschluß der Auflösung der Vereinigung mit Mehrheit, aber ohne das erforderliche Quorum von 89 Eine prosopographische Studie zu diesem Thema ist überfällig. 90 Scapini stellte sich - wie Pichot - im Juli 1940 Pétain zur Verfügung und wurde mit der Aufgabe der Interessenwahrung der französischen Kriegsgefangenen in Deutschland (wie de Brinon im Range eines „Botschafters“) beauftragt. Cf. dazu Barbara Unteutsch, op. cit., p. 164 sq. 91 Olivier Dard: Bertrand de Jouvenel, op. cit., p. 139. 92 Corinna Franz, op. cit., p. 212. 93 Cf. dazu zuerst die (von Jacques Droz betreute) Qualifikationsarbeit Catherine Brice: Le Groupe „Collaboration“ 1940 - 1944, Paris 1978 (Université Paris I), die den Weg der Pariser und der Provinz-Vertreter der Gruppe „Collaboration“ differenziert nachzeichnet. <?page no="229"?> 229 zwei Dritteln seiner Mitglieder. Auf diese Weise handlungsunfähig, wurde jegliche Fortsetzung der Arbeit des CFA vor allem aufgrund der im Sommer 1939 in Frankreich sich verbreitenden Spionage- und Agentenfurcht - die im Ausweisungsbefehl an Otto Abetz einen Höhepunkt erreichte 94 - vollends unmöglich gemacht. Das Comité France-Allemagne war im Verhältnis zur nationalsozialistischen DFG keineswegs ein bloßes Anhängsel, sondern auf soliden, wenngleich heterogenen Organisations- und Interessengrundlagen gebaut. Es war aufgrund dieser Heterogenität und der illusionären Strategie seiner Repräsentanten, auf zivilgesellschaftlicher Basis den Frieden mit dem totalitären Deutschland Hitlers retten zu können, allerdings jederzeit im Vergleich mit der NS-DFG in einer Situation der relativen Schwäche. Dieses strukturelle Ungleichgewicht zwischen NS-DFG und CFA war letztlich — mehr noch als die diversen subjektiven Absichten ihrer Protagonisten — die Ursache für die Möglichkeit der propagandistischen Instrumentalisierung des CFA durch das nationalsozialistische Deutschland. In der Geschichte der gesellschaftlichen Verständigungsbemühungen zwischen Deutschland und Frankreich während der beiden Zwischenkriegsjahrzehnte war die Doppelgründung DFG/ CFA quantitativ die größte Initiative, qualitativ jedoch keineswegs das bedeutendste Projekt, wenn man als Kriterium des Urteils die breitenwirksame Einstellungsveränderung der beteiligten Menschen in beiden Nationen zugrunde legt. Das wird offensichtlich in der Darstellung und Analyse der zwischen der NS-DFG und dem CFA vorherrschenden Verständigungsideologie und der zwischen ihnen praktizierten Austauschvorgänge. 3. Verständigungsideologie und Begegnungsaktivitäten durch die NS-DFG und das CFA 1935-1939 Eine theoretisch formulierte Begründung für die Vermittlung von Kenntnissen und Kontakten zwischen Deutschen und Franzosen sucht man bei den Wortführern der NS-DFG und des CFA vergebens. Im Gegensatz zur bildungsbürgerlichen DFG der Weimarer Republik, in deren Reihen kultur- und sozialwissenschaftliche Begründungsversuche nachweislich diskutiert wurden, 95 begnügten sich die DFG- und die CFA-Sprecher in der Regel mit tagespolitisch diktierten Parolen, die ihrem Tun die Legitimationsbasis verliehen. Die konzeptionelle Klärung des Austauschs mit Frankreich wurde am ehesten auf der Ebene der offiziellen Kulturinstitutionen fortgesetzt. Hier gab z. B. der Zweigstellenleiter des DAAD in Paris, Karl Epting, den von den Nationalsozialisten geförderten Leitvorstellungen des Umgangs mit der französischen Kultur adäquaten Ausdruck, wenn er 1938 94 Roland Ray, op. cit., p. 240 - 282. 95 Cf. Kapitel IV dieses Buches. <?page no="230"?> 230 in seinen Reflexionen „Zum Frankreichbild unserer Generation“ 96 programmatisch eine neue Grundeinstellung deutscher Frankreichbetrachtung einforderte. An die Stelle der konservativ-nationalen Frankreichsicht, die im Nachbarland das ganz Andersartige hervorhob, aber Sympathie nicht ausschloß, und anstelle der republikanisch-linken Sehweise des Nachbarlandes, die die Gemeinsamkeiten akzentuierte und Empathie einschloß, sollte gemäß Epting ein taxonomisch kalter Blick auf die französische Kultur vorherrschen. Diese sei mit derselben sachlichen Indifferenz zu betrachten, wie sie einer Studie der Eskimos eigen zu sein pflege. 97 Diese allfällige Perspektivänderung erfordere das neue nationalpolitische Selbstbewußtsein der Deutschen, die nunmehr — von den Fesseln des Versailler Vertrages befreit — mit den Franzosen von gleich zu gleich verkehren müßten. In diesem Punkt trafen sich Eptings Überlegungen mit dem Leitmotiv der Verständigungsrhetorik, wie sie in den Deutsch-französischen Monatsheften / Cahiers franco-allemands der Jahre 1936 bis 1939 zu finden ist. Während im konservativ-nationalen Frankreich-Diskurs der DFG der Weimarer Jahre die Überzeugung vorherrschte, daß man das andere Land besser kennen müsse, um sich selbst in seiner nationalen Eigenart besser definieren zu können, trat nach 1933 in der öffentlichen Rede in Deutschland die Gewißheit immer deutlicher in den Vordergrund, man habe nunmehr seine nationale Identitätsformel gefunden und müsse demzufolge ein offensives nationales Selbstbewußtsein im Verhältnis zu Frankreich an den Tag legen. Der Stimulus, die andere Seite von ihren eigenen Voraussetzungen her zu kennen und deuten zu lernen, wurde in dieser neuen Optik auf Frankreich in dem Maße schwächer, wie das politisch induzierte nationale Überlegenheitsgefühl im nationalsozialistischen Deutschland zunahm. Auch in Frankreich entstanden in den dreißiger Jahren die Umrisse einer neuen Verständigungsideologie mit Deutschland in teilweiser Anknüpfung an ältere (überwiegend pazifistische) Motive und teilweise in Reaktion auf innerpolitische Polarisierungstendenzen zwischen rechts und links, die mit den Unruhen vom 6. Februar 1934 begannen und nach der Bildung der Volksfrontregierung im Mai 1936 potenziert wurden. Im linksorientierten Teil der Kriegsveteranen-Verbände war das pazifistische Motiv der Verhinderung eines neuerlichen Krieges am längsten domi- 96 Unter dem Pseudonym Matthias Schwabe: „Zum Frankreichbild unserer Generation“, in: Die Tat, 1938, p. 478 - 483. 97 Cf. Eckard Michels: „Karl Epting als Kulturfunktionär und Autor im ,Dritten Reich‘“, in: Michel Grunewald, Hans Jürgen Lüsebrink, Rainer Marcowitz, Uwe Puschner (ed.): France - Allemagne au XXe siècle. La production de savoir sur l’autre (vol. 2), Bern, Berlin 2012, p. 83 - 85; er verweist auf Ulrich Herbert: „,Generation der Sachlichkeit‘. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland“, in: Frank Bajohr (ed.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, p. 115 - 144. <?page no="231"?> 231 nant. 98 Es verband sich dort in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre mit der zunehmend vehementen Kritik an der Republik und mit teilweise autoritären und korporatistischen Reform-Vorstellungen. Die in diesem Organisationsfeld der Anciens Combattants hochgehaltenen mittelständischen Tugenden (z. B. ein guter Soldat, ein fleißiger Handwerker oder Bauer und ein redlicher Familienvater zu sein) konnten sich in Deutschland durch gleichartige Moralvorstellungen bestätigt sehen, die in der nationalsozialistischen sozialen Integrationsideologie herausgestellt wurden. 99 Die Beschwörung dieser guten Absichten und Tugenden auf beiden Seiten machte einen Großteil der Verständigungsrhetorik zwischen CFA und NS- DFG aus. Eine andere Verständigungsgrundlage war maßgeblich für den angestrebten Dialog mit dem nationalsozialistischen Deutschland bei dem Teil der „briandistischen“ Jugendgeneration, der gegen Mitte der dreißiger Jahre den politischen Weg von links nach rechts ging. Wenn bei diesen intellektuellen Repräsentanten des CFA überhaupt ein kleinster gemeinsamer Nenner auszumachen ist, 100 so sicherlich der bei den meisten von ihnen feststellbare ideologische Impuls des Antibolschewismus, der durch die Formierung der Volksfront-Regierung ab 1936 verursacht oder verstärkt wurde. Dies politisch-ideologische Motiv trieb z. B. Schrittmacher des französisch-deutschen Dialogs der dreißiger Jahre wie Alfred Fabre- Luce oder Bertrand de Jouvenel an die Seite von Jaques Doriots „Parti populaire français“ (PPF), 101 war jedoch auch bei anderen CFA-Intellektuellen vorhanden und fand Anknüpfungspunkte in der nationalsozialistischen antikommunistischen Propaganda. Die hier skizzierten konvergierenden Motive schufen im Organisationsbereich von DFG und CFA Kommunikationsbrücken, jedoch keine Annäherung der Standpunkte. Denn die Auffassungen über Patriotismus, öffentliche Tugenden und äußere Bedrohung blieben im DFG/ CFA- Diskurs weitestgehend national determiniert. Das wird besonders offensichtlich im breitesten Segment dieses Diskurses, nämlich in der Diskussion über die internationale Selbstbehauptung Europas. Diese sollte ermöglicht werden durch den politischen Interessenausgleich zwischen Frankreich und Deutschland, der die jeweilige nationale Identität nicht nur nicht beschädigen, sondern nachdrücklich fördern sollte. Diese Vorstellung 98 Dazu exemplarisch die Biographie des führenden Vertreters der Union fédérale in der Studie Claire Moreau Trichet, op. cit.; entsprechend auch dessen unveröffentlichte Autobiographie: Et ce fut quand même la guerre, Ms. 107 S. 99 Cf. Antoine Prost, op. cit., Bd. 3, p. 153 - 185: „L’esprit combattant. Rhétorique et moralisme.” 100 Neben den Beiträgen zu Gilbert Merlio (ed.): Ni droite, ni gauche, op. cit., cf. dazu Thomas Keller: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001, bes. p. 163 sq.: „Die nonkonformistische Generation“. 101 Dazu detailliert die Studie Olivier Dard: Bertrand de Jouvenel, op. cit., p. 128 sq.: „L’engagement au PPF“. <?page no="232"?> 232 von der deutsch-französischen Führungsrolle in Europa, die auf der Komplementarität und dem friedlichen Wettbewerb der beiden Nationen beruhen sollte, war die verständigungspolitische Prämisse, die in die Debatte über einen „internen Nationalismus“ einging, die seit der zweiten Jahreshälfte 1934 in den „Deutsch-Französischen Monatsheften“ des Sohlbergkreises begann und die durch die folgenden Jahrgänge dieser publizistischen Plattform der DFG/ CFA bis 1939 hindurchreicht. 102 Es handelte sich bei diesen Überlegungen über ein „Junges Europa“ 103 und einen „internen Nationalismus“ im Vergleich mit den früheren Konzeptionen deutsch-französischer Zusammenarbeit seit 1919 durchaus um ein Novum, das allerdings in Deutschland in einer Reihe von Argumenten an die national-konservative Frankreich-Sicht der zwanziger Jahre anknüpfen konnte. Neu war in den Begründungsbeiträgen für die deutsch-französische Verständigung eines Otto Abetz, Friedrich Bran und anderer Wegbereiter der NS-DFG, daß das Bemühen der konservativen Frankreich- Interpreten um die morphologische Strukturanalyse „der französischen Kultur“ (Ernst Robert Curtius) dort überhaupt keine Rolle mehr spielte, sondern daß bei ihnen ein politisch-organisatorischer Voluntarismus vorherrschte, der sich historischer Argumente so bediente, wie sie gerade für die Rechtfertigung ihres Handelns opportun erschienen. Neu war vor allem aber, daß die Jungen der Sohlberggeneration die nationale Selbstfindung der Deutschen, die von den älteren konservativen Frankreichdeutern als oberstes Desiderat angesehen wurde, nunmehr im nationalsozialistischen Deutschland verwirklicht sahen. Was von den Älteren als anspruchsvoller geistiger Regenerationsprozeß aufgefaßt wurde, 104 verkürzte sich für die jüngere Generation ab 1933 auf einige vorwiegend biologistische Formeln, deren Verbindlichkeit politisch-propagandistisch durchgesetzt wurde. Der Herausgeber der DFM brachte diese intellektuell dürftigen Formeln z. B. auf den Punkt, wenn er Ende 1934 erklärte: „En Allemagne nous avons découvert les valeurs internes du sol et du sang, c’est-àdire d’une unité nationale et sociale qui était comblée et oubliée pendant 102 Michel Grunewald: „Le ,couple France - Allemagne‘ vu par les nazis. L’idéologie du ,rapprochement franco-allemand‘ dans les Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands (1934 - 1939)“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.), op. cit., p. 131 - 146. 103 Cf. Thomas Keller, op. cit., p. 177 sq.: „Kommunikationsnetze: Sohlbergkreis oder Junges Europa“. Cf. auch zur diskursiven Leitfunktion des Begriffs „Junges Europa“ in konservativ-revolutionärem Verständnis die Studie Hans Manfred Bock: „Das ,Junge Europa‘, das ,Andere Europa‘ und das ,Europa der Weißen Rasse‘. Diskurstypen in der ,Europäischen Revue‘“, in: Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933 - 1939). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933 - 1939), Bern, Frankfurt/ Main 1999, p. 311 - 351. 104 Hans Manfred Bock: „Europa als konkrete Utopie. Europapolitische Motive in den Intellektuellen-Diskursen der Locarno-Ära“, in: Frank Baasner, Michael Klett (ed.): Europa. Die Zukunft einer Idee, Darmstadt 2007, p. 53 - 79. <?page no="233"?> 233 des siècles.“ 105 In einem wesentlichen Punkte allerdings gab es eine deutliche Kontinuität zwischen der konservativ-nationalen und der nationalsozialistischen Frankreich-Wahrnehmung in Deutschland: Beide verfuhren prinzipiell antithetisch, d. h. sie faßten die kollektive Identität beider Nationen als Gegensatz auf. Die nationalen Identitätsmerkmale wurden im ersten Fall in kulturmorphologischen Kategorien, im zweiten Fall wesentlich in biologistischen Begriffen (Stammesgeschichte, Rassenlehre und Geopolitik) formuliert. 106 Gegenüber dem auftrumpfenden, durch politischen Zwang vereinheitlichten nationalen Bewußtsein in Hitlers Deutschland befand sich ihr Ansprechpartner in Frankreich, die sogenannte „briandistische Generation“, von Anfang an in einer anderen und schwierigeren Situation. Auch dort wollte man seit Anfang der dreißiger Jahre eine tiefreichende Erneuerung des öffentlichen Lebens, erstrebte diese aber im Rahmen des „nonkonformistischen“ Denkens 107 vorzugsweise in der Abwendung von den nationalen Gewißheiten (der „republikanischen Synthese“) und in der Hinwendung zu übernationalen Zielvorstellungen, in denen die Zusammenarbeit mit Deutschland an der Spitze stand. Diese generationsspezifischen Erneuerungsbestrebungen fanden 1934 ihren programmatischen Ausdruck im „Plan vom 9. Juli“, der (unter tätiger Mitarbeit von Jules Romains) den politisch-moralischen, innen- und außenpolitischen Konsens einer großen Zahl von Jugendverbänden zu formulieren suchte. Nachdem seit Beginn der 1930er Jahre in der französischen Jugend eine wachsende Unruhe und mit ihr ein zunehmendes generationelles Gemeinschaftsbewußtsein entstand, setzten dort politische Sammlungsbestrebungen ein, die unter dem Stichwort der „Einheitsfront der Jugend“ die überkommenen Formen politischer Vergesellschaftung in Frage stellten. So namentlich das Rechts- Links-Schema, die Organisationsform der Partei, die Staatsform der parlamentarischen Demokratie und den Integrationsrahmen des Nationalstaates. 108 Diese organisatorisch zesplitterten Bestrebungen fanden im Jahre 1934 ihren Höhepunkt in den von Jules Romains moderierten Verhandlungen, die zum Plan du 9 juillet führten. In diesem politischen Erneuerungs- 105 Friedrich Bran: „Le pont de Saint-Jean de Losne? “, in: Sohlbergkreis DFM, 1934/ 35, p. 44. 106 Cf. Hans Manfred Bock: „Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 1987, p. 488 sq. 107 Als Standardwerk zum unabgeschlossenen Thema cf. Jean-Louis del Beyle: Les nonconformistes des années 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, Paris 1969. 108 Cf. „Die Generalstände der französischen Jugend“, in: Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, 1934/ 1935, p. 104-109. Zur Vorgeschichte Michel Trebitsch: „Le front commun de la jeunesse intellectuelle. Le ‚Cahier des revendications’ de décembre 1932“, in: Gilbert Merlio (ed.), op. cit., p. 209-228. <?page no="234"?> 234 dokument 109 wurden die konsensfähigen Leitgedanken der nonkonformistischen Jugendgeneration zur programmatischen Synthese gebündelt: Die politisch-moralische Erneuerung der Eliten und der staatlichen Institutionen durch die wirksame Einbeziehung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Repräsentanten, der anciens combattants und der Jugend; die Neuorientierung der Außenpolitik durch die simultane Festigung der nationalen Selbstbehauptung und die friedensichernde Versöhnung mit Deutschland; und die Reform des Wirtschaftslebens durch Elemente der Planung und Regulierung. 110 Die Wortführer des Sohlbergkreises, die mit den Autoren des „Plans vom 9. Juli“ teilweise persönlich bekannt waren, verfolgten und kommentierten die französischen Reformbestrebungen in den DFM eingehend, aber mit Vorbehalten. So begrüßte man das Reformprojekt vom 9. Juli, fand dort jedoch nicht die politischen Gewißheiten, die man für sich selbst in Deutschland in Anspruch nahm: „Ein Versuch, die sich befehdenden jungen Fronten auf ein gemeinsames Aktionsprogramm zu einigen, dessen Schwäche ist, daß es keine zu klaren Definitionen über die einzelnen parlamentarischen, verwaltungstechnischen und wirtschaftlichen Reformpläne bringen kann, da dies die Einheitsfront gefährdet hätte.“ 111 Im Juni 1934 war der damalige Stellvertreter des „Reichsjugendführers“ der NSDAP Karl Nabersberg (1908-1946) nach Paris gefahren und hatte dort das Gespräch mit den Wortführern der Reformbewegung des 9. Juli eingeleitet, das dann im Juli vom Frankreichreferenten der Reichsjugendführung, Otto Abetz, fortgesetzt wurde. 112 Aus diesen Gesprächen entstand im Laufe des Jahres 1934 ein deutsch-französischer Besucherverkehr, in dessen Mittelpunkt der Inspirator des Plan du 9 juillet, Jules Romains, stand und der zur Vorgeschichte der NS-DFG und des CFA gehört. Und zwar vor allem deshalb, weil der Berliner Vortrag von Jules Romains über „Latinität und Germanentum“ vom 12.11.1934 für die Herausgeber der DFM zum legitimatorischen Referenztext ihrer Verständigungsaktivitäten wurde. Der Vortrag kam zustande aufgrund der Einladung durch den Sohlbergkreis und galt als Gegenbesuch zum Paris-Aufenthalt von Nabersberg im Juni 1934. 113 Romains’ Vortrag in der alten Aula der Friedrich-Wilhelm-Universität wurde von uniformierten HJ-Spalieren gerahmt, von Nabersberg und Bran eingeleitet und von Abetz übersetzt. 114 Seine Rede, einer der längsten Texte, die jemals in den DFM veröffentlicht wur- 109 Zur Genese eingehend Olivier Dard: Jean Coutrot. De l’ingénieur au prophète, Paris 1999, p. 149-155. 110 Ibid., p. 155-179. Cf. auch Olivier Rony: Jules Romains ou l’appel au monde, Paris 1993, p. 414-424. 111 Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, 1934/ 1935, p. 43. 112 Ibid., p. 122 „Begegnungen“; er sprach dort am 10. Juni 1935 über „Das Wollen der deutschen Jugend“. 113 Cf. Olivier Rony, op. cit., p. 426 sq. 114 Verlaufsberichte in Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, 1934- 1935, p. 80 sq. „Begegnungen“. Cf. auch Olivier Rony, op. cit., p. 430 sq. <?page no="235"?> 235 den, 115 enthielt eine (rückblickend beurteilt) flagrante Fehleinschätzung des Nationalsozialismus, eine Konzession an den Rassegedanken und ein begriffliches Rahmungsangebot für die Deutung der deutsch-französischen Beziehung in der Langzeitperspektive. Die Fehleinschätzung war die Feststellung, man befinde sich gegenwärtig in einem Entwicklungsstadium des Nationalismus in Europa, der von allen imperialistischen Implikationen gereinigt und somit friedfertig sei. Romains befand, daß „der heutige deutsche Nationalismus nichts gemein hat mit dem Imperialismus“. 116 Die antisystemisch-lebensphilosophischen Anleihen seines Unanimismus bewogen ihn, dem Rassegedanken eine fördernde und stimulierende Funktion für das Gemeinschaftsgefühl zuzuerkennen: Er habe „niemand nötig, der [ihm] sagt, welche berauschenden und fruchtbaren Momente, welche seelische Erhebung und dichterische Gewalt der Rassegedanke birgt.“ 117 Mehr noch als diese Gesten des gedanklichen Entgegenkommens gegenüber seinen Gastgebern wirkte seine Dichotomie „Latinität und Germanentum“ als Bestätigung ihres Denkens in antithetischen Kategorien, die in der Kulturkundebewegung der Weimarer Jahre strukturell vorgeprägt worden waren. Namentlich Abetz und Bran, die eher versierte Organisatoren als selbständige Köpfe waren, griffen das Romainssche Deutungsangebot begierig auf und machten es zur Grundlage für ihre Rechtfertigungsideologie des „internen Nationalismus“, der die ungehemmte Ausbildung der nationalen Eigenart fördere, aber frei sei von internationaler Aggressivität und Herrschsucht. Bran griff Ende 1934 als erster die zentrale historische Metapher von Romains’ Rede auf in seinem Programmaufsatz über „Le pont de Saint-Jean de Losne“ 118 und andere sollten ihm folgen. Die Herausgeber der DFM verfolgten die Entwicklung der französischen „Jugendfront“ mit wachem Interesse und versuchten auch, deren Zeitschrift in Deutschland bekanntzumachen, 119 sahen sich jedoch in ihren Befürchtungen bestätigt, daß der Zusammenhalt des französischen „front commun de la jeunesse“ aufgrund innenpolitischer und ideologischer Konflikte nicht von Dauer sein werde. Das Ergebnis der deutsch-französischen Jugendkontakte in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, die durch scheinbare oder tatsächliche Motiventsprechungen zustande kamen, 120 war in jedem Fall, daß sich gerade 115 Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands (DFM/ CFA), 1934/ 1935, p. 47-63. 116 Ibid., p. 63. 117 Ibid., p. 61. 118 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 45 sq. Cf. dazu auch Michel Grunewald: „Le ‚couple France- Allemagne’ vu par les nazis“, op. cit., p. 114 sq. 119 Olivier Dard: Bertrand de Jouvenel, op. cit., p. 115 sq. 120 Cf. dazu Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen, op. cit., p. 245 sq. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 79 sq. Zu den anderen direkten Kontakt- und Austauschstrukturen zwischen den deutschen und französischen Vertretern der Jugendgeneration in die Revolte cf. die Fallstudien in Thomas Keller: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse, op. cit. und Marieluise Christadler: „Harro Schulze-Boysen oder die ‚Gegenlust des Von-Innen-Heraus-Sprengens’“, in: Manfred Gangl, Gérard Raulet <?page no="236"?> 236 im akademischen Milieu dauerhafte Beziehungen unter Gleichaltrigen knüpften, die die national-sozialistische Vereinnahmung der deutschen und die Reindividualisierung der französischen Protagonisten in der Folgezeit überstanden. Auf dieser Basis konnten die Sohlbergkreis-Blätter dann ab 1936 unter dem neuen Obertitel Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands zum gemeinsamen zweisprachig erscheinenden Publikationsorgan der NS-DFG und des CFA werden. 121 Die Voraussetzungen dieser Jugendgenerations-Gruppen für eine Aktionsgemeinschaft mit den Kriegsveteranenverbänden waren in beiden Ländern durchaus verschieden und folglich durch unterschiedliche Konsensgrundlagen charakterisiert. Die Summe der Überlebenden und Hinterbliebenen der Soldaten des Ersten Weltkrieges machte (für beide Nationen zusammengenommen) mehr als 10 Millionen aus. Soweit sie organisiert waren, hatten sie sich in jedem der beiden Länder in mehreren Verbänden zusammengeschlossen. In Deutschland war der „Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“, der von 1917 bis 1933 existierte, jederzeit in der Weimarer Republik der größte dieser Verbände. 122 Er zählte 1932 knapp 390 000 Mitglieder. Er stand der SPD und den Freien Gewerkschaften nahe und er konkurrierte auf der politischen Linken mit dem kommunistischen „Internationalen Bund“ 123 und auf der Rechten mit drei weiteren Kriegsopferverbänden, von denen der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ vorwiegend ein militärischer Traditionsverein war, der aber ab 1922 auch das Etikett „Deutsche Krieger- Wohlfahrtsgemeinschaft“ herausstellte. Auch in Frankreich, wo Anfang der 1930er Jahre rund 3 Millionen Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte organisiert waren, verteilten sich die Verbände der Anciens Combattants über das politische Spektrum des Landes. 124 Die beiden mitgliederstärksten Verbände, die „Union fédérale des Anciens Combattants“ (UF) und „Union Nationale des Combattants“ (UN), repräsentierten 1932 mit (ed.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/ Main 1994, p. 67-80; Thomas Keller: „Médiateurs personnalistes entre générations non-conformistes en Allemagne et en France: Alexandre Marc et Paul L. Landsberg“, in: Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droite, op. cit., p. 257-274; John Hellmann, Chrsitian Roy: „Le personnalisme et les contacts entre nonconformistes de France et d’Allemagne autour de ‚L’Ordre Nouveau’ et de ‚Gegner’“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 203-251; Jacques Droz: „Les non-conformistes des années 1930 et leurs relations avec l’Allemagne“, in: Helmut Berding u.a. (ed.): Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder, München 1978, p. 439-450. 121 Als Abriß ihrer Geschichte Barbara Unteutsch, op. cit., p. 18-32. 122 Cf. Christian Weiß: „ ‚Soldaten des Friedens’. Die pazifistischen Veteranen und Kriegsopfer des ‚Reichsbundes’ und ihre Kontakte zu den französischen anciens combattants 1919-1933“, op. cit., p. 186 sq. 123 James M. Diehl: „Victors or Victims? Disabled Veterans in the Third Reich“, op. cit., p. 711 sq. 124 Cf. den Überblick Antoine Prost: „Les Anciens Combattants français et l’Allemagne (1933-1938)“, op. cit., p. 131 sq. <?page no="237"?> 237 936 000 bzw. 858 000 Organisierten weit mehr als die Hälfte der Großgruppe der Kriegsbeschädigten. Sie bekannten sich prinzipiell zu den Grundwerten der Republik und fanden den Großteil ihrer Anhänger im Sozialmilieu des Kleingewerbes und des Kleibürgertums (im Falle der UF) und im Bereich der Industrie und der freien Berufe (im Falle der UN). Sie stellten den linken und rechten Flügel der „republikanischen Synthese“ der Dritten Republik dar, die mit Beginn der 1930er Jahre ins Wanken geriet. Während im Deutschland der Weimarer Republik die Landschaft der Kriegsopferverbände gemäß den Trennlinien der politischen Teilkulturen parzelliert blieb, stellte die republikanische Identifizierung der größten Verbände der Anciens Combattants die Basis bereit für die gemeinsame Arbeit für die Friedenssicherung und für ihre Anerkennung als gewichtige Akteure in der politischen Öffentlichkeit. Derjenige Deutsche, der die Kriegsopfervereinigungen beider Länder zu Beginn der 1930er Jahre besser kannte als jeder andere, der Reichsbund-Vertreter Paul Distelbarth, wurde nicht müde, diese Unterschiede zwischen dem französischen und dem deutschen Veteranenverbandswesen zu beschreiben, die sich in Bezug auf deren pazifistischen Konsens und auf ihre politische Bedeutung abzeichneten. 125 Die stärksten Austausch- und Versöhnungsbemühungen wurden in der Locarno-Ära von den Großverbänden der UF und des Reichsbundes getragen. Sie kooperierten und kommunizierten seit 1925 auf internationaler Ebene in der „Conférence internationale des associations de victimes de la guerre et anciens combattants“ (CIAMAC) 126 und auf bilateraler Ebene über ihre führenden Repräsentanten (von deutscher Seite Erich Rossmann und Paul Distelbarth, von französischer Seite vor allem Henri Pichot). Kontaktnahmen auf der unteren Verbandsebene der deutschen und französischen Kriegsopferorganisationen blieben in den Jahren der Weimarer Republik eher seltene Ausnahmen. 127 Hingegen gab es über die Genfer CI- AMAC und über die gastweise Teilnahme an den Kongressen der dort mitarbeitenden Kriegsopferverbände seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Verbindungen zwischen deutschen und französischen Funktionsträgern dieser Organisationen. So z. Bsp. zwischen den sozialdemokratisch orientierten Verbänden des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ 128 und des „Reichsbundes der Kriegsbeschädigten“ einerseits sowie der Union fédéra- 125 Hans Manfred Bock (ed.): Paul H. Distelbarth. Das andere Frankreich, op. cit., p. 223 sq.: „Die Kriegsteilnehmer“. 126 Antoine Prost: Les Anciens Combattants et la société française, op. cit., Bd. 1, p. 103 sq. 127 Besonders die föderalistisch aufgebaute „Union fédérale“ behielt sich dergleichen Initiativen vor. Cf. Paul H. Distelbarth: Lebendiges Frankreich, Berlin 1936, p. 201 sq.: „Die außenpolitische Tätigkeit der Kriegsteilnehmer“. 128 Cf. Karl Rohe: Das Reichsbanner Schwarz, Rot, Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966, p. 151 sq. <?page no="238"?> 238 le andererseits. 129 Über diese deutsch-französischen Kontakte auf der Funktionärsebene der republikanischen Vereinigungen vermittelt, konnte der pazifistische Ex-Offizier Paul Distelbarth Ende 1931 seine Verständigungsarbeit zwischen beiden Ländern beginnen. 130 Fragt man sich nun, aus welchen Gründen und auf welchen Wegen die (lebensweltlich so weit auseinander liegenden) Großgruppen der Jugendorganisationen und der Kriegsveteranen beider Länder seit Mitte 1934 zur strategischen Bündnisgrundlage für die Begegnungsaktivitäten in der NS- DFG und dem CFA werden konnten, so bieten sich mindestens drei Erklärungsansätze an. Zum einen gab es in diesen Sozialmilieus seit der Locarno-Ära gewachsene persönliche Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen, die gleichsam eine individuelle Infrastruktur für politisch gewollte Transaktionen zwischen beiden Nationen bereitstellten. 131 Unter diesem relationalen Aspekt kommen subjektive Charaktermerkmale der transnationalen Akteure in Betracht wie Renegatentum, Opportunismus, Geltungsbedürfnis, die die Aufrichtigkeit der von ihnen geltend gemachten Motive ihres Handelns in Frage stellten. Diese Antriebe sind für das Zustandekommen des strategischen Zweckbündnisses zwischen Jugend- und Kriegsveteranen-Repräsentanten nicht von der Hand zu weisen: Die ersten stellten im Organisationsrahmen DFG-CFA die beweglichen intellektuellen Sinndeuter und die zweiten stellten die interessenpolitisch fixierten Gesellschaftsvertreter, die dem Organisationskonstrukt überhaupt erst ein symbolisches Eigengewicht verliehen. Stärker noch als die individuell beziehungsgeschichtliche Basis für die Entstehung des Zweckbündnisses Jugend-Frontsoldaten war zweifellos die Prägung der damaligen Jugendgeneration durch die politische Kultur des Landes, in dem sie aufwuchsen. Im Deutschland der Weimarer Republik gab es seit etwa 1923 im Rahmen der bündischen Jugendbewegung eine mehrheitlich starke Neigung zum „Soldatentum“, das als „männliche Haltung und freiwillige Zucht“ verstanden wurde, aber nicht als militärisch-aggressive Grundhaltung. 132 Dieser Habitus, der anfänglich auch für die Karlsruher Kerngruppe des Sohlberg-Kreises nachweisbar ist, wurde unter dem Einfluß des Traumas der Kriegsniederlage („Dolchstoßlegende“), der vorgeblichen sozialpolitischen Diskriminierung der Kriegsteilnehmer und des Langemarck-Mythos 129 Auch die Fédération Nationale hatte u.a. dem Reichsbanner-Repräsentanten Karl Mayr die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Karl Rohe, op. cit., p.151. 130 Paul H. Distelbarth: „Erlebnisse mit französischen Frontkämpfern“, in: Deutsch- Französische Rundschau, 1932, p. 362-365. ID.: „Wie ein Reichsbündler in Frankreich aufgenommen wurde“, in: Reichsbund vom 20.6.1932. 131 Den Bedingungen und Wirkungsweisen solcher Netzwerke widmet die aktuelle Relationssoziologie selbständige Aufmerksamkeit. Cf. Hans Manfred Bock: „Kulturelle Netzwerke. Ihre Entstehung und Wirkung im transnationalen Verkehr“, in: Michel Grunewald u.a. (ed.): France-Allemagne au XXe siècle. La production de savoir sur l’autre (vol. 1), Bern, Berlin 2011, p. 201-219. 132 Cf. die klassische Studie dazu in Michael Jovy: Jugendbewegung und Nationalsozialismus, Zusammenhänge und Gegensätze. Versuch einer Klärung, Münster 1984, p. 146 sq. <?page no="239"?> 239 zum mentalen Ausgangspunkt für das neonationalistische Verhalten des größten Teils der Jugendorganisationen ab 1930. 133 Wie bei den Kriegsopferverbänden setzte in den deutschen Jugendorganisationen ab Mitte 1933 ein Prozeß der durch äußeren politischen Zwang oder durch innere politische Resignation verursachten Auflösung und Gleichschaltung der Organisationsstrukturen ein. Diesem Prozeß fiel namentlich der republiktreue „Reichsbund der Kriegsbeschädigten“, der größte der Kriegsopferverbände, zum Opfer. 134 Anders als im Falle der sukzessiven und zwangsweisen Herbeiführung der Bündnisstruktur „Jugend“ und „Frontkämpfer“ in Deutschland verlief dieser Vorgang in Frankreich vergleichsweise geradliniger und kontinuierlicher. Dort gab es zwischen den erst zu Beginn der 1930er Jahre selbstbewußt auftretenden Jugendorganisationen („génération de la crise“) und den Anciens Combattants einen grundsätzlichen pazifistischen Konsens. Der wurde zwar unterschiedlich begründet, lief aber übereinstimmend darauf hinaus, der Friedenssicherung die oberste Priorität einzuräumen und eine entsprechende Deutschlandpolitik zu vertreten. Der unter den hier skizzierten Umständen zustande gekommene und in den Sommermonaten 1934 von Abetz und Nabersberg mit ihren französischen Ansprechpartnern verabredete Bauplan einer gesellschaftlich wirkenden Allianz von Jugend- und Frontkämpfer-Organisationen für den deutsch-französischen Austausch stand im Oktober-November 1934 fest. Er wurde in der Herbstnummer der Sohlberg-Zeitschrift als Programm dokumentiert. Dort stellten Wortführer aus beiden Organisationsbereichen beider Länder ihre Erwartungen dar, die sie in das Projekt investierten. Für die Jugendverständigung kamen zu Worte Otto Abetz und Edouard C. Mardrus (Gründungsmitglied des Sohlbergzirkels), Bertrand de Jouvenel und Karl Nabersberg; für die Kriegsbeschädigtenverbände sprachen: Georges Scapini und Henri Pichot sowie Rudolf Hess und Hanns Oberlindober. Die Zeitschrift führte den Diskurs über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der wechselseitigen Gesellschaftsbeziehungen auf der Basis dieser soziokulturellen Akteure fort in den wiederkehrenden Rubriken „Die Stimme der Jugend“ und „Die Stimme der Frontgeneration“. In der deutsch-französischen Begegnungspraxis erfolgte die Bezugnahme zwischen Repräsentanten der Jugend und der Kriegsteilnehmer während der folgenden Jahre in ritueller Form durch die Ehreneskortierung französischer Veteranendelegationen in Deutschland seitens der Hitlerjugend, durch die Entbietung des „deutschen Grußes“ von Jugendgruppen am Grab des unbekannten Soldaten z. Bsp. unter dem Pariser Triumphbogen oder durch die Reverenz an die Kriegsgeneration der Väter und ihre grenzüberschreitende Versöhnungsbereitschaft in den zahlreichen gemeinsamen Freizeitlagern deutscher und französischer Jugendlicher. Die rituell erstarrte Eigenart dieser intergenerationellen Gemeinschaftsgesten wird sichtbar 133 Ibid., p. 85 sq. 134 James M. Diehl: „Victors or Victimes? “, loc. cit., p. 715 sq. <?page no="240"?> 240 in einem Bericht über eine Reihe von Jugendlagern eines „Deutschfranzösischen Akademikerbundes“ von 1933 bis 1935, dessen französischer Ausgangspunkt Lyon war: „In jedem Lager, war es nun in Frankreich oder Deutschland, wurde am Grabmal des Ortes ein Kranz niedergelegt. Den alten Ententekameraden würde etwas fehlen, wenn dieser einleitende Akt, der mehr geworden ist als eine Geste, einmal ausbliebe.“ 135 Obwohl beide Großgruppen mit demselben Ziel der Intensivierung der zwischenmenschlichen Kontakte und mit einer weitgehend vergleichbaren Symbolsprache angetreten waren, spielten sich die konkreten Begegnungsaktionen fast ausschließlich ab zwischen den deutschen und französischen Jugendlichen und innerhalb des Kriegsveteranenmilieus. 4. Organisatorische Strukturen und Initiativen der NS- DFG und des CFA Die organisatorische Armierung der DFG und des CFA, die die beiden ungleichen Mitgliederkontingente zusammenhalten sollte, war nicht unbedeutend, aber auf der deutschen und französischen Seite ungleich durchsetzungsfähig und wirksam. Sie bestand im wesentlichen aus einem nationalen Organisationsbüro in Berlin und in Paris, aus dem gemeinsamen Periodikum „Deutsch-französische Monatshefte/ Cahiers francoallemands“ und aus bilateralen Jahreskongressen, die einmal in Paris und ein anderes Mal in Baden-Baden stattfanden. Die in der zweiten Jahreshälfte 1935 teilweise hektisch betriebenen Vorbereitungen für die Errichtung einer Begegnungs-, Informations- und Koordinationsstelle der neuen Verständigungsbewegung 136 schlossen die Bemühungen um die Schaffung eines zentralen Sitzes der beiden Dachorganisationen in den beiden Hauptstädten ein. Die Eröffnung eines solchen Zentralortes des wechselseitigen Besucherverkehrs in Paris und in Berlin kam dann erst nach dem ersten öffentlichen Auftreten der DFG und des CFA im Oktober bzw. November 1935 zustande. In Berlin wurde bereits am 1.2.1936 ein solches Haus der DFG im Tiergartenviertel, Hildebrandstraße 22, eingerichtet, das in nicht allzu großer Entfernung vom Sitz des Auswärtigen Amtes und der Dienststelle Ribbentrop in der Wilhelmstraße gelegen war. Die Ausstattung der Villa zu einem repräsentativen Treffpunkt, zu der teilweise Mobiliar aus dem Berliner Stadtschloß Verwendung fand, war dann am 12.6.1936 abgeschlossen. Die „Maison Franco-Allemande“ wurde feierlich eingeweiht. DFG-Präsident Achim von Arnim präsentierte den Gästen das Haus und leitete über zu einem Konzert mit bekannten Virtuosen des Berliner 135 Henning Schlottmann: „Deutsch-Französischer Akademikerbund“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 245 sq. 136 Rita Thalmann: „Du Cercle de Sohlberg au Comité France-Allemagne“, loc. cit., p. 80 sq. <?page no="241"?> 241 Musiklebens. Er begrüßte namentlich den französischen Botschafter André François-Poncet und dessen Gattin sowie 25 Mitglieder des CFA, die aus Paris angereist waren. Als Redner der Pariser Partnerorganisation trat der reputierte Chemiker Ernest Fourneau auf, der den erst seit wenigen Tagen gewählten neuen CFA-Präsidenten Georges Scapini vertrat. Er beschwor den Kultur- und Wissenschaftsaustausch zwischen beiden Nationen, der im 19. Jahrhundert bis 1870 sehr produktiv gewesen sei, und nahm ihn zum Vorbild dessen, was beide Komitees gegenwärtig leisten sollten. Er formulierte sein Credo: „Bei Völkern wie den unsrigen ist es nur nötig, sich gegenseitig zu kennen, um sich auch gegenseitig zu achten. Ich sehe auch die Aufgabe unserer Comités weniger in der Beschäftigung mit der unmittelbaren Tagespolitik, als darin, das Verständnis und das Wissen um die großen wechselseitigen Kulturleistungen unseren Völkern zu vermitteln, wodurch die politischen Beziehungen dann ganz von selbst beeinflußt werden.“ 137 Dieser prozedurale Minimalkonsens, die politischen Beziehungen positiv zu beeinflußen durch die Mobilisierung der „forces vives“ beider Länder, lag auch den Absichtserklärungen des DFG-Präsidenten zugrunde, wenn er ein Jahr später in einem Zeitungsinterview zur Funktion des Hauses in der Hildebrandstraße darlegte: „[…] das Knüpfen menschlicher Bande geht jeder Politik, jedem offiziellen Annäherungsversuch voraus. Wir sehen in unseren Räumen eigentlich jeden bedeutenden Franzosen, der nach Deutschland kommt, und es sind ihrer nicht wenige. Wir haben neuerdings auch Zweigstellen: in Hamburg, in Köln und in Stuttgart - sie alle dienen demselben Ziel: durch geistigen Austausch die Annäherung der beiden Nationen vorzubereiten.“ 138 Auf die Frage des Journalisten, ob denn auch eine analoge Begegnungsstätte in Paris existiere, antwortete von Arnim: „Gewiß: Das CCF, das sich der Billigung der französischen Regierung erfreut und bei dem wir Deutschen auf das herrlichste aufgenommen werden.“ 139 Dies „centre d’acceuil“ und zentrale Versammlungslokal hatte nach einigen provisorischen Stationen im 16. und 7. Arrondissement seit Frühjahr 1937 seinen ständigen Sitz im Viertel der Banken und Versicherungen: 18, rue Vézelay, Paris 8e, 140 in der Nähe des Parc Monceau. Diese Adresse war identisch mit der des Zentralbüros der Union Nationale des Combattants und die deutschen Gäste dort erfuhren, daß die Ausstattung der Räume, die dem CFA zur Verfügung gestellt wurden, vor allem durch Schenkungen wohlhabender Mitglieder ermöglicht worden war. Die Zielsetzung dieser Vereinigung (die sozialgeschichtlich nach der Ligue d’Etudes Germaniques den ersten verständigungspolitischen Organisationsrahmen für die Beziehungen zu Deutsch- 137 Ernest Fourneau: „Verständigung durch Wissenschaft“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 250. 138 Der Silberspiegel, 1937, Nr. 10, p. 426: „Interview“. 139 Ibid., p. 140 Cf. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 133. <?page no="242"?> 242 land darstellte) wurde von ihrem ersten Präsidenten mit ähnlichen Begriffen formuliert, wie sie der Vorstand der NS-DFG in programmatischer Absicht benutzt hatte. In einem Interview vom 26. November 1935 umriß er diese Zielsetzung: „Nous comptons, nous souhaitons associer à cette action toutes les bonnes volontés, à quelque parti qu’elles appartiennent, et faire ainsi œuvre française. Nous n’envisageons pas cette action comme une tentative de rapprochement politique, mais de pays à pays. Dans chaque nation ou peut être foncièrement patriote, sans pour cela rester fermé à toute compréhension extérieure. Si l’on veut qu’il existe une chaîne solide entre les peuples, il importe que tout d’abord les maillons en soient eux-mêmes solides.“ Er zitierte zur Bekräftigung der Absichten des CFA dessen Satzung, die 14 Tage vorher u.a. unter Mitarbeit der beiden Sorbonne- Professoren Henri Lichtenberger und Edmond Vermeil ausgearbeitet worden war: „Favoriser le développement des rapports privés et publics entre la France et l’Allemagne dans tous les domaines et plus spécialement au point de vue intellectuel, scientifique, économique, artistique et sportif, afin de contribuer par une meilleure compréhension réciproque à la consolidation de la paix européenne.“ 141 In der praktischen Umsetzung dieses vorpolitischen Programms war der Zentralsitz der DFG in Berlin (gemessen an der Zahl deutsch-französischer Begegnungen) ungleich effektiver als das CFA-Büro in der Pariser rue de Vézelay. Das kann man ablesen an den Veranstaltungsberichten über die beiden Zentralen, die in den Deutsch-Französischen Monatsheften/ Cahiers franco-allemands fortlaufend erschienen. Mit Beginn des 3. Jahrgangs der Sohlberghefte übernahm die NS-DFG 1936 die Zeitschrift: „Von der jungen Generation ins Leben gerufen, von der Frontkämpferbewegung tatkräftig gefördert, allen lebendigen Kräften beider Völker eng verbunden, durften die Deutsch-Französischen Monatshefte schon immer jene Männer zu ihren Mitarbeitern zählen, welche in diesen Tagen die Deutsch-Französische Gesellschaft in Berlin und das Comité France-Allemagne in Paris gegründet haben.“ 142 Die Zeitschrift blieb beim selben Verlag (G. Braun in Karlsruhe), verlegte aber ihre Redaktion nach Berlin (Sigismundstraße 4a und dann in die Hildebrandstraße) und auch der „Schriftleiter“, Friedrich Bran (1904- 1994), der bislang und künftig das Editorial schrieb, setzte seine Arbeit fort. Bran, dessen Familie (Mit-) Eigentümer des Verlags in Karlsruhe war, 143 bediente sich öfters und unumwundener als Abetz des NS-Jargons. Er versprach sich von der Anbindung des Periodikums an die beiden Organisationen, daß sich der Mitarbeiterkreis nunmehr von Monat zu Monat erweitern werde und daß „wir aus Deutschland und aus Frankreich ein immer reichhaltigeres Material zur Darstellung und Erklärung des völki- 141 „Le commandant L’Hôpital nous parle du Comité France-Allemagne“, in: Le Journal vom 27.11.1935. Der vollständige Text der Satzung war bislang nicht auffindbar. 142 Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, 1936, p. 1. 143 Barbara Unteutsch: „Dr. Friedrich Bran. Mittler in Abetz’ Schatten“, loc. cit., p. 88 sq. <?page no="243"?> 243 schen Lebens diesseits und jenseits der Grenzen erhalten.“ 144 Diese Erwartung wurde offensichtlich nicht erfüllt und der Kreis der Mitarbeiter blieb vor allem begrenzt auf die Protagonisten der Jugendgeneration beider Länder (die Autoren der französischen Selbstkritik an der Republik wie Brasillach, de Jouvenel, Drieu La Rochelle und diejenigen Jungintellektuellen, die ihr politisches Veränderungsbegehren durch den Nationalsozialismus erfüllt sahen (de Châteaubriant)). Diesem Autorenstamm schlossen sich an die Vordenker und Wortführer des Organisationslebens der DFG und des CFA, deren Reden aus Anlaß von bilateralen Treffen Aufnahme fanden in die DFM; unter ihnen auch führende Vertreter der Frontsoldaten (die nun nicht mehr „Kriegsopfer“ hießen) und der Anciens Combattants. Die Herausgeber hielten sich (insbesondere im historischen Rückblick auf die Zeitschrift 145 ) zugute, einen gewissen „Pluralismus“ zugelassen zu haben, der praktisch allerdings einen restringierten Charakter hatte und ein Bekenntnis zur Demokratie bzw. Republik ausschloß. Eine redaktionelle Eigenart der DFM bestand seit 1936 darin, daß die Beiträge, von denen man wollte oder hoffte, daß die Leser der jeweils anderen Nation sie lasen, in die Sprache des Nachbarlandes übersetzt wurden: „Um zu den werktätigen Schichten zu sprechen, wird unsere Zeitschrift auch im neuen Jahrgang die deutschen Beiträge auf Französisch und die französischen auf Deutsch wiedergeben.“ 146 Das wurde damit begründet, „daß auch der fremden Sprache nicht mächtige Volksgenossen und ausländische Freunde ihre Kenntnisse vom Nachbarland erweitern können.“ 147 Tatsächlich war dies jedoch auch ein relativ sicherer Weg, nationalsozialistische Vorstellungen und Parolen in Frankreich direkt zugänglich zu machen, während man von den CFA-Autoren keine republikanische Konterbande für die deutschen Leser zu befürchten hatte. 148 Ein ansprechendes Mittel für die Aufmerksamkeit der Leser waren ganzseitige Schwarz-Weiß-Fotographien mit Szenen aus dem gewerblichen Alltagsleben beider Länder, die ein Novum in der Geschichte der deutsch-französischen Periodika darstellten. Die kaum beweiskräftig zu beantwortende Frage ist allerdings, ob die Zeitschrift überhaupt einen hinreichend großen Leserkreis in Frankreich fand außerhalb des intellektuellen Adressatenzirkels der Jugendgeneration. Die CFA-Mitglieder aus dem Milieu der Anciens Combattants, wohl doch die engere Zielgruppe für die übersetzten Texte nationalsozialistischen Inhalts, hatten ihr eigenes verzweigtes Pressesystem und waren vermittels der 144 DFM/ CFA, 1936, p. 3. 145 Z. Bsp. Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 60-74: „Deutsch-Französische Gesellschaft und Comité France-Allemagne“. 146 DFM/ CFA, 1936, p. 3. 147 Ibid. 148 Zu den belletristischen Repräsetanten und Fürsprechern des CFA cf. neuerdings: Sebastian Liebold: Kollaboration des Geistes. Deutsche und französische Rechtsintellektuelle 1933-1940, Berlin 2012. Barbara Berzel: Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus, Tübingen 2012. <?page no="244"?> 244 DFM eher schwierig zu erreichen. Das prätentiöse Ziel der DFM- Herausgeber, das „Nachbarvolk vor allem dort [zu] zeigen, wo man es in seinem wahren Wesen kennenlernt, bei der Arbeit“ 149 , wurde niemals eingeholt und blieb eine populistische Rechtfertigungsfloskel. Gleichwohl war die Tatsache, daß das einzige zentrale Presseorgan der NS-DFG und des CFA in deutscher Regie erschien, ein strategischer Vorteil für die deutschen Interaktionspartner (der zum Anknüpfungspunkt vieler späterer französischer Legenden über das Propagandapotential dieser Zeitschrift wurde). Teilweise wirkungsmächtiger als der versuchte transnationale Brückenschlag vermittels eines Periodikums mit begrenzter Reichweite waren die verschiedenen Formen persönlicher Begegnung, die im Rahmen von DFG und CFA geschaffen wurden. Dazu gehörten auch die bilateralen Kongresse, die von den Führungsmannschaften beider Organisationen einberufen wurden. Sie waren (sozialgeschichtlich gesehen) eine Premiere in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen, weil sie (anders als die exklusiven Tagungen des Deutsch-Französischen Studienkomitees 150 ) vorgeblich breiteren Schichten der Bevölkerung beider Länder zugänglich sein sollten. Die nähere Betrachtung dieses (nach den zentralen Organisationsbüros und der gemeinsamen Zeitschrift) dritten Vehikels koordinierter Handlungsabsichten von NS-DFG und CFA lässt jedoch Zweifel zu an der Zweckdienlichkeit dieser deutsch-französischen Treffen für das intendierte gegenseitige bessere Kennen- und Verstehenlernen. Als Vorspiel für die kurze Abfolge von bilateralen Kongressen, die dem wechselseitigen Kennenlernen und der beiderseitigen nationalpolitischen Selbstdarstellung gleichermaßen dienen sollten, kann der Vortrag von Jules Romains in der Berliner Universität vom November 1934 gesehen werden, den der antiintellektuell-rassistische Erziehungswissenschaftler Alfred Baeumler (1887- 1968) mit seinen Betrachtungen „La dialectique de l’Europe“ beantwortete. 151 Da das Jahr 1936 ganz im Zeichen der Winter-Olympiade (6.-16. Februar 1936) sowie der Sommer-Olympiade in Deutschland (1.-16. August 1936) stand, die den Begegnungskalender der DFG- und CFA-Repräsentanten diktierten, und da bis Mitte des Jahres die beiderseitigen Verbandsaktivitäten noch nicht eingespielt waren, fand der erste offizielle Kongreß beider Organisationen erst im Juni 1937 statt. Und zwar in Verbindung mit der Pariser Weltausstellung, die vom 25. Mai bis 25. November in der französischen Hauptstadt stattfand. Die nächste gemeinsame Spitzenveranstaltung kam im Juni 1938 zustande und wurde in Baden-Baden abgehalten. Aufgrund der außenpolitischen Provokationen des Hitler-Regimes, die im Mai 1939 faktisch zur Auflösung des CFA führten, war der in Baden- Baden vereinbarte, nächste deutsch-französische Kongreß, der dem Thema 149 DFM/ CFA, 1936, p. 2. 150 Cf. Kap. VIII dieses Buches. 151 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 64-69. <?page no="245"?> 245 „Individuum - Masse, Persönlichkeit - Gemeinschaft“ gewidmet sein sollte, 152 dann nicht mehr durchführbar. Die vergleichende Analyse der drei bilateralen Kongresse von 1934, 1937 und 1938 führt zu dem zwingenden Eindruck, daß die dort vorgetragenen Überlegungen in der Summe nicht der Kooperation bei der Lösung gemeinsamer Probleme, sondern der Konfrontation unvereinbarer Handlungsmaximen verpflichtet waren, und zwar auch dann, wenn Konzessionen an die Denkweise der anderen Seite erkennbar sind. Diese Aporie national-konservativer Verständigungsbemühungen wurde bereits in der Berliner Kontroverse zwischen Romains und Baeumler im November 1934 offensichtlich. Während der französische Gastredner den Mythos Karls des Großen beschwor, berief sich der Institutsleiter „für politische Pädagogik“ der Berliner Universität auf Otto den Großen als Schlüsselgestalt deutscher nationaler Identitätsstiftung: „L’Europe n’est pas un prolongement de l’‚Impérium Romanum’ vers le nord mais après le prélude carolingien, l’Europe naît et s’épanouit sous la forme d’une communauté solidement fondée par la force germanique.“ 153 Auf die schlichteste Formel gebracht, resümierten die DFM die öffentliche Kontroverse: „Der geschichtlichen Auffassung von Romains setzte Baeumler das neue deutsche Geschichtsbild entgegen: wir fühlen uns dem Griechentum ohne Vermittlung des Lateinischen verbunden und haben im Gefolgschaftssystem unserer germanischen Tradition eine Kraft, die im richtigen Ausgleich mit der Latinität Europa bildet.“ 154 Der Eindruck, daß die Kongreßforen der DFG/ CFA von deutscher Seite mit völkischen Fanatikern beschickt wurden und von der französischen Seite mit Intellektuellen literarischer oder wissenschaftlicher Reputation, wird durch die beiden deutsch-französischen Tagungen im Juni 1937 und 1938 bestätigt. 155 Während der ersten offiziellen „Journées d’études“, die am Rande der Weltausstellung in Paris vom 23.-26. Juni 1937 stattfanden, wiederholte sich die Konstellation der Hauptredner zu den kulturideologischen Fragen: Dem ersten Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Hans Friedrich Blunck (1888-1961), also einem hohen Funktionsträger des NS-Regimes, stand der führende Repräsentant der Sorbonne-Germanistik Henri Lichtenberger (1864-1941) 152 DFM/ CFA, 1939, p. 4. Die Begründung für die Themenwahl hieß: „Das kulturelle Erbe und die kulturelle Zukunft Europas sind auch 1939 der Ausgangspunkt und das Ziel unserer deutsch-französischen Arbeit. Nach den schweren Erschütterungen des Weltkrieges, nach den Versuchen der Nachkriegszeit, dem Kontinent eine Stabilität zu geben, die aber daran scheitern mußten, daß sie den Realitäten widersprachen, sucht Europa heute eine neue und bessere soziale, wirtschaftliche und politische Struktur. Das Problem Individuum - Masse, Persönlichkeit - Gemeinschaft ist nicht nur im Rahmen der einzelnen Nationen, sondern in der europäischen Völkerfamilie insgesamt gestellt.“ Ibid., p. 3 sq. 153 Alfred Baeumler: „La dialectique de l’Europe“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 69. 154 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 80: „Jules Romains in Berlin“, Zitat p. 81. 155 Zu deren Ablauf und Programm cf. auch die knappe Darstellung bei Barbara Unteutsch, op. cit., p. 130-144. <?page no="246"?> 246 gegenüber. Beide sprachen zum selben Thema, den „kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich“. In der Art, wie sie ihr Thema auffaßten, wird abermals deutlich, daß in den Gesprächen sich weder eine Annäherung des geschichtspolitischen Diskurses, noch eine Übereinstimmung der verständigungspolitischen Handlungsabsichten abzeichnete. Blunck, der norddeutsche Exponent völkisch-nationalistischer Literatur, entfaltete sein Thema als eine Abfolge von Wellen kulturgeschichtlicher Über- und Unterordnung in den wechselseitigen deutsch-französischen Kulturbeziehungen vom Mittelalter bis zum Naturalismus, in denen jeweils die eine oder die andere Nation die Transfervorgänge beherrschte. Dieser Austausch zwischen den nationalen Volkskulturen war für ihn unter der Voraussetzung wünschenswert, daß er nicht in der Form der blinden Abhängigkeit oder Nachahmung stattfand, sondern nach Maßgabe der Gesetze, nach denen die jeweils rezipierende Nation angetreten sei: „Nous demandons que les arts s’enracinent dans leur propre nation et qu’ils brillent en tant qu’expression de cette nation-même, mais en même temps nous savons fort bien que dans leurs plus grandes créations ils sont le bien commun de tous les peuples et qu’ils étendent bien loin au-dessus des frontières leurs ombres rafraîchissants. Ce que nous refusons c’est l’imitation servile de l’art du voisin. Une telle imitation est pour nous une contradiction à la vocation que la création nous adresse, elle est une transgression des lois divines qui nous exhortent à une œuvre courageuse et brave.“ 156 Der Vortrag von Henri Lichtenberger war im Gegensatz zu Bluncks Beschwörung eines essentialistischen Nationenbegriffs, die zu teilweise parareligiösen Metaphern griff, prinzipiell kritisch angelegt. Er vertrat eine gleichsam relativistische Nationauffassung, die ihren Ursprung in seinem rechtsrepublikanisch-pazifistischen Engagement hatte, 157 indem er die gängigen national-kulturellen Identitätszuschreibungen Revue passieren ließ und auf ihre Stichhaltigkeit hin befragte. Seine prüfende Befragung der nationalidentitären Diskurselemente (für die Blunck eine Probe geliefert hatte) kam zu dem Schluß: „Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin zu empfinden, daß Franzosen und Deutsche trotz allem Unterschied, der das Germanentum vom westlichen Geist trennt, keine verschiedengearteten Wesen und nicht einem gewissermaßen biologischen ewigen Gegensatz ausgesetzt sind, sondern daß eine breite gemeinsame Grundlage besteht, daß gleiche Eigenschaften, in verschiedenen Stärken vermischt, zweifellos Unterschiedlichkeiten herbeigeführt haben, daß man aber, wenn man auf den Grund der Sache geht, feststellen kann, daß nichts Deutsches den Franzosen vollkommen fremd und umgekehrt nichts Französisches 156 DFM/ CFA, 1937, p. 227 sq. 157 Cf. dazu auch die Rolle, die er im Zusammenhang mit der Carnegie-Stiftung und mit Thomas Manns Paris-Besuch im Januar 1926 spielte, in meiner Studie: „Bußgang zu den ‚Zivilisationsliteraten’? Zu Thomas Manns Paris-Aufenthalt im Januar 1926“, in: Bock: Topographie deutscher Kulturvertretung in Paris, op. cit., p. 61-95. <?page no="247"?> 247 dem Deutschen nicht verständlich ist.“ 158 Lichtenbergers Absage an Bluncks völkischen Nationalismus wurde ergänzt durch sein beiläufiges Bekenntnis zu der deutschen Literatur der Weimarer Republik, die von den Nationalsozialisten pauschal als „kulturbolschewistisch“ verdammt wurde. 159 Lichtenbergers implizite Kritik, die er in der ihm eigenen verbindlichen Art vortrug, war motiviert durch die Sorge, daß eine ungehinderte Steigerung der Konflikte zwischen Deutschen und Franzosen zum Krieg führen und die Weltgültigkeit beider Nationalkulturen sowie Europas vernichten werde: „Nur dann [im Falle der wechselseitigen Empathie, H.M.B.] wird sich auf der Grundlage einer absoluten gegenseitigen Achtung eine aufrichtige geistige Annäherung zwischen beiden Nationen vollziehen zwischen den beiden Völkern, die beständig voneinander gelernt haben, die beide eine ruhmvolle Vergangenheit kennen, deren Verwandtschaft durch eine oft jahrhundertealte Erfahrung bezeugt wird und deren Unstimmigkeiten, wenn sie andauern sollten, zweifellos zum Untergang beider Nationen, Europas und der ganzen abendländischen Kultur führen würden.“ 160 Der Sorbonne-Germanist setzte seine Hoffnungen auf die Behauptungsfähigkeit der besseren nationalen Traditionen Deutschlands, die er in Goethe verkörpert sah und denen er sein letztes großes Werk widmete. 161 Er trat noch auf der Gründungsversammlung der „Deutsch-Französischen Gesellschaft Ostmark“ am 16. Feb. 1939 in Wien auf mit seinen verständigungspolitischen Thesen, die sich auf die kosmopolitischen Traditionen beider Länder gründeten. 162 Auch beim DFG/ CFA-Kongreß vom 20.-24. Juni 1938, der in Baden-Baden stattfand, standen die Fragen der Nationalkultur beider Länder und ihrer wechselseitigen Beziehungen im Mittelpunkt des Programms, das im Vergleich zu der Pariser Tagung vom Juni 1937 thematisch breiter angelegt war. 163 Abermals wurde in den beiden Parallelvorträgen des stammesgeschichtlichen Germanisten Josef Nadler (1884-1963) und des Académicien und CFA-Ehrenkomitee-Mitglieds Pierre Benoît zum Thema „Zeitgeschehen im neueren deutschen Schrifttum“ bzw. „Das Zeitgeschehen im Spiegel des französischen Schrifttums“ die Problematik der divergierenden nationalkulturellen Selbstverständlichkeiten und ihrer historischen und zukünftig möglichen Berührungspunkte verhandelt. 164 Dabei nahmen die kulturgeschichtlichen Ausführungen wiederum fast die ganze Redezeit in Anspruch und die gemeinsamen möglichen Zukunftsperspektiven wurden kaum angesprochen. Aufgrund dieser konstitutiven Unfähigkeit der Vertreter einer national-konservativen Verständigungskonzep- 158 DFM/ CFA, 1937, p. 245. 159 Ibid., p. 239. 160 Ibid., p. 245. 161 Henri Lichtenberger: Goethe. La personnalité, le savant, l’artiste. Histoire, métaphysique et religion, Paris 1937 und 1939, 2 Bde. 162 DFM/ CFA, 1939, p. 148. 163 Cf. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 138 sq. 164 Cf. DFM/ CFA, 1938, p. 249-262 und p. 263-274. <?page no="248"?> 248 tion fand auf den DFG/ CFA-Kongressen kein „Dialog“ statt (wie die Organisatoren dieser Tagungen es erwarteten 165 ), sondern überwiegend eine Art nationalkulturellen Schaulaufens ohne gemeinsame Richtungsabsprache. Da zudem die Öffentlichkeitswirkung der beiden DFG/ CFA-Kongresse begrenzt war, 166 wird man auch dieses organisatorische Instrument bilateralen Verkehrs nicht überbewerten dürfen. 5. Begegnungsformen der Frontkämpferorganisationen Mit den drei Integrationsrahmen (nationale Zentralsitze in Berlin und Paris, gemeinsame Zeitschrift und Jahreskongresse) ist die Organisationsstruktur der DFG/ CFA allerdings nicht hinreichend dargestellt. Die gesellschaftliche Dynamik und Breitenwirkung der beiden Austausch-Vereinigungen der späten 1930er Jahre beruhte stärker auf der Initiativkraft der in ihnen zusammengekommenen Großgruppen der Kriegsopfer/ Frontsoldaten und der Jugendvertreter als auf den statutarisch definierten Komponenten ihres Organisationslebens. Vielgestaltiger und initiativfreudiger als etwa die Regionaleinheiten von DFG und CFA verhielten sich die lebensweltlich konstituierten Gruppen der Kriegsveteranen und Jugendlichen, die in weitgehend selbstgeleiteten Aktionen den Besuchs- und Austauschverkehr zwischen beiden Nationen gestalteten. Die Grenzen der Eigeninitiative dieser Gruppe wurden - zumal in Deutschland - gesetzt durch die Abhängigkeit von öffentlichen Ressourcen, deren Verteilung von der staatlichen Verwaltung, den nationalsozialistischen Parteigliederungen oder der eigenen DFGbzw. CFA-Organisation abhing. Das war namentlich der Fall bei der Regulierung der größeren Besucherströme über die deutsch-französische Grenze hinweg, wie sie anläßlich der Olympiade 1936 in Deutschland und der Weltausstellung 1937 in Paris auftraten. Generell ist feststellbar, daß die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 für die in der Locarno-Ära geknüpften zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen erst einmal keine radikale Zäsur bedeutete. Das änderte sich bald in den folgenden Monaten aufgrund der Expatriierung der maßgeblichen Personen der Locarno-Jahre, der restriktiven Handhabung der Visa-Erteilung und der Devisenbewirtschaftung durch das NS-Regime. 167 Am deutlichsten waren die Kontinuitätslinien über die Machtergreifung hinaus im kulturellen Bereich, soweit dieser mit kommerziellen und mit Unterhaltungs-Interessen ver- 165 Walter Franke: „Les Journées d’Etudes franco-allemandes“, in: DFM/ CFA, 1937, p. 221. 166 Barbara Unteutsch, op. cit., p. 140 notiert zur Pariser Tagung 1937, sie habe gleichsam in der „Abgeschiedenheit der Experten“ stattgefunden; der Baden-Badener Kongreß sei dem breiten Publikum und der Staatsbzw. Parteiprominenz zugänglich gewesen. 167 Cf. Hans Manfred Bock: „Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit“, in: ID.: Topographie deutscher Kulturvertretung, op. cit., p. 249-267. <?page no="249"?> 249 bunden war. Dergleichen kulturindustrielle Interessen, die eng mit den medientechnologischen Neuerungen des Radios und des Films verknüpft waren, gab es seit den späten 1920er Jahren zwischen beiden Nationen in der gemeinsamen Filmproduktion, im Musikbetrieb (vorzugs-weise in Richtung Deutschland-Frankreich), im Literaturimport (vorzugsweise in Richtung Frankreich-Deutschland) und im Sportleben beider Länder, in dem die französischen Sportler im Rugby weit überlegen waren, während die Deutschen die meisten Fußballspiele gewannen. 168 Von den Nationalsozialisten wurden vor allem die massenwirksamsten Begegnungsausschnitte wie der Sport und der Film politisch instrumentalisiert. Im Falle des von Goebbels finanzierten Olympia-Films von Leni Riefenstahl (1902- 2003) deckten sich beide Interaktionsbereiche und die Cineastin hielt 1938/ 39 in Paris Vorträge vor vollen Sälen. Sie war 1938 Referentin auf dem 2. DFG/ CFA-Kongreß in Baden-Baden zum Thema „Der Dokumenatarfilm als Kunstwerk“, 169 einem Thema, das im Verbandsorgan mehrfach abgehandelt wurde. Leni Riefenstahl erhielt 1939 eine hohe Auszeichnung des französischen Staates, so wie Wilhelm Furtwängler im Februar 1939 mit dem Kommandeurskreuz der Ehrenlegion dekoriert wurde. 170 Diese kommerziell und politisch gleichermaßen relevanten massenkulturellen Austauschsektoren von 1933 bis 1939 bedürfen einer eingehenderen Untersuchung. Sie waren in mehrfacher Weise mit den Aktivitäten der DFG/ CFA verquickt. Sei es, daß die DFG/ CFA z. Bsp. die Erörterung der Filmproduktion mit einer wiederkehrenden Rubrik „Film und Theater“ förderte, 171 sei es, daß sie die Helden und Manager dieser Transaktionsbereiche in ihrer Zeitschrift in Szene setzte. So etwa im Bericht von Leni Riefenstahls Paris-Besuch vom 21. Januar 1939: „Abel Bonnard von der Académie Française stellte die deutsche Künstlerin vor, und Leni Riefenstahl wußte, das sehr aufmerksame Publikum durch einen Vortrag und durch ausgewählte Vorführungen aus ihrem Filmschaffen bis zur letzten Minute zu fesseln. Besonderen Beifall fanden die Szenen aus den in Paris noch unbekannten Filmen, ‚Das blaue Licht’, ‚Der Sieg des Glaubens’ und ‚Triumph des Willens’. - Tags darauf gab das Comité France-Allemagne zu Ehren Leni Riefenstahls ein Essen, an welchem der deutsche Botschafter Graf Welczeck, der berühmte Kampfflieger Fonck sowie eine Anzahl füh- 168 Hans Manfred Bock: „Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära“, in: ID./ Ilja Mieck (ed.): Berlin-Paris (1900-1933). Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich, Bern 2005, p. 15-68; dort p. 24 sq. (Musik), p. 27 sq. (Literatur und Theater), p. 34 sq. (Film), p. 36 sq. (Sport). 169 Auch hier wieder nach dem Prinzip der Parallelreferate zu einem Thema. Cf. „Film und Theater in Frankreich“, und p. 290 sq. Leni Riefenstahl, „Der Dokumentarfilm als Kunstwerk“. Am 1. Juli 1938 fand im Théâtre des Champs Elysées die französische Uraufführung des ersten Teils des Olympia-Films von Riefenstahl statt. DFM/ CFA, 1938, p. 407. 170 DFM/ CFA, 1939, p. 191. 171 Cf. z. Bsp. DFM/ CFA 1936, p. 311 sq; DFM/ CFA 1939, p. 311 sq. und 411 sq. <?page no="250"?> 250 render Persönlichkeiten des Pariser politischen und kulturellen Lebens teilnahmen. Auch die französische Presse nahm an dem Pariser Vortrag Leni Riefenstahls sehr lebhaften Anteil.“ 172 Wenn sich die DFG/ CFA bei dergleichen Anlässen an spektakuläre Auftritte des gesellschaftlichkulturellen Lebens gleichsam anhängte, so waren die deutsch-französischen Unternehmungen, die von den Kriegsveteranenverbänden und Jugendorganisationen getragen wurden, unmittelbarer an ihren Organisationsrahmen gebunden. Die Eigenart dieser nicht von ihr generierten, aber politisch protegierten Transaktionen zwischen den deutschen und französischen Zugehörigen dieser beiden Großgruppen tritt in der genaueren Betrachtung ihrer Fallbeispiele überaus klar hervor. Es wird auch erkennbar, daß der Transaktionsmodus (die Interaktions-Anlässe, -Abläufe und -Ziele) in jedem der beiden Bereiche spezifische Züge aufwies. Die Begegnungs-aktivitäten zwischen deutschen und französischen Kriegsopferbzw. Frontkämpfer- Repräsentanten entstanden aus dem Delegations- und Besucher-Austausch zwischen der Union fédérale und der Union nationale der französischen Anciens Combattants sowie dem Reichsbund der Kriegsbeschädigten und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in den späten 1920er Jahren. Die früheste Kontaktnahme wurde wenige Wochen vor den Locarno-Verträgen im September 1925 durch den internationalen Kongreß der Kriegsteilnehmerverbände in Genf ermöglicht, auf dem Erich Rossmann den Reichsbund vertrat. 173 Infolge verbandsinterner Konflikte der internationalen Kriegsteilnehmerorganisation 174 und der gewaltsamen Revisionspolitik Hitlers erlitt die so eingeleitete Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Frontkämpfer-Vereinigungen im Mai 1938 einen entscheidenden Bruch. 175 In der dazwischen liegenden Zeitspanne wurden die ehemaligen Frontkämpfer beider Länder zu den stärksten Motoren der deutsch-französischen Begegnungsinitiativen. Die Motive für das Eintreten zugunsten bilateraler Verständigung und Friedenssicherung, die von beiden Seiten angeführt wurden, blieben sich in dieser Zeit im wesentlichen gleich und waren schon vor der Gründung der DFG/ CFA ausformuliert. So wurden z. Bsp. in den Programmtexten für die Zusammenarbeit der Frontkämpferverbände mit den Jugendorganisationen vom Herbst 1934, die von den Sprechern beider Interaktionsbereiche beider Nationen vorgelegt wurden, die wesentlichen Argumente für die Notwendigkeit der Friedenssicherung vorgetragen. So unterschiedliche Personen wie Georges Scapini und Henri Pichot auf der einen Seite, sowie Rudolf Hess und Hanns Oberlindober auf 172 DFM/ CFA, 1939, p. 117. Der Vortrag fand in der Pariser „Vortragsgemeinschaft“ Rive Gauche statt. Diese war ein Stützpunkt der DFG/ CFA-Begegnungen. Sie war ins Leben gerufen worden von Henri Jamet, einem Buchhändler im Quartier latin, der eng zusammenarbeitete mit den Initiatoren der beiden Organisationen. 173 Antoine Prost: Les anciens combattants et la société française, op. cit., Bd. I, p. 104. 174 Cf. ibid., p. 184: „La fin des illusions.“ 175 Ibid. <?page no="251"?> 251 der anderen Seite stellten übereinstimmend das Grauen und die Zerstörungskraft moderner Kriegsführung dar. 176 Sie wiesen sich als Augenzeugen dieses Geschehens von 1914 bis 1918 aus und leiteten aus dieser Kriegserfahrung am eigenen Leibe die Berechtigung ab, als Mahner für die Friedenssicherung aufzutreten. Allerdings hätte die heftige Diskriminierung der republiktreuen Pazifisten in Deutschland in Hess’ Beitrag die französischen Mitstreiter hellhörig werden lassen können. Der Hitler- Stellvertreter hatte argumentiert, erst nach der Ausschaltung der „vaterlandsverräterischen“ Pazifisten durch das neue politische Regime habe er sich als Friedensfreund öffentlich bekennen können: „Autrefois ma voix se fût mêlée en Allemagne avec les voix des traîtres de la nation, avec la voix de ceux qui attaquèrent jadis les combattants allemands dans le dos.“ 177 Was an dergleichen Argumenten zweifelhaft oder unglaubwürdig war, wurde in den DFM/ CFA-Beiträgen deutscher Autoren der Jahre 1934 bis 1939 überdeckt mit zahllosen Versicherungen der „Aufrichtigkeit“ und „Ehrlichkeit“ des eigenen Wollens. Diese moralische Disposition für den Friedenswillen im deutsch-französischen Verhältnis wird man bei vielen Teilnehmern an den entsprechenden Kriegsteilnehmer-Veranstaltungen eher begründet vermuten können als bei der Mehrzahl ihrer Wortführer. Auch in Frankreich waren nicht alle Anciens Combattants, die an den Friedensbekundungen teilnahmen, geistig verblendet oder moralisch korrumpiert. Abgesehen davon, daß sich hier im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland der organisierte Pazifismus ungebrochen behaupten konnte, spielte gerade bei einigen ihrer Protagonisten die Überzeugung eine Rolle, daß sich auf Dauer eine Regierung nicht gegen den Willen des Volkes durchsetzen könne. Und da ihnen im deutschen Kriegsteilnehmer-Milieu eine ähnliche private Interessenlage und Wertorientierung entgegentrat, wie sie sie in Frankreich kannten, sahen sie sich gehalten, den möglichen Einfluß des Friedenswillens ihrer Gesprächspartner jenseits des Rheins höher zu veranschlagen, als dies angemessen war. Exemplarisch wird diese Einstellung auch im Falle von Henri Pichot erkennbar, der in seinem Freund Paul Distelbarth (welcher immerhin vor dem Hitler-Regime in Frankreich Zuflucht gesucht hatte) den authentischen Repräsentanten des friedenswilligen deutschen Volkes sah, das als Garant der Verständigung aufgefaßt wurde. 178 In welchen weitgehend ritualisierten Formen das wechselseitige Kennen-, Verstehen- und Verständigen-Lernen in den Kriegsteilnehmerverbänden praktisch eingeübt werden sollte, kann illustriert werden an einigen Großveranstaltungen der Veteranenorganisationen. 176 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 17 sq., „Die Stimmen der Frontgeneration“, „La voix de la génération du feu“. 177 Ibid., p. 19. 178 Cf. das Vorwort von Henri Pichot: „Dem deutschen Leser“, in: Paul Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 5-7. Zu der schrittweisen Desillusionierung der Anciens Combattants cf. auch Antoine Prost, op. cit., Bd. I, p. 185 sq. <?page no="252"?> 252 Das Spezifikum dieser Begegnungspraxis war der Kult der großen Zahl. Während die anderen deutsch-französischen Gruppenreisen der Zwischenkriegszeit jeweils nur selten mehr als 100 Teilnehmer zählten, 179 planten die Kriegsveteranen in anderen Dimensionen. Mit dem Blick auf ihre nach Hunderttausenden von Mitgliedern zählenden Organisationen setzten sie auf ein Mobilisierungspotential entsprechender Größenordnung. Diese Maßstabvergrößerung der Begegnungsaktionen, aber auch die gewohnheitsmäßige Unterordnung des Individuums unter den militärischen Regelzwang bedingten, daß die Austausch- und Reiseveranstaltungen der Frontsoldaten einen primär kollektiven und weniger interpersonellen Lerneffekt zu erzeugen vermochten. Aus eben diesem Grunde trat das überindividuell Symbolische bei den gemeinsamen Friedensmanifestationen der Kriegsveteranen ganz in den Vordergrund, das in der politischen Öffentlichkeit beider Länder dann unterschiedlich ausgedeutet werden konnte. Die Idee, eine öffentlichkeitswirksame Manifestation des Willens zur Friedenssicherung in übernationaler Dimension zu gestalten, war bereits in der Locarnoära entstanden und verhandelt worden. Dieser Plan war zwischen den CIAMAC-Mitgliedsorganisationen gefaßt worden und wurde nachdrücklich vom UF-Sprecher Henri Pichot befürwortet. Er sah vor, daß 1930 auf den Schlachtfeldern von Verdun ein großes Friedenstreffen zwischen französischen und deutschen Weltkriegsteilnehmern herbeigeführt werden sollte. Der Plan scheiterte, weil innerhalb und außerhalb der entsprechenden Verbände die nationalistischen Ressentiments angefacht wurden und weil durch das beteiligte Reichsbanner Schwarz-Rot- Gold die Nachricht von diesem Vorhaben zu früh an die Öffentlichkeit gelangte. 180 Da der politische Gestaltungswille gerade in der UF der Jahre 1928 bis 1934 stark ausgeprägt war, 181 wurde das Vorhaben dort nicht zu den Akten gelegt. Als der Hitler-Stellvertreter Hess mit seiner Königsberger Rede vom Juli 1934 ein Signal gesetzt hatte für die Kontaktnahme zwischen deutschen und französischen Kriegsteilnehmer-Organisationen und diese Verbände dann 1935 zur stärksten Komponente der doppelten Vereinsgründung DFG/ CFA wurden, waren die Voraussetzungen für die neuerliche Aktualisierung des Plans einer internationalen Demonstration für den Frieden auf den Schlachtfeldern von Verdun günstig. Die Kontakte, die ab Dezember 1934 zwischen den französischen und den (von den Nationalsozialisten in der NSKOV gleichgeschalteten) deutschen Frontkämpferverbänden auf bilateraler und internationaler Ebene fortgesetzt wurden, ebneten den Weg für die Verwirklichung des Projekts. Mitte Dezember 1934 trafen Henri Pichot und Maurice Randoux von der Union 179 Die von der Robert-Bosch-AG veranstalteten Austauschaktionen zwischen deutschen und französischen kriegsversehrten Veteranen waren von dieser Größenordnung. Cf. dazu oben Abschnitt 1 dieses Kapitels. 180 Karl Rohe: Das Reichsbanner, op. cit., p. 151 sq. 181 Antoine Prost, op. cit., Bd. I, p. 115-124. <?page no="253"?> 253 fédérale in Begleitung von Ribbentrop und Oberlindober in Berlin Reichskanzler Hitler, um die Möglichkeiten deutsch-französischer Gemeinschaftsaktionen der Frontkämpfer zu sondieren. 182 Wie bei anderen Gesprächsanlässen wurde vom deutschen Regierungschef gegenüber den Verbandsvertretern der Kriegsteilnehmer das Pathos der gemeinsamen Kriegserfahrung und des daraus resultierenden Imperativs der Friedenswahrung aufgelegt. 183 Diese Gesten verfehlten ihre Wirkung auf die beteiligten Anciens Combattants nicht, veranlaßten sie aber zugleich, ihre Motive für die Fortsetzung der Gespräche zu artikulieren. 184 Im Juli 1935 hatte auch die FIDAC, die Konkurrenzorganisation der CIAMAC, eine Resolution angenommen zugunsten gemeinsamen Handelns in der internationalen Politik. Der Pariser Kongreß vom 1. und 2. Juli, an dem erstmals seit 1933 wieder deutsche Repräsentanten teilnahmen, erklärte: „Pour créer l’atmosphère nécessaire à la réalisation des idées sus-énoncées [du maintien de la paix, H.M.B.] les anciens combattants des pays autrefois belligérants décident de rester en contact étroit. Ils s’efforceront de se comprendre mutuellement et d’examiner sans parti pris les aspirations de chacun le leur pays. Ils travailleront par une activité concertée à abaisser la propagation de nouvelles fausses ou tendancieuses qui, en créant des malentendus, risqueraient de nuire à leur action conciliatrice. Ils veilleront à ce que les générations nouvelles ne soient pas animées par l’esprit de guerre. Ils leur enseigneront que le respect qu’ils ont les uns pour les autres, doit servir d’exemple aux peuples et de base à leurs relations.“ 185 Am 3. Februar 1936 trugen dann Vertreter der UF, der UN und der Combattants de l’air, die in Berlin als Mitglieder des CFA empfangen worden waren, dem Hitler- Stellvertreter Hess den lange gehegten Plan für eine groß angelegte Friedensveranstaltung in Verdun vor, 186 die die Zustimmung der Nationalsozialisten erhielt. Diese Großveranstaltung, die schließlich in der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1936 in Fort Douaumont abgehalten wurde, umfaßte insgesamt 30.000 182 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 123. 183 Cf. Antoine Prost, op. cit., p. 179 sq. 184 So schrieb Maurice Randoux nach dem Treffen mit Hitler im Organ der Union fédérale: „Nous avons donc rencontré Adolf Hitler, ancien combattant d’Allemagne, soldat de Verdun et autres lieux - non le président-chancelier. […] Ce que nous croyons, ce que pense la majorité des anciens combattants, le voici: Nous savons très bien qu’entre l’Allemagne et la France l’ardente amitié et les folles embrassades ne seront de mise ni aujourd’hui ni de sitôt, et que les intérêts matériels, les questions économiques supposeront toujours des discussions longues, âpres, parfois violentes. On connaît cela d’ailleurs entre membres d’une même famille… Mais nous estimons qu’il vaut peut-être mieux discuter autour d’une table en la frappant du poing si l’on se met en colère, que d’une tranchée à l’autre en échangeant par avions des gaz asphyxiants. Et qu’il convient de tout tenter pour que la première méthode remplace la seconde. Et de tout entreprendre si l’on veut espérer.“ DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 133. 185 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 238. 186 DFM/ CFA, 1936, p. 73: „Begegnungen“. <?page no="254"?> 254 Vertreter aller am Weltkrieg beteiligten Nationen. Die deutsche Delegation zählte 500 Kriegsveteranen, die vom Anführer des Sturms auf die Festung Douaumont vor 20 Jahren (Hauptmann a.D. Rolf von Brandis) geleitet wurde. Die nächtliche Zeremonie, die schweigend ablief und von Trauermusik und Scheinwerferlicht auf den Grabkreuzen begleitet wurde, bewegte allem Anschein nach die Teilnehmer nachhaltig. 187 Sie mündete ein in den „Schwur von Verdun“, der in französisch, englisch, italienisch und deutsch geleistet wurde: „Weil die, die hier und anderswo ruhen, in den Frieden der Toten nur eingegangen sind, um den Frieden der Lebenden zu begründen. Und weil es eine Gotteslästerung wäre, wollten wir künftig noch einmal zulassen, was sie verabscheuten. - Den Frieden, den wir ihrem Opfer verdanken, wir schwören, ihn zu bewahren und zu wollen. - Ich schwöre es! “ 188 Die mit parareligiöser Symbolik arbeitende Zeremonie, die von französischer Seite inszeniert war, hatte punktuell einen hohen Aufmerksamkeitswert in der Presse der beteiligten Länder. Allerdings hatte die Union nationale ihre Beteiligung abgesagt aufgrund der Aufkündigung des Locarno-Vertrages durch das nationalsozialistische Deutschland, die mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes am 7. März 1936 vollzogen worden war. Die UN hatte sich aufgrund der Ablehnung der Teilnahme deutscher Repräsentanten in Verdun seitens ihrer regionalen Mitglieder zurückgezogen. 189 Die Friedensbekundung der Kriegsteilnehmerverbände setzte sich auf internationaler Ebene noch vermittels eines Kongresses in Brüssel (3.-5. September 1937) fort, versandete jedoch schließlich, nachdem die deutschen und die italienischen Delegationen sich der Führung im Comité international permanent (CIP) bemächtigt hatten, das im Februar 1937 in Berlin gegründet worden war. 190 Das beeinträchtigte vorerst nicht die Fortsetzung der bilateralen Frontkämpfer-Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen. Es wurden weiterhin Kongreß-Delegationen und Besuchergruppen ausgetauscht. Henri Pichot nahm seine Rolle als populärer Redner in Deutschland ungemindert wahr. So konnte er im August 1937 bei einer Großveranstaltung der deutschen Frontkämpferverbände auf dem Berliner Sportfeld vor mehr als 100.000 Zuhörern sprechen. 191 Paul Distelbarth konnte ungehindert an 187 Z. Bsp. Paul Distelbarth: der mehrere Korrespondentenartikel über die „Nachtwache von Verdun“ schrieb, ebenso wie Otto Abetz, der in seinen Memoiren darüber berichtet. Otto Abetz, Das offene Problem, op. cit., p. 58 sq.; für ihn war die Veranstaltung „das eindrucksvollste […] aller dieser Frontkämpfertreffen“. 188 Hier zitiert nach Paul H. Distelbarths Text, den er in der ersten Nachkriegsausgabe seines Erfolgsbuches Lebendiges Frankreich veröffentlichte: „Die Nachtwache von Verdun 12. und 13. Juli 1936“, abgedruckt in Bock (ed.): Das andere Frankreich, op. cit., p. 354-364; Zitat p. 361. Cf. auch die ausführliche Dokumentation der übernationalen „Weihestunde“ von Verdun in: DFM/ CFA, 1937, p. 236 und p. 271 sq. 189 Antoine Prost, op. cit., Bd. I, p. 181. 190 Ibid., p. 184. 191 Antoine Prost, op. cit., Bd. I, p. 185 berichtet von 120.000 Teilnehmern. <?page no="255"?> 255 vielen regionalen und zentralen Verbandssitzungen der Anciens Combattants teilnehmen und das Wort ergreifen. 192 Sein Frankreichbuch, das nicht zuletzt aufgrund des Vorwortes von Pichot in Deutschland jährlich bis 1939 neu aufgelegt wurde, 193 erschien 1937 mit materieller und moralischer Unterstützung durch die Veteranenverbände in französischer Übersetzung. 194 Vor allem aber setzten sich 1937 die bilateralen Austauschaktionen zwischen den deutschen und französischen Frontkämpfervereinigungen im großen Maßstab fort. Auf Initiative der NSKOV-Führung in Berlin wurde der Stadtverwaltung von Freiburg i. B. am 28. Juni 1937 mitgeteilt, daß eine deutsch-französische Begegnung der Frontkämpferverbände in ihrer Stadt stattfinden sollte, die in Verbindung mit Besançon vorzubereiten sei. 195 Die dann am 4. Juli erfolgende Zusammenkunft von rund 1000 Anciens Combattants aus Besançon und Umgebung mit etwa 2000 deutschen Kriegsveteranen in der fahnengeschmückten Stadt wies alle Merkmale ritualisierter Massenbegegnung auf, in der den einzelnen Individuen ein minimaler Raum von Spontaneität zugemessen und ein maximales Maß von Konformität abgefordert war. Der Auftritt der Teilnehmer in Marschkolonnen und Uniform mit Orden, die Kranzniederlegungen an Kriegerdenkmalen, das Absingen der beiden Nationalhymnen und des Horst- Wessel-Liedes wie die Hissung der Nationalflaggen und der Parteifahne der NS-Bewegung waren Bestandteile des organisatorischen Arrangements der Veranstaltung, die starke Emotionen freisetzten, aber zum „Kennenlernen“ wenig geeignet waren. Auch die Inhalte der feierlichen Reden, die von beiden Seiten gehalten wurden, waren stereotyp und wichen in aufschlußreicher Weise voneinander ab. „Reichskriegsopferführer“ Oberlindober pries die unübertrefflichen Qualitäten der Soldaten einer jeden der beiden Nationen und wies hin auf die Möglichkeiten, die sich böten beim gemeinsamen Vorgehen beider Streitkräfte. Seine Devise zur Friedenssicherung hieß: „Wir sind heute stark in Waffen und Gesinnung. Jetzt können wir ehrenvoll von Frieden reden.“ 196 Der Sprecher der Veteranen 192 Cf. Paul Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 171-192: „Erste Begegnung“, „Kongreß von Kriegsteilnehmern“, „Nationalfeiertag in Gap“. 193 Hans Manfred Bock: „Paul Distelbarths ‚Lebendiges Frankreich’. Ein Dokument verdeckter Opposition und verständigungspolitischer Kontinuität im ‚Dritten Reich’“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 12, 1994, p. 99-113. 194 Paul Distelbarth: France vivante. Texte français par l’auteur, Paris o. J. (1937), 2 Bde. 195 Zum folgenden cf. Holger Skor: „Inszenierte Kriegserinnerung. Das deutschfranzösische Frontkämpfertreffen in Freiburg 1937 als nationalsozialistischer Propagandacoup“, in: Christian Geinitz u.a. (ed.): Kriegsgedenken in Freiburg. Trauer, Kult, Verdrängung, Freiburg 1995, p. 170-206. Heiko Haumann: „Eine inszenierte Friedensaktion. Freiburg i. B. und Besançon als Schauplätze deutsch-französischer Frontkämpfertreffen 1937-1938“, in: Schauinsland, 108 (1989), p. 289-316. R. Dutriez: „Un cinquantenaire à méditer. Les rencontres entre anciens combattants franc-comtois et badois, en 1937“, in: Journal des Victimes de la Guerre et des Anciens Combattants du Doubs, 55 (1987), Nr. 310, p. 1-4. 196 Heiko Haumann, op. cit., p. 291. <?page no="256"?> 256 aus Besançon, Dr. Maître (der Henri Pichot vertrat) rief auf: „Laßt uns gute Werkleute des Friedens sein.“ 197 Der Gegenbesuch deutscher ehemaliger Frontsoldaten fand am 24. Oktober 1937 in Besançon, Montbéliard und Belfort statt. Nach den Worten des Freiburger Oberbürgermeisters waren Freiburg und Besançon die beiden ersten Städte, „die in Frankreich und Deutschland das Feuer des Friedens entzündet“ hatten. 198 Die rituellen Handlungsakte von Freiburg wiederholten sich und in der Stadt wehten die Tricolore und die Hakenkreuzfahne nebeneinander. Von deutscher Seite betonte Oberlindober, das Reich brauche eine „lange Zeit wahren Friedens und freundschaftlicher Nachbarschaft“, um seine großen Aufgaben zu bewältigen. Von französischer Seite stellte Henri Pichot fest, ein zukünftiger Krieg sei das „Totengeläut der Zivilisation“. Gemeinsam wiederholten dann die rund 1.500 deutschen und 2.000 französischen Veteranen den „Schwur von Verdun“ und man sandte an Hitler und an den französischen Staatspräsidenten Albert Lebrun ein gleichlautendes Telegramm, in dem die deutsch-französische Annäherung als dringlicher Wunsch formuliert wurde. 199 Im Bericht eines von der deutschen Botschaft in Paris nach Besançon entsandten Beobachters des gemeinsamen Frontkämpfertreffens wurde hervorgehoben, daß die öffentliche Reaktion der Einwohner der Stadt freundlich und ohne größere Störungen geblieben sei. Ein maßgeblicher Vertreter der Linksparteien habe „seine sozialistischen und auch kommunistischen Freunde aufgefordert, den deutschen Frontkämpfern, ungeachtet aller sonst trennenden Auffassungen, freundlich gegenüberzutreten, ein Appell, der seine Wirkung nicht verfehlt hat.“ 200 Die „Nachtwache von Verdun“ und die Veteranen-Treffen in Freiburg und Besançon in den Jahren 1936/ 1937 stellten den Höhepunkt der symbolischen Inszenierung „Frontsoldaten für den Frieden“ dar. 201 Die gescheiterte Fortsetzung der Begegnungsinitiative auf Städteebene zwischen Freiburg und Besançon im Jahre 1938 wirft ein aufschlußreiches Licht auf die inhärente Zerbrechlichkeit dieser außengelenkten Verständigungsstrategie. Die neuerliche diplomatische Schockwelle des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 lähmte offensichtlich alle Versuche der Fortsetzung dieser städtepartnerschaftlichen Absprache. Diesem politischen Paralysie- 197 Ibid., p. 295. 198 Ibid., p. 302. 199 Ibid., p. 302-306 eine umfassende Dokumentation. 200 Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, A/ AA, Bd.4, 03968, „Frontkämpfertreffen in Besançon“, p. 3. 201 Der Begriff der absichtsvollen „Inszenierung“ mit der Intention der willentlichen Täuschung des französischen Interaktionspartners unterschlägt möglicherweise die Tatsache, daß das Kriterium der „Aufrichtigkeit“ der Bemühungen, das die Protagonisten dieser Aktionen für sich fälschlicherweise Weise in Anspruch nahmen, für einen Teil der mitmachenden Veteranen durchaus zutrifft. Cf. dazu auch Holger Skor, op. cit., p. 203. <?page no="257"?> 257 rungsschub fielen im Laufe des Jahres 1938 die Austauschprojekte einer Musiktheater- und einer Reserveoffiziersgruppe zum Opfer. 202 Wenn die verdeckt bleibenden, unterschiedlichen Intentionen der Teilnehmer an den Frontkämpfer-Demonstrationen für den Frieden und die Abfolge diplomatischer Konflikte ausschlaggebend waren für die letztlich begrenzte Effizienz der organisierten Veteranen-Begegnungen, 203 so wurden diese doch gefördert durch eine unübersehbare Interessenallianz mit Vertretern von Industrie und Handel in beiden Ländern. Diese Interessenanbindung brachte sich in mehreren Formen und Interaktionsfeldern zum Ausdruck. Verallgemeinert kann man feststellen, daß die Altersgruppe der „poilus“, der französischen Frontsoldaten, in den späten 1930er Jahren in lokale und regionale Führungspositionen einrückte und dort in administrativen sowie ökonomischen Belangen ihren Einfluß geltend machen konnte. Das galt für den Bereich der Verbände der Ex-Frontsoldaten namentlich für die Union nationale des Combattants, in deren Haus das CFA seit Frühjahr 1937 seinen zentralen Sitz hatte. Gerade in wirtschaftspolitischen Fragen entfaltete der 1936 ins Amt gekommene CFA-Präsident Georges Scapini eine besondere Initiative, die auch von der deutschen Botschaft in Paris zur Kenntnis genommen wurde. 204 Er stellte seine ökonomische Krisenanalyse und seine Vorstellungen zur Krisenlösung gelegentlich auch öffentlich dar. So im Jahre der Pariser Weltausstellung 1937 in einem in den DFM/ CFA veröffentlichten Exposee. Dort ging er vom Ende der liberalen Weltwirtschaftsordnung aus, in dessen Folge sich ein Zwang zu übernationalen „wirklichen oder künstlichen kontinentalen Autarkien“ abzeichne. Die seien in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien bereits verwirklicht, während Europa bislang auf der Entwicklungsstufe der „nationalen Autarkien“ stehengeblieben sei: „Wir leiden alle an derselben Krankheit einer zu schnell fortschreitenden Lähmung des liberalen Kapitalismus und der Undurchführbarkeit einer Autarkie, der innerhalb der einzelnen nationalen Gebiete zu enge Grenzen gesetzt sind. Hieraus ergeben sich zwangsläufig eine Reihe von Erscheinungen, wie zum Beispiel der gefährliche Rüstungswettlauf, der wohl eher in der Notwendigkeit einer teilweisen Behebung der Arbeitslosigkeit als in einem politischen Bedürfnis der einzelnen 202 Cf. Heiko Haumann, op. cit., p. 307-311. 203 Insofern ist die rückblickende Beurteilung der Frontsoldaten-Begegnungen durch Abetz stark überzeichnet, wenn er (op. cit., p. 57 sq.) schreibt: „Die Frontkämpfer verfügten über ein lückenloses Netz örtlicher Gliederungen mit Zellen bis in die kleinsten Ortschaften. Ihre Verbandszeitschriften und Mitteilungsblätter waren unabhängig von den Einflüssen, denen die offizielle Tagespresse unterliegt, und hatten Millionen von Lesern. So konnte der deutsch-französische Verständigungsgedanke bis in die letzte Fischerhütte im Baskenland und an der Ostseeküste […] getragen werden.“ 204 „Plan d’action proposé par le Président Scapini qui sera soumis au Conseil d’administration lors de sa prochaine séance du 26 octobre“, datiert vom 21.10.1938, in: PA/ AA Akten der Deutschen Botschaft in Paris (in diesem Fall ohne Registriernummer). <?page no="258"?> 258 Staaten begründet ist. Das zieht eine Reihe von psychologischen Folgen nach sich, von denen besonders die Kriegspsychose zur Zeit die europäische Atmosphäre vergiftet.“ 205 Es war gemäß Scapini die Aufgabe der europäischen Großmächte Deutschland und Frankreich, aus dieser prekären Wirtschaftslage herauszuführen. Und zwar durch die Herbeiführung einer europäischen Zollunion: „Das europäische Wirtschaftsproblem ist bei aller Verschiedenheit der Maßstäbe nicht sehr viel schwieriger zu lösen als seinerzeit die Einheit der deutschen Wirtschaft, und es dürfte nicht unmöglich sein, den Gedanken eines Zollvereins auf den ganzen Kontinent in Anwendung zu bringen. Nur so könnte Europa das Versäumte nachholen.“ 206 Die deutsch-französischen politischen Spannungen waren nach seiner Auffassung über diesen Weg des Zollabbaus als Auftakt umfassenderer Wirtschaftskooperation beizulegen. Diese Überlegungen zur wirtschaftspolitischen Sanierung des französisch-deutschen Verhältnisses knüpften an die Diskussionen an, die in der Locarno-Ära vor allem in der französischen Administration, aber auch in den Mitarbeiterkreisen Stresemanns geführt worden waren. 207 Ihre Übertragbarkeit und Realisierbarkeit in der Gegenwart des Jahres 1937 stellte der amtierende Handelsminister Fernand Chapsal auf den Prüfstand, indem er auf die Ungleichheit der Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie der Lebensstandards der europäischen Länder hinwies, die aufgrund des „Rüstungswettkampfes“ fortwährend verstärkt würden. 208 Von deutscher Seite war die wirtschaftspolitische Debatte im DFG/ CFA-Organ eingeleitet worden mit einem Beitrag von Hermann Göring, dem „Beauftragten für den Vierjahresplan“, der unverhohlen die Unterordnung aller wirtschaftlichen Faktoren unter das Ziel der nationalen Stärke und unausgesprochen das Ziel der Kriegsführungsfähigkeit des „Dritten Reiches“ vertrat: „Les inventions et les améliorations techniques dans les laboratoires et les bureaux d’études d’une nation industrielle et l’essor de productions et d’industries nouvelles qui en résulte n’ont en effet pas seulement une grande signification pour l’économie nationale du pays lui-même, mais ont aussi leur importance au point de vue international. Ces nouveaux produits témoignent à la fois d’un renforcement de l’économie nationale et d’un enrichissement de l’économie mondiale. Et maintenant que l’Allemagne a montré la voie, les autres pays s’y engagent à leur tour et font appel aux dernières ressources de leur propre force économique.“ 209 Görings vom Bewußtsein grenzenloser Überlegenheit dik- 205 DFM/ CFA, 1937, p. 307: „Deutsch-französische Zusammenarbeit und europäische Wirtschaft.“ 206 Ibid., p. 308. 207 Cf. dazu Kapitel VI. 208 DFM/ CFA, 1937, p. 323 sq.: „Wie wird die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Völker wieder möglich? “ 209 DFM/ CFA, 1937, p. 275 sq.: „Une économie nationale saine est la condition d’une économie mondiale saine“. <?page no="259"?> 259 tierten Ausführungen wurden in der Debatte des Jahres 1937 für die deutsch-französischen Beziehungen konkretisiert vom Ehrenvorsitzenden der NS-DFG Emil Georg von Stauss. Dieser in Dutzenden von Aufsichtsräten der deutschen Industrie tätige politische Bankier trat selten in den Vordergrund der DFG/ CFA-Aktivitäten, fand sich aber zum halböffentlichen Auftritt bereit im Zusammenhang mit einer Pariser Tagung der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft am 11. Oktober 1937, die im Hause der Association Nationale d’Expansion Économique stattfand. 210 Von Stauss nahm das deutsch-französische Abkommen vom 10. Juli 1937 über den Handels- und Zahlungsverkehr zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen über bilaterale Wirtschaftsverständigung. In seiner Sicht war dies Abkommen die erste praktikable Vereinbarung beider Länder seit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Er rühmte das gute Einvernehmen der französischen und deutschen Verhandlungsführer während der viermonatigen Ausarbeitung des Abkommens und versprach sich davon eine Steigerung des Warenaustauschs: „Le nouveau traité entré en vigueur le 1er août 1937 doit avoir pour but de faire à nouveau des deux pays de bons clients réciproques.“ 211 Dies insbesondere deshalb, weil z. Bsp. der Export chemischer Produkte und von Werkzeugmaschinen aus Deutschland die Lieferung französischer Waren in der Höhe von zwei Dritteln des Gegenwerts erlaube. Dies Abkommen müsse auch dazu dienen, eine politische Übereinstimmung beider Länder trotz ihrer verschiedenartigen Regierungen vorzubereiten. Von Stauss entwickelte im Schlußteil seiner Aus-führungen ein Szenario industrieller Zusammenarbeit zwischen beiden Nationen, das weit über den Warenaustausch hinausging und das auf seinen persönlichen Erfahrungen im Industriemanagement beruhte. Er bezog sich auf drei Erfahrungsbereiche („possibilités de collaboration confiante“): die gute Zusammenarbeit zwischen der Lufthansa und Air France, die im Juli 1937 neu definiert worden war für den weltweiten Luftverkehr, zwischen den Kraftfahrzeugindustrien und der Filmindustrie. Gerade der letztgenannte Bereich schien ihm verständigungspolitische Möglichkeiten zu eröffnen: „J’ai le ferme espoir qu’une pareille collaboration et l’échange de films d’une haute qualité spirituelle permettent l’échange de biens spirituels précieux entre les deux peuples de façon que ceux-ci apprennent réciproquement à toujours se mieux connaître. C’est cela qui est important au point de vue économique et au point de vue culturel.“ 212 Der Ehrenvorsitzende der NS- 210 DFM/ CFA, 1937, p. 367: „Deutsch-französische Wirtschaftsverständigung“. 211 Ibid., p. 375. Das Abkommen vom 10. Juli 1937 umfaßte eine Regelung des Warenverkehrs, eine Zahlungsvereinbarung mit einem Zusatzprotokoll über den Transfer von Kapitalforderungen und die Bestätigung des Reiseabkommens vom 16. April 1937, durch das ein Devisenkontingent von 110 Millionen Francs für Reisen deutscher Staatsangehöriger nach Frankreich und zur Pariser Weltausstellung bereitgestellt worden war. Cf. DFM/ CFA, 1937, p. 310. 212 Emil Georg von Stauss: „Les relations économiques franco-allemandes“, in: DFM/ CFA, 1937, p. 377. <?page no="260"?> 260 DFG versäumte nicht, auf diese doppelte Zielsetzung seiner Vereinigung hinzuweisen, die Ergebnisse der Pariser Weltausstellung, die gerade zu Ende ging, zu rühmen und ein Diktum aus Hitlers Verständigungsrhetorik zu zitieren. Mit seiner Argumentation zugunsten der Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Kultur in den internationalen Beziehungen bediente sich von Stauss des zentralen Themas des Deutsch-Französischen Studienkomitees, indem er es in den propagandistischen Dienst der nationalsozialistischen Vertrauenswerbung in Frankreich stellte. Er war derjenige aus der deutschen Gründungsriege des Deutsch-Französischen Studienkomitees, der sich am vorbehaltlosesten dem politischen Programm der Nationalsozialisten anschloß. Das ehemalige Mayrisch-Komitee hatte sich nach seiner internen Krise zu Beginn der 1930er Jahre aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und hatte dem von den Nationalsozialisten ausgeübten Druck, sich in die Wirtschaftskommission der NS-DFG einzugliedern, widerstanden. 213 Da von Stauss mit Hermann Göring gut bekannt war und über ihn den langjährigen Reichsbankpräsidenten und zeitweiligen Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht bei Hitler eingeführt hatte, 214 ist es mehr als unwahrscheinlich, daß ihm die kriegsvorbereitenden Aspekte der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik verborgen bleiben konnten. Die Verbindung von kultur- und wirtschaftspolitischen Interessen im Wirken der DFG/ CFA tritt nicht allein in der dort geführten Debatte über die deutsch-französische Wirtschaftsverständigung hervor, sondern auch in anderen Interaktionsfeldern ihres Organisationslebens. Vor allem in ihrer nachweisbaren großstädtischen Scharnierfunktion für die Förderung des Warenverkehrs durch Handelsmessen und Industrieausstellungen. Die einzige CFA-Filiale außerhalb von Paris in Lyon ist dafür ein Beispiel. Ihre Gründung wurde vorbereitet durch die deutsche Beteiligung an der Lyoner Frühjahrsmesse von 1937, wo durch Vermittlung der NS-DFG Deutschland durch eine Kunsthandwerks-Ausstellung vertreten war und starke Beachtung gefunden hatte. Darauf folgte dann im Herbst der Besuch des Kriegsopfer-Verbandsvorsitzenden Oberlindober im Anschluß an das deutsch-französische Veteranentreffen von Besançon. Die Delegation führte in Lyon Gespräche mit „sämtlichen örtlichen Frontkämpferführern unter der Präsidentschaft von Herrn Mercier“. 215 Anläßlich einer Konferenz der französischen Handelskammern in Lyon und in Verbindung mit einem deutsch-französischen Rugby-Spiel wurde dann am 31. Oktober 1937 die Konstituierung des lokalen CFA bekanntgemacht und mit einem festlichen Empfang für eine DFG-Gruppe unter der Leitung von Achim von Arnim besiegelt. Die Messe-Beziehungen von Lyon gestalteten sich anschließend besonders intensiv zwischen der Rhône-Stadt und Leipzig. Das bezeugte 213 Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op. cit., p. 292. 214 Christopher Kopper: Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier, München 2010, p. 188 sq. 215 DFM/ CFA, 1937, p. 411. <?page no="261"?> 261 ein Vertreter der französischen Messestadt in einem Vortrag, den er am 2. Februar 1939 in der Stuttgarter DFG hielt: „Prof. Touzot aus Lyon sprach über die kulturelle Bedeutung der internationalen Messen. Aus einem großen geschichtlichen und literarischen Wissen schöpfte er interessante Beispiele für die Mittlerrolle der Messen, die sich vor allem im Grenzland durchgesetzt haben. Sehr bald nach dem Krieg hat im Messewesen wieder eine Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich hergestellt werden können, vor allem in Leipzig und Lyon. Bilder aus der auch von Deutschland wieder stark beschickten Lyoner Messe ergänzten den Vortrag.“ 216 Auf der Frühjahrsmesse 1939 in Lyon war die deutsche Industrie mit dem Produktschwerpunkt Sport-, Jagd- und Rundfunkgeräte, Druckerzeugnisse und wissenschaftliche Apparaturen vertreten. Wie bereits bei früheren Anlässen wurden die deutschen Anwesenden vom Bürgermeister und Präsidenten der Abgeordnetenkammer Edouard Herriot willkommen geheißen. An den gesellschaftlichen Empfängen im Rahmen der Lyoner Messe nahmen Vertreter der Diplomatie und NS-DFG teil. 217 Eine ähnliche Verbindung zwischen internationalen Handelsstädten durch Verkaufsmessekontakte zeichnete sich zwischen Marseille und der DFG der Hansestädte (Hamburg, Bremen, Lübeck) ab. Mitte September 1937 eröffnete die Hamburger DFG auf der Messe von Marseille eine Kunstausstellung und veranstaltete am 20. September eine „journée franco-allemande“. 218 Diese lief wie folgt ab: „Elle commença par une visite détaillée du Port de Marseille, puis un déjeuner amical réunit, sous la présidence de M. Delpuech, rédacteur en chef du Petit Provençal, les Représentants allemands, les organisateurs de la Foire de Marseille, et les rédacteurs en chef de la presse Marseillaise. L’après-midi, une réception eut lieu dans la salle d’Honneur de la Direction de la Foire de Marseille. M. Lavire, Président de la Chambre de Commerce et de la Foire de Marseille, souhaita chaleureusement la bienvenue aux allemands.“ 219 In dieser festlichen Gestimmtheit fasste man den Beschluß zur Gründung einer Filiale des CFA in Marseille, nachdem der NS-DFG- Vertreter Friedrich Grimm die Tätigkeit des deutsch-französischen Verbandes rühmend dargestellt hatte. Es finden sich allerdings keine Spuren für das Zustandekommen dieser geplanten CFA-Sektion in Marseille. In die Reihe dieser Beispiele für die Wechselwirkung von kommerziellen und kulturellen Interessen in der Geschichte der DFG/ CFA gehört auch die Tätigkeit der DFG Frankfurt/ Main, die im September 1938 ins Leben gerufen wurde auf Initiative der Stadtverwaltung. 220 In ihren Reisegruppen- und Vortragsveranstaltungen hatten die Fragen des Wirtschafts- und Handels- 216 DFM/ CFA, 1939, p. 118 sq. 217 Cf. DFM/ CFA, 1939, p. 262. 218 DFM/ CFA, 1937, p. 310 sq. 219 DFM/ CFA, 1937, p. 311. 220 Cf. Sabine Heimrich: Die Deutsch-Französische Gesellschaft in Frankfurt/ Main. Zur Geschichte und Funktion einer Verständigungs-Organisation, Diplomarbeit Kassel 1989, p. 54-67. <?page no="262"?> 262 austausches mit Frankreich hohe Priorität. Zu ihren korporativen Mitgliedern gehörten die Großunternehmen Hoechst und Holzmann, als Schatzmeister fungierte Georg von Schnitzler, Vorstandsmitglied der IG- Farben. 221 Die Frankfurter Messe war auch der Ort, von dem aus gegenüber dem Handelsattaché der französischen Botschaft in Berlin, Jean Lefeuvre, lebhaftes Interesse bekundet wurde an der Errichtung eines Deutschen Hauses in der Pariser Cité Universitaire. Der umtriebige Handeslattaché trat in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre beharrlich, wenngleich vergeblich für dies kulturpolitische Projekt zwischen beiden Ländern ein. 222 Er hatte dabei die Unterstützung der beiden nacheinander amtierenden Botschafter Frankreichs in Berlin, André François-Poncet und Robert Coulondre. 223 Die größte Intensität und Vielfalt der zugleich kommerziell und kulturell motivierten bilateralen Begegnungen, in die die beiden zwischenstaatlichen Organisationen einbezogen waren, kam während der Pariser Weltausstellung vom 25. März bis 25. November 1937 zustande. Die Entwicklung der im 19. Jahrhundert universalistisch und auf friedlichen Wettbewerb der Wirtschaftsgesellschaften gerichteten Idee der Weltausstellungen war in der Zwischenkriegszeit transformiert zu einem Überbietungswettstreit der Nationen und der konkurrierenden politischen Systeme. 224 Diese Gelegenheit zur nationalen Selbstdarstellung nutzte das nationalsozialistische Deutschland im größtmöglichen Maßstab und lockerte in Absprache mit der französischen Regierung die Schranken der Devisenbewirtschaftung, die den Reiseverkehr zwischen beiden Ländern eingrenzten. In dieser politischen Konstellation fiel den beiden Verständigungsorganisationen DFG und CFA eine nicht geringe Schleusenfunktion zu, da sie über die Zusammensetzung der Reisegruppen von Deutschland zur Pariser Weltausstellung entscheiden konnten. Die in der deutschen Bevölkerung überaus begehrte Möglichkeit zum Besuch der Weltausstellung war Anlaß für Kritik an dieser Selektionspraxis, die vor allem in Frankreich artikuliert wurde. Abetz verteidigte diese Praxis mit Argumenten, die nicht ungeschickt gewählt waren, die aber die sehr engen Grenzen der national-konservativen Begegnungskonzeption enthüllten: Es 221 Ibid., p. 60. 222 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité Universitaire von Paris“, in: ID.: Topographie deutscher Kulturvertretung, op. cit., p. 171 sq. 223 Zur industriellen Karriere und zu den gesellschaftspolitischen Vorstellungen dieser Jahre von François-Poncet cf. Hans Manfred Bock: „De la ‚République moderne’ à la ‘Révolution nationale’. L’itinéraire intellectuel d’André François-Poncet entre 1913 et 1943“, in: Albrecht Betz, Stefan Martens (ed.): Les intellectuels et l’Occupation 1940- 1944. Collaborer, partir, résister, Paris 2004, p. 106-147. Robert Coulondre war langjähriger Leiter der Abteilung Handelsbeziehungen in der Direction des affaires politiques et commerciales des Quai d’Orsay. 224 Winfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt/ Main 1999, p. 197 sq: „Die Konfrontation: Paris 1937“. <?page no="263"?> 263 sei doch ganz natürlich, daß man solche Vertreter Deutschlands nach Paris schicken wolle, die zur Elite der Nation gehörten „qui seront les mieux à même de faire connaître aux Français l’esprit de l’Allemagne nouvelle et qui donnent à leurs interlocuteurs une image fidèle et véritable de leur pays.“ 225 Es sei legitim, repräsentative Vertreter des deutschen Volkes nach Paris zu senden, „qui […] parlent favorablement de leur pays, en un mot, de bons Allemands“. Mit Propaganda habe das nichts zu tun, denn nach der Rückkehr in ihre Heimat würden sie (wie die 500 Teilnehmer am Frontsoldatentreffen in Verdun vom Vorjahr) dort vor allem Gutes berichten. Deshalb sei die Auswahl der Teilnehmer an den Reisegruppen letztlich „un hommage que nous rendons à la France“. 226 Einen Eindruck von der tatsächlichen Durchführung dieser Auswahlgrundsätze vermittelt die Aufstellung einer 86 Teilnehmer umfassenden Reisegruppe aus den nordwestdeutschen Hansestädten zur Pariser Weltausstellung. 227 Die Liste, die detaillierte Angaben enthält über Beruf und politische Funktion der Paris- Reisenden, macht deutlich, daß neben Kaufleuten, sowie Vertretern der Lehr- und der Freien Berufe vor allem die Mitglieder der DFG in den Hansestädten Berücksichtigung fanden. 228 Die erste Kategorie entsprach weitgehend dem sozioprofessionellen Profil des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, das auch in der Weimarer Republik die organisierten Frankreich-Reisegruppen charakterisierte. Die zweite Kategorie (DFG-Mitglieder) umfaßte (mit der einzigen Ausnahme eines Kreisbauernführers und Erbhofbauern) dieselben Berufsgruppen, unterschied sich jedoch darin, daß hier die Ehefrauen in etwa der Hälfte der Fälle mit von der Partie waren. Die großen Abwesenden waren in diesem Fallbeispiel die handwerklichen und bäuerlichen Berufsvertreter, obwohl gerade sie als die „Berufsstände“ in der Rhetorik der DFG hoch gepriesen wurden. 229 Dergleichen Detailbeobachtungen stellen die Behauptung Abetz’, man habe bei der Zusammenstellung der Besuchergruppen nicht die bürgerlichen, sondern die minderbemittelten Kreise bevorzugt, 230 nachdrücklich in Frage. Unbestreitbar war hingegen der enorme Prestigeerfolg, den das NS-Regime auf der Pariser Weltausstellung davontrug. Der von Albert Speer geplante deutsche Pavillon 231 symbolisierte die ideologische Systemkonkurrenz mit der Sowjet-Union, indem sein Turmbau zwischen dem Ufer der Seine und dem 225 Otto Abetz: „L’Exposition de 1937“, in: DFM/ CFA, 1937, p. 170. 226 Ibid., p. 171. 227 „Liste der Teilnehmer an der Fahrt zur Internationalen Ausstellung Paris 1937 veranstaltet von der Deutsch-Französischen Gesellschaft in den Hansestädten e.V.“, in: Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, PA/ AA, Bd. 17, ohne Registriernummer. 228 Von 86 Teilnehmern waren 46 DFG-Mitglieder. 229 Unter der wiederkehrenden Rubrik „Schaffendes Deutschland“/ „La France au travail“. 230 Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 68. 231 DFM/ CFA, 1936, p. 433: „Le Pavillon allemand à l’Exposition internationale de Paris, 1937“. Das Richtfest fand am 6.3.37 statt. <?page no="264"?> 264 Trocadero-Hügel als Replik auf die direkt angrenzende architektonische Selbstdarstellung der UdSSR konzipiert und allgemein aufgefaßt wurde. Die nach Tausenden zählenden deutschen Individual- und Gruppenbesucher der „Exposition universelle“ wurden von der französischen Ausstellungsleitung in der Regel bevorzugt empfangen, und zwar mit Hilfe der DFG/ CFA. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen der Pariser Stadtverwaltung und dem CFA gab es die Zusage, daß durch das CFA-Vorstandsmitglied Jean de Castellane, das zugleich Vorsitzender des Comité d’Accueil pour l’Exposition Internationale war, alle Deutschland betreffenden Vorschläge und Wünsche berücksichtigt würden. Dem Ehrenvorstand des CFA für die Pariser Ausstellung, der im April 1937 zusammengestellt wurde, gehörten von deutscher Seite u.a. Botschafter von Welczek, Rudolf Schleier (Leiter der NSDAP-Auslandsorganisation in Frankreich), Georg von Schnitzler und Friedrich Sieburg an. 232 In einigen Fällen wurden die Reisegruppen aus Deutschland auch von der Stadtverwaltung von Versailles empfangen, wo die Verwaltungsspitze sich aus aktiven Anciens Combattants zusammensetzte und unter der Leitung von Senator Gaston Henry-Haye (1890-1983) (dem Bürgermeister der Stadt, CFA-Gründungsmitglied und DFM/ CFA-Autor) eine Stütze der deutsch-französischen Begegnungsaktivitäten war. In den weit über 300 internationalen Kongressen, die aus Anlaß der Weltausstellung in Paris stattfanden, war das nationalsozialistische Deutschland sehr stark vertreten und auf den internationalen Fachtagungen (vom Petroleum- und Gas-Kongreß bis zum Hebammenkongreß) drängten die deutschen Teilnehmer sehr oft darauf, den Vorsitz der jeweiligen Vereinigung oder die Ausrichtung ihrer nächsten internationalen Konferenz zu übernehmen. Die DFM/ CFA resümierte nach der Schließung der Weltausstellung am 25.11.1937: „Wie wir an dieser Stelle schon öfters berichten konnten, stand Deutschland sowohl in der Besucherzahl als in der Beteiligung an den Kongressen der Weltausstellung mit an erster Stelle und hat 993 Preise zuerkannt bekommen.“ 233 6. Begegnungsformen der Jugendorganisationen Im Vergleich zur massiven und vielgestaltigen kollektiven Beteiligung der Frontkämpfer-Verbände an diesen Begegnungsinitiativen waren Form und Inhalt der Jugendbegegnungen im Rahmen der DFG/ CFA generell anders strukturiert und ausgerichtet. In den Jugendgruppenkontakten stand das individuelle Erlebnis der Gemeinschaftsbildung in temporären Kleingruppen im Mittelpunkt des sozialen Lernprozesses. An die Stelle des emotionalen Eintauchens in eine über Symbole und Rituale hergestellte Empfindung übereinstimmenden Wollens trat die intimere Erfahrung von An- 232 Brief von Welczek an den Präsidenten des CFA vom 28.4.1937, in: PA/ AA. 233 DFM/ CFA, 1937, p. 413. <?page no="265"?> 265 ders- und Gleichartigkeit, die sich im Gespräch, im Spiel und Sport einstellte und charakterbildend wirken sollte. Den Prototyp dieser Art von deutsch-französischen Kleingruppenkontakten stellten die Treffen des Sohlbergkreises in den Jahren 1930 bis 1934 dar. Sie gewannen durch die Anbindung an den Organisationsrahmen der DFG/ CFA in weit höherem Maße an Kontinuität als die eher sporadischen Zusammentreffen deutscher und französischer Berufsgruppenvertreter. Sie zahlten dafür den Preis fortschreitender Indienstnahme und Überformung durch die Hitler-Jugend, die durch die Übernahme von führenden Funktionen in der NS-Jugendpolitik durch die Gallionsfigur der ehemals bündischen Jugend, Otto Abetz, eingeleitet und gefördert wurde. Das zeichnet sich in der Langzeitperspektive des deutsch-französischen Jugendgruppen-Austauschs der 1930er Jahre ab. Und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen wurden die Schüler-, Studenten- und Lehrer-Austauschstrukturen, die seit der Locarno-Ära von der Deutschen Liga für Menschenrechte, der damaligen Deutsch-Französischen Gesellschaft und einzelnen reformpädagogisch engagierten Lehrern in die Wege geleitet worden waren, 234 weitgehend übernommen und mit teilweise neuem Personal und anderen Inhalten versehen. Diese Kontinuitätslinie wurde in den DFM/ CFA-Heften eingehend dokumentiert und kommentiert, indem man sie als Beleg für den ungebrochenen Verständigungswillen in Anspruch nahm. 235 Die zweite Tradition der Jugendgruppentreffen setzte erst am Ende der Locarno-Ära in der bündischen Jugendbewegung ein, die sich aufgrund des Versailler Vertrages in ihren Auslandskontakten mit Frankreich besonders schwertat. 236 Von den ab 1930 im Sohlbergkreis miteinander kommunizierenden deutschen und französischen Adoleszentengruppen um Abetz/ Bran und um Jean Luchaire mitsamt dem Kreis von „Notre Temps“ gingen die jugendpolitischen Impulse aus, die dann im Organisationskontext der DFG/ CFA zum Tragen kamen. Die fünf transnationalen Zusammenkünfte des Sohlbergkreises zwischen 1930 und 1934 waren noch stark intellektuell geprägt durch die Vorträge überwiegend junger Wissenschaftler und Journalisten. 237 Die Treffen waren von Anfang an als „Lager“, also als naturnahe, von Spiel und Sport und Gesang aufgelockerte Zusammenkünfte, konzipiert, wie sie in der Jugendbewegung eingeübt worden waren. Das Schwarzwälder Treffen auf dem Sohlberg (28.7.- 3.8.1930), das mehr als 100 deutsche und französische Jugendliche zusammenführte, war politisch noch eindeutig pluralistisch angelegt. Zu seinem 234 Cf. Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen, op. cit., p. 165 sq. 235 Cf. DFM/ CFA, 1936, p. 30 sq.: „Deutsch-französischer Schüleraustausch“; DFM/ CFA, 1939, p. 388 sq. Charles-Marie Garnier: „Bedeutung und Tragweite des deutsch-französischen Schülerbriefwechsels“; Ibid., p. 391: B. Beinert: „Der deutschfranzösische Studentenaustausch“. 236 Alice Gräfin Hardenberg: Bündische Jugend und Ausland, München 1966. 237 Cf. Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, op. cit., p. 52-77 und p. 79-90. <?page no="266"?> 266 Programm gehörte u.a. ein Besuch bei der Ortsgruppe der republikanischen DFG in Stuttgart, die die drittstärkste Filiale der von Otto Grautoff gegründeten Organisation war. 238 Kurz nach dem Initialerfolg des Sohlbergtreffens und dem Beitritt anderer Jugendgruppen im Reich verselbständigte sich der „Kreis der Freunde des Sohlberg-Camp“ und beschritt einen Weg, der ihn zu einem gesellschaftspolitisch eigenständigen Akteur werden ließ. Zu den verständigungspolitischen Ergebnissen der Veranstaltung von Juli/ August 1930 notierte Jean Luchaire eine Beobachtung, die in den zahlreichen späteren deutsch-französischen Jugendlagertreffen im Rahmen der DFG/ CFA in verschiedenen Varianten wiederkehrte und die generationsspezifische Affinität beider Seiten auf eine Formel brachte: Es sei nachgerade überflüssig von „rapprochement“ zu reden. „Car ayant perçu en quoi nous sommes semblables et en quoi nous différons, il n’y a plus de rapprochement possible. Il y a d’un côté une multitude d’identités - et parler de rapprochement là où il y a identité est une chose qui ne veut plus rien dire. Il y a d’autre côté quelques divergences profondes, sans doute pour longtemps irréductibles - et c’est perdre son temps que de vouloir rapprocher des divergences irréductibles.“ 239 Den entscheidenden Schritt zur politischen Indienstnahme und Überformung des Sohlberg-Netzwerkes zwischen beiden Ländern vollzog Abetz mit seiner Übernahme offizieller Funktionen in den „Reichsjugendführung“ und in der Dienststelle Ribbentrop im Sommer 1934. 240 Spätestens seit diesem Datum standen seine jugendpolitischen Initiativen unter dem Gebot der Bewilligung und Billigung durch die NS-Staats- und Parteiautoritäten und nicht mehr unter der Maxime selbstbestimmten Verständigungswillens. In Abetz’ Bemühungen des Jahres 1935 um die Erneuerung der gesellschaftlichen Grundlagen der Verständigungspolitik durch die Mobilisierung und Allianz zwischen den Frontkämpfer- und Jugendorganisationen trat diese uneingestandene Botmäßigkeit der Jugendrepräsentanten allenthalben zu Tage. Sie wurde von kritischen Gesprächspartnern in Paris richtig erkannt, weniger indessen von ihren dortigen Altersgenossen. Der Journalist Wladimir d’Ormesson, Gründungsmitglied des Deutsch-Französischen Studienkomitees, war im Januar 1935 von Abetz, Bran und Nabersberg aufgesucht worden und fand den Schwung, mit dem diese ihre Austausch- und Verständigungsideen vortrugen, durchaus sympathisch. 241 Er hielt ihnen aber entgegen, ob sie denn sicher seien, daß Hitlers Erklärungen seinen wirklichen Plänen entsprächen, ob sich hinter deren Rhetorik nicht alte Standpunkte und Taktiken verbargen und ob sie nicht selbst bei aller eigenen Aufrichtigkeit Opfer geschickter Inszenierung und Hintergangene eines Blendwerks seien. Seine Bedenken erreichten die 238 Cf. oben Kapitel IV dieses Buches. 239 Zitiert aus den Nouveaux Temps in Barbara Unteutsch, op. cit., p. 54. 240 Cf. ibid., p. 96 sq. 241 Wladimir d’Ormesson: „Quelle Allemagne? “, in: Le Figaro vom 8.2.1935. <?page no="267"?> 267 Sendboten nationalsozialistischer Jugendpolitik nicht und sie setzten unter dem Eindruck der Rede von Rudolf Hess vom 8. Juli 1934 ihre Planungen von deutsch-französischen Jugendaussprachen fort. In einem Bericht an die deutsche Botschaft in Paris vom 12.2.1935 stellten sie die Planungen für das laufende Jahr dar. Diese umfaßten ein deutsch-französisches Skilager in Chamonix Ende Februar, eine Reise vierzig „deutscher Jugendführer“ nach Paris zu Ostern (Thematik: soziale Probleme), eine Reise französischer Jugendorganisationsvertreter nach Berlin (Betriebsbesichtigungen), eine gemeinsame „Jugendwanderfahrt in Gestalt eines Sterntreffens“ an einem noch festzulegenden Ort im Hochsommer, einen Druckschriftenaustausch mit dem Ziel der Absatzsteigerung des Periodikums „Sohlbergkreis“ und „gemeinsame Rundfunkveranstaltungen im Dienste der Annäherung“. 242 Dieser Überblick gewährt einen Einblick in das Repertoire der grenzüberschreitenden Kommunikationsformen, das in den folgenden Jahren noch erweitert wurde. Die transnationalen Kontaktversuche waren in den 1930er Jahren jederzeit auf die Darstellung der nationalen Identitätsmerkmale gerichtet. Sie hatten insofern einen immanenten Bezug zum „internen Nationalismus“, auf den man sich in der DFG/ CFA berief. 243 Die antibürgerlichen und sozialexperimentellen Aspekte der bündischen Jugendbewegung der 1920er Jahre, die Einübung neuer Formen der Vergesellschaftung, 244 traten nunmehr in den Hintergrund. Diese Schwerpunktverlagerung war nicht erst ein Ergebnis der Unterordnung unter das NS-Regime, sondern ansatzweise schon in der „Grenzlandarbeit“ des „Arbeitskreises Karlsruher Jugendbünde“ (AKJ) angelegt, aus dem der Sohlbergkreis hervorgegangen war. 245 Dort hatte man sich zum Ziel gesetzt: die „Fühlungnahme mit der Nachbarnation selbst“, das „Studium ihrer Geschichte und gegenwärtigen Gegebenheiten zur Erweiterung des geistigen und politischen Blickfeldes und die Beeinflussung vor allem der jungen Ausländer zu Gunsten der deutschen Interessen.“ 246 Insbesondere Friedrich Bran hatte in die konzeptionelle Klärung dieser „Grenzlandarbeit“ seine Erfahrungen in der „Arbeitslager“-Bewegung eingebracht, die zum Ziel hatte, die Gegensätze zwischen Arbeitern, jungen Bauern und Studenten in der gemeinsamen Arbeit aufzuheben. 247 Er war gleichsam der Professionelle der gemeinschaftsstiftenden Kleingruppenarbeit in solchen als Lernorte aufgefaßten „Lagern“, 242 Aufzeichnung Legationsrat von Rintelen, in: PA/ AA, „Herbeiführung einer deutschfranzösischen Verständigung“, Bd. 23, ohne Registriernummer; cf. auch DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 127. 243 Cf. oben Abschnitt 3 dieses Kapitels. 244 Cf. Peter Dudek: Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920-1933, Opladen 1988. 245 Cf. Barbara Unteutsch, op. cit., p. 48 sq. 246 Ibid., p. 49. 247 Cf. Friedrich Bran: Jungmannschaft im Arbeitsdienst. Bericht und Aufruf aus Baden, Karlsruhe 1933. <?page no="268"?> 268 deren Techniken in den deutsch-französischen Begegnungen nutzbar gemacht werden sollten. Die dann in den Jahren 1936 bis 1939 im Organisationskontext der DFG/ CFA durchgeführten Jugendtreffen nahmen quantitativ zu, verliefen aber je nach ihrem organisatorischen Entstehungsanlaß in unterschiedlichen Formen. Deren dominanter Typus entsprach den Maßgaben, die in der Jugendbewegung vorgegeben waren. Das wird erkennbar in dem Bericht vom Ende des Jahres 1935, in dem die besonderen Qualitäten der bi- oder gelegentlich auch multinationalen Jugendlager umrissen werden. Dort wird Bezug genommen auf das dritte deutschfranzösische Lager, das vom 4.8. bis 6.9.1935 in Evian-les-Bains stattgefunden hatte: „Die gleichzeitige Durchführung von Lagern in beiden Ländern ist von großer Bedeutung, ist doch der Ort des Lagers von entscheidendem Einfluß auf die Gestaltung desselben; er bestimmt Stil, Geist und Form des Lagers, jene drei Faktoren, denen sich der einzelne, gleichgültig ob Deutscher oder Franzose, willig unterzuordnen hat, damit das Werk der Gemeinschaft zustande kommt. […] Die Teilnehmer setzten sich aus 22 Deutschen (Studenten und Studentinnen) und 33 Franzosen (desgleichen) zusammen. Mag der Ort Evian, dem als internationalem Bad ein kulturelles oder typisch-französisches Gepräge völlig abgehen als Heimstatt für ein Lager wie dieses ungeeignet scheinen - er bietet immerhin jene leichte, fröhliche Atmosphäre, die dem Franzosen unentbehrlich scheint, um zunächst von außen her mit dem anderen Fühlung aufzunehmen.“ 248 Für die französischen Jugendlichen, die dergleichen Gemeinschaftsexerzitien in Kleingruppen allenfalls in der katholischen Pfadfinderbewegung erfahren konnten, 249 waren Lager oder „camps“ durchaus gewöhnungsbedürftig; sie waren zugleich aber auch reizvoll, weil in ihnen Kopf, Leib und Seele gleichermaßen angesprochen wurde. Pierre Drieu La Rochelle, der als Schriftsteller der Jugendgeneration der frühen 1930er Jahre nahestand, besuchte 1935 ein „Führerlager“ des „Deutschen Jungvolkes“. 250 Er war von dessen Gruppenveranstaltungen positiv beeindruckt und verfaßte einen „Figaro“-Artikel, in dem er den dort ermöglichten Erfahrungen eine zivilisationskritische Bedeutung zuschrieb: „L’homme avait par trop négligé son corps et la source de toute vie pour son corps, comme pour son esprit, la nature. Il était devenu infirme, impotent, enfermé qu’il était dans ses maisons, ses vêtements, des habitudes de plus en plus rétrécies.“ 251 Spätere Versuche, Schriftsteller und Journalisten als Verantwortliche für die Deutschlandsicht in Frankreich gezielt in das Lagerleben mit einzubezie- 248 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 281. 249 Cf. dazu jetzt Olivier Prat: Marc Sangnier et la paix. Bierville et les congrès démocratiques (1921-1932), Paris IV Sorbonne, 2003, 663 p. Als Überblick Dieter Tiemann, op. cit., p. 65 sq. 250 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 311: „Französischer Dichterbesuch beim Deutschen Jungvolk“. 251 Le Figaro vom 11.9.1935: „Camping“. Drieu La Rochelle hatte am 5. Sohlbergtreffen teilgenommen. <?page no="269"?> 269 hen, sind dokumentiert. Im Tätigkeitsbericht der DFG in Baden vom Jahre 1937 wird das so dargestellt: Nachdem zum Jahresbeginn Alphonse de Châteaubriant in der Universität Freiburg vor der HJ seine Deutschland- Impressionen während seines sechsmonatigen Aufenthalts im Lande dargestellt habe, seien vom 12.-15. März auf Einladung der HJ und der DFG etwa 20 französische Journalisten und Schriftsteller zu einem „Gemeinschaftstreffen“ nach Todtnau in den Schwarzwaldbergen gekommen. „Dieses Treffen sollte dazu beitragen, daß gerade diese, im Dienst der französischen Öffentlichkeit stehenden jungfranzösischen Kämpfer mit den Kräften des jungen Deutschland zusammenkamen, um in völlig zwangloser Unterhaltung sich gegenseitig kennenzulernen.“ Während für den Tagesablauf „nur sportliche Betätigung vorgesehen war, führte der Abend - der mit dem Lied und Wort ausgefüllt war - die Teilnehmer enger zusammen. Deutsche Lieder und französische Lieder wurden gesungen und leichte Wechselrede ging hin und her, im Lied fanden die Herzen zueinander.“ 252 In den Reihen der französischen, aber auch der deutschen Vertreter und Sympathisanten der Jugend-Komponente der DFG/ CFA fanden sich mehr formulierungsfreudige Autoren als im Milieu der Frontkämpfer-Vereinigungen. So wurden die Motivverwandtschaften und die Unterschiede auf beiden Seiten von ihnen inhaltlich genauer benannt als in den oft stereotyp gefaßten Argumenten der Veteranen („Wir dürfen gegen den Krieg sein, weil wir ihn geführt haben! “). Beispielsweise gab es in den Jahren 1935 bis 1937 in den DFM/ CFA immer wieder Beiträge, die in der Regel unter der Rubrik „Die Stimme der Jugend“ erschienen und die gleichermaßen die Notwendigkeit und die Widerstände der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit thematisierten. In prägnanter Weise trugen bei zu diesem Verständigungs-Diskurs zwei Texte, die im Frühjahr 1935 in den „Sohlbergkreis“-Heften erschienen. Walter Franke zeichnete den schwierigen Weg nach, den die Nachkriegs-Jugendgeneration in Deutschland habe gehen müssen, um für einen Dialog mit den französischen Altersgenossen bereit zu sein. Über alle weltanschauliche Gegensätze hinweg sei es die Jugendbewegung gewesen, die diese Generation geprägt habe: „Tous furent formés par le même mouvement de jeunesse, dont les tendances fondamentales étaient l’amour du paysannat et du folklore, le rattachement au sol natal et à la race germanique, le dégoût de la civilisation dégénérée des grandes villes. L’unité de cette jeunesse eut pour base la vie commune dans les camps, les sports, les contacts entre elles des différentes classes sociales lors des voyages à pied, elle devint alors nationale autant qu’anticapitaliste.“ 253 Es habe allein der Politiker gefehlt, der dieser Generation den Weg zu weisen vermochte. Die Verständigungspolitik Stresemanns 252 Deutsch-französische Begegnungen Baden 1937. Contacts franco-allemands, Karlsruhe o.J. (1938), p. 2. 253 Walter Franke: „La jeunesse allemande et le rapprochement franco-allemand“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 299 sq. <?page no="270"?> 270 habe dies nicht geleistet, denn seine Versöhnungskampagne sei im Interesse und mit den Argumenten der Industriellen geführt worden: „Avant de s’engager dans une voie, de s’enthousiasmer pour des buts l’Allemand - et le jeune Allemand en particulier - a besoin de mythes, de motifs sentimentaux.“ 254 Und die habe ihr erst Hitler gegeben, dessen Verständigungsbereitschaft mit Frankreich außer Frage stehe und dem die deutsche Jugend folge, indem sie zuerst Kontakt aufgenommen habe mit der rechtsstehenden Jugend in Frankreich. Daß diese politische Positionsbestimmung in Frankreich nicht so leicht vorzunehmen sei, war der Leitgedanke des französischen Gegenübers in diesem Austausch. Er bezog sich zustimmend auf den „Plan vom 9. Juli“ als mentale Basis für eine französisch-deutsche Annäherung, die aber ohne Bestand geblieben sei. Er führte eine umfangreiche Liste von Bedingungen auf, die alle von der Politik des nationalsozialistischen Deutschland bislang nicht erfüllt würden, die aber unverzichtbar seien für ein vertrauensvolles und kooperatives Verhältnis zu Deutschland. Am Beispiel der journalistischen und diplomatischen Nachwuchselite demonstrierte er, „daß die Gedanken der französischen Jugend zu dieser Frage so vielseitig sind, daß sie sich nicht in ein falsches Entweder-Oder: ‚Bolschewismus oder Nationalsozialismus’ einspannen lassen. Das ist zweifellos für den Augenblick alles, was man sagen kann.“ 255 Pointierter waren in der fortgesetzten Debatte des Jahres 1935 die Stellungnahmen von Bertrand de Jouvenel und Karl Nabersberg, obwohl auch hier in den Überlegungen des französischen Jugendrepräsentanten die Vorbehalte gegen das deutsche Beispiel deutlich akzentuiert wurden. Gemäß de Jouvenel ging es bei den Jugendbegegnungen nicht darum, das nationalsozialistische Denken nach Frankreich zu übertragen, sondern die Aufbruchstimmung und das Selbstbewußtsein der deutschen Jugendorganisationen aufzunehmen und mit eigenen Zielsetzungen zu vertreten: „Wir beneiden die deutsche Nation nicht um ihre politische Verfassung, die zweifellos ihrer nationalen Eigenart entspricht, die sich aber kaum mit der unsrigen vertragen würde. Hingegen beneiden wir die deutsche Jugend um ihre geistige, oder besser gesagt um ihre seelische Verfassung.“ 256 Als Generationsmerkmal stellte sich ihm auf der deutschen Seite die Überwindung der „individualistischen Eitelkeit“ sowie des „Wunsches nach persönlichem Luxus“ und die „Hingabe für eine gemeinsame Sache“ dar, wenn auch das Bildungsniveau dabei leide. Die Affinität und Habitusentsprechungen zur französischen Jugend sah er darin, dass sich Gruppen bildeten, die „ganz im Gegensatz zu den politischen Parteien keine Mannschaften zur Eroberung des Staates, sondern Gemeinschaften [seien], die sich zusammenfanden, um in aller Stille Mittel und Wege zu 254 Ibid., p. 299. 255 Bertrand Varages: „Die französische Jugend und die deutsch-französische Verständigung“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 309. 256 Bertrand de Jouvenel: „Jugend zweier Nationen“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 4. <?page no="271"?> 271 suchen, welche zu einer abendländischen Kultur führen.“ 257 Der Sprecher des „Comité d’entente de la jeunesse française pour le rapprochement franco-allemand“ testierte Hitler Geschichtsmächtigkeit, weil er der deutschen Jugend den Weg gewiesen habe, nicht aber eine Vorbildfunktion. Inhaltlich sah er gemeinsame Anknüpfungspunkte für den französisch-deutschen Dialog in der Neigung zu einer geplanten Wirtschaftsordnung und einem „starken Staat“. Der stellvertretende „Reichsjugendführer“ Nabersberg arbeitete in einem Paralleltext der DFM/ CFA die Unterschiede im vorwiegenden Habitus der beiden Jugendgenerationen geradezu plakativ heraus: „Dans ces cahiers nous ne voulons pas négliger ces divergences, mais essayer de les éclaircir. Nous vaincrons mieux les contraires en les dévoilant. - Au point de vue extérieur apparaît tout de suite une différence : la jeunesse hitlérienne marche au rang ; elle sent là le symbole de la camaraderie. - Vous, camarades français, ne formez vos rangs que si c’est inévitable pour aboutir à des valeurs précisément définies, ou pour défendre des valeurs éprouvées. - Nous aimons les ordres. Nous aimons qu’un Chef marche devant nous, que nous pouvons suivre sans restrictions, auquel nous pouvons prouver notre fidélité. - Vous jeunes français, préférez la direction de votre raison individuelle et vous vous confiez difficilement à des hommes qui ne vous donnent que la garantie du caractère et non pas la garantie d’un but tout à fait défini.“ 258 Es zeichnet sich in diesen Kontrastporträts ein Brevier nationaler Identitätszuschreibungen ab, das in der Völkerpsychologie seit dem späten 19. Jahrhundert vorbereitet worden war und das nun in die biologistische Ideologie grenzüberschreitender Kommunikationsstrategie national-konser-vativer und nationalsozialistischer Protagonisten der Jugendbegegnung eingefügt wurde. Man darf davon ausgehen, daß die wiederkehrenden Topoi dieser Vergleichsübungen in den Jugendtreffen der späten 1930er Jahre den größten Teil der Gespräche beherrschten. 259 Dieser diskursive, dialogisch angelegte Programmteil der organisierten Jugendkontakte war in den verschiedenen Begegnungsformen im Rahmen der DFG/ CFA unterschiedlich umfangreich bemessen. Er war neben Spiel, Gesang und Sport prägend für die längerfristigen Jugendlager und Wanderfahrten; er war eher knapp bemessen in den punktuellen Jugend-Massendemonstrationen, die von staatlichen Institutionen oder seitens der DFG/ CFA veranlaßt wurden. Eine zumindest teilweise Fortsetzung der argumentationsfreudigen Lagertreffen des Sohlbergkreises zeichnete sich ab in der „Entente franco-allemande universitaire“/ “Deutsch-Französischer Akademikerbund“, die im selben Jahr 1934 gegründet wurde, in dem die Serie der von Abetz ins Leben gerufenen Jugendbegegnungen abbrach. Die Initiative ging hier von der franzö- 257 Ibid., p. 5. 258 Karl Nabersberg: „Deux jeunesses en présence“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 7 sq. 259 Cf. dazu unten in diesem Abschnitt die Beispiele aus dem deutsch-französischen Jugend-Diskurs. <?page no="272"?> 272 sischen Seite aus. 260 Die anfängliche Gestalt dieser Vereinigung war die eines informellen Bundes französischer und deutscher Studierender in Grenoble, der 1933 zustande gekommen war: „Dieser Bund, der sich in gemeinsamem Wandern, gemeinsamen Studien, Gedankenaustausch über schwebende Gegenwartsfragen der beiden Völker äußerte, ließ es als wünschenswert erscheinen, eine breitere Grundlage zu suchen für die inzwischen bewährte Aktivität.“ 261 Man fand Gleichgesinnte in Lyon, wo bereits eine festere Organisationsform existierte unter dem Namen „Entente franco-allemande universitaire“ (EFAU) und schloß sich ihr an. 1934 organisierte die EFAU ein deutsch-französisches Skilager, das vom 26.12.1934 bis 3.1.1935 in Oberstaufen stattfand. Man stellte sich damit explizit in die Tradition der Skilager des Sohlbergkreises von 1930 bis 1933 und richtete die Begegnung vom Jahreswechsel 1934/ 1935 nunmehr mit der Heidelberger Studentenschaft aus. 262 Im Laufe des Jahres 1935 wurden - das Gebot der Gegenseitigkeit wahrend - von den beiden Studentenorganisationen zwei Jugendlager veranstaltet: Eines auf Usedom Mitte Juli, das für die 50 Teilnehmer Sportübungen, Diskussionen und Besichtigungen vorsah. Es erregte deshalb Aufsehen, weil es das erste gemeinsame Lager im Norden Deutschlands war und allen Anzeichen nach sogar vom französischen Botschafter François-Poncet mit einem Besuch bedacht wurde. 263 Während in den DFM/ CFA-Berichten die bilaterale Veranstaltung als überaus gelungenes Beispiel für die wechselseitige Verständigungsförderung gefeiert wurde, enthalten die erhaltenen diplomatischen Berichte zahlreiche Hinweise auf nationale Rivalitäten und Reibungen. 264 Diesen Dokumenten zufolge gingen vor allem die Vorstellungen von der Gestaltung einer solchen Freizeitveranstaltung auseinander. Die deutschen Teilnehmer bestanden auf Disziplin und Ordnung in den Gemeinschaftsübungen, die 33 französischen Gäste nahmen diese Anforderung nicht sehr ernst: „Der Dienst an einer Gemeinschaft, der zugleich Dienst an Geist und Körper ist, blieb den Franzosen als Lebensform bisher fremd“, kommentierte der deutsche Lagerleiter. 265 Die nicht nur störenden, sondern möglicherweise auch konstruktiven Konflikte konnten bei den unterschiedlichen Vorprägungen der jungen Deutschen und Franzosen gar nicht ausbleiben und wiederholten sich. Im August/ September 1935 fand dann ein weiteres vierwöchiges Sommerlager in Evian-les-Bains statt, das strukturiert wurde durch „des visites commentées, des discussions, de l’athlétisme, des excursions en 260 Dazu den historischen Abriß eines Beteiligten Henning Schlottmann: „Deutsch- Französischer Akademikerbund. Bericht aus Grenoble und Lyon“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 244-250. 261 Ibid., p. 244. 262 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 83: „Des camps franco-allemands“. 263 Cf. dazu auch Dieter Tiemann, op. cit., p. 336 sq. 264 Nachgewiesen ibid. 265 Zitiert ibid., p. 337. <?page no="273"?> 273 montagne ainsi que sur le lac […].“ 266 In einem Zwischenbericht zur Tätigkeit der EFAU verband sich 1935 eine Erfolgsbilanz mit einem Bekenntnis zur handlungsanleitenden Bedeutung des Gefühls („sentiments“) und zur Aufgabe der Friedenssicherung an der Seite der Anciens Combattants bzw. Kriegsveteranen: „Hier in den Lagern war alles das konzentriert, was im Semester unsere Arbeitsweise erfolgreich gestaltet hatte, die Abwechslung, der Ernst unseres Wollens, der Sport, die Auseinandersetzung, die Kameradschaft. […] Schärfer noch als im Semester war der Gedankenaustausch. ‚Hie statisch, hie dynamisch, hie Individualismus, hie Gemeinschaft’, so prallte es zunächst einmal aufeinander, bis es zu Kennen- und Verstehenlernen kam.“ 267 Flankiert wurden die Lager-Veranstaltungen, in denen das interkulturelle Lernen in teilweiser Fortsetzung der Sohlberg-Camps beabsichtigt war, von den Wanderfahrten französischer Gruppen in Deutschland und deutscher Gruppen in Frankreich. In dieser Form der Begegnung stand weniger die Binneninteraktion innerhalb der Kleingruppe im Vordergrund, sondern vielmehr die Kontaktnahme kleiner Gruppen mit Land und Leuten der Nachbarnation, also das Kennenlernen des Anderen im spontanen Zusammentreffen mit dessen diversen Menschen und Lebensräumen. Diese Erfahrungsform des Anderen vor Ort schloß den punktuellen Kontakt mit verwandten Gruppen oder Organisationen des Besuchslandes ein, der ein oft entscheidendes Interpretationsangebot an die Besucher für das Gesehene und Erfahrene war. Wie diese Wanderfahrten abliefen und welche Erkenntnisse sie erzeugten, kann exemplarisch an zwei Beispielen aus der Vorgeschichte der DFG/ CFA erörtert werden. Im späten Frühling 1935 begann eine grenznahe Wanderfahrt französischer Jugendlicher durch Baden und Württemberg, von der der Berichterstatter annahm, daß sie die erste dieser Art nach Deutschland sei. 268 Der erste Eindruck von den deutschen Altersgenossen war, daß diese überwiegend an der Leibesertüchtigung interessiert waren: „[…] seul ici, le souci de la vigueur physique, de la santé, d’une vie saine domine, les préoccupations politiques ne font pas partie de ces heures de détente et de sport.“ 269 Ihre Fahrt- und Wanderwege führten die Gruppe von Karlsruhe auf den Sohlberg, wo sie pietätvoll des ersten deutsch-französischen Jugendtreffens vor fünf Jahren gedachten. Sie verbrachten dort ihre erste Nacht in den Zelten, „à l’endroit même ou eut lieu, il y cinq ans déjà, la première rencontre des jeunesses françaises et allemandes.“ 270 Als starke, bleibende Eindrücke werden im Fahrtenbericht die Begegnung mit der ländlichen Bevölkerung des Schwarzwaldes und mit 266 „Camps de vacances de l’Entente Franco-Allemande Universitaire en France et en Allemagne“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 253. 267 Henning Schlottmann: „Deutsch-Französischer Akademikerbund“, loc. cit., p. 249. 268 Pierre Chérny: „Jeunesse française en Allemagne“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 35 sq. 269 Ibid., p. 39. Cf. auch Dieter Tiemann, op. cit., p. 270 Pierre Chérny, loc. cit. <?page no="274"?> 274 der Freiburger HJ-Gruppe hervorgehoben. Die erste der beiden Fahrtenepisoden wird nicht ohne Versöhnungspathos geschildert. Nachdem das Lagerfeuer brannte, sei die Bevölkerung des nächstgelegenen Dorfes staunend zu der Gruppe gekommen und ein spontanes Gemeinschaftsgefühl habe sich eingestellt: „Cette fraternité spontanée, le plaisir de ressentir une joie commune toute simple, d’oublier un instant qu’une frontière, des incompréhensions, des ignorances nous séparent, nous touchent plus que les plus belles réceptions et ce fut là un des moments les plus émouvants de notre séjour en Allemagne.“ 271 Weniger gefühlsbetont und einvernehmlich stellte sich das Treffen mit der Freiburger HJ-Gruppe dar. Hier traten wieder die Alteritätsaspekte in den Vordergrund, die in dem Bericht wie folgt zusammengefaßt werden: „Certainement beaucoup de choses nous rapprochent les uns des autres, mais pourtant il nous est encore bien difficile, à nous français - même pour ceux d’entre nous appartenant à des groupements soumis à une discipline très stricte - de comprendre l’attitude militaire de la jeunesse hitlérienne et de n’y pas voir une tendance belliciste plutôt qu’une tendance sociale, supprimant les différences de classe et de milieu. Et si nous avons pu constater, dans les villages hâtivement traversés, une vie religieuse intense, la jeunesse hitlérienne, par contre, nous donne une impression un peu trop païenne. Toute sa foi semble s’être réfugiée dans le National-Socialisme même et c’est presque avec une attention religieuse que la jeunesse écoute, par T.S.F., le discours que Hitler fait ce soir-là à Nuremberg […].“ 272 Diese in fast allen Dokumenten der französischen Jugendorganisationen regelmäßig wiederkehrenden Vorbehalte und Distanzmarkierungen sollten nach den Vorstellungen der jungen Franzosen jedoch nicht zum Kommunikationshindernis werden. Die Unterschiede im Denken, Fühlen und Verhalten ihrer deutschen Altersgenossen zeichneten sich geradezu plakativ ab in der Wanderfahrt nach Frankreich, die eine Gruppe von 60 Mitgliedern des Berlin-Charlottenburger „Jungvolks“ im Juli 1935 unternahm. Das Unternehmen wurde von Otto Abetz angeregt und vom Auswärtigen Amt sowie der Union fédérale des Anciens Combattants finanziert. 273 Die Wanderfahrt führte über Paris bis an die Loire, dann in die Normandie und in die Champagne, war also weiträumiger angelegt als die französische Pionierfahrt durch Baden-Württemberg. Wie diese ermöglichte sie das Zusammentreffen mit Jugendgruppen des Gastlandes. Die „Jungvolk“-Gruppe lernte Vertreter der katholischen Jugendorganisationen und des Jugendverbandes der Union fédérale kennen, die beide Vorbereiter der pazifistischen Austauschbestrebungen mit Deutschland gewesen waren. Eine besondere Anerkennung fand bei den jungen Deutschen Marc Sangnier, der ab 1922 seinen weitläufigen Besitz in Bierville (Normandie Maritime) zum Zentrum der internationalen Jugend- und der 271 Ibid., p. 40. 272 Ibid. 273 Dieter Tiemann, op. cit., p. 343. <?page no="275"?> 275 französischen Jugendherbergs-Bewegung gemacht hatte. 274 Henri Pichot führte die deutsche Wanderreisegruppe auf den Soldatenfriedhof von Saint Quentin und hielt dort eine mahnende Rede, nach dem Vorbild der Anciens Combattants das ihrige zu tun zur Verhinderung eines neuen Krieges. 275 Wenn die französische Reisegruppe nach Südwest-Deutschland vor allem beobachten wollte, so wollte die deutsche „Jungvolk“-Gruppe bei ihrer Reise durch Nord-Frankreich in erster Linie etwas beweisen. Das wird erkennbar in den beiden erhaltenen Reiseberichten der Berliner. 276 Sie wollten durch ihr Verhalten im öffentlichen Raum in Frankreich die Vorstellung widerlegen, die in „der französischen Presse“ vorherrschte, nämlich daß die deutsche Jugend „militaristisch“ und „gefährlich“ sei. 277 Den Beweis des Gegenteils glaubten sie antreten zu können durch „straffe Disziplin“ und durch Gesangsdarbietungen. Sie „erwanderten und ersangen“ 278 sich das fremde Land und bedienten mit ihrem diszipliniert-uniformierten Auftreten ungewollt teilweise die vorhandenen Klischees ihres Gastlandes: „Die Truppe in ihrer blauen Jungvolktracht und den prall gefüllten ‚Affen’ erregte beträchtliches Aufsehen.“ 279 Wie ambivalent und mißverständlich diese frühen Versuche jugendlicher Kontaktaufnahme zwischen beiden Nationen auch waren: die Begegnungsformen der deutsch-französischen Wanderlager und Wanderfahrten ermöglichten individuelle Erfahrungen und Eindrücke, die bei den kollektiven Massenabordnungen der Nationalsozialisten nicht gewährleistet waren. Ab 1936 ging die Weitergestaltung des wechselseitigen Jugendaustauschs jedoch in eben diese Richtung, ohne daß die anfänglichen Praktiken aus der Kleingruppen-Tradition des Sohlbergkreises ganz außer Übung gesetzt wurden. Für diese Umgestaltung der außerschulischen Jugendbegegnungen waren mindestens zwei neue Faktoren ausschlaggebend. Zum einen wurde die verständigungspolitische Allianz zwischen Frontkämpferverbänden und Jugendorganisationen, die mit der Gründung der NS-DFG im Oktober und des CFA im November 1935 besiegelt wurde, zu einem Anlaß der Bevorzugung großer, symbolkräftiger Austauschakti- 274 Cf. Olivier Prat: „ ‚La Paix par la jeunesse’. Marc Sangnier et la réconciliation francoallemande, 1921-1939“, in: Histoire@Politique, n°10 http: / / www.histoirepolitique.fr/ index.php? numero=10&rub=dossier. 275 DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 275 sq. Henri Pichot: „Es ist endlich an der Zeit! Rede vor dem Deutschen Jungvolk auf den Schlachtfeldern bei St. Quentin am 26. Juli 1935“.’ 276 Hans-Erich Heidsieck: „Deutsches Jungvolk wandert durch Frankreich“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 265-272. Gerhard Banaskiwitz: „Hitlerjungen auf Frankreichfahrt“, in: DFM/ CFA, 1934/ 1935, p. 37-39. 277 Zum französischen Topos der „gefährlichen Jugend“ in Deutschland cf. Gilbert Krebs: „‚Ungewisse Jugend’. Zum französischen Deutschlanddiskurs der zwanziger Jahre“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005, p. 301-319. 278 Hans-Erich Heidsieck, loc. cit., p. 265. 279 Gerhard Banaskiwtz, loc. cit., p. 38. Unter dem Begriff „Affe“ verstand man im Jargon der HJ einen Tornister, der bei Wanderfahrten auf dem Rücken getragen wurde. <?page no="276"?> 276 onen, die politisch-institutionell relevant waren. Da in der DFG/ CFA die Kriegsteilnehmer-Verbände die bestimmende Kraft waren, konnte es nicht ausbleiben, daß die Jugendbeziehungen zunehmend ihrem Einfluß unterstellt wurden. Das bedeutete, daß die Jugendabteilung der Union fédérale mehr und mehr zum sichtbarsten Ansprechpartner inmitten einer größeren Zahl von Splittergruppen der französischen Jugend wurde für geplante deutsch-französische Veranstaltungen. Zum anderen wurden die Macht- und Kompetenzverlagerungen im NS-Regierungsapparat zum Bedingungsfaktor für die Umformung der deutsch-französischen Jugendkontakte im Sinne des Austauschs von Massenkontingenten. Mit dem sogenannten HJ-Gesetz vom 1. Dezember 1936 wurde der „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach (1907-1974) zum Staatssekretär und sein Ressort zur obersten Staatsbehörde erhöht. Zugleich wurden alle Jugendorganisationen in der HJ zusammengefaßt, die damit etwa 6 Millionen Mitglieder zählte. 280 Parallel zu dieser Zentralisation der jugendpolitischen Strukturen entwickelte von Schirach, der die vorherrschende Frankophobie der Jugendbewegung lange geteilt hatte, ein Interesse an den deutsch-französischen Jugendbeziehungen, die bis dahin das Aktionsfeld seines Stellvertreters Nabersberg gewesen war. 281 Sein neues Interesse wurde genährt anläßlich der Pariser Weltausstellung 1937, die er im Oktober 1937 selbst besuchte und wo er wiederholt führende Mitglieder des CFA traf. Er erklärte in der Folgezeit das Jahr 1938 zum „Jahr der Verständigung“ und erwog megalomane Begegnungsaktionen zwischen den Jugendlichen beider Nationen. Abetz zufolge legte er Hitler seinen Plan vor, „über zehntausend Führer und Unterführer zum Besuch der Pariser Weltausstellung“ zu senden. 282 Bevor diese eventhafte Aktion auch nur in die Planungsphase eintrat, sprach von Schirach im Oktober 1937 auf einem Empfang durch das CFA die Einladung aus zu einem kollektiven mehrwöchigen Deutschland-Besuch von 1000 französischen Frontkämpfersöhnen, von dem nach Auffassung der Planungsbehörden diejenigen jüdischer Väter auszuschließen waren. Henri Pichot und Jean Goy nahmen diese Einladung dankend entgegen und leiteten sie befürwortend an ihre Organisationen weiter. Schirachs Besuch der Weltausstellung war der Paris-Besuch „aller Gebietsführer der Hitlerjugend und [der] Amtschefs der Reichsjugendführung“ 283 vorausgegangen. Abetz war offenbar zu dieser Zeit selbst von der Megalomanie der NS-Jugendaustauschpolitik befallen. Er hatte schon Anfang 1937 den Plan gefaßt, 8000 bis 10.000 Hitlerjungen in Radfahrergruppen zur Weltausstellung zu schicken. Er hatte dafür die prinzipielle Einwilli- 280 Zu den Folgen dieser Neuverteilung der Macht cf. Arno Klönne: Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Hannover, Frankfurt 1955, p. 18 sq. 281 Nabersberg wurde Leiter des Grenz- und Auslandsamtes der Reichsjugendführung. Zu deren Chef cf. Michael Wortmann: Baldur von Schirach. Hitlers Jugendführer, Köln 1982. 282 Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 69. 283 Ibid., p. 69. Cf. auch Dieter Tiemann, op. cit., p. 350 sq. <?page no="277"?> 277 gung des Auswärtigen Amtes und des Quai d’Orsay erhalten, aber nicht das Plazet der Reichsjugendführung. 284 Neben diesen geplanten deutsch-französischen Massenveranstaltungen nahmen sich die Gruppenreisen von Frankreich nach Deutschland aus Anlaß der Olympiade im Jahre 1936 vergleichsweise bescheiden aus. Sie blieben in Umfang und Zusammensetzung auf das Format kleinerer und mittlerer Delegationen des CFA begrenzt. Zwar waren die olympischen Winter- und Sommerspiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin ein thematischer Brennpunkt der Kommunikation innerhalb der DFG/ CFA und das erste öffentliche Auftreten des CFA Ende November 1935 fand statt anläßlich der Überbringung der offiziellen Einladung Frankreichs zu den olympischen Spielen durch „Reichssportführer“ Hans von Tschammer und Osten. 285 Aber als Beleg für die Behauptung Abetz’, für die Sommerspiele (1.8.-16.8.1936) in Berlin sei der Zustrom französischer Besucher überaus groß gewesen, gibt es nur seine eigene Beobachtung, die sich auf die CFA- Gäste bezog: „Zu den Sommerspielen in Berlin war der Andrang von Mitgliedern der Pariser Schwesterorganisation so stark, daß das Haus der ‚Deutsch-Französischen Gesellschaft’ nicht ausreichte, sie aufzunehmen, und eine benachbarte große Villa und ein Massenquartier in der Stadt für sie mit Beschlag belegt werden mußte.“ 286 Die kritische Beurteilung des Körperkultes, die schon für die Weimarer Republik in Frankreich belegbar ist, 287 vor allem aber die rassistischen Grundlagen des „Dritten Reichs“ hatten der Ablehnung der Veranstaltung von olympischen Spiele in Deutschland in der französischen Öffentlichkeit des Jahres 1936 starken Auftrieb gegeben. 288 Von dieser ablehnenden Haltung blieben die führenden Repräsentanten des CFA unberührt. An dem Diner vom 29.11.1935 im Georges V, das zu Ehren des Präsidenten des deutschen Olympischen Komitees von Tschammer und Osten gegeben wurde, nahmen dessen französischer Kollege Armand Massard und mehrere Mitglieder des Pariser Olympia- Komitees teil. 289 Commandant L’Hôpital bezog sich in seiner Begrüßungsansprache explizit auf die Rolle der Jugend in der internationalen Verständigungsarbeit: „De plus en plus, la jeunesse aspire, à juste titre, à jouer son rôle; c’est pourquoi tout espoir nous est permis […]. Laissons donc aux 284 Dieter Tiemann, op. cit., p. 346 sq. 285 Er war ab 1934 zugleich Vorsitzender des Deutschen Olympischen Komitees; cf. seine Vorstellungen in: „Le sport en Allemagne et les Jeux Olympiques“, in: DFM/ CFA, 1936, p. 41-52. 286 Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 65. 287 Als mehr oder weniger ausgeprägtes Motiv spielte dabei der Verdacht eine Rolle, daß er der paramilitärischen Vorbereitung diene. Cf. die Belege in Hans Manfred Bock: „Berlin-Paris. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung“, in: op. cit., p. 30 sq. 288 Dazu informativ William Murray: „France: Liberty, Equality, and the Pursuit of Fraternity“, in Arnd Krüger, William Murray (ed.): The Nazi Olympics. Sport, Politics, and Appeasement in the 1930s, Urbana, Chicago 2003, p. 81-112. 289 DFM/ CFA, 1936, p. 53 sq.: „Der Sport fördert die Verständigung“. <?page no="278"?> 278 jeunes leurs vertus premières d’idéalisme et de générosité, tout en les mettant en contact avec les réalités et surtout ne semons pas une haine inféconde.“ 290 Aufgrund der hier zum Ausdruck gebrachten paternalistischen Haltung zur Jugendgeneration wurde ihr keine besondere Gruppenrepräsentanz im Organisationsleben des CFA zuerkannt, sondern eine kommunikationsstiftende Funktion in der bilateralen Austauscharbeit. Obwohl im gemeinsamen Verbandsorgan der DFG/ CFA viel von der völkerversöhnenden und friedenssichernden Aufgabe der Olympischen Spiele die Rede war, wurde dort vom realen Ablauf und den Ergebnissen der Garmisch- Partenkirchener und der Berliner Festspiele wenig berichtet. Zur symbolträchtigen Entsendung von Jugenddelegationen in Entsprechung zum Frontkämpfer-Austausch fehlten dem gerade erst gegründeten CFA anscheinend die Ressourcen. Die zwischen den Winterspielen und der Sommerolympiade von Hitler veranlaßte diplomatische Provokation des Einmarsches in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes vom März, aber auch die innenpolitisch heiß diskutierte Wahlkampfsituation, aus der im Mai 1936 die Volksfrontregierung hervorging, trugen zur Minderung des Interesses an den Olympischen Spielen in Deutschland in der französischen Öffentlichkeit bei. Ebenso trugen die jugend- und sportpolitischen Verabsäumungen der späten Dritten Republik zur Dämpfung der Erwartungen an die nationalen Ergebnisse der Wettkämpfe bei, 291 die in Erinnerung an die Sommerolympiade 1924 von Paris hoch gesteckt waren. 292 In Deutschland, das 1931 zum Austragungsort für die Olympischen Spiele 1936 vom IOC bestimmt worden war, wurden die Erwartungen an dies Sportereignis hingegen extrem gesteigert, weil die Nation während der ersten zehn Jahre nach Kriegsende von ihm ausgeschlossen war, vor allem aber, weil das NS-Regime in ihm eine einzigartige Gelegenheit zur positiven Selbstdarstellung des „neuen Deutschland“ sah. 293 Unter diesen Umständen wurden die olympischen Spiele 1936 nicht zum Anlaß für massive Besucherströme von Frankreich nach Deutschland, 294 wohl aber zum An- 290 „Discours du Commandant L’Hôpital, Président du Comité France-Allemagne“, in: PA/ AA, Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung, Bd. 7, 4 p., hier p. 2. 291 Cf. William Murray: „France“, loc. cit., p. 97 sq. 292 Die französische Olympia-Mannschaft hatte 1924 bei den Sommerspielen mit 38 Medaillen Platz 3 der Gesamtwertung belegt. 293 Zu den Techniken der indirekten und direkten Politisierung der Berliner Sommerspiele 1936 cf. neben William Murray, op. cit., die Studien in Jean-Marie Brohm: 1936. Les Jeux olympiques à Berlin, Paris 2008 und Friedrich Bohlen: Die XI. Olympischen Spiele Berlin 1936. Instrument der innen- und außenpolitischen Propaganda und Systemsicherung des faschistischen Regimes, Köln 1979. 294 Frankreich hatte mit 1 Bronzemedaille in Garmisch-Partenkirchen lediglich Platz 10 belegt. Gemäß den „Fremdenmeldungen und Übernachtungs“- Statistiken kamen im August 1936 3.350 Franzosen nach Berlin und sie waren damit auf Platz 7 der Auslands-Kontingente unter den Olympia-Zuschauern. Cf. Reinhard Rürup (ed.): 1936. <?page no="279"?> 279 stoß für die zunehmend gegensätzliche Deutung des nationalsozialistischen Deutschland in Frankreich. Der Aspekt der Olympiade 1936, der von den zeitgenössischen Beobachtern und den DFG/ CFA-Akteuren zum Gegenstand kontroverser Debatten gemacht wurde, war die auffällig freundliche bis frenetische Begrüßung der französischen Mannschaft beim Einmarsch in Garmisch-Partenkirchen und in Berlin. Während die Kritiker in dieser Geste das Werk von „Akklamations-Brigaden“ der Nationalsozialisten sahen, 295 deuteten die Verständigungs-Akteure den symbolischen Akt als Ausdruck besonderer deutscher Sympathie für die Nachbarnation. 296 Das Interesse der CFA-Repräsentanten an den Olympischen Spielen von 1936 hielt sich durchaus in Grenzen. Es sind bisher nur wenige Dokumente zur französischen Olympia-Präsenz aus dem Bereich des CFA bekannt. Zu Beginn des Olympia-Jahres reiste die annähernd komplette Gruppe der CFA-Vorsitzenden mit L’Hôpital, de Brinon, Bonvoisin, Benoist-Méchin und drei Repräsentanten der Frontkämpfer-Verbände nach Berlin, wo sie von Ribbentrop, Abetz und mehreren Ministern begrüßt wurde. 297 Von Arnim und L’Hôpital versicherten sich ihren Willen zur Zusammenarbeit im Rahmen ihrer Organisationen und nach einer zeremoniellen Kranzablage am Reichsehrenmal verhandelten die Vertreter der Anciens Combattants mit Rudolf Hess über die Friedensdemonstration in Verdun, die für den 12./ 13. Juli geplant war. Tags darauf wurden sie von Hitler empfangen, der eine Probe seiner vorgeblichen Verständigungsbereitschaft gab, 298 und sie flogen anschließend nach München, um schließlich als Gäste an den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen teilzunehmen. Die Eindrücke von der friedliebenden deutschen Bevölkerung, die man in der Ausnahmesituation der kollektiven Festatmosphäre vermittelt bekam und die von der nationalsozialistischen Regie willentlich herbeigeführt wurde, verbanden sich für die französischen Besucher mit dem bleibenden Eindruck von perfekter Organisation, die die Olympischen Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Berlin 1996, p. 108. 295 Das Symbol, das dabei im Mittelpunkt der Diskussion steht, war der Gruß mit dem ausgestreckten rechten Arm, der als Huldigung an Hitler und das NS-Regime gedeutet wurde. Nachweisbar war diese Geste (unter Berufung auf die antike Tradition) schon 1924 und 1936 auch von anderen Nationalmannschaften vollführt worden. Zur These „brigades d’acclamation“ cf. William Murray, op. cit., p. 94 und 101 sq. 296 So Otto Abetz: Das offene Problem, op. cit., p. 66, die Akklamations-Brigaden-These zurückweisend: „Nein, wenn das deutsche Publikum gerade die Franzosen mit dieser Huldigung bevorzugte, so kam dabei eine spontane Sympathie für Frankreich zum Ausdruck, welche zeigte, wie stark der Verständigungsgedanke schon in breiteren Schichten des deutschen Volkes Wurzeln geschlagen hatte.“ 297 DFM/ CFA, 1936, p. 73 sq.: „Le CFA à Berlin“. 298 Cf. dazu Roland Ray, op. cit., p. 182, der sich bezieht auf den Bericht des UF- Delegierten Georges Pineau: „Le Comité France-Allemagne à Berlin“, in: Cahiers de l’Union fédérale, Nr. 92 (10.2.1936). <?page no="280"?> 280 Spiele hinterließen. 299 Diese Reaktionen wurden noch einmal verstärkt durch die Sommer-Olympiade in der Reichshauptstadt während der ersten Augusthälfte 1936. Hier gab es eine größere Zahl von Aufnahme- Angeboten für französische Olympiade-Besucher. Ihnen standen Privatunterkünfte in einem Berliner Viertel zur Verfügung, in dem ein Dolmetscherbüro die Verständigung erleichtern sollte, und die von der NS-DFG bereitgestellten Villen, die vorzugsweise den CFA-Gästen vorbehalten blieben. 300 Im Kulturprogramm der Sommerspiele fand eine französische Trachten- und Volkstanzgruppe ihren Platz, die im Olympia-Stadion auftrat im Rahmen der Veranstaltung „Musik und Tanz der Völker“. Sie wurde anläßlich des „Olympia-Empfangs“ in der DFG-Villa im Tiergartenviertel von Rudolf Schleier und Friedrich Bran willkommen geheißen und trug zur Gestaltung der Veranstaltung bei. Zu diesem Empfang in der Hildebrandstraße waren Botschafter André François-Poncet mit mehreren seiner Attachés erschienen und als Vertreter der Dienststelle Ribbentrop Abetz und ein weiterer „Stabsleiter“. 301 Die Begrüßungsreden hielten von Stauss, Oberlindober und Fernand de Brinon. Die Ansprache des Vizepräsidenten des CFA de Brinon wurde stark akklamiert, in der es u.a. zur Olympiade hieß: „Sie haben uns in unvergleichlichen Darbietungen, wie sie in der Welt einzig dastehen, gezeigt, daß sich im neuen Deutschland der Sinn für das Riesenhafte mit dem Gefühl für Harmonie und Reinheit der Linien verbindet. Sie haben die Herrlichkeit der griechischen Kultur zu neuem Leben erweckt und damit große Aus-blicke in die Zukunft geschaffen. Was wäre aber die Größe und die Macht all dieser Schöpfungen, wenn sich ihr nicht die Gastlichkeit und die lebendige Anteilnahme der Herzen zugesellt hätte? Gerade hierfür danken wir Ihnen besonders und wir hoffen, diesen Dank in der Arbeit zum Ausdruck bringen zu können, die wir gemeinsam mit Ihnen aufgenommen haben.“ 302 Die Olympischen Sommerspiele in Berlin waren auch der Zielort einer jugendlichen Reisegruppe der Union fédérale, die zuvor (wie die Trachten- und Volkstanzgruppe) am „Weltkongreß für Freizeit und Erholung“ in Hamburg in der letzten Juli- Woche teilgenommen hatte. 303 Für die 110 Söhne und Töchter gefallener oder verletzter Frontkämpfer hatte diese Reise (Hamburg, Berlin, Nürnberg, München) einen Versuchs- und Erkundungszweck. 304 Man wollte in erster Linie in Augenschein nehmen, ob der von deutscher Seite bekundete Wille zum Frieden authentisch war, und ließ sich von dem olympischen Fieber in Berlin nur wenig beeindrucken. Die UF-Jugenddelegation bekam dort das „Internationale Jugendlager“ und das „Olympia-Lager der HJ“ zu 299 Roland Ray, op. cit., p. 182 sq. 300 DFM/ CFA, 1936, p. 320: „Olympiade 1936“. 301 Ibid., p. 320 sq.: „Olympia-Empfang in der Deutsch-Französischen Gesellschaft“. 302 Ibid., p. 321: „Bekenntnis zur Verständigung“. 303 Ibid., p. 321 sq.: „Die französische Frontkämpferjugend in Hamburg“. 304 Roger Pormenté: „Les Jeunesses de l’Union Fédérale en Allemagne“, in: DFM/ CFA, 1936, p. 298 sq. <?page no="281"?> 281 sehen und war beeindruckt von der „mystique de la solidarité communautaire basée sur le sacrifice et le don de soi“, 305 die ihnen auf der Reise bei den gleichaltrigen Deutschen entgegentrat. Sie wurde vom allgegenwärtigen Henri Pichot und von Vertretern der „Reichsjugendführung“ betreut, legte aber Wert darauf, ihr Urteil nicht auf die Worte der Offiziellen, sondern auf die Begegnung mit den anonymen Vertretern der Durchschnitts- Deutschen zu gründen. Es hieß: „L’homme du peuple veut vraiment la paix et l’amitié avec la France. Nous en avons eu des preuves aussi nombreuses que spontanées et notre jugement n’est nullement influencé par les discours officiels.“ 306 Die Beurteilung der deutschen Jugend durch ihre französischen Altersgenossen, die Gelegenheit hatten sie kennenzulernen, fiel nicht zuletzt deshalb so relativ günstig und optimistisch aus, weil in den Jahren 1933 bis 1936 noch Praxiselemente der bündischen Jugendbewegung insbesondere im „Deutschen Jungvolk“ fortexistierten. 307 Das sollte sich nach Erlaß des HJ-Gesetzes im Dezember 1936 ändern, indem diese umfassende Organisation ihre Regeln und Praxisformen allgemein verbindlich machte. Mit der Umstrukturierung der NS-Jugendpolitik und dem Interesse von Schirachs an den Beziehungen zu Frankreich setzte sich hier der Kult der großen Zahl, zum „Riesenhaften“ wie de Brinon das nannte, durch. Am Beispiel des Großprojektes, 1.000 Kinder von Anciens Combattants nach Deutschland einzuladen, das von Schirach während der Weltausstellung 1937 verkündet hatte, ist der Niedergang der jugendpolitischen DFG/ CFA- Austauschaktionen im Laufe des Jahres 1938 nachweisbar. Die beiden Zentralen der UF und der UN warben in der Verbandszeitschrift im Frühjahr 1938 für die Großgruppenreise. 308 Diese sollte vom 10. bis 24. April von Freiburg i. B. nach Freudenstadt und Stuttgart führen, dann durch das Neckartal bis Heidelberg, anschließend nach Frankfurt/ Main und Köln (zu Schiff), sowie nach Essen, Hannover und Hamburg, um dann in Berlin zu enden. Das Interesse an der Durchführung dieser spektakulären Deutschlandreise lag seitens der deutschen Organisatoren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Möglichkeit der Sympathie- und politischen Vertrauenswerbung für das nationalsozialistische Deutschland durch eine Art von politischem Massentourismus für die französischen Jugendlichen. Sie war zudem geplant ohne die Gegeneinladung deutscher Jugendlicher nach Frankreich, wie das seit Anfang der 1930er Jahre im Frontkämpfervereins-Bereich die Regel war. Daß diese Reise dann nicht zustande kam, lag allerdings nicht an diesen Eigentümlichkeiten, sondern daran, daß die Überzeugung der Protagonisten der Anciens Combattants 305 Ibid., p. 298. 306 Ibid. 307 Diese These wird plausibel entwickelt in Arne Klönne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegener, Köln 2003, p. 125 sq. 308 DFM/ CFA, 1938, p. 82: „Le voyage en Allemagne des 1.000 fils d’anciens combattants“. <?page no="282"?> 282 von der Vereinbarkeit der politischen Systeme beider Länder und vom möglichen Erfolg der Friedensarbeit zwischen ihnen im Laufe des Jahres 1938 zu Bruch ging. Der Abbau der Gesprächsgrundlagen vollzog sich etappenweise und ist an den Stellungnahmen der führenden Vertreter der Union fédérale ablesbar. Henri Pichot, der den Baden-Badener DFG/ CFA- Kongreß im Juni 1938 schon im Dissens vorzeitig verlassen hatte, 309 erklärte nach den November-Pogromen 1938 in seinem Artikel vom 16.11.1938 in „L’Œuvre“: „Deutschland sei immer maßlos und habe dies auch jetzt wieder bewiesen. Infolgedessen schlage immer wieder die Stunde, in der sich Deutschland und die Welt nicht mehr verstehen könnten. Eine solche Stunde sei jetzt wieder angebrochen.“ 310 Aus dieser zunehmend skeptischen Einschätzung der Möglichkeiten konstruktiver Interaktion zwischen der Gesellschaft beider Länder resultierte die Absage an das Projekt von Schirachs, 1.000 Frontkämpferkinder der UF zur Reise durch Deutschland einzuladen. Kurz vor dem vorgesehenen Reisetermin vom 10.-24. April und in Reaktion auf die de facto Annexion Österreichs am 12. März 1938 teilte Pichot in einem Brief an von Schirach die Entscheidung seiner Organisation mit, diesen spektakulären Besuch nicht durchzuführen. 311 Er wollte damit vermeiden, daß der Besuch der 1.000 Jugendlichen aus Frankreich in Deutschland als positive Sanktionierung des Völkerrechtsbruchs der Nationalsozialisten in Österreich dargestellt werden konnte. Im gleichen Zusammenhang erfolgte auch die Absage des Besuchs der Musiktheater- Gruppe aus Freiburg in Besançon 312 und einer geplanten Reise von 1.000 Anciens Combattants aus der ostfranzösischen Region Bresse ins Rheinland. Die Lagebeurteilung der deutsch-französischen Beziehungen in der UF wurde nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag im März 1939 vollends aussichtslos. Der Kongreß der UF in Lyon von Anfang April 1939 faßte eine Resolution, deren Kernsätze im Pariser Botschaftsbericht vom 11.4.1939 so wiedergegeben wurden: „Der Kongreß der Union fédérale fordert die französische Regierung auf, energisch gegen die Propaganda der totalitären Länder anzukämpfen, die daran arbeiten, die Franzosen uneinig zu machen und unser Land im Ausland zu diskreditieren. […] Die französischen Frontkämpfer sind zwar gern bereit, Anregungen und konstruktive Verhandlungen aufzunehmen, aber ebenso entschieden erklären sie es für unmöglich, vertrauensvoll mit Regierungen zusammen zu arbeiten, die Gewalt anwenden und freiwillig eingegangene Verpflichtungen zerreißen.“ 313 Die Botschaft wertete diese Resolution als „Trennungsstrich 309 Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 196. 310 PA/ AA, Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte, Bd. 5: „Kongreß der französischen Frontkämpfer“, p. 1. 311 Cf. Claire Moreau Trichet, op. cit., p. 141 sq. 312 Cf. dazu oben in diesem Abschnitt die Darstellung der Frontkämpfertreffen in Freiburg und Besançon. 313 PA/ AA, Kriegsteilnehmer, Bd. 5: „Kongreß der französischen Frontkämpfer“, p. 1. <?page no="283"?> 283 zwischen den französischen und den deutschen Frontkämpfern“. 314 Pichot bekräftigte diese Absage an das verständigungs-politische Projekt nationalkonservativen Zuschnitts des CFA. Er erklärte in seiner Kongreßrede, er habe erneut den Krieger auf den Schild gehoben: „Ich habe ihn vor den Feind von gestern gestellt, von dem wir gehofft hatten, er würde ein Freund werden. Der Feind von gestern, der auf seine unsinnigen Träume zurückgekommen ist, soll auf seinem Weg den französischen Soldaten vorfinden.“ 315 Die zentrale Organisationsachse der DFG/ CFA war damit funktionsunfähig geworden und das Verbot der Verbreitung seines Verbands- Verbandsorgans DFM/ CFA durch die französische Regierung im August 1939 beendete auch seine Öffentlichkeitsarbeit. 314 Ibid. 315 Ibid. <?page no="285"?> 285 VIII. Deutsch-Französisches Studienkomitee (Mayrisch-Komitee) von 1925 bis 1930 „Unter den Männern, die an der deutsch-französischen Zusammenarbeit, soweit sie bisher Realität ist, und an dem Streben nach ihrer Vollkommenheit den Hauptanteil haben, steht der Name des luxemburgischen Großindustriellen Emile Mayrisch mit an der Spitze. Ein tragisches Geschick, wie es von Zeit zu Zeit immer wieder einmal einen Großen dieser Erde betrifft […], hat diesen rüstig schaffenden und jugendlichen 67jährigen mitten aus der Arbeit an seinem Lebenswerk hinweggerafft. Auf dem Wege von Luxemburg, wo er in seinem schönen Schloße Colpach die menschlichen Freuden eines erfolgreichen Daseins genoß, zu einer Sitzung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft in Paris hat ihn ein Autounfall jäh aus dem Leben gerissen. […] Auch die deutsch-französische politische Verständigungsbewegung verliert in ihm einen ihrer aktivsten Förderer.“ 1 Mit diesen Worten der Würdigung reagierte ein Sprecher der Deutsch-Französischen Gesellschaft auf die Nachricht vom Tode des Initiators des Deutsch- Französischen Studienkomitees, Emile Mayrisch, der Anfang März 1928 tödlich verunglückt war. 1. Colpach als wirtschaftlicher und kultureller Brückenschlag zwischen Deutschland und Frankreich Beide Organisationen, die Deutsch-Französische Gesellschaft 2 und das Deutsch-Französische Studienkomitee, waren zu dieser Zeit erst unlängst, 1926 und 1927, entstanden als Hoffnungsträger für die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen. Die Voraussetzungen für die 1928 noch ungebrochene Hoffnung auf die politische, wirtschaftliche und kulturelle Annäherung zwischen dem Deutschen Reich und der französischen Republik, den beiden Hauptkontrahenten im kontinentalen Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg, waren durch den Vertrag von Locarno im Oktober 1925 geschaffen worden. Emile Mayrisch, der erfolgreiche und mächtige Gründer des schwerindustriellen Konzerns ARBED, erkannte frühzeitig die Gunst der neuen internationalen Konstellation, die es ihm erlaubte, die Zulieferungsbedingungen und die Absatzmöglichkeiten seines luxemburgischen Stahlkonzerns durch Absprachen mit den Unternehmern der westeuropäischen Nachbarländer langfristig zu sichern. Nachdem er bereits 1922 erfolglos versucht hatte, die Repräsentanten der französischen 1 „Emile Mayrisch †“, in: Deutsch-Französische Rundschau (1928), p. 266. 2 Zu dieser bildungsbürgerlichen Parallelorganisation zum Deutsch-Französischen Studienkomitee cf. Kapitel IV dieses Buches. <?page no="286"?> 286 und der deutschen Stahlindustrie, Schneider und Stinnes, in Colpach zu Gesprächen zusammenzubringen, um die luxemburgischen Industrieinteressen nach beiden Seiten hin vermitteln zu können, gelang es ihm am 17. Juni 1925, die Rivalität der französischen und deutschen Stahlproduktion im „Luxemburger Abkommen“ vorübergehend zu überbrücken. 3 Am 30. September 1926 kam es dann wiederum im wesentlichen durch Emile Mayrischs Vermittlung zur Unterzeichnung der „Internationalen Rohstahlgemeinschaft“ zwischen französischen, deutschen, belgischen und luxemburgischen Industriellen, die einen dauerhafteren Charakter hatte und in der manche Autoren eine historische Präfiguration der späteren Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl der 1950er Jahre sehen wollen. 4 Während Emile Mayrisch auf diese Weise in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zur europaweit bekannten Unternehmerpersönlichkeit avancierte, versammelte Aline Mayrisch-de Saint Hubert in Schloss Colpach gleichzeitig einen Kreis von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen französischer, deutscher, belgischer und luxemburgischer Herkunft, der sich in wechselnder Zusammensetzung und in unregelmäßiger Abfolge traf und den durch den Weltkrieg unterbrochenen Dialog über die nationalen Grenzen hinweg wieder aufzunehmen versuchte. Die Anziehungskraft des Colpacher Kreises beruhte nicht allein auf dem mäzenatischen Wirken von Emile und Aline Mayrisch, sondern auch auf deren langjähriger 3 Zu diesen kartellpolitischen Aktivitäten Mayrischs cf. vor allem Charles Barthel: Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débats difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux 1918-1929, Luxembourg 2006. Cf. auch die älteren Arbeiten von Jacques Bariéty: „Sidérurgie, littérature, politique et journalisme: Une famille luxembourgeoise, les Mayrisch, entre l’Allemagne et la France après la Première Guerre Mondiale“, in: Bulletin de la Société d’Histoire Moderne (1969), p. 7-12; ID.: „Le sidérurgiste luxemburgeois Emile Mayrisch, promoteur de l’Entente Internationale de l’Acier après la Première Guerre Mondiale“, in: Raymond Poidevin, Gilbert Trausch (ed.): Les relations franco-luxembourgeoises de Louis XIV à Robert Schuman, Metz 1978, p. 245-257; ID.: „Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum mißlungenen ‚Schwerindustriellen Projekt’ des Versailler Vertrages“, in: Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod (ed.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, p. 552-568, ID.: „Le rôle d’Emile Mayrisch entre les sidérurgies allemandes et françaises après la première guerre mondiale“, in: Relations Internationales (1974), p. 123-134. Zur Industriellen-Karriere Emile Mayrischs cf. Robert Kayser: „La vie d’Emile Mayrisch“, in: Emile Mayrisch. Précurseur de la construction de l’Europe, Lausanne 1967, p. 21-30; Jacques de Launay: Emile Mayrisch, Bruxelles 1965; Guido Müller: „Emile Mayrisch und westdeutsche Industrielle in der europäischen Wirtschaftsverständigung nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique 4 (1992), p. 545sq. 4 Dazu kritisch z.B. Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977, p. 54sq.; Clemens A. Wurm: Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924-1926, Frankfurt/ Main/ Bern/ Las Vegas 1979, p. 441sq.; Karl-Heinrich Pohl: Weimars Wirtschaft und die Außenpolitik der Republik 1924-1926. Vom Dawes-Plan zum Internationalen Eisenpakt, Düsseldorf 1979, p. 232sq. <?page no="287"?> 287 freundschaftlicher Verbindung mit den führenden Repräsentanten der literarischen und intellektuellen Avantgarde in Frankreich, die sich um die „Nouvelle Revue Francaise“ (NRF) scharte. Die persönlichen Beziehungen zwischen Aline Mayrisch und André Gide gingen bis auf das Jahr 1903 zurück, die direkten Kontakte zwischen Emile Mayrisch und Jean Schlumberger sind seit 1917 belegbar. 5 Nicht identisch mit dem Verbindungsnetz der NRF, aber mit diesem seit den Vorkriegsjahren vielfältig verbunden war eine andere französische Relaisstation des Colpacher Kreises, nämlich die „Union pour la vérité“ des Philosophen Paul Desjardins, 6 der ab 1922 die Vorkriegstradition der europäischen Intellektuellen-Treffen in Pontigny wieder aufnahm. 7 Die Bedingungen für die Möglichkeit der Vermittlung eines neuen Dialogansatzes zwischen Deutschen und Franzosen waren in Colpach vor allem deswegen in wünschenswerter Weise vereint, weil die anerkannten Vertreter des französischen Kulturlebens, mit denen die Mayrischs Umgang pflegten, zugleich auch diejenigen Franzosen waren, die sich die „geistige Demobilisierung“, 8 d. h. die Überwindung der tiefwirkenden Feindpropaganda der Kriegsjahre zum Ziel gesetzt hatten. 9 Einen Versuch, die ökonomische Interessenwahrung durch die Vermittlung zwischen Deutschen und Franzosen mit dem kulturellen Brückenschlag zwischen beiden zu verbinden, hatte Emile Mayrisch auch bereits 1922 unternommen. Er kaufte die „Luxemburger Zeitung“ in der Hoffnung, daraus eine Tribüne für die Klärung der deutsch-französischen Gegensätze zu machen. Eine Hoffnung, die trotz der Mitarbeit so begabter Autoren wie Jacques Ri- 5 Cf. Tony Bourg: „André Gide et Madame Mayrisch“, in: Colpach, „petit noyau de la future Europe“, Luxembourg 1978, p. 66-127. Jean Schlumberger: Œuvres Complètes, Paris 1960, Bd. 5, p. 335-340. Generell zu Colpach als kulturellem Mittelpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen cf. neben dem 1978 bzw. 1958 herausgegebenen Band Colpach (op.cit.), den Beitrag Daniel Durosay: „Paris-Berlin, via Luxembourg. Un relais dans les relations politiques franco-allemandes de la N.R.F.: la maison Mayrisch“, in: Bulletin des Amis d‘André Gide (1986), p. 33-56, und die „Dossiers Rencontres de Colpach“, in: Galerie 5 (1987), p. 165-219 und 1 (1988), p. 7-36, 4 (1992), p. 525-585 u. a. 6 Zu Paul Desjardins cf. Ekkehart Blattmann: Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/ Main 1985, und François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Villeneuve d’Ascq 2000. 7 Cf. dazu die Beiträge in: François Beilecke, Hans Manfred Bock (ed.): „Vernunftethik als gesellschaftliche Begründung der Republik. Die Intellektuellen-Vereinigung Union pour la vérité in der Dritten Republik“, in: Lendemains 78/ 79 (1995), p. 79-171. 8 Ein Begriff, der von einem prominenten Mitglied der Union pour la vérité und späteren Gründungsteilnehmer des Comité franco-allemand d’information et de documentation geprägt wurde. Cf. Henri Lichtenberger: L’Allemagne d’aujourd’hui dans ses relations avec la France, Paris 1922. 9 Cf. dazu auch Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger, père fondateur de la germanistique française et médiateur entre la France et l’Allemagne“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, p. 155sq. <?page no="288"?> 288 vière von der französischen und Ernst Robert Curtius von der deutschen Seite 1925 gescheitert war. 10 Im selben Jahr begann er in Verbindung mit der Vorbereitung des internationalen Stahlkartells, die Idee prüfen und konkretisieren zu lassen, wie anstelle des literarischen Kommunikationsstegs zwischen den beiden verfeindeten großen Nachbarländern eine solider verankerte Konstruktion für die deutsch-französische Annäherung aufzubauen sei. 2. Emile Mayrisch und Pierre Viénot, der Bauherr und der Architekt des Deutsch-Französischen Studienkomitees Ähnlich wie Emile und Aline Mayrisch in Jacques Rivière einen kompetenten Verantwortlichen für die Ausgestaltung der „Luxemburger Zeitung“ gefunden hatten, so kam mit Pierre Viénot wiederum ein hoch befähigter junger Mitarbeiter aus dem Kreis der NRF und der „Union pour la vérité“ in Verbindung mit den Colpacher Initiativen der Industriellen- und Mäzenaten-Familie. Durch eine seltsame Fügung besuchte Pierre Viénot annähernd in dem Augenblick zum ersten Mal Colpach, im Januar 1925, als Jacques Rivière im Alter von 38 Jahren plötzlich einer Krankheit erlag (14.2.1925). 11 Der Vergleich zwischen den beiden Mayrisch-Mitarbeitern Rivière und Viénot, von denen jeder ein überaus wichtiges, wenngleich gegensätzliches Deutschland-Buch schrieb, verdiente eine eigene Studie. 12 Im Zusammenhang mit der Entstehung des Deutsch-Französischen Studienkomitees ist hier von Interesse, dass Viénot die Veröffentlichungen von Jacques Rivière zur Notwendigkeit der französisch-deutschen Wirtschaftskooperation 13 kannte und sich teilweise zu Eigen machte. Er schrieb z. B. am 10. Mai 1923 an seinen Mentor und väterlichen Freund, den Maréchal Lyautey, er wolle ihn auf einen bemerkenswerten Aufsatz von Jacques Rivière in der NRF-Ausgabe vom 1.5.1923 hinweisen, der die französischdeutsche Wirtschafts-Zusammenarbeit zum Thema habe: „J’ai trouvé là des 10 Zu Rivières Rolle als Deutschland-Deuter cf. grundlegend Lionel Richard: „Jacques Rivière et l’Allemagne“, in: Ethnopsychologie (1974, mars), p. 51-80, und Marcel Engel: „Jacques Rivière au Luxembourg“, in: Colpach, op.cit., p. 137-175. 11 Zu Rivière cf. auch Yves Rey-Herme (ed.): Jacques Rivière. Une conscience européenne, Paris 1992. 12 Jacques Rivière: L’Allemand, Paris 1919. Pierre Viénot: Incertitudes allemandes. La crise de la civilisation bourgeoise en Allemagne, Paris 1931. Cf. meine Studie: „Der Blick des teilnehmenden Beobachters. Zur Entstehung von Pierre Viénots Buch ‚Ungewisses Deutschland’ in der Weimarer Republik und zu dessen Stellung in der französischen Deutschland-Essayistik des 20. Jahrhunderts“, in: Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur. Neu herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von H. M. Bock, Bonn 1999, p. 9-77. 13 Jacques Rivière: „Pour une entente économique avec l’Allemagne“, in: Nouvelle Revue Française (1923), p. 725-735. <?page no="289"?> 289 analyses excellentes de nos erreurs et un projet constructif de ‘traité d’industrie’ qui me paraît tout à fait intéressant. Si on pouvait entendre de semblables voix! “ 14 Rivière hatte in dem Artikel die Nachkriegspolitik Frankreichs kritisiert, da sie mit Hilfe des Versailler Vertrages und der aktuellen Ruhrbesetzung den Deutschen in erster Linie Reue und Angst auferlege und damit die konstruktivere Perspektive gezielter Zusammenarbeit verstelle. Statt dieser Blockierung der französisch-deutschen Beziehungen warb Rivière für einen Neuanfang in der Politik der Friedenssicherung: „La paix a été manquée. Il faut la recommencer. Il faut la concevoir comme un organisme, et non pas la décréter, mais lui donner vie. La première cellule ne peut en être que la coopération économique de la France et de l’Allemagne. Les deux pays doivent tâcher de travailler à quelque chose ensemble; les humeurs se dissipent quand le travail va bien, où l’on est en commun intéressé.“ 15 Da Rivière dergleichen Ideen in engster Abstimmung mit Emile Mayrisch in der NRF und in der „Luxemburger Zeitung“ vertrat 16 und Viénot sie schon 1923 nicht nur kannte, sondern nachdrücklich begrüßte, war dessen Weg nach Colpach in gewisser Weise vorgezeichnet. Emile Mayrisch überließ es nicht nur anderen, die Vorteile der deutschfranzösischen Wirtschaftskooperation literarisch zu vertreten, sondern er meldete sich zumindest gelegentlich in Fragen der internationalen Wirtschaftspolitik selbst zu Worte. In einem Artikel der briandistischen Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“, die in Frankreich von Louise Weiss 17 herausgegeben wurde, nahm er Anfang 1926 Stellung zum Projekt einer Europäischen Zollunion, das seit 1925 aktive Anhänger auf beiden Seiten des Rheins hatte. 18 Er hielt diesen Weg als Mittel zur Friedenssicherung für ungeeignet, da eine Harmonisierung der Zölle sowohl den Interessen der Kolonialmacht Großbritannien, als auch der USA und Russlands zuwiderlief und da die krassen Unterschiede im sozio-ökonomischen Entwicklungsstand der europäischen Nationen eine Europäische Zollunion einstweilen noch als Utopie erscheinen lasse. „Une union européenne ne peut se réaliser que dans le cadre d’un système de libre échange mondial. Celui-ci 14 Brief von Pierre Viénot an Maréchal Lyautey vom 10. Mai 1923 in: Archives Privées du Maréchal Lyautey in den Archives Nationales in Paris Nr. 475/ AP 311. 15 Jacques Rivière: Pour une entente économique, loc.cit., p. 731. 16 Marcel Engel, loc.cit., p. 143sq. belegt die enge Abstimmung der Ideen zwischen Rivière und Emile Mayrisch in den Fragen der französisch-deutschen Wirtschaftskooperation. 17 Louise Weiss, in dieser Zeit Anhängerin Briands und später in den siebziger Jahren die erste Präsidentin des direkt gewählten Europäischen Parlaments, ließ in ihrer Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ die Entstehung des Internationalen Rohstahl- Kartells und des Deutsch-Französischen Studienkomitees mehrfach kommentieren. 18 Die Idee wurde in Frankreich vor allem von Yves Le Trocquer und in Deutschland von Edgar Stern-Rubarth vertreten. Letzterer war zugleich ein führender Repräsentant der Deutsch-Französischen Gesellschaft. Cf. zur Geschichte der Organisation Simone Wiegand: Union Douanière Européenne. Europäischer Zollverein, Diplom-Arbeit Kassel 1991 und Kapitel VI dieses Buches. <?page no="290"?> 290 doit être précédé d’une évolution radicale dans la conception de l’Etat visà-vis de la production, de la consommation, du capital, du travail et de l’individu. Cette évolution, que l’on peut souhaiter ou appréhender, se fera plus sûrement peut-être que l’évolution vers un pacifisme général et absolu; mais avant qu’elle ne soit un fait accompli et avant que tout risque de guerre ne soit définitivement écarté, l’idée d’une union douanière européenne ne se réalisera pas.“ 19 Dies Ziel erfordere die geduldige Arbeit und den guten Willen von ein bis zwei Generationen; aber es gebe in der Gegenwart „des tentatives de moindre envergure, mais d’un effet plus immédiat, marquant chacune une étape vers l’aboutissement définitif.“ 20 Als ein solches Unterfangen begrenzterer Reichweite sah er allem Anschein nach die im Frühjahr 1926 noch in der Vorbereitung befindliche Internationale Rohstahlgemeinschaft und das Deutsch-Französische Studienkomitee an, die beide Etappen zu dem Ziel der praktischen deutsch-französischen Kooperation und einer zukünftigen größeren Wirtschaftsgemeinschaft sein sollten. Mayrisch hielt sich als Mann der Tat an das unmittelbar Machbare und er delegierte die Aufgaben, die er nicht selbst erfüllen konnte, an kompetente Mitarbeiter. Eine besonders glückliche Entscheidung dieser Art traf er, als er Anfang 1925 Pierre Viénot in seine Pläne einführte und bald schon auf seinen zahlreichen Reisen in Deutschland und Frankreich sich von ihm begleiten ließ. Anhand neuerdings entdeckter Archivbestände 21 kann man recht genau Art und Ausmaß der Zusammenarbeit Mayrischs mit Viénot in der Entstehungsphase des Deutsch-Französischen Studienkomitees nachzeichnen. Die bislang unentschiedene Frage, wer von beiden der Urheber des Plans einer deutsch-französischen Organisationsgründung gewesen sei 22 kann definitv beantwortet werden. Alle Überlegungen Mayrischs und des Colpacher Kreises liefen auf die Notwendigkeit hinaus, ein wirksam arbeitendes Kommunikationsnetz zwischen einflussreichen Personen in beiden Nationen aufzubauen. Der Auftraggeber für den Bau einer deutschfranzösischen Organisation, die diesem Zweck dienen sollte, war also Emile Mayrisch. Der Architekt, der den Grundriss dieses Baues entwarf, seine Zweckbestimmung definierte und in Frankreich sich mit der Anwerbung von Anteilseignern befasste, war Pierre Viénot. Dieser junge Weltkriegs- 19 Emile Mayrisch: „Une opinion luxembourgeoise sur un projet d’‚union douanière européenne’“, in: L’Europe Nouvelle (1926), p. 555sq. 20 Ibid., p. 556. 21 Neben der bereits (Anm. 14) genannten Korrespondenz zwischen Pierre Viénot und General Hubert Lyautey (Archives Nationales, AP 311/ 475 und AP 205/ 475) wurden ausgewertet das Archiv Pierre Lyautey in den Archives Départementales in Nancy (20 J 62.) und die Dokumente der Deutschen Botschaft in Paris im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. 22 Cf. z.B. Fernand L’Huillier: Dialogues franco-allemands 1925-1933, Strasbourg 1971, p. 30sq. <?page no="291"?> 291 Veteran und Jurist 23 war von Mitte 1920 bis Mitte 1922 enger Mitarbeiter des französischen Generalresidenten in Marokko, Hubert Lyautey, gewesen und er hatte dort die Achtung vor dem Eigenwert fremder Kulturen verinnerlicht, die Teil der Philosophie seines geistigen Mentors war. Viénot hatte 1913 im Alter von sechzehn Jahren noch das Vorkriegs-Deutschland kennengelernt, und er weigerte sich, als Freiwilliger in den Weltkrieg eingerückt, auch in den Kriegsjahren, sich von Hassgefühlen gegen die Deutschen. leiten zu lassen. Er verbrachte den größten Teil des Jahres 1923 in Bonn und beobachtete dort im Jahr der französisch-belgischen Ruhrbesetzung die Diskrepanz zwischen der französischen Presseberichterstattung über Deutschland und der von ihm selbst erlebten Wirklichkeit. Zugleich gewann er die Überzeugung, dass vom materiell und moralisch tief erschütterten Deutschland einstweilen keine Bedrohung für Frankreich ausgehe. Er wurde auf diese Weise zum vehementen Kritiker des Deutschlandbildes der französischen Rechten im allgemeinen und der Deutschlandpolitik Poincarés im besonderen. Viénot hatte nach seiner Rückkehr aus Marokko durch Lyauteys Fürsprache leicht Zugang und Anschluss gefunden im Kreis der führenden Deutschland-Experten in Paris. Er bewegte sich nachweislich im Mai/ Juni 1923 in Gides Gefolgschaft 24 und er nahm erstmals an der Dekade von Pontigny vom 23.8.-2.9.1923 teil. Er wurde von Paul Desjardins, einem langjährigen Freund Maréchal Lyauteys, in seinen Bemühungen, eine Tätigkeit in Deutschland zu übernehmen, unterstützt. Eine Sommer-Dekade von Pontigny im Jahre 1924 brachte für Pierre Viénot die persönliche Bekanntschaft mit Ernst Robert Curtius und mit Aline Mayrisch. Curtius lud den jungen Intellektuellen, der eine berufliche Lebensaufgabe in Deutschland suchte, nach Heidelberg ein, wo er im November/ Dezember 1924 sechs Wochen verbrachte. Die direkte Bekanntschaft mit Aline Mayrisch in Pontigny hatte die Folge, dass Viénot Anfang Januar 1925 nach Colpach eingeladen wurde, um Emile Mayrisch seine Vorstellungen über eine französisch-deutsche Verständigungs-Organisation vorzutragen. 25 Er schrieb in einem Brief vom 8. Januar 1925 aus Colpach, er habe dort eine Unterredung mit Emile Mayrisch gehabt und werde ihn bis zum 16.1.1925 nach Berlin begleiten, um ihn 23 Cf. zur frühen Biographie Viénots Hans Manfred Bock: „’Connaître l’Allemagne et la reconnaître’. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot 1922 bis 1932“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichsforschung 66 (1992), p. 27-48. Als generellen Überblick Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944), Ein Intellektueller in der Politik, München 2005. 24 Nachgewiesen in Hans Manfred Bock: „Pierre Viénot, der Deutschlandkenner im Freundeskreis um André Gide“, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (ed.): André Gide und Deutschland, Düsseldorf 1992, p. 194-207. 25 In einem Brief vom 30. August 1924 an Maréchal Lyautey aus Pontigny berichtet Viénot von vielen neuen Bekanntschaften (E. R. Curtius, André Maurois, André Siegfried, Robert du Traz), erwähnt jedoch nicht Aline Mayrisch. Da deren Anwesenheit zur selben Zeit in Pontigny belegt ist, erscheint die Begegnung aber so gut wie sicher. Cf. dazu auch Lionel Richard: Jacques Rivière et l’Allemagne, loc.cit., p. 69. <?page no="292"?> 292 dann am 20./ 21.1.1925 in Paris erneut zu treffen, im Zusammenhang mit „un certain nombre de rendez-vous très importants.“ 26 Die vorbereitenden Gespräche über eine französisch-deutsche Organisationsgründung liefen also bereits Anfang 1925 auf vollen Touren an. 3. Entwurf, Bauplan und Arbeitsweise des Deutsch- Französischen Studienkomitees Die etwas hektisch anmutenden Gespräche und Treffen in Colpach, Berlin und Paris, von denen Viénot im Januar 1925 berichtete, gehörten zu den frühen Vorbereitungsmaßnahmen für die Schaffung eines Kristallisationskerns auf der deutschen und auf der französischen Seite, aus der das gemeinsame Komitee entstehen sollte. Diese Betriebsamkeit und auch die Ungewissheiten, die sich mit diesem Projekt verbanden, dauerten während des ganzen Jahres 1925 an und spiegeln sich in der Korrespondenz Viénots mit Maréchal Lyautey. Für Viénot hatte sich Ende 1924 die Berufsperspektive der diplomatischen Laufbahn endgültig verschlossen. Er versuchte, sich publizistisch als Deutschlandkenner einen Namen zu machen und eine Anstellung in Berlin im weiteren Umfeld der französischen Botschaft nach dem Vorbild der Mission Haguenin 27 zu finden. Er schrieb am 7.2.1925: „Tout ce qui toucherait à l’Allemagne et m’appellerait à des voyages ou à des séjours là-bas serait aussi le bienvenu.“ Er veröffentlichte das Resümee seines Nachdenkens über Deutschland und die französisch-deutschen Beziehungen in der „Revue de Genève“, 28 legte seine Schlussfolgerungen zur Neuformulierung einer realistischen Deutschlandpolitik Frankreichs in der „Revue Européenne“ 29 dar und erregte ein gewisses Aufsehen mit der Veröffentlichung eines konkreten Projekts zur deutsch-französischen Verständigung in der deutschen Zentrums-Zeitung „Germania“. 30 In diesem im Frühjahr 1925 geschriebenen Projekt-Entwurf, der nicht zuletzt auch das Ergebnis seiner Gespräche mit Emile Mayrisch seit Anfang des Jahres war, 26 Cf. dazu Jean Hostert: „Pierre Viénot“, in: Colpach, op.cit., p. 239sq., der sich auf eine entsprechende mündliche Darstellung von Andrée Viénot-Mayrisch beruft. 27 Er schrieb dazu (Brief vom 7. Februar 1925) an Maréchal Lyautey, 311 AP/ 475, Archives Nationales: „Au temps où il existait auprès de notre ambassade à Berlin un service officieux de presse et d’information important (dirigé par l’homme remarquable qu‘était Haguenin) j’aurais (.., unleserlich) des pieds et des mains pour y entrer. Mais il est quasi supprimé, par manque de crédits“. 28 Pierre Viénot: „République allemande et Allemagne nationale“, in: Revue de Genève (1925), p. 405-425. 29 Pierre Viénot: „La Sécurité par la compréhension d’autrui“, in: Revue Européenne, (1925, 1er juillet.) Auch als selbstständige Broschüre Pierre Viénot: Enquête sur l’Allemagne. La Sécurité par la compréhension d’autrui, Dijon o.J. (1926). 30 Das französischsprachige Original befindet sich in 311/ AP 475 Archives Nationales in Form eines 10seitigen Manuskripts mit dem Titel „Le vrai problème francoallemand“. <?page no="293"?> 293 umriss Viénot die Form, die eine private deutsch-französische Initiative annehmen könnte. Diese früheste Skizze für das geplante deutsch-französische Komitee schloss in der „Germania“ an allgemeine Überlegungen an, die dort von einem deutschen Diplomaten (Legationsrat Kuenzer) und von Ernst Robert Curtius publiziert worden waren. Viénot stellte sich konkret folgende Organisationsstrukturen vor: „Un organisme fonctionnant en France et en Allemagne et possédant un personnel français et allemand habitué à parler en quelque sorte le langage intellectuel, sentimental et moral des deux nations. Cet organisme chercherait d’abord à créer un mouvement d’opinion en faveur du principe même du rapprochement des deux pays. Il s’efforcerait en même temps de favoriser ce rapprochement 1. en diffusant dans la presse des renseignements strictement exacts sur les deux pays et des explications sur les deux mentalités; 2. en groupant, en coordinant et en soutenant les efforts de tous ceux, qu’ils soient de droite ou de gauche, qui considèrent une entente, ou au minimum une tolérance franco-allemande comme une nécessité européenne; 3. en exerçant une influence, par l’action personnelle de ses membres, sur les classes dirigeantes des deux pays et sur les milieux que l’on est convenu d’appeler ‘gouvernementaux’; 4. en organisant et en multipliant les contacts entre personnalités des deux pays (étudiants, intellectuels, journalistes, hommes politiques, repésentants de milieux industriels, financiers et commerçants). Cet organisme devrait posséder un comité de patronage composé de telle sorte qu’il puisse lui assurer à la fois une haute autorité morale et une vraie puissance matérielle“. 31 Nachdem die Frühlings- und Sommermonate 1925 für Viénot mit mehreren Reisen von Paris nach Berlin und Luxemburg ausgefüllt waren und er auch in der französischen Presse („Les Débats“, „Figaro“, „L’Information“) positives Echo auf seinen Vorschlag bekommen hatte, schilderte er am 18.8.1925 noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit - Maréchal Lyautey den Stand der Dinge. Es sei jetzt die entscheidende Situation gekommen („sans doute décisive de ma vie, de ma carrière plus exactement“); er habe nunmehr Emile Mayrisch endgültig überzeugt, der Vermittler in den anstehenden Verhandlungen zu sein. Diese seien zu führen mit einigen der wichtigsten Persönlichkeiten Deutschlands und Frankreichs, die allesamt politisch eher rechts stünden. Im Ergebnis sollte daraus entstehen „un organisme francoallemand d’études et de renseignements, dont je prendrais la direction à Berlin, sous la direction supérieure d’un comité au-dessus de tout soupcon.“ 32 Mayrisch habe ihn beauftragt, im September 1925 ein vollständig ausgearbeitetes „Avant-projet“ in Luxemburg vorzulegen und dann würden die Entscheidungen gefällt. Diesen Auftrag erfüllte Viénot, indem 31 Ibid., p. 10. Hier erstmals im Original veröffentlicht. 32 Brief Pierre Viénot an Maréchal Lyautey vom 18.8.1925 in 3 11 / AP 475 Archives Nationales. <?page no="294"?> 294 er einen 21 Druckseiten umfassenden Text „Projet de fondation d’un Comité franco-allemand d’Information“ 33 vorlegte. Dort wurde einleitend die These entwickelt, der deutsch-französische Konflikt sei gegenwärtig überwiegend „psychologischer“ Art: „Der heutige Konfliktzustand (wird) vor allem hervorgerufen durch die Art, wie sich die französische und die deutsche öffentliche Meinung gegenüberstehen.“ 34 Es seien weniger objektive Interessengegensätze als Wahrnehmungs-Defizite und -Fehler, die von den Produzenten der öffentlichen Meinung, den Journalisten, gedankenlos fortgeschrieben würden. Den Regierungen sei es nur begrenzt möglich, die beiderseitige Voreingenommenheit und Feindschaft zu durchbrechen, da sie zu sehr von den in der öffentlichen Meinung entfesselten Leidenschaften abhängig seien. Die Wirtschaft könne wichtige Anstöße zur Versachlichung und Annäherung in den französisch-deutschen Beziehungen geben, sie stoße ihrerseits aber dauernd an politische Grenzen und könne daher nicht die erforderliche Energie entfalten, um „die politische Entspannung herbeizuführen“. 35 Hier müsse darum aus einer „Privatinitiative“ heraus der Versuch gemacht werden, unter Wahrung der beiderseitigen nationalen Interessen „die französisch-deutschen Beziehungen zu sanieren“. Für dieses Ziel müsse man sich die Mitarbeit und Zustimmung „der lebens- und wirkungsfähigsten Elemente in Frankreich und in Deutschland sichern“. 36 Der Projekt-Entwurf Viénots sah die primäre Aufgabe des französisch-deutschen Komitees in der „Gesundung der Informierung“. Er unterschied zwischen indirekten und direkten Methoden zur Verbesserung des wechselseitigen Kennens und Verstehens. Indirekt sollte beratende und korrigierende Einflussnahme des Komitees auf die Berichterstattung im einen Land über das andere vorgesehen werden, die den strengsten Maßstäben der Objektivität verpflichtet sein sollte. Direkt sollte das Komitee im selben Sinne tätig sein durch das Zusammenführen von deutschen und französischen Entscheidungsträgern, die sich praktisch bislang kaum kannten und einen „intellektuellen Dolmetscher“ brauchten. In praktisch-organisatorischer Hinsicht sah Viénots „Avant-projet“ einen sehr engen, nur jeweils 3 deutsche und französische Mitglieder umfassenden „Informierungsausschuss“ aus Spitzenvertretern beider Nationen vor, der durch ein „neutrales“ Mitglied ergänzt werden sollte. Die komplementäre Struktur des geplanten Komitees, der Viénot vergleichsweise ausführlichere Überlegungen widmete, waren zwei „deutsch-französische Informierungsinstitute“. Eines davon sollte in Berlin unter der Leitung eines Franzosen und eines deutschen Stellvertreters, das andere in Paris unter der Leitung eines Deutschen und eines französischen Beigeordneten arbei- 33 Vorschläge zur Errichtung eines deutsch-französischen Informierungsausschusses, Luxemburg o.J. (1925). Der Text wurde in deutsch und französisch gedruckt. 34 Ibid., p. 3. 35 Ibid., p. 5. 36 Ibid., p. 6. <?page no="295"?> 295 ten. Beide Institute sollten der Aufsicht des „Informierungsausschusses“ unterstellt und jährlich mit mindestens 117.440 Mark ausgestattet sein. 37 Die Verwirklichung dieses Plans eines deutsch-französischen Komitees vom September 1925 wurde allem Anschein nach durch die politische Entwicklung des Jahres 1925 gefördert, durch den Fortgang der internationalen Kartellabsprachen eher retardiert. Tatsächlich erlitt Mayrisch mit dem Luxemburger Abkommen, das am 17. Juni 1925 zwischen französischen, deutschen, luxemburgischen und saarländischen Stahlproduzenten abgeschlossen worden war, einen Rückschlag, da sich die Regierungen der beteiligten Länder der Durchführung des Abkommens widersetzten. 38 Zwar ist ein formales Junktim zwischen der Realisierung des europäischen Stahlkartells und der Schaffung des Deutsch-Französischen Komitees im Sinne der Planungen Viénots nicht nachweisbar; aber es ist mehr als wahrscheinlich, dass Emile Mayrisch von der parallelen Gründung beider Einrichtungen sich gleichsam synergetische Effekte erhoffte. Die schon ab Ende 1925 erkennbare Ausweitung der Zahl der vorgesehenen deutschen und französischen Mitglieder des „Informierungsausschusses“ könnte ein Indiz sein für Mayrischs Bemühung, die nunmehr durch den Vertragsschluss von Locarno vom Oktober 1925 beschleunigte Formierung des Verständigungs-Komitees als Vehikel zu nutzen für die Anfang 1926 neu einsetzenden Wirtschaftsverhandlungen über die westeuropäischen Mengen-Absprachen in der Stahlproduktion. Sicher ist jedenfalls, dass die Verwirklichung des Deutsch-Französischen Komitees aufgrund des Vertragsschlusses vom Oktober 1925 deutlich von politisch-diplomatischer Seite gefördert und beschleunigt wurde. In einem ausführlichen Schreiben der französischen Botschaft in Berlin an Aristide Briand wurde z.B. im November 1925 die Förderungswürdigkeit des im Entstehen begriffenen bilateralen Verständigungs-Ausschusses nachdrücklich hervorgehoben, unter Berufung auf das Urteil von Jacques Seydoux, des Wirtschaftsexperten des Quai d’Orsay in den französisch-deutschen Beziehungen: „Ce projet, dont la réalisation pourrait contribuer puissamment à cette œuvre d’assainissement de l’opinion publique dont celle-ci commence elle-même de ressentir le besoin, est de ceux auquel le Gouvernement français, surtout après les accords de Locarno, ne peut que prêter son concours sympathique. Il sied d’ailleurs, d’entourer une entreprise aussi importante de toutes les garanties possibles de succès; la personnalité de M. Mayrisch, et l’intérêt qu’il 37 Mit diesem annähernd tatsächlich verwirklichten Budget verfügte das Deutsch- Französische Studienkomitee im Vergleich zur Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) über mehr als doppelt soviel Geld. Der Haushaltsentwurf für die DFG sah 1929 ein Volumen von rund 54.000 Mark vor. Cf. oben meine Darstellung in: Die Deutsch-Französische Gesellschaft von 1926 bis 1934. 38 Cf. dazu Jacques Bariéty: Sidérurgie, politique et journalisme, loc.cit., p. 9. <?page no="296"?> 296 témoigne à cette œuvre, sont de nature à nous donner pleinement confiance.“ 39 In mehreren Ausarbeitungen der deutschen Botschaft in Paris vom Jahresende 1925 wurden im Gegensatz zu dieser klaren Befürwortung starke Vorbehalte geltend gemacht hinsichtlich des Viénot-Plans. Sie waren begründet im Zweifel an der technisch-organisatorischen Durchführbarkeit und Wirksamkeit der Einflussnahme der „Informierungsinstitute“ auf die öffentliche Meinung. Der Pariser Botschafter (von Hoesch) fand die Idee, dass ein Land in das andere einen Vertreter entsenden sollte mit dem Auftrag, „die Organe der öffentlichen Meinung seines Heimatlandes dem anderen Lande gegenüber wohlwollend und gerecht einzustellen“, 40 originell. Er sah den Plan aber aufgrund der vorgesehenen Ressourcen und der bisherigen Erfahrungen mit den Auslandskorrespondenten kaum für aussichtsreich an. Nachdem in dieser Frage der „Kontrolle“ der eigenen Auslandskorrespondenten von Mayrisch und Viénot weitere präzisierende bzw. modifizierende Auskünfte geliefert worden waren, wurden Mitte März 1926 die geltend gemachten Vorbehalte seitens der deutschen Botschaft in Paris fallengelassen. 41 Viénot selbst sah die Notwendigkeit der Gründung des Komitees nach dem Locarno-Vertrag für noch dringlicher an als zuvor. Der diplomatische Vertrag bleibe möglicherweise ein leerer Rahmen, wenn er nicht durch gesellschaftliche, private Initiativen der von Mayrisch geplanten Art ausgefüllt werde. 42 Er war bereit, seinen Projekt-Entwurf vom September 1925 den praktischen Erfordernissen des Gesamtunternehmens anzupassen und namentlich auf seine gleichsam theoretische Begründung im ersten Teil des Textes zu verzichten. Er nahm, wie im Jahre zuvor, den Pendelverkehr zwischen Paris, Luxemburg und Berlin wieder auf, um die Gunst der Stunde für die Klärung der personellen und finanziellen Voraussetzungen der Komitee-Gründung zu nutzen. Am 4. Dezember 1925 schrieb er in einem typischen Brief an Marschall Lyautey, er sei im Begriff, nach Berlin, Essen und Heidelberg aufzubrechen, um am 17.12.1925 wieder in Paris zu 39 Brief vom 17. November 1925 von André de Laboulaye an den Quai d’Orsay, 205/ AP 475 Archives Nationales, p. 4. 40 Brief der deutschen Botschaft in Paris an das Auswärtige Amt vom 10. Februar 1926 in: Deutsch-Französisches Studienkomitee, Bd. 1, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn. 41 Cf. ibid. Schreiben vom 11. März 1926. Es finden sich mehrere Stellungnahmen zum Viénot-Plan in diesem Bestand. 42 In einem Begleitschreiben an Maréchal Lyautey, das er der Sendung seines Projet de fondation d’un Comité franco-allemand d’Information beilegte, erläuterte Viénot: „La signature des accords de Locarno est intervenue depuis la rédaction de cet avantprojet. - Ces accords confirment l’intérêt qui s’attache, à nos yeux, à l’organisation d’une meilleure information entre la France et l’Allemagne. Ils constituent en effet le cadre dans lequel se développeront à l’avenir les relations franco-allemandes, mais ne soustraient pas celles-ci aux déplorables conséquences qu’ont entraînées jusqu’à présent l’absence de connaissance réciproque.“ 205/ AP 475, Archives Nationales. <?page no="297"?> 297 sein: „Mes projets mûrissent en effet si vite en France et trouvent, auprès de tous ceux à qui l’on s’adresse, un accueil si favorable, que je ne puis attendre janvier (date à laquelle je retournerai en Allemagne avec M. Mayrisch) pour aller hâter les choses du côté allemand.“ 43 4. Zusammensetzung und Entwicklung des Deutsch- Französischen Studienkomitees von 1926 bis 1928 Als gegen Jahresende 1925 feststand, dass die Erweiterung des Aufsichtsorgans des geplanten Deutsch-Französischen Komitees nicht nur im Interesse seiner Gründer lag, sondern im Zeichen von Locarno auch auf das Interesse zahlreicher Persönlichkeiten in beiden Ländern stieß, konzentrierte sich die Arbeit von Mayrisch und Viénot in dieser Abschlussphase einer langen Vorbereitungszeit auf die Werbung von Mitgliedern. Ausgemacht war, dass nur einflussreiche Persönlichkeiten in Betracht kamen, die aufgrund ihres Prestiges und ihrer (organisatorischen und finanziellen) Ressourcen die Arbeit der deutsch-französischen Verständigungsorganisation tatkräftig zu fördern vermochten. Ein engerer Kreis von Wirtschaftsvertretern aus beiden Nationen stand aus den Verhandlungen über das Stahlkartell von vornherein als potentielle Komitee-Mitglieder fest. Emile Mayrisch, der in Aachen studiert hatte und dauerhafte Beziehungen zur Montanindustrie im Ruhrgebiet unterhielt, ergriff mit Unterstützung des Krupp- Aufsichtsratsmitgliedes Dr. Bruhn die Initiative für die Rekrutierung von Mitgliedern anderer Gesellschaftskreise auf der deutschen Seite. In Frankreich fiel diese Aufgabe vor allem Pierre Viénot zu. Er stellte sich dieser Aufgabe mit beträchtlichem Elan und mit der diskreten, aber wirksamen Hilfe des Maréchal Lyautey. In einer nicht datierten Skizze Viénots, die vermutlich aber vom Jahresende 1925 stammt 44 wird deutlich, welche sozialen Kategorien im Aufsichtsorgan des Komitees repräsentiert sein sollten: Neben den Industriellen enthält der Rekrutierungsplan die Kategorien „Intellektuelle“, „Banken“, „Außenhandel und Schiffahrt“ und „freie Berufe“. Viénot bediente sich wiederum der Empfehlung des in dieser Zeit bereits zur nationalen Symbolgestalt gewordenen Maréchal Lyautey, 45 um Zugang zu den gesellschaftlich exklusiven Kreisen der politischen Rechten in Paris zu erlangen. Er schickte ihm regelrechte Musterbriefe, mit deren Hilfe er die Adressaten für das Komitee gewinnen sollte. In einem solchen Brief entwickelte er die folgende Argumentation: 46 43 Brief Pierre Viénot an Maréchal Lyautey vom 4. Dezember 1925, in 311/ AP 475, Archives Nationales. 44 Sie befindet sich in 205/ AP 475, Archives Nationales. 45 Zum Mythos Lyautey und seinen Entstehungsursachen cf. Daniel Rivet: Lyautey et l’institution du Protectorat français au Maroc 1912-1925, Paris 1988, tome 3, p. 163-180. 46 Das Folgende nach einer Note, die einem Brief von Pierre Viénot an Hubert Lyautey vom 12. November 1925 beigefügt ist. 205/ AP 475, Archives Nationales. <?page no="298"?> 298 Das Unternehmen sei von wahrhaft nationalem Interesse; man müsse wissen, woran man mit den Deutschen sei; das Projekt biete alle Garantien für eine seriöse und positive Arbeit, die keineswegs die Geister revolutionieren oder eine Bewegung zugunsten der „Annäherung“ auslösen wolle; die Kräfte der politischen Rechten müssten das Projekt unterstützen, um im Bereich der Außenpolitik die der Linken überlassene Initiative zurückzuerobern; ein großer Teil der deutschen Führungsschichten, die zu Kontakten mit den Franzosen bereit seien, verharre in feindseliger Haltung, weil sie keine Beziehungen nach Frankreich hätten zu ebenbürtigen Gesellschaftskreisen. Viénot, der sich von dieser Argumentation erhoffte, wenigstens einen Teil der französischen Rechten verständigungspolitisch mobilisieren zu können, erhielt tatsächlich die Unterstützung Lyauteys, der selbst allerdings die Mitarbeit im Komitee für seine Person ablehnte. 47 Die aktive Unterstützung des Maréchal war entscheidend für Viénots Werbungserfolge in Frankreich. Emile Mayrisch würdigte dies in einem Brief an Lyautey vom 11. Januar 1926: Er dankte ihm aufrichtig für die Ermutigung zur Vollendung des französisch-deutschen Projekts und für die Unterstützung bei der werbenden Ansprache wichtiger Persönlichkeiten in Frankreich. „A côté de l’aide si précieuse que cela nous donne, votre approbation constitue pour moi personellement un des plus grands encouragements et apportera la sanction de votre haute autorité à la tâche que nous entreprenons, tant en France-même qu’à l’étranger où votre œuvre est presque aussi connue et admirée que dans votre propre pays.“ 48 Mayrisch formulierte sehr deutlich, welchen Aspekt der Arbeit Lyauteys in Marokko er für sich als vorbildlich ansah. Sie war für ihn „l’exemple de l’intelligence plus puissante et plus efficace que la force brutale.“ 49 Viénot hatte für seine - übrigens nicht in jedem Fall erfolgreichen 50 - Gespräche in Paris nicht nur die moralische Unterstützung des Maréchal, sondern auch die praktische Hilfe aus dem Kreis junger Protégés und Bewunderer, die dieser seit seiner marokkanischen Tätigkeit als Generalresident um sich scharte. Zu diesen 47 Maréchal Lyautey hatte u.a. abgelehnt, die deutschen Teilnehmer an der 3. Plenarsitzung des Comité franco-allemand in Paris Mitte Juni 1927 zu empfangen. Viénot bringt seine Deutung dieses Verhaltens in einem Brief vom 31. Oktober 1926 aus Colpach zum Ausdruck (311/ AP 475 Archives Nationales). Lyautey, der 1925 von seiner Stelle als Generalresident in Marokko abberufen worden war, wollte sich allem Anschein nach nicht zu weit hervorwagen, um sich nicht eine eventuelle politische Karriere zu verbauen, für die er u. a. die Zustimmung der Rechten brauchte. 48 Brief von Emile Mayrisch an Marschall Lyautey vom 11. Januar 1926 (205/ AP 475, Archives Nationales.) Cf. den vollständigen Text des Briefes in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique (Luxembourg) 4 (1992), p. 580. 49 Ibid. 50 So bemühten sich z.B. Viénot und Maréchal Lyautey vergeblich darum, den Rektor des Institut Catholique, Mgr. Alfred Baudrillart, für das Komitee zu gewinnen. Dazu mehrere Briefe zwischen Lyautey und Baudrillart in 205/ AP 475 Archives Nationales. An seiner Stelle konnte dann als Vertreter des Klerus der Bischof von Arras, Jullien, für das Komitee angeworben werden. <?page no="299"?> 299 Rekrutierungshelfern für das Comité franco-allemand gehörten Pierre Lyautey (der Neffe des Marschalls), Wladimir d’Ormesson 51 und Comte Félix de Voguë. Die Überzeugungsarbeit dieser Sendboten des entstehenden „Mayrisch-Komitees“ in Frankreich war in den ersten Monaten des Jahres 1926 alles in allem so wirksam, dass der Koordinator der parallelen deutschen Rekrutierungsbemühungen Bruhn vor der konstituierenden Sitzung des Komitees die Sorge hatte, es könnten dort mehr Franzosen als Deutsche vertreten sein. 52 Die Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees (Comité franco-allemand d’Information) erfolgte dann auf der konstituierenden Tagung, die am 29.5.1926 in Luxemburg begann und von Emile Mayrisch geleitet wurde. Die Organisation war in der Öffentlichkeit Frankreichs und Deutschlands in der Folgezeit so eng mit der Persönlichkeit des luxemburgischen Industriellen verbunden, dass sich die Kurzbezeichnung „Mayrisch-Komitee“ einbürgerte. Zu den Gründungsmitgliedern vom Mai 1926 gehörten auf französischer Seite folgende Repräsentanten unterschiedlicher Tätigkeitsfelder: 53 Le Duc de Broglie, Membre de l’Académie des Sciences Henri Chardon, Membre du Conseil d’Etat Debrix, Directeur Général de la Société Alsacienne de Banque Duchemin, Président de la Confédération Générale de la Production Arthur Fontaine, Président du Conseil d’Administration du Bureau International du Travail Eugène Fougère, Président de l’Association Nationale d’Expansion économique Monseigneur Jullien, Evêque d’Arras, membre de l’Institut Laederich, Président du Syndicat Général de l’Industrie cotonnière française Charles Laurent, Ambassadeur de France, Président du Conseil d’Administration de la Compagnie Française pour l’Exploitation des procédés Thomson-Houston et du Conseil d’Administration de la Banque des Pays du Nord 51 Wladimir d’Ormesson, dessen Privatarchiv Fernand L’Huillier vor allem ausgewertet hat für seine Darstellung der Gründungsphase des Comité franco-allemand (cf. Fernand L’Huillier: Dialogues franco-allemands, op.cit., p. 29), schrieb später selbst einen Erinnerungstext über diese Bestrebungen. Wladimir d’Ormesson: „Une tentative de rapprochement franco-allemand entre les deux guerres“, in: Revue de Paris (1962), p. 19-27. 52 Telegramm vom 19. Mai 1926 an Auswärtiges Amt, Berlin, in: Deutsche Botschaft Paris/ Mayrisch-Komitee, Bd. 1, K 570785, Pol. Archiv des Auswärtigen Amtes. 53 Die Liste der folgenden Gründungsmitglieder des Deutsch-Französischen Studienkomitees wurde anlässlich der konstituierenden Sitzung am 29. Mai 1926 der Agence Havas übergeben. Sie stimmt überein mit den Notizen Pierre Viénots. Cf. beide Dokumente in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Deutsche Botschaft Paris/ Mayrisch- Komitee, Bd. 1. <?page no="300"?> 300 Théodore Laurent, Vice-Président du Conseil d’Administration et Directeur Général des Forges et Aciéries de Marine et d’Homécourt, Vice- Président du Comité des Forges Henri Lichtenberger, Professeur à la Sorbonne Pierre Lyautey, Directeur de l’Association de l’Agriculture et de l’Industrie Comte Wladimir d’Ormesson, Publiciste Dal Piaz, Président du Comité Central des Armateurs de France De Peyerimhoff, Président du Comité des Houillères Jean Schlumberger, Homme de lettres Sommier, Président du Conseil d’Administration de la Société des Raffineries Sommier Comte Félix de Voguë Auf der deutschen Seite waren als Männer der ersten Stunde an der Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees beteiligt: Bruno Bruhn, Mitglied des Aufsichtsrates der Firma Krupp, Essen Victor Bruns, Professor für Internationales Recht in Berlin Hermann Bücher, Vorstandsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie Wilhelm Haas, Professor an der Hochschule für Politik in Berlin Louis Hagen, Bankier, Mitglied des Reichswirtschaftsrats und des Staatsrats von Preußen Fürst Hermann zu Hatzfeld-Wildenburg, Minister a.D. Franz von Mendelssohn, Bankier, Präsident der Handelskammer Berlin, Mitglied des Reichswirtschaftsrats Georg Müller-Oerlinghausen, Fabrikbesitzer, Mitglied des Reichswirtschaftsrats und des Vorstands des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Alfred von Nostitz-Wallwitz, Staatsminister a.D. Graf Alfred von Praschma, Mitglied des Reichsrates Edgar Schlubach, Konsul und Kaufmann in Hamburg Friedrich Schmidt-Ott, Staatsminister a.D., Vorsitzender der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft Walter Simons, Außenminister a.D., Präsident des Reichsgerichts in Leipzig Ernst von Simson, Staatssekretär a.D., Mitglied des Verwaltungsrats der IG Farben und des Vorstandes des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Emil von Stauss, Direktor der Deutschen Bank Fritz Thyssen, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Vereinigten Stahlwerke AG, Mühlheim Die Zusammensetzung des Komitees war bereits in den beiden ersten Jahren durch starke Veränderungen gekennzeichnet. So trat z.B. der vormalige französische Verantwortliche für die Reparations-Verhandlungen, <?page no="301"?> 301 Jacques Seydoux, Ende 1926 in die Organisation ein, um sie schon 1929 wieder zu verlassen aufgrund öffentlicher Äußerungen zu den polnischdeutschen Beziehungen, die von Viénot als Sprecher des Komitees missbilligt wurden. 54 Auch die Demission von Fritz Thyssen aus Anlass aktueller deutsch-französischer Konflikte bereits vor Ende 1926 wurde in der Öffentlichkeit registriert und kommentiert. 55 Ein gewisses Maß an Fluktuation der Komitee-Mitglieder war durch die ungeschriebene Regel bedingt, dass man im Falle der politischen Reaktivierung (z.B. als Vertreter der Ministerialbürokratie oder als Abgeordneter im Parlament) seine Mitgliedschaft ruhen ließ. Trotz dergleichen Austritten nahm die Zahl der Mitglieder in beiden Sektionen in den Jahren bis 1928 beständig zu. 56 Zum Präsidenten des Deutsch-Französischen Studienkomitees wurde auf der Luxemburger Gründungs-Tagung im Mai 1926 erwartungsgemäß Emile Mayrisch gewählt. Vorsitzender der deutschen Sektion des Komitees wurde der ehemalige sächsische Gesandte in Berlin Alfred von Nostitz-Wallwitz, während an der Spitze der französischen Sektion der erste französische Nachkriegsbotschafter in Deutschland, Charles Laurent, amtierte. Die Besetzung der Leitungsstellen in den beiden deutsch-französischen bzw. französisch-deutschen „Informationsbüros“ in Paris bzw. Berlin war mit mehr organisatorischer Vorbereitung verbunden und dauerte bis zum Herbst 1926. Pierre Viénot, dessen Einsetzung in Berlin nie in Frage stand, bezog sein Quartier in der Matthäikirchstraße in Berlin am 20. November 1926. Der deutsche Leiter des Pariser Büros wurde erst nach dem Ausscheiden eines in Aussicht genommenen Nachwuchsdiplomaten 57 benannt. Es war schließlich der Jurist Gustav Krukenberg (1888-1980), der zuvor aktiver Offizier, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und in der Geschäftsführung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie gewesen war, der aufgrund des Vorschlags von Bruhn in das Büro des Comité francoallemand am Boulevard Haussmann in Paris am 10. November 1926 ein- 54 Cf. dazu ibid., die Dokumente K 570966sq. Seydoux hatte im Petit Parisien einen Aufsatz zur deutsch-polnischen Frage veröffentlicht, der von allen deutschen Komitee- Mitgliedern und auch von Viénot als Affront aufgefasst wurde. Offiziell wurde das Ausscheiden aus dem Komitee mit dem verschlechterten Gesundheitszustand von Jacques Seydoux begründet. 55 Cf. ibid., K 570835sq. In der Presseerklärung hieß es u. a.: „Les membres de la Section allemande regrettent profondément, eux aussi, le verdict de Landau, sans approuver toutefois le geste de M. Thyssen. Ils estiment, pour leur part, que de tels événements ne peuvent pas modifier l’orientation du Comité Franco-Allemand. Ils savent que le succès de l’œuvre que, dans l’intérêt des deux pays, s’est proposé, à Luxembourg, le Comité, ne peut être assuré que par un travail de longue durée et à longues vues.“ 56 Es war allerdings zu keiner Zeit daran gedacht, die Zahl der Mitglieder gemäß dem wachsenden Interesse frei expandieren zu lassen. Die Höchstzahl von je 30 Mitgliedern auf jeder Seite wurde im Juli 1927 festgesetzt und 1929 noch einmal erweitert. 57 Cf. dazu die Korrespondenz in: Deutsche Botschaft/ Mayrisch-Komitee, Bd. 1 im Pol. Archiv des Auswärtigen Amtes, Dokumente K 670750sq. <?page no="302"?> 302 zog. Die Entscheidung über die Besetzung der beiden Direktionen in Paris und Berlin wurde endgültig getroffen auf der ersten Sitzung des gemeinsamen Exekutiv-Ausschusses, der kurz nach der Gründung des „Mayrisch- Komitees“ wiederum in Luxemburg (Colpach) am 17. Juli 1926 zusammentrat. Dort wurde aufgrund eines Wunsches der Deutschen die Erhöhung der Mitgliederzahl jeder der beiden nationalen Sektionen auf 30 vereinbart. 58 Das Programm, das auf der ersten Plenartagung des Deutschfranzösischen Studienkomitees Ende Mai 1926 vorlag, war im Vergleich mit dem „Avant-projet“ Viénots vom September 1925 ein stark komprimierter Text. 59 Er enthielt gleichwohl den Kern der Viénotschen Begründung und auch die Grundstruktur seines Organisationsvorschlags. Als Ziel der Vereinigung wurde die „Gesundung der deutsch-französischen Beziehungen“ angegeben, die durch die Verminderung der Unkenntnis und der Fehlerquellen in der wechselseitigen Wahrnehmung erreicht werden sollte. Alle Sachkenner, „deutsche Diplomaten in Frankreich und französische Diplomaten in Deutschland, leitende Persönlichkeiten beider Länder, deutsche und französische Industrielle, die durch wirtschaftlichen Zwang auf die Suche nach Formen der Zusammenarbeit angewiesen sind“, 60 seien darin einig, dass diese bilateralen Beziehungen nicht mehr im Sinne eines unvermeidlichen Konflikts aufgefasst werden könnten. Der überwiegend organisatorischen Fragen gewidmete Text präzisierte vor allem die Arbeit der Büros in Berlin und Paris und unterstellte diese den Weisungen eines gemeinsamen Exekutiv-Ausschusses des Deutsch-Französischen Studienkomitees, der zwischen den Plenartagungen zusammentreten sollte. Die für die Arbeitsfähigkeit dieser Büros ausschlaggebende Frage der finanziellen Ressourcen wurde prinzipiell so geregelt, dass von deutscher und von französischer Seite je der gleiche Anteil der Ausgaben getragen werden sollte. Das leitende deutsche Personal sollte aus dem deutschen, die französischen Direktoren aus dem französischen Fundus bezahlt werden, während die übrigen Unkosten aus einer gemeinsamen Kasse bestritten werden sollten (Punkt 4). Auf der ersten Sitzung des gemeinsamen Exekutiv-Ausschusses in Colpach stellte sich im Juli 1926 heraus, dass die deutsche Sektion des Komitees ihren Anteil von 50.000 Mark bereits angewiesen hatte, die vereinbarten Französischen Francs im Gegenwert von 2.500 englischen Pfund hingegen noch nicht vollständig verfügbar waren. Emile Mayrisch steuerte 100.000 Francs in die gemeinsame Kasse bei und stellte weitere Hilfe in Aussicht. Diese sollte vor allem in einen sogenannten Ausgleichsfond fließen, aus dem u.a. die höheren Kosten des Berliner Büros (höhere Lebenshaltungskosten, größerer Reisebedarf aufgrund der 58 „Protokoll der Sitzung des Exekutiv-Ausschusses in Luxemburg vom 17. Juli 1926“, in: Archives Pierre Lyautey, in den Archives Départementales de Nancy, 20 J 11-24. 59 Er findet sich im Bestand Deutsche Botschaft/ Mayrisch-Komitee, Bd. 1 im Pol. Archiv des Auswärtigen Amtes, K 670791sq. 60 Ibid., K 570791. <?page no="303"?> 303 dezentralen deutschen Strukturen) zu finanzieren waren. Die Verwaltung dieses Ausgleichsfonds wurde Mayrisch übertragen, der dem gemeinsamen Exekutiv-Komitee darüber rechenschaftspflichtig war. 61 Auch in den anderen Fragen nahm Emile Mayrisch direkten Einfluss auf die Arbeitsweise und die Entwicklung des Comité franco-allemand. Er schlug 1927 vor, die Komitee-Arbeit durch die Bildung von drei Kommissionen stärker zu struktuieren. 62 Es sollten je eine Wirtschafts-, Kultur- und Presse- Kommission eingerichtet werden und jedes Komitee-Mitglied musste wenigstens einer dieser Kommissionen angehören. Für die Plenarsitzungen des Komitees sollte ab 1928 jeweils ein Tag den Arbeitsergebnissen der Kommissionen gewidmet werden. Von diesen Kommissionen arbeitete dann vor allem die Presse-Kommission mit einer gewissen Beständigkeit. 5. Themen, Ideen und Diskussionen im frühen Mayrisch-Komitee Die vergleichsweise große Intensität der Arbeit des Deutsch-Französischen Studienkomitees in den beiden ersten Jahren seiner Existenz spiegelte sich in der dichten Abfolge der Plenartagungen und der Sitzungen des gemeinsamen Exekutiv-Ausschusses. Mayrisch, der seit September 1926 zugleich Vorsitzender der Internationalen Rohstahlgemeinschaft war, ließ in den Jahren von 1926 bis zu seinem tödlichen Unfall im März 1928 keine dieser Sitzungen aus. Allein 1927 fanden drei Plenartagungen des Komitees statt, auf denen jeweils einige zentrale Themen von deutschen und französischen Referenten bzw. Koreferenten, die sämtlich aus dem Kreis der Mitglieder kamen, vorgetragen wurden. Nach der Gründungsversammlung vom Mai 1926 in Luxemburg trafen sich die Komitee-Mitglieder vom 6.-9. Februar 1927 in Berlin im Unternehmenssitz der AEG und der Deutschen Bank. Die Vorträge und Diskussionen galten den Themen der Eliten und der Industrie-Organisation. Zur politischen, gesellschaftlichen und geistigen Problematik der Eliten sprachen der ehemalige preußische Kultusminister Schmidt-Ott und der Dozent an der Berliner Hochschule für Politik, Wilhelm Haas. Zur industriellen Organisation sprach der Repräsentant des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Hermann Bücher. Während der 3. Plenartagung des Mayrisch-Komitees in Paris (14.-16. Juni 1927) hielten die komplementären Vorträge zu diesen Themen von der französischen Seite der Conseiller d’Etat Henri Chardon und De Peyerimhoff vom Comité des Houillères. Auf der folgenden Plenarsitzung (12.-13. Dezember 1927) im Direktionsgebäude der ARBED in Luxemburg stand das Referat 61 So vereinbart auf der Exekutiv-Ausschusssitzung am 17. Juli 1926. 62 „Proposition de M. Mayrisch concernant le travail des Commissions“, in: Deutsche Botschaft/ Mayrisch-Komitee, Bd. 1, K 570943 im Pol. Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn. <?page no="304"?> 304 von Emile Mayrisch im Mittelpunkt. Er legte seine Überlegungen zum Thema „Die politischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ dar und skizzierte damit auch die seiner praktischen internationalen und deutsch-französischen Arbeit zugrundeliegenden gleichsam theoretischen Auffassungen. 63 Mayrischs Ausführungen waren ähnlich wie seine Bemerkungen zur Kritik der Europäischen Zollunions-Pläne durch den Bezug auf das Ganze der Weltwirtschafts-Zusammenhänge geprägt. Der mehrfach im Referat angesprochene aktuelle Bezugspunkt hierfür war die im Mai 1927 in Genf abgehaltene erste Weltwirtschaftskonferenz. In Mayrischs Sicht waren die diversen Formen der internationalen Wirtschaftsabsprachen (Handelsverträge, Tarifkonventionen, Meistbegünstigungs-Klauseln) vor und nach dem Krieg allesamt ungeeignet, um Zollunionen zwischen den Nationen und schließlich eine „normale Weltwirtschaft“ herbeizuführen. Unter „normaler Weltwirtschaft“ wollte er dabei verstanden wissen einen Zustand, in dem jede Industrie sich an dem Ort ansiedelte, wo sie unter den günstigsten Bedingungen produzieren konnte. Zur Optimierung der Produktionsbedingungen gehörten nach seiner Auffassung auch die konsequente internationale Förderung der Konzentration und der Rationalisierung. Eine solche Internationalisierung des Kapitals, von der er die Sicherung des Friedens erwartete, setzte eine weitgehende Angleichung der sozialen und industriellen Auffassungen, eine Übereinstimmung der lebenswichtigsten Interessen zwischen den Ländern und Garantien für die Haltbarkeit und Dauer der globalisierten Wirtschaftsabsprachen voraus. Die erste Voraussetzung war nur um den Preis einer gewissen Sozialbindung der Internationalisierung des Kapitals zu verwirklichen, d.h. durch die Berücksichtigung der Interessen der (lohnabhängigen) Konsumenten. Die zweite Voraussetzung sollte durch die wechselseitige Verflechtung des schöpferischen Kapitals erfüllt werden und die dritte durch die fortschreitende Versöhnung der Völker untereinander sowie mit Hilfe des regelmäßigen Wirtschafts-Austauschs. Diese „ententes internationales économiques de grand style“ 64 seien geeignet, das Vertrauen zwischen den Nationen zu stärken, sie seien jedoch zugleich auch nur möglich beim Vorhandensein eines „Minimums von politischem Vertrauen“. Für die gegenwärtige Verwirklichung dieses linksliberal akzentuierten Programms der Internationalisierung des Kapitals kamen nach Mayrischs Überzeugung in Betracht die Länder Mitteleuropas, eventuell noch diejenigen Skandinaviens, in erster Linie aber Frankreich und Deutschland. In aller Deutlichkeit tritt in seiner Argumentation hervor, dass er nicht an einen Automatismus zwischen ökonomischer Verflechtung und politischer Verständigung zwischen den Nationen glaubte, sondern an ein gewisses wechselseitiges Be- 63 Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck des Textes in: Emile Mayrisch. Précurseur de la construction de l’Europe, op.cit., p. 47sq. 64 Ibid., p. 53. <?page no="305"?> 305 dingungsverhältnis zwischen beiden und an die Notwendigkeit der tatkräftigen parallelen Aktion im einen und im anderen Bereich. 65 Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der parallelen Gründung und Förderung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft und des Deutsch-Französischen Studienkomitees. Infolge des tödlichen Unfalls von Emile Mayrisch im März 1928 wurde dieser Text, der noch zu seinen Lebzeiten in der „Europäischen Revue“, in der „Nouvelle Revue Française“ und in „L’Europe Nouvelle“ erschien, zu seinem wirtschaftspolitischen Testament. Er kann nicht als Ausdruck eines politisch-theoretischen Konsenses der Komitee-Mitglieder gelten, wohl aber als Schlüssel-Dokument für die wirtschafts- und verständigungspolitischen Leitvorstellungen des Gründers des „Comité franco-allemand d’information et de documentation“. Bemerkenswert ist an diesen Überlegungen weniger ihre theoretische Qualität als die Geisteshaltung, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Sie war gekennzeichnet durch den Mut, die praktischen Projekte wie die Internationale Rohstahlgemeinschaft und das Deutsch-Französische Studienkomitee, auf die immense Arbeitskraft verwendet wurde, in eine weite Perspektive zu stellen und damit auch ihren transitorischen Charakter sich einzugestehen. Auf diese Geisteshaltung bezieht sich offenbar auch Jean Schlumberger, wenn er in seinem literarischen Porträt Emile Mayrischs beobachtet: „Il savait que les cadres dans lesquels nous vivons, ceux du capitalisme par exemple, vieilliront et changeront comme tout ce qui est humain. Et c’était un spectacle qui ne manquait pas de grandeur que de le voir envisager si calmement les idées de demain malgré les menaces qu’elles contiennent pour notre équilibre d’aujourd’hui.“ 66 6. Das Mayrisch-Komitee nach dem Tode Emile Mayrischs Nach der Luxemburger Plenartagung des Deutsch-Französischen Studienkomitees Mitte Dezember 1927 gab Mayrisch der Agence Havas ein Interview, in dem er sich sehr zufrieden über die Arbeit des ersten Jahres äußerte und optimistisch zeigte hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Organisation. Er räumte ein, dass die Wirkung der Komitee-Arbeit schwierig zu messen sei, aber: „Je puis affirmer, cependant, que le Comité franco-allemand d’information et de documentation a certainement réussi, au cours de sa première année d’activité, à persuader un nombre toujours grandissant de personnes, de la nécessité d’une meilleure connaissance ré- 65 Es dürfte also kaum möglich sein, Mayrischs Konzeption in einer direkten Verbindung zu sehen zur neofunktionalistischen Integrationstheorie der Anfänge der europäischen Wirtschaftsvereinigung zu Beginn der fünfziger Jahre (Montan-Union). 66 Hier zitiert nach: Emile Mayrisch. Précurseur de la construction, op.cit., p. 12. <?page no="306"?> 306 ciproque, et a contribué, sans aucun doute, à mener les représentants de milieux, de jour en jour plus étendus et plus importants, à considérer les questions franco-allemandes avec une véritable objectivité, et à chercher la base d’un accord, dans le respect des intérêts légitimes des deux pays.“ 67 Dass sich diese zuversichtliche Bilanz in den folgenden Jahren nicht bruchlos fortschreiben ließ, lag nicht nur am plötzlichen Ausscheiden der wichtigen Integrationsgestalt Mayrischs, deren Wirken auf allen Plenarsitzungen der Jahre 1928/ 29 in Erinnerung gerufen wurde. Die Schwierigkeiten, denen das Komitee in diesen ersten Jahren nach Mayrischs Tod ausgesetzt war, gingen zurück auf interne und auf äußere Ursachen. Eines der intern verursachten Probleme ergab sich aus der doppelten Abgrenzung des Tätigkeitsfeldes des „Comité franco-allemand“, die im Gründungsprogramm vorgenommen worden war. Dort hieß es (Abschnitt III), die Tätigkeit des Komitees falle ebenso wenig zusammen mit den Aktivitäten diverser „Organisationen mit europäischer Tendenz“ wie mit den Funktionen einer Internationalen Handelskammer. Diese Abgrenzung erwies sich als praktisch nicht durchführbar. Die Nähe zum „Europäischen Kulturbund“ von Anton Prinz Rohan, der schon in der Vorbereitungsphase des Jahres 1925 hinzugezogen wurde, 68 wuchs in den folgenden Jahren noch. Da diese Europa-Organisation eine spezifische Ideologie vertrat und in Konkurrenz mit parallelen Bewegungen existierte, 69 war sie geeignet, das Prinzip der Überparteilichkeit des „Deutsch-Französischen Studienkomitees“ zu durchbrechen und den Konsens seiner Mitglieder in Frage zu stellen. Andererseits wird in der Korrespondenz der französischen Mitglieder untereinander 70 gelegentlich deutlich, dass zumindest einige von ihnen mehr an der Etablierung einer gemischten deutsch-französischen Industrie- und Handelskammer interessiert waren 71 als an den allgemeinen Zielen des Komitees. Ein erheblicher Hemmfaktor für die gedeihliche Entwicklung des „Comité franco-allemand“ wurden in den Jahren nach Mayrischs Tod die heftigen persönlichen Konflikte zwischen den wichtigsten französischen Repräsentanten der Organisation. Nachdem man nach Mayrischs tödlichem Unfall seine Präsidentenfunktion anfänglich einem französischen Mitglied zu übertragen gedachte, wurde der Vorsitz bei den Plenartagungen dann abwechselnd vom Repräsentanten der französischen Sektion, Charles Laurent, und vom Sprecher der deutschen Sektion, Alfred 67 „Mayrisch-Komitee, Bd. 1, Akten der Deutschen Botschaft Paris“, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Agentur-Meldung vom 13.12.1927. 68 Cf. dazu Fernand L’Huillier, op.cit., p. 34. 69 Cf. Reinhard Frommelt, op.cit., p. 100; dort organisationsgeschichtliche Hinweise. 70 Einen solchen partiellen Einblick gewährt die Korrespondenz von Pierre Lyautey (Archives Départementales in Nancy). 71 Ibidem findet sich ein Briefwechsel vom November 1926, in dem es um die Gründung einer „Association franco-allemande pour le rapprochement économique“ geht. Es ist die Rede u.a. von der Gründung einer gemischten deutsch-französischen Handelskammer in Frankfurt/ Main oder in Köln. Am 17.8.1927 wurde der deutschfranzösische Handelsvertrag unterzeichnet. <?page no="307"?> 307 von Nostitz-Wallwitz, wahrgenommen. Zwischen Charles Laurent und dem Leiter des Berliner Büros, Pierre Viénot, kam es zu Auseinandersetzungen, deren sachlicher Hintergrund bislang nicht erkennbar ist. Da die Existenz der beiden Büros bei Gründung des Studienkomitees im Mai 1926 auf drei Jahre begrenzt wurde, um dann nach Maßgabe der gemachten Erfahrungen weiterzusehen, stand Mitte 1929 die Entscheidung über die Weiterarbeit aufgrund der Konflikte unter ungünstigen Vorzeichen. Obwohl die beiden Büros im Sinne ihres Auftrages in den drei Jahren ihrer Arbeit Bedeutendes geleistet hatten, 72 kam von der französischen Sektion am 14. Juni 1929 recht unvermittelt der Vorschlag, die beiden Einrichtungen in Berlin und Paris in kürzester Frist aufzulösen, ohne damit die Arbeit des Komitees als Ganzes auch nur im Geringsten in Frage zu stellen. 73 Die Tagung des Exekutiv-Ausschusses, der 6 Deutsche und 6 Franzosen umfasste, beschloss dann am 14. Oktober 1929 in Düsseldorf, die beiden Büros tatsächlich bis Jahresende aufzulösen, zugleich aber die Zahl der Mitglieder beider Sektionen zu erhöhen und je einen Generalsekretär der deutschen und der französischen Sektion einzusetzen, der teilweise die Funktion der bisherigen Büros zu übernehmen hatte. 74 Außerdem sollten vermehrt Fachkommissionen eingesetzt werden und in Paris wurde ein deutschfranzösisches Informations- und Begegnungszentrum vorgesehen, das nach Emile Mayrisch benannt werden sollte. Diese über das ganze Jahr 1929 sich hinziehenden Beratungen über die künftige Arbeitsweise des Deutsch-Französischen Studienkomitees, rang gelegentlich dem deutschen Vertreter in Paris den Stoßseufzer ab, in dieser Situation fehle Emile Mayrisch mehr den je. Sie fanden ein öffentliches Echo bis in die Titelseite der „Frankfurter Zeitung“. Friedrich Sieburg hob dort die vertrauensbildende Wirkung der Komitee-Arbeit anlässlich der Düsseldorfer Tagung hervor und plädierte für die Beibehaltung des Pariser und des Berliner Büros: „Heute kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß es dem Komitee nicht zum wenigsten dank der Arbeit seiner ständigen Büros in Berlin und Paris gelungen ist, zwischen führenden Männern der beiden Länder eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen und ihre internationale Fragen betreffende Sachkenntnis um wertvolle, ja unentbehrliche Momente zu bereichern, zumal wenn diese Persönlichkeiten sich in der Öffentlichkeit oder in Verhandlungen begegnen, wie dies z.B. bei den bevor- 72 Als Skizze der frühen Aktivitäten von Viénots Büro in Berlin cf. meine Darstellung in: „‚Connaître l’Allemagne et la reconnaître’. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot“, in: Lendemains 66 (1992), p. 35 sq. Cf. dazu neuerdings auch Guido Müller: „Pierre Viénot und das Berliner Büro des Deutsch- Französischen Studienkomitees“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur in Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 53-67. 73 „Mayrisch-Komitee, Bd. 1, Deutsche Botschaft in Paris“, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, K 570977 sq., Aufzeichnung von Gustav Krukenberg. 74 Ibid., K 570991sq. Bericht über die am 13. Oktober 1929 in Düsseldorf abgehaltene Sitzung des gemeinsamen Exekutivausschusses. <?page no="308"?> 308 stehenden Saarverhandlungen der Fall sein wird, wo sowohl der deutsche Delegationsführer von Simson als auch der Franzose Arthur Fontaine Mitglieder dieses Komitees sind.“ 75 Die Auswirkungen der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise hatten zur Folge, dass selbst das in Düsseldorf beschlossene Reduktions-Programm für die zukünftige Arbeitsweise des „Comité franco-allemand“ nicht mehr realisiert werden konnte. Der von Gustav Krukenberg detailliert ausgearbeitete und vom Exekutiv- Ausschuss prinzipiell angenommene Plan für die Gründung des „Centre Emile Mayrisch“ 76 in der unmittelbaren Nähe der Nationalversammlung (3, Place du Palais Bourbon) erwies sich angesichts der aktuellen Wirtschaftslage auf der Exekutiv-Ausschusssitzung am 1. März 1930 als nicht mehr finanzierbar. Es wurde anstelle der getrennten Einrichtung des Pariser Begegnungszentrums und der beiden Generalsekretariate beschlossen, das „Centre Emile Mayrisch“ zum Sitz beider Generalsekretäre zu machen, die somit beide ständig in Paris arbeiteten. Ein Berliner Mitglied des Deutsch-Französischen Studienkomitees übernahm die Funktion der Kontaktstelle für französische Besucher in der Reichshauptstadt, die von der französischen Sektion empfohlen wurden, und er wurde in dieser Tätigkeit unterstützt durch einen aus Paris bezahlten französischen Assistenten. Neben dieser durch die Wirtschaftskrise von außen verursachten krisenhaften Entwicklung des Komitees kamen im Frühjahr 1930 noch hausgemachte Krisenanlässe hinzu. Die fortwährenden Konflikte in der französischen Sektion veranlassten zum einen ihren Vorsitzenden, Charles Laurent, sein Amt niederzulegen und aus dem Komitee auszutreten. Zum anderen entzog Aline Mayrisch, die inzwischen Pierre Viénot zum Schwiegersohn hatte und in den Streitigkeiten der französischen Sektion auf seiner Seite stand, dem Deutsch-Französischen Studienkomitee im April 1930 die Berechtigung, den Sitz der Organisation nach Emile Mayrisch zu benennen. 77 Das „Comité franco-allemand“ überlebte diese Krise und existierte über zahlreiche Wechselfälle hinweg bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Aline Mayrisch und Pierre Viénot blieben im Laufe der dreißiger Jahre noch Mitglieder, entfremdeten sich dem „Comité franco-allemand“ aber zunehmend. Viénot wurde 1932 als Kandidat des Parti Républicain Socialiste et Socialiste Français zum Abgeordneten gewählt und war somit gehalten, seine Mitarbeit ruhen zu lassen; er galt im Komitee ab 1934 als „Abtrünniger“ und trat im Juni 1936 als Staatssekretär in die Volksfront- Regierung unter Léon Blum ein. Zum Ehrenmitglied Aline Mayrisch hieß es Ende 1938 in einem vertrauliche Bericht über die französischen Sekti- 75 „Das deutsch-französische Studienkomitee. Zur Absicht seiner Auflösung“, in: Frankfurter Zeitung, 12. Oktober 1929. 76 Krukenberg: „Projet de création à Paris d’un centre franco-allemand d’information et de réunion ‚Centre Emile Mayrisch’“, in: Mayrisch-Komitee, Bd. 2, in Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, K 5 70995sq. 77 So Gustav Krukenberg in einem Brief an Alfred von Nostitz-Wallwitz vom 20. März 1930, in: ibid., K 571032. <?page no="309"?> 309 onsmitglieder, verfasst vom deutschen Vertreter des Komitees in Paris: „Mme Mayrisch ist führendes Mitglied des Internationalen Roten Kreuzes, lebhafte Kunstfreundin mit persönlichen Beziehungen zu den meisten lebenden modernen Künstlern. Starkes Interesse für die sozialistische Weltbewegung. Verbindung zu führenden, insbesondere belgischen Sozialisten.“ 78 Das Werk der Friedenssicherung, das übergeordnete Ziel der Komitee-Gründung Emile Mayrischs, wurde von seiner Familie auf neuem Terrain fortgesetzt. 79 78 Ibid., Bd. 3, K 571344. 79 Aline Mayrisch finanzierte u. a. die deutsche Exil-Zeitschrift Maß und Wert, für die Thomas Mann und Konrad Falke verantwortlich zeichneten. Cf. dazu Thomas Baltensweiler: Maß und Wert. Die Exilzeitschrift von Thomas Mann und Konrad Falke, Bern u. a. 1996. Cf. auch Cornel Meder: Aline Mayrisch (1874-1947), Luxemburg 1997. Zur weiteren Entwicklung des Deutsch-Französischen Studienkomitees in den dreißiger Jahren cf. die Aachener Habilitations-Schrift: Guido Müller: Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund im Rahmen deutsch-französischer Verständigungsbewe gungen 1924-1933, München 2005. - <?page no="311"?> 311 IX. Colpacher Kreis als Netzwerk der Eliten zwischen Luxemburg, Frankreich und Deutschland von 1917 bis 1939 1. Zivilgesellschaftliche Beziehungsdimensionen und Colpacher Kreis* Wenn das Beziehungsgeflecht zwischen dem Colpacher Kreis und Deutschland mehr darstellt als die Summe seiner Episoden und Anekdoten, so ist der (sozialwissenschaftliche) Forscher gehalten, der Eigenart und Bedeutung des Phänomens gerecht zu werden durch adäquate Begriffsbildung, die den Zusammenhang seiner Teile deutlich werden lässt. Dies soll hier geschehen mit Hilfe des Konzepts der Zivilgesellschaft. Ihre Definition soll sein: „Die Zivilgesellschaft ist eine Sphäre sozialer Institutionen und Organisationen, die nicht direkt der Funktion politischer Selbstverwaltung integriert sind und nicht unmittelbar staatlicher Regulierung unterliegen, doch in verschiedener Weise auf den Staat einwirken: für ihn Grundlagen bereitstellen, Rahmenbedingungen setzen, seine Leistungen ergänzen, ihn aktiv beeinflussen. In Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medien, Verbänden usw. erfüllt die Zivilgesellschaft Funktionen, die sich nicht in der Koordinierung von Privatinteressen erschöpfen, sondern die Konstitution eines Allgemeinen tragen. Sie bildet kollektive Identität(en), begründet Gemeinsinn, stiftet Öffentlichkeit, fördert soziale Sicherheit.“ 1 Der Colpacher Kreis erhält seine kultur- und politikgeschichtliche Bedeutung aus eben diesen Merkmalen der zivilgesellschaftlichen Sphäre, die nicht eine gouvernementale Einrichtung, aber auch nicht eine rein private Angelegenheit ist, sondern ein Initiativ- und Handlungsfeld zwischen Staat und Privatpersonen, von dem Impulse in die kulturelle und politische Öffentlichkeit ausgehen. Am Beispiel des Colpacher Kreises und Luxemburgs wäre allerdings zu fragen, ob in kleinen Staaten (die eine nationale Traditi- * Der folgende Aufsatz verfolgt den Zweck, die neueren Studien und Dokumentveröffentlichungen zum Thema „Colpach, Frankreich und Deutschland“ vorzustellen. Deshalb werden ältere Standardwerke, die vor der Schwelle zu den achtziger Jahren erschienen sind, nur dann berücksichtigt, wenn sie durch die neuen Erkenntnisse nicht überholt sind. Zu diesen Standardwerken gehören vor allem: Amis de Colpach (ed.): Colpach, Luxembourg 1957 und 1978; Jules Mersch: „Emile Mayrisch, Aline Mayrisch de Saint-Hubert, Pierre Viénot“, in: ID.: Biographie nationale du pays de Luxembourg, Luxembourg 1963, Bd. 12, p. 446-477; Fernand L’Huillier: Dialogues francoallemands 1925-1933, Strasbourg 1971. 1 Emil Angehrn: „Zivilgesellschaft und Staat. Anmerkungen zu einer Diskussion“, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1992, Stuttgart, Weimar 1993, p. 150. Zur neueren breiten Debatte cf. auch Dieter Gosewinkel, Dieter Rucht, Wolfgang van den Daele, Jürgen Kocka (ed.): Zivilgesellschaft - national und transnational, Berlin 2004. <?page no="312"?> 312 on und eine öffentliche Verwaltung, aber keine Armee und kein eigenes Universitätssystem haben) die Voraussetzungen für die Ausdifferenzierung der Zivilgesellschaft dieselben sind wie für die großen Flächenstaaten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass in kleinen Nationen der Abstand der Zivilgesellschaft zur staatlichen wie zur privaten Seite hin geringer ist. Das heißt im vorliegenden Falle, dass schon das große ökonomische Gewicht des ARBED-Konzerns für die Mayrisch-Familie die Einfluss- und Kommunikationswege zu den staatlichen Strukturen und zu den maßgeblichen Gesellschaftsgruppen in Luxemburg stark verkürzte und damit die Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Staat bzw. Gesellschaftsgruppen durchlässiger machte. (Dies scheint mir eine der noch ganz unübersichtlichen und ungeklärten Fragen zum Colpach-Phänomen zu sein, die diskutiert werden müssten.) Eine zweite konzeptuelle Maßgabe für die Analyse der Beziehungen des Colpach-Kreises zu Deutschland, die den folgenden Beobachtungen und Überlegungen zugrunde liegt, ist die Eigenart der transnationalen Beziehungen, die von der Basis der Zivilgesellschaft aus geknüpft werden können. Prinzipiell ist die Zivilgesellschaft in der Anbahnung transnationaler Beziehungen ein günstiges Terrain, da sie viel weniger als die Diplomatie eines Landes gebunden ist an internationale Macht- und Konflikt-Konstellationen. Deshalb können vom Boden der Zivilgesellschaft aus Initiativen entwickelt werden, die der offiziellen Politik vorauseilen oder sich gegen sie stellen. Im Beispiel Colpach liegt ein besonders beeindruckender Fall von vorauseilenden Initiativen für die kulturelle und ökonomische Verständigung zwischen den französischen, deutschen und luxemburgischen Eliten vor. Was ist das Spezifische der zivilgesellschaftlichen Initiativen in den transnationalen Beziehungen? Sie ergreifen im vorpolitischen Raum Maßnahmen mit ökonomischer, religiöser, kultureller, karitativer, friedenssichernder, ökologischer oder sonstiger Zielsetzung, ohne dass sie damit ein Partikularinteresse oder den Zweck politischen Machterwerbs zu verfolgen beabsichtigen. Sie stehen in ihrem nationalen Handlungsfeld in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen und konstituieren durch ihre internationalen Verbindungen Ansätze zu einer übernationalen Öffentlichkeit. Sie sind aufgrund der Intensität ihrer so entstehenden transnationalen Kontakte und aufgrund der nicht primär auf ökonomischen oder politischen Machtgewinn bezogenen Eigenart ihrer Zielsetzungen die gleichsam vorbestimmten Schrittmacher übernationaler Verständigung. 2 Der Colpach-Kreis ist in diesem Sinne ein prominentes Beispiel für eine zivilgesellschaftliche Initiative in den transnationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. 2 Formuliert in Anlehnung an Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: ID. (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, p. 17sq; cf. dort auch zu Colpach und dem „Mayrisch-Komitee“ p. 27-40. <?page no="313"?> 313 Um seine Beziehungen zu Deutschland anhand der bisherigen Forschungen und veröffentlichten Quellendokumente zu rekonstruieren, möchte ich im folgenden drei Formen der transnationalen Interaktion unterscheiden, die generell für dergleichen Fallstudien geeignet sind: Transnationale Mobilität ist in der Regel ableitbar von den Motivkomplexen des Bildungsstrebens, des Erwerbsstrebens und des Zufluchtsstrebens (im Falle von politischer Verfolgung). 3 Von den vergleichbaren transnationalen Verständigungskreisen der Zwischenkriegszeit, die ihre Wurzeln in der Zivilgesellschaft hatten (nämlich die Dekaden von Pontigny, der Europäische Kulturbund und die Hochschulsommerkurse in Davos 4 ), war der Colpacher Kreis derjenige, für den alle drei Motivkomplexe des Bildungs-, Erwerbs- und Fürsorgestrebens am vollständigsten nachweisbar sind. Deshalb soll im folgenden diese Matrix der Darstellung Colpachs in den luxemburgisch-französisch-deutschen Beziehungen zugrunde gelegt werden. Bevor diese Darstellung ausgeführt werden kann, muss allerdings noch ein Wort gesagt werden zum Begriffsinhalt des Ausdrucks „Colpacher Kreis“. Man hat zu Recht hingewiesen auf die schwierige Bestimmbarkeit der einheitstiftenden Grundlage, die es rechtfertigt, von einem „Kreis“ zu reden. Ein Indiz für diese Schwierigkeit ist die Vielzahl von gängigen Bezeichnungen, die sich in der Literatur über Colpach finden: „Cercle de Colpach“, „Cénacle de Colpach“, „petit noyau d’Europe“ und „zone Mayrisch“. 5 Soziologisch gesehen handelte es sich bei dem Phänomen Colpach, das (im weiten Sinne) von 1917-1947 existierte, 6 nicht um eine formal verfasste Vereinigung mit privatrechtlichen und statutarischen Attribu sondern um eine informelle Gruppe, die gleichwohl ein durch 3 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Zivilgesellschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (ed.): Handbuch Französisch. Studium, Lehre, Praxis, Berlin 2002, p. 606-612. Cf. auch zur Interaktion zwischen zivilgesellschaftlicher und außenkulturpolitischer Ebene in den transnationalen Beziehungen meinen Beitrag „Transnationale Kulturbeziehungen und Auswärtige Kulturpolitik. Die deutsch-französischen Institutionen als Beispiel“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, p. 9-27. 4 Cf. zu den erst neuerdings eingehender erforschten Netzwerken: François Chaubet: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Lille 2000; Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005; Ina Belitz: „Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Generationen und Nationen: Gottfried Salomon Delatour in der Weimarer Republik“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1997, Nr. 87, p. 49- 75 (Salomon war der Initiator und Organisator der europäischen Hochschulsommerkurse in Davos). 5 Cf. Cornel Meder: „Colpach et les Mayrisch. Le cadre historique“, in: Jacques Rivière l’Européen. Actes du colloque international organisé le 21 mars 1995 avec le concours de l’Institut historique allemand de Paris, Paris 1996, p. 62-71. 6 Dies sind die Eckdaten für den Ankauf des Schlosses und der Liegenschaften von Colpach durch Emile Mayrisch und deren testamentarische Übergabe an das luxemburgische Rote Kreuz durch seine Ehefrau Aline Mayrisch. <?page no="314"?> 314 Verwandtschaft und teilweise übereinstimmende Wertorientierungen geformtes Mindestmaß an Gemeinsamkeit aufwies und deshalb auch von außen als Einheit aufgefasst wurde. 7 Im folgenden soll dieser Name stehen für die vier Kerngestalten der Mayrisch-Familie (Aline Mayrisch de Saint- Hubert, Emile Mayrisch, Andrée Viénot-Mayrisch und Pierre Viénot) und die Kommunikationsnetze, die von jedem dieser vier Mitglieder in die Aktivitäten des Colpacher Kreises eingebracht wurden. Diese überlagerten sich teilweise, teilweise aber blieben sie voneinander isoliert. Bei den mehr als nur gelegentlichen deutschen Gesprächspartnern einer jeden der vier Persönlichkeiten der Mayrisch-Familie, die je spezifisch blieben für eine von ihnen, ist die Generationsverschiedenheit das wichtige Kriterium: Während die Eltern Mayrisch im wesentlichen ihre Beziehungen zu Deutschland in der Vorkriegsperiode knüpften, stand das Paar Viénot- Mayrisch mit beiden Beinen auf dem Boden der Krisen-Generation der Zwischenkriegszeit und baute ein entsprechend anders gewirktes Kommunikationsnetz zu Deutschland auf. Nach diesen konzeptuellen Vorklärungen, die Gegenstand der Diskussion sind, soll nun eine Skizze des Colpacher Beziehungsgeflechts zu Deutschland nach Maßgabe dieser Analy-sekategorien unternommen werden. In dieser Skizze können relevante Beziehungskonstellationen zu Deutschland und Frankreich selbstverständlich nur an den wichtigsten Einzelbeispielen exemplarisch erörtert werden. 2. Dominantes Motiv: Bildungsstreben Von den drei hier geltend gemachten Motivkomplexen war das Bildungsstreben zumindest für Aline Mayrisch-de Saint Hubert sowie für Andrée und Pierre Viénot die stärkste Komponente ihrer Motivation für den Austausch mit Deutschland. Während sich für Emile Mayrisch wohl Bildung vorrangig auf seine wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche Ausbildung in Aachen begrenzte, war für die drei anderen Familienmitglieder Bildung vor allem eine umfassendere Herausforderung. Diese bestand darin, sich Wissen anzueignen, das der Bewältigung der eigenen Existenzprobleme zum einen, zum anderen aber der Bewältigung gesellschaftlicher und zwischennationaler Probleme dienlich war. Bei allen lebensgeschichtlichen Unterschieden, die bei den drei Mayrischs zu diesem Bildungsinteresse an Deutschland führten, ist ihnen doch gemeinsam, dass nicht ein systematisch-wissenschaftliches, sondern ein pragmatisch-dilettantisches (man könnte auch sagen: ein existenzielles) Bemühen ihre Auswahl der deutschen Gesprächspartner bestimmte. Aline Mayrisch, die kurzzeitig (1889/ 90) ein Pensionat in Bonn besucht hatte, blieb ohne akademische 7 Zur Diskussion dieser soziologisch zunehmend interessanten Formen soziokultureller Vergesellschaftung cf. Richard Faber, Christine Holste (ed.): Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000; Nicole Racine, Michel Trebitsch (ed.): Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, réseaux, Paris 1992. <?page no="315"?> 315 Qualifikation, 8 kam aber nach der Jahrhundertwende schon früh durch ihr kunst- und literaturkritisches Interesse in fortgesetzten Kontakt mit belgischen und deutschen Kunsthistorikern; so u.a. mit dem in seiner Zeit sehr bekannten Kunstpublizisten Karl Scheffler (1869-1951) und mit Benno Berneis, dem im Ersten Weltkrieg gefallenen Künstler und Ehemann von Gertrud Eysoldt, mit der Aline Mayrisch eine lebenslange Freundschaft verband. Für die ästhetische Sozialisation von Aline Mayrisch (und über ihre Vermittlung teilweise auch des Colpacher Kreises) waren ihre Beziehungen zu Vertretern einer kunst- und literaturpolitischen Opposition in Belgien und in Deutschland prägend, in der sich Elemente der künstlerischen Moderne mit wertkonservativen Positionen mischten. Diese Mischung wird in den bislang unternommenen Studien zu den formenden Einflüssen, unter denen sich die frühesten intellektuellen Gehversuche Aline Mayrischs vollzogen, belegt. 9 Eindeutig sind ihre inneren Beziehungen zu den „avantgardistischen“ bzw. „nonkonformistischen“ Künstler- und Kunstkritikerkreisen in Brüssel um die Zeitschrift „L’Art moderne“ und ihre Rolle als Mittlerin zwischen der deutschen Kunstszene und dem frankophonen Ausland (Belgien und dann Frankreich). Weniger eindeutig, aber gleichwohl nachweisbar in der Kategorienbildung ihrer Kunst- und Litera- 8 Zu ihrer Biographie cf. Cornel Meder: Aline Mayrisch (1874-1947). Approches, Luxembourg 1997. Cf. auch Cornel Meder: „Annette Kolb und Aline Mayrisch“, in: Susanne Craemer u.a. (ed.): Europäische Begegnungen. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Sprache und Philosophie, Luxemburg 2006, p. 401-417; Pascal Mercier: „L’amazone généreuse et le patricien fidèle“, in: Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger. Correspondance 1907-1946, Luxembourg 2000, p. 7-28; Christoph Dröge: „‚Seriez-vous comme le soleil? ’. Aline Mayrisch de Saint-Hubert, Paul Valéry und Jean Schlumberger. Neue Dokumente zur Geschichte des Colpacher Kreises“, in: W. Dahmen, J. Holzus (ed.): Germanisch und Romanisch in Belgien und Luxemburg. Romanistisches Kolloquium IV, Tübingen 1992, p. 62-83; Ekkehard Blattmann: Heinrich Mann und Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/ Main 1985, p. 129-144: „Colpach“. Das Colpach-Kapitel der Monographie konzentriert sich vor allem auf die Tätigkeit von Aline Mayrisch. Der kompakteste Quellenkorpus, der auch für die Beziehungen des Colpacher Kreises zu Deutschland unentbehrlich ist, sind die drei Korrespondenz-Bände, an deren Veröffentlichung Cornel Meder wesentlichen Anteil hatte. Cornel Meder, Pierre Masson (ed.): Aline Mayrisch-Jacques Rivière. Correspondance 1912-1925, o.O. (Lyon) 2007; Pierre Masson, Cornel Meder (ed.): André Gide-Aline Mayrisch. Correspondance 1903-1946, Paris 2003; Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger. Correspondance 1907-1946, Luxembourg 2000. Die frühen Aufsätze von Aline Mayrisch, die sie meist unter dem Pseudonym Alain Desportes veröffentlichte, sind neu gedruckt in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1988, Heft 1, p. 7-25 und 1989, Heft 1, p. 41-43: „Regards sur l’Allemagne. Articles publiés à la NRF (1919-1922)“. 9 Cf. dazu Germaine Goetzinger: „Die Münchner Moderne als Referenzhorizont der jungen Aline Mayrisch“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Nr. 1, p. 31- 45, und Gast Mannes: „Aline Mayrisch und die deutsche Kunstkritik unter besonderer Berücksichtigung von Karl Scheffler“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Nr. 1, p. 46-62. Bisher unberücksichtigt geblieben ist ihre Mitarbeit am „Jahrbuch für bildende Kunst“ ab 1902, auf die Cornel Meder (op.cit., p. 14) hinweist. <?page no="316"?> 316 tur-Berichterstattung ist ein individualistisch-kulturelitäres Bewusstsein, 10 das in Beziehung gesetzt werden kann zur ästhetischen Opposition in der Nachfolge Nietzsches, die sich im späten Wilhelminismus entfaltete und die vielfältige geistige Anschlussmöglichkeiten enthielt. 11 Über den Vergleich mit Nietzsches Denken, dessen Rezeption damals in Frankreich erst in den Anfängen stand, 12 in ihrer Rezension des „Immoraliste“ für die „Art moderne“ zog Aline Mayrisch 1903 die Aufmerksamkeit von André Gide auf sich 13 und begründete damit ihre Freundschaft, die bis ans Ende ihres Lebens Bestand hatte. Eine weichenstellende Rolle für diese aktualitätsbezogenen Kontakte und Bekanntschaften mit Vertretern der Kultur im Deutschland vor 1914 spielte für Aline Mayrisch schließlich die Reise nach Weimar, Dresden und Berlin, zu der sie sich der Reisegruppe um André Gide und Maria van Rysselberghe im Juli/ August 1903 angeschlossen hatte. Von dieser Reise, die vom damaligen Direktor des Kunstmuseums in Weimar Harry Graf Kessler ermöglicht wurde, gingen einige persönliche Verbindungen aus, die ein Leben lang bis nach dem Zweiten Weltkrieg konstant blieben. So auch im Falle von Aline Mayrisch. Für sie war diese Deutschland-Exkursion zugleich eine Erkundungsreise ins Nachbarland und eine Initiationsreise in die französisch-belgische Gruppe um André Gide. Über das Zustandekommen und den Verlauf dieser Gruppenreise in das symbolträchtige Weimar, das zumal den französischen Zeitgenossen als humanistische Alternative für das militaristische Potsdam galt, 14 sind wir bestens und detailliert unterrichtet. 15 Nimmt man allerdings den kulturpolitischen Rahmen hinzu, in dem die Reise Gides und seiner Begleiter angesiedelt war, so wird deutlicher, warum die dort zustande gekommenen geistigen Verbindun- 10 Cf. Germaine Goetzinger, op.cit., p. 38sq. 11 Cf. dazu Stephen Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart, Weimar 1992. Als aufschlussreiches Detail mag gelten, dass im Alkoven der von Aline Mayrisch Anfang der zwanziger Jahre eingerichteten Bibliothek im Colpacher Schloss die Büsten von Goethe und von Nietzsche aufgestellt waren. 12 Cf. Jacques Le Rider: Nietzsche en France, Paris 1999; cf. auch Alexandre Kostka: „Un ambassadeur des Archives Nietzsche à Paris? La correspondance entre Elisabeth Förster-Nietzsche et Henri Lichtenberger“, in: ID. (ed.): Paris-Weimar, Weimar-Paris. Kunst- und Kulturtransfer um 1900, Tübingen 2004, p. 177-200. 13 Aline Mayrisch de Saint-Hubert: „Immoraliste et surhomme“, in: L’Art moderne, 1903, Nr. 5, p. 33-34. 14 Cf. Alexandre Kostka: „Paris-Weimar: un transfert frustré“, in: ID. (ed.): Paris-Weimar, op.cit., p. 16sq: „Un îlot de résistance à la prussification de l’Allemagne? “ 15 Cf. Emmanuel Fraisse: „‚De l’importance du public’. André Gide à Weimar 1903“, in: Alexandre Kostka (ed.): Paris-Weimar, op.cit., p. 109-118; Cornel Meder: „Wahlverwandtschaften. Zu André Gides Deutschland-Reise im Sommer 1903“, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (ed.): André Gide und Deutschland. André Gide et l’Allemagne, Düsseldorf 1992, p. 165-180; Claude Foucart (ed.): D’un monde à l’autre. La correspondance André Gide-Harry Graf Kessler (1903-1933), Lyon 1985; Claude Foucart: „Entre le Paris des arts et le Berlin de Guillaume II: Weimar 1902-1906“, in: Paris et le phénomène des capitales littéraires. Carrefour ou Dialogue des cultures, Paris 1984, Bd. 2, p. 240-256. <?page no="317"?> 317 gen und Gesellungen dauerhaften Bestand hatten. Harry Graf Kessler (1868-1937) versuchte zwischen 1902 und 1906 in Weimar ein modernes kulturpolitisches Gegenmodell zum offiziellen Berliner Kunstverständnis ins Werk zu setzen. Er hatte seinen belgischen Freund, den Architekten und Designer Henry van de Velde (1863-1957), 1903 nach Weimar geholt als Stütze für sein ehrgeiziges Unterfangen, für die Entwicklung der Kultur in Deutschland einen Ausstrahlungsort der westeuropäischen Moderne zu schaffen. 16 Dies Projekt umfasste die Bildenden Künste ebenso wie das Theater, die Literatur und die Musik. 17 Der Neoimpressionist Théo van Rysselberghe, dessen Ehefrau und Lebensbegleiterin Gides, Maria van Rysselberghe, zum Kern der Reisegruppe gehörte und mit Aline Mayrisch bekannt war durch die Brüsseler Begegnungen, war in mehreren Ausstellungen ab 1903 in Weimar vertreten. Zu den Literatur-Vorträgen, die Graf Kessler arrangierte, kamen neben Gide auch Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann. Die fortgeschrittenen Pläne, Hugo von Hofmannsthal zum lokalen Theaterleben hinzuzuziehen, scheiterten schließlich, 18 belegen aber, dass Kesslers literaturpolitisches Programm einen kulturelitären und modernen Zuschnitt hatte. Gide trug in seinem Vortrag vom 5.8.1903 dem genius loci Rechnung, indem er sich auf Goethe und Nietzsche bezog und eine Synthese von Klassizismus und Moderne umriss. Die Autoren, die von Kessler zu dem Weimarer Experiment der kulturellen Verjüngung herangezogen wurden (insbesondere Rilke und Hofmannsthal) blieben Bezugsgrößen für Aline Mayrisch und den Colpacher Kreis. Rilkes „Malte Laurids Brigge“ (1910) übersetzte sie einige Jahre später mit Gide und sie widmete ihm einen ihrer ersten Aufsätze in der „Nouvelle Revue Française“ (NRF). 19 Der andere zeitgenössische Schriftsteller, den Aline Mayrisch mit Hilfe Gides ins Französische zu übersetzen beabsichtigte, war Frank Wedekind. 20 Kesslers Bedeutung für die Luxemburgerin war am größten in der Vorkriegszeit. Nach dem Ersten Weltkrieg spielte dessen Engagement in der pazifistischen Bewegung („Deutsche Friedensgesellschaft“) möglicherweise eine Rolle für die Vereinzelung der nachweisbaren direkten Kontakte, 21 während die Beziehungen der Mayrisch-Freundin 16 Cf. dazu umfassend Alexandre Kostka: Un nietzschéen à l’époque de Guillaume II. Le comte Harry Kessler et le problème de la modernisation de la culture allemande, thèse Université de Strasbourg 1993, und: Gerhard Neumann, Günter Schnitzler (ed.): Harry Graf Kessler. Ein Wegbereiter der Moderne, Freiburg 1997. 17 Cf. dazu die Studien in Alexandre Kostka (ed.): Paris-Weimar, op.cit., p. 97-129. 18 Cf. dazu besonders Alexandre Kostka: „Das ‚Gesamtkunstwerk für alle Sinne’. Zu einigen Facetten der Beziehung zwischen Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler“, in: Gerhard Neumann, Günter Schnitzler (ed.), op.cit., p. 135-151. 19 Cf. dazu die einschlägigen Briefe in Pierre Masson, Cornel Meder (ed.): André Gide- Aline Mayrisch. Correspondance 1903-1946, Paris 2003. 20 Cf. ibid., p. 83sq. 21 So ist er nach Ausweis des Colpacher Gästebuchs wohl niemals im Hause Mayrisch gewesen. In den zwanziger Jahren begegneten sich Graf Kessler und Aline Mayrisch <?page no="318"?> 318 Annette Kolb zu Kessler lebendig blieben. Die nicht allein passive Einbeziehung der kunst- und literaturkritischen Autorin Aline Mayrisch in die Kreise der Brüssler, Münchner und Weimarer Schrittmacher der Moderne ist sowohl ästhetisch als auch soziologisch gesehen die Grundlage für die Konstituierung des Colpacher Kreises und den Aufbau seiner Deutschland-Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Da sich ihre Kontakte zu André Gide und dem Gründerkreis der Dekaden von Pontigny sowie der NRF-Gündungsequipe vor 1914 parallel festigten, 22 waren die Voraussetzungen für die kulturelle Mittlerfunktion des Colpacher Kreises zwischen den beiden verfeindeten Nationen geschaffen. Dass sich die luxemburgische Autorin nicht nur der politischen, sondern auch der subjektiven Schwierigkeiten einer solchen Aufgabe bewusst war, verdeutlicht eine selbstreflexive Bemerkung, die sie nach einem Heidelberg-Besuch im März 1925 ihrem Freund Jean Schlumberger mitteilte: „J’ai retrouvé en Bochie ce noyau d’Allemagne très belle, très verwandt, cela m’a beaucoup remuée. Les deux fonds sont remontés. Je sens que tout ce qui est latin en moi (vous trouverez peut-être qu’il n’y a rien de latin du tout) est de surface. Mais cela me fait heimatlos...“ 23 Obwohl sich Aline Mayrisch also überwiegend der deutschen Kultur verwandt fühlte, machte sie nach Kriegsende erst über den Umweg ihrer französischen Freunde aus dem NRF- und Pontigny-Kreis die Bekanntschaft mit den deutschen Intellektuellen, die für ihre lebendige Beziehung zum geistigen Leben in Deutschland die größte Wichtigkeit erlangten: Ernst Robert Curtius und Bernhard Groethuysen. Es werden aber in der Wahl dieser intellektuellen Mentoren und Gesprächspartner einige zentrale Kriterien erkennbar, die auch schon in den Vorkriegsjahren die Auswahl ihrer deutschen Kulturvertreter determinierten: ein kulturelitäres Selbstverständnis, das sich durch ästhetische Modernität und neohumanistischen Wertkonservatismus definierte, und die binationale Sozialisation zwischen Deutschland und Frankreich, die teilweise in der Familientradition angelegt war. Diese Kriterien trafen ebenso auf Annette Kolb und Harry Graf Kessler zu wie auf Ernst Robert Curtius und (partiell) auf Bernhard Groethuysen. Sie sind hingegen nicht mehr ausschlaggebend für die Gäste und Gesprächspartner aus Deutschland, die von Andrée Viénot-Mayrisch und Pierre Viénot im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre in den Colpacher Kreis eingeführt wurden. jedoch öfter während der Berlin-Aufenthalte der Hausherrin von Colpach. Cf. dazu Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/ Main 1979, p. 453 und 456. 22 Cf. dazu insbesondere die Einleitung von Pierre Masson zur Gide-Mayrisch- Korrespondenz, op.cit., p. 7-32. 23 Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger. Correspondance 1907-1946, Luxembourg 2000, p. 92. Ihre hier angedeutete Spannung zwischen beiden Kulturen brachte sie im Austausch mit Curtius auf die Formel, sie sei „de partout et de nulle part“. <?page no="319"?> 319 Für die Verbindung des Colpacher Kreises mit deutschen zeitgenössischen Kulturvertretern der Weimarer Republik gibt es zahlreiche direkte und indirekte Belege und Dokumente, aber wenig zusammenfassende Interpretationen. 24 Einige Spuren für eine solche Interpretation sollen hier knapp umrissen werden. Bemerkenswert ist zuerst einmal die Tatsache, dass Aline Mayrisch die Bekanntschaft ihrer beiden deutschen Mentoren über die Vermittlung ihrer französischen Freunde machte. Ihre primären direkten Deutschland-Kontakte vor dem Ersten Weltkrieg waren überwiegend über die Kunst- und Literaturkritik vermittelt. Ihren Zugang zu den „grands intellectuels“ aus Deutschland erlangte sie mit Hilfe des NRF- Kreises und von Pontigny. Die beiden deutschen Universitätsprofessoren und Intellektuellen, Curtius und Groethuysen, standen schon seit der Vorkriegszeit in engem Austausch mit Frankreich und hatten in ihrem Herkunftsland bereits ein hohes Ansehen (das dann durch die Frankreich- Verbindungen noch anwuchs). 25 Sie standen beide, aber in je eigener Weise, in der Tradition der Geisteswissenschaften, die in der Weimarer Republik auf breiter Front philosophisch weiterentwickelt wurden zu einer philosophischen Anthropologie, der auch die Anfänge der Existenzphilosophie verpflichtet waren. Curtius fand in der Weimarer Republik im Philosophen der politischen Romantik Adam Müller einen Wegweiser, Groethuysen u.a. in Meister Eckhart. 26 Aline Mayrisch fand nicht zufällig in 24 Der bisher einzige Versuch ist Germaine Goetzinger: Colpach - ein Ort deutschfranzösischer Begegnung zur Zeit der Weimarer Republik, Oldenburg 2004. Cf. auch Cornel Meder: „Die Mayrischs und Deutschland“ in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1992, Heft 4, p. 529-531 und Daniel Durosay: „Paris-Berlin, via Luxembourg. Un relais dans les relations franco-allemandes de la NRF: la maison Mayrisch“, in: Bulletin des Amis d’André Gide, 1986, p. 33-56. 25 Die intellektuelle Biographie beider Wissenschaftler ist bislang (nach der Zahl der ihnen gewidmeten Studien) ungleich erschlossen. An neuerer Literatur zu Curtius cf. Christine Jacquemard de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886-1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, Paris 1998; Jeanne Bem, André Guyaux (ed.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, Paris 1995; Wolf-Dieter Lange (ed.): „In Ihnen begegnet sich das Abendland“. Bonner Vorträge zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, Bonn 1990; Walter Berschin, Arnold Rothe (ed.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, Heidelberg 1989. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Freiburger Dissertation von Stefanie Müller: Ernst Robert Curtius als journalistischer Autor (1918- 1932). Auffassungen über Deutschland und Frankreich im Spiegel seiner publizistischen Tätigkeit, Freiburg/ Metz 2006, die eine biographische Monographie des „jungen“ Curtius und neue Präzisierungen seiner intellektuellen Vita enthält. Zu Groethuysen jetzt die hervorragende Monographie Klaus Große-Kracht: Zwischen Berlin und Paris. Bernhard Groethuysen (1880-1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002. 26 Zu den Colpacher Kontakten cf. die Studien Cornel Meder: „Curtius et les Mayrisch“, in: Jeanne Bem, André Guyaux (ed.), op.cit., p. 21-38; Adrien Meisch: „Ernst Robert Curtius und Luxemburg“, in: Wolf-Dieter Lange (ed.), op.cit., p. 23-27; Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‚Unpolitischen’. Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politischintellektuellen Leben der Weimarer Republik“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1990, Nr. 59, p. 16-62; Christoph Dröge: „Ernst Robert Curtius und Colpach“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1988, Nr. 1, p. 26-36. Zum Briefwechsel zwi- <?page no="320"?> 320 beiden Persönlichkeiten geistige Orientierungshelfer und zugleich persönliche Berater. Ihre von Selbstzweifeln und seelischen Unsicherheiten gezeichnete Konstitution machte sie empfänglich für das, was man neuerlich treffend eine „vagierende Religiosität“ genannt hat. 27 Ihrem Verlangen nach psychischem Halt und metaphysischen Gewissheiten kam das geisteswissenschaftliche Denken der Deutschen eindeutig stärker entgegen als die in der französischen Universitätslandschaft vorherrschende Denkweise cartesianischen und positivistischen Zuschnitts (sieht man hier einmal vom Bergsonismus ab). Curtius fand bei den Mayrischs offene Ohren mit seiner Europa-Konzeption, die auf ein Drittes zwischen Nationalismus und Internationalismus zielte. Er formulierte diese Konzeption in zwei am selben Tag (21.7.1921) formulierten Briefen an André Gide und Aline Mayrisch. Im Brief an Gide hieß es: „Ich glaube, daß die besten Geister beider Nationen sich finden werden auf der Basis, die Sie andeuteten und die auch mir [...] vorschwebt: eine kosmopolitische (nicht internationalistische) europäische Gesinnung auf dem Fundament eines unbefangenen und unverzerrschen Curtius und Aline Mayrisch, aus dem die oben genannten Beiträge von Meder und Dröge schöpfen und dessen Veröffentlichung seit langem angekündigt ist, cf. vor allem Christoph Dröge: „Zum Stand der Edition des Briefwechsels von Ernst Robert Curtius. Ein Zwischenbericht“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1889, Nr. 1, p. 49-52. Zur ersten Begegnung zwischen Gide und Curtius in Colpach cf. Claude Foucart: „Ernst Robert Curtius et André Gide. Les débuts d’une amitié (1920-1923)“, in: Revue de Littérature Comparée, 1984, p. 314-339. Zur Präsenz Bernhard Groethuysens in Colpach cf. Klaus Große-Kracht: „Zwischen Mystik und Literaturpolitik. Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts“, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005, p. 379-401; Klaus Große-Kracht: „Les intellectuels allemands à Pontigny. Autour de Ernst Robert Curtius, Heinrich Mann et Bernard Groethuysen“, in: SIECLE. Colloque de Cerisy. 100 ans de rencontres intellectuelles de Pontigny à Cerisy, Paris 2005, p. 107-116; Klaus Große- Kracht: „Briefe aus Deutschland. Berharnd Groethuysens Beiträge zur Nouvelle Revue Française in den frühen zwanziger Jahren“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 2001, Nr. 101/ 102, p. 119-131; diese Artikel kannte Aline Mayrisch, die ihrerseits unter Pseudonym in der NRF zur selben Zeit veröffentlichte; cf. dazu Christoph Dröge: „Die unsichtbare Autorin. Aline Mayrischs Beiträge in der NRF“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Heft 1, p. 36-78; Klaus Große-Kracht: „Kulturtransfer und intellektuelle Milieus. Bernhard Groethuysen auf dem Weg von Berlin nach Paris“, in: Marc Schalenberg (ed.): Kulturtransfer im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, p. 141-152; Tony Bourg, Jean-Claude Muller: „Un ami allemand d’André Gide. Bernard Groethuyen (1880-1946)“, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (ed.), op.cit., p. 181- 193; Bernard Dandois: „André Malraux et Bernard Groethuysen. Convergences des pensées“, in: Le livre dans la vie et l’oeuvre d’André Malraux, Paris 1988, p. 11-28 ; Bernard Dandois: „A vrai dire, une amitié: Paulhan et Groethuysen“, in: Claude-Pierre Pérez (ed.): Jean Paulhan, le clair et l’obscur, Paris 1999, p. 342-355 ; Claude Foucart: „André Gide, Bernard Groethuysen et Otto Grautoff ou la définition du politique chez Gide“, in: Bulletin des amis d’André Gide, 1997, Heft 114/ 115, p. 192-208; Jean Paulhan: „La mort de Groethuysen à Luxembourg“, in: La Nouvelle Revue Française, 1946, p. 963sq; Jean Paulhan: Groethuysens Tod in Luxemburg. Übersetzt von Fr. Kemp, in: Akzente, 1999, p. 546-573. 27 Klaus Große-Kracht: Zwischen Mystik und Literaturpolitik, op.cit., p. 386. <?page no="321"?> 321 ten nationalen (nicht nationalistischen) Gefühls“. Die Formulierung in dem Schreiben an Aline Mayrisch lautete: „Ich weiß, daß beide [Thomas Mann und Ernst Bertram] von deutscher Seite her an dem Programm mitarbeiten möchten, das von französischer Seite her Gide so vornehm und würdig vertritt: Annäherung in kosmopolitischem Geist (nicht international! ), bei ruhiger Wahrung des nationalen (nicht nationalistischen) Empfindens.“ 28 Groethuysen fand speziell mit seiner Eckhart-Interpretation und Mystik- Auffassung das lebhafte Interesse der Hausherrin von Colpach und übersetzte mit ihr gemeinsam bis in die dreißiger Jahre Auszüge aus dessen Schriften ins Französische. 29 In der praktischen Beraterrolle über die Denkbewegungen im zeitgenössischen Deutschland der Weimarer Republik stand ihr Curtius wohl näher als Groethuysen, da der Bonner (dann Heidelberger) Romanist in Deutschland lebte, während Groethuysen die meiste Zeit in Paris arbeitete. Alle Mayrischs fuhren oft nach Heidelberg, wo das Deutsch-Französische Studienkomitee (Mayrisch-Komitee) 1930 tagte und wo Curtius mitwirkte an der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Emile Mayrisch im Jahre 1927. 30 Da Curtius in Deutschland lebte und - anders als Groethuysen - alle politisch-atmosphärischen Veränderungen in diesem Lande mitmachte bzw. darauf reagierte, wurde er für die Mayrischs im Laufe der Weimarer Republik zum exemplarischen Deutschen, an dessen Verhalten man die kollektiven Psychosen abzulesen versuchte. Aline Mayrisch schrieb am 21. Juli 1932 an ihren Freund Schlumberger: „Vu, en passant, Curtius que l’Espagne retient passionnément. Il est à la fois nationaliste et apolitique, le misérable.“ 31 Damit reagierte sie auf Curtius’ Abwendung von Frankreich seit 1930 und seine Hinwendung zu Italien und Spanien. 32 Diese Schwankungen und Tiefpunkte im Verhältnis zu ih- 28 Herbert et Jane M. Dieckmann (ed.): Deutsch-französische Gespräche 1920-1950. La Correspondance de Ernst Robert Curtius avec André Gide, Charles du Bos et Valérie Larbaud, Frankfurt/ Main 1980, p. 30 und 32. 29 Cf. Klaus Große-Kracht: Zwischen Mystik und Literaturpolitik, loc.cit., p. 387sq. Dort auch eine Genese der Zusammenarbeit zwischen Groethuysen und Aline Mayrisch, die in den dreißiger und vierziger Jahren fortgesetzt wurde und zu publizistischen Ergebnissen führte. Cf. „Maître Eckhart. Trois sermons“, in: Mesure, 1936, Heft 1, p. 181-204; „Sermons allemands et légendes“, in: Hermès, 1937, Heft 3, p. 7-54; beide Übersetzungen in der französischen und der belgischen Zeitschrift wurden von Aline Mayrisch vorgenommen und mit Groethuysens Hilfe veröffentlicht. 30 Die Rolle Heidelbergs als wichtigstem intellektuellen Zentrum der zwanziger Jahre (neben Berlin und Frankfurt/ Main) ist neuerdings mehrfach dargestellt worden. Cf. dazu Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München 1999. Peter Ulmer (ed.): Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren. Heidelberger Impulse, Heidelberg 1998. Hubert Treiber (ed.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“, Wiesbaden 1995. 31 Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger. Correspondance, op.cit., p. 287. 32 Zu dieser Abwendung, die vom größten Teil der Curtius-Literatur nicht thematisiert wird, cf. vor allem Hans Manfred Bock: Die Politik des „Unpolitischen“, op.cit. Neuer- <?page no="322"?> 322 ren wichtigsten philosophischen Mentoren taten ihrer Freundschaft zu Curtius und Groethuysen keinen Abbruch und sie pflegte diese Verbindungen über die Kataklysmen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hinweg bis zu ihrem Tode 1947. Viele Aspekte ihrer Beziehungen zu Curtius und Groethuysen sind trotz der ansehnlichen Zahl von Studien, die diesem Thema gewidmet wurden, noch immer schwierig zu beurteilen, solange ihre Briefwechsel mit beiden nicht veröffentlicht sind. 33 Curtius war bereits im Dezember 1945 wieder Gast in Colpach und Groethuysen, der 1938 die französische Staatsangehörigkeit erworben hatte, starb nach Wiederaufnahme der Kontakte zu Aline Mayrisch im September 1946 in Luxemburg. Eine andere Art von Verbindungen der Aline Mayrisch zu deutschen Kulturrepräsentanten war nicht von einem so hohen Gefälle gekennzeichnet, wie es zwischen der Gelehrsamkeit und intellektuellen Souveränität eines Curtius oder Groethuysen und ihrem eigenen kulturellen Sockel bestand. Die Bekanntschaft mit Gertrud Eysoldt (1870-1955) machte Aline Mayrisch mit großer Wahrscheinlichkeit anlässlich des Berlin-Besuchs mit der Gide-Reisegruppe im August 1903. Auf ihre freundschaftliche Beziehung zu der renommierten Schauspielerin an der Max-Reinhardt-Bühne in Berlin verweisen viele Erwähnungen in der veröffentlichten Vorkriegs- Korrespondenz der Luxemburgerin. Gertrud Eysoldt war nicht nur eine der großen Schauspielerinnen des damals sich durchsetzenden Regisseur- Theaters, 34 sondern sie galt auch als eine der ersten Feministinnen auf der Bühne. Neben diesem gemeinsamen Interesse an der Vertretung der Fraueninteressen verband Aline Mayrisch mit ihr auch die hohe Wertschätzung Hugo von Hofmannsthals. Dieser hatte mehrere Rollen in seinen Theaterstücken ausdrücklich für die Darstellungskunst der Berliner Schauspielerin konzipiert und stand in ständigem Briefkontakt mit ihr. 35 Ähnlich wie die lebenslange freundschaftliche Verbundenheit der Colpacher Hausherrin mit Gertrud Eysoldt war auch ihre Freundschaft mit Annette Kolb eher affektiver als intellektueller Natur. Allerdings wiederholt sich im Falle von dings wird diese Feststellung indirekt bestätigt durch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Curtius und Catherine Pozzi in Jeanne Bem, André Guyaux (ed.), op.cit., p. 371sq. 33 Sie befinden sich fragmentarisch in der Universitätsbibliothek Bonn und in den Archives Nationales du Grand-Duché de Luxembourg. Der Hauptbestand der Korrespondenz Aline Mayrischs mit Deutschen wurde 1939 von ihr vernichtet, um die deutschen Gesprächspartner nicht der Verfolgung durch die Nationalsozialisten auszuliefern. 34 Cf. dazu Elke-Maria Clauss: „Nur schaffen will ich und geschaffen werden“. Zum Verhältnis zwischen Schauspielerin und Dichter am Beispiel von Gertrud Eysoldt und Hugo von Hofmannsthal, Oldenburg 2001; cf. auch: „Gertrud Eysoldt (1870-1955)“, in: Germaine Goetzinger, Gast Mannes, Frank Wilhelm (ed.): Hôtes de Colpach. Colpacher Gäste, Mersch 1997, p. 93-98. 35 Cf. Leonhard Fiedler (ed.): Der Sturm Elektra. Gertrud Eysoldt-Hugo von Hofmannsthal. Briefe, Salzburg, Wien 1996. <?page no="323"?> 323 Annette Kolb das Muster der Mittlerexistenz zwischen Deutschland und Frankreich, 36 das ja auch Curtius und Groethuysen charakterisierte und das dem Lebensentwurf von Aline Mayrisch selbst entsprach. Weitere Elemente wahlverwandtschaftlicher Fundierung dieser Freundschaft waren offenbar die zeitgenössische Literatur, der Wunsch der Friedenssicherung und der Frauenemanzipation, aber auch ein kulturelitäres Bewusstsein, das gerade bei Annette Kolb (1870-1967) sehr ausgeprägt war. So weit bisher bekannt ist, wurde sie von Aline Mayrisch nicht in Pontigny eingeführt. Ihre überaus zahlreichen Besuche in Colpach standen hingegen im Zusammenhang vor allem mit ihrer Mitarbeit an der „Luxemburger Zeitung“, in der sie in 17 Jahren 74 Artikel veröffentlichte und in der auch Ernst Robert Curtius publizierte. 37 Die Verbundenheit der Hausherrin von Colpach mit Gertrud Eysoldt und Annette Kolb bezog sich auch auf deren Familienangehörige (Sohn Peter Berneis) und Lebensgefährten (René Schickele) und schloss materielle Hilfe in Notzeiten mit ein. Das heißt, dass in diesen Beziehungen zu Deutschland das Bildungsmotiv sich mit dem Motiv der Hilfe- und Zufluchtsgewährung verband. Betrachtet man nun die Deutschland-Beziehungen der jüngeren Generation des Colpach-Kreises, also diejenigen von Andrée Mayrisch-Viénot und von Pierre Viénot, so wiederholen sich in dieser Konstellation Motive und Personen, zugleich jedoch sind die generationellen Unterschiede der geistigen Interessen und Affinitäten scharf umrissen. Andrée Mayrisch wandte sich nach Abschluss eines Studiums an der London School of Economics ab 1923 verstärkt Deutschland zu und nutzte zu diesem Zweck die Kommunikationskanäle ihrer Eltern. 38 Aus ihren Londoner Studien mit re- 36 Zur Biographie cf. auch Armin Strohmeyer: Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern, München 2002; cf. ebenso Charlotte Marlo Werner: Annette Kolb. Eine literarische Stimme Europas, Königstein/ Taunus 2000, und Anne-Marie Saint-Gille: Les idées politiques d’Annette Kolb (1870-1967). La France, l’Allemagne et l’Europe, Berne 1993; cf auch „Annette Kolb (1870-1967)“, in: Germaine Goetzinger, Gast Mannes, Frank Wilhelm (ed.): Hôtes de Colpach. Colpacher Gäste, op.cit., p. 109-115. 37 Anne-Marie Saint-Gille: „‚Und ich hatte dort meine Narrenfreiheit...’. Annette Kolbs Beiträge in der Luxemburger Zeitung“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Nr. 1, p. 87-95. 38 Die bisherigen Studien und Quellenveröffentlichungen zu Andrée Viénot-Mayrisch sind ergänzungsbedürftig. Cf. einstweilen Gaby Sonnabend: „Andrée Mayrisch und Pierre Viénot. Un couple médiateur dans les relations franco-allemandes“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 65-75; cf. Marie-France Barbe: „Andrée Viénot. Une vie, une œuvre exceptionnelles“, in: Terres ardennaises. Revue d’histoire et de géographie locales, 1998, p. 3-39; Gilles Deroche: „Andrée Viénot ou la rigueur morale en politique“, in: Terres ardennaises. Revue d’histoire et de géographie locales, 1998, p. 41-59. Andere monographische Studien sind rar; cf. Annette Schwall-Lacroix: „L’importante personnalité d’Andrée Viénot-Mayrisch“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 41-47; Cornel Meder: „Schnouky Mayrisch, une jeune luxembourgeoise“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 49-63; Gilles Deroche: „Andrée Viénot ou La conscience morale en politique“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 77-83; der letztgenannte Beitrag bezieht <?page no="324"?> 324 formsozialistischen und sozialpolitischen Ideen vertraut, ging sie Ende 1925 nach Berlin, um dort bei dem Sozialismus-Forscher Gustav Mayer (1871-1948), dem späteren bekannten Biographen von Friedrich Engels, zu studieren. Für diese Bekanntschaft waren Bernhard Groethuysen und seine Lebensgefährtin Alix Guillen vermittelnd tätig gewesen. Vor allem die belgische Marxistin Guillen kannte Mayer aus dessen Brüsseler Journalisten- Tätigkeit in der Vorkriegszeit. 39 Sie war gut bekannt mit Maria van Rysselberghe, also Gides Begleiterin, und Aline Mayrisch hatte Groethuysen im August 1924 kennengelernt. Die junge Andrée Mayrisch hielt in Mayers Seminar ein Referat über „Die Entwicklung der marxistischen Krisentheorie, anhand des Briefwechsels Marx-Engels“. Sie übernahm 1926 den „Service social“ im väterlichen Unternehmen, der ARBED, 40 und lebte bis 1930 die meiste Zeit in Deutschland. Dort knüpfte sie vor allem Kontakte zu den sozialreformerischen Protagonisten und Experimenten. Sie stand im Austausch und im geselligen Verkehr mit Eugen Rosenstock 41 (der maßgeblich an der Gründung der „Akademie für Arbeit“ in Frankfurt/ Main beteiligt war); mit den Sozialdemokraten Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid, der 1933 eine Zeit lang in der Wohnung des Paares Viénot-Mayrisch lebte, 42 mit Helmut James Graf Moltke und Adolf Reichwein, deren reformpädagogische Ideen und Experimente wie die freiwilligen Arbeitslager von junsich auf das Wirken von Andrée Viénot-Mayrisch nach 1945; dazu auch Marie-France Barbe: „Andrée Viénot, Une vie et une oeuvre remarquable“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 85-96; cf. Guido Müller: „Andrée Mayrisch und Pierre Viénot. Ein politisches Paar zwischen Berlin und Paris (1923-1940)“, in: Les années trente, base de l’évolution économique, politique et sociale du Luxembourg d’après guerre? , Beiheft zu Hemecht 1996, p. 131-148; Gilles Morin: „Viénot, Andrée“, in: Jean Maîtron, Claude Pennetier (ed.): Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français, Paris 1993, Bd. 43, p. 206-209; Cornel Meder: „Andrée Mayrisch et Pierre Viénot“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1994, Nr. 2, p. 199-200. Als Dokumentation cf. Andrée Mayrisch: „Impressions de Moscou“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Nr. 1, p. 201-215; daneben zahlreiche Hinweise auf die Entwicklung der Mayrisch-Tochter in den Korrespondenzen Aline Mayrisch-Jean Schlumberger, op.cit. und Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs, Hansgert Schulte (ed.): Pierre Bertaux. Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933, Asnières 2001; cf. auch Rémi Viénot: „Andrée Viénot. Le témoignage du fils“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2001, Heft 1, p. 98-111. 39 Zur Biographie Mayers cf. zusammenfassend Jens Prellwitz: Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos, deutsche Nation. Gustav Mayer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Mannheim 1998. Zu den Beziehungen von Alix Guillen zu Gustav Mayer cf. auch Klaus Große-Kracht: Zwischen Berlin und Paris, op.cit., p. 69sq. 40 Cf. dazu das Andrée Mayrisch gewidmete Kapitel in Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1879-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005, p. 90-94. 41 Zu seiner Biographie, in der in den Weimarer Jahren Elemente des Reformsozialismus und der Jugendbewegung sich mischten, cf. Ulrich Jung: Eugen Rosenstocks Beitrag zur deutschen Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit, Frankfurt/ Main 1970. Er stand in engem Kontakt zum preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker. 42 Zu diesen Beziehungen unergiebig die Monographie Marie-Dominique Cavaillé: Rudolf Breitscheid et la France 1919-1933, Frankfurt/ Main 1995. <?page no="325"?> 325 gen Akademikern und Arbeitern sie kannte und die später zu den profiliertesten Persönlichkeiten des Widerstandes gegen Hitler gehörten 43 ; mit Gertrud Hermes (1872-1942), der Mitberaterin des bekannten Staatsrechtlers und Theoretikers des Sozialstaats Hermann Heller in Leipzig, die eine Expertin der Arbeiterbildung war. Kurzum: ihre Interessen waren praktischer, sozialpädagogischer und sozialpolitischer Art. Sie studierte die bis zur Weltwirtschaftskrise üppig in Deutschland gedeihenden Einrichtungen der Arbeiter- und Erwachsenenbildung, der Sozialfürsorge, der Reformschul- und der Jugendherbergs-Bewegung in praktischer Absicht. Wenn sich ihre Mutter Aline Mayrisch dafür verwandt, den Philosophen Max Scheler 1924 nach Pontigny einzuladen, so bewirkte Andrée Mayrisch 1929, dass Gertrud Hermes an einer der Dekaden teilnehmen konnte. In dieser Konstellation bilden sich recht symbolkräftig die Unterschiede der Deutschland-Interessen und -Affinitäten der beiden Mitglieder der Mayrisch-Familie ab. Die Tochter Andrée fühlte sich angezogen von den Sozialreformen der Weimarer Republik, sie suchte den Umgang mit den Intellektuellen der Tat und war eher abgestoßen von den Repräsentanten der deutschen Wirtschafts- und Verwaltungselite, wie sie im Deutsch- Französischen Studienkomitee ihres Vaters, in der deutschen Sektion des Mayrisch-Komitees, zahlreich vertreten waren. 44 Ihre mehrfach belegte Bewunderung für Walter Rathenau, den sie 1920 als Adoleszentin im Colpacher Familiensitz durch ihren Vater kennenlernte, bestätigt diese Präferenzen. Die Gelegenheit, in Berlin die industriepolitischen Gesprächspartner ihres Vaters kennenzulernen, hatte sie insbesondere, nachdem sie Mitte 1929 den Leiter des Berliner Büros des Deutsch-Französischen Studienkomitees, Pierre Viénot, geheiratet hatte. Viénot (1897-1944) 45 wurde damit auch ju- 43 Cf. dazu grundlegend Peter Dudek: Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920-1933, Opladen 1988; speziell zu den genannten Repräsentanten dieser Bewegung Christian Illian: „Freiheit als konkrete Verantwortung. Der Kreisauer Kreis und die schlesischen Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten. Zu Helmuth James von Moltkes Konzept der ‚kleinen Gemeinschaften’“, in: Dirk Bockermann u.a. (ed.): Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus, Göttingen 1996, p. 334-348; Dieter Wunder: „Die Bedeutung der Marburger Studienzeit für Adolf Reichwein“, in: Die Philipps-Universität Marburg zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Kassel 2006, p. 123-142 mit (teilweise irrtümlichen) Hinweisen auf Pierre und Andrée Viénot und den Kreis um Kultusminister Carl Heinrich Becker. Als neueste Biographien cf. Günter Brakelmann: Helmuth James Graf Moltke 1907-1945. Eine Biographie, München 2007; Elke Endraß: Gemeinsam gegen Hitler. Pater Alfred Delp und Helmuth James Graf Moltke, Stuttgart 2007; Christine Hohmann: Dienstbares Begleiten und später Widerstand. Der nationale Sozialist Adolf Reichwein im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2007. 44 Cf. dazu die Auszüge aus ihren Briefen an die Eltern aus Berlin in Guido Müller: Andrée Mayrisch und Pierre Viénot, op.cit., p. 139. 45 Zu Viénot ist in den letzten zehn Jahren mehr gearbeitet worden als zu jedem anderen Mitglied des Colpacher Kreises. Eine Summe dieser Forschungen findet sich in Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München <?page no="326"?> 326 2005. Sein Deutschland-Buch von 1931 wurde neu herausgegeben: Hans Manfred Bock (ed.): Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur, Bonn 1999. Einzelaspekte seines Werdens und Tuns sind Gegenstand folgender Studien: Guido Müller: „Pierre Viénot und das Berliner Büro des Deutsch-französischen Studienkomitees“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 53-68; Gilbert Krebs: „‚Ungewisse Jugend’. Zum französischen Deutschlanddiskurs der zwanziger Jahre“, in: Hans Manfred Bock: Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 301-319; Guido Müller: „Pierre Viénot et le Bureau berlinois du Comité d’Etudes franco-allemand“, in: Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Paris 2004, p. 51-67; Gilbert Krebs: „Le thème de la jeunesse dans le discours français sur l’Allemagne“, in: Hans Manfred Bock, ID. (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques, op.cit., p. 313-332 ; Peter Hölzle: „Brückenbauer über den Rhein. Pierre Viénot und Pierre Bertaux“, in: Frankreich-Jahrbuch 2002, Opladen 2003, p. 231-242; Hans Manfred Bock: „Der Weg Pierre Viénots von Lyautey zu de Gaulle. Biographische Stationen eines nonkonformistischen Intellektuellen und Deutschlandkenners“, in: ID.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 249-283; Guido Müller: „Pierre Viénot. Schöfper des Deutsch-Französischen Studienkomitees (1926-1938) und Europäer der ersten Nachkriegszeit“, in: Journal of European Integration History, 1998, Heft 1, p. 5-26; Gaby Sonnabend: „‚Les sentiments par lesquels je me sens si fortement uni à vous’. Zum Verhältnis zwischen Pierre Viénot und André Gide“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 2001, Nr. 101/ 102, p. 133-143; Hans Manfred Bock: „Der Blick des teilnehmenden Beobachters. Zur Entstehung von Pierre Viénots Buch ‚Ungewisses Deutschland’ in der Weimarer Republik und dessen Stellung in der französischen Deutschland-Essayistik des 20. Jahrhunderts“, in: ID. (ed.): Pierre Viénot. Ungewisses Deutschland, op.cit., p. 9-77; ID.: „Der Autor Pierre Viénot“, in: ibid., p. 253-264; ID.: „La postérité européenne de Jacques Rivière. Les débats sur le rapprochement franco-allemand et l’entente européenne dans les milieux proches de la Nouvelle Revue Française durant l’entre-deux-guerres“, in: Bulletin des Amis de Jacques Rivière et d’Alain Fournier, 1998, Nr. 87/ 88, p. 97-111; ID.: „Der Weg Pierre Viénots von Lyautey zu de Gaulle. Biographische Stationen eines nonkonformistischen Intellektuellen“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1997, Heft 1, p. 105- 145 ; ID.: „Pierre Viénot, der Deutschlandkenner im Freundeskreis von André Gide“, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (ed.): André Gide und Deutschland, op.cit., p. 194-207, ID.: „Pierre Viénot, un médiateur entre la France et l’Allemagne dans le cercle d’amis d’André Gide“, in: Bulletin des Amis d’André Gide, 1997, Nr. 114/ 115, p. 247-267; Gérard Guiliano: „Pierre Viénot. Homme de pensée et d’action, homme de gauche“, in: L’Ardennais. Revue d’histoire et de géographie locales, 1994, Heft 2, p. 2-18; Hans Manfred Bock: „‚Connaître l’Allemagne et la reconnaître’. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot zwischen 1922 und 1932“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1998, Nr. 66, p. 27-48; Christoph Dröge: „Pierre Viénots ‚deutsche Ungewissheiten’. Aktuelle Lektüre eines Buches, das Geschichte wurde“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 1990, p. 40-46. Wieder zugänglich gemachte, bzw. erstmals veröffentlichte Einzeltexte von Viénot finden sich in Cornel Meder: „Pierre Viénot. Lettres à la belle-mère“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1998, Heft 1, p. 75-104. Ein dringendes Desiderat ist die Veröffentlichung der Briefe Pierre Viénots an Marschall Lyautey, die eingehend nicht nur seinen Werdegang, sondern die Entstehung und Entwicklung des Mayrisch- Komitees darstellen; sie sind ein einzigartiges Dokument der französisch-deutschen Beziehungsgeschichte. <?page no="327"?> 327 ristisch Mitglied der Mayrisch-Familie, nachdem er seit 1923 die Bekanntschaft von Aline Mayrisch in Pontigny gemacht hatte und im Laufe der Jahre regelrecht in den Colpacher Kreis hineingewachsen war. Er kam im Sommer 1923 zu den europäischen Intellektuellentreffen nach Pontigny, nachdem er rund zwei Jahre im Zivilkabinett des französischen Generalresidenten in Marokko, Hubert Lyautey, verbracht hatte. Kriegsfreiwilliger, schwer Kriegsverletzter und Jura-Absolvent in Paris, war er gegen Ende seines Marokko-Aufenthaltes von seinem Mentor (und späteren väterlichen Freund) Lyautey für die Teilnahme an einer der Pontigny-Dekaden empfohlen worden. Lyautey war Gründungsmitglied der von dem Philosophen Paul Desjardins ins Leben gerufenen „Union pour la vérité“ gewesen, die gemeinsam mit dem NRF-Kreis seit den Vorkriegsjahren die Sommertreffen in Pontigny ausrichtete, und folglich mit deren spiritus rector bestens bekannt. 46 Er trug sich bis Mitte der zwanziger Jahre mit dem Gedanken, die diplomatische Karriere einzuschlagen, musste jedoch darauf verzichten, da einige Jahre lang die „concours“ für die Aufnahme in den diplomatischen Dienst ausgesetzt wurden. Viénot hatte im August 1924 erstmals an einer Dekade teilgenommen und dort u.a. Aline Mayrisch kennengelernt. Seine erste Reaktion war enthusiastisch: „Je suis entièrement pris par la joie de vivre dans ce milieu si merveilleusement intelligent et si vivant en même temps, si peu ‚pales intellectuels’ dans l’ensemble.“ 47 Bereits im September 1924 folgte er der Einladung nach Colpach, die ihm Aline Mayrisch in Pontigny ausgesprochen hatte, und er lernte dort den „patron“ Emile Mayrisch und die Mayrisch-Tochter Andrée kennen. Ende Februar bis Ende Oktober 1923 lebte Viénot in Bonn, um dort seine Deutschkenntnisse im Blick auf seine diplomatische Wunschkarriere zu verbessern. Hier entdeckte er (im Krisenjahr der Ruhrbesetzung) nicht nur seine Lebensaufgabe der Vermittlung zwischen Frankreich und Deutschland, sondern auch den damals in Bonn lehrenden Romanistikprofessor Ernst Robert Curtius, der seinerseits seit einem Jahr mit dem Pontigny- und dem Colpach-Kreis in Verbindung stand. Derselbe Curtius lud ihn im Winter 1924 an seinen neuen Universitätsort Heidelberg ein und vermittelte ihm eine Reihe von Bekanntschaften, die wiederum zu lebenslangen Freundschaften wurden. 1925 war Viénot bereits so weit in die Öffentlich- 46 Zu den Querverbindungen zwischen Colpach und Pontigny und den Beziehungen zwischen Paul Desjardins zu Hubert Lyautey cf. François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ Main 2003, p. 22sq, 196sq, 202sq; cf. auch Hans Manfred Bock: „Europa als republikanisches Projekt. Die ‚libres entretiens’ in der rue Visconti/ Paris und die ‚Décades’ von Pontigny als Orte französisch-deutscher Begegnung“, in diesem Buch; zu den Anfängen von Pontigny cf. jetzt auch François Chaubet: „Aux sources des décades de Pontigny“, in: SIECLE. Colloque de Cerisy, op.cit., p. 55-67; zu der Spätphase cf. Nicole Racine: „Anne Heurgon - Desjardins und die Dekaden von Pontigny“, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005, p. 295-313. 47 Unveröffentlicher Brief (undatiert) an die Mutter, Archiv Rémi Viénot. <?page no="328"?> 328 keitskanäle in Deutschland eingeführt, dass er im Juni (vermutlich mit Hilfe des Redakteurs Richard Kuenzer) einen programmatischen Text zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen in der Zentrums- Zeitung „Germania“ lancieren konnte. 48 Dort forderte er die Gründung eines „in Frankreich wie in Deutschland tätigen Organismus durch private deutsch-französische Initiative“, der von Personen geleitet werden sollte, die „irgendwie die geistige, sentimentale und sittliche Sprache beider Nationen zu sprechen“ wüssten. 49 Emile Mayrisch, dessen Wertschätzung Viénot längst gewonnen hatte, überantwortete dem jungen Franzosen nicht allein vorübergehend die Leitung der „Luxemburger Zeitung“, sondern beauftragte ihn auch mit der konkreten Ausarbeitung eines Programms und Organisationsplanes für einen solchen „deutsch-französischen Organismus“. Die Leitung des so zustande kommenden „Comité francoallemand d’information et de documentation“ in Berlin übernahm Pierre Viénot im Oktober 1926. Das Kommunikationsnetz mit den Vertretern von Wirtschaft, Kultur und Politik, das Viénot von diesem Berliner Büro von 1926 bis 1930 aufbaute, ging weit über die begrenzte Zahl von Mitgliedern des Mayrisch-Komites hinaus und war auch nicht identisch mit dem deutschen Freundeskreis von Aline und Andrée Mayrisch, obwohl es schließlich Elemente vom Freundeskreis seiner zukünftigen Ehefrau aufnahm. Viénot hatte qua Auftrag in erster Linie zu tun mit Vertretern der Industrie und Banken sowie den Presserepräsentanten in Deutschland. 50 Aus eigenem intellektuellen Interesse und mit der Hilfe des zehn Jahre jüngeren Pierre Bertaux (der 1927/ 28 als französischer Lektor an der Berliner Universität arbeitete) 51 erweiterte er jedoch diesen engeren Kreis der Adressaten des Mayrisch-Komitees auf die Kulturszene hin. Dabei war ihm hilfreich zum einen der Berliner Salon der Ehefrau des deutschen Sektionsvorsitzenden des Mayrisch-Komitees, Helene von Nostitz-Wallwitz (auch sie eine zwischen Deutschland und Frankreich sozialisierte Kulturrepräsentantin 52 ) und zum anderen der Freundeskreis, der sich um den Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker gebildet hatte und in dem sich 48 Pierre Viénot: „Das wahre deutsch-französische Problem“, in: Germania vom 1.8.1925. 49 Ibid. 50 Cf. dazu die Darstellung im folgenden Abschnitt dieser Studie. 51 Cf. dazu dessen Briefe an seine Eltern in Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin, op.cit. Zum Berlin-Aufenthalt des jungen Bertaux cf. jetzt auch Hans Manfred Bock: „Die ‚wilden Jahre’ von Berlin (1927-1933). Pierre Bertaux’ deutsche Freunde und Erfahrungen“, in: ID.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, op.cit., p. 333-361. Zum kulturellen Umfeld, in dem Viénot und seine spätere Ehefrau Andrée Mayrisch in Berlin tätig waren cf. auch die Beiträge in Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Paris 2004; Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005. 52 Cf. dazu Oswald von Nostitz: Muse und Weltkind. Das Leben meiner Mutter Helene von Nostitz, München, Zürich 1991. <?page no="329"?> 329 Jünger Stefan Georges und Anhänger der bündischen Jugendbewegung fanden. 53 Der Briefwechsel zwischen Pierre (und Andrée) Viénot, der die sehr enge Bekanntschaft beider mit Kultusminister Becker belegt, beginnt im Juli 1927 und setzt sich fort bis zum Tode Beckers 1933. 54 Viénot war durch einen exponierten Vertreter der Jugendbewegung, den Alfred- Weber-Mitarbeiter in Heidelberg Arnold Bergsträsser, 55 im Mai 1925 durch einen Brief bei Kultusminister Becker eingeführt worden. Bergsträsser, der nach 1945 einer der Gründerväter der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland werden sollte, war mit dem anderen Alfred-Weber- Schüler Max Clauss 56 derjenige, der Viénot am intimsten vertraut machte mit der Denkweise und der Weltsicht der deutschen Jugendbewegung der späten zwanziger Jahre. Sie wurde für Viénot ein Schlüssel für das kollektive Verhalten der Deutschen in der späten Weimarer Republik. Bergsträsser und Clauss, die Viénot im Februar 1925 in Colpach der Dame des Hauses vorstellte, 57 waren auch dessen Verbindungselemente zum „Europäischen Kulturbund“ des Prinzen Rohan. 58 Diese 1924 von Anton Prinz Rohan ins Leben gerufene Europa-Organisation wies jungkonservative Züge auf und stand der Konservativen Revolution nahe. Viénot stand in Kontakt mit dieser transnationalen Bewegung, nahm aber eindeutig eine Beobachterrolle und nicht - wie seine Heidelberger Freunde Bergsträsser 53 Als Fallstudie dazu cf. Hans Manfred Bock: „Europa als konkrete Utopie. Europapolitische Motive in den Intellektuellen-Diskursen der Locarno-Ära“, in: Frank Baasner, Michael Klett (ed.): Europa. Die Zukunft einer Idee. Festschrift Robert Picht zum 70. Geburtstag, Darmstadt 2007, p. 53-79 (dort werden analysiert Thomas Mann, Ernst Robert Curtius, Arnold Bergsträsser und Werner Picht). 54 Wird zur Veröffentlichung vorbereitet für Galerie. Revue culturelle et pédagogique vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes. 55 Cf. dazu auch Horst Schmitt: „Ein ‚typischer Heidelberger im Guten wie im Gefährlichen’. Arnold Bergsträsser und die Ruperto Carola 1923-1936“, in: Reinhard Blomert u.a. (ed.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften, op.cit., p. 167-196; ID.: „Existentielle Wissenschaft und Synopse. Zum Wissenschafts- und Methodenbegriff des ‚jungen’ Arnold Bergsträsser (1923-1936)“, in: Politische Vierteljahresschrift, 1989, p. 466- 481; Reinhart Meyer-Kalkus: „Die akademischen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich in der Zwischenkriegszeit“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1992, Nr. 68, p. 71-93 (dort zentral zu Arnold Bergsträsser). 56 Cf. Guido Müller: „Der Publizist Max Clauss. Die Heidelberger Sozialwissenschaften und der Europäische Kulturbund (1924/ 25-1933)“, in: Reinhard Blomert (ed.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften, op.cit., p. 369-409; ID.: „‚Mitarbeiter in der Kulisse...’. Der Publizist Max Clauss in den deutsch-französischen Beziehungen von der Weimarer Republik zum ‚neuen Europa’ (1924-1943)“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1997, Nr. 86/ 87, p. 20-48. 57 Er führte Arnold Bergsträsser und Max Clauss im Februar 1925 bei Madame Mayrisch in Colpach ein und sie kommentierte: „Viénot m’a présenté deux jeunes Allemands très intéressants, l’un ultra-sympathique“. Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Correspondance Aline Mayrisch-Jean Schlumberger, op.cit., p. 80. 58 Dazu jetzt umfassend Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, op.cit., p. 309-436. <?page no="330"?> 330 und Clauss - eine aktiv gestaltende Rolle ein. Rohan war in den frühen zwanziger Jahren nachweislich in Colpach; das Mayrisch-Komitee zog es aber dann ab 1926 vor, sich nicht mit dem Kulturbund und seiner prestigereichen Zeitschrift „Europäische Revue“ zu assoziieren. 59 Rohan schloss sich nach 1933 der nationalsozialistischen Bewegung an. Vergleicht man nun die moralischen Antriebe und intellektuellen Interessen, also das Bildungsstreben, der drei Mayrisch-Familienmitglieder, so fällt sofort auf, dass in ihren Deutschland-Beziehungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede obwalteten. Gemeinsam war ihnen allen die Hoffnung auf Friedenssicherung durch die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen und ihre Absicht, im Maße des ihnen Möglichen gesellschaftliche Brücken und Stege zwischen beiden Nationen zu bauen. Die unterschiedlichen Akzentuierungen in ihren Mittleraktivitäten zwischen Deutschland und Frankreich und in ihren längerfristigen Deutschland-Verbindungen sind aber ebenso deutlich: Andrée Viénot wählte sich ihre deutschen Bekannten und Freunde nach Maßgabe ihrer reformsozialistischen und reformpädagogischen Interessen. In ihrem Deutschland-Bezug standen die sozialpolitischen Motive im Vordergrund. Pierre Viénot war hinsichtlich der innen- und sozialpolitischen Fragen lange Zeit unentschieden und bezeichnete sich in dieser Hinsicht als „ni droite-ni gauche“. 60 In seinem Deutschland-Bezug stand das friedenspolitische Motiv weit im Vordergrund und determinierte seinen Plan für das Mayrisch-Komitee. Zu den Fragen der Sozialpolitik fand er dann erst während seiner Berliner Jahre unter dem theoretischen Einfluss von Hendrik de Man (der 1928 in Pontigny einen starken Eindruck hinterließ) und unter dem persönlichen Eindruck seiner Frau Andrée Mayrisch einen engeren Zugang. Im Vergleich der beiden jüngeren Mayrisch-Familienmitglieder mit Aline Mayrisch beruht der Unterschied der Deutschland-Bezüge und -Interessen vor allem auf der Erfahrung des ersten Weltkriegs. Zum intellektuellen Profil der „Generation der Krise“, der Pierre Viénot und Andrée Mayrisch zuzurechnen sind, 61 gehört es, der Generation der Eltern die Schuld am Kriegsausbruch anzulasten und in der Abgrenzung zu ihnen neue Wege der Innen- und Außenpolitik zu gehen. Vor diesem Hintergrund der generationellen Prägung sind Viénots friedenspolitisches und Andrée Mayrischs sozialpolitisches Engagement zu erklären. Die auf Deutschland bezogenen Motive 59 Cf. dazu Ina Ulrike Paul: „Konservative Milieus und die Europäische Revue (1925- 1944)“, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner (ed.): Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne. Sa presse et ses réseaux (1890-1960), Bern 2003, p. 509-555; Hans Manfred Bock: „‚Das junge Europa’, das ‚Andere Europa’ und das ‚Europa der weißen Rasse’. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1944“, in: Michel Grunewald, ID. (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939), Bern 1999, p. 311-351. 60 Cf. dazu meine Studie: „Connaître l’Allemagne et la reconnaître.“ Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot, loc.cit. 61 Zum Begriff cf. Michel Winock: „Les générations intellectuelles“, in: Vingtième siècle, 1989, p. 17-38. <?page no="331"?> 331 und Interessen von Aline Mayrisch waren hingegen noch wesentlich Bestandteil der ästhetischen Opposition der Vorkriegszeit, die in literatur- und kunstkritischen Arbeiten ihren Ausdruck fand und von der es auch Verbindungen gibt zur mystisch-religiösen Sinnsuche der späteren Aline Mayrisch. Das Handeln aller drei Colpacher Protagonisten des kulturellen und gesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland, Frankreich und Luxemburg hatte eine grundlegende gemeinsame Voraus-setzung: Die ökonomische Machtstellung und das Vermögen des „patron“ Emile Mayrisch, dessen wirtschaftliche Erfolge sowohl den Erwerb des Colpacher Anwesens ermöglichten als auch die Verfügbarkeit des erforderlichen Kapitals für die grenzüberschreitenden Transaktionen der Mayrisch-Familie sicherstellten. 3. Konstitutives Motiv: Erwerbsstreben Die Originalität des Phänomens Colpach in der Zwischenkriegszeit liegt gerade darin, dass in ihm das kulturelle, das wirtschaftliche und das soziale Handeln sich wechselseitig bedingten. In den Wirtschaftsbeziehungen wurde nicht allein der Grund gelegt für das kulturelle Wirken der Aline Mayrisch und des Ehepaares Viénot-Mayrisch, sondern das Familienoberhaupt Emile Mayrisch war allen Anzeichen nach überzeugt (oder ließ sich überzeugen von den Intellektuellen in der Familie) von der Zweckdienlichkeit der kulturellen Interaktion in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen. Insofern waren die Aktivitäten des Colpacher Kreises nicht allein Grenzgänge zwischen den Nationen, sondern auch Grenzüberschreitungen zwischen den Feldern der Industrie-, Kultur- und Sozialpolitik. Die methodisch reflektierte und quellengestützte Erforschung des konstitutiven Kerns des Colpacher Kreises, also des wirtschaftlichen Gewinn-strebens des „patron“ Emile Mayrisch, hat lange auf sich warten lassen - und steht wohl auch in vielen Hinsichten immer noch am Anfang. 62 Insbesondere dann, wenn man die Erschließung dieses Aspekts des Colpacher Kreises nicht nur von der Seite der internationalen Machtkämpfe in der Stahl- und Eisenindustrie her in den Blick nimmt, sondern auch als Aufgabe der Unternehmensgeschichte, der Technikgeschichte, der Kartellgeschichte, der Unternehmerbiographie und der Sozialgeschichte auffasst. 63 Wahrscheinlich würden dergleichen Studien auch konkretere 62 Den Grund für weitere Forschungen anhand der ARBED-Archive hat gelegt Charles Barthel: Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux, 1918-1929, Luxembourg 2006. 63 Barthel favorisiert die industriepolitische Perspektive, indem er das Eigengewicht der Unternehmer und Experten der Stahlindustrie im Verhältnis zur politischen Entscheidungsebene hervorhebt. Er misst den industriellen Entscheidungsträgern große Bedeutung zu und reichert seine Arbeit mit entsprechend umfangreichen biographi- <?page no="332"?> 332 Informationen zu den Vermögensverhältnissen der Mayrisch-Familie zu Tage fördern, die bisher so gut wie unbekannt sind. Dass sie nicht unbeträchtlich waren, kann aus der wirtschaftlichen Erfolgsbiographie von Emile Mayrisch abgeleitet werden, der allerdings noch nicht seinen neueren Biographen gefunden hat. 64 Emile Mayrisch (1862-1928) war Spross einer luxemburgischen Familie, in der der Vater Arzt und die Mutter Angehörige einer schwerindustriellen liberalen Unternehmerfamilie war. Er besuchte die Schule in Luxemburg und Belgien und schrieb sich 1881 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Skizzen derselben an, ohne zu einer prosopographischen Sicht ihres Wirkens weiterzuschreiten. Zur Unternehmensgeschichte der ARBED, die 2001 ihre fast hundertjährige Geschichte durch die Fusion mit Aceralia und Usinor zur Acelor beendete, cf. Gilbert Trausch: L’Arbed dans la société luxembourgeoise, Luxembourg 2000, und Felix Chomé: L’ARBED. Un demi-siècle d’histoire industrielle (1911-1964), Luxembourg 1972; beide Studien wurden von der ARBED selbst herausgegeben. 64 Man muss hinter die Zeitgrenze, die für den vorliegenden Bericht gesetzt wurde, zurückgehen, um erste biographische Versuche zu finden, die nicht rein kommemorativen Charakter haben. Cf. z.B. Henri Rieben (ed.): Emile Mayrisch, précurseur de la construction de l’Europe, Lausanne 1967, und: Jacques de Launay: Emile Mayrisch et la politique du patronat européen 1926-1933, o.O. (Bruxelles) 1965. Zu Einzelaspekten seines Wirkens liegen folgende Aufsätze vor Tony Bourg: „Le jeune Emile Mayrisch“, in: Jean-Claude Frisch, Cornel Meder, Jean-Claude Muller, Frank Wilhelm (ed.): Tony Bourg. Recherches et Conférences littéraires. Recueil de textes, Luxembourg 1994, p. 530- 540; Guido Müller: „France and Germany after the Great War. Business Men, Intellectuals and Artists in Non-Governmental European Networks“, in: Jessica Gienow- Hecht, Frank Schumacher (ed.): Culture and International Relations, New York 2003, p. 95-144; Jeannine Wurth-Rentier: „A Colpach, un couple de Luxembourgeois prestigieux: Emile Mayrisch et Aline Mayrisch“, in: Innovation-intégration. Mélanges pour Pierre Werner, Luxembourg 1993, p. 546-558 ; Guido Müller: „Der luxemburgische Stahlkonzern ARBED nach dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der deutschfranzösischen Beziehungen durch Wirtschaftsverflechtungen“, in: Revue d’Allemagne, 1993, Heft 4, p. 535-544; ID.: „Emile Mayrisch und westdeutsche Industrielle in der europäischen Wirtschaftsverständigung nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1992, Heft 4, p. 560-585; Gilbert Trausch: „Emile Mayrisch et Jean Monnet ou les leçons d’une comparaison“, in: ID.: Du particularisme à la nation. Essais d’histoire du Luxembourg de la fin de l’Ancien Régime à la Seconde Guerre Mondiale, Luxembourg 1989, p. 429-436; Jacques Bariéty: „Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum ‚Schwerindustriellen Projekt’ des Versailler Vertrages“, in: Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod (ed.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, p. 552-568; Jacques Bariéty: „Le rôle d’Emile Mayrisch entre les sidérurgies allemande et française après la première guerre mondiale“, in: Relations internationales, 1974, p. 123-134, Jacques Bariéty: „Le sidérurgiste luxembourgeois Emile Mayrisch, promoteur de l’Entente Internationale de l’Acier après la première guerre mondiale“, in: Raymond Poidevin, Gilbert Trausch (ed.): Les relations francoluxembourgeoises de Louis XIV à Robert Schumann, Metz 1978, p. 245-257; Jacques Maas: „Emile Mayrisch und das Deutschland-Bild der ‚Neuen Zeit’ (1911-1914)“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1992, Heft 4, p. 533-544; Jacques Maas: „Die Neue Zeit (1911-1914). Journal de combat d’Emile Mayrisch et des libéraux radicaux“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1987, Heft 3, p. 331-350 und 1991, Heft 2, p. 251-286. <?page no="333"?> 333 schen Hochschule in Aachen als Student der Hüttenwirtschaft ein. Nach Abschluss dieses Studiums ohne Diplomexamen trat er 1885 in das eisenindustrielle Unternehmen der Familie Metz in Düdelingen ein, aus der seine Mutter stammte und in dem er 1897 mit 35 Jahren technischer Direktor wurde. 1894 hatte er Aline de Saint-Hubert geheiratet, die ihrerseits die Tochter eines Holzindustriellen aus Luxemburg und einer Mutter aus den belgischen Ardennen war. Emile Mayrisch erwies sich als technologisch und sozialpolitisch innovationsfreudiger und kaufmännisch begabter Manager, der im Rahmen des deutschen Zollvereins, zu dem Luxemburg sei 1842 gehörte, eine enge Verbindung zur deutschen Stahlindustrie und deren organisierter Repräsentanz (Stahlwerkverein) herstellte. Er führte 1911 die Fusion von drei eisenerzverarbeitenden Unternehmen in Luxemburg herbei, die fortan unter dem Namen ARBED die Geschicke des Landes maßgeblich beeinflusste. Im Ersten Weltkrieg entsprechend der Landespolitik neutral, setzte Mayrisch seine Beziehungen zur politischen Administration in Deutschland und auch in gedrosseltem Umfang die rüstungsrelevanten Lieferungen der ARBED fort, unterhielt aber auch Kontakte zur französischen Politik. Nach Aufkündigung der Zollvereins-Zugehörigkeit Luxemburgs intensivierte Mayrisch, der 1920 Präsident des Generalsekretariats der ARBED wurde, die industrie- und unternehmenspolitischen Beziehungen zu Frankreich, indem er u.a. mit dem französischen Stahlkonzern Schneider-Creusot die Einheiten der „Terres rouges“ gründete. Fortan in die harten Auseinandersetzungen zwischen der französischen, belgischen und deutschen Stahlindustrie involviert, gelang es Mayrisch, sowohl die Gewinnraten der ARBED zu steigern, 65 als auch ab 1925 eine führende Rolle in der Neustrukturierung der westeuropäischen Stahlindustrie zu erlangen. 66 Einen Höhepunkt seiner Karriere, der nicht zuletzt durch die ungelösten Konflikte zwischen französischen, belgischen und deutschen Industrievertretern ermöglicht worden war, stellte seine Wahl zum Vorsitzenden der „Internationalen Rohlstahlgemeinschaft“ dar, die im September 1926 in Luxemburg gegründet wurde. Vor seinem tödlichen Autounfall im März 1928 hatte Mayrisch angekündigt, sich künftig überwiegend der internationalen Arbeit zu widmen, die im Zusammenhang stand mit der Internationalen Rohstahlgemeinschaft und dem Deutsch- Französischen Studienkomitee, das seinen Namen trug („Mayrisch Komitee“). Dies sind die objektiven Eckdaten der Biographie einer überlebensgroßen Unternehmerpersönlichkeit, die schon bei ihren Zeitgenossen zum Mythos aufwuchs und als „patron des patrons“ in Luxemburg angesehen wurde. 67 Aus der Sicht der Genese, des Zusammenhalts und der Wirkung des Colpacher Kreises, die Gegenstand der vorliegenden Beobachtungen sind, 65 Cf. die tabellarische Übersicht in Charles Barthel, op.cit., p. 31. 66 Cf. ibid., p. 454sq. 67 Cf. z.B. Jean Schlumberger: Emile Mayrisch, o.O. (Liège) 1929. <?page no="334"?> 334 steht trotz der schätzenswerten Ergebnisse der neueren Forschung eigentlich nur fest, dass ohne das finanzielle und das soziale Kapital des Unternehmers Mayrisch das Phänomen Colpach niemals hätte entstehen können. Eine Reihe von Fragen, die sich auf den Colpacher Kreis beziehen, können insbesondere aufgrund der wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Studien von Charles Barthel und Guido Müller 68 genauer gefasst bzw. teilweise beantwortet werden. Davon sollen hier einige erörtert werden, und zwar die Frage nach den maßgeblichen Antrieben im öffentlichen Wirken des „patron“ Mayrisch, die Frage nach der Kompatibilität des öffentlichen Wirkens von Emile und Aline Mayrisch, die Frage nach dem Verhältnis des industrie- und unternehmenspolitischen Handelns Mayrischs zu den zeitgenössischen organisierten Europabewegungen und schließlich die Frage der funktionalen Beziehungen zwischen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft und dem Deutsch-Französischen Studien-komitee. Die kardinale Schwierigkeit bei der Erhellung der Frage nach den wichtigsten politischen Antrieben in der Wirtschaftskarriere Emile Mayrischs besteht darin, dass so gut wie keine für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstücke von ihm überliefert sind (von wenigen Stellungnahmen zu Fragen der Wirtschaftspolitik abgesehen 69 ). Die Informationen über seine Persönlichkeitsattribute und Handlungsmotive sind also fast ausschließlich nur über Auskünfte seiner Zeitgenossen und die Geschäftskorrespondenz der Unternehmensarchive beizubringen. Sein intellektuelles Profil bildet sich eher in Taten als in Schriften ab. Wenn sein ökonomischer Machtwille und Erwerbstrieb angesichts seiner Wirtschaftskarriere keines weiteren Belegs bedarf, so ist sein politischer Gestaltungswille weit weniger offensichtlich und in der Literatur über Mayrisch auch entsprechend seltener zur Sprache gebracht worden. So erscheint der Gründer der ARBED noch in der monumentalen Studie von Charles Barthel (sicherlich auch bedingt durch den wirtschaftspolitischen Fokus seiner Monographie) zuvörderst als nüchtern kalkulierender und taktierender Wirtschaftsmagnat ohne erkennbaren Bezug zu politischen Ordnungsvorstellungen. Wenngleich in der Tat die (partei-)politische Tätigkeit im öffentlichen Wirken Mayrischs von untergeordneter Bedeutung blieb, so war sie doch ein nachweisbarer Faktor, der auch in seine wirtschafts- und sozialpolitischen Stellungnahmen und Verhaltensdispositionen Eingang fand. Das ist bislang am eingehendsten dargestellt worden an seinem pressepolitischen Engagement. Im Jahr der ARBED-Gründung 1911 wurde unter massiver Beteiligung des Vorstandes des Konzerns das linksliberale Wochenblatt „Die Neue Zeit / Les temps nouveaux“ lanciert, in dessen redak- 68 Cf. dazu Charles Barthel: Bras de fer, op.cit. (Anm. 62) und Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op.cit. (Anm. 4). 69 Z.B. Emile Mayrisch: „Das System der internationalen Wirtschaftsverständigung“, in: Europäische Revue, 1928, p. 826sq; ID.: „Les ententes économiques internationales et la paix“, in: Europe Nouvelle, 24.12.1927, und ID.: „Une opinion luxembourgeoise sur un projet d’‚union douanière européenne’“, in: Europe Nouvelle 24.4.1926. <?page no="335"?> 335 tioneller Equipe viele luxemburgische Professoren und Lehrer mitwirkten, die an deutschen Universitäten studiert hatten, und das seinen Leserkreis im Bildungsbürgertum des Landes fand. 70 Mayrisch übernahm die Rolle des Präsidenten des Verwaltungsrats des Presseunternehmens und einer seiner engsten Mitarbeiter in der ARBED, Aloyse Meyer, wirkte dort als Kassenwart. Das Blatt vertrat die politischen Zielvorstellungen des Linksblocks, der mit Zutun Mayrischs als Kartell von Liberalen und Sozialdemokraten zustande gekommen war und der sei 1908 die Mehrheit in der luxemburgischen Kammer hatte. Dessen Grundsätze charakterisierten die redaktionspolitische Linie der „Neuen Zeit“: „Vorrangige Ziele dieses Linksblocks waren der Ausbau der sozialen Gesetzgebung, Schulreformen und die Einführung des allgemeinen Stimmrechts“ sowie die weitestgehende Laizisierung des öffentlichen Lebens; die ‚Neue Zeit’ kann demnach am treffendsten als linksliberales, antiklerikales Presseorgan bezeichnet werden.“ 71 Die Zeitschrift, die mit erheblichen Subsidien der ARBED mehr schlecht als recht zu existieren vermochte, wurde eingestellt unter dem deutschen Besatzungsregime ab 1914. Nach Klärung der innenpolitischen Lage in Luxemburg ab 1918/ 1919 knüpfte der Chef der ARBED 1922 an diese pressepolitischen Versuche der Vorkriegszeit an, indem er 1922 das bislang nicht eben florierende Periodikum „Luxemburger Zeitung“ aufkaufte. 72 Das Blatt stellte er im Vergleich zur „Neuen Zeit“ stärker in den Dienst außenpolitischer Ziele. Es sollte der deutsch-französischen Verständigung und der europäischen Bewusstseinsbildung dienen, blieb aber angesichts der Zeitumstände (Ruhrbesetzung 1923) und der verlegerischen Unzulänglichkeiten weit hinter diesem Ziel zurück. Aline Mayrisch schrieb im Oktober 1923 an einen der prominentesten Mitarbeiter des Blattes, den NRF-Herausgeber und Gide-Freund Jacques Rivière: „Vous êtes le plus noble fleuron de cette Zeitung qui ne mérite pas que des gens comme vous ou Curtius y écrivent, tant elle reste médiocre d’ensemble. Le patron est trop débordé et refuse de la reformer maintenant. Il pourrait en faire un organe européen de premier ordre. Mais il faudrait un autre personnel.“ 73 70 Cf. dazu Jacques Maas: Die Neue Zeit (1911-1914). Journal de combat d’Emile Mayrisch et des libéraux radicaux, op.cit. (Anm. 63). 71 Jacques Maas: „Emile Mayrisch und das Deutschlandbild“, op.cit., p. 535. 72 Zu den Generalia der Geschichte des Blattes cf. die Angaben in der Einleitung des Herausgebers in Roman Kirt (ed.): Ernst Robert Curtius. Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der „Luxemburger Zeitung“ (1922-1925), Bonn 1998, p. 5-18. Andere Textsammlungen der wichtigsten Autoren des Blattes in den zwanziger Jahren liegen vor als Neuveröffentlichung: Cornel Meder (ed.): Pierre Viénot: Articles dans la Luxemburger Zeitung 1925, Luxembourg 1997 und (zusammen mit anderen Aufsätzen) in: Yves Rey-Herme (ed.): Jacques Rivière. Une conscience européenne, Paris 1992; cf. dazu auch Lionel Richard: „Les éditoriaux de Rivière dans la Luxemburger Zeitung“, in: Jacques Rivière l’Européen, op.cit., p. 83-96; cf. auch Anne-Marie Saint-Gille: „Und ich hatte dort meine Narrenfreiheit… Annette Kolbs Beiträge“. (cf. Anm. 37). 73 Pierre Masson, Cornel Meder (ed.): Correspondance Aline Mayrisch - Jacques Rivière 1912-1925, op.cit., p. 137. <?page no="336"?> 336 Das soziokulturelle Umfeld der „Luxemburger Zeitung“ war allem Anschein nach wiederum - wie vor dem Weltkrieg - die „Société luxembourgeoise d’éducation populaire“, von der Aline Mayrisch sagte, sie umfasse „presque tout ce que notre petit monde compte d’intellectuels à idées un peu avancées, maîtres d’école, professeurs, jeunes avocats, étudiants“. 74 Der Anwerbung von bekannten Autoren wie Jacques Rivière, Ernst Robert Curtius, Annette Kolb und der belgischen Hellenistin Marie Delcourt 75 lag seitens des Ehepaares Mayrisch offenbar die Überzeugung zugrunde, dass diese Intellektuellen eine maßgebliche Rolle für die nationalen und internationalen Verhaltensdispositionen und Entscheidungs-optionen ihrer Länder zu spielen vermochten. 76 In der Korrespondenz Rivière-Mayrisch wird in den zahlreichen Rückfragen des französischen Schriftstellers an Emile Mayrisch (die über dessen Ehefrau transportiert wurden), ob er mit seinen tagespolitischen Stellungnahmen dessen politischem Gestaltungswillen gerecht werde, deutlich, dass diese Zusammen-arbeit ein durchaus prekärer Balanceakt war. Allerdings gab es nur einen Fall, in dem der „patron“ Mayrisch einen Artikel Rivières nicht drucken ließ. 77 Ob die Beiträge Ernst Robert Curtius’ zur Luxemburger Zeitung immer auf der Höhe seiner „kosmopolitischen“ Europakonzeption standen, kann durchaus in Zweifel gezogen werden. 78 Obwohl also die Zeitung die von den Mayrischs in sie gesetzten Hoffnungen auf ihre verständigungspolitische Funktion zwischen Deutschland und Frankreich sowie auf ihren Beitrag zur europäischen Bewusstseinsbildung nicht zu verwirklichen vermochte, bildete sie für den Colpacher Kreis eines der wenigen internen Stabilisierungselemente für den dort gepflegten Eliten-Dialog. Nach dem Tode Mayrischs 1928 scheint auch diese interne Funktion geschwunden zu sein. Die pressepolitischen Experimente Mayrischs in der Vor- und Zwischenkriegszeit geben 74 Ibid., p. 146. 75 Cf. dazu Rosemarie Kieffer: „Marie Delcourt et la Luxemburger Zeitung“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1989, Heft 3, p. 433-437. Cf. auch zur Mitarbeit des Ehemanns von Marie Delcourt an der Zeitschrift Catherine Gravet: „La collaboration d’Alexis Curvers aux journaux et revues. La ‚Luxemburger Zeitung’ (1922-1940) “, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2004, Heft 3, p. 411-443. 76 Cf. dazu die Bemerkung von Aline Mayrisch: „En Allemagne, voyez-vous, le terrible c’est que les éléments qui sont le porte-voix d’une nation, c’est-à-dire les intellectuels, sont exaltés par la faim et les privations. Les industriels, gavés et riches, ont tous les moyens matériels en mains pour les pousser là où ils veulent qu’ils aillent...“. Pierre Masson, Cornel Meder (ed.): Correspondance 1912-1925, op.cit., p. 116. 77 Cf. ibid., p. 139. 78 Cf. dazu Hugo Dyserinck: „E.R. Curtius’ Artikel in der ‚Luxemburger Zeitung’ (1922- 1925) aus der Sicht der komparatistischen Imagologie“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 1993, Heft 1, p. 79-88. Eine eingehende Analyse dieser Aufsätze Curtius’ in der Luxemburger Zeitung findet sich in der Dissertation von Stefanie Müller, op.cit. (Anm. 25), p. 129sq; die Autorin interpretiert dort kritisch die 19 Aufsätze Curtius’ in dem luxemburgischen Blatt, indem sie diese in den Zusammenhang seiner geistigen Sozialisation und der 154 Zeitschriftenbeiträge stellt, die Curtius zwischen 1918 und 1932 insgesamt veröffentlicht hat. <?page no="337"?> 337 zwar nur indirekt Auskunft über seinen linksliberalen politischen Referenzhorizont, belegen jedoch sein prinzipielles Interesse an der kultur- und gesellschaftspolitischen Handlungsebene, welche die bevorzugte Domäne seiner Frau und des Paares Viénot-Mayrisch war. Das viel zitierte Treffen zwischen Walther Rathenau und André Gide, das Mayrisch im September 1920 in Colpach herbeiführte, stand nicht zuletzt im Zeichen der Ermöglichung eines Gesprächs zwischen Repräsentanten der Wirtschaftsrationalität und Vertretern gesell-schaftlicher Sinndeutung, einer Synthese, deren man gerade im Umkreis der NRF Rathenau für fähig hielt. 79 Aline Mayrisch war - anders als André Gide - überzeugt von der Eignung Rathenaus als deutsch-französischer und europäischer Gesprächspartner der Eliten. Sie schrieb an Rivière nach Rathenaus Ermordung: „Nous sommes très émus, Emile et moi, de la mort de cet homme à qui il faut savoir un gré infini d’avoir su conserver autant d’humanité et de noblesse, et d’aristocratisme intellectuel dans le milieu le plus bas et le plus pourri qui soit.“ 80 Sie sah in Rathenau den „artiste, savant, philosophe, en même temps qu’homme d’action“. 81 Sie sah auch, dass Emile Mayrisch einer solchen Synthese wohl zugeneigt war, sie in seiner Persönlichkeit aber nicht verwirklichte. An Jean Schlumberger schrieb sie nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes: „Et le patron n’avait pas achevé sa vie d’action et avait à peine commencé sa vie de réflexion.“ 82 Mayrisch wandte sich in seinen letzten Lebensjahren auch allgemeinen Sinnfragen zu und las u.a. Veröffentlichungen zur Geschichte der Philosophie. Aber durch seine unternehmens- und industriepolitischen Projekte war er ständig auf Reisen und mental absorbiert, sodass die kulturellen Bestrebungen allenfalls neben seinem unternehmerischen Wirtschaftsengagement herliefen. In dem einzigen Brief aus der Rivière- Korrespondenz, den er selbst verfasste, nahm z.Bsp. der intellektuelle Anlass nur ein Viertel des Schreibens ein und die restlichen drei Viertel waren der Qualität seines neuen Autos gewidmet, über die er zuvor mit Rivière gesprochen hatte. 83 Die recht unterschiedlichen Lebenswelten von Emile und Aline Mayrisch koexistierten eher als dass sie sich verschränkten. Sie trafen sich allem Anschein nach in einer beiderseitigen Toleranz und im gemeinsamen sozialen Wirkungsinteresse. Die gesellschaftlichen und ästhetischen Vorbehalte der beiden Mayrisch-Damen im Verhältnis zu den Mitgliedern des Mayrisch-Komitees, das ab 1926 mehrmals in Colpach tagte, ist vielfach belegt. Es waren besonders die deutschen Industrie- und Bankenvertreter, auf die sich ihre kritische Distanz bezog. Andrée Viénot hatte sich in den Briefen an die Eltern aus Berlin schon sarkastisch über ei- 79 Cf. Claude Foucart: „André Gide et le ‚Docteur’ Rathenau“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2004, Heft 3, p. 383-401. 80 Cf. Correspondance 1912-1925, op.cit., p. 100. 81 Cf. Correspondance 1907-1946, op.cit., p. 368. 82 Ibid., p. 194. 83 Correspondance 1912-1925, op.cit., p. 105sq. <?page no="338"?> 338 nen bestimmten Typus der (im dortigen Mayrisch-Komitee tätigen) Elitenvertreter geäußert, den sie und ihre Mutter nicht mochten. Unter dem Eindruck eines Empfangs beim Direktor der Deutschen Bank schrieb sie u.a.: „Enfin, aujourd’hui, lunch chez les von Stauss [...] Il y avait parmi les hôtes un monsieur avec le Eisernes Kreuz I. Kl., un monocle, des Schmisse, et un col montant. [...] Un‚grand avocat’, qui dit, wenn man wie ich einer der bedeutendsten Juristen Deutschlands ist’. On s’est promené dans un yacht sur lequel même les cigarettes portaient le nom du bateau, en facsimilé de l’écriture du propriétaire; le fils aîné est le filleul de Ferdinand de Bulgarie [...].“ 84 Es war der Snobismus dieser Kreise, der das Unbehagen der Luxemburgerinnen hervorrief. Aline Mayrisch formulierte diese Abneigung, die sie schon zu Jahrhundertbeginn gegenüber der Wilhel-minischen Gesellschaft bzw. deren Repräsentanten öffentlich bekundet hatte, in einem Bericht über (das wohl letzte) Treffen des Mayrisch-Komitees in Colpach (Oktober 1932). 85 In ihrer Einschätzung wird auch eine zweite Ebene ihrer reservatio mentalis erkennbar, die neben der Ablehnung des Neureichen- Habitus einiger deutscher Komitee-Mitglieder eine Rolle spielte, nämlich ihre Präferenz für das kontemplative Leben. Sie schrieb an Jean Schlumberger (der selbst Mitglied des Studienkomitees war, aber nicht teilgenommen hatte): „Me voici au lendemain de la fameuse réunion inofficielle. Malgré la déficience des Allemands, lesquels, par la maladresse de Nostitz, se sont trouvés peu nombreux (cinq en tout), les conversations ont été cordiales, franches de part et d’autre; peut-être seront-elles fructueuses. Ce mode-là me paraît bien plus pratique que les grandes sessions, forcément mondaines, de quarante ou de cinquante personnes. On a beaucoup parlé politique générale, russe, américaine, économique. J’y ai enrichi mes notions et embrouillé encore un peu plus mes idées sur ces matières foisonnantes et obscures. Les Viénots étaient là. Colpach a donné son plein. Le sacrifice dans l’action est une autre façon de se détacher de soi ; cela me fait parfois du bien, surtout quand, les lendemains, je puis, dans le grand silence des arbres qui cernent mes fenêtres comme une grande revêtue d’armures d’or et de bronze, retourner à mes mystiques. Je suis de plus en plus captivée par Eckart.“ 86 Zu den Persönlichkeiten in der deutschen Sek- 84 Brief Andrée an Aline Mayrisch vom 10.11.1929, zitiert in Guido Müller: Andrée Mayrisch und Pierre Viénot, op.cit., p. 139. 85 Cf. auch zum Ablauf der Tagung und zur Zusammensetzung der beiden Sektionsvertreter Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op.cit., p. 287sq. Von deutscher Seite waren bei dieser Sitzung in Colpach anwesend: der Vorsitzende der deutschen Sektion, der ehemalige sächsische Gesandte und Staatsminister a.D. Alfred von Nostitz-Wallwitz, der Professor für Internationales Recht in Berlin Victor Bruns, das Vorstandsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Hermann Bücher und Alfred Graf von Oberndorff, vormaliger Diplomat des Deutschen Reichs. Bei der Besprechung ging es u.a. um die Möglichkeit der Erneuerung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft. 86 Pascal Mercier, Cornel Meder (ed.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger, op.cit., p. 304, Brief vom 25.10.1932. <?page no="339"?> 339 tion des Studienkomitees, die in besonderem Maße ihre Kritik hervorriefen, gehörte der deutsche Repräsentant der Vereinigung in Paris, Gustav Krukenberg (1888-1980). 87 Der ehemalige Generalstabsoffizier, Mitarbeiter in der Spitze des Auswärtigen Amtes und Geschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Industrie vertrat in ihren Augen eine verbandspolitische Linie, die der deutsch-französischen Verständigung nicht dienlich war und die nationalistische Züge aufwies. Krukenberg, der also eher das kritikwürdige alte Deutschland repräsentierte, war mehrmals im Rahmen der Studienkomitee-Sitzungen zu Gast in Colpach. Er hatte sich u.a. öffentlich mit Jean Schlumberger angelegt, was die entschiedene Missbilligung der Hausherrin hervorrief. 88 Deren früh schon sich offenbarende Sympathie für ihren späteren Schwiegersohn Viénot beruhte nicht zuletzt darauf, dass dieser die Synthese von vita activa und vita contemplativa herzustellen versprach (in seiner Anfang der dreißiger Jahre begonnenen politischen Karriere), die in ihrer Lebensgemeinschaft mit Emile Mayrisch angelegt, aber nicht wirklich gelungen war. Die Aktivitäten des Colpacher Kreises waren nicht nur mit den internationalen Kommunikationszentren wie den prominenten Décades de Pontigny in Frankreich eng verbunden, an denen Aline Mayrisch seit der Vorkriegszeit teilnahm und zu denen in der Zwischenkriegszeit ihre Tochter Andrée und Pierre Viénot hinzukamen, sondern sie entfalteten sich auch im Zusammenhang mit den frühen organisierten Europa-Bewegungen der mittleren zwanziger Jahre. Es ist nachgewiesen, dass die Protagonisten dieser Europa-Vereinigungen gelegentlich zu Gast waren in Colpach. So insbesondere der Gründer des „Europäischen Kulturbundes“, der österreichische Aristokrat Anton Prinz Rohan (1898-1975) 89 und der Initiator der „Paneuropa-Union“, Richard Coudenhove-Kalergi (1894-1972). Letzterer trug sich am 27.1.1928 mit seiner Frau Ida Roland in das Gästebuch des Colpacher Schlosses ein. Wenn der Colpacher Kreis also ganz offensichtlich in Verbindung stand mit diesen Europa-Bewegungen, so schloss er sich weder als Ganzes noch in Gestalt seiner einzelnen Mitglieder denselben an. Die plakative Vereinnahmung Emile Mayrischs durch Coudenhove-Kalergi, der in seinen Memoiren schreibt, der Luxemburger 87 Zur Vita und zum Vergleich Krukenbergs mit seinem französischen Büro-Kollegen Viénot in Berlin cf. Hans Manfred Bock: „Kulturelle Eliten in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit“, in: Rainer Hudemann, Georges-Henri Soutou (ed.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, München 1994, p. 87sq. 88 Cf. dazu die Briefe in: Correspondance Aline Mayrisch-Jean Schlumberger, op.cit., p. 154- 163. 89 Cf. zur Person Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op.cit., p. 311sq: „Karl Anton Prinz Rohan und die europäische ‚Heimat’ eines österreichischen Aristokraten“. Cf. auch die Ergänzungen in Ina Ulrike Paul, op.cit., und Hans Manfred Bock: „Das ‚Junge Europa’“, op.cit. (Anm. 59). <?page no="340"?> 340 Industrielle sei „Präsident der luxemburgischen Gruppe“ gewesen, 90 ist irreführend. Als kleinster gemeinsamer Nenner für die Distanz, die die Colpacher (namentlich Emile Mayrisch und Pierre Viénot) zu den frühen Europa-Bewegungen hielten, zeichnet sich in der neueren Forschung ab der mit dem wirtschaftspolitischen Erfolgsstreben ursächlich verknüpfte pragmatische Zug ihrer Konzeption der ökonomischen und politischen Kooperation der europäischen Länder. 91 Es gab ideologische und auch persönliche Beziehungen zwischen Aline Mayrisch bzw. Pierre Viénot und Hugo von Hofmannsthal, der zu einem der geistigen Väter der „revolutionär-konservativen“ Bewegung des „Europäischen Kulturbundes“ wurde. 92 Aber der Pragmatiker Mayrisch war der Auffassung (die sich wohl auch auf den informellen Besucherverkehr in seinem Colpacher Hause stützte), dass die von Rohan beabsichtigte Stabilisierung der Kontakte führender Geister in Europa am wenigsten der Organisation bedürfte: „...denn die Intellektuellen von Niveau werden sich auch ohne Organisation verhältnismäßig leicht finden.“ 93 Als andere Ursache für die nur episodische Beziehung Colpachs zum Europäischen Kulturbund (an dessen Jahrestagungen Viénot in der Regel teilnahm) ist die Besorgnis wahrscheinlich, dass die anfangs jungkonservative Zeitschrift der Vereinigung („Europäische Revue“ 94 ) zu viel Anlass zu ideologischen Konflikten in das „Mayrisch- Komitee“ hineingetragen hätte. Auch in Beziehung zur „Paneuropa- Bewegung“ blieb die Haltung der Colpacher zurückhaltend. Auch hier gab es Verbindungen und Sympathiebekundungen, 95 aber von einem Austausch oder einer stetigen Zusammenarbeit kann nicht die Rede sein, da namentlich die deutschen Mitglieder des „Mayrisch-Komitees“ die von Coudenhove-Kalergi propagierte Zielsetzung der „Vereinigten Staaten von Europa“ als utopisch ablehnten. 96 Die (verhältnismäßig kleine) Europa- Bewegung, die sich vor allem als Zusammenschluss von Experten konstituiert hatte im „Europäischen Zollverein“ bzw. der „Union européenne dou- 90 Richard Coudenhove-Kalergi: Meine Lebenserinnerungen. Eine Idee erobert Europa, Wien, München, Basel 1958, p. 150. Cf. dazu auch neuerdings Anita Ziegerhofer- Prettenthaler: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004. 91 Cf. dazu zusammenfassend Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op.cit., p. 300sq. 92 Cf. ibid., p. 309sq: „Anfänge eines neoaristokratischen ‚Europäertums’ nach 1918“. 93 Brief von Emile Mayrisch an Pierre Viénot vom 5.2.1926, übersetzt und zitiert in ibid., p. 303. 94 Bis 1933 herrschte in der Redaktionspolitik der Zeitschrift eine Tendenz des bürgerlich-aristokratischen Pluralismus vor. 95 Cf. dazu die Hinweise auf die Rolle, die Mayrischs Nachfolger an der Spitze der AR- BED, Aloyse Meyer, in der Paneuropa-Bewegung spielte, in: Germaine Goetzinger u.a. (ed.): Hôtes de Colpach, op.cit., p. 86. 96 Cf. dazu u.a. Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op.cit., p. 302sq. <?page no="341"?> 341 anière“, 97 entsprach am ehesten den pragmatischen Vorstellungen Mayrischs von übernationaler Wirtschaftskooperation. Er antwortete ausnahmsweise auf eine von dieser Vereinigung lancierte Umfrage; allerdings erhob er auch dort Einwände, und zwar inhaltliche Einwände, die u.a. auf die notwendige Einbeziehung von Konsumenten-Vertretern in die Entscheidungen einer Europäischen Zollunion hinausliefen. 98 Kann man somit die Stellung des „Mayrisch-Komitees“ zu den zeitgenössischen Europa- Bewegungen genauer verorten, so ist das Verhältnis des von Mayrisch und Viénot gemeinsam gegründeten Deutsch-Französischen Studienkomitees zur Internationalen Rohstahlgemeinschaft eine vergleichsweise offenere Frage. Die Schaffung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG), die wesentlich von Mayrisch herbeigeführt wurde, ist inzwischen mehrfach und unter dem Blickwinkel der Interessen der verschiedenen beteiligten Länder untersucht worden. 99 Charles Barthel hat detailliert die industriepolitischen Konstellationen der europäischen Stahlindustrie der zwanziger Jahre rekonstruiert und dabei versucht, die Mythen, die sich um Mayrisch ranken, dem analytischen Blick auszusetzen. Er weist nach, dass die am 30. September 1926 in Luxemburg gegründete Internationale Rohstahlgemeinschaft zustande kam, weil der ARBED-Direktor angesichts der stagnierenden Verhandlungen der nationalen Politiker die Initiative für die Errichtung eines Kontingentierungskartells ergriff, obwohl er selbst von der Wirksamkeit und Wünschbarkeit der internationalen Kartelle keineswegs überzeugt war. 100 Die Verhandlungen zwischen den Repräsentanten der Stahlindustrie Frankreichs, Deutschlands und Luxemburgs begannen am 30.1.1926 in Colpach oder am Sitz der ARBED 101 und endeten mit der Un- 97 Zu dieser bislang relativ wenig beachteten Bewegung cf. Kapitel VI dieses Buches, und: Laurence Badel: „Les promoteurs français d’union économique et douanière de l’Europe dans l’entre-deux-guerres“, in: Antoine Fleury, Lubor Jilek (ed.): Le Plan d’Union fédérale européenne, Bern 1998, p. 17-29. 98 Seine Antwort, die u.a. in der „Europe Nouvelle“ und in der „Europäischen Revue“ erschien, ist neu gedruckt im Anhang zu Hans Manfred Bock: Emile Mayrisch und die Anfänge, op.cit., p. 580-582. 99 Cf. zu Frankreich Jacques Bariéty: Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft, op.cit. (Anm. 65); zu Belgien und Luxemburg Charles Barthel: Bras de fer, op.cit., p. 454sq; zu Deutschland Karl Heinrich Pohl: „Die Internationale Rohstahlgemeinschaft aus deutscher Sicht, ein Fall internationaler Kooperation, nationalen Interesses und (oder) unternehmenspolitischen Machtstrebens? “, in: Gustav Schmidt (ed.): Konstellationen internationaler Politik 1924-1932, Bochum 1983, p. 203-210. 100 Cf. dazu Charles Barthel: Bras de fer, op.cit., p. 378sq. 101 Als der Ort der Tagung wird bei Barthel (op.cit., p. 482) der Sitz der ARBED, bei anderen Autoren Colpach angegeben; cf. Jacques Bariéty: „Le rôle d’Emile Mayrisch entre les sidérurgies“, op.cit., p. 123-134 und neuerdings auch Franck Théry: Construire l’Europe dans les années vingt. L’action de l’Union paneuropéenne sur la scène francoallemande, 1924-1932, Genève 1998, p. 59sq. Von deutscher Seite waren beteiligt Fritz Thyssen und Ernst Poensgen (einer der Exponenten der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie) und aus Frankreich Humbert de Wendel und Théodore Laurent <?page no="342"?> 342 terzeichnung der „Brüsseler Protokolle“, der Gründungsurkunde der IRG, Ende September 1926. 102 Dem Abkommen traten bei die Repräsentanten der Stahlindustrie Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs (später auch diejenigen Österreichs, der Tschechoslowakei, Ungarns und Polens). Es legte ein Quotensystem für die nationale Stahlproduktion fest, bei dessen Überschreitung Bußgelder fällig waren, und es stellte den Versuch dar, ein kapitales Problem der damaligen Leitindustrie des Stahlsektors auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu lösen, dessen Bewältigung auf der gouvernementalen Verhandlungsebene gescheitert war. Die ausschlaggebende Rolle, die Emile Mayrisch in diesem Verhandlungsprozess einnahm und die ihn zum Vorsitzenden der IRG prädestinierte, ist auf drei Faktoren zurückgeführt worden. 103 Mayrisch handelte in den internationalen und transnationalen Industriellengesprächen ohne Rücksprache oder Rückversicherung mit den verantwortlichen Politikern und der Ministerialbürokratie in Luxemburg, was ihm einen vergleichsweise großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum gewährte. Er war - aufgrund des Streubesitzes der ARBED im eigenen Land, in Frankreich, Belgien, Deutschland und im Saarland - nicht auf ein zwingendes nationales Interesse festgelegt. Und schließlich konnte er über Mitarbeiter verfügen, die transnational rekrutiert wurden und über Informationsquellen sowie kommunikative Kompetenzen verfügten, die es ihnen erlaubten als effiziente Mittler und Botschafter für Mayrisch und die ARBED zu dienen. Zu einem „ökonomischen Locarno“, von dem schon die Zeitgenossen der IRG redeten, wurde die von Mayrisch ermöglichte Kartellbildung der westeuropäischen Stahlproduzenten allerdings nicht. Schon 1929 zeigten die deutschen Mitglieder die Neigung, sich von den beschlossenen Regeln wieder zu verabschieden. 104 Mayrisch hatte öfters darauf hingewiesen, dass die Eigendynamik der Wirtschaft allein keine hinreichende Gewähr für die Lösung der umfassenderen europäischen Politik- und Gesellschaftskonflikte sein könne. In dieser Überzeugung wurzelte seine synchrone Initiative für die Gründung des „Deutsch-Französischen Studienkomitees“ bzw. des „Comité francoallemand d’information et de documentation“, das auf einer Konferenz in Luxemburg im Mai 1926 ins Leben gerufen wurde und dessen Präsident wiederum Emile Mayrisch hieß. Hier ging es nicht um die Gewinnmaximierung der Stahlkonzerne, sondern um die langfristige politische Verständigung der beiden Hauptkontrahenten Deutschland und Frankreich. Während die komplizierten Verhandlungen über die Konstituierung der (einer der Exponenten der lothringisch-saarländischen Schwerindustrie). Fritz Thyssen und Théodore Laurent gehörten anfangs auch zum „Mayrisch-Komitee“, Thyssen demissionierte dort aber bald. 102 Cf. dazu Charles Barthel, op.cit., p. 481-484. 103 So die Interpretation ibidem. 104 Cf. dazu auch Charles Barthel, op.cit., p. 510 sq. <?page no="343"?> 343 IRG der Sache gemäß den beiden Mayrisch-Damen fern standen, 105 waren in die Entstehung und Entwicklung des Deutsch-Französischen Studienkomitees alle Mitglieder der Colpacher Familie einbezogen. Teilweise an die Ideen von Jacques Rivière zur französisch-deutschen Wirtschaftskooperation anknüpfend, 106 arbeitete Pierre Viénot ab dem Frühjahr 1925 im Kontakt mit Emile Mayrisch einen Plan aus, der die Kenntnis und Kontakte zwischen deutschen und französischen Elitenrepräsentanten verbessern sollte. So wurde Viénot der Architekt und Mayrisch der Bauherr des g