Zwischen Postdramatik und Dramatik
Roland Schimmelpfennigs Raumentwürfe
1205
2012
978-3-8233-7730-6
978-3-8233-6730-7
Gunter Narr Verlag
Christine Laudahn
Vor dem Hintergrund der in Forschungskreisen kontrovers geführten Diskussion um ein Ende der Postdramatik und eine Rückkehr des Dramas untersucht die Arbeit die Konstitution und Semantisierung des Raumes und der Zeit in den Stücken von Roland Schimmelpfennig. Dabei wird sowohl die modale Ebene des Textes als auch die mediale Ebene der Aufführung berücksichtigt. Am Beispiel von Deutschlands meistgespieltem Gegenwartsautor zeigt die Untersuchung, wie sich zeitgenössische Theatertexte mit der dramatischen Tradition auseinandersetzen, sie rezipieren und in eigenen (post-)dramatischen Entwürfen fruchtbar machen.Die Arbeit gibt Antwort auf die Frage, wo im Spannungsfeld von Dramatik und Postdramatik Schimmelpfennigs Stücke zu verorten sind. Im Rückgriff auf die Chronotopos-Lehre von Michail M. Bachtin sucht sie neue Wege im Umgang mit Theatertexten der Gegenwart aufzutun, die sich einer Charakterisierung als rein postdramatisch widersetzen. Darüber hinaus regt sie dazu an, über einen Paradigmenwechsel nachzudenken: Bedeutet ein Rückzug der Postdramatik nicht auch das Ende der Postmoderne?
<?page no="0"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 40 Christine Laudahn Zwischen Postdramatik und Dramatik Roland Schimmelpfennigs Raumentwürfe <?page no="1"?> Zwischen Postdramatik und Dramatik <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 40 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Christine Laudahn Zwischen Postdramatik und Dramatik Roland Schimmelpfennigs Raumentwürfe <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Titelfoto © Jean-Paul Raabe / picturesberlin Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München Gedruckt mit Unterstützung des Oskar-Karl-Forster-Stipendiums der Ludwig-Maximilians- Universität München. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-6730-7 <?page no="5"?> In liebevoller Erinnerung meiner Großmutter Frau Dr. Maria Keimer <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis Einleitung - Zwischen Postdramatik und Dramatik .......... 11 1. Methodische Vorüberlegungen ................................................. 17 1.1. Zum Forschungsgegenstand ......................................................... 17 1.2. Zur Forschungsrelevanz ................................................................. 19 1.3. Zur Verwandtschaft von Postmoderne und Postdramatik .............................................................................. 23 1.4. Zur Forschungslage .......................................................................... 27 1.4.1. Kritische Stimmen und Forschungsansätze in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ............................ 27 1.4.2. Der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts .......... 34 1.4.3. Zum Stand der Schimmelpfennig-Forschung ......................... 47 1.5. Bachtins Chronotopostheorie und ihre Bedeutung für die Dramenanalyse .................................................................... 53 1.6. Zur Methode ........................................................................................ 56 1.7. Exkurs: Der spatial turn - Die Wende zum Raum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ...................... 61 2. Struktur und Präsentation des Raumes ................................ 68 2.1. Raumkonzeption ................................................................................ 69 2.2. Raumkonstituierende Funktionen von Haupt- und Nebentext .............................................................................................. 70 2.3. Offene und geschlossene Raumstruktur .................................. 79 2.4. Semantisierung des Raumes .......................................................... 82 2.4.1. Opposition von oben und unten............................................... 84 2.4.2. Opposition von innen und außen............................................. 92 2.4.3. Opposition von nah und fern.................................................. 100 2.5. Schauplatztypen und ihre Sinnfunktion ................................. 104 2.5.1. Der private Wohnraum ............................................................ 105 <?page no="8"?> 8 2.5.2. Das Hotel.................................................................................... 113 2.5.3. Der Arbeitsplatz ........................................................................ 115 2.5.4. Die Straße ................................................................................... 120 2.5.5. Der Naturraum.......................................................................... 124 2.6. Fazit der räumlichen Strukturanalyse ..................................... 130 3. Struktur und Präsentation der Zeit ........................................ 135 3.1. Zeitkonzeption .................................................................................. 135 3.2. Zeitliche Sukzession ....................................................................... 141 3.3. Verfahren zur Aufhebung der zeitlichen Sukzession ........ 151 3.3.1. Zeitliche Simultaneität ............................................................. 151 3.3.2. Dekonstruktion der zeitlichen Chronologie.......................... 156 3.3.3. Epische Erzählmittel und das Spiel im Spiel......................... 162 3.4. Semantisierung der Zeit ................................................................ 182 3.4.1. Semantischer Gehalt zyklischer Zeitstrukturen.................... 182 3.4.2. Semantisierung von Vergangenheit und Zukunft................ 187 3.5. Fazit der zeitlichen Strukturanalyse ......................................... 195 4. Chronotopische Strukturen ........................................................ 199 4.1. Handlungsbedingte Sinnkonstitutionen von Raum und Zeit ............................................................................................... 199 4.2. Chronotopos der Begegnung ...................................................... 202 4.3. Chronotopos der Liebesidylle ..................................................... 213 4.4. Chronotopos der Krise und des Wendepunkts ................... 226 4.5. Chronotopos der ländlichen Welt ............................................. 236 4.6. Fazit der Chronotoposanalyse .................................................... 243 5. Schimmelpfennigs Raumentwürfe in der szenischen Realisierung ............................................................... 247 5.1. Zum Zusammenspiel von modalem und medialem Raum ............................................................................... 247 5.2. Der goldene Drache ........................................................................ 250 <?page no="9"?> 9 5.3. Hier und Jetzt .................................................................................... 257 5.4. Das Reich der Tiere ......................................................................... 263 5.5. Ende und Anfang ............................................................................. 271 5.6. Besuch bei dem Vater ..................................................................... 283 5.7. Auf der Greifswalder Straße ....................................................... 290 5.8. Die Frau von früher ........................................................................ 296 5.9. Vorher/ Nachher .............................................................................. 305 5.10. Die arabische Nacht ........................................................................ 314 5.11. Push Up 1-3 ........................................................................................ 324 5.12. Vor langer Zeit im Mai .................................................................. 332 5.13. Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte ........................................................................................ 339 5.14. Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid ............ 347 5.15. Fazit der Inszenierungsanalysen ............................................... 352 6. Schlussbetrachtung .......................................................................... 356 Literaturverzeichnis ............................................................................... 367 Primär- und Sekundärliteratur .............................................................. 367 Literaturangaben zu den Stücken des Textkorpus ......................... 376 Interviews ....................................................................................................... 377 Gedächtnisprotokolle ................................................................................. 378 Internetseiten ................................................................................................. 378 Anhang .......................................................................................................... 381 Abkürzungsverzeichnis der Stücke ...................................................... 381 Uraufführungsdaten der Stücke ............................................................ 382 Weiterführende Literatur zu den Stücken des Untersuchungszeitraums 1996-2010 .................................................... 386 Danksagung ................................................................................................... 395 <?page no="11"?> 11 Einleitung - Zwischen Postdramatik und Dramatik Aber Theater ist nie abstrakt, das Thema des Theaters ist der Mensch, das Individuum. Roland Schimmelpfennig 1 Ein flüchtiger Blick in zeitgenössische Theaterzeitschriften wie „Theater heute“, „Theater der Zeit“ oder „Die deutsche Bühne“ genügt, um eine Trendwende in der deutschen Gegenwartsdramatik auszumachen. In den Beschreibungen der neuen Stücke von Autoren wie Roland Schimmelpfennig, Moritz Rinke, Dea Loher, Lutz Hübner, Martin Heckmanns, Anja Hilling, Händl Klaus, Marius von Mayenburg und Andreas Marber liest man von Helden, Handlungen, Geschichten, Katastrophen und Konflikten. Zeitgenössische Theatertexte, so scheint es, lassen die strukturellen Merkmale der traditionellen, mimetisch-fiktionalen Dramenform wieder auferstehen, zu denen neben Figuren und Handlung auch der Dialog und eine eindeutige, konventionelle Raum- und Zeitgestaltung gehören. 2 Im Gegensatz zu jenen Autoren, die mit der mimetischen Tradition brechen und eine Erneuerung des Theaters anstreben, spricht eine bedeutende Anzahl zeitgenössischer Dramatiker mit ihren Stücken ein neuerliches Bekenntnis zur repräsentationalen Ästhetik aus. Folglich können diese Theatertexte nicht mit dem von Andrzej Wirth 1987 eingeführten und von Hans-Thies Lehmann Ende der 90er Jahre ästhetisch untermauerten Begriff der Postdramatik beschrieben werden. 3 Denn trotz postdramatischer Fär- 1 „Theater ist immer Eskalation“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling. In: Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tiere. Stücke. Hg. von Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven. Frankfurt/ M. 2007, S. 229-243, 231. 2 Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich lässt sich seit den neunziger Jahren eine Rückbesinnung auf die traditionellen Dramenelemente Figur, Handlung und Dialog beobachten. Vgl.: Patrice Pavis: Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrhunderts. In: Joachim Fiebach (Hg.): Theater der Welt - Theater der Zeit. Arbeitsbuch Theater der Zeit. Berlin 1999, S. 29- 35. Pavis zieht anlässlich des Festivals „Theater der Welt“ 1999 in Berlin Bilanz und konstatiert in Bezug auf das französische Theater die Rückkehr von Dialog und Figur. 3 In seinem Aufsatz „Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien“ aus dem Jahr 1987 beschreibt Andrzej Wirth die formale Verwandlung des Theaters im Zuge der globalen Medialisierung. <?page no="12"?> 12 bungen und Einschläge vertrauen sie dem dramatischen 4 Bauprinzip. In Abgrenzung zu Hans-Thies Lehmann, der in seinem viel rezipierten Buch „Postdramatisches Theater“ die Abkehr von der Tradition des Sprechtheaters nachweist, untersucht die vorliegende Arbeit die sich vollziehende Rückbesinnung auf diese Tradition. Während Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Großteil der Theaterproduktion als postdramatisch beschrieben werden konnte und die Theorie des postdramatischen Theaters in dieser Zeit zum ästhetischen Maßstab avancierte, ist die Situation heute, zehn Jahre nach dem Erscheinen von Lehmanns Buch, eine andere. Es muss daher vielmehr von einem bedeutenden Sektor des „postpostdramatischen“ oder auch „neodramatischen“ Theaters gesprochen werden. Dies belegen die dramatischen Entwürfe junger zeitgenössischer Autoren wie Roland Schimmelpfennig. Die konstatierte Rückbesinnung auf die dramatische Form und die damit verbundene „Wiederkehr des Textes“ bedeuten jedoch nicht die Rückkehr von geschlossenen Fabeln und linear erzählten Geschichten, 5 die sich durch die Alleinherrschaft des Dialogs auszeichnen. Vielmehr finden narrative Elemente Einzug in die Werke zeitgenössischer Dramatiker, eine Entwicklung, die Peter Szondi schon 1956 in seiner „Theorie des modernen Dramas“ 6 festhält. Da es sich bei den neuen Theatertexten folglich nicht um Dramen im engeren traditionellen Sinne handelt, lässt sich ihr Wesen nicht mit einem der normierten Dramenbegriffe erfassen, die den Dialog als die Die als Reaktion auf die elektronischen Entwicklungen entstandenen neuen theatralen Formen der Soundcollage, der Sprechoper und des Tanztheaters, die sich von der Dominanz des Sprechtheaters befreiten, bezeichnet er als postdramatisch (In: Gießener Universitätsblätter 2. Gießen 1987, S. 83-91). Hans-Thies Lehmann griff Wirths Begrifflichkeit 1999 in seiner einflussreichen Ästhetik zum postdramatischen Theater auf und lieferte der Theaterwissenschaft damit ein neues theoretisches Standardwerk. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/ M. 1999. 4 Das Adjektiv „dramatisch“ wird im Folgenden als Gegenbegriff zu Lehmanns Begriff des Postdramatischen verwendet. Es bezeichnet ein mimetisch-fiktionales, repräsentationales Theater, das den Text als bedeutenden Bestandteil des Theaterprozesses betrachtet und die von Lehmann abgesetzten Kategorien Drama, Handlung und Nachahmung retabliert. Es ist folglich nicht im Sinne einer normativen Gattungstheorie zu verstehen. 5 Franziska Schößler: Albert Ostermaier - Medienkriege und der Kampf um Deutungshoheit. In: Heinz Ludwig Arnold, Christian Davidowski (Hgg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. Text+Kritik Sonderband. München 2004, S. 81-100, 81. Vgl. Sabine Sörgel: Realismus-Variationen. Themen und Tendenzen des Gegenwartstheaters zwischen Glamour, neuer Bürgerlichkeit und Dokumentarismus. In: Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hgg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Tübingen 2008, S. 111-124, 121. 6 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt/ M. 1959. <?page no="13"?> 13 Grundform des Dramas betrachten. 7 Den folgenden Ausführungen wird daher der Poschmannsche Dramenbegriff zugrunde gelegt. Poschmann definiert Drama als „die Darstellung einer sich in Raum und Zeit erstreckenden Geschichte von Figuren, und damit als repräsentational-fiktionale Gattung.“ 8 Die Begriffe der Figuration und der Narration stellen für sie die wesentlichen Strukturmerkmale des Dramas dar. 9 Der Rückgriff auf diesen offeneren Dramenbegriff täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass es an präzisen Beschreibungskategorien fehlt, um die neue, häufig anekdotische, situative Art des Geschichtenerzählens junger Autoren zu charakterisieren. Die Distanzierung der jungen Theaterautoren von den postdramatischen Errungenschaften kann parallel gesetzt werden mit einer in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahren stärker werdenden Tendenz, von der Postmoderne Abstand zu nehmen und über einen Paradigmenwechsel nachzudenken. 10 Vor diesem Hintergrund ließe sich die Rückbesinnung auf die Strukturmerkmale des Dramas als Antwort auf die von den Gegnern der Postmoderne empfundene Verflachung der postmodernen Kultur verstehen und als Beweis für den Beginn eines neuen geistesgeschichtlichen Zeitalters. Dem Abrutschen der postmodernen Kunst in Sinnlosigkeit und Beliebigkeit wird mit dem Entwurf Sinn setzender Dramen begegnet, die eine Fabel aufweisen und den Parametern Individuum, Sprache und Interaktion neues Vertrauen schenken. 11 7 Vgl.: Szondi 1959, S. 12-16. Vgl. Georg Wilhelm Friederich Hegel: Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge, Bd. 2. Frankfurt/ M. 1965, S. 527. Vgl. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 1. Sprache und Poetik. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1962, S. 107-122. 8 Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 47-48. 9 Ebd., S. 48. 10 Birgit Haas weist in ihrer Arbeit „Plädoyer für ein dramatisches Drama“ darauf hin, dass selbst einstige Vordenker der Postmoderne wie Ihab Hassan der Postmoderne neuerdings kritisch begegnen, indem sie die „Verflachung“ der postmodernen Kultur „durch die Kulturindustrie“ verurteilen und sich von der postmodernen Idee der Dissoziation von Kommunikation und Subjekt distanzieren. Vgl. Birgit Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama. Wien 2007, S. 114. In seinem im Jahr 2003 erschienenen Aufsatz „Beyond Postmodernism: Toward an Aesthetic of Trust“ plädiert Ihab Hassan für die Erneuerung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie für die Einführung einer Ästhetik des Vertrauens. Siehe: Ihab Hassan: Beyond Postmodernism: Toward an Aesthetic of Trust. In: Klaus Stierstorfer (Hg.): Beyond Postmodernism. Reassessments in Literature, Theory, and Culture. Berlin, New York 2003, S. 199- 212, 203, 211, 212. Vgl. Hans-Peter Müller: Das stille Ende der Postmoderne. Ein Nachruf. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/ 10, 52. Jahrgang. Stuttgart 1998. 11 Vgl. Jan Knopf: Brecht im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 23- 24/ 2006. Hg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Bonn 2006, S. 6-12, 7: „Dass Stücke mit Fabeln für die Spielbarkeit, aber auch für das Schauvergnügen der <?page no="14"?> 14 Von einer solchen Aufwertung des Inhalts über die Form zeugt das Werk von Roland Schimmelpfennig. Den Sinn des Schreibens sieht Deutschlands derzeit erfolgreichster Dramatiker 12 in der „Herstellung eines schlüssigen, verdichteten Textes“ 13 , womit er sich von Postdramatik und Postmoderne distanziert. Im Zentrum seines Werks stehen individuelle Figuren und ihre Geschichten. 14 Seine Stücke charakterisiert der Autor selbst als erfundene Wirklichkeitsentwürfe, mit denen er den Zuschauer zur Selbstreflexion führen will: SCHIMMELPFENNIG Ich erfinde einen Ausschnitt von Realität, den stell ich auf die Bühne […] überhöhe, verdichte, und so kommt man im Idealfall dazu, daß der Zuschauer, der Mensch, sich selber auf den Kopf gucken und das sinnlich erfahren kann. Das ist ein Gewinn, ein Privileg. Das ist vielleicht die ganze Existenzberechtigung von Theater. 15 Wie das Zitat verdeutlicht, knüpft Schimmelpfennig mit seinen Stücken an die traditionelle Auffassung vom Drama als szenische Repräsentation von Lebenswelt an. Er hält es für den Auftrag des Theaters, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen: Betrachter mehr hergeben, zeigt der Vergleich mit Samuel Beckett oder Eugène Ionesco, die weitgehend von den Bühnen verschwunden sind: Die Zeit für Leere und Sinnlosigkeit (die hat die Spaßkultur übernommen) ist erst einmal vorbei.“ 12 Vom Erfolg des Autors zeugen die Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Preises 2010 sowie des Mülheimer Dramatikerpreises 2010 für das Stück „Der goldene Drache“. Auch die internationale Presse würdigt Schimmelpfennig als einen der bedeutendsten Vertreter der deutschen Gegenwartsdramatik. Vgl.: Camilla Hildtbrandt: Theater- Projekte schon während der Schulzeit. Roland Schimmelpfennig im Porträt. In: Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton Profil 06.12.2007. In: www.dradio.de/ dkultur/ sendungen/ profil/ 706964/ Christopher Schmidt: Ein Blick in den Rückspiegel: Das German Theatre Abroad tourte mit einem umgebauten Schulbus durch die USA. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.2007. Vgl.: Peter Michalzik: Reich der Tiere. Für den gehobenen Geschmack. In: Frankfurter Rundschau, 03.09.2007. Vgl. Marina Monsisvais: Start Up. German theatre at the Ramblin Gallery. In: What’s Up Weekly (El Paso, Texas), 14.11.2007. Vgl. Christopher Blank: Locals to play role in German act. In: The Commercial Appeal (Memphis, Tennessee), 01.11.2007. 13 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 239: „Das ist für mich der Sinn des Schreibens. Die Herstellung eines schlüssigen, verdichteten Textes.“ 14 Vgl. Detlev Baur: Die Dramatik der Situation. In: Die deutsche Bühne 03/ 2005, S. 22- 24. Baur bezeichnet Schimmelpfennigs Theater als „Erzähltheater“ (S. 24). Über Schimmelpfennig selbst schreibt er: „Er will im Theater Geschichten erzählen.“ (S. 22). 15 „Sich selber auf den Kopf gucken“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Sebastian Huber. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“, Uraufführung 03.02.2001. <?page no="15"?> 15 SCHIMMELPFENNIG Theater zielt auf die Stadt, auf die Gemeinschaft. Es spiegelt gesellschaftliche Vergangenheit, Gegenwart oder, auch, so etwas wie Zukunftserwartungen, Hoffnungen, Ängste. 16 Um einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu entwerfen, bedarf es neben Figuren, die die Gesellschaft repräsentieren, vor allem eines konkreten Raumes, der ihr Handeln konstituiert. Schimmelpfennigs Theatertexte sind in ihren Raumentwürfen daher äußerst konkret. Oftmals ist es der Raum, der die Synthesis der in etliche Kurzszenen zersplitterten Handlung ermöglicht. Die detaillierten Nebentextangaben, mit denen Schimmelpfennig Schauplätze konkretisiert, sind als Entwurf, als Angebot an den Regisseur zu verstehen. Sie müssen ernst genommen, aber nicht eins zu eins umgesetzt werden, wie die starke Reduktion der Zeichen des Raumes in Inszenierungen von Jürgen Gosch oder auch in Schimmelpfennigs eigenen Regiearbeiten belegen. 17 Auf die funktionale Bedeutung von Raum- und Zeitstruktur für die Genese einer Geschichte verweist bereits Anfang der siebziger Jahre Michail M. Bachtin in seinen Ausführungen zur Bedeutung des Chronotopos im Roman. 18 Diese bislang von der Theaterforschung negierte „Form-Inhalt- Kategorie“ bestimmt jedoch nicht nur die Erzählweise der Romanliteratur, sondern lässt sich auch auf die plurimediale Darstellungsform des Dramas anwenden: Raum und Zeit stellen zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten die konkreten Grundkategorien des dramatischen Textes dar. 19 Um die Grundkategorien von Schimmelpfennigs Theatertexten benennen zu können, scheint es daher erforderlich, sich mit ihrer Raum-Zeitgestaltung auseinanderzusetzen. Die Zeit wird dabei immer als eine Komponen- 16 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 230. 17 Gleichgültig ist Schimmelpfennig die Berücksichtigung seiner Raumentwürfe jedoch nicht. Dies lässt sich aus einem Kommentar ablesen, den er auf einer Diskussionsveranstaltung der Bayerischen Theaterakademie am 3. März 2008 gab. Darin hielt er fest: Wenn in der Regieanweisung eines seiner Texte stünde, dass die Figuren sich duschen, dann wolle er auf der Bühne auch Duschen sehen. Mit dieser Aussage spielt der Autor auf eine Regieanweisung in seinem Stück „Das Reich der Tiere“ an. Wie konkret die Duschen auszusehen haben, sagte er nicht. Dennoch kann die Forderung des Autors als Bekenntnis zu einem mimetisch-fiktionalen Theater verstanden werden. Zitiert nach: Gedächtnisprotokoll zur Diskussionsveranstaltung an der Theaterakademie August Everding München, 03.03.2008. 18 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt/ M. 2008 [Berlin 1986]. 19 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München 2001, S. 327. <?page no="16"?> 16 te des Raumes betrachtet. 20 Als Bedingungsrahmen für die Figurenhandlung lässt der Raum darüber hinaus Rückschlüsse auf den Charakter der Figuren zu. Indem Schimmelpfennig begehbare 21 Zwischenräume, wie Fahrstühle, Treppenhäuser und Flure, zum bevorzugten Schauplatz seiner Stücke macht, verarbeitet er das Phänomen der globalen Enträumlichung und Entortung, das zur Expansion von „Nicht-Orten“ 22 führt, die außerstande sind, Identität zu stiften. Er problematisiert die gegenwärtige Entwicklung von Translokalität und Heimatlosigkeit und sucht nach Möglichkeiten einer Wiederkehr des Raumes. 23 Dies kann durch Bewusstseinsvorgänge wie Träume, Erinnerungen und Phantasie geschehen. Neben den oben beschriebenen begehbaren Transitionsräumen, die lokal zwischen zwei anderen Räumen verortet sind, kommt es in seinen Theatertexten somit zur Entstehung mentaler Transitionsräume. Ziel dieser Arbeit ist es daher, aufzuzeigen, inwieweit die Rückbesinnung auf eine vordergründig traditionell erscheinende fiktionale Raum- und Zeitgestaltung die Öffnung von neuen dramatischen Räumen ermöglicht, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formalästhetisch als Transitionsräume zwischen Postdramatik und Dramatik artikulieren. Es sollen Beschreibungskategorien gefunden werden, mithilfe derer der Standort der Dramatik im 21. Jahrhundert näher bestimmt werden kann. In Anlehnung an Bachtin wird die fiktive Raum-Zeitstruktur der ausgewählten Schimmelpfennig-Stücke analysiert und in ihrem Zusammenspiel mit der realen raum-zeitlichen Deixis der Inszenierungen betrachtet, denn die Plurimedialität des Dramas erfordert ein Vorgehen auf zwei Ebenen. Die fiktionale Raumanalyse muss daher um die Analyse der szenischen Realisierung der im Text entworfenen Transitionsräume erweitert werden. 20 Vgl. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970, S. 23. Zur Vernetzung von Zeit und Raum vgl. auch Hartmut Böhme: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart, Weimar 2005, S. IX-XXIII, XXI. 21 Die Unterscheidung zwischen begehbaren und mentalen Räumen ist Elisabeth Bronfens Arbeit zum literarischen Raum entlehnt: Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage. Tübingen 1986. 22 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt/ M. 1994 [Paris 1992]. 23 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284-328. <?page no="17"?> 17 1. Methodische Vorüberlegungen 1.1. Zum Forschungsgegenstand Schimmelpfennigs Werk eignet sich in besonderer Weise als Gegenstand einer Arbeit, die die Entwicklung von einem postdramatischen Theater hin zu einem an dramatische Traditionen anknüpfenden narrativ-situativen Theater beschreibt. Denn einige der früheren Stücke des Autors weisen noch deutlich postdramatische Tendenzen auf, während die späteren Stücke von einer Rückkehr zu einer eher traditionellen Raum-, Zeit- und Figurengestaltung zeugen. Das Aufgreifen traditionell dramatischer Konzepte wird in seinen Stücken jedoch nicht ohne postdramatische Einschläge vollzogen. Schimmelpfennig gelingt es folglich, das Erbe der Postdramatik produktiv zu nutzen. Um eine solche Entwicklungslinie in Schimmelpfennigs Werk sichtbar zu machen, enthält das dieser Arbeit zugrunde liegende Textkorpus Stücke aus den unterschiedlichen Schaffensphasen des Autors. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1996 bis 2010. Das Jahr 1996 stellt den Anfangspunkt des gewählten Zeitraums dar, weil es das Jahr von Schimmelpfennigs Bühnendebüt „Die ewige Maria“ (EM) 24 am Theater Oberhausen ist. Als Endpunkt der zu untersuchenden Entwicklung wird das Jahr 2010 gewählt, in dem Schimmelpfennig die zwei bedeutendsten deutschen Theaterpreise, den Else-Lasker-Schüler-Preis und den Mühlheimer Dramatikerpreis, verliehen bekommt und damit am Höhepunkt seiner Karriere als Dramenautor angekommen ist. Aus dem derzeit vierunddreißig Stücke umfassenden Werk wurden vierzehn ausgewählt. 25 Neben der Berücksichtigung der verschiedenen Schaffensphasen des Autors war das Kriterium der innerdeutschen und ausländischen Rezeption für die Wahl der zu untersuchenden Stücke entscheidend. Die getroffene Auswahl wird im Folgenden kurz erläutert. Die Vielseitigkeit von Schimmelpfennigs Werk widerstrebt einer Klassifizierung. Dennoch lässt sich sein Stückwerk grob in drei Schaffensphasen untergliedern, die thematische und formelle Schwerpunkte erkennen lassen. Eine erste Phase umfasst die Jahre 1994-1998. Die in dieser Zeit entstandenen Theatertexte weisen überwiegend traditionelle und volkstümliche Elemente auf. Inhaltlich beschäftigen sie sich mit dem „Spannungsfeld 24 Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die Stücktitel im Fußnotentext abgekürzt. Das Abkürzungsverzeichnis sowie Literaturangaben zu den ausgewählten Stücken finden sich im bibliografischen Anhang der Arbeit auf S. 381, 376. 25 Titel und Uraufführungsdaten sämtlicher Schimmelpfennig-Stücke (des Zeitraums 1996-09/ 2012) sind im Anhang dieser Arbeit auf den S. 382-385 aufgelistet. <?page no="18"?> 18 von Stadt und Land“ 26 . Aus dieser ersten Schaffensphase wurden die folgenden drei Stücke ausgewählt: „Die ewige Maria“, das ein klares Bekenntnis zur dramatischen Form erkennen lässt, „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ (KA), das eine eigene rätselhafte, poetische Welt der Träume entwirft und in seinem Raumentwurf stellenweise postdramatisch anmutet, 27 was es für die Untersuchung besonders interessant macht. Das dritte Stück dieser frühen Schaffensphase „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ (ASW), das die Bedeutung der Raumthematik bereits im Titel andeutet, stellt dem geordneten Stadtraum die unheimliche Chaoswelt der Natur gegenüber. Die zweite Phase lässt sich als postdramatische beschreiben. Sie umfasst nur wenige Stücke, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Sie unterscheiden sich vom Rest der Stücke durch ihre stark postdramatischen Züge und werden deshalb als Werke einer gesonderten Schaffensphase betrachtet. Aus dieser zweiten Phase wird das aus einundachtzig bruchstückhaften, stark repetitiven Szenen bestehende Stück „Vor langer Zeit im Mai“ (VLZM) gewählt, in dem Schimmelpfennig auf einen konkreten Raumentwurf verzichtet und den Raum in postdramatischer Manier durch repetitive Bewegungsabläufe energetisch entstehen lässt. Der Schwerpunkt der Untersuchung, die nach Tendenzen des Gegenwartstheaters fragt, liegt auf den Stücken der dritten Phase. Sie beginnt mit dem neuen Jahrtausend. Aus den Jahren 2000-2009 wurden deshalb deutlich mehr Stücke ausgewählt als aus den anderen beiden Phasen. Es handelt sich um die folgenden zehn Theatertexte: „Die arabische Nacht“ (AN), „Push Up 1-3“ (PU), „Vorher/ Nachher“ (VN), „Die Frau von früher“ (FF), „Auf der Greifswalder Straße“ (GS), „Ende und Anfang“ (EA), „Besuch bei dem Vater“ (BV), „Das Reich der Tiere“ (RT), „Hier und jetzt“ (HUJ) und „Der goldene Drache“ (GD). Diese jüngeren Arbeiten des Autors lassen eine produktive Verknüpfung von postdramatischer und dramatischer Ästhetik erkennen. Narrative Strukturen gewinnen an Bedeutung. Die Schauspieler werden zu Erzählern. Schimmelpfennig nutzt das ästhetische Formenangebot wie einen Baukasten und fügt zusammen, was nach traditionellem Verständnis nicht zusammenpasst. Prinzipien der Dekonstruk- 26 Tom Mustroph: Der Vielseitige. In: Harald Müller, Christel Weiler (Hgg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch. Portraits. Beschreibungen. Gespräche. Berlin 2001, S. 133-137, 137. 27 Aufgrund seines enigmatischen Charakters ließe sich KA durchaus auch der postdramatischen Schaffensphase zuordnen. Da es sich inhaltlich jedoch mit der Gegenüberstellung von Stadt- und Landleben auseinandersetzt, stellt es ein Übergangsstück dar, das zwischen der ersten und der zweiten Phase zu verorten ist. Das Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeit einer genauen Zuordnung. <?page no="19"?> 19 tion und der Synthesis werden kombiniert. 28 Bei allen Formexperimenten bleibt die Fabel das zentrale Anliegen des Autors, weshalb man die in dieser Phase entstandenen Theatertexte nicht als postdramatisch charakterisieren kann. Inhaltlich variieren die Stücke Themen von überzeitlicher Bedeutung wie Liebe und Tod, beschäftigen sich aber auch mit aktuellen, gesellschaftlichen Problemfeldern wie Entwurzelung, Identitätssuche und Verlustängsten. Die Auseinandersetzung mit den Missständen heutiger Arbeitswelten wird gerade in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema, wie die Stücke „Push Up 1-3“, „Ende und Anfang“, „Das Reich der Tiere“ und „Der goldene Drache“ verdeutlichen. 29 1.2. Zur Forschungsrelevanz Das Fehlen einschlägiger Arbeiten zum Theater der Gegenwart und die in der Einleitung zu dieser Arbeit skizzierte veraltete Begrifflichkeit lassen eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theatertexten dringend erforderlich erscheinen. Ein Blick auf Schimmelpfennigs jüngere Stücke „Start Up“ (2007), „Calypso“ (2008), „Hier und jetzt“ (2008) und „Der goldene Drache“ (2009) genügt, um Nikolaus Freis These von einer „Rückkehr der Helden“ und einem Ende der Postdramatik zu untermauern. 30 Die folgende kurze Charakterisierung von Schimmelpfennigs Dramatik soll nahelegen, warum eine Auseinandersetzung mit seinem Werk in Hinblick auf eine Charakterisierung des zeitgenössischen Theaters ein Forschungsdesiderat darstellt. Schon die Anlage der Figuren in Schimmelpfennigs Theatertexten spricht gegen eine Beschreibung der Stücke als postdramatisch, denn 28 Besonders deutlich zeigt sich die Verknüpfung von synthetisierenden Verfahren und dekonstruktivistischen Ansätzen in BV, dessen traditionelle Raumstruktur durch Anweisungen im einleitenden Nebentext gebrochen wird. Und auch FF, das sich als ein Mosaik aus Rückblenden und Vorgriffen präsentiert, zeugt von der formellen Experimentierfreude des Autors. Zeitangaben im Nebentext ermöglichen die Rekonstruktion der dekonstruierten zeitlichen Chronologie. Mit der innovativen Zeitstruktur des Stückes knüpft der Autor an filmische Verfahren an. Inhaltlich stellt das Stück eine Auseinandersetzung mit dem Medea-Motiv dar und steht somit in der dramatischen Tradition. 29 Mit dieser Hinwendung zu gesellschaftlichen Themen ist Schimmelpfennig nicht allein, auch andere Autoren widmen sich wieder stärker Themen aus Gesellschaft und Politik. Vgl.: Frauke Meyer-Gosau: Arbeit! Liebe! Verzweiflung. Das Politische kehrt zurück - es weiß nur noch nicht genau, wie. Kleiner Rundflug über zeitgenössische dramatische Versuche, gesellschaftliches Unglück zu beschreiben. In: Theater heute 10/ 2001, S. 40-52. 30 Nikolaus Frei: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994-2001). Tübingen 2006. <?page no="20"?> 20 Schimmelpfennigs Helden sind mehr als bloße Funktionsträger. Sie sind keine „optischen Chiffren“ 31 , sondern Charaktere mit unverwechselbaren Identitäten. Man kann somit weder von einer „Entpsychologisierung“ 32 der Figuren noch von einer „Entthronung der Sprachzeichen“ 33 sprechen. Schimmelpfennigs Sprache definiert die Figuren und die Orte subtil, aber klar. Seine Texte weisen dramatische Konzepte von Individualität, Charakter und Fabel auf. Daraus ergibt sich eine klare Bevorzugung des Inhalts vor der Form. In einem Gespräch über die 2007 veröffentlichte „Trilogie der Tiere“ äußert sich der Autor wie folgt: SCHIMMELPFENNIG Die Form […] spielt für mich nicht mehr als eine untergeordnete Rolle. Der Stoff findet die Form. Er braucht keine äußerliche Zuordnung. Die Form folgt dem Inhalt. Nicht andersherum. Alles andere wäre sinnlos oder verspielt, falsch. 34 Das Zitat, das an Schiller denken lässt, bedeutet eine klare Absage an den postdramatischen Formalismus. 35 Wie die obigen Ausführungen zeigen, lässt sich Schimmelpfennigs Stückwerk nicht mit dem von Lehmann eingeführten Begriff der Postdramatik beschreiben. Auch der Raum in seinen Stücken ist kein rein energetischer, in der Rezeption entstehender, sondern ein konkreter, konventioneller Raum, der sowohl auf der Ebene des inneren als auch auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems Orientierung bietet, sei es als Bezugspunkt für die entwurzelten Figuren, sei es als ordnender, Kohärenz schaffender Rahmen für den Zuschauer, der oftmals mit einer Vielzahl an zusammenhanglos wirkenden Szenen konfrontiert wird. In der Perspektive des „spatial turn“ 36 erscheint es daher dringend notwendig, sich den theatralen Praktiken der Raumkonstitution und Raumerschließung zu widmen und zu untersuchen, wie zeitgenössische Theatertexte das in den Kulturwissenschaften hochaktuelle Thema der Verortung reflektieren. 37 Denn in der modernen, entpersonalisierten Welt, bleibt der Raum der letzte Bezugs- 31 Lehmann 1999, S. 120. 32 Ebd., S. 161. 33 Ebd. 34 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 236. Ähnlich äußert sich der Autor in einem von Oliver Reese geführten Interview anlässlich der Premiere des Stückes „Auf der Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater Berlin: „Der Stoff sucht sich seine Form, diese Suche muss man zulassen, aushalten.“ In: „Kein Tag wie jeder andere“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Oliver Reese. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“, Premiere 27.01.2006. 35 Zum postdramatischen Formalismus siehe: Lehmann 1999, S. 161. 36 Der Begriff bezeichnet die Wende zum Raum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Bedeutung des „spatial turn“ für die Kultur- und Geisteswissenschaften ist der Exkurs in Kapitel 1.7 gewidmet. 37 Vgl. Bachmann-Medick 2006, S. 284-328. <?page no="21"?> 21 punkt des Menschen, durch den er die Frage des Sartresken 38 „Für-Sich- Seins“ beantworten kann. Der Raum übernimmt die Rolle des „Für- Andere-Seins“, er definiert den Menschen und verhilft ihm zu einer Vorstellung von sich selbst. Denkt man jedoch an die Raumtheorie Marc Augés, in der er die Expansion von Nicht-Orten nachweist, so stellt sich die Frage, inwieweit der Raum in unserer heutigen Welt der Translokalität eine solche identitätsstiftende Rolle überhaupt noch übernehmen kann. Augé definiert die „Nicht-Orte“ wie folgt: Wie man leicht erkennt, bezeichnen wir mit dem Ausdruck „Nicht-Ort“ zwei verschiedene, jedoch einander ergänzende Realitäten: Räume, die in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind, und die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält. 39 Für Augé stellen die „Nicht-Orte“ „das Maß unserer Zeit“ 40 dar. Unsere Welt charakterisiert er folglich als: […] eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist […]. 41 Auch Schimmelpfennigs Theatertexte befassen sich mit der von Augé aufgeworfenen, im Zuge des „cultural turn“ viel diskutierten Frage „Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt? “ 42 . Die Analyse der vom Dramatiker entworfenen dramatischen Räume lässt somit Rückschlüsse auf unsere Wirklichkeit zu. Sie sucht Aufschluss zu geben, über die Funktion von Räumen in unserer heutigen Welt. Ein weiterer Grund für die Wahl des Autors stellt die nationale Relevanz seiner Dramatik dar, von der die Einladung zu den Berliner Theatertagen 2010, der Erhalt des Mühlheimer Dramatikerpreises 2010 für sein 38 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg 1966. 39 Augé 1994, S. 110. 40 Ebd., S. 94. 41 Ebd., S. 93. 42 Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt/ M. 1998, S. 11-40, 19. <?page no="22"?> 22 Stück „Der goldene Drache“ 43 und die Auszeichnung seines Gesamtwerkes mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis 2010 zeugen. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler- Preises hebt Oliver Reese, Intendant am Schauspiel Frankfurt, die Bandbreite von Schimmelpfennigs dramatischem Schaffen hervor: OLIVER REESE Und er [Schimmelpfennig] schreibt, bislang zumindest, ja ausschließlich für das Theater, in allen seinen Genres: knappe, fast tagesaktuelle Zeitstücke, großformatige Ensemblepanoramen, Monologe, Bearbeitungen, Übersetzungen, Kammerspiele und sogar Komödien! 44 Johannes Reitmeier, Intendant des Pfalztheaters Kaiserslautern und Mitglied der Jury des Else-Lasker-Schüler-Preises, betont die Eigenständigkeit des Autors, die ausschlaggebend für die Entscheidung der Juroren gewesen sei: JOHANNES REITMEIER Er ist ein sehr, sehr eigenständiger Autor und gerade dieses Schillernde, dieses Unbestimmte, der Wechsel zwischen den Ebenen, macht doch eben gerade diese Inszenierungen so spannend. 45 Und nicht nur auf nationaler Ebene, auch auf den internationalen Bühnen spielt Schimmelpfennigs Dramatik eine bedeutende Rolle. So sind seine Stücke nicht nur an allen bedeutenden deutschsprachigen Theatern zuhause - darunter das Wiener Burgtheater, das Schauspielhaus Zürich, das Deutsche Theater Berlin und die Schaubühne, das Hamburger Schauspielhaus, das Schauspiel Frankfurt, das Staatstheater Stuttgart und das Münchner Residenztheater -, sondern werden auch am Royal Court Theatre in London gespielt. Den internationalen Erfolg seiner Stücke belegen darüber hinaus die Weltpremiere seines Stückes „Start Up“ am 7. Oktober 2007 in New York und das dadurch eingeleitete Road Theatre Projekt des German Theatre Abroad sowie die seines jüngsten Stückes „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ am 20.06.2010 im Volcano Theatre in Toronto. Die Beliebtheit seiner Dramatik im In- und Ausland drückt sich auch in den 43 Kritiker von GD lobten zum einen die gesellschaftliche Relevanz von Schimmelpfennigs Globalisierungsdrama und zum anderen die besondere Form des Stückes, in dem fünfzehn Figuren, die von fünf Schauspielern gespielt werden, in 48 Szenen von den Folgen der Globalisierung erzählen. Vgl. „Eine aufregende Zeit, um für das Theater zu schreiben“. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Roland Schimmelpfennig über „Der goldene Drache“, Techniken des Erzählens und seine Erfahrungen als Regisseur. In: Theater heute Jahrbuch 2010, S. 112-121. 44 Oliver Reese: Laudatio auf Roland Schimmelpfennig anlässlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler Dramatikerpreises 2010. Frankfurter Hof, Mainz, 28.04.2010. Die schriftliche Fassung der Rede wurde zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. 45 Eigene Transkription eines Videobeitrags des SWR Rheinland-Pfalz. Das Video ist abzurufen unter: www.swr.de/ rp-aktuell/ -/ id=233240/ did=6314970/ pr=video/ nid=233240/ e3upa4/ index.html <?page no="23"?> 23 Übersetzungen seiner Stücke in mehr als zwanzig Sprachen aus. Aufführungsstatistiken von Stücken wie „Die arabische Nacht“, „Die Frau von früher“ oder „Push Up 1-3“ belegen den internationalen Erfolg des Autors: Mit Aufführungen in über fünfzig Ländern zählt Schimmelpfennig zu den produktivsten und erfolgreichsten deutschen Gegenwartsdramatikern. 46 Zudem verhilft ihm sein thematischer Universalismus zu globaler Relevanz. „[…] das Thema des Theaters“, so sagt er selbst, „ist der Mensch, das Individuum“ 47 und verdeutlicht damit, dass das Theater des 21. Jahrhunderts sich wieder auf seine alte Funktion als „Diskurs über den Menschen“ besinnt. 1.3. Zur Verwandtschaft von Postmoderne und Postdramatik Wie oben bereits angemerkt, reiht sich der Rückzug der Postdramatik in ein allgemeines Abstandnehmen von den Ideen der Postmoderne ein. Wissenschaftler aller Disziplinen denken über einen Paradigmenwechsel nach. 48 Es scheint, als löse ein Wertekanon von Vertrauen und Wahrheit die postmoderne Identitätskrise ab. So tritt beispielsweise Ihab Hassan, einer der früheren Hauptverfechter der Postmoderne, neuerdings für eine „Aesthetic of Trust“ ein: We in our literary professions, must turn to truth, truth spoken not only to power but, more anguished, truth spoken to ourselves. […] Trust, I have claimed, is a spiritual value […] A postmodern aesthetic of trust, I have argued, brings us to a fiduciary realism, a realism, that redefines the relation between subject and object, self and other, in terms of profound trust. 49 46 Vgl. Schmidt: Ein Blick in den Rückspiegel. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.2007. Vgl. Michalzik: „Reich der Tiere“. In: Frankfurter Rundschau, 03.09.2007. Vgl. Sven Hillenkamp: Das kommt auf uns zu. In: DIE ZEIT, 22/ 2001. Vgl. Anne Midgette: ‘Slipped Disc’ Offers Another Slice of Surviving the Office. New York Times, 10.05.2006. 47 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 231. Das Zitat ruft Satres Plädoyer für ein Theater, das den freien Menschen ins Zentrum stellt, in Erinnerung: „Der freie Mensch in den Grenzen seiner eigenen Situation, der Mensch, der, ob er will oder nicht, für alle anderen wählt, wenn er für sich wählt, - das ist das Thema unserer Stücke.“ In: Jean-Paul Sartre: Mythen schaffen. In: ders.: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Übersetzt von Klaus Völker. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 31-39, 33. 48 Vgl.: Klaus Stierstorfer (Hg.): Return to Postmodernism. Theory. Travel Writing. Autobiography. Heidelberg 2005. Ders. 2003. Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel (Hgg.): Postmoderne. Eine Bilanz. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/ 10, 52. Jahrgang. Stuttgart 1998. 49 Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 211. <?page no="24"?> 24 Mit dem Vertrauen kehrt auch der Glaube an die Wirkungsmacht narrativer Strukturen zurück. Die Krise der Repräsentation scheint überwunden. 50 Mit der Postmoderne verabschiedet sich, so die dieser Arbeit zugrunde liegende These, auch das postdramatische Theater, was kaum verwundert, wenn man, wie Bernd Stegemann, im postdramatischen Diskurs ein „echtes Kind der Postmoderne“ 51 sieht. Worin besteht nun aber die proklamierte Verwandtschaft von Postmoderne und Postdramatik? Wie die Postmoderne so zeichnet sich auch die Postdramatik durch ihren selbstreferentiellen Charakter aus. Beiden Theorien gemein ist die Betonung des referenzlosen Eigenwerts von Zeichen. Der Eigenwert von Zeichen - nicht ihr Referenzcharakter - wird folglich zum ästhetischen Leitbegriff erhoben. Im postdramatischen Theater zeigt sich dies in der radikalen Ablehnung der mimetischen Darstellung von Welt. Wie in der postmodernen Theorie, so wird auch im postdramatischen Theater die Möglichkeit einer Referenz auf die Wirklichkeit negiert. Theater wird zu einem „Moment der mitgelebten Energien statt der übermittelten Zeichen.“ 52 In Äquivalenz zur postmodernen Literatur vollzieht sich somit in der Postdramatik die Trennung der Zeichen von ihrem Bezeichneten. Andrzej Wirth spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Semiotik des Theaters, die den Signifikanten dem „freien Spiel“ aussetzt und auf diese Weise die „Entliterarisierung des Theaters“ vorantreibt. 53 Ihren stärksten Ausdruck findet diese Dekonstruktion der Zeichen in der Unterwanderung der dramatischen Form, der Ablehnung der dramatischen Situation. Das ursprüngliche Erkenntnismittel des Dramas, mithilfe dessen man Jahrhunderte lang versuchte, menschliches Handeln und Erleben in seinen Grundwidersprüchen darzustellen, wird von der Postdramatik für überholt erklärt und abgekanzelt. Der Versuch, Welt in erzählbare Strukturen zu übersetzen, wird damit zum Scheitern verurteilt. Die Welt ist nicht beschreibbar. Man fordert Bedeutungsungewissheiten statt Gewissheiten und feiert die Befreiung vom Absolutheitsdruck des einen großen Sinns. So erklärt Roland Barthes: Heute wissen wir, dass ein Drama nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ‚Botschaft’ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in 50 Vgl.: Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer 2003, S. 199-212. Vgl. Nünning: Beyond Indifference. In: Stierstorfer 2003, S. 235-254. Vgl. Christophe Den Tandt: Pragmatic Commitments. In: Stierstorfer 2003, S. 121-142. Vgl. ders.: Return to Mimesis. In: Stierstorfer 2005, S. 61-78. 51 Bernd Stegemann: Nach der Postdramatik. In: www.hfmt-hamburg.de/ theaterakademie/ texte/ 52 Lehmann 1999, S. 286. 53 Wirth: Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie. In: Gießener Universitätsblätter 1987, S. 86. <?page no="25"?> 25 dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. 54 Selbstreflexion und Selbstreferenz treten an die Stelle des einen großen Sinns. Sie werden zum ästhetischen Prinzip erhoben, wie auch Hans-Thies Lehmann betont: Denn mit den anderen Künsten der (Post-)Moderne teilt das Theater den Hang zu Selbstreflexion und Selbstthematisierung. 55 Damit stellt der Begründer der ästhetischen Theorie des postdramatischen Theaters selbst einen Bezug zur Postmoderne her. Es scheint somit umso gerechtfertigter, von einem Verwandtschaftsverhältnis der beiden Theorien auszugehen und eine Abhängigkeit der Postdramatik von der Postmoderne zu suggerieren. Ist das postdramatische Theater nun aber tatsächlich ein Kind der Postmoderne, so scheint sein Fortbestand in einer Zeit, in der man vom Ende der Postmoderne spricht, 56 mehr als zweifelhaft. Neben Philosophie, Geschichtsschreibung und Literaturtheorie sind auch die deutschen Bühnen und ihre Autoren bemüht, sich aus dem postmodernen Korsett der Selbstreflexion zu befreien. Mit der Postmoderne verabschiedet sich somit auch die Postdramatik. Junge Dramatiker wie Roland Schimmelpfennig unternehmen den Versuch, Theater wieder zur Mimesis von Welt zu machen. Die von Postdramatik und Postmoderne postulierte Referenz- und Bedeutungslosigkeit der Zeichen wird revidiert, wodurch die Möglichkeit einer Referenz auf die Wirklichkeit wieder gegeben ist. Die Welt ist scheinbar doch beschreibbar. Diese Einsicht führt zu einer Reaktivierung narrativer Prinzipien. In den Theatertexten von Gegenwartsautoren wie Dea Loher, Anja Hilling, Lutz Hübner, Moritz Rinke und Roland Schimmelpfennig sind die darstellerischen Zeichen auf eine Welt jenseits der Darstellung bezogen. Sie verweisen nicht nur auf sich selbst, sondern sind somit referentiell. So lässt sich der heutige Zeitgeist wohl nicht mehr mit dem Slogan „Simulation statt Narration“ beschreiben, er kehrt sich vielmehr in sein Gegenteil um und müsste folglich lauten: „Narration statt Simulation“. So konstatiert auch Lehmann: Das Erzählen, das in der Medienwelt verloren geht, findet eine neue Stätte im Theater. […] Der Moment der Narration kehrt auf die Bühne zurück und behauptet sich gegen das Faszinationspotential der Körper und der Medien. 57 54 Zitiert nach: Michael Börgerding: Texte antworten auf Texte oder Was ist ein Dramatiker? In: www.hfmt-hamburg.de/ theaterakademie/ texte/ 55 Lehmann 1999, S. 13. 56 Vgl. Hans-Peter Müller: Das stille Ende der Postmoderne. In: Bohrer, Scheel (Hgg.) 1998, S. 975-981. 57 Lehmann 1999, S. 197-198. <?page no="26"?> 26 Zwar meint er ein postdramatisches und damit persönlicheres Erzählen, als man es aus dem epischen Theater kennt, ein Erzählen, das sich von der Episierung fiktionalen Theaters deutlich absetzt und sich mehr als Diskurs versteht. 58 Doch ändert diese Einschränkung nichts an dem allgemeinen Befund, dass das Theater mehr und mehr zum Ort eines Erzählakts wird. Diese Tendenz konstatiert auch Hans-Peter Bayerdörfer. Er weist daraufhin, dass sich die Wiedereinführung literarischer Dramatik auf dem Theater vor allem durch den vermehrten Einsatz epischer Verfahren vollzieht. Mehr und mehr experimentiere man auf dem Theater mit neuen Erzählerrollen. 59 So hält auch der Direktor der Theaterakademie Hamburg Michael Börgerding am Erzählen fest und betont seine Bedeutung. Er sieht die Aufgabe des Theaters darin, die alten Geschichten neu zu erzählen: Dass es nichts mehr zu erzählen gäbe und alles schon durchgespielt sei, ist Unsinn oder Denkfaulheit. Entscheidend ist doch, wie man Geschichten erzählt. Ein anderes Problem ist viel schöner und spannender: dass es viel zu viel zu erzählen gibt. Genug für uns alle. 60 Die Dramengeschichtsschreibung und ihr Gegenstand, das Drama, haben Lyotards Postulat vom Ende der großen Erzählungen somit überlebt. Es scheint, als müsse Peter Schneider recht gegeben werden, der in seinem Ende der Achtziger erschienenen Aufsatz „Das Licht am Ende des Erzählens“ zu dem Schluss kommt, dass die Rede vom Ende des Erzählens der Suche nach neuen Formen des Erzählens, nicht aber seiner Absetzung dient: Die Rede von ›der Krise‹ oder ›dem Ende des Erzählens‹ erweist sich, historisch betrachtet, als ein womöglich notwendiger Umgang, um neue Arten des Erzählens zu erschließen. Tatsächlich drückt sich in solchen theoretischen Wutausbrü- 58 Vgl. Andrzej Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte. In: Theater heute 01/ 1980, S. 16-19. 59 Hans-Peter Bayerdörfer, Malgorzata Leyko, Evelyn Deutsch-Schreiner (Hgg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Tübingen 2007, S. 4-5: „[…] so experimentiert man mit neuen Erzählerrollen unterschiedlichsten Zuschnitts, mit Rollenbrechung zwischen Impersonation und kommentierenden, ironisierenden, entpersönlichten Distanzhaltungen, mit chorischen Sprechpartien oder musikalisch gehaltenen Individual- und Kollektivstimmen.“ Wie die Analyse der epischen Erzählmittel unter 3.3.3 zeigt, greift auch Schimmelpfennig vermehrt zu epischen Verfahren. Der Nebentext erfährt eine Aufwertung und dient als Reflexionsmedium. Dies veranschaulichen auch die Inszenierungsanalysen. 60 Michael Börgerding: Überlegungen zu einer Theaterakademie in Hamburg. In: www.hfmt-hamburg.de/ theaterakademie/ texte/ <?page no="27"?> 27 chen, so launisch oder grotesk sie zuweilen anmuten, ein innerer Zwang der Literatur aus: der Zwang zur Innovation. 61 1.4. Zur Forschungslage 1.4.1. Kritische Stimmen und Forschungsansätze in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Bereits Mitte der neunziger Jahre kritisierte Gerda Poschmann die „stiefmütterliche Behandlung der Dramatik bei der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur“ 62 . Folglich machte sie die Analyse und semiotische Untersuchung gerade zeitgenössischer Theatertexte zum Schwerpunkt ihrer 1997 publizierten Arbeit „Der nicht mehr dramatische Theatertext“. Während Gerda Poschmann noch von einem Trend hin zu einem nachdramatischen Theatertext spricht, der das dramatische Drama ablöse, zeigt sich heute, zehn Jahre später, ein anderes Bild. In den Theatertexten junger deutscher Gegenwartsautoren gewinnen die Bausteine des mimetischen Kunstwerks Raum, Zeit, Handlung, Figuren und Realitätsbezug wieder zunehmend an Bedeutung. „Eine Reliterarisierung hat eingesetzt, der Text ist zurückkehrt“, wie Marion Bönnighausen in ihren 2005 in der Zeitschrift Forum Modernes Theater erschienen Betrachtungen zu einer Poetik zeitgenössischer Theatertexte konstatiert. 63 Diese Ansicht teilt Joachim Fiebach, der in seiner 2003 erschienen Anthologie „Manifeste des europäischen Theaters“ auf ein Wiedererstarken dramatischer Lieratur hinweist und ihr eine zentrale Bedeutung im zeitgenössischen europäischen Theater attestiert. 64 Die Entwicklung vom Drama zum Theatertext wird folglich mehr und mehr in Frage gestellt, wie auch das Fragezeichen im Titel des 2007 erschienenen Aufsatzbandes „Vom Drama zum Theatertext? “ nahelegt. 65 Poschmanns These von einem zunehmenden „Verzicht auf Figuration und 61 Peter Schneider: Das Licht am Ende des Erzählens. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur. Bundesrepublik Deutschland. Deutsche Demokratische Republik. Österreich. Schweiz. München 1988, S. 54-60, 54. 62 Poschmann 1997, S. 13. 63 Marion Bönnighausen: Theatertext - Texttheater. Betrachtungen zu einer Poetik zeitgenössischer Dramen von Gesine Danckwart und Roland Schimmelpfennig. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/ 1. Tübingen 2005, S. 65-76, 65. Vgl. Peter Simhandl: Theatergeschichte in einem Band. Mit Beiträgen von Franz Wille und Grit van Dyk. 2. Aufl. Berlin 2001, S. 494: „Text ist wieder zu einem wichtigen Bestandteil des Welt- Theaters der neunziger Jahre geworden.“ Vgl. Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 10-14. 64 Joachim Fiebach: Manifeste des europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Theater der Zeit. Recherchen Bd. 13. Berlin 2003, S. 352-355. 65 Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007. <?page no="28"?> 28 Narration“ 66 scheint somit überholt zu sein. Das von Hans-Thies Lehmann 1999 mit seinem Buch „Postdramatisches Theater“ ausgerufene Zeitalter der Postdramatik, 67 dessen Höhepunkt in den achtziger Jahren lag, neigt sich offenbar dem Ende zu. Die derzeitige Entwicklung ruft eine Zukunftsvision Heiner Müllers aus dem Jahr 1989 in Erinnerung. In einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Robert Weimann äußert Müller die Vermutung, „daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird.“ Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine archaische Position, aber mir scheint […], daß wir im Theater noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet haben, dass Texte da noch immer nicht als Material, noch immer nicht als Körper gebraucht worden sind. […] ich meine, daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird. 68 Ob der Revolutionär Heiner Müller dabei an eine Wiederkehr des Textes im dramatischen Gewand gedacht hat, ist jedoch fraglich. In Theater- und Wissenschaftskreisen mehren sich seit Ende des 20. Jahrhunderts die Stimmen, die eine „Rückbesinnung des Theaters auf seine ureigensten Darstellungsmittel“ 69 fordern und Reliteralisierungstendenzen sowie eine Rehabilitierung des Autors begrüßen. 70 Von der Aufwertung des Autorbegriffs zeugt auch eine 1997 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft einberufene Tagung, die sich der Frage „Rückkehr des Au- 66 Poschmann 1997, S. 260. 67 Vom Kenner des Lehmannschen Werkes mag an dieser Stelle der Einwand laut werden, Lehmann habe mit seinen Ausführungen zum postdramatischen Theater keinen Normierungsversuch angestrebt. Er selbst betont dies ausdrücklich (Lehmann 1999, S. 27). Gegner der Lehmannschen Thesen verkennen dies jedoch oft. Auch Patrick Primavesi ist es daher ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem von Lehmann eingeführten Begriff um eine „Arbeitsformel zur Beschreibung verschiedener neuer, performance-naher Theaterformen“ handelt. Der Begriff dürfe nicht dogmatisch als „endgültige Abkehr vom dramatischen Text“ verstanden werden. Siehe: Patrick Primavesi: Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.) 2004, S. 9. Der Einwand erscheint berechtigt, doch kann ihm entgegengehalten werden, dass Lehmann das postdramatische Theater in seinem Buch zum „Paradigma der Gegenwart“ (Lehmann 1999, S. 25) erhebt und es somit gewissermaßen institutionalisiert. Darüber hinaus macht er das „Erlöschen genau dieses Dreigestirns von Drama, Handlung und Nachahmung“ zur Grundlage des von ihm beschriebenen neuen Theaters (Lehmann 1999, S. 55). 68 „Gleichzeitigkeit und Repräsentation“. Robert Weimann im Gespräch mit Heiner Müller. In: Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht (Hgg.): Postmoderne - Globale Differenz. Frankfurt/ M. 1991, S. 182-207, 195. 69 Michael Schneider: Simulation und Inzucht. Das Theater als durchgedrehtes Novitätenkarussell. In: Lothar Schöne (Hg.): Mephisto ist müde. Welche Zukunft hat das Theater? Darmstadt 1996, S. 31-54, 54. 70 Vgl.: Lothar Schöne: Theater und ähnliche Perversitäten. Eine Polemik. In: ders. (Hg) 1996, S. 55-64. Vgl. Pavis: Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrhunderts. In: Fiebach (Hg.) 1999, S. 29-35. <?page no="29"?> 29 tors? “ widmete. Die dort vertretenen Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass man das Fragezeichen im Titel streichen könne. Zwei Jahre später wurden die Tagungsbeiträge somit unter dem Titel „Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs“ veröffentlicht. 71 Nach Meinung der Herausgeber sei es an der Zeit, das Dogma vom intentionalistischen Fehlschluss zu revidieren. In der Einleitung zu ihrem Sammelband verteidigen sie den im Zuge der poststrukturalistischen Kritik so sehr desavouierten Autorbegriff 72 als legitime wissenschaftliche Analysekategorie: Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird. Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demonstriert vielmehr legitime, ja notwendige Verwendungsweisen des Autorbegriffs, die von der Theoriediskussion nicht angemessen wahrgenommen werden. 73 Am Ende der Einleitung fassen sie die dem Band zugrunde liegende Position dann noch einmal zusammen: Es wird deutlich, daß der Autorbegriff weder unreflektiert verwendet werden kann, wie oft in der traditionellen Literaturwissenschaft der Fall, noch pauschal zu verabschieden ist. Der Bezug zwischen Autor und Text ist solange als sinnvolle Analysekategorie anzuerkennen, bis das Gegenteil erwiesen ist und dieser Nachweis nicht mit den kaum konsensfähigen philosophischen Prämissen der autorkritischen Positionen belastet ist. 74 Nach Jahren der massiven Autorkritik zeichnet sich im Theoriediskurs somit eine Rückkehr des Autors ab, die Simone Winko wie folgt begründet: Die literaturwissenschaftliche Praxis zeigt, daß trotz der theoretischen Schwierigkeiten und trotz der teilweise vernichtenden Kritik an intentionalistischen Konzepten dennoch - wenn auch oftmals implizit - an ihnen festgehalten wird. Die Funktionen und Leistungen, die sie für den interpretierenden Umgang mit Texten erfüllen, müssen besonders wichtig sein. Bereits dieser Befund lohnt eine erneute Aufnahme der Diskussion. Dazu kommt, daß die Probleme autorintentionalistischer Argumentation, wie viele Probleme in der Literaturwissenschaft 71 Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hgg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. 72 Simone Winko macht in ihrer „Autor und Intention“ übertitelten Einführung zum ersten Themenblock des Sammelbandes darauf aufmerksam, dass die poststrukturalistische Verabschiedung des autorintentionalistischen Konzepts nicht auf Basis einer wissenschaftlichen Untersuchung stattfand, sondern eine Folge der sprach- und subjektkritischen Prämissen der damaligen Zeit darstellte. In: Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999 S. 39-46, 43. 73 Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999, S. 4. 74 Ebd., S. 34. <?page no="30"?> 30 zumindest in Deutschland 75 nicht genau genug analysiert und vorschnell ad acta gelegt worden sind. 76 Parallel zur postulierten Rückkehr des Autors wächst die Kritik am postdramatischen Theater, dem man Elitentum, Kunstlosigkeit und Ideenarmut sowie den ihm fehlenden Zuschauerbezug vorwirft. 77 Lothar Schöne beschreibt die Wirkung des postdramatischen Theaters der neunziger Jahre wie folgt: Große Gefühle setzt die Bühne nicht mehr frei, allenfalls ein wenig Gedankenakrobatik, ein paar Anregungen für den Heimweg, den man mürrisch antritt […] An den großen Bühnen, so scheint es, wird Theater nur noch für einen kleinen Kreis von Eingeweihten zelebriert: die Kritiker. 78 Der Überdruss an einer als solipsistisch empfundenen postdramatischen Theaterkunst und der Wunsch nach Veränderung sind hier deutlich zu spüren. An anderer Stelle werden Schönes Ausführungen noch drastischer: […] mit theatralischem Gegrunze […] darf man als Zuschauer schon hochzufrieden sein. Denn noch öfter als gegrunzt wird kommentiert. Mumienanbetung findet statt, Proseminar im Theater, gepflegte Langeweile, also der Gipfel an Perversität. Miserable Philologen haben die Theater an sich gebracht, also umgebracht. Kopfungeheuer. 79 Stattdessen fordert Schöne, wie auch Mitautor Michael Schneider, 80 die Rückkehr der Autoren, um das Theater aus dem Zustand der „Belanglosigkeit“ zu befreien und die dafür verantwortlichen „Regie-Divas“ daraus zu vertreiben. 81 Gegen Ende seines Aufsatzes legt Schöne dar, wie er sich die Zukunft des deutschen Theaters vorstellt, die für ihn nur in der Rückkehr des Dramas bestehen kann. Beenden wir endlich die Heuchelei um unsere Staatsbühnen, das edle Getue um die hehre Kunst. […] Es ist doch nicht wahr, dass es keine begabten jungen Dramatiker gebe, dass das Dramatische überholt sei oder auch nur verschollen. Unter der Oberfläche unseres kanalisierten Lebens schlängelt sich die Spur der 75 An dieser Stelle verweist Winko in einer Fußnote auf die anhaltende intentionalistische Tradition im angelsächsischen Raum und nennt als Referenz den folgenden Sammelband: Gary Iseminger (Hg.): Intention and Interpretation. Philadelphia 1992. 76 Simone Winko: Einführung: Autor und Intention. In: Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999, S. 39-46, 41. 77 Lothar Schöne: Fürs Sterben sind andere zuständig. In: ders. (Hg.) 1996, S. IX-XI, IX. 78 Ders.: Theater und ähnliche Perversitäten. In: ders. (Hg.) 1996, S. 55. 79 Ebd., S. 56-57. 80 Schneider: Simulation und Inzucht. In: Schöne (Hg.) 1996, S. 31-54, 54. 81 Ebd., S. 57, 59. <?page no="31"?> 31 dramatischen Mäander. Das Theater ist nur deshalb zu einer Randerscheinung des kulturellen Lebens geschrumpft, weil diese Spur nicht freigelegt wird. 82 Der Schluss der Polemik liest sich als klares Plädoyer für ein dramatisches Theater, womit sich der Autor in die Reihe der frühen Verteidiger der dramatischen Kunst stellt, die auf die existierende dramatische Nachwuchsgeneration und ihre Werke aufmerksam zu machen suchte. 83 Erst ein Jahrzehnt später greifen Wissenschaftler wie Birgit Haas und Nikolaus Frei seine Forderungen auf und vertiefen sie. 84 Kritik an der Vernachlässigung des dramatischen Theaters wird im Zuge der neunziger Jahre jedoch nicht nur auf Seiten der Wissenschaft laut, sondern auch renommierte Theaterleute wie Thomas Ostermeier äußern ihren Unmut über die postdramatische Aufführungspraxis. Wie Schöne plädiert auch er für eine Aufwertung der Rolle der Autoren sowie für eine Rückbesinnung auf Fabeln, Figuren und Konflikte: Die Verbindungslinie des Theaters zur Welt ist der Autor. […] In einer Situation, in der das deutsche Ideendrama um verbrauchte Ideologien rotiert und die seltsamsten altherrlichen Sumpfblüten treibt oder in höchster intellektueller Selbstreflexion dahindämmert oder in eitler Sprachverliebtheit ohne Idee oder Anliegen onaniert oder einfach nur harmlos ist, brauchen wir Autoren, die ihre Augen und Ohren für die Welt und ihre unglaublichen Geschichten öffnen und schärfen; Autoren, die eine Sprache finden für Stimmen, die noch nicht gehört wurden, Figuren finden für Menschen, die noch nicht zu sehen waren, Konflikte für Probleme finden, über die noch nicht nachgedacht wurde, Fabeln finden für Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind. 85 Wie dieses Plädoyer eines Regisseurs für die schöpferische Kraft des Autors belegt, sind die Zeiten des „avancierten Regietheaters“ überwunden, in denen sich die Regie gegenüber Autor und Text zu autonomisieren suchte. Waren Regisseure wie Edward Gordon Craig zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch darum bemüht, sich vom Primat des literarischen Textes zu befreien und die Retheatralisierung des Theaters voranzutreiben, 86 die in der Performance-Theorie von Richard Schechner gipfelte; 87 so wird am Ausgang des Jahrhunderts der Ruf nach dem Autor und seiner Fähigkeit, Geschichten in Worte zu fassen, wieder laut. Mit seiner Forderung nach Fabeln und Konflikten sowie Figuren, die diese auszutragen haben, distanziert sich Ostermeier von der postdramatischen Theorie und beschwört die 82 Schöne: Theater und ähnliche Perversitäten. In: ders. (Hg.) 1996, S. 63. 83 Vgl. Simone Schneider: Passende Worte. Ein Bericht. In: Theater der Zeit 05/ 1999, S. 31. 84 Haas 2007, S. 19-20. Frei 2006, S. 11-17. 85 Thomas Ostermeier: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. In: Theater der Zeit 07/ 08 1999, S. 10-15, 12f. 86 Vgl. Edward Gordon Craig: Über die Kunst des Theaters. Berlin 1969. 87 Richard Schechner: Essays on Performance Theory 1970-1976. New York 1977. <?page no="32"?> 32 traditionellen Konstituenten des Dramas herauf. Indem er die Handlung der Selbstreflexion voranstellt, argumentiert er ganz im Sinne Sartres, der das Wesen des Theaters folgendermaßen bestimmt: […] wenn man sich fragen will, was das Theater ist, so muss man sich fragen, was eine Tat ist, weil das Theater die Tat darstellt und nichts anderes darstellen kann. 88 Doch nicht nur Thomas Ostermeier plädiert für die Rückkehr zur mimetischen Kunst und fordert für das Theater der Zukunft ein „Mehr an Realität“ 89 , auch Gegenwartsdramatiker wie John von Düffel teilen diese Ansicht. In einem Interview, in dem er nach den Charakteristika des Theaters der neunziger Jahre befragt wird, weist er daraufhin, dass die Suche nach einer neuen Art von gesellschaftlicher Auseinandersetzung im Zentrum der zeitgenössischen Stücke stehe. Etliche junge Autoren seien bestrebt, Themen der Wirklichkeit aufzugreifen und realistische Geschichten zu erzählen. 90 Von Düffel begrüßt diese Entwicklung, die er als Wende von der Form zum Inhalt charakterisiert: Als Theatermacher bin ich froh über diese Tendenz, denn man hat wenig Lust, sich ausschließlich mit Sprach- und Formexperimenten herumzuschlagen - weniger Kunst, mehr Inhalt. 91 Das Abrücken von „den typisch deutschen Formproblemen“ 92 habe auf Zuschauerseite zu einem verstärkten Interesse an deutschsprachiger Dramatik geführt. 93 Neben John von Düffel setzt sich auch Dea Loher für die Dominanz des Inhalts über die Form und für den Erhalt des ganzheitlichen Kunstwerks ein. In einem Gespräch mit Juliane Kuhn übt sie scharfe Kritik an der postmodernen Aufsprengung der Form und wendet sich somit auch gegen die Postdramatik, die, wie Lehmann betont, die Form dem Inhalt voranstellt. 94 Loher wirbt für ein Theater, das seine gesellschaftliche Funktion ernst nimmt, 95 sich den Problemen der Menschen widmet und klar Position bezieht. Wie Peter Bürger in seiner Kritik der jede Sinnsetzung zulassenden 88 Jean-Paul Sartre: Episches und dramatisches Theater. In: ders. 1979, S. 84. 89 Ostermeier: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. In: Theater der Zeit 07/ 08 1999, S. 10-15. 90 John von Düffel, Franziska Schößler: Gespräch über das Theater der neunziger Jahre. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.) 2004, S. 42-51, 43. 91 Ebd., S. 47. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 44. 94 Lehmann 1999, S. 106-108. 95 Vgl. Thomas E. Schmidt: Sechs Thesen zum deutschen Theater. In: Peter Iden (Hg.): Warum wir das Theater brauchen. Frankfurt/ M. 1995, S. 10-14, 10. <?page no="33"?> 33 Neoavantgarde 96 warnt sie vor dem Abrutschen in die Beliebigkeit und äußert ihren Unwillen gegenüber dem „postmodernen Orientierungslosigkeitsgefasel“. 97 In Anlehnung an Hegel hält sie es für die Aufgabe der Kunst, zwischen dem Individuum und der gesellschaftlichen Totalität zu vermitteln und eine Einheit offen zu legen, die im alltäglichen Leben nicht sichtbar ist. Ziel ihrer Theaterarbeit ist es, einen Dialog mit dem Zuschauer zu führen und ihn zum kritischen Hinterfragen anzuregen. 98 In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises 1997 fordert Loher dazu auf, „die Welt als eine durch die Mittel der Kunst veränderbare zu begreifen“, 99 womit sie dem von Lehmann stark gemachten postmodernen Diktum der Verabschiedung des souveränen Subjekts entgegentritt. 100 So thematisieren auch Lohers Stücke nicht das Ende der menschlichen Autonomie, sondern stellen den tätigen Menschen ins Zentrum, der in der Lage ist, in die Geschichte einzugreifen. 101 Es scheint, als bewahrheite sich eine Vermutung Jürgen Flimms, der sich im Jahr 1995 mit Blick auf die Zukunft des Theaters wie folgt äußerte: Vielleicht ist es das Alte, das neu sein kann, wer hätte es gedacht; den eigentümlichen Ort also beschreiben, ja Geschichten erzählen, die der Flucht vor der Welt, aber auch energische Begegnungen, die Kindheit immer noch in den Taschen. 102 Das Zitat ruft das von Botho Strauß in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte Diktum in Erinnerung: […] es kommt immer darauf an, zu beweisen, dass die Modelle des Theaters älter, stärker und überlebensfähiger sind, als alles, was wir ihnen aus unserer Gegenwart zutragen können. 103 96 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/ M. 1974, S. 85. 97 Nicht Harmonisierung, sondern Dissonanz. Juliane Kuhn im Gespräch mit Dea Loher. In: Jens Gross, Ulrich Khuon (Hgg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover, Niedersächsisches Staatstheater. Hannover 1998, S. 18-22, 21. Auch der Dramaturg Sebastian Huber äußert sich in einer von der Zeitschrift „Die deutsche Bühne“ 2001 organisierten Gesprächsrunde zur neuen Dramatik, abgedruckt unter dem Titel „Wir Gralsritter“, kritisch gegenüber der „postmodernen Spielerei“ der vergangenen Jahre und fordert die Auseinandersetzung mit sozialen Themen. In: Die deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2001, S. 22-27, 25. 98 Nicht Harmonisierung, sondern Dissonanz. In: Gross, Khuon (Hgg.), S. 21. 99 Dea Loher: Rede zur Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises. In: Gross, Khuon (Hgg.) 1998, S. 224-229, 224. 100 Vgl. Lehmann 1999, S. 322. 101 Haas 2007, S. 182. 102 Jürgen Flimm: Die Dämonen verjagen. In: Iden (Hg.) 1995, S. 54-57, 56. 103 Botho Strauß: Paare, Passanten. In: ders.: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Frankfurt/ M. 1987, S. 245. <?page no="34"?> 34 Bereits 1970 plädierte Strauß für eine Rückbesinnung auf die realistische Tradition im Stile von Tschechow, Kortner und Noelte, in deren Werken sie den vollkommensten Ausdruck erlangt habe. Strauß konstatiert: […] daß allein das altmodische realistische Theater, wenn es auf Kortners Dringlichkeit, wenn es auf Noeltes unerbittlichen Diskretionszwang stößt, Aufführungen hervorbringt, die einen nicht in einen Migräneanfall stürzen, sondern, im Gegenteil, die einen erhellen und anregen: über Tradition, Realismus und Theater gründlicher nachzudenken als bisher. 104 Der von Patrick Primavesi aufgestellten Behauptung, „dass das dramatische, eine Handlung zwischen Rollenfiguren fixierende Werk längst nicht mehr der Hauptzweck und -gegenstand des Theaters ist“, muss daher an dieser Stelle widersprochen werden. 105 1.4.2. Der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts Wie oben bereits angemerkt, gewinnt die neue deutsche Dramatik seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. 106 Auf Zuschauerseite werden vermehrt Forderungen nach einem dramatischen Theater laut, das sich kritisch mit den wachsenden gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt. So konstatiert die Regisseurin Andrea Breth im Dezember 2004: 104 Ders.: Zehn unfertige Absätze über Tschechow, Noelte und das realistische Theater. In: ders.: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Frankfurt/ M. 1987, S. 240-243, 243. 105 Primavesi: Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen. In: Arnold, Davidowski (Hgg.) 2004, S. 9. Und auch der Skepsis eines Peter Simhandls muss widersprochen werden, der Thomas Ostermeiers Anknüpfen an alte Realismus- Traditionen noch 1999 mehr belächelt, als dass er in ihnen eine ernst zu nehmende Entwicklung des Gegenwartstheaters sieht: Über Ostermeiers Anknüpfen an sozialrealistische Traditionen schreibt Simhandl mit leicht ironischem Unterton: „Es will also endlich wieder jemand die Welt verändern und stellt sich ihr mit dem guten alten fabelzentrierten Geschichtenerzählen. Das ist sicher ehrenwert, auch wenn es bisweilen etwas naiv wirkt, als hätte es dies all die Jahre zwischen 1968 und heute nicht gegeben, als wäre die Postmoderne ein folgenloser Spuk gewesen, als hätten die Neunziger (und weite Teile der Achtziger) nicht stattgefunden. Mal sehen, was die Welt in den nächsten Jahren dazu sagen wird.“ In: Simhandl 2001 [1999], S. 354. Die weitere Theatergeschichte gibt Ostermeier recht und stellt sein Anliegen als eine durchaus ernst zu nehmende Entwicklung im deutschen Gegenwartstheater hin. 106 Vgl. „Wir Gralsritter“. Detlef Brandenburg im Gespräch mit Friedrich Schirmer und seinen Dramaturgen Sebastian Huber, Michael Propfe, Kekke Schmidt, Ingrid Trobitz, Florian Vogel. In: Die deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2001, S. 22-27, 22: „DETLEF BRANDENBURG Neue Dramatik, vor allem „junge“ Dramatik, steht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und mit der Invasion der wilden Engländer via Berlin wurde sie zum Trendlabel.“ <?page no="35"?> 35 Es gibt ja ein erfreuliches Interesse, geradezu einen Hunger nach neuer Dramatik. Die Menschen suchen in den Zeiten der Krise und Gefährdung mehr denn je nach Antworten und Fragen, nach einer Benennung, Spiegelung und Transformation ihrer Probleme. 107 Parallel zu dieser Entwicklung lässt sich mit Beginn des 21. Jahrhunderts auch ein deutlich verstärktes wissenschaftliches Forschungsinteresse an der Trendwende im deutschen Gegenwartstheater verzeichnen. Es mehren sich die Arbeiten, die sich kritisch mit der Postdramatik und ihrem dramatischen Erbe auseinandersetzen. Benno Wirz spricht in diesem Zusammenhang von einer im deutschsprachigen Raum geführten „Debatte“, in deren Zentrum die Gegenüberstellung von dramatischem und postdramatischem Theater stehe. 108 Den Grund für die Heftigkeit der Diskussion sieht Wirz jedoch nicht in dem vermehrten Auftauchen dramatischer Texte, sondern in der von Lehmann versäumten positiven Definition des Postdramatischen. Die negativ gehaltene Bestimmung des postdramatischen Theaters als ein nicht-dramatisches Theater, habe dazu geführt, dass man in ihm immer nur das Gegenteil des dramatischen Theaters sehe, nicht aber sein eigentliches Wesen erfasse. Wirz plädiert daher für eine Neubestimmung des Postdramatischen Theaters als ein „Theater der unbegrenzten Zeichenmöglichkeiten“, welches im Unterschied zum dramatischen Theater die Zeichen nicht nur in inhaltlicher Hinsicht verwende, sondern „von Zeichen in allen möglichen Hinsichten Gebrauch macht“. 109 Unabhängig von Wirzs Verteidigungsrede für den von Lehmann eingeführten Begriff lässt die Dramenproduktion der letzten Jahre die andauernde Gültigkeit des postdramatischen Paradigmas jedoch in Frage stellen. So titelt auch „Theater heute“ in der Oktoberausgabe des Jahres 2008 mit „Die süßen Versprechen der Postdramatik - Was kommt nach der Postdramatik? “ und stellt Pro- und Contra-Stimmen zum Postdramatischen Theater einander gegenüber. Während Bernd Stegemann als Verfechter des 107 Andrea Breth: Wohin treibt das Theater? In: Theater heute 12/ 2004, S. 16-19, 19. Diese Ansicht vertreten auch die Autoren der 2008 erschienenen Einführung in die Theaterwissenschaft Jörg von Brincken und Andreas Englhart. Einen der Gründe für die Rückkehr des Dramatischen und die Sehnsucht der Menschen nach klar strukturierten Geschichten und handlungsfähigen Individuen sehen sie in den Ereignissen des 11. September 2001: „Insbesondere seit dem 11. September scheint sowohl in der Dramenlandschaft als auch in der Regiepraxis wieder das handlungsfähige Individuum und sein anthropologisch grundiertes Motiv, Geschichten zu konstruieren und die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt zu suchen, gefragt zu sein, während die Postmoderne zunehmend historisiert wird.“ In: Jörg von Brincken, Andreas Englhart (Hg.): Einführung in die moderne Theaterwissenschaft. Darmstadt 2008, S. 98. 108 Benno Wirz: Das Problem des postdramatischen Theaters. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/ 2. Tübingen 2005, S. 117-132. 109 Ebd., S. 126-127. <?page no="36"?> 36 dramatischen Theaters auftritt und ein klares Plädoyer für die Rückkehr der Mimesis ausspricht, in der er die Stärke des Theaters sieht, 110 verteidigt Florian Malzacher das postdramatische Theater als „ein Theater, das sich nicht einengen lässt von Zwangsdramaturgien, Text und Narrationsdominanz, wohltemperiert besetzten Ensembles, Schauspiel- und Zuschaukonventionen.“ 111 Mit seiner Verteidigung des postdramatischen Theaters schreibt Malzacher die Konfliktgeschichte von Theater und Literatur fort. Dabei übersieht er jedoch die sich abzeichnende Aufhebung der Dichotomie von Text und Theater, auf die Stefan Tigges in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Dramatische Transformationen“ hinweist: Wurde das Verhältnis von Theater und Literatur gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch als eine Konfliktgeschichte gelesen, in der das doppelte Bild des Verlustes, d.h. die Entdramatisierung von Theatertexten als auch der Bedeutungsschwund von Sprache im Theater in Form visueller Dramaturgien »dramatisch« präsent war, so zeichnet sich eine schrittweise produktive Entschärfung des Konfliktes ab, die zu einer Aufhebung der Dichotomien von Text und Theater führt, den Werkbegriff transformiert und ehemalige ästhetische Grenzziehungen zwischen den künstlerischen Gattungen und Formaten durchlässiger erscheinen lässt. 112 Zur Bekräftigung seiner These von einer gegenwärtigen Neubestimmung des so konfliktträchtigen Verhältnisses von Literatur und Theater verweist Tigges auf Theresia Birkenhauers 2005 erschienene Arbeit „Schauplatz der Sprache - das Theater als Ort der Literatur“. Darin fordert die Autorin: […] ein neues Verständnis des Theaters als einer Kunst, die die Relationen und Grenzen zwischen Literatur und Theater, Sprachbildern und visuellen Bildern, die semantischen Qualitäten von Objekten, Bewegungen und Räumen ebenso erkundet wie die raum-zeitlichen Qualitäten von Sprechprozessen. 113 Mit ihrer Beschreibung des Theaters als literarische Praxis unternimmt Theresia Birkenhauer den Versuch, eine neue Theorie des Textes im Theater zu begründen. Ausgehend von der Überzeugung, dass der alte Konflikt zwischen Theater und Literatur an ein Ende gekommen ist, 114 untersucht 110 Bernd Stegemann: Nach der Postdramatik. In: Theater heute 10/ 2008, S. 14-21, 14. Eine ungekürzte Fassung des Aufsatzes findet sich unter: www.hfmt-hamburg.de/ theaterakademie/ texte/ 111 Florian Malzacher: Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler. In: Theater heute 10/ 2008, S. 8-13, 10. 112 Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Bielefeld 2008, S. 11. 113 Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache - das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, echov, Genet, Beckett, Müller. Berlin 2005, S. 322. 114 Theresia Birkenhauer: Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion. In: Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 15-23, 15. <?page no="37"?> 37 Birkenhauer neue Formen und Funktionen inszenierter Sprache im Gegenwartstheater. In Abgrenzung von dem traditionellen Konzept des Literaturtheaters beschreibt sie das Theater als Ort der Literatur, an dem sich Sprache als literarische Praxis erfahren lässt: In diesem Sinn ist das Theater nicht der Ort der empirischen Realisierung von Literatur - im üblichen Sinne des Literaturtheaters -, sondern es ist selbst eine literarische Praxis, insofern die der Form Bühne eigenen Modalitäten eine „Arbeit an der Sprache“ (Barthes) ermöglichen, die sie auf unterschiedliche Weise erfahrbar macht. […] Die Bühne ist ein Ort, an dem potenziell mit jeder Inszenierung neue Sprachspiele entstehen. 115 Der Suche nach neuen Ansätzen einer Theoriebildung des Textes verschreibt sich auch der von Stefan Tigges herausgegebene oben zitierte Sammelband. Ausgehend von der Überzeugung, dass die postdramatische Theorie für die Beschreibung gegenwärtiger Schreib- und Aufführungsstrategien nur bedingt tauglich ist, machen Tigges und die übrigen Autoren des Bandes es sich zur Aufgabe, die terminologischen Fixierungen zu durchbrechen und auf dramatische Transformationsprozesse aufmerksam zu machen. 116 Ein Vorhaben, das Tigges in seiner Einleitung zum Band wie folgt beschreibt: Dramatische Transformationen versucht die (inszenierten) Texte durch verschiedene theoretische und praktische Blickwinkel auf unterschiedlichen Ebenen in ein schärferes Licht zu rücken und sich dabei durch ein wissenschaftlichkünstlerisches Format produktiv von der Methodik und Rhetorik der gängigen Rezeptionspraxis abzusetzen, um einerseits - in Analogie zum Titel - (post)dramatische Ästhetiken auf ihren von der Theaterwissenschaft möglicherweise voreilig verabschiedeten dramatischen Grund- und Restgehalt zu befragen bzw. die anhaltenden dramatischen Transformationsprozesse zu orten und andererseits die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Text bzw. die (künstlerische) Sprache zu lenken, ohne dabei in traditionell längst überwundene Muster zurück zu fallen. 117 Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt folglich nicht auf dem Nachweis postdramatischer Verfahren, sondern vielmehr auf der Frage, inwieweit zeitgenössische Autoren die dramatische Tradition produktiv nutzen. Damit entspricht die gewählte Blickrichtung der Untersuchungsperspektive der vorliegenden Arbeit. Der im Folgenden zitierten Grundannahme des Sammelbandes kann daher vorbehaltlos zugestimmt werden: Um gegenwärtige Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater überhaupt analysieren zu können, so eine Grundannahme dieses Ban- 115 Ebd., S. 22. 116 Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung. In: Tigges (Hg.) 2008, S. 9-27, 9f. 117 Ebd., S. 10. <?page no="38"?> 38 des, erweisen sich Rückblicke auf die dramatischen und ästhetischen Transformationsprozesse mit der Frage nach Traditionsentkopplungen oder -ankopplungen als unabdingbar. 118 Dem Nachweis dramatischer Formen im deutschen Gegenwartstheater verschreibt sich auch die 2007 veröffentlichte Forschungsarbeit „Plädoyer für ein dramatisches Drama“ der Autorin Birgit Haas. 119 Wie der Titel der Arbeit nahelegt, geht Birgit Haas gezielt und provokant gegen die Thesen Lehmanns und Poschmanns vor und sucht deren Argumente für ein Paradigma des postdramatischen Theaters 120 im Einzelnen zu widerlegen. Sie ist der festen Überzeugung, dass das dramatische Theater auch in den siebziger und achtziger Jahren nie aufgehört hat zu existieren und lässt Lehmanns These von der „Zerstörung der Grundlagen des dramatischen Theaters“ 121 und dem „Erlöschen des Dreigestirns von Drama, Handlung und Nachahmung“ 122 dadurch fragwürdig erscheinen. Folglich situiert sie die Anfänge des Paradigmenwechsels, der die Rückkehr zum Drama einleitet, schon in die Mitte der neunziger Jahre: In dieser Zeit sei die Zahl junger Theaterautoren, darunter auch Schimmelpfennig, rasant gestiegen, die sich von der Postmoderne und der poststrukturalistischen Dekonstruktion abwandten und die Rückkehr zu einem neuen realistischen Theater der Innerlichkeit herbei führten. 123 Die in der Nachfolge Elfriede Jelineks stehende „Sprachflächendramatik“ der achtziger Jahre sei von einer Dramatik abgelöst worden, die das Individuum in den Vordergrund rücke, 124 sich folglich wieder mit der konkreten Lebenswelt der Menschen ausei- 118 Ebd., S. 11f. 119 Die Autorin hat sich vor allem mit ihren Arbeiten zum politischen Theater des 20. und 21. Jahrhunderts (Birgit Haas: Modern German Political Drama 1980-2000. Rochester, New York u.a. 2003. Dies.: Theater der Wende - Wendetheater. Würzburg 2004.) und als Verfasserin der ersten Monographie zu Dea Loher (dies.: Das Theater von Dea Loher. Brecht und (k)ein Ende. Bielefeld 2006.) einen Namen gemacht. 120 Vgl. Lehmann 1999, S. 25-27. 121 Ebd., S. 24. 122 Ebd., S. 55. 123 Haas 2007, S. 21f., 178, 180. Vgl. Jörg Bochov: Das zeitgenössische Theater und seine Autoren. Verwandlungen des Theaters - Teil 5. Deutschlandfunk Essay und Diskurs, 03.06.2007. In: www.dradio.de/ dlf/ sendungen/ essayunddiskurs/ 631248/ 124 Vgl. Von Brincken, Englhart 2008, S. 106: „In der Mehrzahl der neuen Stücke der letzten Jahre erlauben die Figuren durchaus eine Identifikation, obwohl sie der bewussten Dezision nicht entkommen. Das Mit-Leiden und die Erkenntnis von Ähnlichkeiten bleiben möglich, da ihre Lebenswelten bekannt erscheinen, wiewohl sie verfremdet werden.“ Vgl. Simhandl 2001 [1999], S. 354. In seinen Ausführungen zu den Entwicklungen des Theaters der neunziger Jahre hält Simhandl fest, es sei unter der Führung von Thomas Ostermeier ein Wiederaufleben einer sozialrealistischen Tradition zu beobachten und damit einhergehend die Rückkehr des handlungsfähigen, wenn auch sozial ohnmächtigen Individuums. <?page no="39"?> 39 nandersetze und zu einer durchkonstruierten Dramenform zurückfinde. 125 Im Zuge dieser Entwicklung, so die Autorin, hätten die für das Drama konstitutiven Elemente Dialog, Interaktion und Handlung eine starke Aufwertung erfahren. 126 Diese These entspricht der Schilderung von Simone Schneider, die in der Märzausgabe von „Theater der Zeit“ des Jahres 1999 in einem Rückblick auf die Theatersituation der Neunziger schreibt: […] eine neue Generation junger Dramatiker meuterte mit unprätentiösen Geschichten sanft gegen die Dominanz der Vordenker […] Jenseits des großen Weltenentwurfs schärften die neuen Stücke den Blick auf die Vielfältigkeit der Welt. Statt Geschichte wurden Geschichten gezeigt, Menschen in ihrer Unmittelbarkeit […] Entgegengesetzt der „avantgardistischen Moderne“, mit Lust an Fabel und Figur zog Lebenswirklichkeit ins deutschsprachige Drama. 127 Auch Peter Simhandl weist in seiner 1999 erschienen Theatergeschichte auf die Ende der neunziger Jahre auf sich aufmerksam machende junge Autorengeneration hin, die das Theater mit neuen dramatischen Texten bedient. „Wiederbegegnung mit einem alten Bekannten. Neue dramatische Texte“ übertitelt er sein Resümee zum Welt-Theater der neunziger Jahre und schreibt den Ausführungen von Birgit Haas entsprechend: Seit Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zeigt sich sehr deutlich eine andere Tendenz: Junge Dramatiker erstürmen mit ihren herrlich provozierenden Texten die Bühnen. 128 Neben Haas, Schneider und Simhandl situieren auch die Herausgeber der jüngst erschienenen Darstellung zum Theater seit den 1990er Jahren Friedemann Kreuder und Sabine Sörgel den Paradigmenwechsel, oder anders gesprochen das Aufleben eines neuen Realismus, in die Mitte der neunziger Jahre. In ihrer Einleitung zum Sammelband schreiben sie: In Abgrenzung zur Tendenz des performativen Wechsels des Theaters seit den 1960er Jahren hin zum postdramatischen Aufführungstext lässt sich seit Mitte der 1990er Jahre eine gegenläufige Tendenz der Rückkehr des Autors an die europäischen Theaterhäuser verzeichnen. Der dramatische Text tritt dabei vordergründig erneut in den Mittelpunkt der Inszenierungspraxis. 129 Das zeitgenössische Drama, so die Autoren an späterer Stelle der Einleitung, habe sowohl global als auch lokal an Bedeutung gewonnen. 130 Der Ruf nach dem Autor und seiner Sicht auf die Welt liege in der durch die 125 Haas 2007, S. 212. 126 Ebd., S. 215. 127 Schneider: Passende Worte. In: Theater der Zeit 03/ 1999, S. 31. 128 Simhandl 2001, S. 494. Vgl. Christel Weiler: Postdramatisches Theater. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. von Erika Fischer-Lichte; Doris Kolesch, Matthias Warstat. Stuttgart 2005, S. 245-248, 248. 129 Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 7. 130 Ebd., S. 9. <?page no="40"?> 40 Globalisierung ausgelösten kulturellen Identitätskrise und einer damit einhergehenden wachsenden Sehnsucht nach Authentizität begründet. 131 Von einer Rückkehr des totgesagten Autors an die europäischen Bühnen und einer neuerlichen Aufwertung dramatischer Texte zeugen die Beiträge von Wilfried Floeck zum spanischen, 132 von Stefanie Schmitz zum französischen 133 , von Ludger Scherer zum italienischen 134 und von Sabine Sörgel zum deutschen Theater 135 . Rückblickend lässt sich somit Folgendes festhalten: Die neunziger Jahre bilden nicht nur in Deutschland, sondern auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern den Anfangspunkt einer Entwicklung hin zu einem wieder erstarkten dramatischen Theater, das sich einem neuen Realismus verschreibt 136 . In den vergangenen Jahren hat diese Entwicklung stetig an Intensität und Einfluss gewonnen. Heute gliedert sie sich in eine allgemeine Diskussion über das Ende der Postmoderne ein, 137 als deren Kind das postdramatische Theater gesehen werden kann. 138 Es wird Kritik an der 131 Ebd., S. 7. 132 Wilfried Floeck: Vom Regietheater zum Autorentheater? Das spanische Theater nach Franco. In: Kreuder; Sörgel (Hgg.) 2008, S. 125-137, 135: „Die Rückkehr der Autoren und die Aufwertung des literarischen Texttheaters prägen ohne Zweifel die jüngste Entwicklung des spanischen Theaters.“ 133 Stefanie Schmitz: Écriture scénique contra écriture - die Auseinandersetzung zwischen Regisseur und Dramenautor im französischen Gegenwartstheater. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 219-233, 229: „Die Rückkehr des Autors und des literarischen Textes zeichnet sich in Frankreich bereits in den 1980er Jahren ab. Im Vordergrund steht seit den 1990er Jahren das Interesse der Autoren an der Sprache und ihrer Musikalität. Regisseure wie Ariane Mnouchkine oder Patrice Chéreau, inzwischen reifer geworden, entdecken den Text neu und räumen der literarischen Vorlage wieder ihren Stellenwert ein.“ Vgl. Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999. 134 Ludger Scherer: Zwischen Avantgarde und Tradition. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 177-197, 177: „In der Vielfalt des italienischen teatro di ricerca lässt sich in letzter Zeit neben dem traditionellen Avantgarde-Gestus des Traditionsbruchs auch die Rückkehr zum dramatischen Text beobachten. Nicht mehr nur individualistische Gruppen-Performance, auch der Autor rückt ins Rampenlicht.“ 135 Sörgel: Realismus-Variationen. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 122: „Im Zuge europaweiter Workshops zur neuen Dramatik, die der Boom des englischen Theaters in den 1990er Jahren auslöste, lässt sich somit resümierend zumindest für die Biennale neuer europäischer Dramatik 2006 eindeutig eine Tendenz zur Realismus- Variation verzeichnen. […] Für das aktuelle Theater- und Kulturmagazin ist der lebende Autor sowie sein filmbares Produktionsobjekt unabdingbar geworden.“ 136 Zu den realistischen Tendenzen im Gegenwartstheater vgl.: Sörgel: Realismus- Variationen. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 117, 119 und Anneka Esch-van Kan: Die Rückkehr politischen Theaters an die Bühnen der USA und Englands. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 73-95, 89. Vgl. auch: Hans-Peter Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext? In: Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 11. 137 Vgl. Von Brincken, Englhart 2008, S. 98. 138 Vgl. Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 1-10. Vgl. Ders. (Hg.) 2005, S. 9f. Vgl. Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 200-212. Vgl. Dietmar Böhnke: Shades <?page no="41"?> 41 postmodernen, zur Dekonstruktion neigenden Inszenierungs- und Aufführungspraxis laut. So fordert etwa Robert Schuster 139 , einer der Gegner postmoderner Dekonstruktionsverfahren, die Förderung eines Theaters, das dem Zuschauer die Identifikation ermöglicht: SCHUSTER Aus unserer Perspektive ist die einzig sinnvolle Stoßrichtung die Identifikation. Durch den Dekonstruktivismus stehst du ständig über dem Bühnengeschehen und lässt dich nicht mehr auf das Erzählte ein. Irgendwie kommst du aus der Endlosschleife postmoderner Ironie gar nicht mehr raus. Eigentlich ist dann die Kunst endgültig kalt. Die Gegenbewegung ist zu versuchen, wieder in die zeremoniellen Bereiche des Theaters zu kommen. Es ist doch zu schaffen, dass jemand sich identifiziert. 140 Es stellt sich die Frage, wo genau das zwischen Postmoderne und Tradition oszillierende Gegenwartstheater zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun eigentlich steht. 141 Der von Birgit Haas in das Jahr 2003 verortete, tiefe Einschnitt in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Dramas verdeutlicht, dass es sich bei der Rückbesinnung auf die dramatische Form um einen konstant fortschreitenden Prozess handelt, der erst nach gut acht Jahren zu einer deutlichen Konsolidierung gekommen ist. Das Jahr 2003 stellt für die Autorin gerade deshalb das „Jahr der Trendwende“ dar, 142 weil die Aufwertung von Autor und Dramentext zu diesem Zeitpunkt nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, das bei der Rückkehr zum Realismus eine Vorreiterrolle übernimmt, 143 und Frankreich durchgesetzt worden sei. 144 Mit jungen Autoren wie Lutz Hübner, Lukas Bärfuß, Händl Klaus und Anja Hilling habe das deutsche Drama im Jahr 2003 zu einem realistischen of Gray: The Peculiar Postmodernism of Alasdair Gray. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 255-267. Vgl. Victoria Lipina-Berezkina: American Postmodernist Literature at the Turn of the Millennium: the Death and Return of the Subject. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 269-290. 139 Von 1999 bis 2002 hatte Schuster zusammen mit Tom Kühnel und Bernd Stegemann die künstlerische Leitung des Frankfurter Theaters am Turm (TAT) inne. Heute ist er Regieprofessor an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. 140 „Jede Auseinandersetzung mit einem Text ist eine Auseinandersetzung mit der Tradition“. Ein Gespräch mit Robert Schuster und Bernd Stegemann. In: Christa Hasche, Eleonore Kalisch, Holger Kuhla und Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hgg.): Theater an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Berliner Theaterwissenschaft, Bd. 10. Berlin 2002, S. 21-34, 28. 141 Vgl. Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 17. 142 Haas 2007, S. 180. 143 Vgl. KEKKE SCHMIDT „Und das hat die englische Dramatik, die man an der Schaubühne gespielt hat, auch wirklich geleistet: Man hat sich wieder mit gesellschaftlicher Wirklichkeit auseinandergesetzt.“ In: „Wir Gralsritter“. In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2001, S. 25. 144 Haas 2007, S. 180. Vgl. Pavis: Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrhunderts. In: Fiebach (Hg.) 1999, S. 30. <?page no="42"?> 42 Schreibstil zurückgefunden, der die Innerlichkeit der Charaktere herausstelle. 145 Rückhalt für diese These findet Haas in den Diskussionsbeiträgen des „Theater heute“ Jahrbuches des Jahres 2006, in dem die Trendwende hin zu einem Menschen bezogenen Theater diskutiert wird. 146 Und auch die Beschreibungen der neuen Stücke im Jahrbuch des Folgejahrs deuten auf eine Reliterarisierung respektive Redramatisierung des Gegenwartstheaters hin. Es sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die Rückkehr zum Drama nicht mit einem epigonalen Zurückfallen in alte Raster und dem Aufleben eines konservativen dramatischen Traditionalismus gleichzusetzen ist. Wie Hans-Peter Bayerdörfer in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen, oben zitierten Aufsatzband „Vom Drama zum Theatertext? “ verdeutlicht, wahrt das Theater bei der Rückbesinnung auf den Text durchaus seine Modernität und Eigenständigkeit: Die Bühne hat […] ihre Eigenständigkeit gegenüber der Literatur und allen von Texttraditionen hergestellten Ansprüchen profiliert. Von daher scheint die Möglichkeit naheliegend, dass sich dieses Theater - ohne seine zeitgemäße Ästhetik preiszugeben - auch wieder rückhaltlos auf Text und Sprache als Produktivfaktoren einstellen kann. Der Theatertext, den es akzeptiert, muss nicht im alten Sinne dramatisch sein, aber er kann es, und das um so mehr, je stärker auch die Unumgänglichkeit sprachlicher Kommunikation […] wieder zu Bewusstsein kommt. 147 Das an den Theatern wieder anzutreffende Modell von Texttheater trage den medialen Entwicklungen des digitalen Zeitalters Rechnung. Einerseits gehorche das Gegenwartstheater dem „Gesetz der Beschleunigung“ 148 , andereseits aber orientiere man sich wieder an avancierten Textmodellen 145 Haas 2007, S. 180. 146 Auch Stephan Grätzel hebt die anthropologische Bedeutung von Theater als Paradigma der Moderne hervor und setzt sich vehement für die Aufführung von Geschichten und Geschichte ein. In seinem Aufsatz „Theatralität als anthropologische Kategorie“ aus dem Jahr 2003 beschreibt er die Aufgabe des Theaters wie folgt: „Um diese Wirklichkeit des In-Geschichten-seins geht es also im Theater und hierin unterscheidet sich auch Theater von Nicht-Theater. […] es geht um die Geschichten, in denen das Leben spielt, es geht um die Übergänge und Bruchstellen, um die Verstrickungen und Lösungen, um die Vorgeschichte und Nachgeschichte. Das Theater spielt diese Geschichten als Geschichten, nicht als Fakten, vor oder nach, ja, es gibt den Geschichten, die nicht geschehen sind, aber geschehen sollen, Realität.“ Für Grätzel stellt das Verstricktsein des Menschen in Geschichten die Grundvoraussetzung und die Grundlage von Theater dar. Versuche, die Aufführung von Geschichten zu verhindern sind daher seiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt. Siehe: Stephan Grätzel: Theatralität als anthropologische Kategorie. In: Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte, Stephan Grätzel (Hgg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen, Basel 2003, S. 33-47, 45. 147 Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 13. 148 Ebd., S. 11. <?page no="43"?> 43 der Dramengeschichte des 20. Jahrhunderts - wodurch ein Reichtum an Innovation garantiert sei. 149 Die erneute Hinwendung zu dramatischer Literatur, die sich im Gegenwartstheater abzeichnet, geschieht folglich unter Berücksichtigung der Errungenschaften der postdramatischen Phase. 150 Dies betont auch Franziska Schößler in ihrem Beitrag zu der Aufsatzsammlung „Theater fürs 21. Jahrhundert“: Diese »Wiederkehr des Textes« bedeutet allerdings meist keine Rückkehr zu den ›großen Erzählungen‹, zu geschlossenen Fabeln und linear erzählten Geschichten, sondern geschieht beispielsweise in Form von Anekdoten. […] Findet das Erzählen auf der Bühne wieder statt, so werden dennoch die postdramatischen Tendenzen nicht aufgegeben. 151 Im Gegensatz zu Birgit Haas schließt Schößler die Wiedereinführung der von der Postdramatik verabschiedeten dramatischen Elemente Drama, Handlung und Nachahmung aus. Wie Schößler, so weist auch Anneka Esch-van Kan in ihren Ausführungen zum zeitgenössischen Theater in England und den USA darauf hin, dass eine Rückkehr zu einem stärkeren Realitäts- und Zeitbezug nicht zwangsläufig eine Rückkehr zum Drama bedeuten müsse. 152 Die Frage nach einer Rückkehr des Dramas auf die Bühnen der beiden Länder beantwortet sie mit Nein. Obwohl sich auch im zeitgenössischen Theater dieser Länder Anzeichen einer Aufwertung von Autor und Text abzeichneten, verschreibe man sich dort dennoch nicht einem bestimmten Genre oder einer bestimmten Ästhetik. 153 Am ehesten könne man das dort wieder auflebende politische Theater mit den Kategorien von Lehmanns postdramatischem Theater umschreiben. Die Zukunft politischen Theaters liege somit nicht in der „Rückeroberung der Bühnen durch das Drama“, sondern in „einer Öffnung Postdramatischen Theaters hin zu tages- und weltpolitischen Themen“ 154 . Der Versuch Anneka Eschvan Kans das wieder erstarkende politische Theater der USA und Englands mit den Kategorien des postdramatischen Theaters zu beschreiben, eines Theaters, das sich dezidiert für eine Bevorzugung der Form vor dem Inhalt ausspricht, erscheint jedoch fragwürdig. Die eindeutig teleologische Aus- 149 Ebd., S. 4. 150 Vgl.: Weiler: Postdramatisches Theater. In: Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat (Hgg.) 2005, S. 248. Sörgel: Realismus-Variationen. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 121. Sörgel macht dies unter anderem anhand der Figurenkonzeption in den Dramen des neuen Realismus deutlich. Auch Birgit Haas grenzt den neuen Realismus von dem des 20. Jahrhunderts ab. Vgl. Haas 2007, S. 216. 151 Schößler: Albert Ostermaier. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.) 2004, S. 81f. 152 Esch-van Kan: Die Rückkehr Politischen Theaters an die Bühnen der USA und Englands. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 73-95. 153 Ebd., S. 89. 154 Ebd., S. 87. <?page no="44"?> 44 richtung politischen Theaters, das politische Aufklärung anstrebt, widerspricht der Theorie eines Theaters, das sich der Energetik und nicht der Information verschreibt. 155 Der nicht zu leugnende referentielle Wirklichkeitsbezug politischen Theaters lässt sich mit der von Lehmann proklamierten Referenzlosigkeit der Zeichen nicht in Einklang bringen, 156 weshalb Lehmann die Möglichkeit einer politischen Funktionalisierung postdramatischen Theaters selbst auch auf das „Wie“ der Darstellung beschränkt. 157 Bei den von Esch-van Kan beschriebenen Formen politischen Theaters handelt es sich aufgrund der durch sie gestifteten „affektive[n] Wiedererkennung und Zusammengehörigkeit“ 158 vielmehr um Ausprägungen dramatischen Theaters, das seinen Kern in der Darstellung des menschliche Subjekts in einem Konflikt und somit in der Repräsentation von Welt sieht. 159 Wie der Blick auf die nationale und internationale Theaterforschung zeigt, ist das Plädoyer der Birgit Haas für ein dramatisches Drama keineswegs unangefochten. Kritik an Haas Ausführungen scheint insofern berechtigt, als sie das dramatische Konzept absolut setzt und das postdramatische Theater als bloße Negation dramatischer Traditionen versteht. Anstatt eine wertfreie Beschreibung des Gegenwartstheaters vorzunehmen und auf die eindeutig dramatischen Tendenzen neuer deutscher Stücke aufmerksam zu machen, wird Haas an mancher Stelle ihrer Ausführungen sehr polemisch. Die Suche nach geeigneten Kriterien zur Beschreibung zeitgenössischer Dramenentwürfe, die zwischen Dramatik und Postdramatik oszillieren, gerät darüber stellenweise in Vergessenheit. So lesen sich die ersten Zeilen von Haas Buch auch eher wie eine Kampfansage, denn als die einleitenden Worte zu einer wissenschaftlichen Studie. Die Autorin betont, ihre Ausführungen seien als „Verteidigungsrede für das in Verruf geratene Drama“ zu verstehen. Entschärfend fügt sie hinzu, ihr Buch stelle aber keine „Brandrede für eine Abschaffung der Postdramatik“ dar. Was folgt, gleicht aber dennoch stellenweise eher einer Polemik als einer wissenschaftlichen Abhandlung. Daran kann auch die Beteuerung, es gehe nicht um den Entwurf einer normativen Poetik nichts ändern. 160 Wenn Haas behauptet, Lehmanns Begriff des postdramatischen Theaters habe sich die Zerstörung der theatralischen Mittel zusammen mit Logik und Syntax „auf die Fahnen geschrieben“, so verkennt die Autorin die Absicht von Lehmanns Studie. Mehrfach betont er, es gehe ihm nicht um eine 155 Vgl. Lehmann 1999, S. 146. 156 Vgl. ebd., S. 116, 167, 172. 157 Vgl. ders.: „Wie politisch ist das Postdramatische Theater? “ In: ders.: Das politische Schreiben. Berlin 2002, S. 11-21, 21. 158 Ders. 1999, S. 20. 159 Vgl. ebd., S. 319. 160 Haas 2007, S. 72. <?page no="45"?> 45 Normierung des postdramatischen Theaters, sondern um seine Beschreibung. Dass auch Lehmann sich stellenweise widerspricht, indem er das postdramatische Theater zum Paradigma des Gegenwartstheaters erhebt, wurde bereits angemerkt. Trotz solcher teils widersprüchlicher Formulierungen bleibt es aber wohl Lehmanns zentrales Anliegen, das neue, dem Zuschauer oft schwer zugängliche Theater wertfrei zu beschreiben. Eine Abwertung des dramatischen Theaters, wie Haas sie ihm vorwirft, 161 scheint hingegen nicht sein Ziel zu sein. Bei aller Angemessenheit der These eines Fortbestands des Dramas und eines Fortwirkens seiner Einflussmacht, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt, gilt es, die Angriffe gegen das postdramatische Theater und dessen Charakterisierung als minderwertige, oberflächliche Kunst zu entschärfen. 162 Denn es kann, und hierin muss Benno Wirz zugestimmt werden, nicht darum gehen, „über Sinn und Wert neuerer Theaterphänomene zu streiten“. 163 Vielmehr gilt es, aufzuzeigen, in welchem Maße sich das Gegenwartstheater mit der dramatischen Tradition auseinandersetzt, alte Strukturen übernimmt und inwieweit es sich durch das Aufgreifen neuer Verfahren von der Tradition absetzt. Neben Birgit Haas vertritt auch Nikolaus Frei die These „eines wachsenden Bekenntnisses zur Narrativität“ im deutschen Gegenwartstheater. 164 In seiner 2006 erschienenen Arbeit mit dem sprechenden Titel „Die Rückkehr der Helden“ setzt er sich mit der sich abzeichnenden Trendwende in der Gegenwartsdramatik auseinander und konstatiert die Rückkehr des Dramas. Anhand der Analyse zeitgenössischer Theatertexte, die u.a. auch Schimmelpfennig inkludiert, weist Frei eine Rückbesinnung auf die 161 Ebd., S. 11. 162 Birgit Haas diskreditiert die postdramatische Kunst als oberflächlich und sinnentleert wie die folgenden Auszüge aus ihrem „Plädoyer für ein dramatisches Theater“ belegen: Haas 2007, S. 22: „Zweitens lassen sich seit Beginn der Neunzigerjahre verstärkt Versuche erkennen, die auf eine Verabschiedung des postdramatischen Nullstellen- Paradigmas hinweisen. An die Stelle von inhaltlicher Leere und Langeweile, die sich im Zuschauer nach der Aufführung von statischem Geschrei, Gewalt und Kakophonie einstellt, tritt erneut ein dramatisches Drama […]“ Ebd., S. 72: „In diesem Sinne tritt die Postdramatik in ihrem simplen Insistieren auf der Vorherrschaft der Materie an die Stelle dessen, was Sartre bekämpfte. Sie wird zu einem mystischen Positivismus, der eine verkappte Metaphysik beinhaltet. […] Vorgeschlagen wird ein Drama, in dem nicht blindlings zerstört und agiert, sondern gehandelt wird.“ Ebd., S. 115: „Damit bewegt sich das postdramatische Theater in gefährlicher Nähe zu sinnlosem Konsum.“ Ebd., S. 218: „Ähnlich wie das Melodram vertraut die Postdramatik auf die Oberfläche des Körpers. Nicht die Tiefe der Ausdrucksmöglichkeiten wird ausgelotet, sondern eine auf Effekte zielende Abfolge von Aktionen vorgelegt. In diesem Sinne verkürzt die Postdramatik das Theater um seine Möglichkeit, die persönlichen Tiefen und die intersubjektiven Realitäten darzustellen.“ 163 Wirz: Das Problem des postdramatischen Theaters. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/ 2. Tübingen 2005, S. 129. 164 Frei 2006, S. 233. <?page no="46"?> 46 dramatische Form nach. 165 Das „Dreigestirn von Drama, Handlung und Nachahmung“, dem Lehmann Ende der neunziger Jahre den Tod vorausgesagt habe, 166 bilde die Grundlage der zeitgenössischen Dramenproduktion, so Frei. 167 Wie Haas wendet auch er sich gezielt gegen Hans-Thies Lehmanns Studie zum postdramatischen Theater aus dem Jahr 1999 und sucht dessen These vom Ende des Dramas mit seinen Kategorien „Ganzheit, Illusion, Repräsentation“ 168 von Welt zu widerlegen. Im Unterschied zu Haas scheint es Frei nicht um eine Diskreditierung der Postdramatik zu gehen, sondern darum, die Lebendigkeit und den Einfluss des Dramas im Gegenwartstheater vor Augen zu führen. Des Weiteren sucht er den Nachweis dafür zu erbringen, dass das postdramatische Theater kein neues Phänomen ist, sondern als eine Weiterentwicklung der Avantgardebewegung vielmehr eine Spielart, einen „experimentellen Parallelstrang“ 169 dramatischen Theaters darstellt: Zunächst gehe ich davon aus, dass ‚postdramatisches Theater kein neues Phänomen ist, da es auf einer über ein Jahrhundert alten Tradition von Experimenten beruht. Es ist daher nicht eine erste Stufe neuen Theaters, sondern der selbstreferentielle Ausdruck eines sich seiner selbst bewusst gewordenen dramatischen Theaters, dessen Krise bereits Anfang des letzten Jahrhunderts vollen Ausdruck fand. 170 Freis Ziel ist es, nachzuweisen, „dass ein »postdramatisches Theater« zu jeder Zeit nur neben und niemals nach dem Drama existierte“. 171 Auch darin stimmen Haas und er überein. Beide betonen die ununterbrochene Existenz des dramatischen Theaters. 172 Durch die Fokussierung der Forschung auf das postdramatische Theater, das den Zeitgeist der postmodernen Epoche mit ihren Prinzipien der Dezentrierung und der Dekonstruktion, der Hybridität und des Relativismus sowie der Pluralität 173 zum Ausdruck bringt, sei das Drama in Vergessenheit geraten. Es habe jedoch 165 Ebd., S. 15, 233. 166 Lehmann 1999, S. 55. 167 Frei 2006, S. 13. 168 Lehmann 1999, S. 24. 169 Frei 2006, S. 15. 170 Ebd.,S. 13. 171 Ebd., S. 14. 172 Diese Ansicht teilen auch die Herausgeber des Sammelbandes „Mein Drama findet nicht mehr statt“. In der Einleitung schreiben sie: „Die Abkehr vom Theatermodell der Aufklärung fällt dabei unterschiedlich deutlich aus. Aufklärerische Konzepte von Figur, Handlung und Dialog verschwinden nicht mit einem bestimmten Stichtag aus der Programmatik des Theater-Textes, sondern wirken teilweise bis heute fort.“ In: Benedikt Descourvières, Peter W. Marx, Ralf Rättig (Hgg.): Mein Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Texte im 20. Jahrhundert. Frankfurt/ M. 2006, S. 9-20, 9. 173 Zu den Charakteristika der Postmoderne siehe: Ihab Hassan: The Postmodern Turn. Essays in Postmodern Theory and Culture. Columbus, Ohio 1987, S. 92. <?page no="47"?> 47 nie aufgehört, zu existieren. 174 Beide Autoren verbindet somit das Anliegen, die Lehmannsche These von einem tiefen Einschnitt in der Dramengeschichte, einer „radikalen Transformation des Szenischen“ zu entkräften. 175 Frei argumentiert im Sinne Szondis, 176 indem er wie dieser von einer Krise des Dramas spricht, die jedoch keineswegs die endgültige Abschaffung des Dramas bedeute, sondern vielmehr zur Suche nach Rettungs- und Lösungsversuchen veranlasse. 177 Die beschriebene Trendwende, die in der Rückkehr des Dramas oder allgemeiner gesprochen in der Rückkehr des auf die Realität rekurrierenden Textes 178 zum Ausdruck kommt, lässt es dringend erforderlich erscheinen, die von Hans-Thies Lehmann aufgestellten Thesen bezüglich eines Paradigmas des postdramatischen Theaters zu hinterfragen und nach neuen Begrifflichkeiten zur Beschreibung des deutschen Gegenwartstheaters zu suchen. 1.4.3. Zum Stand der Schimmelpfennig-Forschung Trotz des oben skizzierten verstärkten Forschungsinteresses an zeitgenössischen Dramenentwürfen und ihrer Rückbesinnung auf die traditionellen Dramenelemente Mimesis, Handlung und Figuren, fehlt es auch heute, zehn Jahre nach Gerda Poschmanns kritischer Bestandsaufnahme, an Arbeiten zum Theater der Gegenwart, die die Trendwende am Werk einzelner Autoren untersuchen. So stellt auch die Analyse von Schimmelpfennigs Theatertexten noch immer ein Forschungsdesiderat dar. Ansätze zu 174 Frei 2006, S. 14. Vgl. Haas 2007, S. 21, 180. 175 Lehmann 1999, S. 24. 176 Vgl. Szondi 1959. 177 Frei 2006, S. 13. 178 Nicht nur in der Theaterforschung, auch in der Romanforschung werden eine Aufwertung narrativer Elemente und ein neuartiger Umgang mit etablierten Erzählkategorien konstatiert. Vgl. Vera Nünning: Beyond Indifference: New Departures in British Fiction at the Turn of the 21st Century. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 235-254, 236f., 254. Darüber hinaus machen Autoren wie Christopher Den Tandt darauf aufmerksam, dass eine verstärkte Rückbindung der Literatur an die Wirklichkeit zu beobachten ist. Seiner Meinung konnte die referentielle Rede den Ausmerzungsversuchen der Postmodernisten und der Poststrukturalisten widerstehen und ein neuer pragmatischer Realismus sich etablieren: “I believe that referential discourse in literature or other media has managed to perpetuate itself even as postmodernist / poststructuralist theorists radically questioned the validity of its groundings. Realist practices have developed during the the last twenty years, feeding both on previous traditions and on the presumably anti-referential aesthetic of postmodern culture itself. The growing awareness of the survival of realism testifies, I think, to a metamorphosis of the postmodern structure of sensibility, if not an attempt to outgrow it.” In: Christophe den Tandt: Pragmatic Commitments: Postmodern Realism in Don DeLillo, Maxine Hong Kingston and James Ellroy. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 121-141, 122. <?page no="48"?> 48 einer Charakterisierung seines umfangreichen Werkes, das inzwischen vierunddreißig Stücke umfasst, finden sich in den Stück-Werk-Arbeitsbüchern der Zeitschrift „Theater der Zeit“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge deutsche Dramatiker und ihr Werk einer größeren Öffentlichkeit zugängig zu machen und Orientierung in der Vielfalt zu bieten. Dieses Ziel erreichen die Autoren, indem sie Schimmelpfennigs Werk in prägnanter Kürze inhaltlich und formal beschreiben. Schimmelpfennig selbst charakterisieren sie als „Pionier im Neubewerten von Zuständen“ 179 Die Besonderheit seiner Dramen bestehe in ihrem kompakten Bau, der auf der Konzentration auf eine zentrale Thematik und den klaren Spannungsbögen beruhe. 180 Neben „Theater der Zeit“ gibt auch „Theater heute“ einen Einblick in das dramatische Schaffen des Autors. Seit 1996 erscheinen Kritiken und Stück-Ankündigungen mit konstanter Regelmäßigkeit. Die Mehrzahl der Artikel präsentiert Schimmelpfennig als geheimnisvollen Poeten, der in seinen rätselhaften und verträumt wirkenden Stücken auf der Suche nach einer Poesie des Alltäglichen sei. 181 „Die deutsche Bühne“ schenkt Schimmelpfennigs Werk in der Märzausgabe des Jahres 2005 besondere Beachtung. Unter der Überschrift „Neue Dramatik“ stellt sie zeitgenössische Autoren und ihre Stücke vor. Detlev Baur, der mit der Vorstellung von Schimmelpfennigs Dramatik betraut wurde, charakterisiert sie als „Dramatik der Situation“, als „Erzähltheater“ und als „zarte Bühnenpoesie“. 182 Schimmelpfennigs Grundanliegen, so Baur, sei es, Geschichten zu erzählen. 183 Die Bühnenenergie erwachse bei Schimmelpfennig einzig aus der Narration, wie dieser selbst betone. 184 Neben der Forderung nach einer klaren Sprache stünde bei Schimmelpfennig das Streben nach klaren Handlungsverläufen. Baur hebt in seinem Autorenporträt vor allem die zentrale Bedeutung des von Schimmelpfennig vermehrt verwendeten Begriffs der 179 Mustroph: Der Vielseitige. In: Müller, Weiler (Hgg.) 2001, S. 133. 180 Ebd., S. 137. 181 Vgl. Eva Behrendt: Zieht Euch warm an. In: Theater heute 01/ 2003, S. 49-51, 50. Vgl. Bernd Stegemann: Roland Schimmelpfennig: „Auf der Greifswalder Straße“. Stadtplan Seele. In: Theater heute Jahrbuch 2005, S. 161-162. Vgl. Joachim Lux: Roland Schimmelpfennig: „Ende und Anfang“. Von leuchtenden Mäusen und träumenden Menschen. In: Theater heute Jahrbuch 2006, S. 158-160. Vgl. Franz Wille: Museum der Gegenwartskunst. Vom harten Pflaster der Hauptstadt in wohlige Münchner Bürgerwelten: Roland Schimmelpfennig „Auf der Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater Berlin und Händl Klaus’ „Dunkel lockende Welt“ in den Münchner Kammerspielen - Uraufführungen von Jürgen Gosch und Sebastian Nübling. In: Theater heute 03/ 2006, S. 4-7. 182 Baur: Die Dramatik der Situation. In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2005, S. 22-24. 183 Ebd., S. 22. 184 Ebd., S. 24. <?page no="49"?> 49 Situation hervor, mit dem sich dieser vom Regietheater distanziere. Vom Regisseur erwarte Schimmelpfennig ein Erkennen und Respektieren der Grundsituation des Dramas, wie das von Baur zitierte klare Bekenntnis des Autors zur Wirkungsmacht des dramatischen Textes belegt: SCHIMMELPFENNIG Wenn sich Texte um Situationen bemühen, wünsche ich mir, dass der Regisseur das auch nutzt und er die Situation annimmt. Sonst wird er dem Text schaden. 185 Schimmelpfennig distanziert sich mit dieser Forderung eindeutig vom Regietheater der 70er und 80er Jahre und sucht die Bedeutung des Textes im Theater zu retablieren. Wie Baur weiter ausführt, funktioniere der Text für Schimmelpfennig ohne das Zutun des Regisseurs, also quasi von selbst, und laufe vielmehr Gefahr durch die „aggressive Phantasie“ des Regisseurs in seiner Wirkung zerstört zu werden. 186 Dieser verbale Angriff auf die Regie zeugt von dem fortwährenden Konflikt zwischen Regie- und Autorentheater, den Andrzej Wirth bereits 1987 konstatierte und wie folgt beschrieb: Theaterregisseure trauen den Autoren nicht und die meisten haben auch keine Fähigkeit (geschweige denn Mittel), um sich mit komplexen Schrifttexten zu beschäftigen. Der Gegensatz Regie/ Autorentheater - eine paradoxe Entwicklung - hat in den letzten zwei Dekaden die Form eines Interessenkonflikts angenommen. 187 Angefacht wurde das Misstrauen auf Seiten der Autoren durch Regisseure wie Richard Schechner, welche die Bedeutung des Dramenautors für das Theater herabzusetzen suchten. 188 Neben der Betonung dieser traditionalistisch und restaurativ anmutenden regiefeindlichen Seite von Schimmelpfennigs Dramatik, sucht Baur in seinem Porträt aber auch den experimentellen, poetischen und märchenhaften Charakter von Schimmelpfennigs Stücken herauszustellen. Obwohl viele der neueren Stücke in ihrer Form traditionell gebauten Dramen mit klaren Handlungsverläufen gleichen, besitzen sie nach Meinung Baurs eine geheimnisvolle und poetische Wirkung, die daraus resultiere, dass Schim- 185 Ebd., S. 22. 186 Ebd., S. 24. 187 Wirth: Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie. In: Gießener Universitätsblätter 1987, S. 89. 188 Richard Schechner: Six Axioms for Environmental Theatre. In: ders. Public Domain. Essays on the Theatre. Indianapolis, Kansas City, New York 1969, S. 157-180, 178-180: „One of theatre’s most durable clichés is that the play comes first and from it flows consequent production: the playwright is the first creator and his intentions serve as production guidelines. One may stretch these intentions to the limits of „interpretation“, but no further. […] The text is a map with many possible routes. You push, pull, explore, exploit. You decide where you want to go. Rehearsals may take you elsewhere. Almost surely you will not go where the playwright intended.“ <?page no="50"?> 50 melpfennig kunstvoll mit Zeitverschiebungen und Einbrüchen von Irrationalem jongliere. Schimmelpfennig verstehe es, zwischenmenschliche Situationen zu schaffen, denen keine dramatischen Aktionen zugrunde lägen, und entwickle gerade durch die Verweigerung von harten Fakten und Aktionen eine „zarte, situative Poesie“; Geheimnis und Alltag seien in seinen Stücken eng verwoben. 189 Baur versteht es in seiner Porträtierung des Dramatikers, Schimmelpfennig einerseits als geheimnisvollen Poeten zu charakterisieren, anderseits aber seine praktische Theatererfahrung 190 herauszustellen, durch die es ihm gelänge, „theatral sprechende Bühnenbeziehungen“ zu schaffen. 191 Dem Ziel einer Einführung in das Werk des Autors und seiner Situierung in die großen literaturgeschichtlichen und dramenästhetischen Traditionslinien verschreibt sich auch der Aufsatz „Das romantische Kaninchen“ von Henrike Thomsen in der Textsammlung „Autoren am Deutschen Theater“. 192 Die Autorin stellt seine Theaterstücke in eine romantische Tradition, die über den Mythos bis hin zu Botho Strauß reicht. Marion Bönnighausen sieht in Schimmelpfennig hingegen einen Vertreter des postdramatischen Theaters und begründet diese Zuordnung mit der Analyse seines Stückes „Vorher/ Nachher“. 193 Die Untergliederung des Theatertextes in teils simultan ablaufende, fragmentarische Minimalsequenzen sowie das hin und her Wechseln zwischen Erzählung, dramatischer Personenrede und Selbstdistanzierung mutet aufgrund der chorischen Stimmenvielfalt durchaus postdramatisch an. Jedoch übersieht die Autorin einen wesentlichen Unterschied: Bei Schimmelpfennig werden Sprache und Sprechen weder autonomisiert, noch kommt es zum Zerfall der stilistischen und logischen Kohärenz. 194 Trotz der von Schimmelpfennig angewandten Collagetechnik wird die dramatische und narrative Logik nicht aufgehoben. Die Redebeiträge und Gedanken der Figuren bilden die logischen Bausteine einer zu erzählenden Geschichte. Sie stellen nicht nur Worthülsen dar, sondern sind mit Sinn gefüllt. Von einer „Entthro- 189 Baur: Die Dramatik der Situation. In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2005, S. 23. 190 Ebd.: „Bei aller Skurrilität der Figuren ist den Szenen seiner Stücke anzumerken, dass da kein verschrobener Poet am Werke ist, sondern ein erfahrener Theatermann.“ 191 Ebd., S. 22-23. 192 Henrike Thomsen: Das romantische Kaninchen. Was den Dramatiker Roland Schimmelpfennig mit dem Mythos und mit Botho Strauß verbindet. In: Roland Koberg, Bernd Stegemann, Henrike Thomsen (Hgg.): Autoren am Deutschen Theater. Texte über und von Jon Fosse, Elfriede Jelinek, Die Brüder Presnjakow, Oliver Reese, Yasmina Reza, Roland Schimmelpfennig, Ingo Schulze und Moritz von Uslar. Berlin 2006, S. 33-44. 193 Bönnighausen: Theatertext - Texttheater. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/ 1. 2005, S. 65-76. 194 Vgl. Lehmann 1999, S. 266. <?page no="51"?> 51 nung der Sprachzeichen“ und einer damit einhergehenden „Entpsychologisierung“, wie Lehmann sie als charakteristisch für das postdramatische Theater nennt, 195 kann somit keine Rede sein. Wie Bönnighausen selbst anmerkt, sind die Handlungen der Protagonisten psychologisch motiviert, 196 was eindeutig gegen eine postdramatische Lesart spricht. Darüber hinaus leitet sie ihren Essay mit der Beobachtung ein, dass im deutschen Gegenwartstheater eine Reliterarisierung eingesetzt habe und der Text zurückgekehrt sei. Es erscheint daher unverständlich, warum sie diese Erkenntnis nicht auch für die Deutung der untersuchten Theaterstücke von Gesine Danckwart und Roland Schimmelpfennig fruchtbar macht. Die Überzeugung im unbestrittenen Zeitalter der Postdramatik zu leben, scheint die Auslegung der Texte beeinflusst zu haben. Bönnighausens postdramatische Lektüre der Stücke verdeutlicht, dass es im Jahr 2005 noch an wissenschaftlichen Gegendarstellungen zu Lehmanns Paradigma des postdramatischen Theaters gefehlt hat. Das Fehlen eines kritischen Ansatzes verdeutlicht auch der ein Jahr zuvor erschienene Artikel „Beyond Drama: Writing for Postdramatic Theatre“ von Malgorzata Sugiera. Wie der Titel des Aufsatzes verdeutlicht, ist es das Anliegen der Autorin, die Stücke von Loher und Schimmelpfennig als Beispieltexte für die postdramatische Dekonstruktion zu präsentieren. Dieser eingeschränkte Blickwinkel lässt jedoch keine differenzierte Betrachtung zu, wie Birgit Haas in ihrem kritischen Kommentar zu Sugieras Ausführungen anmerkt: Die Postdramatik ist das Paradigma, also können die Autoren nicht anders, als dieses zu bedienen […] Sugieras Versuch, in den Stücken von Loher und Schimmelpfennig eine postdramatische Dekonstruktion zu sehen, wird dabei in den eher oberflächlichen Zugriffen auf die Dramen selbst den Ansprüchen jener Stücke nicht gerecht. Vielmehr offenbart sich in diesem Essay ein fortgesetztes Festhalten an der dekonstruktivistischen Ästhetik. 197 Neben den zitierten Aufsätzen geben die Ausgaben der Theaterzeitschriften „Theater der Zeit“, „Theater heute“ und „Die Deutsche Bühne“ von 1996 bis heute Aufschluss über die Bedeutung und Spezifität von Schimmelpfennigs Dramatik. Die Artikel weisen ihn als Mitglied einer Gruppe von Autoren 198 aus, die Ende des 20. Jahrhunderts mit ihrem neuerlichen Bekenntnis zur dramatischen Form eine Trendwende in der deutschen Dramatik einleiten. Von dieser Trendwende zeugen auch die beiden jüngsten Artikel zu Schimmelpfennigs Dramenwerk, die der oben zitierte Sam- 195 Ebd., S. 161. 196 Bönnighausen: Theatertext - Texttheater. In: Forum Modernes Theater, Bd. 20/ 1. 2005, S. 69. 197 Haas 2007, S. 181. 198 Einige der zu dieser Gruppe gehörenden Dramatiker wurden in der Einleitung auf S. 11 namentlich genannt. <?page no="52"?> 52 melband „Dramatische Transformationen“ 199 inkludiert. Wie bereits der Untertitel des Aufsatzes „Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss“ verrät, situiert der Verfasser Peter Michalzik das Schaffen der vier Autoren am Schnittpunkt von Postdramatik und Tradition. So beschreibt Michalzik Schimmelpfennigs Werk als Teil einer stillen, aber nicht unbedeutenden Gegenbewegung zur Postdramatik. Er macht es sich zur Aufgabe, über zentrale Strategien und Gemeinsamkeiten der im Titel genannten vier Dramatiker Aufschluss zu geben. Erklärtes Ziel seiner Analyse ist es, herauszufinden, wo das Drama im 21. Jahrhundert steht. 200 Die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den vier Autoren führt ihn zu folgendem Ergebnis: Alle vier wollen Szenen schreiben, die auch außerhalb eines Theaters gesprochen werden könnten. Man könnte sie deshalb als Exponenten - sie sind nicht die einzigen - eines neuen Realismus begreifen […] Alle vier sind echte Dramatiker, keine Gelegenheitsdramatiker […] Alle vier schreiben großformatige Stücke, keine Experimente für die Werkstattbühne, sondern aufs Ganze zielende Weltenentwürfe, Breitwandtheater sozusagen. Es ist bei allen vieren ein Bemühen um Wirklichkeit, Zeitgenossenschaft, Bedeutsamkeit und Allgemeingültigkeit zu spüren. 201 Für die Standortbestimmung des Dramas bedeute dies, so Michalziks Folgerung, dass es um das Selbstbewusstsein des Dramas nicht allzu schlecht bestellt ist. Die neue dramatische Produktion zeichne sich vor allem durch die Bevorzugung einfacher Strukturen und stringenter Formen aus, die den Bau geschlossener, zusammenhängender Dramenwelten ermöglichen. 202 Rückgriffe auf dramatische Traditionen attestiert auch Kerstin Hausbei, die sich in ihrem Aufsatz „Roland Schimmelpfennigs Vorher/ Nachher: Zapping als Revival der Revueform? “ der Frage widmet, „ob und wie zeitgenössische Dramatik auf veränderte gesellschaftliche Realitäten reagiert.“ 203 Am Ende ihrer detaillierten Analyse des Theatertextes kommt sie zu dem Schluss, dass das Stück trotz der fehlenden Argumentationslinie und der Zersplitterung der Handlung in eine Vielzahl von Einzelszenen als Sinneinheit verstanden werden will. 204 Ihr Fazit lautet daher: 199 Tigges (Hg.) 2008. 200 Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss. In: Tigges (Hg.) 2008, S. 31-42, 33. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 33, 37. 203 Kerstin Hausbei: Schimmelpfennigs Vorher/ Nachher: Zapping als Revival der Revueform? In: Tigges (Hg.) 2008, S. 43-52, 43. 204 Ebd., S. 51. <?page no="53"?> 53 Statt radikaler diskursauflösender Zapping-Ästhetik feiert Schimmelpfennig in Vorher/ Nachher ein Revival der Revueform. 205 Die Nähe zur Revueform des frühen 20. Jahrhunderts begründet Hausbei mit der Präsenz einer epischen Instanz, die wie ein Conférencier in der Revue durch das Stück führe und auf diese Weise zur Entstehung von Interferenzen zwischen den Szenen beitrage. Eine solch gezielte Beeinflussung der Zuschauerwahrnehmung widerspreche dem Zufallsprinzip der Zapping-Theorie, die dem Zuschauer bei der Sinnkonstitution völlige Freiheit lasse und auf ein spielerisches Entdecken abziele. Damit weist neben Peter Michalzik auch Kerstin Hausbei traditionelle Grundmuster in Schimmelpfennigs Theatertexten nach. Zusammenfassend lässt sich somit Folgendes festhalten: Anstatt die dramatische Tradition zugunsten postdramatischer Experimente vollständig über Bord zu werfen, hält Schimmelpfennig an den alten Dramenmustern fest und sucht diese produktiv zu nutzen. 1.5. Bachtins Chronotopostheorie und ihre Bedeutung für die Dramenanalyse In der Literaturwissenschaft machte Michail M. Bachtin Anfang der siebziger Jahre als einer der Ersten auf die Bedeutsamkeit einer semiotischen Raumanalyse für die Romananalyse aufmerksam. Mit seiner Chronotopostheorie versuchte er, den Nachweis dafür zu erbringen, dass wiederkehrende räumliche Codes und Semiosphären ein konstitutives Moment literarischer Mimesis darstellen. 206 Sein Vorschlag, die Kategorien des Raumes und der Zeit bei der Roman- und Dramenanalyse stärker zu berücksichtigen, fand damals jedoch vergleichsweise wenig Beachtung und wird erst heute im Zuge des „topographical turn“ respektive „spatial turn“ wieder ausgiebig diskutiert. In seinen Untersuchungen zur historischen Poetik versucht Bachtin, den wechselseitigen Zusammenhang von Raum und Zeit für die Romanliteratur nachzuweisen. In der Literatur wie auch in der Kunst seien alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden und stets „emotional-wertmäßig“ gefärbt. 207 Für die zwischen Raum und Zeit bestehende Wechselbeziehung wählt er den Begriff des „Chronotopos“, den er wie folgt definiert: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. […] Die Merkmale 205 Ebd., S. 52. 206 Vgl. Inka Mülder-Bach: Literarische Räume. Einleitung. In: Böhme (Hg.) 2005, S. 403- 407, 404. 207 Bachtin 2008, S. 180. <?page no="54"?> 54 der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 208 Um die Bedeutung des Chronotopos zu veranschaulichen, zitiert Bachtin Immanuel Kant. In „Transzendentale Ästhetik“, dem ersten Teil seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks „Kritik der reinen Vernunft“, macht Kant die Kategorien Raum und Zeit zur Grundlage jeglicher Erkenntnis und bezeichnet sie als „notwendige Vorstellungen a priori, die allen äußeren Anschauungen zu Grunde lieg[en]“, da sie unabhängig von der Erfahrung und allen Sinneseindrücken seien. 209 Im Gegensatz zu Kant, der eine transzendentale Perspektive einnimmt und an der Erforschung der „transzendentalen Idealität“ 210 von Raum und Zeit interessiert ist, konzentriert sich Bachtin jedoch ganz auf die empirische Realität und betrachtet Raum und Zeit ausschließlich in ihrer Funktion als Formen der realen Wirklichkeit. Indem der künstlerisch-literarische Chronotopos, den Bachtin vom realen, äußeren Chronotopos unterscheidet, Aspekte der Realität aufnimmt, dokumentiert er die unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungsstufen der Menschheit. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos werden, so Bachtin, epochenspezifische raum-zeitliche Ordnungsstrukturen der menschlichen Weltwahrnehmung reflektiert. 211 Die Analyse der chronotopischen Struktur von literarischen Texten erhält somit kulturtheoretische Bedeutung. Jedoch beschränkt sich Bachtins Theorie nicht auf diese kulturphilosophische Dimension, sondern vereinigt kulturtheoretische, gattungstheoretische und literaturhistorische Ansätze wie Michael C. Frank und Kirsten Mahlke im Nachwort der 2008 erschienen Neuauflage von Bachtins Chronotopos-Essay betonen. 212 Als gattungstheoretische Kategorie ermögliche der Chronotopos die Unterscheidung verschiedener Romanuntergattungen. 213 Schon zu Beginn seines Essays weist Bachtin daraufhin, dass Chronotopoi zu Gattungstraditionen werden können, wodurch sie ihre „realistisch-produktive und adäquate Bedeutung“ 214 für die Entstehungszeit eines Werkes verlören und allenfalls Aufschluss über vergangene raum-zeitliche Welt- und Menschenbilder gäben. Die literaturhistorische Relevanz der Bachtinschen Chronotoposlehre liegt in der gestalterischen und erzähltheoretischen Funktion der Chrono- 208 Ebd., S. 7. 209 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Wiesbaden 2004 [1787], S. 63 (Raum), 67 (Zeit). 210 Ebd., S. 66. 211 Bachtin 2008, S. 205. 212 Michael C. Frank und Kirsten Mahlke: Nachwort. In: Bachtin 2008, S. 201-242, 204. 213 Ebd., S. 205. 214 Bachtin 2008, S. 8. <?page no="55"?> 55 topoi begründet. Als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans“ 215 gliedern sie die Erzählung und bestimmen den Gang der Handlung. Dadurch determinieren sie auch das Bild vom Menschen in der Literatur und haben somit, nach Meinung Bachtins, eine „erstrangige sujetbildende Bedeutung“ 216 . Neben Bachtin weist auch sein russischer Landsmann Jurij M. Lotman in seiner 1972 erstmals veröffentlichten semiotischen Studie 217 dem Raum eine besondere Stellung in der Literaturanalyse zu. Lotman legt dar, wie die Struktur des Raumes eines Textes als Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt fungieren kann. 218 Im Unterschied zu dem von Bachtin entworfenen zeitlich dynamisierten Raumkonzept ist Lotmans Modell statisch angelegt. Die Anwendung der Theorien Bachtins und Lotmans auf die fiktive Raumgestaltung im zeitgenössischen Drama blieb bisher aus und ist daher Forschungsdesiderat. Die Gestaltung von Raum und Zeit im inneren Kommunikationssystem des Theatertextes hat in der Dramenforschung bisher kaum Beachtung gefunden. 219 Während es eine Vielzahl an Studien gibt, die den theatralen Raum in Hinblick auf seine soziale, funktionale und ästhetische Dimension untersuchen und sich dem Verhältnis von Zuschauerraum und Bühnenraum, von Zuschauer, Schauspieler und Rollenfigur sowie der Differenzierung von tatsächlichem Raum und Kunstraum widmen, fehlt es an neueren Arbeiten, die ihren Schwerpunkt auf die Analyse der fiktiven Raum- und Zeitstruktur legen. Die theaterwissenschaftliche Forschung weist eine auffallende Vernachlässigung des modalen 220 Raumes, verstanden als fiktionaler Darstellungsraum, zugunsten des medialen Raumes, des Dispositivs, auf. So untersucht auch Erika Fischer-Lichte in ihrer semiotischen Analyse 221 aus dem Jahr 1998 die Zeichen des Raumes auf der Ebene der Aufführung, nicht aber auf der des dramatischen Textes. Da sich die reale raum- 215 Ebd., S. 186. 216 Ebd., S. 187. 217 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf Dietrich Keil. München 1986 [1972]. 218 Ebd., S. 312. 219 Vgl. Werner Keller (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas. Vorwort. Darmstadt 1976, S. IX-XIV, X. Keller weist darauf hin, dass die Analyse des Raumes im Drama von der Forschung vernachlässigt wurde. 220 Das Begriffspaar modaler Raum und medialer Raum verwende ich in Anlehnung an Joachim Paech, der es in seinen Ausführungen zur räumlichen Konstruktion filmischen Erzählens einführt, um den erzählten (fiktiven) Raum vom (realen) Raum, in dem erzählt wird, zu unterscheiden: Joachim Paech: Eine Szene machen. In: Hans Beller, Martin Emele, Michael Schuster (Hgg.): Onscreen / Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Stuttgart 2000, S. 93-121, 93. 221 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen. 4. Aufl. Tübingen 1998 [1983], S. 132-160. <?page no="56"?> 56 zeitliche und die fiktive Deixis im Theater immer wechselseitig beeinflussen, muss die Frage nach der Bedeutung erzeugenden Funktion des Raumes aber unbedingt auch auf die Ebene des inneren dramatischen Kommunikationssystems ausgeweitet werden. Es gilt, die Ansätze von Joachim Hintze und Willi Flemming fortzuführen, die sich mit dem dramatischen Raum auf der Ebene des Textes befassen. 222 Zur Bedeutung des Raumes schreibt Flemming: Der dramatische Raum als jeweils spezifischer Formtypus gehört also legitim und innerlich zur Substanz des Dramas, liefert dessen wesensnotwendige Verräumlichung. 223 Im Wissen um die Bedeutung des Raumes für das Drama verschreibt sich die vorliegende Arbeit der Aufgabe, die sujetbildende Funktion des Raumes in Schimmelpfennigs Theatertexten auf der Grundlage von Michail Bachtins Chronotopostheorie zu untersuchen. 1.6. Zur Methode Die semiotische, tiefenstrukturelle Analyse der Raum- und Zeitstruktur ausgewählter Theatertexte von Roland Schimmelpfennig ermöglicht es, ihre zentrale Funktionsweise zu ermitteln. Sie sucht aufzuzeigen, wie Konnotationen über Isotopien im Text erzeugt werden 224 und versteht sich dabei nicht als Normierungsversuch, sondern als induktive Annäherung an Tendenzen des Theaters der Gegenwart. In Übereinstimmung mit Gerda Poschmann und Paul Michael Lützeler erscheint das induktive Verfahren der Einzelfallanalyse am ehesten geeignet, um dem heutigen Pluralismus der Erscheinungsformen von Kunst gerecht zu werden. 225 Selbst bei einer Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes auf Werke verschiedener Gegenwartsdramatiker wäre eine Generalisierung der Untersuchungs- 222 Joachim Hintze: Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater. Marburg 1969. Willi Flemming: Funktionstypen des dramatischen Raumes. In: GRM, Bd. 20. Heidelberg 1970, S. 55-62. Eine ausführliche Studie zum expressionistischen Raum hat Klaus Göbel vorgelegt: Ders.: Drama und dramatischer Raum im Expressionismus. Köln 1971. 223 Flemming 1970, S. 55. 224 Vgl. Mario Andreotti: Traditionelles und modernes Drama. Bern, Stuttgart, Wien 1996, S. 15, 37-39. 225 Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.): Spätmoderne und Postmoderne: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt/ M. 1991, S. 14. Vgl. Poschmann 1997, S. 18-19. <?page no="57"?> 57 ergebnisse aufgrund der Bandbreite zeitgenössischer ästhetischer Verfahren nicht möglich. 226 Die in der Einleitung und unter Punkt 1.5 kurz erläuterte Chronotopostheorie von Bachtin bildet die theoretische Grundlage der Raum- Zeitanalyse. So fragt die Untersuchung in Anlehnung an Bachtin nach dem „Wo“ und „Wann“ des Theatertextes und nach deren symbolischer und sinnhafter Beziehung. Es soll dargelegt werden, inwieweit sich der Sinngehalt neuer zeitgenössischer Theatertexte über eine tiefenstrukturelle Analyse ihrer Raum-Zeitstruktur erschließen lässt. Dabei wird auch auf die Lotmansche Raumtheorie zurückgegriffen. In einem ersten Schritt wird daher die formale Raum-Zeitstruktur der Theatertexte beschrieben. Raum und Zeit werden hier zunächst gesondert voneinander betrachtet. Begonnen wird mit dem Raum, da die Zeit als eine ihm untergeordnete Komponente gesehen wird. Unter der Überschrift Raumkonzeption wird in einem ersten Schritt ein Überblick über die formale räumliche Gestaltung von Schimmelpfennigs Theatertexten gegeben. Im Anschluss an diese allgemeinen Beobachtungen zum sprachlich fixierten Raumentwurf werden dann die raumkonstituierenden Funktionen von Neben- und Haupttext erörtert. Es folgen Ausführungen zum Grad der räumlichen Offenheit und Geschlossenheit von Schimmelpfennigs Raumentwürfen sowie zu Verfahren der räumlichen Semantisierung. Da die Semantisierung des Raumes in Abhängigkeit steht von der im Raum vollzogenen Handlung, macht es dieser Teil der formalen Analyse erforderlich, den Blick von der mikrostrukturellen Ebene (Bildebene) auf die makrostrukturelle Ebene (Handlungsebene) auszuweiten. Um herauszufinden, inwieweit von einer Semantisierung des Raumes im Sinne Lotmans gesprochen werden kann, gilt es folglich, die handlungsbedingten Sinnkonstitutionen des Raumes in der Analyse zu berücksichtigen. Mit einer Beschreibung der fiktiven Schauplätze schließt die formale Analyse des Raumes ab. Dabei werden die Schauplätze der Handlung nicht bloß benannt, sondern auch auf ihren Sinngehalt hin untersucht, ein Unterfangen, das wiederum die Berücksichtigung der Handlungsebene erfordert. In der formalen Analyse der Raumstruktur werden die Verfahren der Raumkonstitution somit nicht rein formal beschrieben, sondern auch auf ihren semantischen Gehalt hin befragt, obwohl der chronotopischen Analyse damit stellenweise vorgegriffen wird. Die Untersuchungsergebnisse des französischen Soziologen und Raumtheoretikers Henri Lefebvre scheinen ein solches Vorgehen zu rechtfertigen. Denn wie Lefebvre in seiner soziologischen Arbeit „La production de l’espace“ aus dem Jahr 226 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen, Basel 1999, S. 419-420. <?page no="58"?> 58 1974 nachweist, 227 stehen Raum und Handlung in einer engen Wechselbeziehung zueinander, die nicht negiert werden kann: [Il existe] une correspondance […] entre les actes et les lieux sociaux, entre les fonctions et les formes spatiales. 228 Die von Lefebvre als „correspondance“ bezeichnete wechselseitige Beeinflussung von Raum und Handlung besteht folglich darin, dass einerseits der Raum das Handeln der in ihm Agierenden und ihre soziale Rolle bedingt, die Wahrnehmung des Raumes andererseits aber immer in Abhängigkeit von der in ihm stattfindenden Handlung geschieht. 229 Wie die Analyse zu zeigen versucht, trifft diese Aussage auch für die Beziehung von Raum und Handlung im Drama zu - allerdings nur, solange sich das Drama als Repräsentation von Lebenswelt versteht und bestrebt ist, einen Ausschnitt von Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen. Die formale Raumanalyse verschreibt sich somit der Beantwortung der folgenden Fragen: Welche Räume wählt Schimmelpfennig zum Ort der Dramenhandlung und welche Sinnfunktionen besitzen sie? Wie sind diese Räume konzipiert, d.h. welchen Grad an Offenheit oder Geschlossenheit besitzen sie? Welche Rolle spielen Haupt- und Nebentext für den Raumentwurf? Inwieweit kann von einer Semantisierung des Raumes im Sinne Lotmans gesprochen werden? In der formalen Untersuchung der Zeitgestaltung wird anschließend dargelegt, inwieweit Schimmelpfennigs Theatertexte eine lineare und somit traditionell anmutende Zeitstruktur aufweisen und inwieweit in ihnen Durchbrechungen der konventionellen, linearen Zeitstruktur auftauchen. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung der Prinzipien der zeitlichen Sukzession und der Simultaneität erörtert. Darüber hinaus findet die Frage Beachtung, inwieweit man von einer Semantisierung der Zeit sprechen kann. Wie in der formalen Analyse der Raumstruktur ist auch hier die Berücksichtigung der makrostrukturellen Ebene unverzichtbar: Es wird nach handlungsbedingten Sinnkonstitutionen der Zeit gefragt. Ziel der formalen Untersuchung von Raum- und Zeitstruktur ist es, zu verdeutlichen, dass Schimmelpfennigs Theatertexte in ihrer raumzeitlichen Gestaltung eine Abkehr von der Postdramatik aufweisen. Der 227 Henri Lefebvre: La production de l’espace. Paris 1974. 228 Lefebvre 1974, S. 43. Die Erkenntnis einer wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Raum stellt auch eine der Grundlagen von Richard Schechners „Environmental Theater“ dar, das Anfang der siebziger Jahre zu einem Standardwerk der performativen Ästhetik avancierte. Vgl. Richard Schechner: Environmental Theater. New York 1973. 229 Vgl. Norbert Kuhn: Sozialwissenschaftliche Raumkonzeptionen. Der Beitrag der raumtheoretischen Ansätze in den Theorien von Simmel, Lefebvre und Giddens für eine sozialwissenschaftliche Theoretisierung des Raumes. Saarbrücken 1994, S. 13. <?page no="59"?> 59 fiktionale Raum ist hier nicht länger unbestimmter Signifikant, dem der Zuschauer mittels seiner Wahrnehmung ein beliebiges Signifikat zuordnen kann, sondern er besitzt eine vom Autor vorgegebene Signifikatstruktur. Denn nur auf Basis dieser Signifikatstruktur kann sich eine konkrete Handlung im Raum entfalten, kann der Raum zum Ort für Geschichten werden, kann das Drama wieder zur szenischen Repräsentation von Lebenswirklichkeit werden. Der auf die formale Betrachtung von Raum- und Zeitstrukturen folgende Mittelteil der Arbeit untersucht in abermaligem Rekurs auf Lefebvre das Zusammenspiel von Handlung, Raum und Zeit. Im Handeln der Figuren in der Zeit, so die zugrunde liegende Überzeugung, vollzieht sich die Konstituierung des Raumes. Die Kategorien Zeit, Handlung und Figuren sind somit einerseits Konstituenten des Raumes, ebenso wie dieser ihre Konstitution beeinflusst. Der Raum wird damit zum Sinn tragenden, Sinn strukturierenden Element. In der an Bachtin orientierten chronotopischen Analyse soll Aufschluss über die Art der Wechselbeziehung von Raum, Zeit, Handlung und Figuren in Schimmelpfennigs Theatertexten gegeben werden. Es gilt, die Bedeutung des Raumes als ein die dramatische Handlung konstituierendes Dramenelement herauszustellen. In einer semiotischen Analyse der in den Stücken vorkommenden Chronotopoi soll veranschaulicht werden, welche bedeutende Rolle die Achse der Raum-Zeitstruktur, auf der die den Text tragenden Isotopien unmittelbar manifest werden, bei der Entstehung semantischer Achsen im Text spielt. 230 Folgende Fragestellung wird der Analyse zugrunde gelegt: Inwieweit bedingt die mikrostrukturelle Ebene der Raum- und Zeitelemente das Handeln der Figuren auf der makrostrukturellen Ebene und inwieweit hängt die Konstitution der mikrostrukturellen Ebene unmittelbar von der Handlung der Figuren auf der makrostrukturellen Ebene ab? Es geht folglich darum, die Signifikatstruktur des Raumes in Ergänzung der Ergebnisse der formalen Analyse weiter zu erschließen und sich in Anlehnung an Bachtin zu fragen, inwieweit die Konstitution des Raumes durch den Rückgriff auf traditionelle literarische Chronotopoi geschieht. Das Auffinden traditioneller Chronotoposstrukturen, wie beispielsweise des Chronotopos der Türschwelle als Ort der Begegnung, der Entscheidung und des Wendepunkts, spricht für die Rückkehr zu einer konventionellen dramatischen Erzählweise mit einer konkretisierten, konventionellen Raumkonzeption. Jedoch, so soll gezeigt werden, dient der Rückgriff auf traditionelle Chronotoposstrukturen nicht nur der Nutzung ihrer symbolischen Qualität, sondern ermöglicht vielmehr die Konstitution neuer Räume. Der konventionalisierte Raum wird zur Folie für einen veränderten Raum, für einen Transitionsraum, der sich durch das Handeln der Figur im 230 Vgl. Andreotti 1996, S. 160. <?page no="60"?> 60 konkreten Raum konstituiert und diesen ersetzen bzw. nachhaltig verändern kann. Initiatoren für die Entstehung solcher Transitionsräume sind, wie in der Einleitung bereits angeführt, der Traum, die Erinnerung, die Sehnsucht und die Phantasie. Beispiele für eine Verdrängung des konkreten Raumes zugunsten eines solchen Transitionsraumes finden sich in zahlreichen Schimmelpfennig-Stücken, so z.B. in „Die arabische Nacht“, „Vorher/ Nachher“, „Auf der Greifswalder Straße“, „Ende und Anfang“, was eine Untersuchung der handlungsbedingten Sinnkonstitutionen des Raumes umso notwendiger erscheinen lässt. In einem letzten Arbeits- und Analyseschritt wird die in den ersten vier Gliederungspunkten angewandte semiotisch-strukturale Methode durch die Analyse der szenischen Realisierungen von Schimmelpfennigs Raumentwürfen ergänzt, da nur eine solche interdisziplinäre Herangehensweise der Plurimedialität und Komplexität des Theatertextes gerecht werden kann 231 . Die Polyfunktionalität eines jeden Theatertextes erfordert es, nicht nur die literarische Gestaltung des Textes auf ihren Aufführungscharakter hin zu untersuchen, sondern auch die szenische Umsetzung selbst zu berücksichtigen und somit das Spannungsverhältnis des Textes zu seinen möglichen Aufführungen herauszustellen. 232 Das den Analyseteil abschließende fünfte Kapitel der Arbeit untersucht das Zusammenspiel von modalem und medialem Raum und zeigt Möglichkeiten und Grenzen der szenischen Realisierung der Theatertexte auf. Da das Theater rezeptionsästhetisch gesehen eine prozessuale Kunstform ist, konstituiert sich der theatrale Raum immer in Beziehung zur Zeit. Die Zeit wird daher als eine Komponente des Raumes betrachtet und nicht gesondert untersucht. Anhand der Analyse von Szenenausschnitten aus dreizehn 233 Inszenierungen renommierter Regisseure wie Jürgen Gosch, Peer Boysen, Stephan Müller, Elmar Goerden, Barbara Frey und des Autors selbst soll Aufschluss über die Konstitution des Raumes im äußeren Kommunikationssystem gegeben werden. Die Analyse der Zeichen des Raumes orientiert sich an den Ausführungen von Erika Fischer-Lichte zur Semiotik des Theaters 234 sowie an Manfred Pfisters Darlegungen zur Raum- und Zeitkonzeption im äußeren Kommunikationssystem 235 . Auf die Raumkonzeption des jeweiligen Theaters wird nur da genauer eingegangen, wo man es mit Spielorten zu tun hat, die nicht als Theaterbau konzipiert, sondern zu einem solchen umfunktioniert wurden, wie im Fall der Schiffbauhalle in 231 Vgl. Poschmann 1997, S. 13-19. 232 Vgl. ebd., S. 17. 233 Da das Theater Oberhausen leider keinen Aufführungsmitschnitt der Uraufführung von EM besitzt, muss auf eine Analyse dieser Inszenierung verzichtet werden. 234 Fischer-Lichte 1998 [1983]. 235 Pfister 2001, S. 327-382. <?page no="61"?> 61 Zürich. Die Aufteilung des Raumes in Bühne und Zuschauerraum findet also immer dann besondere Beachtung, wenn sie von der gewohnten Theatersituation abweicht. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt jedoch auf der Gestaltung und Nutzung des Bühnenraums. Bei der Analyse werden Dekoration, Requisite und Licht berücksichtigt sowie die proxemischen Zeichen, die die konkrete Raumnutzung durch Körper und Bewegungen beschreiben. Da der Untersuchungszeitraum vierzehn Jahre umfasst - die ausgewählten Inszenierungen entstammen den Jahren 1996 bis 2009 - muss bei der Analyse auf filmische Aufführungsmitschnitte zurückgegriffen werden. Als Methode bietet sich nur das historiografische Verfahren an. Der Rückgriff auf Videoaufzeichnungen geschieht im Wissen um die Nachteile dieser Quelle, die in ihrer Selektion und Reduktion des Bühnengeschehens begründet liegen. 236 Im Zentrum der Analysen steht der Vorgang der Produktion. Die Kategorien der Rezeption und Wirkung können nicht berücksichtigt werden. Übergeordnetes Ziel der Analyse ist es, die verschiedenen Inszenierungen in den theoretischen Gesamtzusammenhang dieser Arbeit einzuordnen und sich zu fragen, wo zwischen Postdramatik und Dramatik sie ästhetisch zu verorten sind. Die Frage, inwieweit die Regisseure Schimmelpfennigs konkrete Raumentwürfe beherzigen und inwieweit sie sich von ihnen distanzieren leitet die Untersuchung. Es gilt herauszufinden, inwieweit die postdramatische Inszenierungs- und Aufführungspraxis bereits konventionalisierte Züge angenommen hat oder ob sie sich auf dem Rückzug befindet. Im sechsten und letzten Kapitel der Arbeit werden die Untersuchungsergebnisse reflektiert. Es wird danach gefragt, welche neuen Erkenntnisse im Umgang mit zeitgenössischen Theatertexten die Analyse von Schimmelpfennigs Raumentwürfen erbracht hat. 1.7. Exkurs: Der spatial turn - Die Wende zum Raum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts Die Wende zum Raum vollzieht sich im Zuge der Postmoderne, deren Selbstverständnis stark von der Kategorie des Raumes geprägt ist. 237 Der amerikanische Kulturtheoretiker Fredric Jameson gehört zu den Ersten, die die Bedeutung des Raumes für die Kulturwissenschaften erkennen und gezielt für eine Aufwertung der Raumkategorie eintreten. Jameson sieht in 236 Vgl. Von Brincken, Engelhart (Hgg.) 2008, S. 109. 237 Bachmann-Medick 2006, S. 284. <?page no="62"?> 62 der globalen Verräumlichung von Kultur die Essenz der Postmoderne. 238 In seinem Buch „Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism“ spricht er von einer „postmodern spatialization“ 239 . Wie Foucault, der mit seiner Raumtheorie der Heterotopien 240 für die Postmodernen eine Vorreiterrolle einnimmt, hält auch er das Zeitalter der Diachronie für abgeschlossen und überwunden. Mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne sei man eingetreten in die Epoche des Synchronen respektive die Epoche des Raumes: We have often be told, however, that we now inhabit the synchronic rather than the diachronic, and I think it is at least empirically arguable that our daily life, our psychic experience, our cultural languages, are today dominated by categories of space rather than by categories of time, as in the preceding period of high modernism. 241 Mit seinem Plädoyer für eine Aufwertung der Kategorie des Synchronen treibt Jameson die Befreiung des Raumes aus der Unterordnung unter die Zeit voran. Nachdem der Raum Jahrhunderte lang unter der Vorherrschaft der Zeit gestanden hat, beginnt man Ende der achtziger Jahre, den Raum als eine „sozial- und kulturwissenschaftliche Leitkategorie“ 242 wiederzu- 238 Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991, S. 49: “What we must now affirm is that it is precisely this whole extraordinarily demoralizing and depressing original new global space which is the “moment of truth” of postmodernism.” 239 Ebd., S. 420, Fußnote 6. 240 Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter (Hgg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. 5. Aufl. Leipzig 1993, S. 34-46, 34. 241 Jameson 1991, S. 16. Dt. Übersetzung: „Es ist oft gesagt worden, daß wir in einer Zeit der Synchronie und nicht der Diachronie leben, und ich glaube, daß man in der Tat empirisch nachweisen kann, daß unser Alltag, daß unsere psychischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute - im Gegensatz zur vorangegangenen Epoche der ‹Hochmoderne› - eher von den Kategorien des Raums als von denen der Zeit beherrscht werden.“ In: Fredric Jameson: Postmoderne - zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hgg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45-102, 60-61. Von der Aufwertung der Simultaneität zur privilegierten geistigen und künstlerischen Position zeugen auch Elisabeth Bronfens Ausführungen zum literarischen Raum aus dem Jahr 1986. Bronfen verteidigt den Vorrang des Raumes vor der Zeit: „Auch der für die Darstellung von begehbaren wie metaphorischen Räumen wesentliche Begriff der Simultaneität suspendiert die zeitliche, nicht aber die räumliche Dimension als ordnende Struktur.“ (S. 297) Zeit werde letztlich immer zu Raum, weshalb Bronfen von einer Verräumlichung der Zeit spricht. Mit dieser Unterordnung der Zeit unter die Vorherrschaft des Raumes begründet Bronfen die Privilegierung der synchronen Ebene und die Zweitrangigkeit der diachronen Ebene: Siehe: Bronfen 1986, S. 1, 25, 294-295. 242 Bachmann-Medick 2006, S. 285. <?page no="63"?> 63 entdecken. In den Sozialwissenschaften ist es Edward Soja, der in seiner 1989 veröffentlichten Schrift „Postmodern Geographies“ 243 in Anbetracht des wachsenden sozialwissenschaftlichen Interesses an Raumfragen erstmalig von einem „spatial turn“ spricht. Soja beklagt darin die ungebrochene Hegemonie des Historizismus, der man mit einer stärkeren Berücksichtigung und Aufwertung der Raumperspektive begegnen müsse. 244 Statt einer Umkehrung des Machtverhältnisses plädiert Soja dafür, das Zusammenwirken von Raum und Zeit zu untersuchen. 245 Als Hauptleistung des „spatial turn“ nennt der Raumwissenschaftler Stephan Günzel daher das Außerkraftsetzen der Hegelschen Philosophie, mit der die Geschichte zum Apriori und zum Zweck von Kultur erhoben wurde. 246 Die Wiederentdeckung des Raumes als eines bedingenden Faktors führt zur Entmachtung der historischen Zeit. Geschichte wird von nun an nur noch als eine Bedingung neben zahlreichen anderen verstanden. Der postmoderne Pluralismus verdrängt alle allgemeingültigen, absoluten Erklärungsprinzipien. Das Eintreten für eine Aufwertung der Raumperspektive ist jedoch keine spezifische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, sondern lässt sich bis weit ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. So hält bereits Kant den Raum für die notwendige Bedingung aller (äußeren und inneren) Erfahrung. 247 Raum und Zeit als „Anschauungsformen“ spricht er einen apriorischen Charakter zu. 248 Aus dem Apriorismus des Raumes folgert Kant: Der Raum ist demnach ein unbedingt erster formaler Grund der Sinnenwelt. 249 Der Raum ist nach Kant somit eine zentrale Konstituente des menschlichen Seins. Es erscheint daher umso gerechtfertigter, ihn stärker ins Blickfeld der Forschung zu rücken und ihm wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken. 243 Vgl. Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London, New York 1989. 244 Ebd., S. 10. 245 Edward W. Soja: Geschichte. Geographie. Modernität. Übersetzt von Sabine Bröck- Sallah und Roger Keil. In: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt/ M., New York 1991, S. 73-90, 73. Vgl. Michael C. Frank, Kirsten Mahlke: Nachwort. In: Bachtin 2008, S. 201-242. 246 Stephan Günzel: Spatial turn - topographical turn - topological turn. In: Jörg Döhring und Tristan Thielmann (Hgg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 219-237. 247 Kant 2004 [1787], S. 77. 248 Ebd., S. 63: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.“ Ebd., S. 67: „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.“ 249 Ders.: Von dem Raume (1770). Zitiert nach: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hgg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/ M 2006, S. 79. <?page no="64"?> 64 Dennoch bleibt auch der „spatial turn“ nicht unangefochten. Kritiker warnen vor einer neuerlichen Gleichschaltung von Kulturraum und Naturraum und sehen in der Wende zum Raum einen bedenklichen wissenschaftlichen Rückschritt. 250 Um sich gegen solch kritische Stimmen zu immunisieren, führt Sigrid Weigel 2002 den Begriff „topographical turn“ ein 251 . Wie Stephan Günzel betont, dürfen die Begriffe „spatial turn“ und „topographical turn“ jedoch keineswegs synonym gebraucht werden, da entscheidende Differenzen zwischen beiden Raumparadigmen vorlägen. 252 Während der „spatial turn“ eine allgemeine Hinwendung zum Raum und dessen Befreiung aus der Vorherrschaft der Zeit bedeutet, befasst sich der „topographical turn“ in erster Linie mit „Fragen der Konstruktion von Raum als einem territorialen und historischen Gebilde“. So stellt er technische Verfahren der Raumvermessung in den Vordergrund und fragt nach der Kontingenz von Räumen, indem er verschiedene Raum- Settings untersucht. 253 Im Gegensatz zum „spatial turn“, der den Raum aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und Raumfragen aller Art umfasst, arbeitet der „topographical turn“ also mit einem sehr viel engeren auf Kontingenz ausgerichteten Raumbegriff. Stephan Günzel stellt diesen zwei Raumbegriffen einen dritten, von ihm präferierten Begriff gegenüber: den „toplogical turn“, der sich der Analyse von den „trotz aller Veränderungen gleich bleibenden Relationen“ 254 im Raum widmet. Um sich gegen die Kritik zu immunisieren und das spezifisch Neue am Raumdenken des späten 20. Jahrhunderts hervorzuheben, spricht Günzel folglich nicht von einem „spatial turn“, in dem Kritiker ein Zurückfallen in ein substanzialistisches Denken sehen, sondern von einer topologischen Wende, die er wie folgt beschreibt: Die topologische Wende zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht dem Raum zuwendet, wie dies dem spatial turn nachgesagt wird, sondern sich vielmehr vom Raum abwendet, um Räumlichkeit in den Blick zu nehmen. 255 250 Vgl. Roland Lippuner, Julia Lossau: In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften. In: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich (Hgg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Bielefeld 2004, S. 47-64. 251 Vgl. Sigrid Weigel: Zum topographical turn - Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2/ 2. Göttingen 2002, S. 151-165. 252 In seinem oben zitierten Aufsatz „Spatial turn - Topographical turn und Topological turn“ aus dem Jahr 2008 legt Stephan Günzel die Differenzkriterien der Raumparadigmen ausführlich dar. 253 Günzel 2008, S. 223. 254 Ebd., S. 222. 255 Ebd., S. 221. <?page no="65"?> 65 Trotz der oben skizzierten kritischen Vorbehalte gegen den Begriff „spatial turn“ erscheint mir dessen Verwendung als Oberbegriff für die Ende der 80er Jahre einsetzende raumkritische Wende geeignet, und zwar gerade wegen seiner Spannbreite. Er umfasst die unterschiedlichen raumtheoretischen Ansätze, die sich in den verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren herausgebildet haben. So halten auch die Herausgeber der Neuauflage von Bachtins Essay zum Chronotopos in ihrem Nachwort fest: Eines der gegenwärtig prominenten Themen ist der Raum in seiner historischen und sozialen Bedingtheit, aber auch in seiner künstlerischen Gestaltung […]. 256 Die Wahrnehmung des Raumes als kulturelle Größe bedeutet keineswegs ein Zurückfallen in alte Denkweisen, sondern eröffnet vielmehr neue Wege im Umgang mit globalen gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch im Umgang mit Literatur. Die wachsende Bedeutung, die die Raumthematik seit den 80er Jahren in Wissenschaftskreisen erlangt hat und ihre anhaltende Aktualität, erlauben es somit, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Mit Beginn der raumkritischen Wende wird auch die Raumtheorie von Michel Foucault verstärkt rezipiert. Foucaults Aufsatz „Des espaces autres“ aus dem Jahr 1967, in dem Foucault das Zeitalter des Raumes ausruft, wird zu einem der Grundlagentexte der Raumdebatte. Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. 257 Indem Foucault das Simultane zur entscheidenden Analysekategorie des 20. Jahrhunderts erhebt, befreit er den Raum aus der Unterordnung unter die Zeit. 258 Statt der chronologischen Abfolge zählt nun das Nebeneinander von Ereignissen und Prozessen, der postmoderne Pluralismus verdrängt jegliche Form der Hierarchisierung. Die postmoderne Vielheit ersetzt die verlorene Einheit. 259 In einer entpersonalisierten, postmodernen Welt, die von Verunsicherung und Identitätsverlust gekennzeichnet ist, wird der 256 Michael C. Frank, Kirsten Mahlke: Nachwort. In: Bachtin 2008, S. 204. 257 Foucault: Andere Räume. In: Barck, Gente, Paris, Richter (Hgg.) 1993, S. 34. 258 Zur Dominanz von Modellen der Zeit und der Verzeitlichung in den Geisteswissenschaften vgl.: Böhme (Hg.) 2005, S. XII. 259 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 1993, S. 40. <?page no="66"?> 66 Raum zum letzten Bezugspunkt des Menschen. So findet die Raumperspektive auch in der Literaturwissenschaft zunehmend Beachtung. Orte als Thema von Literatur werden zum bevorzugten Untersuchungsgegenstand. Man sucht aufzuzeigen „wie literarische Texte Verortung reflektieren und ausgestalten“ 260 . Elisabeths Bronfens ausführliche Studie zur Beschaffenheit und Funktion des literarischen Raumes in Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage zeugt von dieser Hinwendung zum Raum in der Literaturwissenschaft. Mit Blick auf die Auswirkungen des „spatial turn“ auf die Literaturwissenschaften hält Doris Bachmann-Medick zusammenfassend fest: Die theoretisch geschärfte Neuentdeckung von Räumlichkeit und Örtlichkeit, von Grenzüberschreitungen und Topographien bedeutet für die Literaturwissenschaft durchaus eine Wende. Sie führt weg von der Überbewertung innerer Räume und hin zu einer Aufwertung realer Räume, als Thema, aber auch als Bedingungsumfeld literarischer Texte. 261 Der Raum wird nicht nur als kulturelle, sondern auch als ordnende textuelle Größe erkannt. Einer der Ersten, die auf die organisierende und verdichtende Funktion des Raumes verweisen, ist Max Bense. Lange vor Lotman, dessen Raumtheorie oben skizziert wurde, erkennt er die tragende Rolle des Raumes für das Textganze. In seiner bereits 1943 veröffentlichten philosophischen Studie „Raum und Ich“ definiert er den Raum folglich als den Zusammenhang, der die verschiedenen textuellen Dinge umspannt. 262 So lässt sich seit Ende der achtziger Jahre eine eindeutige Aufwertung der räumlichen Perspektive in den Wissenschaften beobachten. Die Frage nach Relevanz und Funktion von Raum und Räumlichkeit beherrscht die verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften. Im Rückgriff auf die Raumtheorien von Henri Lefebvre 263 und Hartmut Böhme 264 geht man in den Kulturwissenschaften allgemein davon aus, dass Räume nicht einfach gegeben sind, sondern kulturell konstituiert oder um mit den Worten Lefebvres zu sprechen „produziert“ werden. Lefebvre begreift Räume als Wirkung und Folge gesellschaftlicher Verhältnisse. 265 Sie ermöglichen damit die vergleichende Analyse gesellschaftlicher, technischer und sozialer Prozesse. Räume sind somit anisotrop und inhomogen, sie stellen das subjektive Ergebnis der Konstitutionsprozesse von Wahrnehmung, Erfahrung und Bewegung dar. Die strukturelle Beschaffenheit 260 Ebd., S. 308. 261 Bachmann-Medick 2006, S. 310. 262 Max Bense: Raum und Ich. Eine Philosophie über den Raum. München 1943, S. 19. 263 Lefebvre 1974. 264 Böhme (Hg.) 2005. 265 „Jede Gesellschaft […] produziert einen ihr eigenen Raum.“ In: Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes. Zitiert nach: Dünne, Günzel (Hgg.) 2006, S. 330-342, 330f. <?page no="67"?> 67 von Räumen hängt somit von dem den Raum betretenden Subjekt ab und variiert folglich. So hält auch Michel de Certeau in seinem Aufsatz „Praktiken im Raum“ aus dem Jahr 1980 fest: Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. 266 Anja K. Johannsen übernimmt Certeaus raumtheoretische Position und folgert daraus: Von Räumen zu sprechen, bedeutet insofern zwangsläufig, über Positionierungen und Bewegungen der Körper zu sprechen. 267 Die Wahrnehmung des Raumes verändert sich im Zuge seiner Durchschreitung. Folglich kommt der Bewegung in Hinblick auf den Raum eine konstituierende Funktion zu. Auch Hartmut Böhme knüpft mit seinem kulturwissenschaftlichen Raumkonzept an Certeaus Raumtheorie an und macht die Bewegung zum Konstituens von Raum: Raum ist niemals einfach nur da, sondern er ist das, was mit Mühe und Arbeit überwunden werden muß. Denn Raum ist zuerst ein materieller, d.h. lastender und Anstrengung erfordernder Raum. […] Raum wird eröffnet und ausgerichtet erst durch Bewegung. Dieses Aufspreizen und Ausrichten des Raumes geht vom eigenen Leibe aus. 268 Räume konstituieren sich durch die Bewegung in ihnen, gleichzeitig beeinflussen sie die Bewegungs- und Handlungsabläufe aber auch durch ihre jeweilige Beschaffenheit. Lefebvre spricht daher von einem zwischen dem Raum und den in ihm vollzogenen Handlungen bestehenden Wechselverhältnis. 269 Nach diesem kurzen Überblick über Verfahren der Raumkonstitution sollen abschließend unterschiedliche Raumbegriffe vorgestellt werden. Wie Jörg Dünne im Vorwort zu dem 2004 erschienen Sammelband „Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive“ darlegt, lassen sich in Anlehnung an das Drei- Ebenen-Modell von Charles W. Morris 270 drei Raumbegriffe unterschei- 266 Michel de Certeau: Praktiken im Raum. Zitiert nach: Dünne, Günzel (Hgg.) 2006, S. 343-353, 345. 267 Anja K. Johannsen: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008, S. 17. 268 Böhme (Hg.) 2005, S. XVII. 269 Siehe S. 57ff. dieser Arbeit. 270 Vgl. Charles W. Morris: Foundation of the Theory of Signs. Chicago, London 1970 [1938]. Morris unterscheidet drei Ebenen des Zeichengebrauchs: Pragmatik, Semantik und Syntaktik. Überträgt man diese Dreigliederung auf raumtheoretische Überlegungen, so gelangt man zu der oben skizzierten Unterscheidung von kulturpragmatischen, semiotischen und technischen Räumen. <?page no="68"?> 68 den. 271 Es handelt sich dabei um die Ebene der „technischen“, der „semiotischen“ und der „kulturpragmatischen“ Räume. Der Begriff des „technischen Raums“ bezeichnet das räumlich strukturierte Dispositiv, also den medialen Raum. Ist der Raum hingegen Gegenstand zeichenhafter Darstellung, so muss vom „semiotischen Raum“ respektive dem modalen Raum gesprochen werden. Überträgt man diese Terminologie auf das Theater, so umfasst der Begriff des technischen Raums den Spielort, der sich aus Bühne und Zuschauerraum zusammensetzt. Spricht man hingegen vom semiotischen Raum, so ist das Theater als Kunstraum gemeint. Die Unterscheidung dieser zwei Ebenen ist für die vorliegende Studie grundlegend, während die dritte Ebene der „kulturpragmatischen Räume“ weitgehend außer Acht gelassen wird. Unter „kulturpragmatischen Räumen“ ist das räumlich strukturierte kulturelle Umfeld zu verstehen, also das Bedingungsverhältnis, in dem Räume, Medien und Körper zueinander stehen. Der Schwerpunkt einer kulturpragmatischen Raumanalyse läge auf der Gegenüberstellung von individuellen und sozialen Raumpraktiken. 271 Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke (Hgg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Würzburg 2004. <?page no="69"?> 69 2. Struktur und Präsentation des Raumes 2.1. Raumkonzeption Im Unterschied zum postdramatischen Theater, in dem der Raum, so Hans-Thies Lehmann, keine bestimmte Signifikanz besitzt, 272 ist sein Bedeutungsspektrum in Schimmelpfennigs Theatertexten eindeutig festgelegt. Denn sie neigen zu einer genauen räumlichen Situierung des Geschehens. Der zum Schauplatz der fiktiven Handlung gewählte „Realraum“ 273 wird durch detaillierte Angaben im Nebentext und über Äußerungen der Figuren in seiner gegenständlichen Beschaffenheit genau bestimmt und erhält dadurch eine der realen Wirklichkeit entsprechende Kontingenz. Das Vorhandensein einer zu repräsentierenden Wirklichkeit wird hier somit nicht in Frage gestellt. Der Raum erfährt keine Desemantisierung. Er wird nicht zur freien Assoziationsfläche, 274 sondern ist konkretes Zeichen einer zu repräsentierenden Wirklichkeit. Schimmelpfennigs Theatertexte sind in ihrem formalen Raumentwurf somit eindeutig repräsentational, was gegen ihre Zuordnung zu den Werken der Postdramatik spricht oder, wie Gerda Poschmann sie nennt, zu den „nicht mehr dramatischen Theatertexten“, denn diese verschreiben sich nicht der Repräsentation, sondern der Artikulation und der Autoreflexion. 275 Im Gegensatz zu Schimmelpfennigs repräsentationaler Dramatik verabschiedet das postdramatische Theater das traditionelle Verständnis von Theater als szenischer Repräsentation von Lebenswelt. 276 Obwohl Schimmelpfennigs Theatertexte in ihrer Struktur oftmals räumliche Offenheit aufweisen, d.h. mehrere Ortswechsel enthalten, ähneln sie in ihrer Tendenz zu einer hohen räumlichen Konkretisierung sowie in ihrem realistischen Anspruch den Werken der Naturalisten, deren Raumvorstellung Joachim Hintze wie folgt beschreibt: 272 Lehmann 1999, S. 306. 273 Hintze 1969, S. 108. 274 Vgl. die Ausführungen von Christel Weiler zum postdramatischen Theater: „Charakteristisch für das p. Th. sind somit die Hervorhebung der theatralen Mittel Körper, Stimme, Raum und Zeit als solche. Ihr komplexes Zusammenspiel in der theatralen Darbietung folgt nicht mehr den Konventionen herkömmlicher Narrative, sondern orientiert sich eher an übergreifenden Rhythmen und assoziativen Feldern.“ In: Weiler: Postdramatisches Theater. In: Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat, 2005, S. 248. 275 Poschmann 1997, S. 25. 276 Ebd., S. 8. Siehe auch S. 22-29 (Die Krise der Repräsentation). <?page no="70"?> 70 Der Raum erscheint jetzt als für das jeweilige Drama spezifischer, in seiner Faktizität genau bestimmter Ausschnitt der realistisch gestalteten, empirischen Wirklichkeit. 277 Ausgehend von der Erkenntnis, dass die soziale und natürliche Umwelt den Menschen in einen Kausalitätszusammenhang stellen, erfährt der Raum im Drama des Naturalismus eine starke Aufwertung. Er wird zum „Träger der Handlung“ und damit zum Determinationsprinzip. 278 Die nachfolgenden Ausführungen zur Struktur und Präsentation des Raumes sollen Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit dem Raum in Schimmelpfennigs Theatertexten eine solche determinierende Funktion zukommt. 2.2. Raumkonstituierende Funktionen von Haupt- und Nebentext Das folgende Unterkapitel widmet sich den unterschiedlichen sprachlichen Lokalisierungstechniken, derer sich Schimmelpfennig in seinen Theatertexten bedient. Auf außersprachliche Techniken der Raumkonstitution, wie sie das Bühnenbild mit seinen Kulissen und Versatzstücken, die Beleuchtung und die aktionalen Abläufe auf der Bühne (Bühnenpräsenz, Bewegungsabläufe wie Auftritte und Abgänge) darstellen, wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Sie werden im fünften Kapitel im Rahmen der Inszenierungsanalysen für jedes der ausgewählten Stücke gesondert betrachtet. Der dramatische Text bietet grundsätzlich zwei Möglichkeiten für den sprachlichen Raumentwurf, die sich aus seiner traditionellen Gliederung in Haupt- und Nebentext ergeben. So kann der Raumentwurf entweder über Regieanweisungen im Nebentext erfolgen oder aber durch die Figurenrede. Während es sich bei den Angaben im Nebentext, um direkte Anweisungen handelt, die den Schauplatz der fiktiven Handlung konkretisieren und Vorschläge zu einer Visualisierung im theatralischen Raum machen, 279 enthält der Haupttext lediglich versteckte und somit indirekte Hinweise für den Raumentwurf. Räumliche Details müssen hier der Figurenrede entnommen werden. 280 Doch lassen moderne Theatertexte die strikte Trennung in Haupt- und Nebentext häufig hinter sich, was Konsequenzen für den Raumentwurf mit 277 Hintze 1969, S. 14-17, 107f. 278 Ebd., S. 13, 41-49. 279 Zu den Dramen, in denen dem Nebentext die klassische Rolle der Szenensituierung und des Raumentwurfs zukommt, was nicht heißen soll, dass die Figurenrede für die Konkretisierung des Raumes hier bedeutungslos ist, gehören: ASW, BV, EM, FF, GS, HUJ, KA, RT. 280 Vgl. Hintze 1969, S. 3f. <?page no="71"?> 71 sich bringt. Nicht selten wird auf die erläuternde Funktion des Nebentextes gänzlich verzichtet. So finden sich auch unter Schimmelpfennigs Stücken etliche, die den Raumentwurf im Nebentext weitgehend durch die Raum schaffenden Möglichkeiten der Figurenrede ersetzen. Zu diesen gehören „Vorher/ Nachher“, „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3“, „Hier und Jetzt“ und „Der goldene Drache“. Die ursprünglich im Nebentext gebündelten Szenenanweisungen erhalten in diesen Stücken Einzug in den Haupttext und werden mit ihm verflochten. In anderen Stücken wie „Vor langer Zeit im Mai“ wird der konkrete Raumentwurf in postdramatischer Manier zugunsten der sich frei entwickelnden Energetik von sich im Raum bewegenden Körpern aufgegeben. Nahezu allen Schimmelpfennig-Stücken gemein ist jedoch ein an den Anfang gestellter Raumentwurf. 281 Der Hauptschauplatz des Geschehens wird in fast allen Stücken benannt, sei es über Nebentextanweisungen oder Figurenrede, die mal mehr, mal weniger konkret ausfallen. Anhand von zwei Beispielen aus „Das Reich der Tiere“ und „Vorher/ Nachher“ sollen die unterschiedlichen Möglichkeiten der Raumkonstitution vorgestellt werden. In „Das Reich der Tiere“, dem zweiten Teil der „Trilogie der Tiere“, überantwortet Schimmelpfennig den Raumentwurf dem Nebentext. Der Theatertext beginnt mit einer detaillierten Regieanweisung, die den Schauplatz der Handlung konkretisiert: Zwei Schauspieler in ihrer Garderobe, Peter und Frankie.[…] 282 Bereits der erste Satz der ausführlichen Nebentextanweisung verschafft Klarheit über den zentralen Ort des Geschehens: Eine Künstlergarderobe. Das im Anschluss ausführlich beschriebene Verkleidungszeremoniell macht deutlich, dass es sich um eine Theatergarderobe handeln muss. Auch in „Vorher/ Nachher“ wird der Hauptschauplatz der fiktiven Handlung in der ersten Szene konkretisiert. Allerdings vollzieht sich der Raumentwurf hier nicht über den Nebentext, sondern über die Figurenrede. Eine alte Frau eröffnet die Handlung mit einem kurzen Monolog und benennt den Ort des Geschehens: DIE FRAU ÜBER SIEBZIG Normalerweise mache ich in solchen Hotels das Licht im Bad gar nicht an. 283 Die raumschaffenden Möglichkeiten der Figurenrede lassen sich besonders gut an einem Beispiel aus „Auf der Greifswalder Straße“ veranschaulichen. In Szene 2.13 vermitteln die Figuren Täubchen, Schmidti und Babsi ein genaues Bild von der Beschaffenheit des Dramenschauplatzes. Ihre Be- 281 Ausnahmen bilden Schimmelpfennigs Erstlingswerk „Fisch um Fisch“ und das Einpersonenstück „MEZ“, in dem der Raumentwurf jedoch an späterer Stelle nachgeholt wird. 282 RT, S. 91. 283 VN, S. 403. <?page no="72"?> 72 schreibung der Greifswalder Straße erinnert in ihrer Objektivität und Ausführlichkeit an die Nebentextanweisungen des naturalistischen Theaters: TÄUBCHEN/ SCHMIDTI/ BABSI Sie steht am Fenster und testet eine neue Kamera. Sie photographiert durch die Scheibe die Straße. Das macht sie oft. Vor ihr der Fußweg, zwei Fahrbahnen, dann die Straßenbahnhaltestelle Richtung stadteinwärts, 2 Gleise, die Straßenbahnhaltestelle stadtauswärts, zwei Fahrbahnen und eine Linksabbiegerspur, der breite Bürgersteig auf der anderen Straßenseite. Der Tabakladen. Daneben der Copy-Shop. Vor dem Copy-Shop dessen Besitzer Frank mit einer Zigarette. Eine Bahn rattert vorbei. Siebenundfünfzig. Babsi photographiert. Ein paar Fußgänger, ein rotes Auto. Ein silbernes Auto. 284 Die Detaildichte der Beschreibung macht eine Visualisierung des Schauplatzes in Form eines Bühnenbildes schlichtweg überflüssig. Auch in den 2001 uraufgeführten Stücken „Die arabische Nacht“ und „Push Up 1-3“ überantwortet Schimmelpfennig den Raumentwurf der Figurenrede. Die Monologe der beiden Hausmeister Lomeier und Heinrich ersetzen die einführenden, den Raum konstituierenden Nebentextanweisungen. Obwohl die von ihnen gegebenen detaillierten Beschreibungen des Schauplatzes sachlich und nüchtern erscheinen und ihre Funktion als Hausmeister sie als besondere Kenner der Gebäude qualifiziert, handelt es sich bei der Charakterisierung des Ortes dennoch um ihre subjektive Sicht. Schimmelpfennig wählt die Perspektive einer Figur, um in die Handlung einzuführen und bedient sich bei der Raumkonstitution in diesen zwei Theatertexten somit der erzählerischen Mittel des Romans. Der Ort der Handlung und die Hauptfiguren werden nicht, wie im klassischen Drama üblich, über den Dialog eingeführt, sondern in Monologform. Indem beide Texte mit der narrativen Rede eines Einzelnen beginnen, erhalten sie epische Züge. 285 In „Die arabische Nacht“ werden die Szenenanweisungen darüber hinaus so eng mit dem Haupttext verflochten, dass eine Trennung von Neben- und Haupttext unmöglich wird. Die völlige Integration der Szenenanweisungen in die Rede der Figuren macht diese zu narrativen Beob- 284 GS, Szene 2.13, S. 442. Anmerkung der Verfasserin: Bei Zitaten aus GS werden zusätzlich zur Seitenzahl auch die Szenen angegeben, da auf einer Seite mehrere Szenen abgedruckt sind. 285 Zum Einsatz epischer Erzählmittel in beiden Stücken siehe Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit, S. 173-175. <?page no="73"?> 73 achtern. Innere Gedankengänge einzelner Figuren werden durch die Beobachtungen der anderen Figuren vorweggenommen. Das Verschmelzen von Bewusstseinsvorgängen und Handlung begründet eine Dramaturgie der „vollkommenen Sichtbarkeit“ und rückt den Theatertext in die Nähe der Poesie, wie Peter Michalzik in seinem Vorwort zum Sammelband „Die Frau von früher“ festhält: In der Logik der Poesie geschieht allerdings vor allem eins. Da löst sich das Innen und das Außen des Dramas auf, das Bewusstsein und die Handlung werden eins. […] Die Stücke bekommen dadurch eine Totalität, die Regisseure vor größere Aufgaben stellt, als eine Tonlage für die Szenenanweisung zu finden, und sie bekommen jene Gegenwärtigkeit, die sie spannend werden lässt. Die Verbindung von Figurenrede und Szenenanweisung ist vollkommene Sichtbarkeit. 286 Eine ebensolche Verbindung von Figurenrede und Nebentext weist „Der goldene Drache“ auf. Auch hier integriert Schimmelpfennig die raumkonstituierenden Szenenanweisungen in die Figurenrede, ohne ihnen jedoch den Charakter eines erläuternden Nebentextes zu nehmen. So beginnt die Mehrzahl der Szenen mit einer Schauplatzbenennung durch eine der Figuren, die mal die Länge und Ausführlichkeit der Regieanweisungen des naturalistischen Theaters besitzt (vgl. Szene 14), mal von prägnanter Kürze ist (vgl. Szene 13). 287 Im weiteren Verlauf der Szenen kommt es dann immer wieder zur Verschmelzung der Ebenen der kommentierenden Beobachtung und der direkten Äußerung, so auch in der Eröffnungsszene: DER MANN Nicht schreien, aber er schreit; er schreit, und wie er schreit - Die junge Frau schreit vor Schmerz. Die Frau über sechzig brät Nudeln im Wok. Es zischt. 288 Wie das Zitat verdeutlicht, wechseln die Figuren in ein und derselben Replik von der Rolle eines aktiv Handelnden zu der eines distanzierten Beobachters, der das Geschehen von außen kommentiert. Sie werden zu Erzählern ihrer eigenen Geschichte. Die Konstitution des Raumes vollzieht sich über die Wortkulisse. Auch in „MEZ“, das hier erwähnt werden soll, obwohl es nicht zu den für die ausführliche Analyse ausgewählten Stücken gehört, erfolgt der 286 Peter Michalzik im Vorwort zu: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Stücke 1994-2004. Hg. von Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven. Frankfurt/ M. 2004, S. 7-16, 13. 287 Im Unterschied zu AN, wo die Trennung von Haupt- und Nebentext fast vollständig aufgehoben ist, wird sie in GD trotz der Integration von Nebentextangaben in den Haupttext aufrechterhalten. Denn jede Szene weist einen kurzen einleitenden Nebentext auf, der das Personal der jeweiligen Szene benennt. 288 GD, Szene 1. <?page no="74"?> 74 Raumentwurf über die Figurenrede. Der epische Anklang ist hier um ein Vielfaches verstärkt, da der Theatertext keinerlei Dialogpassagen besitzt. Es scheint, als dürfe der Gesprächsfluss der monologisierenden Frau um keinen Preis gestört werden, daher auch der völlige Verzicht auf Szenenanweisungen. Im Unterschied zu den beiden anderen Theatertexten werden die konkretisierenden Angaben zum Schauplatz hier jedoch nicht bereits zu Beginn gegeben, sondern an verschiedenen Stellen des Monologs eingestreut, was damit zusammenhängt, dass sich das in Monologform berichtete Geschehen an unterschiedlichen Orten abspielt. Einer der zahlreichen Schauplätze wird wie folgt beschrieben: Die weiße Farbe am Türrahmen ist abgesprungen, und das Schloß klemmt, aber nur beim Aufsperren. Die Dielen sind krumm. Von der Fußleiste läuft ein Kabel rauf zur Klingel, schon mehrfach übergestrichen. Links geht es in die Küche mit Blick zur Straße: ein Tisch, drei Stühle, Kühlschrank, Herd, Spüle, Schrank. Unten im Schrank stehen die Gläser und das Geschirr, Besteck und Küchenmesser sind in den Schubladen in der Mitte, oben: gelbrot verpackte Gemüsebrühwürfel, Zucker, Tee, Kaffee, Nudeln, zwei oder drei Dosen, was man so braucht. In der Ecke der graue eiserne Heizkörper neben dem Fenster. 289 Die extreme Detaildichte der Informationen zum Raum, die in Stücken wie „MEZ“ oder „Ende und Anfang“ in den Haupttext integriert werden, erinnert an die ausladenden, den Schauplatz konkretisierenden Szenenanweisungen im Theater des Naturalismus. 290 Jedoch lässt sich den so überaus detaillierten Angaben zum Raum, die in den Dialog oder Monolog der Figuren eingegliedert werden, neben der konkretisierenden Funktion auch eine dekonstruktivistische Tendenz nachsagen. Denn die extreme Fülle an Details, mit denen der Raum beschrieben wird, kann auch zur Desorientierung und Verunsicherung des Zuschauers führen, da er die Vielzahl an Informationen zum Raum unmöglich gleichzeitig aufnehmen und in ein Bild übersetzen kann. 291 Im Unterschied zum Naturalismus, wo die aus- 289 MEZ, S. 282. 290 Auch Birgit Haas weist in ihren Ausführungen zum Gegenwartstheater darauf hin, dass zeitgenössische Dramenautoren wieder verstärkt zu naturalistischen Verfahren greifen, um den im postdramatischen Theater verloren gegangenen Zuschauerbezug zu retablieren. Vgl. Haas 2007, S. 68. 291 Vgl. Helmut Scheffel: Auf der Suche nach dem Subjekt. Die Auflösung des Helden im »nouveau roman«. In: Peter Kemper (Hg.): ›Postmoderne‹ oder Der Kampf um die Zukunft. Die Kontroversen in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft. Frankfurt/ M. 1988, S. 82-103, 92-93. Zu Robert Pingets Roman „L’inquisitoire“ schreibt Scheffel: „Aus den […] meistens aber sehr detaillierten Antworten erfährt man zwar eine Fülle von Einzelheiten über die Gebäude, deren Einrichtung, über die Herren, die vielen Besucher, das Personal […]. Doch je mehr Details angehäuft werden, umso undurchsichtiger wird das Ganze. […] Die Ereignisse sind in einem Meer aus Einzelheiten untergegangen.“ Ein hohes Maß an Informationsdichte muss somit kein Garant für <?page no="75"?> 75 führlichen Nebentextinformationen zum Ort des Geschehens an Regisseur und Bühnenbildner adressiert sind und von ihnen bildlich umgesetzt werden, wird der bildliche Raumentwurf im Gegenwartstheater oftmals ganz dem Rezipienten überantwortet. Es kommt erschwerend hinzu, dass zeitgenössische Theaterstücke sich häufig nicht auf nur einen Schauplatz begrenzen und der Rezipient sich folglich eine Vielzahl an Orten innerlich vergegenwärtigen muss, da auf Visualisierungen in Form konkretisierender Bühnenbilder und Dekorationen oftmals verzichtet wird. Schimmelpfennig scheint bewusst damit zu spielen, das räumliche Vorstellungsvermögen des Rezipienten durch eine extreme Dichte an Information zu überfordern und die detailgetreu entworfene Wirklichkeit auf diese Weise noch im Entwurf zu dekonstruieren. Dies mag ein Auszug aus „Ende und Anfang“, dem dritten Teil der „Trilogie der Tiere“, verdeutlichen. Der ausgewählte Nebentext leitet die erste Szene ein: Leere und halbvolle Flaschen, Wasserflaschen, Bierflaschen, Weinflaschen, in manchen schwimmen Zigarettenkippen, sich aus der Spüle auftürmendes dreckiges Geschirr und Besteck, auf der Arbeitsfläche daneben viele Gläser, Wassergläser, eingetrocknete Weingläser, Tassen, Becher, alles benutzt, dazwischen aufgeweichtes Gemüse, Karotten, Zwiebeln, durchtränkt von Milch, die im Kühlschrank umgekippt war, eine Schale mit langsam verschimmelnden Äpfeln und Orangen, Käserinden, alte Käsestücke, Wurstscheiben, halbverpackt und halbvertrocknet, ein Toaster, überall Reste von gemahlenem Kaffee, in der Spüle, auf dem Herd, ein fast verbrannter Kessel ohne Wasser, zwei ineinandergestellte Pfannen, beide halbvoll mit verkrusteten Resten eines oder mehrerer Abendessen, Dosen, manche noch zu, manche offen und leer, manche offen und halboffen, verrostet, verschimmelt, vertrocknet, geschälte Tomaten, Bohnen, dazwischen aufragende Putzmittel in Plastikflaschen, zwei fast voll, eine leer … 292 Die Ausführlichkeit der Angaben übersteigt die Detaildichte der naturalistischen Szenenanweisungen um ein Vielfaches. Der Raum wird in kleinste Einzelteile zerlegt, wird aufgebrochen, weshalb es angemessen erscheint, hier von einer dekonstruktivistischen oder auch surrealistischen Tendenz zu sprechen, wie das folgende Zitat des französischen Schriftstellers Michel Tournier bekräftigen soll: Um die Dinge aufzubrechen, vertrauen die surrealistischen Maler mehr der untrüglichen Sicherheit des Strichs als der atmosphärischen Verschwommenheit des Traums. Je nüchterner man das Wirkliche kopiert, um so eher wird man es von innen herumstürzen. 293 Übersichtlichkeit und besseres Verständnis bzw. Nachvollziehbarkeit sein, sondern kann ganz im Gegenteil den Leser sogar verunsichern. 292 EA, S. 159. 293 Michel Tournier: Le Vent Paraclet. Paris 1983, S. 115. <?page no="76"?> 76 Die übertrieben genaue Wiedergabe der Wirklichkeit in „Ende und Anfang“ kann somit als Versuch gedeutet werden, das Wirkliche umzustürzen, es zu dekonstruieren. Hinter dem bei Schimmelpfennig stellenweise zutage tretenden formalen Traditionalismus verbirgt sich demnach die gleiche antitraditionalistische Absicht, die Peter Bürger in seinem „Versuch einer postmodernen Lektüre“ dem Autor Tournier selbst nachsagt: [...] die objektivistische Wiedergabe soll ins Halluzinatorische umschlagen. 294 Und auch Dieter Kafitz hält in seinen Ausführungen zum Drama der Postmoderne fest: „[D]urch extreme Übersteigerung schlägt aber Realismus in evokative Zeichenhaftigkeit um.“ 295 Es kann bei Schimmelpfennig daher durchaus von einer dekonstruktivistischen Tendenz gesprochen werden, die ein Erbe der Postmoderne darstellt. 296 Ein anderes Beispiel für die anscheinend bewusste Dekonstruktion des konstruierten, konkreten Raumes findet sich in „Besuch bei dem Vater“, dem ersten Teil der „Trilogie der Tiere“. Das Stück beginnt mit folgendem Nebentext: Die leere Bühne: Ein großes, altes Landhaus. 297 Aus dem konkretisierten Raum „Landhaus“ wird durch die Ergänzung „Die leere Bühne“ ein Transitionsraum, der sich einer genauen Bestimmung widersetzt. Der Raum wird desemantisiert. Wie das Beispiel verdeutlicht, geschieht der Rückgriff auf eine konkretisierende, konventionalisierte Raumstruktur somit nicht ohne postmoderne Brechungen. 298 Indem Schimmelpfennig den Raum über die komplementären Begriffe „Landhaus“ und „leere Bühne“ definiert, dekonstruiert er ihn auf der Textebene gemäß der von Joseph Hillis Miller gegebenen Definition: 294 Peter Bürger: Das Verschwinden der Bedeutung. Versuch einer postmodernen Lektüre von Michel Tournier, Botho Strauß und Peter Handke. In: Kemper (Hg.) 1988, S. 294-312, 300. 295 Dieter Kafitz: Bilder der Trostlosigkeit und Zeichen des Mangels. Zum deutschen Drama der Postmoderne. In: Wilfried Floeck (Hg.): Tendenzen des Gegenwartstheaters. Tübingen 1988. 296 Zur Dekonstruktion als postmoderner Theorie vgl.: Peter von Zima: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen, Basel 1994, S. 229-237 sowie Hassan: Toward a concept of Postmodernism. In: ders. 1987, S. 84-96, 92-94. 297 BV, S. 9. 298 Die Leere der Bühne erinnert an die wenig konkretisierenden Raumkonzeptionen in Samuel Becketts Dramen. Folgt man den Ausführungen Manfred Pfisters, so bedeutet die Leere der Bühne einen Hinweis auf die existenzielle Situation der Figuren. Das Fehlen eines Dekors assoziiert Pfister mit „Isoliertheit“, „Richtungslosigkeit“ und „Weltverlust. Die Figuren werden zu Repräsentanten eines „allgemeinen existentiellen Modells“. Pfister 2001, S. 349. Peters selbstreflexive Frage „wer weiß das, wo er steht“ (BV, S. 30) lässt eine solche Deutung auch für BV durchaus angemessen erscheinen. <?page no="77"?> 77 The heterogeneity of a text (and so its vulnerability to deconstruction) lies rather in the fact that it says two entirely incompatible things at the same time. Or rather, it says something which is capable of being interpreted in two irreconcilable ways. It is »undecidable«. 299 Der von Schimmelpfennig bewusst herbeigeführte Widerspruch, der eine eindeutige Raumkonstitution unmöglich macht, ruft David Lodges Charakterisierung postmoderner literarischer Verfahren in Erinnerung. Lodge sieht in der Inszenierung absichtsvoller und unauflöslicher Widersprüche ein besonderes Kennzeichen postmoderner Literatur. 300 Und auch Wolfgang Welsch verweist auf die Instrumentierung des Differenten in der Postmoderne am Beispiel der Politik: Postmodern geht es um eine Instrumentierung des Differenten, will sagen: um eine Koexistenz des Unterschiedlichen und einander Widerstreitenden, die nicht mehr darauf angewiesen ist, den Widerstreitcharakter zu tilgen. 301 Um eine solche Instrumentierung des Differenten handelt es sich bei dem erläuterten Nebentext. Trotz einer Rückkehr zu traditionellen Methoden der Raumkonstitution lassen sich bei Schimmelpfennig folglich postdramatische Tendenzen nachweisen, die belegen, dass die Rückbesinnung auf traditionelle dramatische Verfahren kein Absinken in Traditionalismus und unzeitgemäße Konventionen bedeutet. Vielmehr zeigen Autoren wie Schimmelpfennig neue Wege auf, mit etablierten Verfahren und den postmodernen Neuerungen kreativ zu verfahren. 302 Vage und unbestimmt bleibt der Raumentwurf in dem um die Jahrtausendwende entstandenen Stück „Vor langer Zeit im Mai“ (UA 2000), das daher stark postdramatisch anmutet. Obwohl Schimmelpfennig in den einundachtzig bruchstückhaften Szenen, die verschwommenen Erinnerungen gleichen, nicht auf die erläuternde Funktion eines Nebentextes verzich- 299 Joseph Hillis Miller: Theory now and then. Durham 1991, S. 107. Dt. Übersetzung: Die Heterogenität eines Textes (und damit seine Anfälligkeit für Dekonstruktion) ist eher in der Tatsache begründet, dass er zwei grundverschiedene Bedeutungen gleichzeitig ausdrückt [Eigene Übersetzung: Oder vielmehr, sagt er etwas aus, das man auf zwei unvereinbare Weisen interpretieren kann]. Er ist unentscheidbar.“ 300 David Lodge: The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Typology of Modern Literature. London 1977, S. 240. 301 Wolfgang Welsch: Einleitung. In: ders.: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin 1994 [1988], S. 1-43, 38. 302 Eine vergleichbare Entwicklung stellt Vera Nünning für die britische Romanliteratur an der Wende zum 21. Jahrhundert fest: „[…] this does not mean, however, that British authors at the turn of the century just nostalgically hark back to former times and choose to ignore the developments that led to postmodernists fiction; they rather pursue exciting new roads, the destinations and intersections of which have yet to be explored”. Vera Nünning: Beyond Indifference. In: Stierstorfer (Hg.) 2003, S. 235-254, 254. <?page no="78"?> 78 tet, so sind die dort gemachten Angaben dennoch wenig konkret. Der Autor reduziert sie auf knapp gehaltene Informationen zu den Handlungsabläufen. Er gibt lediglich Richtung und Tempo der Bewegungen im Raum vor. So bleibt der Raumentwurf, abgesehen von dem Hinweis auf die Existenz einer Wand als Bühnenbegrenzung, vage und unkonkret, wie die mehrfach wiederholte Angabe „die leere Bühne“ verdeutlicht. Auf konkretisierende Angaben zum Schauplatz des Geschehens wird hier bewusst verzichtet, das Dargestellte kann überall stattfinden. Es sind die Bewegungen der Darsteller, die auf der Bühne kreisenden Körper, die den Raum determinieren. Bühne und Bühnengeschehen verschmelzen zu einem energetischen Ganzen, in das auch der Rezipient unweigerlich hineingezogen wird. Im Idealfall kommt es so zu einer Überbrückung der Rampe, die Bühne und Zuschauerraum voneinander trennt. Trotz der hier beschriebenen dekonstruktivistischen Tendenzen zeugen Schimmelpfennigs jüngste Stücke aber überwiegend von einer Aufwertung des Nebentextes in seiner Bedeutung für den Raumentwurf, wie die folgenden Textbeispiele aus jüngeren Stücken verdeutlichen sollen. So wird die Mehrzahl der dreiundsechzig Kurzszenen in „Auf der Greifswalder Straße“ (UA 2006) mit erklärenden Szenenanweisungen eingeleitet, die den Ort und den Zeitpunkt des Geschehens festlegen und darüber hinaus das Personal der jeweiligen Szene vorstellen: Auf der Straße, mitten in der Nacht. Ein schwerer Mann Anfang sechzig in einem Bademantel. Er blickt suchend die Straße runter und ruft laut und grob nach seinem Hund. 303 Auch das im April 2008 in Zürich uraufgeführte Stück „Hier und Jetzt“ beginnt mit einem Raum und Zeit konkretisierenden Nebentext. Die Angaben sind so genau, dass man die Szene malen könnte. Sie erinnert an ein impressionistisches Tableau: Ein Sommerabend. Es ist schon spät und immer noch warm. Eine Hochzeitsfeier unter freiem Himmel nach Anbruch der Nacht. Eine lange Tafel aus zusammengestellten Tischen. Man hat Lampen oder Scheinwerfer auf Stativen aufgestellt, um Licht zu haben. Viele Flaschen, Gläser, Teller. Es wird viel gegessen und getrunken. Nach einer Weile steht links am Tisch ein Mann auf, er ist zwischen sechzig und siebzig. Er hält ein Glas Wein in der Hand, das er sich gerade noch eingeschenkt hat. Weinflaschen sind immer in Reichweite. 304 Ähnlich detaillierte Nebentextanweisungen finden sich darüber hinaus in dem Theatertext „Ambrosia“ (UA 2005) und in den oben bereits genannten Theatertexten „Das Reich der Tiere“ (UA 2007) und „Besuch bei dem Va- 303 GS, Szene 1.1, S. 415. 304 HUJ, Spalte 1, oben. Da das Programmheft Plakatformat besitzt und folglich keine Seitenzählung besitzt, wird nach Spalten zitiert. <?page no="79"?> 79 ter“ (UA 2007). 305 In Letzterem korrespondiert die Aufwertung des Nebentextes darüber hinaus mit einer Rückbesinnung auf den klassischen Dramenaufbau mit Szene und Akt, was die These einer Wiederkehr dramatischer Formen im zeitgenössischen Theater unterstützt. 2.3. Offene und geschlossene Raumstruktur Obwohl die Poetik des Aristoteles keine klaren Angaben zu einer Einheit des Ortes macht, kommt der Forderung nach einem einheitlichen Schauplatz der Handlung in der Geschichte des Dramas große Bedeutung zu. 306 Dies ist vor allem auf die dramentheoretischen Normierungsbestrebungen im Zeitalter von Renaissance und Barock zurückzuführen, im Zuge derer es zu einer strengen Auslegung der aristotelischen Lehre von den drei Einheiten kommt. 307 Die Verabsolutierung seiner Lehre kann jedoch kaum im Sinne von Aristoteles sein, der lediglich die Einheit der Handlung ausdrücklich fordert. 308 Trotz der Abschaffung der Regelpoetik im 18. Jahrhundert durch Kritiker wie Lessing ist die Betrachtung des Dramas unter dem Aspekt der räumlichen Offenheit oder Geschlossenheit auch heute noch von Relevanz. So kann die Wahl der räumlichen Geschlossenheit, laut Pfister, gerade weil sie nicht mehr normative Vorgabe ist, thematisch begründet sein. 309 Beispiele für eine solche thematische Funktionalisierung der räumlichen Geschlossenheit finden sich auch bei Schimmelpfennig. In „Besuch bei dem Vater“ führt die räumliche Konzentration auf den privaten Innenraum des Landhauses zu einem gesteigerten Konfliktpotential. Der räumlichen Geschlossenheit kommt hier die gleiche Funktion zu wie in dem naturalistischen Drama „Die Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf. In beiden Theatertexten verdeutlicht die Konstanz des Schauplatzes: […] die Unausweichlichkeit der Geschehnisabläufe […], die als eine mit fatalistischer Konsequenz sich vollziehende krisenhafte Entladung von Spannungen erscheinen, die sich in der Vergangenheit […] aufgestaut haben. 310 Pfisters Charakterisierung der Raumfunktion in „Die Familie Selicke“ trifft auch auf Schimmelpfennigs Rachedrama „Die Frau von früher“ zu. Ob- 305 Vgl. Roland Schimmelpfennig: Ambrosia. Satyrspiel. 1. Szene. In: Koberg, Stegemann, Thomsen (Hgg.) 2006, S. 152. BV, S. 9. 306 Vgl. Volker Klotz: Offene und geschlossene Form im Drama. 10. Aufl. München 1980. 307 Ein kurzer, informativer Abriss über die normative Theoriebildung findet sich in: Pfister 2001, S. 330-333. 308 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2001, S. 26- 29. 309 Pfister 2001, S. 334. 310 Ebd., S. 335. <?page no="80"?> 80 wohl die Einheit des Raumes dort nicht mit letzter Konsequenz durchgehalten wird, 311 es gibt epische Einschübe, die außerhalb des Hauptschauplatzes, dem Hausflur, situiert sind, verleiht die Konzentration auf den Innenraum dem dortigen Geschehen einen fatalistischen Charakter. Da es für Frank und seine Familie keinerlei Ausweichmöglichkeiten gibt, kann das mit dem Auftauchen von Romy Voigtländer verbundene Unheil ungehindert seinen Lauf nehmen. Weitet man den Begriff der räumlichen Geschlossenheit von einem Zimmer auf die verschiedenen Räume eines ganzen Hauses aus, so kann auch bei „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3“, „Vorher/ Nachher“ und „Der goldene Drache“ von einer geschlossenen Raumstruktur gesprochen werden. Die räumliche Begrenzung ist für die Aussage der Theatertexte konstitutiv. So verdeutlicht der Verzicht auf einen Schauplatzwechsel in „Push Up 1-3“ die Dominanz des Arbeitslebens gegenüber dem Privatleben. In „Die arabische Nacht“ ruft die Konzentrierung der Handlung auf die Räume eines zehnstöckigen Mietshauskomplexes ein Gefühl von drangvoller Enge hervor und erklärt somit die Ausbruchsversuche der Figuren. Das Hotel, Schauplatz des Geschehens in „Vorher/ Nachher“, verstärkt das den Text durchziehende Motiv der Sehnsucht nach Veränderung. Darüber hinaus garantiert die Geschlossenheit des Raumes den Zusammenhang der einundfünfzig Szenen. 312 Gleiches gilt auch für das aus achtundvierzig Szenen bestehende Stück „Der goldene Drache“. Das Geschehen konzentriert sich auf ein mehrstöckiges Wohnhaus, in dem sich unten ein Schnellrestaurant und ein Lebensmittelgeschäft befinden. Sechsundvierzig der achtundvierzig Szenen haben Innenräume des Wohnhauses zum Schauplatz. Auch wenn die Innenräume variieren, die Handlung mal im obersten, mal im untersten Stock spielt, sorgt der übergeordnete räumliche Rahmen für den Eindruck räumlicher Geschlossenheit. In lediglich zwei Szenen findet ein echter Schauplatzwechsel statt. Es handelt sich um die Schlussszenen 46 und 48, die Schimmelpfennig nach draußen verlegt. Die geschlossene Struktur des Theatertextes unterstreicht das Wort „EN- DE“, mit dem die letzte Szene schließt. Auch in „Die ewige Maria“, das zu Schimmelpfennigs frühen Stücken gehört, verzichtet der Autor auf Schauplatzwechsel und verdeutlicht auf diese Weise, wie stark die Figuren durch den ländlichen Raum und den dort verbreiteten Volks- und Aberglauben geprägt sind. Durch die Wahl 311 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mehrzahl der Dramen um eine Tendenz zur Geschlossenheit bzw. Offenheit handelt. Eindeutige Zuweisungen zur einen oder anderen Seite sind aufgrund der häufigen Verarbeitung von epischen Elementen nur in den seltensten Fällen möglich. 312 In GS übernimmt der räumliche Rahmen der Straße diese verknüpfende Funktion. Siehe S. 120-123 dieser Arbeit. <?page no="81"?> 81 der Bäckerei zum konstanten Schauplatz des Geschehens wird die Abhängigkeit des Brautpaares von der finanziellen Hilfe des Bäckers Franz hervorgehoben. Die Konstanz des Schauplatzes deutet den Verlauf des Stückes an: Für Maria gibt es kein Leben außerhalb der Bäckerei. Auch das Adjektiv „ewig“ lässt sich darauf beziehen, dass Maria auf unbegrenzte Zeit in der Bäckerei bleiben wird. Theatertexte wie „Das Reich der Tiere“ und „Hier und jetzt“ verdeutlichen die Problematik einer eindeutigen Zuordnung zu den Kriterien der räumlichen Offenheit und der Geschlossenheit. In beiden Theatertexten steht eine Rahmenhandlung mit weitgehend geschlossener Raumstruktur 313 einer Binnenhandlung mit zahlreichen Schauplatzwechseln gegenüber. Und auch bei einem Stück wie „Vor langer Zeit im Mai“, in dem der Raum überhaupt nicht konkretisiert wird, ist es schwierig, von räumlicher Offenheit oder Geschlossenheit zu sprechen. Der Raum präsentiert sich hier vielmehr als unbestimmt und energetisch. Offenheit und Geschlossenheit sind somit als die Endpunkte einer Skala zu verstehen, zwischen denen sich zahlreiche Zwischenformen anordnen lassen. Selten lassen sich Theatertexte so eindeutig einer Seite zuweisen wie „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“, „Auf der Greifswalder Straße“ und „Ende und Anfang“, die mit ihrer Vielzahl an Schauplatzwechseln eine eindeutig offene Raumstruktur aufweisen. Das Ergebnis einer solch offenen Raumgestaltung ist ein panoramaartiger Bilderreigen. Es regiert hier das Prinzip der Simultaneität. Mittels der parallel geführten Handlungssequenzen wird versucht, der Pluralität der Wirklichkeit gerecht zu werden - ein Verfahren, das an die postmoderne Collagetechnik erinnert. 314 In „Auf der Greifswalder Straße“ lernt der Rezipient durch den ständigen Schauplatzwechsel die verschiedenen Facetten und Gesichter eines Berliner Stadtteils kennen. Die räumliche Offenheit ermöglicht es, den Ort aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Perspektiven vorzustellen. Auch darin lässt sich ein postmodernes Diktum sehen, denn wie Wolfgang Welsch ausführt, ist die Postmoderne von der Einsicht geprägt: […] daß ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und dass diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger „Licht“ besitzt als die erstere - nur ein anderes. 315 313 Aufgrund der Konstanz des Hauptschauplatzes „Theater“, erscheint es berechtigt, die Raumstruktur der Rahmenhandlung in RT trotz des Schauplatzwechsels im zweiten Akt als geschlossen zu betrachten. 314 Die Postmoderne erkennt die radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaft an. Vgl.: Welsch 1993, S. 5. Ders. 1994, S. 37. 315 Welsch 1993, S. 5. Vgl.: ders.: Postmoderne. Genealogie eines Begriffes. In: Kemper (Hg.) 1988, S. 9-36, S. 29. Hier schreibt Welsch: „Die Postmoderne beginnt dort, wo <?page no="82"?> 82 Doch im Unterschied zur postmodernen Forderung nach Pluralität, mit der die Ablehnung von Einheitsgedanken verbunden ist, weist Schimmelpfennigs Theatertext einen verknüpfenden räumlichen Rahmen auf: Es ist die Straße, die diese verknüpfende Funktion übernimmt und die Vielzahl der Schauplätze zu einem Ganzen verschmilzt. Wie in „Vorher/ Nachher“ wählt Schimmelpfennig einen übergeordneten räumlichen Rahmen, um die Einzelszenen zu verbinden. Eine große Perspektivenvielfalt weist auch „Ende und Anfang“ auf; hier sind es die Themen „Erfolg“ und „Scheitern“, „Tod“ und „Leben“, die aus vielen verschiedenen Blickwinkeln präsentiert werden. Die offene Raumstruktur geht somit auch hier mit einem sehr umfangreichen Personal und einer Vielzahl an Kurzszenen einher. Einen verknüpfenden räumlichen Rahmen gibt es hier nicht, die Verbindung der Szenen ist hier thematischer Art. Obwohl die Schauplatzwechsel in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ weniger zahlreich sind, so besitzt auch dieses Stück eine offene Raumstruktur, die sein Titel programmatisch vorwegnimmt: Es spielt in Stadt und Wald. Betrachtet man die Gesamtheit der ausgewählten Stücke, so lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Schimmelpfennigs jüngere Theatertexte eine deutliche Präferenz für geschlossene Raumstrukturen aufweisen. So zeichnen sich neun der vierzehn Stücke durch ihre Tendenz zu räumlicher Geschlossenheit aus. Es handelt sich um die Stücke: „Die ewige Maria“, „Push Up 1-3“, „Die arabische Nacht“, „Vorher/ Nachher“, „Besuch bei dem Vater“, „Das Reich der Tiere“, „Die Frau von früher“, „Hier und Jetzt“ und „Der goldene Drache“. Wie die Ausführungen gezeigt haben, ist die Entscheidung für räumliche Offenheit oder Geschlossenheit stets thematisch begründet. 2.4. Semantisierung des Raumes In seinen Untersuchungen zur Struktur literarischer Texte aus dem Jahr 1972 befasst sich Jurij M. Lotman unter anderem mit dem Problem des künstlerischen Raums. Für ihn ist die Raumstruktur eines Textes nichts anderes als ein Modell der Raumstruktur der Welt. Er weist darauf hin, dass unsere Weltmodelle, seien sie sozialer, religiöser, politischer oder ethischer Natur, immer auf räumlichen Vorstellungen basieren: Die allerallgemeinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt, mit deren Hilfe der Mensch auf verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte den Sinn des ihn umgebenden Lebens deutet, sind stets mit räumlichen das Ganze aufhört“, was die Affinität der Postmoderne zu räumlicher Offenheit umso zwingender erscheinen lässt. <?page no="83"?> 83 Charakteristika ausgestattet, sei es in Form der Gegenüberstellung „Himmel- Erde“ oder „Erde-Unterwelt“ (eine vertikale dreigliedrige Struktur, organisiert längs der Achse „oben-unten“), sei es in Form einer sozial-politischen Hierarchie mit der zentralen Opposition der „Oberen-Niederen“, sei es in Form einer ethischen Merkmalhaftigkeit in der Opposition rechts-links (Ausdrücke wie: das Rechte tun, linkisch, sinister u. ä.). 316 Zur Veranschaulichung seiner These nennt er das Beispiel der Religion, für die die räumliche Opposition von oben und unten in Form von Himmel und Erde konstitutiv ist. Und nicht nur im religiösen, auch im sozialen Bereich verwende man dieses Modell, indem man von sozial höher und sozial niedrig gestellten Personen spreche. Es lassen sich problemlos weitere Beispiele hinzufügen. Räumliche Gegensätze wie oben-unten, rechtslinks, offen-geschlossen, drinnen-draußen, nah-fern bestimmen unser Weltbild und helfen uns, die Wirklichkeit zu deuten. Was für das Weltbild des Menschen gilt, muss auch für ein dramatisches Theater gelten, das sich die Repräsentation dieser Welt zur Aufgabe macht. Räumliche Modelle der Welt erhalten Einzug in den Theatertext und werden zum organisierenden Element des Textes. Der Raum übernimmt eine „modellbildende Rolle“, die Lotman wie folgt beschreibt: […] hinter der Darstellung von Sachen und Objekten, in deren Umgebung die Figuren des Textes agieren, zeichnet sich ein System räumlicher Relationen ab, die Struktur des Topos. Diese Struktur des Topos ist einerseits das Prinzip der Organisation und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum und fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen im Text. Darin liegt die besondere modellbildende Rolle des künstlerischen Raumes im Text. 317 Indem räumliche Oppositionen zum Modell für semantische Oppositionen werden, kommt es zu einer „Semantisierung des Raumes“. 318 Mit den Worten des Schweizer Literatur- und Sprachwissenschaftlers Mario Andreotti gesprochen, werden die den Text tragenden Isotopien auf der Achse der Raumelemente manifest. 319 So kann beispielsweise der räumliche Gegensatz von szenisch präsentiertem Schauplatz und Off stage den semantischen Gegensatz von Enge und Weite implizieren. Eine solche durch die räumliche Opposition intensivierte Gegenüberstellung der Seme eng und weit findet sich vermehrt im naturalistischen Drama, so zum Beispiel in Hauptmanns „Einsame Menschen“ und Ibsens „Klein Eyolf“. Wie Andreotti anhand von Beispielen belegt, lässt sich die Semopposition von eng und weit auf eine noch grundlegendere Opposition zurückführen, die 316 Lotman 1986, S. 313. 317 Ebd., S. 330. 318 Pfister 2001, S. 339. 319 Vgl. Andreotti 1996, S. 160. <?page no="84"?> 84 Opposition von Leben und Tod. Zu solchen Grundoppositionen zählt er neben dem Gegensatzpaar Leben versus Tod die Oppositionspaare Kultur versus Natur, und zeitlich versus ewig. 320 Im Folgenden wird die Tiefenstruktur der ausgewählten Theatertexte auf das Vorkommen solcher elementarer Oppositionen hin untersucht. 2.4.1. Opposition von oben und unten DIE JUNGE FRAU IM FRÜHLINGSKLEID Darum geht es mir nicht. Mir geht es darum, dass einer oben ist und der Rest unten. […] DER MANN AM KANAL Der Rest kann ja nicht oben sein. Oder,wenn ja, wer ist denn dann unten? DIE JUNGE FRAU IM FRÜHLINGSKLEID Wenn niemand unten ist, ist oben ja sozusagen abgeschafft. DER MANN AM KANAL Unten aber auch […] Roland Schimmelpfennig 321 Die Semantisierung der vertikalen räumlichen Achse kommt in Schimmelpfennigs Stücken vermehrt zum Einsatz. Am deutlichsten zeigt sie sich in „Die arabische Nacht“ und „Push Up 1-3“, in denen bereits die Wahl eines Hochhauses zum Schauplatz der Handlung die Bedeutung des Oppositionspaares oben-unten vor Augen führt. In beiden Stücken besitzt das räumliche Oben die positive Konnotation von Erfolg und Leben, während das oppositäre Unten Scheitern und Tod bedeutet. In „Push Up 1-3“ wird das Hochhaus mit seinen sechzehn Etagen zum Symbol für die hierarchisch gegliederte Arbeitswelt. Bereits der Titel verweist auf die Bedeutung der Oben-Unten-Opposition. Während unten in der Lobby kleine Angestellte wie der Pförtner Heinrich und seine Kollegin Maria arbeiten, haben die Führungskräfte ihre Büros in der obersten sechzehnten Etage. 322 Die Bedeutung der vertikalen Achse drückt sich darüber hinaus auch rein sprachlich aus, und zwar in dem gehäuften Vorkommen von Ausdrücken wie „Pyramide“ 323 , „Spitze“ 324 , „hochkommen“ 325 , „Senkrechtstarter“ 326 , „raufkommen“ 327 oder „rauffahren“ 328 , die die Vorstellung 320 Ebd., S. 34. 321 KA, S. 111. 322 PU, S. 365: „PATRIZIA Eine Party im sechzehnten Stock, Chefetage.“ 323 PU, S. 350, 352. 324 PU, S. 352f., 357, 368. 325 PU, S. 359. 326 PU, S. 366. <?page no="85"?> 85 eines räumlichen Oben implizieren. Das Hochhaus erinnert in seiner räumlichen Gliederung an die mittelalterliche Lehenspyramide. Während sich die kleine Gruppe der Machthaber oben befindet, hat die große Gruppe der Abhängigen im mittleren und unteren Bereich der Pyramide ihren Platz. 329 Der zwischen den Mitarbeitern geführte erbitterte Kampf um Aufstiegschancen verdeutlicht, wie wenigen es vergönnt ist, die räumliche Gliederung zu durchbrechen und einen Platz in der obersten Etage einzunehmen. Das Motiv des nach oben Strebens durchzieht den Theatertext wie ein roter Faden und wird in den Auseinandersetzungen zwischen Angelika und Sabine, Patrizia und Robert, Frank und Hans manifest. 330 Wie sehr die Sehnsucht nach beruflichem und damit räumlichem Aufstieg die Mitarbeiter beherrscht, zeigt der folgende Auszug. Es handelt sich um einen Monolog des Angestellten Robert, der auf dem Weg zu seinem Vorgesetzten Kramer ist: ROBERT Vor Kramers Tür oben im sechzehnten blieb ich für einen Augenblick stehen. Ich stand da im Korridor und hörte das leise Klicken der Tastaturen aus den Vorzimmern und die gedämpften Stimmen an den Telefonen. Ich liebe die Geräusche im sechzehnten Stock, alles klingt dort anders, sogar das Tageslicht scheint dort verändert. […] Immer wenn ich im sechzehnten Stock bin, bekomme ich so ein bestimmtes Gefühl in der Magengegend - so was wie: Hier will ich hin. 331 In Roberts Beschreibung erscheint der sechzehnte Stock, das räumliche Oben, wie ein sakraler Bereich. Ein Eindruck, der vor allem durch das dort verändert erscheinende Tageslicht erzeugt wird, aber auch durch die gedämpften Geräusche hervorgerufen wird, die ein Gefühl von Ehrfurcht vermitteln. Roberts Kollegin und Rivalin Patricia teilt seine Faszination für den sechzehnten Stock. Schimmelpfennig legt ihr haargenau die gleichen Worte in den Mund wie ihrem Kontrahenten Robert und verdeutlicht damit den Verlust von individuell verschiedenen Denkweisen. 332 Beide haben das Streben nach Erfolg zu ihrem Lebensinhalt gemacht und denken nur noch in den Kategorien Aufstieg oder Abstieg, Sieg oder Niederlage. Und sie sind nicht die einzigen, auch Sabine, Hans und Frank haben die Fähigkeit verloren, in Dimensionen zu denken, die außerhalb der Firmenwelt 327 PU, S. 379. 328 PU, S. 377, 379. 329 Das Bild der Pyramide, als Ausdruck für die hierarchischen Verhältnisse in der Firma, findet sich auch im Text: „ANGELIKA Weil Sie die ganze Zeit diese Pyramide im Kopf haben, an deren Spitze Sie wollen.“ In: PU, S. 352. 330 PU, S. 352f., 378f., 390f. 331 PU, S. 378. 332 PU, S. 379. <?page no="86"?> 86 liegen. Sie alle wollen nur eins: „nach oben“. Wie gefährlich dieser Wunsch ist, verdeutlicht der folgende Auszug aus Szene 2.9: ROBERT Ich stand vor Kramers Büro, und mir fielen die vielen Leute ein, die es nicht geschafft hatten. Die genau wie ich hierhin wollten, in die Chefetage, und für die es eines Tages nicht mehr weiter nach oben ging. Die irgendeinen Fehler gemacht hatten und deshalb auf der Strecke geblieben waren, während ich an ihnen vorbeizog und weiter meinen Weg machte. 333 Der Ausdruck „auf der Strecke bleiben“ ruft Assoziationen wie Stagnation, Stillstand und Tod hervor. Doch ahnt Robert in dem zitierten Szenenauszug noch nicht, dass sein berufliches Ende unmittelbar bevorsteht. Wie Sabine und Hans wird auch er sich in die Reihe der Verlierer einordnen müssen, denn er hat Kramer enttäuscht. Mit seiner fristlosen Kündigung bewahrheitet sich Patricias Aussage: PATRIZIA Er ist erfolgreich. Ein Senkrechtstarter, arbeitet sehr eng mit Kramer zusammen […] Alles steht ihm [Robert] offen: Solange er Kramer nicht enttäuscht, hat er eine glänzende Zukunft vor sich. 334 Durch das Bild des Senkrechtstarters wird auch hier wieder die räumliche Perspektive ins Spiel gebracht. Der Erfolg wird als Bewegung nach oben beschrieben. Die räumliche Struktur der Lyrik Zabolockijs analysierend schreibt Lotman: […] daraus folgt, dass Bewegung nur oben möglich ist, und die Opposition „oben-unten“ wird zur Invariante nicht nur für die Antithese „gut-böse“ sondern auch für „Bewegung-Unbewegtheit“. Der Tod - das Aufhören der Bewegung - ist Bewegung nach unten. 335 Gleiches trifft für die vorliegende Szene aus „Push Up“ zu. Schimmelpfennig semantisiert das räumliche Unten als Bereich des Stillstands und des Scheiterns. Das räumliche Unten wird zum Ort der Bewegungslosigkeit, während das oppositäre Oben mit Attributen belegt wird, die Bewegung implizieren, wie das Verb der Bewegungsrichtung „vorbeiziehen“ und der Ausdruck „weiter meinen Weg machen“ in der letzten Textzeile verdeutlichen. Im erneuten Rekurs auf Lotman lässt sich Folgendes festhalten: Durch die Kollokation von oben, Weg und weiter wird das räumliche Oben zur „Richtung des sich ausweitenden Raumes“. 336 Das Adverb weiter impliziert das Substantiv Weite. Dem Oppositionspaar oben und unten lassen 333 PU, S. 378. 334 PU, S. 366. 335 Lotman 1986, S. 318. 336 Vgl. Ebd., S. 317f.: „[…] je höher desto grenzenloser die Weite, je niedriger desto enger.“ <?page no="87"?> 87 sich die Antonyme weit und eng zur Seite stellen. Auch bei der Präsentation der beruflichen Niederlagen von Sabine, Hans und Robert arbeitet Schimmelpfennig mit dem Oppositionspaar oben und unten. Oben bedeutet das berufliche Überleben, unten das berufliche Aus. Zur Verdeutlichung seien die Wege der drei Gescheiterten kurz skizziert: Sabine wird von ihrer Chefin Angelika nach unten geschickt, um ihr Büro zu räumen. Die Fahrstuhlfahrt von oben nach unten, vom sechzehnten in den vierten Stock, bedeutet für sie das berufliche Aus. 337 Robert kommt von seinem Vorsitzenden Kramer und ist auf dem Weg nach unten, während seine Kontrahentin Patricia zu Kramer nach oben geht. Robert hat das Duell um den Werbespot verloren und muss die Firma verlassen, wohingegen sie sich der Gunst ihres Chefs erfreuen kann. Der Weg nach oben steht somit auch hier für den Sieg, der Weg nach unten für die Niederlage. 338 Dies gilt auch im Fall von Hans, dessen Bemühungen um einen beruflichen Aufstieg scheitern: Hans glaubt, dass sein Name „ganz oben“ 339 auf Kramers Liste steht und er die Leitung für Delhi übertragen bekommt. Dem ist nicht so, in Wahrheit steht dort der Name seines Kollegen Frank, der sich erfolgreich von unten hochgearbeitet hat und Hans ersetzen wird. Auch Hans hat den Zweikampf verloren. Wie die kurze Skizzierung des Handlungsverlaufs in den drei unterschiedlichen Szenen gezeigt hat, bestimmen die räumlichen Kategorien oben und unten somit nicht nur das Denken der Figuren, sondern entscheiden auch über den Gang der Handlung. In Rekurs auf Lotman lässt sich folglich festhalten: „daß das räumliche Modell der Welt […] zum organisierenden Element wird, um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen.“ 340 Bei dem Gegensatzpaar oben-unten handelt es sich somit um makrostrukturelle Semoppositionen, die sich über den gesamten Text erstrecken. Mario Andreotti schlägt vor, in einem solchen Fall von „dominanten Oppositionen“ zu sprechen. 341 337 PU, S. 360f. 338 Die Tatsache, dass Robert vor Patrizia oben im 16. Stock ankommt, während sie noch einmal nach unten fährt, um den Entwurf für den Firmenspot auszudrucken, kann als retardierendes Moment betrachtet werden, das den Spannungsaufbau erhöht. Im Gegensatz zu Robert, der aufgrund seiner Niederlage nach unten fahren muss, um seinen Platz zu räumen, trifft Patrizia die Entscheidung, noch einmal nach unten zu fahren, selbst. Am Ende ist sie es, die den Platz an der Abteilungsspitze erfolgreich verteidigt hat, also weiterhin oben steht, während Robert zwangsweise nach unten fahren muss. Patrizias Fahrstuhlfahrt nach unten widerspricht somit nicht den obigen Ausführungen zur Semantisierung der Oben-Unten-Opposition als Bereiche des Sieges und des Scheiterns. Vgl. PU, S. 379. 339 PU, S. 391. 340 Lotman 1986, S. 316. 341 Andreotti 1996, S. 33. <?page no="88"?> 88 Verstärkt wird die Semantisierung des Raumes auch hier durch die räumliche Positionierung der Figuren. So wird in der oben bereits zitierten Szene 2.9 mehrfach wiederholt, dass Robert vor der Tür steht, hinter der sich Kramer befindet. 342 Die räumliche Opposition vor-hinter deutet das zwischen den Figuren herrschende Machtverhältnis an, wobei das räumliche vor - respektive draußen - die Position des Unterlegenen anzeigt. Verstärkt wird das so etablierte Kräfteverhältnis durch den erneuten Einsatz der Oben-Unten-Opposition. Als Robert Kramers Büro betritt, sitzt dieser auf der Kante des Schreibtischs. 343 Damit ist seine Position erhöht. Auch hier lässt sich der Bereich des räumlichen Oben folglich als Bereich der Sieger deuten. Der Semantisierung des räumlichen Oben entspricht die Semantisierung des Platzes hinter dem Schreibtisch. Indem Schimmelpfennig die Semantisierung der Oben-Unten-Opposition mit einer äquivalenten Semantisierung der Vorne-Hinten-Opposition verknüpft, kommt es zur Entstehung eines dichten Netzes an Raumbeziehungen. Wie auch aus der Positionierung der Figuren in der Streitszene zwischen Sabine und Angelika hervorgeht, schreibt Schimmelpfennig den Bereich hinter dem Schreibtisch beziehungsweise hinter der Tür den Überlegenen zu, während den Unterlegenen der Platz vor dem Schreibtisch bzw. vor der Tür, also draußen im Flur, 344 zukommt. In gleicher Weise funktionalisiert Schimmelpfennig die Positionierung der Figuren auch in Szene 3. Zu Anfang des Gesprächs befindet sich Hans noch in der Rolle des Vorgesetzten, erst gegen Ende der Szene kehrt sich das Kräfteverhältnis um. Seine anfängliche Überlegenheit spiegelt sich in der Positionierung im Raum wider: HANS […] Wie weit, würden Sie sagen, ist die Wand hinter mir von Ihnen entfernt? Kurze Pause. FRANK Die Wand - HANS Ja, die Wand. Wie weit ist die von Ihnen entfernt? Pause, Frank zuckt mit den Schultern. Eigentlich eine ganz einfache Frage, oder? Sie sehen den Schreibtisch, mich, hinter mir das Regal und die Wand. Nach wieviel Metern verstellt Ihnen die Wand den Blick, was würden Sie sagen? FRANK Keine Ahnung. HANS aufbrausend Warum interessiert Sie das nicht, warum sind Sie so ungenau? 342 PU, S. 378. 343 Ebd. 344 Vgl. PU Szene 1.1, in der sich Sabine bei ihrer Chefin über das lange Warten vor der Tür beschwert, das sie als Akt unterschwelliger Aggression bezeichnet. In Szene 1.2 greift Angelika die Thematik noch einmal auf. Auch in diesen Szenen verdeutlicht die Positionierung der Figuren folglich das zwischen beiden bestehende Machtverhältnis. <?page no="89"?> 89 FRANK Okay, nach drei Metern. HANS Drei Meter? Zweieinhalb. Höchstens. FRANK Gut, zweieinhalb, und? HANS Zweieinhalb Meter bis zur Wand. Das ist Ihr Blickfeld. Kurze Pause. Und jetzt versuchen Sie sich einmal vorzustellen, was ich sehe. Kurze Pause. Mein Blickwinkel ist nämlich ein ganz anderer. Kurze Pause. Ich sehe die Wand gar nicht. Ich sehe die Vorderkante meines Schreibtisches, dahinter Sie, und dahinter, vielleicht vier Meter entfernt, die Eingangstür meines Büros. FRANK Und? HANS Verstehen Sie: Das ist etwas ganz anderes - ich meine - wir sind im selben Raum, aber wir sehen etwas völlig Unterschiedliches. Wir teilen nicht dasselbe Bild. 345 Wie das Zitat verdeutlicht, ist die Raumwahrnehmung immer subjektiv geprägt. Während der zu diesem Zeitpunkt noch unterlegene Frank ein sehr eingeschränktes Blickfeld hat, das von der Zimmerwand begrenzt wird und den Raum eng erscheinen lässt, ist der Blick des ihm überlegenen Hans unverstellt und frei. Überträgt man diese Raumwahrnehmung auf die berufliche Situation der beiden, so bedeutet sie für Frank Stagnation und Handlungsunfähigkeit, für Hans hingegen Aufstieg und Erfolg. Die Weite des Blicks, der den Raum durch die Tür verlassen kann, lässt sich als Sinnbild für die berufliche Entwicklung und folglich für den vakanten Führungsposten in Delhi deuten. Liest man die Szene jedoch noch einmal genauer, so stellt man fest, dass es eigentlich Hans ist, der Frank zu einer solchen Raumwahrnehmung zwingt, sie quasi von ihm einfordert, um seine eigene Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. So spiegeln sich in der Raumkonstitution die Machtkämpfe zwischen den Figuren wider. Wie das Beispiel zeigt, arbeitet Schimmelpfennig also auch hier mit Raumoppositionen, um inhaltliche Beziehungen zwischen den Figuren zu verdeutlichen und das dramatische Konfliktpotential zu steigern. Durch die Verankerung des Konflikts in der Tiefenstruktur des Textes wird seine Wirkung verstärkt. Neben der Oben-Unten-Opposition vollzieht sich die Semantisierung des Raumes somit auch über das Gegensatzpaar vor-hinter. Nicht nur in „Push Up 1-3“ auch in „Die arabische Nacht“ bestimmt das Oppositionspaar oben-unten den Handlungsverlauf. Die räumlichen Kategorien oben und unten stellen somit auch hier die dominanten Oppositionen dar, die für die Sinnkonstitution des Textes zentral sind. Wie der folgende Auszug verdeutlicht, trifft die Deutung des Unten als Raum des Todes auch hier zu. 345 PU, S. 389. <?page no="90"?> 90 KARPATI Er spielt nervös mit der Flasche in seiner Hand. Wenn er mich jetzt fallen lässt, wenn ihm jetzt die Flasche aus den Fingern rutscht, stürze ich sieben Stockwerke tief in den Tod. 346 Nicht nur für Karpati symbolisiert das räumliche Unten den Tod auch für den flüchtenden Kalil bedeutet der Weg vom siebten Stock nach unten das Ende seines Lebens. Denn im vierten Stock angekommen, wird er von seiner Freundin Fatima in rasender Eifersucht erstochen. 347 Dass der siebte Stock hingegen den Bereich des Lebens darstellt, verdeutlicht die dort situierte Liebesszene zwischen dem Hausmeister Lomeier und der Mieterin Franziska Dehke. Während unten im vierten Stock der Mord geschieht und die Flasche mit dem darin gefangenen Karpati am Boden zerschellt, steht oben auf dem Balkon des siebten Stockes das Liebespaar und küsst sich. Das räumliche Oben ist damit eindeutig als Bereich des Lebens zu deuten. Der folgende Nebentext, mit dem der Theatertext endet, bestätigt diese Lesart: Eine Flasche stürzt vom Bühnenhimmel auf die Bühne und zerspringt. 348 Mit dem Sturz in den Abgrund erreicht die Dialektik von Höhe und Tiefe ihre stärkste Konzentrierung. 349 Die für das Stück konstitutive Opposition von oben und unten wird hier auf die Gliederung des Bühnenraums übertragen. Der Theatertext lässt sich somit ganz im Sinne von Juri Lotman als „ein deutliches, an der Vertikale orientiertes Modell des Weltbaus“ 350 lesen. Die Semantisierung der Oben-Unten-Opposition vollzieht sich jedoch nicht nur über die Gegenüberstellung von räumlich höher oder niedriger gelegenen Schauplätzen, sondern kann auch durch die Verwendung „gestisch-szenischer Leitmotive des Kniens oder Verbeugens“ 351 , des Kriechens oder Stolperns veranschaulicht werden. Ein Beispiel für diese Art der räumlichen Semantisierung findet sich in „Die Frau von früher“. Die Niederlage des Protagonisten Frank wird hier mit rein gestischen Mitteln zum Ausdruck gebracht, die ihre Bedeutung jedoch auch von dem ihnen zugrunde liegenden Oppositionspaar oben-unten beziehen. Bei dem nachfolgenden Auszug handelt es sich um den abschließenden Nebentext. Frank kommt aus der Dusche […] Er läuft in den Flur und stürzt heftig […] Frank steht wieder auf […] (und entdeckt die Leiche seines Sohnes). Er will zu seiner Frau ins Schlafzimmer, stürzt wieder wegen eines Matchboxautos […] Er kommt hoch, stürzt wieder, vielleicht hat er inzwischen einen Kreuzbandriß […] Er humpelt und kriecht zum Schlafzimmer […] er sieht seine verbrennende Frau […] In hellem Entsetzen ver- 346 AN, S. 339. 347 AN, S. 341. 348 AN, S. 342. 349 Vgl. Hintze 1969, S. 61. 350 Lotman 1986, S. 313. 351 Pfister 2001, S. 340. <?page no="91"?> 91 sucht er zur Wohnungstür zu kommen. Es gelingt ihm, laufend, humpelnd, stürzend, kriechend, sie zu erreichen. […] Es klingelt. Er kommt nicht mehr hoch. Beide Knie sind kaputt. Es klingelt weiter. Er kann die Tür nicht öffnen und er kommt nicht an die Gegensprechanlage. Ende 352 Wie aus dem Textauszug hervorgeht, bricht Frank am Ende des Stückes sowohl physisch als auch psychisch zusammen. Das Motiv des Fallens, das den ungewöhnlich langen Nebentext durchzieht, ist eng verbunden mit dem Motiv des Todes, was als Beleg dafür gelten kann, dass Schimmelpfennig auch in diesem Theatertext nicht davon abrückt, das räumliche Unten als Bereich des Todes zu markieren. Auch in „Ende und Anfang“ ist das Sem unten gleichbedeutend mit dem Sem Tod, wie die Szenenfolge des todkranken Mädchens verdeutlicht, das sein eigenes Grab aushebt, um in der Tiefe der Erde den Tod zu treffen. 353 Auf die Frage der Mutter, warum sie so tief in der Erde grabe, antwortet die Tochter, sie wolle sich mit dem Tod vermählen. 354 Die Deutung des Unten als Raum des Todes geht auch aus der Szene vom Himmelssturz des Vogelmannes hervor. Der Sturz vom Himmel auf die Erde bedeutet für ihn das Ende des Lebens. 355 Und auch im Fall des Tierpflegers Pjotr präsentiert Schimmelpfennig den Tod als räumliche Bewegung nach unten, nämlich als Fahrstuhlfahrt: Da stieg ich hinab und nahm die falsche Tür, drückte auf den falschen Knopf im Fahrstuhl, ohne es zu merken, fuhr nach unten, immer tiefer […] 356 Die Grundopposition Tod und Leben durchzieht das gesamte Stück. Sämtliche Szenen lassen sich als Variationen über dieses Thema lesen. Der Stücktitel ist somit programmatisch als Ende und Anfang des Lebens zu verstehen. Und nicht nur hier, auch in „Der goldene Drache“ definiert Schimmelpfennig das räumliche Unten als Bereich des Todes, denn das Schnellrestaurant, in dem der kleine Chinese stirbt, und die Wohnung, in der seine Schwester zu Tode kommt, befinden sich beide in den unteren Stockwerken des Hauses, im Erdgeschoss und im ersten Stock. 357 Oben im Haus wohnt hingegen das Liebespaar: 352 FF, S. 685f. 353 EA, S. 161, 172, 182, 188, 192, 200. 354 EA, S. 161, 172. 355 EA, S. 214. 356 EA, S. 207. Die vorangehende Klage der Affen Nina und Vera lässt keinen Zweifel daran, dass Pjotrs Fahrstuhlfahrt seinen Tod bedeutet. „Nina: […] er stirbt! Du stirbst uns weg.“ In: EA, S. 206. 357 GD, Szene 2: „DER JUNGE MANN […] Unter ihnen: die roten Lampions des China-Thai-Vietnam-Restaurants DER GOLDENE DRACHE.“ Szene 10: „ DER MANN Unten im Haus, im GOLDENEN DRACHEN“ Szene 14: „DER MANN- Neben dem GOLDENEN DRACHEN ein kleiner Lebensmittelladen“ Szene 35: „DIE JUNGE FRAU Der Lebensmittelhändler wohnt direkt über seinem Laden, man muss nur eine Treppe raufgehen.“ Szene 48: „DER MANN Aus der Tür der Woh- <?page no="92"?> 92 DER MANN ÜBER SECHZIG Zwei junge Leute in ihrer gemeinsamen Dachwohnung, ein Liebespaar. Sie wohnen erst seit ein paar Monaten zusammen. Eine herrliche Zeit, die sie nie vergessen werden. Unten im Haus: DER GOLDENE DRACHE. 358 Wie das Zitat verdeutlicht, weist das Stück in seiner räumlichen Gliederung eine klare Opposition von oben als positiv konnotierter Raum der Liebe und unten als negativ konnotierter Raum der Schmerzen auf. Berücksichtigt man neben der formalen Ebene nun auch die inhaltliche Ebene, so mögen Zweifel an der positiven Konnotation des Oben entstehen, da sich das Paar in einer Beziehungskrise befindet. Doch auch wenn es in der Beziehung des jungen Paares heftig kriselt, so verdeutlicht die Tatsache, dass die junge Frau ein Kind erwartet, die Semantisierung des räumlichen Oben als Raum des Lebens. 2.4.2. Opposition von innen und außen L’espace, mais vous ne pouvez concevoir, cet horrible en dedans-en dehors qu’est le vrai espace. Henri Michaux 359 Neben der Semantisierung des Oppositionspaares oben-unten weist ein Großteil von Schimmelpfennigs Theatertexten eine Semantisierung des Gegensatzes von innen und außen auf, die sich vor allem in der Gegenüberstellung von szenisch präsentiertem Innenraum und nicht präsentiertem Außenraum zeigt. In „Push Up 1-3“ erscheint der zum Schauplatz der fiktiven Handlung gewählte Innenraum der Firma von der privaten Außenwelt isoliert. Der Außenraum wird in den Äußerungen der Figuren zwar erwähnt, erfährt jedoch keine weitere Konkretisierung. Durch den Verzicht auf Schauplatzwechsel verdeutlicht Schimmelpfennig die determinierende Funktion des Innenraumes, hier der Firma. 360 Die Konzentration des Geschehens auf den Innenraum ist somit auch hier thematisch nung im ersten Stock dröhnt laute Musik. Das ist die Wohnung des Lebensmittelhändlers.“ 358 GD, Szene 5. Anmerkung der Verfasserin: Da das Programmheft, aus dem zitiert wird, keine Seitenzahlen besitzt, wird nach Szenen zitiert. 359 Henri Michaux: L’espace aux ombres. In: Nouvelles de l’étranger, Paris 1952, S. 91. Zitiert nach: Gaston Bachelard: Poétique de l’espace. Paris 1957, S. 195. „Der Raum, aber Ihr könnt nicht begreifen, dieses fürchterliche Drinnen und Draußen, das der wahre Raum ist.“ Dt. Übersetzung: Henri Michaux: Der Raum der Schatten. Zitiert nach: Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt/ M. 1987, S. 215. 360 Siehe Kapitel 2.3, S. 79-81 dieser Arbeit. <?page no="93"?> 93 begründet. Der ausgeblendete private Außenraum spielt im Leben der Firmenangestellten nur eine unbedeutende Rolle, 361 wie sich an der folgenden Textstelle ablesen lässt. HANS Der Hometrainer steht im Wohnzimmer, ungefähr da, wo früher der Dreisitzer stand. […] Um den Garten hat sich früher meine Frau gekümmert, jetzt verkommt er langsam. Wächst langsam zu. […] Den Dreisitzer habe ich mit meiner Tochter in den Keller geräumt. Ich bekomme nicht mehr viel Besuch. […] Kommt selten vor, dass ich richtig essen gehe. Ich wüsste auch gar nicht, mit wem. 362 Der Firmenangestellte Hans hat sein Privatleben dem Beruf geopfert. Das zeigt sich in räumlicher Hinsicht in der Auflösung und Zweckentfremdung gemeinschaftlicher Räume wie des Wohnzimmers: Das Wohnzimmer ist nicht länger Raum des Austauschs und der sozialen Begegnung, sondern fungiert als Fitnessraum. Den Platz des Sofas hat ein Hometrainer eingenommen, der eine der Leitideen der Firma verkörpert: die unentwegte Steigerung der Leistungsfähigkeit. Die Firma hat Besitz von Hans Privatwelt ergriffen. Es gibt für ihn keinen eigenständigen privaten Außenraum mehr. Wie Hans hat auch sein Arbeitskollege Frank jeden persönlichen Kontakt zur Außenwelt verloren. Seine Sehnsüchte nach Nähe und Liebe stillt er im Internet, das räumliche Grenzen jedoch nur scheinbar zur Auflösung bringen kann. Der Ausbruch aus dem geschlossenen Innenraum der Firmenwelt bleibt somit rein imaginär. Schimmelpfennig präsentiert die Firmenwelt nicht nur in struktureller Hinsicht als hermetisch abgeschlossenen Schauplatz - erzielt durch die Einheit des Ortes - sondern vermittelt den Eindruck der völligen Isolation der Firma und ihrer Angestellten auch auf inhaltlicher Ebene. Indem das räumliche Außen als potentieller Schauplatz völlig ausgeblendet wird und lediglich in den Reflexionen der Firmenangestellten vorübergehend Gestalt annimmt - in einigen Szenen gibt es Hinweise auf eine Stadt und Restaurants in der unmittelbaren Umgebung der Firma 363 - gewinnt das Geschehen im Innenraum existentielle Bedeutung. 364 Da die Figuren im Stück ihr Leben ganz in den Dienst der Firma gestellt haben, bedeutet ein berufliches Ausscheiden für sie nicht nur das Ende der Karriere, sondern auch das Scheitern ihres bisherigen Lebensentwurfs. Diejenigen, die den Innenraum aufgrund von Kündigungen verlassen müssen, verschwinden für immer und werden nie wieder gese- 361 Auf die Dominanz des Arbeitslebens gegenüber dem Privatleben, die in der Raumstruktur des Dramas ihren Ausdruck findet, wurde unter 2.3 bereits hingewiesen. 362 PU, S. 385f. 363 PU, 366, 372, 392. 364 Eine solche Semantisierung von innen und außen, die den hermetisch abgeriegelten Innenraum zum existentiellen Modell werden lässt, weist Manfred Pfister bei Beckett, Pinter und Sartre nach. In: Pfister 2001, S. 341. <?page no="94"?> 94 hen. So kommentiert Angelika den Rausschmiss ihrer Konkurrentin Sabine mit den Worten: ANGELIKA Sie ging raus und ließ die Tür offen. Billig. Ich wusste, ich würde sie nie wiedersehen. 365 Der Rauswurf kommt einem Auslöschen der Existenz der jeweiligen Figur gleich. Dies verdeutlicht auch Patrizias Reaktion auf Roberts Kündigung, die Angelikas Aussage im Wortlaut gleicht: PATRIZIA Robert kam gerade aus Kramers Büro. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. 366 Wer seinen Platz im Innenraum verliert, existiert förmlich nicht mehr, weshalb auch Hans sich dem Rivalitätskampf offen stellt und seinen Platz innen mit aller Macht zu verteidigen sucht: HANS […] Vor sechs Jahren habe ich Sie hier reingeholt, ich habe Sie hier sechs Jahre lang protegiert und jetzt wollen Sie mir meinen Job wegnehmen. Aber daraus wird nichts. 367 Wie bereits für die Oben-Unten-Opposition nachgewiesen, so lässt sich auch für das räumliche Oppositionspaar innen-außen eine semantische Verknüpfung mit der Grundopposition von Leben und Tod aufzeigen. Durch die Semantisierung der räumlichen Achsen lässt Schimmelpfennig aus dem Kampf um den Erhalt des Arbeitsplatzes einen Überlebenskampf werden. Weitgehend isoliert erscheint der zum Schauplatz gewählte Innenraum auch in Schimmelpfennigs Hotelstück „Vorher/ Nachher“. Auch hier gibt es, wie unter 2.3 bereits angemerkt, keine Schauplatzwechsel. Die Ereignisse sind auf den Schauplatz des Hotels konzentriert, den die erste Szene zwar benennt, dessen Umgebung jedoch nicht weiter konkretisiert wird. Lediglich in den Monologen der Figuren ist von einer Welt außerhalb des Hotelzimmers die Rede. In gleicher Manier wie in „Push Up 1-3“ verleiht Schimmelpfennig den Ereignissen im Innern des Hotels durch die völlige Isolation des Schauplatzes eine existentielle Bedeutung. Die dortigen Geschehnisse können sich in jedem beliebigen Hotel ereignen und haben somit repräsentativen Charakter. Auch in „Die arabische Nacht“ präsentiert Schimmelpfennig einen von der Außenwelt isolierten Schauplatz. Obwohl die Handlung in verschiedenen Räumen des Wohnblockhauses C spielt und es somit zahlreiche Schauplatzwechsel innerhalb des Hauses gibt, wirkt der Handlungsort von der Außenwelt hermetisch abgeriegelt. Wie in „Push Up 1-3“ erhält die 365 PU, S. 361. 366 PU, S. 379. 367 PU, S. 390. <?page no="95"?> 95 determinierende Macht des Innenraumes durch seine Isolation von der Außenwelt eine starke Aufwertung. Die hermetische Abriegelung des Innenraums nach außen ruft beim Rezipienten ein Gefühl der Enge und der Eingeschlossenheit hervor, unter dem auch die Figuren im Stück leiden. In ihren Träumen und Halluzinationen werden die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus der räumlichen Beschränkung und der Wunsch nach Veränderung manifest. Die Opposition eines Innen, das für räumliche Enge steht, und eines Außen, das für grenzenlose Weite und Neuanfang steht, durchzieht das gesamte Stück und ist Movens der Figurenhandlung. So zeugt nicht nur die Gegenüberstellung der Wohnhausenge, als negativ konnotierter Raum des Innen, und der arabischen Fremde 368 , als positiv besetzter Raum des grenzenlosen Außen, von der Bedeutung des Oppositionspaares für die Sinnkonstitution des Theatertextes, auch die Handlungsabläufe im Innern des Wohnhauses lassen auf die zentrale Rolle schließen, die der Innen-Außen-Opposition in diesem Stück zukommt. Kalils und Karpatis verzweifelte Befreiungsversuche aus einem stecken gebliebenen Aufzug und einer Whiskeyflasche können als Beispiele zur Verdeutlichung herangezogen werden. Beide Männer befinden sich in einer Zwangssituation und kämpfen darum, den sie einschließenden und somit negativ konnotierten Innenraum zu verlassen. Die Deutung des Innen als negativer Bereich der Enge, die für den gesamten Wohnhauskomplex festgestellt wurde, findet sich somit auf der Ebene der Innenraumelemente Aufzug und Flasche gespiegelt. Das Außen fungiert auch hier als Ort der Sehnsucht. In der vorliegenden Szene impliziert die Opposition von Innen und Außen somit den Gegensatz von Enge und Weite. Wie Joachim Hintze darlegt, taucht eine solche Gleichsetzung des Oppositionspaars innen-außen mit dem Oppositionspaar Enge und Weite vermehrt in den Dramen des Naturalismus auf, namentlich bei Ibsen und Hauptmann. 369 Zur Genese der Dialektik von Enge und Weite in Ibsens „Die Frau vom Meere“ schreibt Hintze: Ihren Ursprung hat die Dialektik von Enge und Weite somit im Bewusstsein des Individuums, das, die Begrenzung und Determination seiner Existenz erkennend, versucht, den Raum zu sprengen, um zu einer angemesseneren Daseinsform vorzudringen. Das geschieht einmal durch reale Flucht aus dem als Kerker empfundenen Innenraum [...] Zum anderen wird die Weite des Außen [...] allein mithilfe der Sprache, durch die Phantasie des Individuums suggestiv verwirklicht und der Enge des augenblicklichen Daseins dialektisch gegenübergestellt. 370 368 Auf die Bedeutung der Fremde wird bei der Erläuterung des Oppositionspaars nahfern näher eingegangen, siehe S. 100-103 dieser Arbeit. 369 Hintze 1969, S. 57-60. 370 Ebd., S. 59. <?page no="96"?> 96 Gleiches trifft für „Die arabische Nacht“ zu. Sowohl Karpati als auch Kalil versuchen, den als Gefängnis empfundenen, sie einengenden Innenraum zu verlassen und in ein Weite und Freiheit bedeutendes Außen zu entfliehen, das der Wohnhausenge dialektisch gegenübersteht. Ihr Fluchtversuch ist ein realer. Anders verhält es sich hingegen mit Franziskas Flucht in eine Weite versprechende fremde Welt. Der Ausbruch aus der Enge des Wohnblocks wird hier nur suggestiv mithilfe der imaginären Kraft des Traumes und der durch ihn geborenen Phantasie des Individuums, nicht aber durch reale Handlungen verwirklicht. Wie die Situation der ausgeschlossenen Fatima verdeutlicht, ist der Raum des Weite versprechenden Außen jedoch nicht durchgehend positiv konnotiert, sondern er kann auch einen bedrohlichen Charakter besitzen. In Umkehrung der bisherigen Deutung des Innen als Raum der lebensfeindlichen Enge ist der Innenraum nun positiv aufgeladen und stellt das Schutz bietende Wunschziel dar. 371 Während Kalil versucht, sich aus dem stecken gebliebenen Aufzug zu befreien, ist Fatima, die sich aus Versehen ausgesperrt hat, verzweifelt bemüht, wieder ins Haus zu kommen. Schimmelpfennig schaltet nicht nur das angestrengte Bemühen der Figuren rein bzw. raus zu kommen parallel, sondern auch die gelungene Befreiung aus der Notsituation: In dem Augenblick, in dem es Fatima gelingt, wieder ins Haus zu kommen, schafft auch Kali es, sich aus der Enge des Aufzugs zu befreien. Durch die Parallelschaltung der beiden oppositären Szenen gewinnt die Handlung an Dynamik, eine Dynamik, die wiederum auf der Semantisierung des Oppositionspaares innen-außen beruht. Auch die Ausgangssituation des Theatertextes wird von dieser Dynamik des Rein und Raus, des Innen und Außen bestimmt: Alle Figuren hegen den Wunsch, in Franziskas Wohnung zu gelangen, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Motiven. Eine klare Opposition von innen und außen findet sich auch in „Besuch bei dem Vater“. Wie oben unter 2.3 bereits ausgeführt wurde, gehört das Stück zu den Theatertexten mit einer geschlossenen Raumstruktur. Im Unterschied zu der Raumgestaltung in „Push Up 1-3“ und „Vorher/ Nachher“ wird das Außen hier jedoch eindeutig bestimmt: Schimmelpfennig wählt eine tief verschneite Winterlandschaft als Außenraum und stellt ihr den Schutz und Wärme spendenden Innenraum eines Landhauses gegenüber. Die so konträre Beschaffenheit von Innen- und Außenraum legt die Schlussfolgerung nahe, Innen- und Außenwelt stünden in kontrastierender Funktion zueinander. Der Ungastlichkeit und Kälte des Außenraums steht die Gastfreundlichkeit und Wärme des Innenraums gegen- 371 AN, S. 318-325. Auch in GS spielt Schimmelpfennig mit der Opposition von innen und außen. Vgl. GS, Szene 3.3, S. 448. <?page no="97"?> 97 über. Bachelard schreibt dem Haus neben seiner schützenden auch noch eine die Intimität fördernde Funktion zu: L’hiver évoqué est un renforcement du bonheur d’habiter. […] De l’hiver la maison reçoit des réserves d’intimité, des finesses d’intimité. Dans le monde hors de la maison, la neige efface les pas, brouille les chemins, étouffe les bruits, masque les couleurs. On sent en action une négation cosmique par l’universelle blancheur. 372 Auf Baudelaire rekurrierend hält er fest: Eis und Kälte werten den Intimitätswert des Hauses auf und lassen es „wärmer, weicher und liebevoller“ erscheinen. 373 Das winterliche Außen, das Bachelard im Rimbaudschen Sinne als „Seinsverminderung“ versteht, 374 verstärkt den Zusammenhalt und die Intimität im Innern des Hauses. Eine solche positive Konnotierung des Hauses findet sich in „Besuch bei dem Vater“ jedoch lediglich zu Anfang. Zunächst scheint es, als böte das Haus dem Individuum sowohl Schutz vor der Witterung als auch heimische Geborgenheit. Im weiteren Verlauf des Stückes verkehrt sich die Situation jedoch in ihr Gegenteil. Mit Peters Ankunft bricht die äußere Welt in den Innenraum ein und strukturiert diesen vollkommen um bzw. legt sein wahres Gesicht offen. Nicht Wärme und Herzlichkeit prägen fortan den Raum, sondern vielmehr Betrug, Argwohn und Misstrauen. Für das Eindringen des Außenraums in den Innenraum wählt Schimmelpfennig das Bild des ins Haus hineinwehenden bzw. hineingetragenen Schnees. Im Nebentext zu Szene 1 heißt es: Er [Peter] bleibt in der offenen Tür stehen. Nichts passiert. Es schneit herein […] Der junge Mann kommt rein, bringt eine Menge Schnee mit, der auf die Teppiche und die Holzdielen fällt. 375 Und nicht nur bei Peters Ankunft auch bei Heinrichs und Sonjas Rückkehr von einem gemeinsamen Jagdausflug wird im Nebentext 376 auf den ins 372 Bachelard 1957, S. 52f. Dt. Übersetzung: „Der heraufbeschworene Winter ist eine Verstärkung des Wohnglücks […] Vom Winter empfängt das Haus Intimitätsreserven, Intimitätsfinessen. In der Welt außerhalb des Hauses verwischt der Schnee die Schritte, verwirrt die Wege, erstickt die Geräusche, maskiert die Farben. In der alles erfüllenden Weiße spürt man eine kosmische Negation am Werk.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 61-62. 373 Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 61. Frz. Original: „Son nid en sera plus chaud, plus doux, plus aimé.“ In: Bachelard 1957, S. 52. 374 Rimbaud schreibt dem Winter eine das Sein negierende Kraft zu, wie ein Auszug aus seinem Gedicht „Les déserts de l’amour“ verdeutlicht, auf das Bachelard Bezug nimmt: „Es war wie eine Winternacht, ein Schneefall, um die Welt ein für alle Mal zu ersticken.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 62. Frz. Original: „C’etait comme une nuit d’hiver, avec une neige pour étouffer le monde décidément.“ In: Bachelard 1957, S. 53. Wie aus der Fortsetzung des Gedichts hervorgeht, dient der Winter hier als Metapher, um das Ende einer Liebe zu beschreiben. 375 BV, S. 10. <?page no="98"?> 98 Haus hineinwehenden Schnee verwiesen und somit die Beeinflussung des Innenraums durch den Außenraum vor Augen geführt. Der Stimmungswert des Innenraums nähert sich zunehmend dem des Außenraums an und ist durch Beziehungskälte und Heimlichtuerei geprägt. Die kontrastierende Funktion des Außen wird zugunsten einer sympathetischen 377 aufgegeben: Durch seinen analogen Stimmungswert verdichtet das Außen die Atmosphäre des Innenraums. 378 Der Kälte des Winters entsprechen Peters Ignoranz und Gleichgültigkeit, die ihm fehlende Empathiefähigkeit und die zwischen den Hausbewohnern herrschende Beziehungslosigkeit. Das Schneetreiben lässt sich als Ankündigung des nahenden Unheils deuten, das mit Peters Besuch über die Familie kommt. In „Das Reich der Tiere“ erscheint das szenisch nicht präsentierte Außen, mit dem hier die Theaterleitung gemeint ist, als feindlicher Bereich, von dem eine existenzielle Bedrohung ausgeht. Da das seit sechs Jahren auf dem Spielplan stehende Stück „Im Reich der Tiere“ abgesetzt werden soll, müssen die fünf Schauspieler Frankie, Peter, Dirk Isabel und Sandra um ihren Job fürchten. Ihre Vorgesetzten, die im Text nur unpersönlich „die“ genannt werden, 379 lassen sie im Unklaren darüber, ob ihr Vertrag im Rahmen eines neuen Stückes verlängert wird oder ob man ihnen kündigt. Das unpersönliche „die“, welches die Schauspieler zur Bezeichnung ihrer Vorgesetzten benutzen, verdeutlicht die zwischen beiden Parteien bestehende Distanz und Feindseligkeit. Der Bereich des Außen, der im Stück somit als unpersönliche Macht auftritt, verbreitet Ungewissheit und Eifersucht. Es werden Gerüchte laut, dass nur ein Teil der Schauspieler übernommen wird. Da die Verhandlungen immer nur einzeln mit den Schauspielern geführt werden und darüber hinaus noch mit der Auflage der völligen Verschwiegenheit gegenüber den anderen, weiß niemand, wem er trauen kann und wem nicht. 380 Folge der von außen geschürten Existenzangst sind Rivalitäten und unkollegiales Verhalten unter den Schauspielern. 381 Das feindliche Außen übernimmt damit eine die Ereignisse im Innenbereich motivierende Funktion. Die Opposition von privater und öffentlicher Welt, von Innen und Außen, findet sich in nahezu allen Schimmelpfennig-Stücken. Oft wird das gesellschaftliche Außen wie hier 376 BV, S. 14: „Schnee weht von draußen herein“. 377 Hintze 1969, S. 50. 378 Vgl. Hintzes Ausführungen zur Funktion des Außen in Hauptmanns „Das Friedensfest“, Ibsens „John Gabriel Borkmann“ und Strindbergs „Ostern“. In: Hintze 1969, S. 50f. 379 RT, S. 96, 110, 123, 135, 142. 380 RT, S. 122. 381 RT, S. 137, 147-149, 152-154. <?page no="99"?> 99 zur „kollektiven Macht“, die den Individualraum bedroht. 382 Auf eine solche Semantisierung stößt man auch in „Besuch bei dem Vater“, wo Peter resigniert feststellt: PETER Dann werden wir am Ende so was wie Laboranten, oder wir werden Versuchspersonen, dann müssen wir davon leben, dass an uns Medikamente ausprobiert werden - oder vielleicht werden wir Tierpfleger. 383 Das Außen, hier die Berufswelt, präsentiert sich als feindlich, da es das Individuum auf ein Versuchsobjekt zu reduzieren sucht. Eine bedrohliche Funktion kommt dem Außen auch in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ zu. Wie schon der Stücktitel verdeutlicht, thematisiert Schimmelpfennig die Opposition von innen und außen hier anhand der Gegenüberstellung von Stadtraum und Naturraum. Während der geschlossene Raum der Stadt 384 als heimischer Ort der Sicherheit beschrieben wird, präsentiert sich der äußere Raum des Waldes als unheimlich, fremd und geheimnisvoll. 385 382 Vgl. Hintze 1969, S. 53. Hintze widmet der kontrastierenden Funktion des Außen ein ganzes Kapitel und verdeutlicht mit seiner Analyse die Bedeutung des Spannungsverhältnisses von innen und außen für die Konstituierung des Dramatischen. An Dramen von Ibsen, Hauptmann, Strindberg und Horvath weist er nach, wie das Außen zur „kollektiven Macht“, zur „kollektiven Fessel“ wird, die „gleichsam als Kollektivgestalt“ in das Dramengeschehen eingreift. 383 BV, S. 48. 384 Vgl. Lotman 1986, S. 327. 385 Bei den folgenden Zitaten handelt es sich lediglich um eine Auswahl, die der Verdeutlichung der These vom Wald als bedrohlicher Macht dienen soll: ASW, S. 230: „ANNE Ich denke oft im Wald, dass jemand da ist, und niemand ist zu sehen.“ S. 232: „ERNST Niemals, mein alter Freund, habe ich dich darum gebeten, uns, […] ins Verderben, in den sicheren Untergang zu stoßen, der furchtbaren Eifersucht des Waldes auszuliefern, die niemand, einmal erst entfacht, zu besänftigen vermag.“ S. 235: „ERNST […] das wird den Wald nicht sehr erzürnen, oder nur so leicht, dass er uns leben lässt.“ S. 238: „KATHARINA Seitdem ich hier geboren wurde, habe ich Angst vor ihm. […] Vor dem Wald - wenn er so dunkel um uns ist.“ S. 241: „ILSE Wer sich zu tief in diesen Wald verläuft, der findet aus dem Wald nicht mehr heraus.“ S. 249: „BRUNO […] hier [im Wald] erwartet dich der sichere Tod.“ <?page no="100"?> 100 2.4.3. Opposition von nah und fern DIE FRAU AUF DEM LAND […] Sehnsucht birgt doch in sich eine gute, lebenserhaltende Beschaffenheit. Wenn wir nicht nach etwas Sehnsucht haben, stehen wir im Innern völlig still. Roland Schimmelpfennig 386 Wie aus der Analyse der Innen-Außen-Oppositionen in „Die arabische Nacht“ hervorgeht, kommt auch dem Oppositionspaar nah-fern, das den Gegensatz von Heimat und Fremde impliziert, in Schimmelpfennigs Theatertexten gesteigerte Bedeutung zu. Während das heimatliche Wohnhaus Vorstellungen von bedrückender Enge und Langeweile hervorruft, führt das Bild der arabischen Fremde zu Assoziationen wie grenzenlose Weite und Abenteuer. Die Sehnsucht nach der Fremde ist bei Schimmelpfennig ein zentrales Motiv, davon zeugt auch das obige Zitat aus „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“. Sie taucht unterschwellig in jedem seiner Stücke auf und ist meist positiv konnotiert. 387 Darüber hinaus kommt der Opposition von nah und fern häufig eine handlungsmotivierende Funktion zu, wie die Auseinandersetzung zwischen Hans und Frank im dritten Teil von „Push Up 1-3“ zeigt. Während der Nahbereich hier gleichbedeutend mit beruflicher Stagnation und Scheitern ist, steht der Bereich der räumlichen Ferne stellvertretend für Fortschritt und Weiterentwicklung, aber auch für Fruchtbarkeit und Leben. In Franks Vorstellung nimmt die stark verschmutzte indische Metropole Delhi idyllische Züge an: FRANK Ich werde auf sonnigen Straßen, die nach Safran riechen, vom Forschungszentrum zu meinem Haus schlendern. Alles blüht violett und weiß. In den Bäumen wohnen bunte Vögel und kleine Affen. Im Garten grast ein Elefant. 388 Oftmals präsentiert sich die Ferne wie hier als paradiesischer Ort, der die Attribute eines Locus amoenus aufweist, so auch die Wüstenstadt von Kinsh el Sar in „Die arabische Nacht“, die Franziska im Traum besucht: FRANZISKA Ich blicke aus dem maurisch verzierten Fenster auf die blühenden Orangen im Hof, der Wassersprenger läuft. Die Feuchtig- 386 KA, S. 115. 387 Vgl. EA, S. 204: „[…] o schönes Estland, Land der Sänger, da war ich in den Ferien […].“ 388 PU, S. 393. <?page no="101"?> 101 keit steigt in den blauen Himmel. Es ist herrlich. Es ist wunderschön. 389 Ähnlich idyllisch präsentiert sich die Fremde auch dem Mann im Bild in „Vorher/ Nachher“: Ein Fluß. Vogelgezwitscher, Nachmittagslicht. Eine Brücke. Ein paar Häuser. Sonst Stille […] Schmetterlinge, Grashüpfer. Entfernte Frauenstimmen. 390 Wie die üppige Vegetation, die blühenden Blumen und Orangen, die Vielfalt an Tieren und der Reichtum an Wasser verdeutlichen, symbolisiert die Fremde in Schimmelpfennigs Theatertexten Fruchtbarkeit und Leben. Neben der lieblichen Umgebung bietet sie aber auch dem, der sie aufsucht, einen sozialen Aufstieg. Aus der medizinisch technischen Assistentin Franziska wird in der erträumten Welt die Geliebte eines wohlhabenden Scheichs. Frank steigt in Delhi vom kleinen Firmenangestellten zum Leiter der dortigen Entwicklungsabteilung auf. Und auch der Mann im Bild in „Vorher/ Nachher“ kommt in der Fremde zu Ansehen und Wohlstand. 391 So fungiert die Fremde als Sinnbild für die absolute Glückseligkeit. Als Ort des grenzenlosen Glücks erscheint die Fremde auch in einer anderen Szene aus „Vorher/ Nachher“. In Szene 43 träumt „Die Grille“ von der Rückkehr nach Mexiko, wo sie einst gelebt hat und „wo alles besser war“: DIE GRILLE […] mit 68 Jahren wollte ich plötzlich dorthin zurück, wo ich als junge Frau, mit Anfang Zwanzig, für ein Jahr bei entfernten Verwandten meines Vaters gelebt hatte, um Spanisch zu lernen: nach Oaxaca, in Mexiko. In Oaxaka hatte ich das schönste Jahr meines Lebens verbracht, und ich erinnere mich daran, wie ich 48 Jahre später wieder neben dem Bahngleis in der Sonne stehe, der Zug fährt weiter, in der Ferne liegen die Berge […] Es ist irrsinnig hell und heiß. 392 Der Gebrauch des Superlativs „schönste“ macht die Semantisierung der Fremde als Ort des Glücks überdeutlich. Und auch der Einsatz des Raumelements „Sonne“, dessen Wirkungskraft durch die Adjektive hell und heiß verstärkt wird, trägt zu der positiven Konnotation bei. Die Opposition von Nähe und Ferne spielt auch in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ und „Ende und Anfang“ eine Rolle, in denen es unter anderem um die berufliche Zukunft arbeitsloser Schauspieler geht. In beiden Stücken wird dem durch die Mangelsituation gekennzeichneten Nahbereich das ferne Amerika „als Land der unbegrenzten 389 AN, S. 325. 390 VN, S. 424. 391 VN, S. 438-439. 392 VN, S. 451. <?page no="102"?> 102 Möglichkeiten“ 393 gegenübergestellt. 394 Auch in „Besuch bei dem Vater“ präsentiert Schimmelpfennig Amerika als positiv konnotierten Ort der Hoffnung und des Erfolgs: DIE PROFESSORIN […] Mehrwert. Vorteile. Kurze Pause. Das klingt nach Amerika. Waren Sie nicht in Amerika? 395 Wie stark die von Amerika ausgehende Anziehungskraft ist, verdeutlicht auch die dringliche, doppelte Aufforderung der Professorin an Peter, von Amerika, der sagenumwobenen Fremde, zu erzählen: DIE PROFESSORIN Erzählen Sie, wer eine Reise macht, der hat was zu erzählen, erzählen Sie uns von Amerika. 396 Auf die Funktionalisierung Amerikas zum „Land der Zukunft“, in dem es sich besser und glücklicher leben lässt, verweist auch Peter Pütz. Ein solch utopistischer Blick auf Amerika finde sich vor allem in den Dramen des „Sturm und Drang“. 397 Die positive Konnotation, die Schimmelpfennig der Ferne gibt, verdeutlichen die Biographien der Figuren in „Ende und Anfang“: Während Frankie in Amerika eine Karriere als Filmstar antritt, müssen seine in der Heimat gebliebenen arbeitslosen Schauspielerkollegen sich zu technischen Hilfskräften umschulen lassen. 398 Frankies Tod bei einem Flugzeugabsturz verdeutlicht jedoch die Gefahren, die das Leben in der Fremde mit sich bringt. 399 Nach Meinung seines einstigen Freundes Peter wäre ihm das nicht passiert, wenn er Zuhause geblieben wäre: Tut mir leid Junge, tut mir leid […] wenn du damals zu Hause geblieben wärest […] dann wärest du heute nicht - tut mir leid. 400 Somit steht der Nahbereich zwar einerseits für das Scheitern aller Träume, 401 andererseits sichert er aber auch denen, die ihm treu bleiben, das Überleben. Ein Überleben, das jedoch eher einem resignierten vor sich hin Vegetieren gleicht: 393 KA, S. 131-132. 394 EA, S. 196-197. 395 BV, S. 42 396 BV, S. 42. 397 Pütz 1970, S. 228. 398 EA, S. 177. 399 EA, S. 160. 400 Ebd. 401 Vgl. EA, S. 184. <?page no="103"?> 103 […] wie schwer das wird, wenn man nicht weiterkommt, wenn nichts mehr, nichts mehr, nichts mehr kommt, da durch, da musst du durch, wo durch denn, wenn da nichts mehr kommt“ 402 Es scheint, als gäbe es ein Weiterkommen nur in der Ferne. Dieser Gedanke findet sich auch in „Die ewige Maria“. Das Brautpaar Karl und Maria plant, direkt nach der Hochzeit ihr Glück in der Ferne zu suchen. 403 Denn nur wer die heimatliche Gegend verlässt, kann zu beruflichem Erfolg finden: KARL Das wüßte ich, wenn es hier etwas gäbe. Oder am Hafen. Oder an der Mühle. 404 Wie der Ausgang des Stückes verdeutlicht, birgt die Fremde jedoch auch hier die Gefahr der Selbstüberschätzung und des Scheiterns. Wie Frankie in „Ende und Anfang“, so scheitert auch Karl an seinen ambitionierten Plänen. Der Aufbruch in die Fremde stellt in Schimmelpfennigs Stücken somit immer ein Wagnis dar. Nicht selten wird die Hoffnung der Figuren enttäuscht und der Weg in die Fremde führt sie nicht in ein glücklicheres Leben, sondern ins Verderben. Auch in Schimmelpfennigs Erfolgsstück des Jahres 2010 „Der goldene Drache“ bildet die Opposition von nah und fern die semantische Grundachse. Der chinesischen Heimat steht die europäische Fremde gegenüber, die sich als kalt und erbarmungslos offenbart. Die zwei Fremden, der kleine Chinese und seine Schwester, die ihr Land verlassen haben, um in der Ferne zu Wohlstand und Glück zu kommen, sind bei Schimmelpfennig dem Tod geweiht. Wie in „Ende und Anfang“ erweist sich die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Fremde auch hier als Trug. Die Idealisierung fremder Kontinente, Länder und Städte, die sich auch im Ausspruch der Stewardess „Buenos Aires soll wunderschön sein“ in Szene 22 zeigt, 405 hält bei Schimmelpfennig nur so lange an, bis seine Figuren die Fremde erreicht haben. 406 In der Fremde angekommen werden sie von einer brutalen Wirklichkeit eingeholt wie die tödlichen Schicksale des kleinen Chinesen und seiner Schwester verdeutlichen. Die Semantisierung der Nah-Fern-Opposition verdeutlicht, wie Schimmelpfennig Handlung durch Raumphänomene symbolisch auflädt. 407 402 EA, S. 171. 403 EM, S. 55-57. 404 EM, S. 56. 405 Das Fernweh, das für Schimmelpfennigs Figuren charakteristisch ist, findet auch in Szene 13 seinen Ausdruck, die in ihrem Wortlaut nahezu identisch ist. GD, Szene 13: DER MANN „[…] ich wäre gern mal in Vietnam, die Küste soll wunderschön sein.“ 406 GD, Szene 22: „DER MANN Aber sie hatten keine Gelegenheit die Stadt kennenzulernen“. 407 Vgl. Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin 2009, S. 2. <?page no="104"?> 104 2.5. Schauplatztypen und ihre Sinnfunktion Trotz der Vielzahl an Orten, die Schimmelpfennig zum Schauplatz seiner Theatertexte macht, gibt es bestimmte Schauplatztypen, die sein Werk durchziehen. Gemäß seinem oben zitierten Diktum, einen Ausschnitt von Realität erfinden zu wollen, wählt er alltägliche Orte im Leben eines deutschen Durchschnittsbürgers zum Schauplatz der Handlung und kombiniert sie mitunter mit teils märchenhaft verwunschen, teils exotisch wirkenden Phantasie- und Traumwelten (AN, ASW, VN). Auffällig ist Schimmelpfennigs Vorliebe für Durchgangsorte und Zwischenräume, „Zufallsorte“ 408 , wie Franz Wille sie in seinen Reflexionen über den Sinngehalt der dramatischen Produktion des Jahres 2008 nennt. So trifft Schimmelpfennigs disparate Mittelstandsgesellschaft in Hotels (VN), Kneipen (AM) und Bars (EA), in Künstlergarderoben (RT), Aufenthaltsräumen (EA), Fluren und Treppenhäusern (AN, FF), vor Imbissbuden (EA) und Kiosks (GS) oder aber an Straßenecken (GS) mehr oder weniger zufällig aufeinander. Oft präsentiert sich der zum Schauplatz der Handlung gewählte Ort als eine Art Mikrokosmos, der zahlreiche kleinere Schauplätze integriert, so zum Beispiel die Greifswalder Straße im gleichnamigen Stück, der Hochhauswohnblock in „Die arabische Nacht“, das Hotel in „Vorher/ Nachher“ und der Bürokomplex in „Push Up 1-3“. Während die einzelnen Szenen in diesen Stücken durch den übergeordneten räumlichen Rahmen miteinander verbunden sind, fehlt den aneinandergereihten Kurzszenen in „Ende und Anfang“ ein solcher räumlicher Zusammenhang. Der letzte Teil der „Trilogie der Tiere“ gleicht daher einem bunten Bilderreigen mit ständig wechselnden Schauplätzen. Das verbindende Glied ist hier die in allen Szenen vorherrschende Stimmung der Endlichkeit und des Scheiterns. Die Stücke der neunziger Jahre „Die ewige Maria“, „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ und „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ widmen sich dem Spannungsfeld von Stadt und Land. Dem künstlich geordneten Stadtraum wird der natürliche Landraum gegenübergestellt, in dem Mythen und Sagen noch lebendig sind. Schimmelpfennig präsentiert den ländlichen Raum als einen Ort, an dem der Glaube an die Macht der Natur ungebrochen und das Verhältnis von Mensch und Natur folglich noch ungestört ist. In den folgenden Unterkapiteln werden nun die verschiedenen Schauplätze der Theatertexte nach Rubriken geordnet und im Detail beschrieben, um auf diese Weise Aufschluss über ihre Sinnfunktion zu erlangen. Die Schauplatzanalyse verfolgt damit das Ziel, die Signifikatstruktur der Räu- 408 Franz Wille: Wuttkes Mangel oder Schwierige Geschichten. Nach dem Engagement ist vor dem Erzählen - Einblicke in die Sinnhaushalte der dramatischen Jahresproduktion. In: Theater heute Jahrbuch 2008, S. 88. <?page no="105"?> 105 me aufzuschlüsseln und Konnotationen des Raumes offen zu legen. Darüber hinaus gilt es herauszustellen, welche Rückschlüsse auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Autors der von ihm gewählte fiktive Schauplatz ermöglicht. 2.5.1. Der private Wohnraum Wie sich der ganze Wirrwarr der Gefühle verlieret und ordnet, wenn man aus dem fremden Hause heimkehret in seine vier Wände! Nur zu Hause ist der Mensch ganz. Jean Paul Friedrich Richter 409 In fünf der vierzehn Theatertexte, die das zu analysierende Textkorpus dieser Arbeit bilden, ist der private Wohnraum mit Eingangsbereich, Treppenhaus und Fluren Hauptschauplatz der Handlung, in fünf weiteren Stücken taucht er als Nebenschauplatz auf. Die bevorzugte Wahl des Privatraums erscheint konsequent, wenn man sich Schimmelpfennigs Forderung nach einem Theater, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, in Erinnerung ruft. Wo sonst steht der einzelne Mensch so sehr im Zentrum des Geschehens, wie bei sich Zuhause. Der private Raum vermag darüber hinaus charakterisierende Aussagen über seine Bewohner und deren soziale Stellung zu machen. 410 Zur charakterisierenden Funktion des privaten Innenraumes schreibt Joachim Hintze: Als Ausdruck behausten Lebens überhaupt ist das Zimmer besonders dazu geeignet, weil es mehr als eine spezifische Landschaft oder ein typischer Freiraum wie Straße oder Platz in enger Beziehung zu seinen Bewohnern steht und am ehesten über sie und ihre Lebensgewohnheiten Auskunft gibt. […] Der Individualraum, wie wir den Innenraum seinem Typus nach genannt hatten, gibt in seiner spezifischen Gegenständlichkeit und in der Anordnung der Dinge Aufschluss über das Wesen und die geistige Situation der Menschen, für den er den Lebensraum darstellt. 411 Auch Gaston Bachelard betont die charakterisierende Funktion von Zimmern und Häusern und bezeichnet sie als „Diagramme der Psychologie“: 409 Zitiert nach: Ernst Förster (Hg.): Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, Bd. 4. Buch der Gedanken. München 1863, S. 204. 410 Vgl. Fischer-Lichte 1998 [1983], S. 134. 411 Hintze 1969, S. 34, 36. Vgl. Pütz 1970, S. 114. Pütz schreibt den Dingen auf der Bühne eine dreifache Funktion zu. Sie können der Illusion von Wirklichkeit oder der Charakterisierung des Milieus dienen oder aber als Zeichen für Zukünftiges eingesetzt werden. Zur Funktion von Requisiten vgl. Pfister 2001, S. 358. <?page no="106"?> 106 […] puisque chambre et maison sont des diagrammes de psychologie qui guident les écrivains et les poètes dans l’analyse de l’intimité. 412 So zeugen die chaotischen Verhältnisse in Peters Wohnung, die zu Beginn von „Ende und Anfang“ beschrieben werden, von seiner inneren Verwahrlosung und dokumentieren das Scheitern seines Lebenstraumes. 413 Die in der Wohnung verstreuten Gegenstände, leere Bierflaschen, schimmelnde Essensreste und Zigarettenkippen spiegeln Peters Befindlichkeit: […] diese Bierflasche öffnete ich an einem Sonntagmorgen um halb vier, nachdem ich ganz durchnäßt zurückgekommen war, allein, da bekam ich Angst. Da bekam ich Angst, daß es nie wieder so sein wird wie früher, und als ich drei Wochen später die vierzigste Bierflasche danebenstellte, da war aus der Angst bereits Gewißheit geworden. 414 Der einstige Lebemann hat sich selbst aufgegeben und erwartet nichts mehr vom Leben: Ich habe so viele Dinge begriffen: Wie wichtig es ist, seine Zeit zu verschwenden. Daß es keinen Sinn hat, auf einem Ziel zu bestehen. Daß es auch immer so weitergehen kann wie bisher. Daß es so ist wie es ist. 415 Von zentraler Bedeutung für die Figurencharakterisierung ist der private Raum auch in „Der goldene Drache“. Wie schon in „Die arabische Nacht“ wählt Schimmelpfennig erneut ein mehrstöckiges Wohnhaus zum Schauplatz der fiktiven Handlung und erzielt damit einen sozialen Querschnitt. Die charakterisierende Funktion des privaten Raumes zeigt sich vor allem in den Szenen des Lebensmittelhändlers Hans, dessen Trieb zum Hamstern in der Beschaffenheit seiner Wohnung zum Ausdruck kommt: DIE JUNGE FRAU Die Wohnung des Lebensmittelhändlers ist keine Wohnung, sondern eher eine Art Warenlager, sie ist bis unter die Decke vollgestopft mit Vorräten. Reis, Nudeln, H-Milch, Salz, Zucker überall, alles ist voll davon. Getrockneter Fisch, Würste. […] DIE FRAU ÜBER SECHZIG Vorräte sind wichtig - Vorräte sind mehr als wichtig, im Sommer denkt leider keiner dran, aber im Winter, wenn es kalt wird. 416 412 Bachelard 1957, S. 51. Dt. Übersetzung: „[…], denn Zimmer und Haus sind Diagramme der Psychologie, welche die Schriftsteller und Dichter in der Analyse der Innerlichkeit leiten.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 60. 413 EA, S. 159. 414 EA, S. 225. 415 EA, S. 216. Siehe auch S. 171. 416 GD, Szene 35. <?page no="107"?> 107 Auch im Fall der Grille übernimmt der Raum eine charakterisierende Funktion, insofern als er durch seine Dunkelheit, seine Enge und Kargheit ihren niederen sozialen Stellenwert verdeutlicht. 417 In „Die arabische Nacht“ ist es die triste Wohnblockkulisse mit ihren zahlreichen, identisch aufgebauten Wohnungen, die auf die Befindlichkeit und die niedere soziale Stellung ihrer Bewohner schließen lässt. 418 Zur Konzeption des Stückes sagt Schimmelpfennig selbst: SCHIMMELPFENNIG Der Titel „Die arabische Nacht“ spielt mit Märchenwelten, aber im Grunde beschreibt das Stück eine Wohnsilo-Welt. Die findet sich ebenso in Berlin-Tegel wie in Frankreich wie in Istanbul wie in Moskau. Die gibt es überall. 419 Damit bekennt er sich zu einem thematischen Universalismus, der auch in anderen seiner Stücke zum Ausdruck kommt. 420 In einem Interview anlässlich der Premiere von „Die arabische Nacht“ geht er noch genauer auf die Gründe ein, die zur Wahl des Hochhauses als Schauplatz der Handlung geführt haben: SCHIMMELPFENNIG Das Hochhaus ist für mich das willkommene Biotop, in dem ich verschiedene, gleichzeitig ablaufende Biographien nebeneinander pflanzen kann. Das gemeinsame Nebeneinander. Und man kann sich die Lebensräume vorstellen, es ist ein bestimmter sozialer Kontext vorgegeben. 421 Das Zitat dokumentiert Schimmelpfennigs Vorliebe für das Prinzip der Simultaneität, auf das in Zusammenhang mit der zeitlichen Gestaltung seiner Stücke noch ausführlich eingegangen wird. 422 Nicht nur in „Die arabische Nacht“ gibt der Autor die dramatische Zielgerichtetheit zugunsten einer epischen Nebeneinanderstellung der Szenen oder Szenenfragmente auf, auch Theatertexte wie „Vorher/ Nachher“, „Push Up 1-3“ und „Auf der Greifswalder Straße“ zeugen von einer Bevorzugung der simultanen gegenüber der sukzessiven Ebene. Das Mietshaus mit seiner Vielzahl an Schauplätzen ermöglicht ein solches Nebeneinander. 423 Hinter der Entscheidung für eine solche panoramaartige Raumstruktur steht nach Meinung Manfred Pfisters immer das Vorhaben: „psychologische, soziale und 417 Vgl. GD, Szenen 31 und 38. 418 AN, S. 307. 419 „Theater ist immer Eskalation“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling. In: Schimmelpfennig 2007, S. 233. 420 Vgl. „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. 421 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. 422 Siehe Kapitel 3.3.1, S. 151-156, dieser Arbeit. 423 Schon Szondi weist auf die Funktionalisierung des Mietshauses als Garant für eine Epik des Nebeneinanders in Dramen von Strindberg und Bruckner hin. Szondi 1959, S. 103. <?page no="108"?> 108 über Persönliches und Zwischenmenschliches hinausgehende Kausalzusammenhänge transparent zu machen und die Wirklichkeit in ihrem Sosein zu kritisieren.“ 424 Mit der Wahl des Hochhausschauplatzes verleiht Schimmelpfennig seinem Stück somit bewusst eine soziale Färbung. Nicht nur die Wohnblockbauten auch die sparsame Inneneinrichtung von Franziskas Wohnung, die aus einem Sofa mit kleinem Coachtisch 425 , billigen Bücherregalen 426 , einem Kleiderschrank 427 , einem auf dem Boden stehenden Fernsehapparat 428 und einem Telefon 429 besteht, lässt auf einen kleinbürgerlichen, eher sozial schwachen Hintergrund der dort Wohnenden schließen. 430 Die Tatsche, dass Franziska und Fatima zu zweit in einer Dreizimmerwohnung wohnen, 431 obwohl Franziska berufstätig ist und täglich acht Stunden arbeitet 432 , verstärkt den Eindruck der finanziellen Knappheit. Hierfür sprechen auch der sandfarbene Teppichboden und die einfache Wanddekoration aus Postern, Photos und Drucken. 433 Der Einfachheit der Inneneinrichtung entspricht der allgemeine Zustand des Wohnhauses, das einen defekten Aufzug und erneuerungsbedürftige Wasserleitungen hat. 434 Die Beschreibung des Wohnhauses mit seinen zehn Stockwerken, den langen Fluren und dem Treppenhaus vermittelt einen Eindruck von Anonymität, der durch die Durchnummerierung der einzelnen Gebäude und Wohnungen verstärkt wird. Es handelt sich um Wohnblock B, Haus C und Wohnung 7-32. Die Situierung eines Großteils der Handlung in Aufzug, Flur und Treppenhaus, Durchgangsorte, die identitätslos wirken und nicht zum Verweilen einladen, intensiviert das Gefühl der sozialen Kälte. Schimmelpfennig beschreibt den zum Schauplatz gewählten sozialen Brennpunkt mit großer Nüchternheit und ohne Wertung. Er sucht nicht 424 Pfister 2001, S. 105. 425 AN, S. 310. 426 AN, S. 327. 427 AN, S. 334. 428 AN, S. 327. 429 AN, S. 311. Das Vorhandensein eines Telefons wird in zahlreichen Schimmelpfennig- Dramen ausdrücklich betont, so z.B. in ASW, Szene 1, in BV, I. Akt, Szene 1 und RT, II. Akt, Szene 1. In einer Welt der räumlichen Entgrenzung, der fehlenden menschlichen Kontakte und der Isolation wird das Telefon zum letzten Verbindungsglied nach Außen. Es ermöglicht den Austausch mit dem Anderen trotz dessen räumlicher Abwesenheit. Dass es in seiner Funktion als Mittel der Kommunikation oftmals scheitert und die Vereinsamung des modernen Menschen nicht aufhalten kann, verdeutlicht die erste Szene von ASW, in der Heide nachts mit sich selbst telefoniert, nachdem das Telefon den ganzen Tag lang still gestanden hat. 430 Vgl. Pütz 1970, S. 113f. 431 AN, S. 307. 432 AN, S. 335. 433 AN, S. 327. 434 AN, S. 307, 314. <?page no="109"?> 109 anzuklagen oder zu erklären, sondern schildert den Ist-Zustand mit einer Klarheit, die den Rezipienten für die in der Gesellschaft herrschenden sozialen Missstände zu sensibilisieren vermag. Im Vorwort zur 2004 erschienenen Schimmelpfennig-Gesamtausgabe schreibt Peter Michalzik: So gelingt es Schimmelpfennig seit einiger Zeit mehr Wirklichkeit einzufangen, als mancher Naturalist oder Aufklärer sich träumen lässt. Was in „Die arabische Nacht“ zwischen Wohnblocktristesse und Tausendundeiner Schwärmerei an jenen Schattenfiguren […] dingfest gemacht wurde, übersteigt jede Sozialkritik. 435 Um die Befindlichkeit der Mitglieder dieser sozial schlecht gestellten Gruppe zu veranschaulichen, greift Schimmelpfennig zu räumlichen Metaphern. So können der in einer Whiskeyflasche gefangene Karpati und der im Aufzug feststeckende Kalil als Sinnbilder für die Enge des Wohnraumes verstanden werden, die bei den Bewohnern ein Gefühl des Eingeschlossenseins und der Endgültigkeit hervorruft. Jeglicher Ausbruchsversuch aus der tristen Umwelt ist zum Scheitern verurteilt, denn trotz aller Anstrengungen und Bemühungen ändert sich am Zustand des Gefangenseins in den Verhältnissen nichts: KARPATI Mit der geballten Faust schlage ich auf das Glas ein. Nichts geschieht, nichts ändert sich. 436 Während Kalil sich aus der Enge des Fahrstuhls befreien kann und damit vorübergehend gerettet scheint, bedeutet für Karpati die Befreiung aus der Zwangssituation den Tod: KARPATI Die Flasche fällt sieben Stockwerke tief. Ich stürze sieben Stockwerke tief. […] Eine Flasche stürzt vom Bühnenhimmel auf die Bühne und zerspringt. 437 Die räumliche Konzeption von „Die arabische Nacht“ verdeutlicht, wie sehr der Mensch durch die Verhältnisse bestimmt ist, in denen er lebt. Wie einst Brecht führt Schimmelpfennig dem Rezipienten die Dialektik des Menschen vor Augen, die nach Meinung Brechts, darin beruht, dass der Mensch einerseits ein Produkt der Verhältnisse ist, 438 andererseits aber die Fähigkeit besitzt, diese zu verändern. 439 Im Stück gelingt es jedoch nur dem Hausmeister Lomeier, sich von der Determination durch die Verhältnisse zu befreien. 435 Peter Michalzik im Vorwort zu: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Frankfurt/ M. 2004, S. 11. 436 AN, S. 332. 437 AN, S. 341-342. 438 Simhandl 2001, S. 247. 439 Ebd., S. 251. <?page no="110"?> 110 Die Brechtsche Lehre von der Beeinflussung des Menschen durch die Verhältnisse 440 lässt sich auf jedes von Schimmelpfennigs Stücken übertragen, so auch auf „Besuch bei dem Vater“. Auch wenn sich das abgelegene Landhaus, ein großer alter Gutshof, 441 in dem das Rentnerpaar Heinrich und Edith wohnt, gänzlich anders als der Hochhauswohnblock in „Die arabische Nacht“ präsentiert, so besitzt es dennoch die gleiche determinierende Funktion. Die Präsentation des Raumes lässt somit auch hier auf die Macht der Verhältnisse schließen. Obwohl das Haus alt ist, vermittelt es aufgrund seiner zahlreichen Zimmer, zwanzig an der Zahl, 442 der Veranda und der Bibliothek einen großzügigen und wohlhabenden Eindruck. Anstelle des einfachen, sandfarbenen Teppichbodens aus „Die arabische Nacht“ finden sich hier Holzdielen und Teppiche, die ebenfalls von einem gewissen Wohlstand zeugen. 443 Schimmelpfennig versteht es, durch wenige Details klar strukturierte, räumliche Welten entstehen zu lassen, die dem Geschehen eine soziale Färbung geben. In seiner Größe und Beschaffenheit sowie durch die abgeschiedene 444 , ländliche Lage 445 erinnert das Haus an die herrschaftlichen Landhäuser und Familiensitze, die Anton Tschechow zum Schauplatz seiner Dramen wählte. 446 Heinrichs Jagdhobby, 447 seine bibliothekarische Sammlung, 448 seine Berufsausbildung - er ist Anglist - und sein literarisches Interesse 449 sprechen für die Zugehörigkeit zur intellektuellen Oberschicht. Ähnlich feudal wirkt der Wohnraum in „Die Frau von früher“. Allerdings handelt es sich hier nicht um ein Landhaus, sondern um eine vornehme Stadtwohnung. Das Stück beginnt mit folgendem Nebentext, der den Ort der Handlung definiert: Der großzügige Wohnungsflur einer Altbauwohnung. Vier Türen, die von dem Flur abgehen: die Eingangstür mit zwei Flügeln, die Tür zum Bad, die Tür zum Zimmer des Sohnes, die Tür zum Schlafzimmer der Eltern. Eventuell ein Durchgang oder eine wei- 440 Die Determination durch die Verhältnisse thematisiert Brecht z.B. in seiner Dreigroschenoper. 441 BV, S. 9, 47. 442 BV, S. 19. 443 In Szene III, 1 (BV, S. 46) wird der materielle Reichtum von Ediths Vorfahren in einem Tischgespräch beiläufig erwähnt. 444 BV, S. 14: „Zu Fuß? Von wo? […] Vom Bahnhof? Da waren sie ja zwei Stunden unterwegs.“ 445 BV, S. 15. 446 Vgl. Anton Pawlowitsch Tschechow: Die Möwe, Onkel Wanja, Der Kirschgarten. 447 BV, S. 14-16. 448 BV, S. 40. 449 BV, S. 51. <?page no="111"?> 111 tere Tür zu Wohnzimmer und Küche. Viel Platz. Im Flur stehen bereits gepackte Umzugskartons - keine Möbel mehr oder Bilder. 450 Liest man diese einleitenden Angaben, so fällt die Redundanz des Wortes Tür auf. Jede der Türen wird in ihrer Funktion als Zugang zu einem der Zimmer genauestens definiert. Des Weiteren überrascht die Wahl des Flures zum Spielort. Die angrenzenden Zimmer werden in Verbindung mit den Türen zwar benannt, aber nicht weiter charakterisiert. Der Flur wird hingegen durch das Adjektiv „großzügig“, die von ihm abgehende Anzahl von Türen, die Umzugskartons und das Fehlen von Möbeln und Bildern konkretisiert. Die Wahl des Zwischenraumes Flur, einem Durchgangsort, zum Schauplatz des Geschehens korrespondiert mit dem Inhalt des Stückes, in dem es um einen nicht eingehaltenen Liebesschwur geht. Denn die einstige Liebe zwischen Frank und Romy hat sich als Durchgangsliebe, als Weg hin zu einer anderen Liebe offenbart und besitzt daher etwas ebenso Flüchtiges wie der Flur, in dem man in der Regel nicht lange verweilt, sondern den man mit einem anderen Ziel vor Augen durchquert. Auch die Umzugssituation mit den gepackten Kartons vermittelt den Eindruck des Übergangs. Frank, seine Frau Claudia und der gemeinsame Sohn Andi befinden sich in einer Übergangssituation. Die leere Wohnung mit den gepackten Kartons wird zum Zwischenraum zwischen dem alten und dem neuen Leben in Übersee. In ihrem unmöblierten Zustand ist sie schon nicht mehr das einstige Zuhause, sondern die Schwelle zu Aufbruch und Neuanfang. Mit der Situierung des Stückes nimmt Schimmelpfennig somit auch hier den Inhalt vorweg. Die räumliche Ausgestaltung und der Inhalt sind eng verwoben und bilden ein kohärentes Bedeutungsnetz. Schimmelpfennig selbst begründet die Verlagerung des Geschehens in den Innenraum folgendermaßen: SCHIMMELPFENNIG Genau genommen ist es ein Korridorstück. Denkt man an Medea - der Medea-Mythos klingt im Stück an -, denkt man also an das klassische griechische Drama, müsste das Stück eigentlich vor dem Haus spielen, aber die Tragödie kann heute nicht mehr vor dem Haus stattfinden, sondern ist längst ins Private verlagert. Es gibt nicht mehr die öffentliche Verhandlung von Gefühl oder Zwang. Also muss das Stück drinnen spielen. 451 Im Unterschied zum klassischen griechischen Drama, in dem die Tragödie vor dem Haus bzw. dem Palast stattfindet, verlagert sich der Konflikt bei Schimmelpfennig also vom öffentlichen Außenraum auf den geschlossenen 450 FF, S. 641. 451 „Ausblick in die Ewigkeit“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Andreas Beck. Auszug aus dem Interview „Theater braucht keine Romantik“, das der Dramaturg Andreas Beck mit Roland Schimmelpfennig anlässlich der Uraufführung des Auftragswerks „Die Frau von früher“ am Wiener Burgtheater führte. In: Programmheft des Bayerischen Staatsschauspiels, „Die Frau von früher“, Premiere 12.03.2005. <?page no="112"?> 112 privaten Innenraum. Die Wahl des Zwischenraumes Flur zum Schauplatz des Geschehens stellt in Schimmelpfennigs Werk, wie schon mehrfach angemerkt wurde, keinen Einzelfall dar, vielmehr handelt es sich dabei um ein Charakteristikum seiner Stücke, das zu untersuchen sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe macht. So kommt dem Flur auch in „Die arabische Nacht“ eine bedeutende Rolle zu. Neben Franziskas Wohnung stellen die Zwischenräume Flur, Eingangsbereich, Aufzug und Treppenhaus den Hauptschauplatz der Handlung dar. Sie sind es, die das Geschehen in Gang halten und für die in diesem Stück besonders stark ausgeprägte räumliche Opposition von oben und unten sorgen, auf deren Bedeutung in Kapitel 2.4.1 bereits ausführlich eingegangen wurde. Vergleichsweise neutral zeigen sich die Wohnraumentwürfe in „Die ewige Maria“ und „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“. Schimmelpfennig verzichtet in diesen Stücken auf eine detaillierte Beschreibung der Innenräume. So beschränkt er die Informationsvergabe zum Innenraum in „Die ewige Maria“ darauf, dass es sich um ein großes Wohnhaus mit einer Backstube, einer Küche mit Ofen 452 und verschiedenen Zimmern handelt. Der Innenraumentwurf bleibt damit vage und besitzt keine eindeutige charakterisierende Funktion. Die soziale Zugehörigkeit der Figuren zu einem kleinbürgerlichen Handwerkermilieu geht vielmehr aus ihren beruflichen Tätigkeiten und den zahlreichen Dialogen um Finanzknappheit und Jobsuche hervor. In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, wo die Wohnungen der Figuren lediglich den Nebenschauplatz der fiktiven Handlung darstellen - Hauptschauplatz ist der Wald - verzichtet der Autor gänzlich auf räumliche Konkretisierungen. Annes und Heides Wohnungen werden als Schauplatz zwar benannt, in ihrer Ausstattung und Wirkung aber nicht weiter beschrieben. Der Innenraum besitzt somit auch hier keine charakterisierende Funktion und ist lediglich neutraler Schauplatz. Gänzlich anders verhält es sich jedoch mit der Gestaltung des Außenraums. Dem neutralen Innenraum steht ein klar definierter Außenraum gegenüber. Die Determination der Figuren durch den geografischen Raum, in dem sie leben, wird in beiden Stücken überdeutlich. Sowohl in „Die ewige Maria“ als auch in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ lenkt ein regionaler Aberglaube das Denken und Handeln der Figuren. 452 EM, S. 60-61. <?page no="113"?> 113 2.5.2. Das Hotel Mit etwas abwesenden Augen stehst du im Hotelzimmer und erinnerst dich nicht ... nein, du bist gar nicht da — du bist da, wo sie [die Sachen im Koffer] herkommen, atmest die alte Luft und hörst die alten, vertrauten Geräusche . Zwei Leben lebst du in diesem Augenblick: eines körperlich, hier, das ist unwahrhaftig; ein andres seelisch, das ist ganz wahr. Kurt Tucholsky 453 Das Hotel, Schauplatz des Geschehens in „Vorher/ Nachher“, zählt zur Gruppe der Zwischenräume, der auch die Theatergarderobe sowie Flure, Treppenhäuser und Straßen angehören. Für Foucault gehört es zu den „Ort[en] des Nirgendwo“, die seiner Meinung in der modernen Welt stark an Bedeutung gewonnen haben. 454 Das Hotel ist weder Heimat noch Fremde. Joachim Hintze bezeichnet es daher als „Raum der flüchtigen Geborgenheit“ und betrachtet es als räumliches Symbol für die „Wurzellosigkeit“ des expressionistischen Menschen. 455 Diese für die Zeit des Expressionismus vorgenommene Charakterisierung des Schauplatztypus Hotel lässt sich ohne Weiteres auf Schimmelpfennigs Stücke übertragen. So versinnbildlicht das Hotel auch hier das Unbehaustsein des modernen Menschen, der sich in der Welt fremd und heimatlos fühlt. Wie eine Szene aus „Das Reich der Tiere“ verdeutlicht, in der der Jungregisseur Chris sich weder an die Lage noch an den Namen seiner Bleibe erinnern kann, 456 vermag das Hotel kein Gefühl von Heimat zu vermitteln. Den Eindruck einer chronischen Heimatlosigkeit der Figuren, der hier durch das Bild des Hotels hervorgerufen wird, vermittelt auch das Motiv des verlorenen Schlüssels, das sich wie ein roter Faden durch Schimmelpfennigs Werk zieht und in „Ende und Anfang“ mit dem Hotelmotiv kombiniert wird. 457 Die Hauptprotagonistin Isabel erzählt von dem Verlust ihres Hausschlüssels, der sie in eine Notsituation gebracht hat: 453 Kurt Tucholsky: Koffer auspacken. In: ders.: Lerne lachen ohne zu weinen. Hildesheim, Zürich, New York 2008 [1931], S. 35-38, 36. 454 Foucault: Andere Räume. In: Barck, Gente, Paris, Richter (Hgg.) 1993, S. 40. 455 Hintze 1969, S. 110f. 456 RT, S. 131. 457 EA, S. 209. Vgl. AN, S. 318. Vgl. GS, Szene 4.13, S. 472. <?page no="114"?> 114 […] und dann waren die Schlüssel weg, einfach verschwunden, die Schlüssel waren einfach weg, und ich fand nicht mehr den Weg nach Hause, was aber hätte ich dort auch gesollt - ohne Schlüssel. 458 Mit dem Verlust des Schlüssels geht der Verlust jeglicher Orientierung einher. Isabel verbringt die Nacht auf offenem Feld. Auf die Frage ihres Bruders, warum sie kein Hotel aufgesucht habe, antwortet sie nach einer Denkpause: Ach - in ein Hotel … ich wollte nicht in ein Hotel. 459 Wie aus dieser Antwort Isabels hervorgeht, kann das Hotel ihr die verloren gegangene Heimat nicht ersetzen. Die Interjektion „Ach“ verdeutlicht die Sehnsucht nach echter Geborgenheit, die das Hotel nicht vermitteln kann. Es scheint sogar, als verstärke das Hotel das Gefühl der Einsamkeit. Die Präsentation des Hotels als „Nicht-Ort“, der den Figuren kein Gefühl von Heimat vermitteln kann, entspricht der oben skizzierten Darstellung in „Das Reich der Tiere“. Eine noch genauere Charakterisierung des Schauplatzes Hotel liefert „Vorher/ Nachher“, wo das Hotel Hauptschauplatz der fiktiven Handlung ist. Das Figurenpersonal des Stückes ist äußerst disparat und ebenso unterschiedlich sind die Motive, die die einzelnen Figuren in das Hotel führen. Einige von ihnen sind auf Geschäftsreise 460 , andere auf Tanztournee 461 und wieder andere wegen einer Beerdigung in der Stadt 462 . Daneben gibt es die Gruppe derer, die den anonymen Ort für ein Liebesabenteuer nutzen. Der räumliche Rahmen des Hotels hält die Vielzahl von eigenständigen Szenen mit ihrem unterschiedlichen Personal zusammen. Schauplatz der Handlung sind die verschiedenen Zimmer des Hotels. Schimmelpfennig präsentiert einen Hotelquerschnitt und zeigt in einundfünfzig kurzen Szenen, welche Ereignisse sich parallel in den verschiedenen Zimmern abspielen. Wie in Hotels üblich haben die einzelnen Zimmer keinen individuellen Charakter. Sie ähneln sich alle, besitzen ein Doppelbett mit zwei kleinen auf Nachttischen stehenden Lampen 463 , eine Deckenlampe 464 , manche zusätzlich noch eine Stehlampe in der Ecke des Raumes 465 , einen Fernseher 466 , einen kleinen Tisch mit dazugehörigem Stuhl 467 , 458 EA, S. 175. 459 EA, S. 209. 460 VN, S. 404, 405, 417, 437. 461 VN, S. 408. 462 VN, S. 427. 463 VN, S. 403f., 410, 424, 459, 460. 464 VN, S. 403, 406, 460. 465 VN, S. 409. 466 VN, S. 408, 409, 437. 467 VN, S. 406. <?page no="115"?> 115 einen Spiegel 468 , einen Heizkörper 469 , ein Bad 470 , ein neben der Badezimmertür angebrachtes Bild 471 , Vorhänge und Teppichboden 472 . Das Hotelpersonal tritt nicht in Erscheinung, was die Anonymität des Ortes verstärkt. Lediglich zwei Handwerker tauchen auf, um Reparaturen an Licht und Heizung durchzuführen, ohne jedoch auf die Bewohner der Zimmer zu treffen. Es scheint, als würde Wert auf Diskretion gelegt. Die Gäste genießen in ihren Zimmern absolute Privatsphäre. So wird das Hotel Schauplatz von Beziehungskrisen, Betrug, Einsamkeit und Verzweiflung, aber auch von Liebe, Lust und Geborgenheit. Für viele seiner Gäste ist es Weggabelung und Schicksalsort. 2.5.3. Der Arbeitsplatz Ich glaube, es ist wichtig, daß die Dramatik Arbeitswelten wieder thematisiert. Roland Schimmelpfennig 473 In „Push Up 1-3“ ist der Schauplatz der Handlung eine große Firma. Heinrich, der als Pförtner und Nachtwächter arbeitet und für die Überwachung des Gebäudes bei Tage und bei Nacht zuständig ist, spricht von ihr als einem „ziemlich großen Konzern“ mit Filialen in den USA, Südafrika und Indien. 474 Sein einleitender Monolog, in dem er den Handlungsort detailliert beschreibt, ersetzt, wie unter 2.2.1 bereits angemerkt wurde, die einführenden Nebentextanweisungen. Wie aus Heinrichs minutiöser Beschreibung hervorgeht, handelt es sich um einen weitläufigen Gebäudekomplex mit mehreren Nebengebäuden und einem sechzehnstöckigen Haupthaus, dem sogenannten „Mutterhaus“, in dem der Hauptsitz der Firma untergebracht ist. 475 Neben der vornehmen 476 Chefetage im obersten sechzehnten Stock, 477 von wo aus man einen guten Blick über die Stadt hat, 478 beherbergt das Hochhaus zahlreiche Abteilungen und Unterabtei- 468 VN, S. 424, 437. 469 VN, S. 455, 457, 459. 470 VN, S. 403, 440, 454, 461. 471 VN, S. 418. 472 VN, S. 424. 473 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. 474 PU, S. 345. 475 PU, S. 396. 476 PU, S. 366: PATRICIA Lautlos, denn auf dem dicken Teppich machen meine Stilettos kein Geräusch. 477 PU, S. 365. 478 PU, S. 366. <?page no="116"?> 116 lungen, so zum Beispiel die Verwaltungs- und Entwicklungsbüros, die Räume der Kreativen, die Labore und im Keller eine „riesige Computerzentrale, in der Daten aus der ganzen Welt gespeichert werden“. 479 Das Zentrum der Entwicklungsabteilung befindet sich jedoch in Delhi. 480 Neben den Bereichen der einzelnen Abteilungen gibt es, laut Heinrich, unzählige nach Zigarettenrauch riechende Sitzungsräume, was auf die während der Sitzungen herrschende Nervosität und Anspannung schließen lässt. 481 Zum Haus gehören darüber hinaus ein Parkdeck und eine Kantine. In der Nähe bieten kleine Restaurants, namentlich genannt werden ein Italiener und ein Thai-Restaurant, 482 Alternativen zum Kantinenessen. Heinrichs Arbeitsplatz, der den Schauplatz der Eingangs- und der Schlussszene des Stückes darstellt, befindet sich im Erdgeschoss in der gläsernen Lobby, die aufgrund ihrer zahlreichen Monitore einer Überwachungszentrale gleicht. Ergänzt man Heinrichs Aussagen durch die Kommentare der Angestellten, so entsteht das Bild eines riesigen Konzerns, in dem Leistungsdruck, Konkurrenz und Anonymität herrschen. Mit der Auslagerung des Zentrums für Entwicklung nach Indien und der Gründung von Tochterfirmen in den USA und Südafrika repräsentiert die Firma den Zeitgeist der Globalisierung, der Expansion und Enträumlichung bedeutet. Der Arbeitsplatz präsentiert sich in „Push Up 1-3“ als Ort der Kälte und des Kampfes. Nebentextanweisungen wie „Das Büro einer Führungskraft“ 483 machen die Firma zum Stereotyp für die heutige Arbeitswelt. Der unbestimmte Artikel „einer“ legt nahe, dass es in zahlreichen anderen Unternehmen genauso aussieht. Für Individualität, die in einer persönlichen Raumgestaltung zum Ausdruck kommen könnte, scheint in der heutigen Arbeitswelt kein Platz zu sein. Diesen Eindruck erweckt auch die Präsentation des Arbeitsplatzes in „Ende und Anfang“, wie der folgende Auszug verdeutlichen soll: Im Personalaufenthaltsraum Leuchtstofflicht, Stühle mit Metallbeinen, ein Getränkeautomat, das dumpfe Aufschlagen der Flaschen in dem Ausgabeschacht der Maschine, volle Aschenbecher. 484 Leuchtstofflicht, Metallbeine und Getränkeautomat vermitteln ein Gefühl von Kälte und Anonymität. Der Automat ersetzt die Cafeteria, in der man von Menschen bedient wird und die Möglichkeit zum zwischenmenschlichen Austausch bekommt. Die vollen Aschenbecher erinnern an die nach Zigarettenrauch riechenden Sitzungsräume in „Push Up 1-3“ und deuten 479 PU, S. 345. 480 PU, S. 353 481 PU, S. 345. 482 PU, S. 392, 393. 483 PU, S. 346. 484 EA, S. 173. <?page no="117"?> 117 auf die Frustration, die Nervosität und die Desillusioniertheit des Personals hin. „Rechnerräume, Kabelbäume, Rohre, Schächte“ 485 und der „hermetisch abgeriegelt[e] Komplex“ 486 mit den Tierställen verstärken die ungastliche, trostlose Atmosphäre. Es scheint, als seien nicht nur die Tiere in ihren Käfigen ihrer Freiheit beraubt, sondern auch die Pfleger selbst. Immer wieder stellen sie sich die gleichen Fragen, die ihre Unsicherheit, ihre Verzweiflung und ihre Perspektivlosigkeit zum Ausdruck bringen: Was kommt noch, was kommt noch, ein unsicheres Lächeln, nicht ohne Bitterkeit, nicht ohne Angst. 487 Was tun wir hier, was tun wir hier, was tun wir hier. 488 Die Redundanz ihres Sprechens verdeutlicht die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Das Tierversuchslabor präsentiert sich als ein von der Außenwelt hermetisch abgeriegelter Versammlungsort für gescheiterte Existenzen, als Ort ohne Zukunft. So sieht sich auch der Hauptprotagonist Peter mit der Annahme des Tierpflegerjobs am Endpunkt seines Lebens angekommen: […] wenn du da morgen hingehst […] wenn du das machst, wird es kein Zurück mehr geben, keine Umkehr, nie mehr, das ist noch keinem gelungen, dann bist du genauso gescheitert, wie du es immer allen anderen vorhergesagt hast, nur nicht dir […] 489 Mit der Wahl eines die Vermassung des Menschen veranschaulichenden Kollektivraums, hier dem Personalaufenthaltsraum, greift Schimmelpfennig eine expressionistische Tradition auf. Die häufige Wahl von Kollektivräumen zum Dramenschauplatz im Zeitalter des Expressionismus erklärt Joachim Hintze folgendermaßen: Der Persönlichkeitsverlust, der zugleich den Verlust echter Menschlichkeit bedeutet, findet weiterhin Gestalt in den Schauplatztypen, die allgemein als Kollektivräume gekennzeichnet sind, […]. 490 So kann letztlich auch Schimmelpfennigs Entscheidung, den unpersönlich wirkenden Personalaufenthaltsraum zum Schauplatz seines Stückes zu machen, als Kritik an den zeitgenössischen Entindividualisierungstendenzen verstanden werden. „Ende und Anfang“ belegt somit die Aktualität der für den Expressionismus getroffenen Aussage und weist auf die Gefahr 485 EA, S. 215. 486 EA, S. 185. 487 EA, S. 184. 488 EA, S. 187. Vgl. EA, S. 174: „Ein Mann mit schlechten Zähnen: Konnte nach all den Jahren nicht sagen, was ich hier mache. Gerät ins Schlingern, tiefe Verlegenheit, sagen Sie doch selbst, was, was, wie würden Sie das bezeichnen, was Sie hier tun, Ihr Feld, nein, nein, sagen Sie ruhig, sagen Sie es ruhig, wie man das nennt, was ich hier mache, es hat sich vieles ja geändert in den letzten Jahren …“. 489 EA, S. 171. 490 Hintze 1969, S. 120. <?page no="118"?> 118 des Persönlichkeitsverlustes in einer modernisierten, hoch technisierten Welt hin, deren Stellvertreter Rechner und Automaten sind. Die oben beschriebenen Raumentwürfe lassen eine Negativkonnotation des Arbeitsplatzes erkennen. Schimmelpfennig beschreibt ihn als Ort der Macht und des Zwangs, der eine freie Entfaltung des Individuums unmöglich macht. Indirekte Kritik an den Arbeitsbedingungen der Gegenwart wird auch in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ laut. Eine der arbeitslosen Schauspielerinnen beklagt sich dort über „die gleichgeschaltete Vereinzelung“, die auch im Theater um sich gegriffen hat und die für sie „eine Erfindung der westlichen Welt“ 491 ist. Das Theater präsentiert sich folglich ebenso wenig als Schutzraum für das Individuum wie die bereits genannten Arbeitsplätze. Der Illusionsverlust, der auch das Theater ergriffen hat, artikuliert sich wiederum über die Präsentation des Raumes. In den Stücken, die das Theater zum Schauplatz haben (RT, KA), wählt Schimmelpfennig nicht die Illusion verheißende Bühne zum Ort des Geschehens, sondern Zwischenräume wie „Vor dem Vorhang“ 492 und „in ihrer Garderobe“ 493 . Illusionslos, ja beinahe hoffnungslos gestaltet sich folglich auch die Situation der Schauspieler. Sie leiden unter massiver Existenzangst 494 und sind einem Arbeitsklima ausgesetzt, das von Anonymität, Kälte und Ignoranz gekennzeichnet ist. Der folgende Szenenauszug aus „Das Reich der Tiere“ belegt, wie wenig Wertschätzung den Schauspielern von ihren Arbeitgebern entgegengebracht wird: ISABEL Sie hat mich nicht erkannt. Was heißt verhandeln, sie hat mich nicht einmal erkannt, was heißt verhandeln, die weiß nicht einmal, dass ich hier arbeite. Was haben Sie denn die letzten Jahre gemacht, hat sie gefragt. Wie meinen Sie das - Ja, was Sie die letzten Jahre gemacht haben - Aber Sie kennen mich doch, Sie kennen doch meinen Vertrag - Sie wissen doch, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe, die Ginsterkatze, das habe ich in den vergangenen Jahren gemacht. 495 Die Thematik des Nicht-Erkannt-Werdens durchzieht das gesamte Stück. Auch Dirk, Isabels Kollege, muss feststellen, dass sein Umfeld ihn als Individuum nicht wahrnimmt: 491 KA, S. 132. 492 KA, S. 99. 493 RT, S. 91. 494 RT, S. 139: „CHRIS Und du weißt nicht, wie es weitergeht. Wenn die das Tierstück absetzen. Nach sechs Jahren weißt du nicht, wie es weitergeht.“ RT, S. 152: „PETER Vielleicht müssen wir umschulen.“ 495 RT, S. 97. <?page no="119"?> 119 DIRK […] ich glaube immer, dass die überhaupt nicht wissen, wer ich bin, wie ich aussehe, meine ich, die glauben vielleicht, ich arbeite in der Verwaltung, wenn sie mich auf dem Flur treffen. 496 Und auch Schauspieler Frankie beklagt sich im Gespräch mit dem Regisseur Chris über die Ignoranz seiner Vorgesetzten: FRANKIE Ich bin mir nicht sicher, ob die mich überhaupt erkennen, wenn ich im Flur an denen vorbeigehe. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die mich erkennen, wenn ich im Büro vor denen sitze. Das gibt es. Ist schon vorgekommen. Daß sie jemandem sagen, dass sie leider niemanden einstellen, der aber schon seit Jahren unter Vertrag ist. Das musst du dir mal vorstellen - stell dir das mal vor! 497 Die Antwort des Regisseurs ist äußerst ernüchternd. Sie spiegelt das im Theater herrschende Desinteresse am Individuum, entscheidend ist lediglich das Erfüllen einer Funktion im Theaterapparat: CHRIS Ich kann dir sagen, woran das liegt: Die haben nicht wirklich Interesse. Kurze Pause. Es kann sein, dass sie mit bestimmten Leuten verhandeln - aber nur weil sie niemand anderen finden. Keinen, der es macht - 498 Die menschenverachtenden Zustände im Theater legt auch Isabels Erfahrungsbericht in „Besuch bei dem Vater“ offen. Ihre Erwartungen und Hoffnungen auf eine Festanstellung am Theater wurden bereits vor ihrer Anstellung in „Das Reich der Tiere“ bitter enttäuscht: ISABEL […] Ich war für die nur die Fickmaus. Ich sollte da nur die Fickmaus sein. 499 Eindeutig negativ konnotiert ist der Arbeitsplatz auch in „Der goldene Drache“, wo Schimmelpfennig sich mit dem Arbeitsalltag in einem asiatischen Schnellrestaurant auseinandersetzt. Die Adjektive „eng“ und „heiß“ determinieren hier den Raum. Die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen verdeutlicht die folgende Klimax: DER MANN In der Küche des Thai-China-Vietnam-Restaurants DER GOL- DENE DRACHE: es ist eng, sehr eng, kein Platz, und die asiatischen Köche arbeiten hier trotzdem zu fünft. 500 Die bedrückende Enge der Küche und die in ihr herrschende Hitze werden im Verlauf des Stückes immer wieder betont. 501 Es wundert daher kaum, 496 RT, S. 123. 497 RT, S. 142. 498 Ebd. 499 BV, S. 45. 500 GD, Szene 3. <?page no="120"?> 120 dass sie für den kleinen Chinesen am Ende zum Ort des Todes wird. Schimmelpfennig verdeutlicht die Negativkonnotation des Arbeitsplatzes jedoch nicht nur mithilfe von Handlungssequenzen, sondern auch durch Raumoppositionen. Der Enge der Küche stellt er die Weite des Naturraums gegenüber. So setzt er den Fluss, der die Leiche des kleinen Chinesen in sich aufnimmt und sie kostenlos, wie extra betont wird, nach Hause trägt als räumlichen Gegenpol ein. 502 2.5.4. Die Straße Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert. Marc Augé 503 Neben den bereits beschriebenen Innenräumen stellt auch die Straße als Raum größtmöglicher Öffentlichkeit einen der von Schimmelpfennig ausgewählten Dramenschauplätze dar. In „Auf der Greifswalder ße“ macht Schimmelpfennig eine vierspurige Ausfallstraße zum verknüpfenden Rahmen zahlreicher Szenenfragmente. Wie in „Vorher/ Nachher“, wo das Hotel diese Funktion übernimmt, hält der gewählte räumliche Rahmen auch hier die Vielzahl an Einzelszenen mit ihrem heterogenen Personal zusammen. Die Straße wird zum Sinnbild für das Leben in der Großstadt, denn wie Schimmelpfennig in einem Gespräch anlässlich der Berliner Uraufführung des Jahres 2006 betont, lässt sich der Inhalt des Stückes trotz des eindeutig auf Berlin verweisenden Titels auf jede andere Großstadt übertragen: SCHIMMELPFENNIG Das Stück ist großstädtisch. 504 Es ist der Durchgangscharakter 505 der Greifswalder Straße, der sie für Schimmelpfennig interessant macht, nicht ihr Berliner Lokalkolorit. Wie 501 GD, Szene 1, 3, 6, 13, 22. 502 GD, Szene 46. 503 Augé 1994, S. 44. 504 „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. 505 Ebd. <?page no="121"?> 121 das Hotel gehört sie zur Kategorie der funktionalen Nicht-Orte, der Zwischenorte: Die Straße ist wie kein zweiter Raum ein Transitraum; sie ist per definitionem kein Ort zum Verweilen. 506 Die Bedeutungsqualitäten, die Schimmelpfennig der Greifswalder Straße gibt, differieren von Szene zu Szene. Mal ist die Straße Schauplatz von buntem Großstadttreiben, von Liebesschwüren und glücklichen Zufällen 507 und erinnert somit an Georges Sands Deutung des Weges als Symbol für ein bewegtes Leben: Qu’y a-t-il de plus beau qu’un chemin? C’est le symbole et l’image de la vie active et variée. 508 Mal ist sie Ausdruck von Verlust, Perspektivlosigkeit und sozialen Missständen. 509 Beispiele für solche Negativkonnotationen der Greifswalder Straße und ihrer Umgebung finden sich in den Szenen 2.10, 2.15 und 2.16. In allen drei Szenen präsentiert Schimmelpfennig sie als trostlosen Ort, der zur Vereinsamung des Individuums führt. Im Fall des Kioskbesitzers Hans scheint es, als trieben ihn die triste Umgebung und die Monotonie des Alltags in den Wahnsinn: Er blickt durch das Fenster hinaus auf die Ausfallstraße, zwei Spuren in jeder Richtung, dazwischen die Schienen der Straßenbahn. Keine Kundschaft. Er ist allein. Eine Tram rauscht vorbei. Gegenüber der Photoladen, verschwommen im Graugrün der Scheibe, Babsi, mit ihrer Kamera, wie immer. Sein Mund klappt auf, als ob er etwas sagen wolle. Der Mann will aber nichts sagen, wem auch, ist doch keiner da, er schließt den Mund wieder, der aber sofort wieder aufspringt […] Immer stärker das Gefühl, dass etwas aus ihm heraus will. In seinem Kopf Wörter einer Sprache, die der Mann nicht versteht, die er noch nie gehört hat. 510 Von der Vereinsamung des Menschen in der Großstadt zeugt auch Szene 2.15, in der eine junge Frau ihr Mittagessen alleine einnimmt. Der Restau- 506 Annette Jael Lehmann: On the Highway. Räume und Bewegung in Literatur und Film der USA. In: Michael Diers, Robert Kudielka, Angela Lammert, Gert Mattenklott (Hgg.): Topos RAUM. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Berlin 2005, S. 208-220, 208. 507 GS, Szene 2.13, S. 441-443; Szene 3.2, S. 447; Szene 3.7, S. 452; Szene 3.13, S. 458. 508 George Sand: Consuelo II. Paris 1864, S. 116. Deutsche Übersetzung: „Was gibt es denn Schöneres als einen Weg? Er ist das Symbol und das Bild des tätigen, vielfältigen Lebens.“ Zitiert nach: Bachelard 1957, S. 30. 509 GS, Szene 1.1 (Verlust), S. 415; Szene 1.3 (soziale Missstände), S. 417; Szene 1.7 (Verlust), S. 421; Szene 2.10 (Perspektivlosigkeit), S. 437f.; Szene 2.13 (soziale Missstände/ Verlust), S. 441; Szene 2.15 (Perspektivlosigkeit), S. 444; Szene 2.16 (Perspektivlosigkeit), S. 444; Szene 3.8 (Perspektivlosigkeit), S. 453; Szene 4.6 (Verlust), S. 467f.; Szene 4.19 (soziale Missstände), S. 478; Szene 4.20 (Verlust), S. 479. 510 GS, Szene 2.10, S. 438. <?page no="122"?> 122 rantbesuch verliert seine gesellige Funktion und wird zum Zeichen der Vereinzelung des Menschen. Die Tatsache, dass die Frau noch jung ist, ihr Mittagessen aber dennoch alleine am Rand einer viel befahrenen lauten Straße einnimmt, lässt das Bild noch hoffnungsloser erscheinen. Eine Frau, Ende Zwanzig, halblanges, dunkelbraunes Haar, allein an einem Tisch eines italienischen Restaurants auf dem Bürgersteig einer vierspurigen Straße. Zwischen den Fahrbahnen: Straßenbahngleise. Die Straße ist zu laut. […] Die Frau blickt die Straße entlang. Sucht sie etwas, hat sie etwas gehört, oder starrt sie ins Leere -. 511 Der leere Blick der Frau korrespondiert mit der Trostlosigkeit der Umgebung. Ähnlich düster und ungastlich erscheint der Ort der Handlung in der Schauplatzbeschreibung der nachfolgenden Szene 2.16: Unter ihm die vier Fahrbahnen der Straße und die Gleise der Straßenbahn. Zwischen den Gleisen: ein schmaler Streifen mit hoch gewachsenen Gräsern, Resten von Kopfsteinpflaster, Scherben. Tag und Nacht Verkehr. Wer kann, zieht hier weg, zieht weg aus dem Vorderhaus. Der Mann gießt die eher kümmerlichen Blumen. Dann schaut er auf die Straße. Der Blick wandert über den verwilderten Streifen und folgt den Gleisen. 512 Der Textauszug präsentiert die Greifswalder Straße, deren Hauptcharakteristika die vier Fahrbahnen, die Straßenbahngleise und der permanente Verkehr sind, als unwohnliche Gegend, aus der man am besten wegzieht. Hinzu kommt ein verwahrloster Mittelstreifen, den Schimmelpfennig in einem Gespräch über die reale Beschaffenheit der zum Schauplatz gewählten Straße im Norden von Berlin folgendermaßen beschreibt: „[…] ein Hundeparadies. Von Kampfhunden vollgeschissen“. 513 In Analogie zur Schauplatzbeschreibung im Stück charakterisiert er die Greifswalder Straße als Durchgangsadresse, die nicht zum Verweilen einlade. Es handele sich um eine trostlose Gegend mit magerer Infrastruktur, in der niemand gerne zu Fuß gehe. 514 Als suche er diese Aussage zu untermauern, liefert er im Stück mit Szene 1.10, in der Simona durch den Biss eines Wolfshundes zum Werwolf wird, einen triftigen Grund, aus dem das Spazierengehen auf der Greifswalder Straße vermieden werden sollte. Die Straße ist somit nicht nur der räumlich-bildhafte Ausdruck für Perspektivlosigkeit und soziales Elend, sondern auch für Gefahr und todbringendes Unheil 515 . Ein Beispiel für eine solche negative Bedeutungsqualität der Straße findet sich auch in „Die Frau von früher“. Die Hauptprotagonistin Romy 511 GS, Szene 2.15, S. 444. 512 GS, Szene 2.16, S. 444. 513 „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. 514 Ebd. 515 Vgl. GS., Szene 1.10, S. 427-428. <?page no="123"?> 123 Voigtländer wird, als sie auf der Straße vor dem Haus ihrer Jugendliebe Frank steht, Opfer eines Steinschlags und wird lebensgefährlich am Kopf verletzt. 516 Die Straße stellt somit auch hier einen Ort der Unsicherheit dar. Doch wie oben bereits angemerkt, besitzt die Greifswalder Straße auch eindeutig positive Bedeutungsqualitäten. In den Szenen 3.2, 3.7, 3.13 und 4.16 wird sie zum Ort glücklicher Fügungen und führt zwei junge Menschen zusammen, die füreinander bestimmt scheinen. Und auch in anderen Stücken des Autors lassen sich positive Konnotationen der Straße und des Weges nachweisen. So verspricht der Weg in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ Schutz vor den Mächten des Waldes. Wer dem Weg folgt, ist in Sicherheit, wer ihn verlässt, der ist den Mächten des Waldes ausgeliefert und wird zum Baum: ERNST Es ist deine Schuld, wenn sie den Weg verlieren und zu Bäumen werden. 517 Für den orientierungslosen Ulrich wird der Weg in Szene 2 des dritten Akts zum Ort der Rettung. Er führt den im Wald Umherirrenden zurück zur Busstation und damit zurück in die geordnete Welt der Stadt. 518 Als Orientierungshilfe in der ungeordneten Natur ist der Weg unverzichtbar. Von der Semantisierung des Weges zum Ort der Sicherheit zeugt auch Szene 4 des ersten Aktes, in der Hans versucht, seiner Braut Katharina die Angst vor dem Wald zu nehmen. Er versichert ihr: HANS […] Aber wer die Wege kennt, dem wird nichts zustoßen, hab keine Angst. 519 Wie der weitere Verlauf des Stückes zeigt, ist die Aussage von Hans jedoch nur bedingt zutreffend: Szene 3 des dritten Aktes verweist auf die Macht des Waldes und seiner Geister, die Rettung versprechenden Wege zu krümmen. 520 Die Schutzfunktion des Weges wird dadurch relativiert. Auch in „Das Reich der Tiere“ besitzt die Straße unterschiedliche Bedeutungsqualitäten. So ist sie einerseits Sinnbild für das berufliche Aus der Schauspieler, andererseits verbindet sich mit ihr aber auch die Hoffnung auf einen Neuanfang. 521 516 FF, S. 651, 654-658. 517 ASW, S. 246. 518 ASW, S. 250: „PETER Am besten Sie gehen diesen Weg hinunter. Wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es in einer knappen Stunde bis zur Busstation.“ S. 257: „ANNE […] Wenn du diesen Weg entlanggehst, kommst du in einer knappen Stunde an die Busstation.“ S. 266.: „HANS Dieser Pfad führt geraden Wegs, wohin Sie wollen. […] Die Busstation liegt den Weg entlang.“ 519 ASW, S. 238. 520 ASW, S. 269. 521 RT, S. 110. <?page no="124"?> 124 2.5.5. Der Naturraum Zufrieden jauchzet, groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s seyn. Johann Wolfgang von Goethe 522 In vier der ausgewählten Theatertexte (ASW, EA, BV, HUJ) ist der Naturraum Haupt- oder Nebenschauplatz der fiktiven Handlung. Zu den Stücken, die den Naturraum zum Hauptschauplatz haben, gehört „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“. Der zentrale Konflikt des Stückes klingt bereits im Titel in der Gegenüberstellung von Stadt und Wald an. Schimmelpfennigs Theatertext liegt eine klassische Mangelsituation zugrunde, die in dem semantischen Gegensatz von Stadt und Wald, von Kultur und Natur begründet liegt. Der Ordnungswille des Menschen stößt auf die geheimnisvollen Kräfte der Natur - hier vertreten durch den Wald - die sich dem Willen des Menschen nicht beugen will. Die Überwindung dieser Mangelsituation stellt den Motor der Handlung dar. In Schimmelpfennigs Holzmärchen, in dem es um die Suche nach geeigneten Brettern für die Anfertigung eines Bühnenbodens geht, tritt der Wald als unberechenbare, unheimliche Macht auf. Immer wieder werden seine Größe 523 und Dichte 524 sowie die in ihm herrschende Dunkelheit 525 betont. Die Charakterisierung des Waldes als Raum der Gefahren und der Unwägbarkeiten vollzieht sich ausschließlich über die Figurenrede, in die Schimmelpfennig Motive aus Volksglauben und Märchen, allen voran „Hänsel und Gretel“ 526 , einwebt: KATHARINA […] Der Wald ist riesig und überall lauert Gefahr! 527 Mit diesen Worten warnt Katharina, die Tochter des Schreiners Wilhelm, der den Bühnenboden anfertigen soll, ihren Verlobten Hans davor, im Wald nach dem benötigten „einmalige[n] und absonderliche[n]“ 528 Holz zu suchen. An späterer Stelle erklärt sie, dass sie sich seit ihrer Geburt vor 522 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Tübingen 1806, S. 65. 523 ASW, S. 237-238, 264-265. 524 ASW, S. 234, 238, 246, 264-265, 266, 269. 525 ASW, S. 234, 238, 246, 251, 265. 526 Besonders deutlich werden die Anklänge an das Grimmsche Märchen in nachfolgendem Zitat, in dem der junge Hans versucht, seiner Verlobten Katharina die Angst vor dem Wald zu nehmen und beteuert: „Wer die Wege kennt, dem wird nichts zustoßen.“ (ASW, S. 238) Doch der Wald lehrt ihn eines Besseren: Hans und seine zukünftige Braut verirren sich, geraten auf eine verwunschene Lichtung und verwandeln sich in Bäume. 527 ASW, S. 237. 528 ASW, S. 234. <?page no="125"?> 125 dem Wald und seinem Dunkel fürchtet. 529 Besorgt erkundigt sie sich bei Hans, ob er den alten Volksglauben für wahr hält, der dem Wald unheimliche Mächte zuschreibt: KATHARINA Ist es wahr, Hans, daß, wer zu tief sich in den Wald hineinwagt, selbst zum Baum wird? 530 Hans versucht seine Verlobte zu beruhigen: Dem, der die Wege kenne, könne nichts passieren. 531 Seine beschwichtigenden Worte können Katharinas Furcht vor den dunklen Mächten des Waldes jedoch nur vorübergehend beseitigen: HANS Hab keine Angst, Liebste. KATHARINA Doch - 532 Immer wieder werden die unüberschaubare Größe und die Undurchdringlichkeit des Waldes betont. 533 Wie beängstigend die Grenzenlosigkeit des Waldes auf den Menschen wirken kann, verdeutlicht ein Zitat von Bachelard: Il n’est pas besoin d’être longtemps dans les bois pour connaître l’impression toujours un peu anxieuse qu’on «s’enfonce» dans un monde sans limite. 534 Angst einflößend und bedrohlich erscheint der Wald auch Ulrich, der vom Wege abgekommen ist und verzweifelt nach der Rettung versprechenden Busstation sucht: ULRICH Seit Stunden irre ich herum und finde nicht zum offenen Waldrand. 535 Von den Gefahren, die in der Tiefe des Waldes lauern, weiß er noch nichts, doch spürt er die Bedrohung: ULRICH Die ganze Nacht habe ich hier voller Angst verbracht. 536 Warnungen vor den dunklen Mächten des Waldes durchziehen den Text und lassen ihn wild und unberechenbar erscheinen. So rät etwa Holzfäller 529 ASW, S. 237. 530 ASW, S. 238. 531 Ebd. 532 ASW, S. 251. 533 ASW, S. 264: „ULRICH Hier hätten Wohnungen entstehen müssen […] statt dieses niemals endenden Forstes […] Nicht einmal das Geräusche einer Straße dringt zu mir durch dieses Dickicht.“ ASW, S. 265: „HANS Was denkst Du? Du kennst das Ausmaß dieses Waldes! “ 534 Bachelard 1957, S. 170. Dt. Übersetzung: „Man braucht nicht lange in den Wäldern gelebt zu haben, um den stets ein wenig angsterfüllten Eindruck zu kennen, dass man in eine Welt ohne Grenze »eintaucht«.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 188. 535 ASW, S. 265. 536 ASW, S. 266. <?page no="126"?> 126 Ernst, der mit dem Wald groß geworden ist und um seine Macht weiß, seinem Freund Wilhelm dringend davon ab, die dunklen Mächte des Waldes herauszufordern. Als „ein Teil von diesem Wald“ 537 sei man seinem Hass 538 und Zorn hilflos ausgeliefert. 539 Aus Angst vor der Rache des Waldes, seiner „furchtbaren Eifersucht […], die niemand, einmal erst entfacht, zu besänftigen vermag! “, 540 weigert er sich daher, im Wald nach dem Holz für die Bühne zu suchen: ERNST Wilhelm, weil ich die Kinder liebe so wie du, werde ich niemals durch meiner Hände Werk ihr junges Glück gefährden. Mach ihnen Kreisel, Schaukelpferde, ein Holzgewehr und Puppenstuben, das wird den Wald nicht sehr erzürnen, oder nur so leicht, daß er uns leben läßt. Dafür wird er es schneien lassen ab Oktober, und Regen fällt davor das ganze Jahr. 541 Der personifizierte Wald tritt hier nicht nur als schnell zürnender Machthaber über den Menschen auf, sondern auch als Herrscher über die Naturgewalten. Nach Meinung der Dorfbewohner ist er es, der über den Jahreszeitenwechsel verfügt und für die langen, strengen Winter verantwortlich ist. Jedoch findet nicht nur die abschreckende Seite des Waldes in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ Erwähnung, auch seine Pracht wird beschrieben. So präsentiert das folgende Zitat den Wald als stillen, friedlichen Ort, der zur Beobachtung von Tieren einlädt: HANS Es ist doch schön dieses Graugrün voller Tiere: Gestern erst sah ich, versteckt auf einem Ast einen grauen Marder und einen roten Fuchs, die nicht in Wut übereinander stürzten, sondern sich auf einer Lichtung grüßten wie alte Bekannte […] das war im Zwielicht, Nebel zog über die Eichen, und ein großer Vogel kreiste wie ein Ziffernblatt […] Es war wunderschön, ganz still, nur Wind strich durch die Blätter […] 542 Dass es sich bei Marder und Fuchs um die Geister Bruno und Ilse handelt, die sich nach langer Zeit wiedersehen, kann Hans nicht wissen. Für die Figuren des Stückes bleibt der Wald somit ein unergründliches Geheimnis, das sie mit Angst und Stolz 543 erfüllt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Schimmelpfennig den Naturraum Wald als zugleich bedrohliche und verführerische Macht präsen- 537 ASW, S. 234. 538 ASW, S. 233: „ERNST Dafür haßt dich der Wald mit seinen Bäumen.“ 539 ASW, S. 234-235. 540 ASW, S. 232. 541 ASW, S. 235. 542 ASW, S. 238. 543 ASW, S. 262: „ERNST Wenn sie erst unseren Wald kennengelernt hätte! Es hätte ihr gefallen, sicherlich.“ <?page no="127"?> 127 tiert, als Ort der Geheimnisse und der Verwünschungen, als alte Ordnung, die nicht hinterfragt werden darf. Schimmelpfennig greift damit die traditionelle Raumgliederung des Zaubermärchens auf, die Lotman wie folgt beschreibt: So gliedert sich z.B. der Raum des Zaubermärchens deutlich in „Haus“ und „Wald“. Die Grenze zwischen ihnen ist klar […] Nur im Wald können sich schreckliche und wunderbare Geschehnisse ereignen. 544 Während Bachelard in der oben zitierten Textstelle 545 auf die Unendlichkeit des Waldes und das Verschwimmen seiner Grenzen im Bewusstsein des Subjekts verweist, beschreibt Lotman den Wald in seiner strukturellen Beschaffenheit als klar umgrenzten Raum. Der Eindruck der Grenzenlosigkeit des Waldes entsteht in der Psyche des erlebenden Ich, wie das Beispiel der Figur Ulrich verdeutlicht: ULRICH In einer knappen Stunde sei ich an der Busstation, und immer geradeaus! Jetzt geht die Sonne auf, die Bäume werfen lange Schatten, und immer noch ist kein Saum des Grüns abzusehen! […] Hier hätten Wohnhäuser entstehen müssen […] statt dieses niemals endenden Forstes. 546 Die subjektive Wahrnehmung widerspricht der geographischen Beschaffenheit des Waldes, auf die sich Lotman in seinem Beispiel bezieht. Aus geographischer Sicht hat der Wald eine klare Grenze und steht als in sich geschlossener Raum dem ebenfalls geschlossenen Stadtraum gegenüber. Für André Pieyre de Mandiargues liegt gerade in diesem Gegensatz von Offen- und Geschlossenheit das Raumgeheimnis des Waldes begründet: Le caractère sylvestre [de la forêt] est d’être clos en même temps qu’ouvert de toutes parts. 547 Auch in „Hier und Jetzt“ hat Schimmelpfennig die Handlung des Stückes nach draußen verlegt: „Ein Sommerabend. Es ist schon spät und immer noch warm. Eine Hochzeitsfeier unter freiem Himmel nach Anbruch der Nacht.“ 548 , lautet die den Raum konstituierende erste Nebentextangabe, der sich jedoch nicht entnehmen lässt, ob die Feier im ländlichen oder städtischen Raum stattfindet. Da die Hochzeitsfeier nur den erzählerischen Rahmen für die Geschichte vom Zerfall der Ehe des Brautpaars Georg und Katja bildet, wird der Ort der Feier nicht weiter präzisiert. Es wird lediglich 544 Lotman 1986, S. 326. 545 Siehe S. 125 dieser Arbeit. 546 ASW, S. 264. 547 André Pieyre de Mandiargues: Le lis de mer, Paris 1956, S. 57. Dt. Übersetzung: „Die Eigenart [des Waldes] besteht darin, zu gleicher Zeit geschlossen und allseitig geöffnet zu sein.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 243, Anmerkung 4. 548 HUJ, Spalte 1, oben. <?page no="128"?> 128 eine im Freien aufgebaute, lange Tafel aus zusammengestellten Tischen erwähnt, die von Lampen und Scheinwerfern erhellt ist. Im Gegensatz zu der Reduzierung der Angaben zum Raum der Rahmenhandlung auf das Nötigste wird der Schauplatz des Geschehens der Binnenhandlung, bei dem es sich ebenfalls um einen Außenraum handelt, sehr detailliert beschrieben. Ein weiteres Mal bedient sich Schimmelpfennig der Figurenrede, um den Ort der Handlung vorzustellen. Gemeinsam entwerfen die geladenen Hochzeitsgäste das Bild einer idyllisch anmutenden natürlichen Sommerlandschaft. Jeder Gast erinnert sich an ein anderes Detail der Gegend, das er, die Schilderungen seines Vorredners ergänzend, in epischer Rede vorstellt. Es entsteht ein Konzert aus einander abwechselnden Solostimmen: LOTHAR immer noch stehend Früh am Morgen, draußen, vor der Stadt, die Sonne steht erst einen Fingerbreit über dem Horizont, ein wolkenloser Sommertag ist angebrochen. Er setzt sich wieder. Nach einem Moment steht Horst auf. HORST Vogelstimmen. Einzeln. Stille. Vogelstimmen. Er bleibt stehen, denkt nach, oder will vielleicht noch etwas sagen. ILSE Das Summen eines Insekts im Zickzackflug. Das Insekt ist eine Wespe. Eine Wespe, so früh am Morgen - Kurze Pause. Sie wundert sich. HORST nimmt den Faden wieder auf. HORST Etwas entfernt, ein Waldstück, davor ein Weizenfeld, und eine wilde Wiese. Kurze Pause. HORST setzt sich. […] Peter steht auf, etwas ungeschickt, etwas hastig. […] PETER Eine wilde Wiese: Schafgarbe und Mohn Klee und Kornblumen, Gräser, Halme, am Rande eines kleinen Sees etwas Schilf. Leichter Wind. Pause. Er setzt sich. <?page no="129"?> 129 […] Ilse steht auf. […] ILSE Ein Schmetterling. 549 Die liebliche, Frieden verheißende Landschaft lässt eine romantische Handlung erwarten. Doch Schimmelpfennig bricht mit den Erwartungen des Rezipienten. Der Raum besitzt keine sympathetische, sondern eine kontrastierende Funktion. Er fungiert als Kontrast zu dem psychischen und körperlichen Verfall des Hauptprotagonisten Georg. Die vorangestellte Schilderung der freundlichen Sommerlandschaft, die ein Gefühl von Harmonie und Geborgenheit vermittelt, verstärkt die Wirkung von Georgs Auftritt. Seine Verwahrlosung und sein Elend erscheinen vor dem Hintergrund der Naturidylle umso drastischer. Die Natur wird zum letzten Zufluchtsort des desillusionierten Menschen. 550 Doch offenbart sich die in den Beschreibungen der Gäste so lieblich wirkende Natur im weiteren Verlauf des Stückes als ebenso ungastlich und feindlich wie die städtische Welt, der Georg entflohen ist. So sind Georgs Lippen von der Sonne, die ursprünglich ein positives Symbol für Wärme und Leben darstellt, verbrannt und aufgesprungen. Auch Katja, die in ihrer Verzweiflung „Zuflucht auf der kargen Spitze eines Berges“ sucht, erlebt die Natur als hart und unerbittlich. Um nicht zu verhungern, fängt sie an, sich von Gras und Steinen zu ernähren. Die Natur verliert ihre kontrastierende Funktion und nähert sich in ihrem Stimmungswert den Befindlichkeiten der zwei Hauptprotagonisten an. Als positiver Ort der Erholung vom stressigen Stadtleben präsentiert sich der Naturraum in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“. 551 Ein Hügel, ein Fluss, ein Teich, ein Kanal, Felder, Schwäne und ein altes Gesindehaus 552 bestimmen das Lokalkolorit des Ortes, den Schimmelpfennig im Nebentext mit „Auf dem Land“ bezeichnet. Wie sich aus den Gesprächen der Figuren schließen lässt, handelt es sich um eine ländliche Gegend mit wenigen, fast unbewohnten Dörfern, die Ziel zahlreicher Sonntagsausflügler ist. 553 Wie auch in „Hier und Jetzt“ und „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ verleiht Schimmelpfennig der Natur ein doppeltes Gesicht. Zum einen präsentiert er sie als friedlichen Erholungsort von außergewöhnlicher Schönheit 554 . Zum andern offenbart er ihre zerstörerische Gewalt, die sich in Form von zu heißen 549 HUJ, Spalte 1, Mitte. 550 So auch in EA, wo Isabel, die ihren Hausschlüssel verloren hat, die Nacht in der Furche eines Feldes verbringt. EA, S. 162. 551 KA, S. 102. 552 KA, S. 103-104, 106, 108-109. 553 KA, S. 103, 128. 554 KA, S. 122: „DIE FRAU AUF DEM LAND Selten habe ich etwas von ähnlicher Schönheit erlebt.“ <?page no="130"?> 130 Sommern, zu strengen Wintern, Frühjahrsstürmen und Überschwemmungen zeigt und den Naturraum zu einem unheimlichen Ort werden lässt. 555 Obwohl der Naturraum in „Besuch bei dem Vater“ nur den äußeren Rahmen für die Handlung darstellt, die im Innern eines Landhauses spielt, ist er für die Gesamtaussage des Theatertextes doch von so entscheidender Bedeutung, dass er hier Beachtung finden muss. Indem Schimmelpfennig nicht nur den zum Schauplatz gewählten Innenraum konkretisiert, sondern auch die das Landhaus umgebene tief verschneite Winterlandschaft, bettet er die Handlung räumlich in ein natürliches Ganzes ein. Ziel der Konkretisierung des Außenraumes ist es, nach Meinung Hintzes, dem Innenraum einen „an der Wirklichkeit orientierten Ortswert“ zuzuweisen. 556 So motiviert der konkretisierte Außenraum nicht nur die Auftritte und Abgänge der Personen, 557 sondern verleiht dem Geschehen im Innenraum auch mehr Authentizität. Auf die sympathetische Funktion des Außen wird an dieser Stelle nicht eingegangen, da sie unter 2.4 bereits ausführlich erläutert wurde. 2.6. Fazit der räumlichen Strukturanalyse Wie die Analyse der Raumstrukturen erkennen lässt, besitzt der Raum in Schimmelpfennigs Stücken eine eindeutig determinierende Funktion und verkörpert damit laut Joachim Hintze: […] eine Macht, die einen entscheidenden Einfluß auf Verhaltensweisen und Gewohnheiten der dargestellten Personen ausübt, welcher bis zur Prägung des Charakters gehen kann. 558 Um einen solchen Einfluss ausüben zu können, bedarf es jedoch eines zugewiesenen semantischen Gehalts. Der Raum ist bei Schimmelpfennig folglich nicht unbeschriebener Signifikant, dessen Wirkung und Bedeutung sich erst in der Rezeption der Theateraufführung entwickeln, sondern besitzt eine vom Autor vorgegebene Signifikatstruktur. In Opposition zum realen Raum der Theateraufführung entwirft Schimmelpfennig einen fiktionalen Raum, der sich in seinem Verhältnis zu den Figuren und ihren Handlungen eindeutig als Determinationsprinzip ausweist. Er wird zum Träger der Handlung. Damit ist der fiktionale Raum in seinen Stücken, wie 555 KA, S. 104. 556 Vgl. Hintze 1969, S. 50. 557 Vgl. BV, S. 14: „Heinrich und Sonja, Ediths Nichte, toben zur Tür herein, Schnee weht von draußen herein, sie haben ein Jagdgewehr dabei und eine tote Ente.“ und S. 33: „Peter und Sonja kommen zurück, sie betreten das Haus. Viel Schnee kommt mit ihnen zur Tür rein.“ 558 Hintze 1969, S. 43. <?page no="131"?> 131 oben bereits angemerkt, 559 konkretes Zeichen einer zu repräsentierenden Wirklichkeit und kann folglich nicht als postdramatisch beschrieben werden. Denn die Idee des Theaters als Darstellung eines fiktiven Kosmos wird bei Schimmelpfennig trotz dekonstruktivistischer Tendenzen im Raumentwurf nicht aufgegeben. 560 Seine Stücke wahren die Grenze zwischen realem und fiktivem Erlebnis und streben im Unterschied zum postdramatischen Theater nicht ihre Auflösung an. Im Zentrum von Schimmelpfennigs Theater steht die Inszenierung einer fiktiven dramatischen Welt. 561 So bleibt auch der Raum in Schimmelpfennigs Theatertexten seiner dramatischen Tradition treu und ist „separiertes Symbol einer Welt als Totalität, sei diese auch noch so bruchstückhaft“. 562 Die Bedeutung des Raumes zeigt sich schon in der Vielzahl an räumlichen Angaben, die in die Haupt- und Nebentexte der Stücke eingearbeitet sind und den jeweiligen Schauplatz konkretisieren. In den seltensten Fällen überlässt Schimmelpfennig den Raumentwurf der alleinigen Phantasie des Zuschauers, denn die gewählten Schauplätze sind von thematischer Relevanz und steuern den Gang der Handlung. Ein Stück wie „Die arabische Nacht“ führt die handlungsmotivierende Funktion des Raumes deutlich vor Augen. Nicht nur die Wahl des zehnstöckigen Hochhauses zum Schauplatz, mit dem, wie Schimmelpfennig selbst sagt, ein bestimmter sozialer Kontext vorgegeben wird, 563 ist von zentraler Bedeutung für den Gang der Handlung; auch die Gliederung des fiktiven Raumes in ein positiv konnotiertes Oben und ein negativ konnotiertes Unten hat Einfluss auf den Handlungsverlauf. Ohne die vertikale Gliederung des Raumes in zehn Stockwerke verlöre das Stück nicht nur an Dynamik, auch der in ihm thematisierte Grundkonflikt käme zum Erliegen. 564 Denn wie in zahlreichen anderen Stücken des Autors erwächst der Konflikt aus einer klaren Gliederung des Raumes in ein Oben und Unten, ein Innen und Außen, ein Nah und ein Fern, die auch auf inhaltlicher Ebene ein Oppositionspaar bilden und mit oppositären semantischen Inhalten versehen sind. Damit bestätigt sich Jurij Lotmans Theorie des künstlerischen Raumes: Schimmelpfennig rekurriert mit seinen dramatischen 559 Siehe S. 69 dieser Arbeit. 560 Vgl. Lehmann 1999, S. 44. 561 Gerade hierin unterscheidet sich Schimmelpfennigs Dramatik von einem postdramatischen Theater, das, wie Lehmann schreibt: „[…] sein Zentrum längst anderswo als in der Inszenierung einer fiktiven dramatischen Welt hat“. In: Lehmann 1999, S. 308. 562 Ebd., S. 288. 563 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. 564 Ebd.: „SCHIMMELPFENNIG Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Höhe, die Schichtung. Die Verknüpfung in der Vertikalen […]. Insofern erhöht die Anordnung Hochhaus den dramatischen Druck.“ <?page no="132"?> 132 Raumentwürfen auf die Wirklichkeit. Die räumliche Struktur der Welt findet sich in seinen Stücken gespiegelt, wenn auch in subjektivierter Form, da Schimmelpfennigs persönliche Sicht auf die räumliche Struktur der Welt unweigerlich in seine Theatertexte einfließt. So wird der Raum in Schimmelpfennigs Stücken zum Träger eines Weltbildes, in dem die Bereiche für Gut und Böse, für Leben und Tod klar definiert sind. 565 Schimmelpfennig selbst erklärt das Aufgreifen und Einflechten von Weltbildern in seine Texte wie folgt: SCHIMMELPFENNIG Was ich eingeflochten habe, sind bestimmte ästhetische und kulturelle Rückbezüge. Bilder oder Wertesysteme, auf die man sich in unserem Kulturkreis immer wieder bezieht. Prägungen, wie könnte es anders sein. 566 Auf der strukturellen Ebene fungiert der Raum als Organisationszentrum des Textes. 567 Als Beispiel zur Veranschaulichung dieser These diene noch einmal „Die arabische Nacht“: Indem die den Text tragenden Isotopien Leben und Tod auf der Achse der Raumelemente in Form der Opposition oben und unten unmittelbar manifest werden, kommt es zur Entstehung der den Text bestimmenden semantischen Achse. 568 Mit Blick auf die Gesamtheit der ausgewählten Stücke lässt sich Folgendes festhalten: Im Zentrum aller Texte steht der Kampf der Figuren um die Eroberung oder Behauptung eines Platzes im positiv konnotierten Raum, sei es nun das räumliche Oben des Hochhauses (AN, PU), die Reichtum und Glück versprechende Ferne (VN, PU) oder der Sicherheit bietende Innenraum (RT). Die Suche nach einem Platz im Raum, allgemeiner gesprochen einem Platz im Leben, bestimmt das Handeln der Figuren, wie ein Zitat des Autors verdeutlicht: SCHIMMELPFENNIG Jede der Figuren versucht für sich zu klären, wo sie gerade steht. Und das gelingt den meisten nicht. 569 Dem Raum kommt somit eine identifikatorische Rolle zu, er ermöglicht den Figuren den Aufbau einer eigenen Identität oder aber die Rekonstruktion einer vergessenen Identität. In „Die arabische Nacht“ ist es der Übertritt in den imaginären Raum der Wüste, dem Franziska und Lomeier die Rekonstruktion ihrer eigenen Biographie verdanken. Abschließend gilt es, die Ergebnisse der Schauplatzanalyse zusammenzustellen: Wie die Beschreibung der Handlungsschauplätze gezeigt hat, besitzen die von Schimmelpfennig gewählten Innen- und Außenräume 565 Lotman 1986, S. 312. 566 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 233. 567 Lotman 1986, S. 316. Vgl. Bachtin 2008, S. 187. 568 Vgl. Andreotti 1996, S. 160. 569 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 233. <?page no="133"?> 133 klar definierte Sinnfunktionen. Der Raum in Schimmelpfennigs Theatertexten ist ein metaphorisch-symbolischer. So lassen sich anhand der Innenraumgestaltung in „Ende und Anfang“ und „Die arabische Nacht“ Rückschlüsse auf die soziale Situation und die Befindlichkeit der Figuren ziehen. In beiden Stücken ist ein Auflehnen der Figuren gegen die durch den Raum verkörperte Determination zu beobachten. 570 Darüber hinaus wurde aufgezeigt, wie die räumliche Gliederung in „Die arabische Nacht“ und „Push Up 1-3“ den Verlauf der dramatischen Handlung bedingt. Die Wahl des Schauplatzes ist somit keineswegs willkürlich. Während die Gestaltung der privaten Wohnräume also Aufschluss über den sozialen Hintergrund, die Interessen und die Gemütsverfassung ihrer Bewohner gibt, lassen das Hotel, als eine Mischform aus öffentlichem und privatem Raum, und die Straße, als Ort größtmöglicher Öffentlichkeit, allgemeine Rückschlüsse auf gesellschaftliche Gewohnheiten zu, da Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten hier auftreten. Oftmals verleiht die räumliche Struktur den Stücken eine sozialkritische Färbung. 571 Aufgrund der strengen Nüchternheit, mit der Schimmelpfennig räumliche Welten entwirft und beschreibt, erscheint es jedoch angemessener, bei seinen Raumentwürfen von Bestandsaufnahmen zu sprechen, denn er fügt ihnen weder Anklage noch Wertung bei. Es ist der Blick fürs Detail, mit dem Schimmelpfennig seinen Raumentwürfen ein Höchstmaß an Schärfe und Dichte verleiht. Mit der Situierung der fiktiven Handlung an Zwischenorten reflektiert er die gegenwärtige Expansion von uneigentlichen Orten, die ein Gefühl von Heimatlosigkeit hervorrufen. Es stellt sich die Frage, ob es einen Heimatbegriff in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch geben kann, wenn an die Stelle geschützter heimatlicher Welten unpersönliche Räume wie Flure, Treppenhäuser und Hotels treten. Ein Gefühl von Anonymität und sozialer Kälte vermitteln auch die von Schimmelpfennig entworfenen Arbeitswelten. Der Arbeitsplatz stellt in seinen Stücken durchweg einen negativ konnotierten Schauplatz dar. So spiegelt die Präsentation des Raumes in „Push Up 1-3“, „Ende und Anfang“, „Das Reich der Tiere“ und „Der goldene Drache“ die in der heutigen Berufswelt herrschenden sozialen Missstände. Der Mensch wird hier zu einer Funktion des Raumes, er ist nicht länger frei in seinen Entscheidungen, sondern wird durch den Raum determiniert, ist folglich Produkt seiner Umwelt. 572 Die Gestaltung des Raumes lässt somit auch Rückschlüsse auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Autors zu. Indem Schimmelpfennig ungastliche Kollektivräume, die die Vermassung des Individuums 570 Vgl. Hintze 1969, S. 44-45. 571 Vgl. Kapitel 2.5.1, S. 105-112 und Kapitel 2.5.3, S. 115-120. 572 Vgl. Hintze, S. 43. <?page no="134"?> 134 vorantreiben, zum Schauplatz der Handlung wählt und somit zu Repräsentationsräumen der heutigen Arbeitswelt macht, führt er zeitgenössische Entindividualisierungstendenzen vor Augen, die bei vielen seiner Figuren einen Persönlichkeitsverlust herbeiführen. Mit der Gestaltung des Arbeitsraumes, seiner Negativkonnotation, liefert Schimmelpfennig somit die Ursachen für die Entwurzelung und Orientierungslosigkeit seiner Figuren. Der räumlichen Präsentation des Arbeitsplatzes kommt in Hinblick auf die Figurencharakterisierung eine sympathetische Funktion zu. Im Gegensatz zur einheitlich negativen Präsentation des Arbeitsplatzes besitzt der Naturraum in Schimmelpfennigs Stücken unterschiedliche Bedeutungen. Mal ist er letzter Bezugspunkt für die Figuren und fungiert als Raum der Geborgenheit, der Hoffnung und der Freiheit, mal ist er Schauplatz des Bösen, Unheimlichen und Zerstörerischen. Schimmelpfennig setzt den Naturraum als Nebenschauplatz also sowohl in sympathetischer als auch in kontrastierender Funktion ein. <?page no="135"?> 135 3. Struktur und Präsentation der Zeit 3.1. Zeitkonzeption Nachdem im vorhergehenden Kapitel auf die räumliche Konzeption der ausgewählten Theatertexte eingegangen wurde, befasst sich das nun folgende mit der ihnen zugrunde liegenden Zeitkonzeption. Die Strukturanalyse orientiert sich an den von Peter Pütz in seiner wissenschaftlichen Studie zur Bedeutung und Funktion der Zeit im Drama aufgestellten Kategorien. 573 Da die Zeit sich, wie Pütz herausstellt, nur dann wahrnehmen lässt, wenn sie auf ein anderes Medium übertragen wird, so müssen auch der Raum und seine durch die Zeit bedingte Veränderung bei der Untersuchung der zeitlichen Struktur eines Dramentextes Beachtung finden: Der zeitlichen Veränderung fehlt es im Unterschied zur räumlichen der Anschaubarkeit. Die Zeit lässt sich nur wahrnehmen, wenn sie auf ein anderes Medium übertragen und an ihm gemessen wird: Wir blicken auf die Uhr und erkennen am Weiterrücken des Uhrzeigers, d.h. an der Veränderung im Raum, den gleichförmig verlaufenden Fortgang der Zeit. Ebenso kann im Drama die zeitliche Veränderung am Wechsel des Schauplatzes gezeigt werden. 574 Auf die Notwendigkeit einer Konkretisierung der Zeit im Raum verweist neben Pütz auch Elisabeth Bronfen. In ihrer raumtheoretischen Untersuchung des Romanzyklus „Pilgrimage“ von Dorothy M. Richardson hält sie fest: Wie „Sein“ als eigentliche Essenz von Wirklichkeit in der Sprache nur als Abwesenheit gegenwärtig ist, ist die zeitliche Gegenwart (eigentlich auch eine Form von „Sein“) sprachlich direkt nicht benennbar, konkretisiert sich aber durch die Andeutung in der räumlichen Metapher und kommt somit unausgesprochen zum Ausdruck. 575 Aus der Abhängigkeit der Zeit vom Raum folgert Bronfen den Vorrang des Raumes. Zeit werde letztlich immer zu Raum. 576 Obwohl sie ihre Erkenntnisse über die literarische Funktionalisierung von Raum und Zeit mittels einer Romananalyse gewinnt, lassen sich die Ergebnisse ihrer Studie auch auf Theatertexte übertragen, denn Bronfens erklärtes Ziel ist es, nicht romanspezifische, sondern allgemeine Eigenschaften des literarischen Rau- 573 Pütz 1970. 574 Ebd., S. 23. 575 Bronfen 1986, S. 309. 576 Ebd., S. 25, 309. <?page no="136"?> 136 mes zu erörtern. 577 Auf das Verwobensein von Zeit und Raum kommt auch Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ zu sprechen: Dans ses mille alvéoles, l’espace tient du temps comprimé. L’espace sert à ça. 578 Eine Untersuchung der Zeit impliziert somit immer die Kategorie des Raumes. Denn Zeit und Raum bilden eine untrennbare Einheit, die Bachtin, wie in den methodischen Vorüberlegungen zu dieser Arbeit bereits ausgeführt wurde, den Chronotopos nennt. Bevor das Zusammenspiel von Zeit und Raum im Chronotopos unter Gliederungspunkt 4 in den Blick genommen wird, soll nun jedoch die formalanalytische Beschreibung der von Schimmelpfennig genutzten zeitlichen Verfahren im Vordergrund stehen. Da der Theatertext im Unterschied zum Roman eine plurimediale Darstellungsform ist, die sich „nicht nur sprachlicher, sondern auch außersprachlich-akkustischer und optischer Codes“ 579 bedient und folglich für die Aufführung geschrieben ist, gilt es, neben der Ebene des Textes, immer auch die Ebene der Aufführung zu berücksichtigen. 580 Der Ebene der fiktiven literarischen Zeit steht die Ebene der realen Zeit, der Aufführungsdauer, gegenüber. Somit erfordert auch die Analyse der Zeitstruktur, ebenso wie die vorangegangene Analyse der Raumstruktur, ein Vorgehen auf zwei Ebenen: Die Überlagerung eines inneren durch ein äußeres Kommunikationssystem gilt auch auf der Ebene der […] Zeitstruktur. […] der realen zeitlichen Deixis der aufführenden Schauspieler und der rezipierenden Zuschauer entspricht die fiktive zeitliche Deixis der dargestellten Geschichte. 581 Die einander überlappenden Ebenen des inneren und des äußeren Kommunikationssystems sollen wiederum getrennt voneinander betrachtet werden. So widmen sich die folgenden Ausführungen ausschließlich der Untersuchung der im Dramentext fixierten fiktiven zeitlichen Struktur. Auf die reale zeitliche Deixis von Akteuren und Rezipienten und auf das Verhältnis der fiktiv gespielten Zeit zur realen Spielzeit, verstanden als die reale Dauer der Aufführung, wird hier hingegen nicht eingegangen, da sich das abschließende fünfte Kapitel dieser Arbeit ausführlich mit der Ebene der Aufführung befasst. 577 Ebd., S. 8. 578 Bachelard 1957, S. 27. Dt. Übersetzung: „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 35. 579 Pfister 2001, S. 24-25. 580 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Vom Theater als Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte. In: Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte, Stephan Grätzel (Hgg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen, Basel 2003, S. 15-32. Vgl. Poschmann 1997, S. 16-19. 581 Pfister 2001, S. 327. <?page no="137"?> 137 Während die reale Spielzeit erst im inszenierten Text festgelegt wird und somit je nach Inszenierungsstil und -tempo variiert, ist die fiktive gespielte Zeit im Dramentext mehr oder weniger genau fixiert. 582 Welch hohe Bedeutung dem Thema Zeit in Schimmelpfennigs Stücken zukommt, verdeutlichen die vom Autor gewählten Stücktitel, in denen Zeitadverbien oder Zeitabläufe anzeigende Formulierungen vermehrt auftauchen, so z.B. in: „Die ewige Maria“, „Vor langer Zeit im Mai“, „MEZ“, „Die Frau von früher“, „Vorher/ Nachher“, „Ende und Anfang“, „Hier und Jetzt“. Zeit ist für Schimmelpfennig eines der zentralen Themen des Theaters, mit dem sich folglich nicht nur der Dramatiker, sondern auch Schauspieler und Regisseur auseinandersetzen müssen. Zum Umgang mit der Zeit im Theater und zu ihrer Bedeutung für das Theater äußert er sich wie folgt: SCHIMMELPFENNIG Zeit, oder auch die Umkehrung von Zeit, ist mit Sicherheit der große Zauber von Theater überhaupt. Nicht nur für den Dramatiker, auch für den Schauspieler, auch im privilegiertesten Sinne für den Regisseur, der die Zeit wiederholen kann, wann immer er möchte in der Probe. Hier trotzt man ja der Zeit wirklich etwas ab, die Wiederholbarkeit des Moments scheitert natürlich trotzdem an der Nichtwiederholbarkeit des Moments - bis hin zur allabendlichen Wiederauferstehung des gestorbenen Schauspielers. Ein Sieg über die Zeit. 583 Das Zitat erklärt Schimmelpfennigs Vorliebe für Wiederholungsfiguren. Sie stellen den Versuch dar, die Zeit anzuhalten, ihr ein Stück Ewigkeit abzutrotzen und damit über die Vergänglichkeit zu siegen. Mittels des Einsatzes von Repetitionen gelingt es dem Autor, die Handlung der Zeit zu entheben und sie in eine Art ewigen Kreislauf einzubetten 584 - ein Verfahren, das an die durative Ästhetik des postdramatischen Theaters erinnert. Lehmann sieht in der Zeitdehnung einen „hervorstechende[n] Zug des postdramatischen Theaters“, mit dem es der „Fragmentierung der Erfahrungs-Zeit durch Alltag, Medien, Lebensorganisation“ entgegentrete. 585 Auch der vermehrte Einsatz epischer Erzählmittel, denen in Schimmelpfennigs Theatertexten eine zentrale Bedeutung zukommt, 586 führt zu einer Entschleunigung der Zeit. Schimmelpfennig blendet die Zersplitterung der Zeit, die unseren modernen Alltag charakterisiert, in seinen Stücken jedoch keineswegs aus. Vielmehr kombiniert er langsame und schnelle zeitliche Rhythmen und sucht auf diese Weise, die verschiedenen Qualitäten von Zeit erfahrbar zu machen. Den Wiederholungsfiguren stehen zahlreiche 582 Ebd., S. 369. 583 „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. 584 Zu finden in: KA, VLZM, HUJ. Auf den semantischen Gehalt solcher zyklischen Zeitstrukturen wird unter 3.4.1, S. 182-187, detailliert eingegangen. 585 Lehmann 1999, S. 331. 586 Siehe Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit, S. 162-181. <?page no="138"?> 138 schnelle Szenenwechsel (VLZM, VN, GS, EA) und damit einhergehende Tempovariationen gegenüber. Zur stärkeren Komprimierung der Zeit greift Schimmelpfennig in Stücken wie „Die ewige Maria“ und „Die Frau von früher“ zum traditionellen, dramatischen Mittel des Zeitsprungs. Auch Vorausdeutungen und Rückblenden, Drohungen, Schwüre und Verwünschungen, die dem werkimmanenten Spannungsaufbau dienen und die Handlung vorantreiben, 587 kommen in seinen Theatertexten zum Einsatz. 588 Schimmelpfennigs Theater ist somit kein „Theater der Langsamkeit“, wie das eines Robert Wilson. 589 Vielmehr variiert der Autor im Umgang mit der Zeit; er spielt mit den Extremen der völligen Aufhebung der Zeit und ihrer stark forcierten Bewusstmachung. 590 Dramatische und postdramatische Zeitstrukturen werden ineinander verwoben. Oftmals wird das traditionelle Zeit- Kontinuum durch Brüche und Diskontinuitäten vorübergehend aufgehoben. 591 Um die lineare zeitliche Progression aufzuhalten, greift Schimmelpfennig zu eingeschobenen Monologen, epischen Kommentaren (AN, BV, EA, FF, RT, VN), märchenhaften Elementen 592 und Traumsequenzen, in denen sowohl die zeitlichen als auch die räumlichen Grenzen außer Kraftgesetzt werden (AN). 593 In postdramatischer Manier löst er die Homogeni- 587 Pütz 1970, S. 14-17. 588 Die folgenden Angaben erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es handelt sich lediglich um eine Auswahl an Textstellen. Beispiele für Vorausdeutungen: AN, S. 307, 315, 339; BV, S. 48, 53, 62; EM, S. 59; FF, S. 676-677; GS, Szene 1.2, S. 417, Szene 1.4, S. 419; PU, S. 366; GD, Szene 13, 38, 42. Beispiele für Rückblenden: AN, S. 321-324, 334-335; BV, S. 17, 24, 42, 45, 54; EA, S. 190, 196, 197; FF, S. 677-681; GD, Szene 21, 46; GS, Szene 3.2, S. 447, Szene 3.8, S. 453; VN, S. 410, 415, 432, 443, 452, 460. Beispiele für Drohungen, Schwüre und Verwünschungen: AN, S. 313, 326; ASW, S. 241-242; BV, S. 81-84, FF, S. 644, 665. 589 Vgl. Lehmann 1999, S. 331. 590 In den postdramatisch anmutenden Stücken VLZM und KA sowie in EA verzichtet Schimmelpfennig auf eine eindeutige Chronologie der Ereignisse. Zeitliche Konkretisierungen werden auf ein Minimum reduziert. Die Zeit erscheint wie aufgehoben und außer Kraft gesetzt. Sie kreist, anstatt voranzuschreiten. Ein Übermaß an zeitlicher Konkretisierung findet sich hingegen in FF. Eine überaus klare zeitliche Struktur weisen auch EM und BV auf. In BV wird die Zeit so sehr komprimiert, dass die aristotelische Einheit der Zeit gewahrt bleibt. Das Dramengeschehen spielt sich in einem Zeitraum von weniger als vierundzwanzig Stunden ab. 591 Eine solche Zerlegung der Zeit in bruchstückhafte Einzelsequenzen findet sich in: EA, GS, KA, PU, VLZM, VN. 592 Oftmals hält das Irrationale Einzug in Schimmelpfennigs Dramen, wie etwa in Szene 32 in GD, wo der nach Europa ausgewanderte kleine Chinese durch eine Zahnlücke mit seinen in China zurück gebliebenen Eltern kommuniziert. Der Einbruch des Irrationalen setzt die räumliche und zeitliche Ordnung außer Kraft. Siehe auch AN, S. 324ff. (Karpatis Verwandlung) und VN, Szene 22, S. 424 (der Mann im Bild). 593 Zur zeitlichen Funktion von Traumsequenzen und Monologen vgl. Pfister 2001, S. 373: „Da diese innerpsychischen Vorgänge chronometrisch überhaupt nicht mehr <?page no="139"?> 139 tät der Zeit in Bruchstücke auf. 594 Entscheidend ist dabei jedoch die zeitliche Geschlossenheit jedes einzelnen Bruchstücks, durch die der Signifikatcharakter der Zeit aufrechterhalten wird. So besitzen Stücke wie beispielsweise „Auf der Greifswalder Straße“ oder „Vorher/ Nachher“ nicht etwa eine einzelne übergeordnete Chronologie, sondern verfügen über viele verschiedene chronologische Ereignisketten, die simultan ablaufen. Die Zeit wechselt aber auch hier nicht auf die Ebene des reinen Signifikanten, sondern besitzt im Unterschied zur Zeitkonzeption im postdramatischen Theater 595 eine eindeutige Denotierung, wie das Ultimatum verdeutlicht, dem Rudolf in „Auf der Greifswalder Straße“ 596 ausgeliefert ist. Trotz ihres oftmals spielerischen Umgangs mit der Zeit zeugen Schimmelpfennigs Theaterstücke überwiegend von einer Präferenz für klare, objektiv nachvollziehbare Zeitstrukturen. Denn im Unterschied zur Zeitkonzeption im postdramatischen Theater, das sich ganz der subjektiven Chronometrie verschreibt, zeitliche Konkretisierungen vermeidet und eine Verwirrung des Zeitgefühls 597 in Form „eine[r] schwebende[n] Temporalität“ 598 anstrebt, ist der Zeitpunkt der Handlung in Schimmelpfennigs Stücken durch konkretisierende Zeitangaben im Haupt- und Nebentext genau festgelegt. Ausnahmen bilden lediglich die bereits mehrfach genannten postdramatisch anmutenden Stücke „Vor langer Zeit im Mai“, „MEZ“ und „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“. Die Mehrzahl von Schimmelpfennigs Stücken besitzt jedoch eine klare Chronologie: Durch die Angabe von Kalender- und Tageszeiten im Haupt- und oder Nebentext wird dem Rezipienten die Chronologie der Ereignisse bewusst gemacht. Die Zeit der fiktiven Handlung, die ästhetisch geformte Zeit, ist bei Schimmelpfennig unabhängig zu denken von der real erlebten Zeit der Aufführung. Im Unterschied zur postdramatischen Zeitästhetik wahren Schimmelpfennigs Theatertexte den schließenden Rahmen der Theaterfiktion und geben die Einheit der Zeit mit Anfang und Ende nicht zugunsten einer offenen Prozessualität auf. 599 Zwar besitzen nicht alle Stücke einen zu erfassen sind, muß hier wohl eher von einer Aufhebung der Zeit als von einer Zeitdehnung gesprochen werden.“ 594 Vgl. Lehmann 1999, S. 344. Lehmann spricht von winzigen, oft heterogenen Splittern, in die das postdramatische Theater die Zeit zerlegt und erhebt daraus folgernd die Simultaneität, die für ihn ein Mittel zur Produktion von Geschwindigkeit darstellt, zu einem der wesentlichen Merkmale postdramatischer Zeitgestaltung. 595 Vgl. ebd., S. 318. 596 GS, Szene 1.4, S. 419. 597 Lehmann 1999, S. 317-318, 327. 598 Ebd., S. 318. 599 Dies verdeutlicht schon allein die Tatsache, dass ein Großteil seiner Dramen mit der Nebentextanweisung „Ende“ schließt. So z.B.: AN, AW, BV, F, FF, GD, GS, HUJ, IDO, RT, VLZM, VN, Z. Es gilt zu betonen, dass es sich bei dieser Auswahl nicht nur um traditionell gebaute Dramen handelt. Auch Dramen wie VLZM, die in ihrer offenen <?page no="140"?> 140 klaren Anfang oder ein eindeutiges Ende, sondern weisen mitunter zyklische Strukturen auf - wie z.B. „MEZ“ oder „Push Up 1-3“-, aber dennoch lassen sich fiktive Zeit und Realzeit eindeutig voneinander trennen und verschmelzen nicht zur „geteilten Zeit“ einer postdramatischen Theatererfahrung. 600 Die Zeitlinie der Handlung wird somit nicht, wie im postdramatischen Theater üblich, zugunsten einer sich über den Rhythmus einstellenden globalen Theaterzeit aufgegeben. 601 Eindeutig ist auch der zeitliche Bezug auf die außertheatrale Wirklichkeit: Schimmelpfennig situiert die Handlung seiner Theaterstücke in die Jetztzeit des Rezipienten und verleiht ihnen damit ein hohes Maß an Aktualität. 602 Obwohl Schimmelpfennig verstärkt zu Verfahren der zeitlichen Konkretisierung greift, verläuft die zeitliche Progression in seinen Stücken aber selten linear. Denn oftmals werden Szenen parallel geschaltet oder aber die zeitlichen Gesetze der Wirklichkeit werden, wie oben dargelegt, durch zyklische Abläufe und irrationale Sequenzen außer Kraft gesetzt. Die für das klassische Drama typische Ausrichtung der Handlung auf den Schluss geht durch die beschriebenen Mittel der zeitweiligen Zeitauflösung und der -dehnung verloren, nicht aber die zeitliche Einbettung der Handlung an sich. Selbst in Stücken wie „Ende und Anfang“, die einer eindeutigen zeitlichen Chronologie entbehren, finden sich in den einzelnen Szenen Hinweise auf den genauen Zeitpunkt der jeweiligen Handlung oder aber vergangener Handlungen: Auf die Frage „Wann haben Sie zuletzt Ihren Beruf ausgeübt? “ antwortet Peter: „Am 23.5. vorvergangenen Jahres.“ 603 Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Auch in den eher postdramatischen Stücken des Autors finden sich zeitliche Konkretisierungen in den Einzelszenen, jedoch ohne dass sich die Szenen in eine übergreifende, alle Szenen umfassende lineare Zeitstruktur einordnen lassen. Es sind schlichtweg alle Facetten der Zeit, nicht nur ihr lineares Vorwärtsschreiten, die Schimmelpfennig interessieren und die er zum Thema seiner Stücke macht. Motive, die ein Nachdenken über Zeit implizieren, durchziehen seine Texte. Auf Formen der Semantisierung von Zeit wird unter Gliederungspunkt 3.4 näher eingegangen. Die nun folgenden Kapitel 3.2 und 3.3 rücken hingegen den strukturellen Umgang mit Zeit in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Struktur eher postdramatisch anmuten, versieht der Autor mit einem geschlossenen Ende. Auch in „Ambrosia“ ist das Ende des Dramas durch die Nebentextangabe „Dunkel“ klar definiert. 600 Lehmann 1999, S. 327. 601 Ebd., S. 341. 602 Manfred Pfister warnt zu Recht davor, die Deckung der Zeitstufen immer als Indiz für einen verstärkten Realitätsbezug zu deuten. In Schimmelpfennigs Dramen lässt sich ein solcher jedoch nicht leugnen. Vgl. Pfister 2001, S. 360. 603 EA, S. 177. <?page no="141"?> 141 3.2. Zeitliche Sukzession Die Bedeutung der Sukzession im Drama erklärt Peter Pütz in seiner Analyse der Techniken dramatischer Spannung wie folgt: Es ist in jedem Augenblick des Dramas schon etwas geschehen, und es steht noch etwas aus, das aus dem Vorhergehenden gefolgert und vorbereitet wird. Jeder Moment greift Vergangenes auf und nimmt Zukünftiges vorweg. Die dramatische Handlung besteht in der sukzessiven Vergegenwärtigung von vorweggenommener Zukunft und nachgeholter Vergangenheit. 604 Sukzession im Drama kann durch verschiedene Mittel erzeugt werden. Dazu gehören räumliche Veränderungen und Tempowechsel (Zeitdehnung und -raffung) ebenso wie das Auf- und Abtreten der Figuren. Als eine dem Erzählen verwandte Technik der zeitlichen Konkretisierung bewirkt die Sukzession ein Vorwärtsdrängen der Handlung. Im Rekurs auf Schiller und Goethe erklärt Peter Pütz die Bedeutung einer solchen Funktionalisierung der Zeit wie folgt: Indem aus dem Früheren das Kommende Schritt für Schritt entwickelt wird, entsteht eine „vorwärtstreibende Kraft“, eine „gewaltige Präzipitation und Neigung“, die sich auch dem Zuschauer mitteilt und ihn fortreißt. 605 Obwohl Vorgriffe und Rückblicke eine vorübergehende Aufhebung der zeitlichen Sukzession bedeuten, markieren auch sie die zeitliche Folge der Ereignisse im Drama, denn durch ihren Einsatz wird Vergangenheit nachgeholt und Zukünftiges vorbereitet. 606 Darüber hinaus bewirken sie eine Komprimierung der Zeit und dienen dem Aufbau von Spannung 607 , die für Emil Staiger das Wesen des dramatischen Stils ausmacht. 608 Bei Schimmelpfennig dominiert die horizontale Achse des sukzessiven Nacheinander in den Theatertexten „Die ewige Maria“, „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ und „Besuch bei dem Vater“, die traditionell gebaut sind und eine klare Gliederung in Szenen aufweisen, was die beiden zuletzt genannten betrifft, auch in Akte. In allen 604 Pütz 1970, S. 11. Vgl. Pfister 2001, S. 361-362: „Sukzession im Drama ist auf zwei Ebenen gegeben: auf der Ebene der Geschichte, die dem Text zugrunde liegt, und auf der Ebene des Textablaufs. Diese beiden Sukzessionsreihen des Dargestellten und der Darstellung brauchen sich nicht zu decken und tun das auch meist nicht, denn jede rückgreifende Informationsvergabe bedeutet bereits eine Verschiebung dieser Reihen gegeneinander. Dennoch schreitet auch bei einem solchen Bericht von Vergangenem im Berichten selbst als szenisch präsentiertem Vorgang die Sukzession auf der Ebene der Darstellung und des Dargestellten auf die Zukunft zu.“ 605 Pütz 1970, S. 14. 606 Ebd., S. 62-63, 155-156. 607 Lehmann 1999, S. 311. 608 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 3. Aufl. München 1975, S. 102-143. <?page no="142"?> 142 drei Stücken bestimmt das Prinzip der linearen Progression den Gang der Handlung. Das Vorwärtsdrängen der Handlung wird durch Ankündigungen 609 und Vorausdeutungen 610 verstärkt. Darüber hinaus betten Zeitangaben im Haupt- und Nebentext die Handlungsabläufe in eine feste Chronologie ein. Die Dauer der fiktiven Handlung ist somit in allen drei Stücken genau festgelegt. Indem es die aristotelische Einheit der Zeit wahrt, besitzt „Besuch bei dem Vater“, das jüngste der drei Stücke, eine geradezu klassisch anmutende Zeitstruktur: Die Handlung spielt sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden ab. Sie beginnt mit der überraschenden Heimkehr des Sohnes Peter und endet mit seiner Flucht am Morgen des darauf folgenden Tages. Mit der Heimkehr des Sohnes greift Schimmelpfennig nicht nur das Bibelmotiv des verlorenen Sohnes auf, er bedient sich damit auch eines traditionellen Dramenbausteins. Die Funktionalisierung des Heimkehr-Motivs zur Nachholung der Vorgeschichte und zum Vorantreiben der Dramenhandlung lässt sich bis zu Aischylos Orestie zurückverfolgen. Indem Schimmelpfennig die Heimkehr, die Pütz als zurückgreifendes Vorkommnis beschreibt, 611 an den Anfang des Stückes stellt, holt er somit nicht nur die Vorgeschichte nach, sondern motiviert gleichzeitig auch das zukünftige Geschehen. Die Heimkehr bildet den Auftakt zu einer neuen „Handlungsstrecke“ 612 . Sie stellt den Grundkonflikt vor und fungiert damit als Katalysator der Handlung. Indem sie Rückwendungen und Vorausdeutungen miteinander verknüpft, sorgt sie für den Aufbau einer finalen Spannungs- 609 Beispiele für Ankündigungen, die zeitliche Sukzession suggerieren: BV, S. 77: „SONJA Ich bringe Isabel zum Bahnhof und dann fahre ich gleich weiter.“ EM, S. 62: „MARIA Morgen haben wir Hochzeit! Dann gehen wir gemeinsam suchen. Das haben wir schon besprochen.“ ASW, S. 237: „HANS Ja, Katharina, und dann wird geheiratet! “ 610 Pütz spricht von Vorgriffen und unterscheidet zwischen Ankündigungen als direkten und Andeutungen als indirekten, unausgesprochenen Vorgriffen. Als Hauptbestandteil der dramatischen Sukzession kommt dem Vorgriff eine vorwärtstreibende Kraft zu, er ist entscheidend mitverantwortlich für den Spannungsaufbau. Pütz 1970, S. 62- 63. Beispiele für Vorausdeutungen in den drei Dramen: BV, S. 48: „PETER Dann werden wir am Ende so was wie Laboranten […]“, S. 62: „HEINRICH […] Wissen Sie, ich lebe in der Angst, dass mein Sohn […] der heute hierher gekommen ist - dass er mit meiner Frau schlafen wird. Und vielleicht mit Marietta. Und vielleicht mit Ihnen - ich stelle mir vor, dass er mit jeder Frau in diesem Haus schläft - “ EM, S. 53: „FRANZ Morgen ist der große Tag.“ S. 59: „KARL Vielleicht kommt er. Fritz soll auch kommen.“ ASW, S. 241: „ILSE […] Und andere werden noch folgen, von denen keiner mehr am Ende diesen Forst verlassen wird. […] Nein, nein, um dich geht es nicht, aber vielleicht geht es um jene Architektin, die zwischen den Farnen und Bäumen hin- und herstreift und sehen sollte, dass sie nicht selbst zum Baumstamm wird! “. 611 Pütz 1970, S. 161. 612 Ebd., S. 159. <?page no="143"?> 143 linie: Mit Peters Rückkehr drängt das Geschehen unweigerlich auf die finale Katastrophe zu. So kann man sowohl von einer inhaltlichen als auch von einer zeitlichen Funktionalisierung des Heimkehrmotivs sprechen. Sukzession wird in „Besuch bei dem Vater“ darüber hinaus durch die im Nebentext festgelegten Auf- und Abgänge der Figuren erzeugt. 613 Überhaupt sind die Angaben im Nebentext in Bezug auf die zeitlichen Abläufe sehr konkret. Die Chronologie der Ereignisse und auch das Spieltempo sind darin genau festgelegt. Der Nebentext liest sich wie eine Partitur, in der alle Pausen und damit einhergehende Tempoverzögerungen bewusst gesetzt und folglich verzeichnet sind. Damit unterscheidet sich „Besuch bei dem Vater“ in seiner zeitlichen Gestaltung eindeutig von postdramatischen Theatertexten, die oftmals auf Zeitangeben verzichten und sich einer schwebenden Temporalität verschreiben. 614 In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ fällt es schwer, den Zeitraum der fiktiven Handlung genau zu bestimmen. Wie viele Tage zwischen Dramenanfang und Ende liegen, lässt sich nicht genau ermitteln, denn nicht in allen Szenen wird der Zeitpunkt der Handlung konkretisiert. Geht man jedoch von einer unmittelbaren zeitlichen Aufeinanderfolge der Szenen aus, so respektiert das Stück die Einheit der Zeit, denn nach dieser Rechnung überschreitet der fiktive Zeitraum der Handlung die Grenze von vierundzwanzig Stunden nicht. Klassisch mutet auch die Rahmung der Handlung durch Prolog und Epilog an. Es handelt sich um die Monologe der Figuren Heide und Ulrich. An Anfang und Ende des Theatertextes setzt Schimmelpfennig somit zwei der zeitlichen Sukzession enthobene Innensichten. Durch Parallelen in Inhalt - ganze Sätze entsprechen einander - und Aufbau unterstreicht Schimmelpfennig die rahmende Funktion der beiden Monologe. Der Epilog liest sich wie eine Lehre: Ulrich, der seine Frau zu Beginn des Stückes wegen ihrer im Prolog vorgestellten, nächtlichen Halluzinationen verlassen will, ist am Ende selbst zum Opfer nächtlicher Wahnvorstellungen geworden. Auch hat nicht er sie, sondern sie ihn verlassen. Der Epilog stellt somit die Umkehrung der Ausgangssituation des Theatertextes dar. Die Endgültigkeit dieses Zustands unterstreicht der Gebrauch des Zeitadverbs „nie mehr“ in dem Satz „und nie mehr klingelt das Telephon“. 615 Da der Prolog auf eine inhaltliche Einführung in die Dramenhandlung verzichtet und stattdessen Einblick in das 613 BV, S. 10: „Der junge Man kommt rein […]“; S. 11: „Edith, eine jung gebliebene Frau Anfang Sechzig betritt den Raum […]“; S. 14: „Marietta und Peter verlassen den Raum […] Sie [Edith] wartet in der Tür darauf, dass ihre Tochter mit ihr geht. Nach einem Moment steht diese tatsächlich auf und geht mit ihrer Mutter aus dem Raum. Heinrich und Sonja, Ediths Nichte, toben zur Tür herein […]“. 614 Vgl. Lehmann 1999, S. 318. 615 ASW, S. 278. <?page no="144"?> 144 Seelenleben einer Figur gibt, wird die Vorgeschichte wie auch in „Besuch bei dem Vater“ in der ersten Szene nachgeholt. In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ ist es jedoch nicht die Heimkehr, mittels derer Vorangegangenes aufgerollt wird, sondern die Informationen zur Vorgeschichte werden in die Eingangsrepliken der Figuren integriert. Bei Szene 1 handelt es sich damit um eine traditionelle Expositionsszene, die in die Handlung einführt, indem sie die Hauptprotagonisten und die dem Stück zugrunde liegende Mangelsituation 616 vorstellt. Der Gegensatz von Kultur und Natur bildet die Ausgangsopposition des Theatertextes. Er manifestiert sich in der Eingangsszene in Form von zwei Konflikten, einem Haupt- und einem Nebenkonflikt. Beim Hauptkonflikt handelt es sich um die vergebliche Suche nach geeignetem Holz für die Anfertigung des Bühnenbodens des neuen Stadttheaters. Dieses scheint es nur im Wald zu geben. Stadt und Wald repräsentieren die zwei oppositionellen Wertbereiche Kultur und Natur, die auf eine Mediation drängen. Der Nebenkonflikt umfasst Ulrichs und Annes Affäre. Auch diese lässt sich unter der Grundopposition Kultur versus Natur fassen, denn das natürliche Verlangen der Protagonisten nach Liebe widerspricht den kulturellen Konventionen, zu denen die Ehe sie verpflichtet. Mit der Vorstellung der Grundopposition, die ein hohes Konfliktpotential besitzt, gelingt es Schimmelpfennig, Spannung aufzubauen, denn am Ende der ersten Szene drängen sich dem Rezipienten die folgenden zwei Fragen auf: Wird die Architektin des Stadttheaters das benötigte Holz finden und den Bau vollenden können? Werden Anne und Ulrich ihre Affäre beenden? Durch das Aufwerfen dieser Fragen treibt Schimmelpfennig die Dramenhandlung voran. Das Geschehen drängt somit zeitlich nach vorne. Es scheint, als befolge Schimmelpfennig Goethes Rat, der in Übereinstimmung mit Schiller von einer Exposition einen dominanten futurischen Bezug fordert: […] aber eben deshalb, dünkt mich, macht die Exposition dem Dramatiker viel zu schaffen, da man von ihm ein ewiges Fortschreiten fordert, und ich würde das den besten dramatischen Stoff nennen, wo die Exposition schon ein Teil der Entwicklung ist. 617 Die erste Szene legt die Grundopposition offen, die auf eine Lösung drängt. Sie wird der Aufgabe der Exposition gerecht, indem sie die Konfliktparteien vorstellt und das zukünftige Geschehen vorbereitet. Der Wald als Gegenpol zur Stadt erfährt in ihr eine erste Charakterisierung. Die folgenden Szenen 2-5 des ersten Aktes dienen der Vorstellung des noch nicht eingeführten Figurenpersonals und der Vertiefung der angedeuteten Kon- 616 Vgl. Andreotti 1996, S. 118ff. 617 Goethe an Schiller, 22.04.1797. In: Karl Robert Mandelkow (Hg.): Goethes Briefe, Bd. 2. Hamburg 1967, S. 265. <?page no="145"?> 145 flikte. Durch den Einsatz von Ankündigungen mit eröffnender Funktion 618 , von Vorgriffen 619 und Rückgriffen 620 wird die chronologische Abfolge der Ereignisse immer wieder konkretisiert. So kündigen zahlreiche Vorausdeutungen das bevorstehende Unheil an, das über diejenigen einbricht, die zu weit in den Wald vordringen 621 . Neben den immer wieder eingestreuten Vorahnungen der Figuren steigern die Drohungen und Verwünschungen der Waldgeister am Ende des ersten Aktes die Spannung auf den Fortgang der Handlung. Schimmelpfennig verleiht dem Aktschluss damit eine vorgreifende Funktion, die den Eindruck einer nicht aufzuhaltenden Sukzession der Ereignisse verstärkt. Spannungssteigernde Funktion kommt darüber hinaus auch den von Ernst und dem Waldgeist Bruno ausgesprochenen Warnungen zu. In der zweiten Szene des ersten Aktes warnt Ernst seinen Freund Wilhelm eindringlich vor der „furchtbaren Eifersucht des Waldes“, die Unglück und Verderben über sie alle bringe. 622 Wilhelms Beharren auf seinem Vorhaben, in den Wald zu ziehen, um nach dem richtigen Holz zu suchen, verschärft den Konflikt. Die Warnung des Waldgeistes in Szene 2 des zweiten Aktes, man beachte die Parallelstellung der beiden Warn-Szenen, besitzt ein noch höheres Spannungspotential, da Schimmelpfennig sie mit dem Auslaufen einer gesetzten Frist verknüpft: Nur fort von hier, so schnell es geht. Es ist längst Zeit. [...] Hör auf, darüber nachzudenken, hier erwartet dich der sichere Tod. 623 Die ablaufende Frist treibt die finale Präzipitation der Handlung voran und wirkt somit nicht nur spannungs-, sondern auch temposteigernd. Lehmann sieht in dem Motiv der auslaufenden Zeit ein besonderes Kennzeichen dramatischen Theaters. Der dramatischen Zeitästhetik gehe es immer um eine Komprimierung des Zeitverlaufs. 624 Die knappe Zeit stellt für Lehmann daher das „Grundmodell der Dramatisierung“ dar: Nichts ist naheliegender als die Erzeugung von Spannung durch eine Dramaturgie der Zeitverknappung. An Zeit fehlt es immer. Sogar wenn ein Drama den Leerlauf der Langeweile zum Thema hat […] gehört es zum dramatischen Theater, das Knappwerden der Zeit, das Auslaufen einer gesetzten Frist zum Organisationsprinzip zu machen. Die knappe Zeit ist das Grundmodell der Dramatisierung. Hinter ihr steht immer die Grenze des Lebens. 625 618 ASW, S. 247, 251, 262. 619 ASW, S. 235, 247, 276. 620 ASW, S. 232-233, 236, 243, 244, 255, 260-261, 263, 266. 621 ASW, S. 232-235, 237, 238, 241-242, 247, 249. 622 ASW, S. 232-233. 623 ASW, S. 248-249. 624 Lehmann 1999, S. 313. 625 Ebd., S. 312. <?page no="146"?> 146 Das Motiv der knappen Zeit findet sich auch in „Die ewige Maria“, wo Schimmelpfennig es gleich mehrfach zur Spannungssteigerung einsetzt. 626 Der Zeitraum der fiktiven Handlung umfasst hier ein Jahr, das jedoch nur in Ausschnitten gezeigt wird. Die auf der Bühne repräsentierte Handlung begrenzt sich auf drei Tage und zwei Nächte. Um die finale Spannung aufrechtzuerhalten und die fiktive Zeit zu verdichten, bedient sich Schimmelpfennig des Mittels der außerszenischen Raffung. So wird der Rezipient in Szene 7 lediglich verbal über das Verstreichen eines ganzen Jahres informiert. 627 Der gesamte Zeitraum von Karls einjähriger Abwesenheit ist szenisch ausgespart. Das von Schiller mit dem Begriff der Präzipitation beschriebene Vorwärtsdrängen der Handlung wird durch vorwegnehmende Ankündigungen in der Expositionsszene initiiert. Maria und Karl reden über ihre am Folgetag stattfindende Hochzeit. In Szene 2 wird der Rezipient in die Zukunftspläne des Paares eingeweiht, die ein hohes Konfliktpotential besitzen. Der für den Tag nach der Hochzeit geplante Aufbruch in ein neues Leben hängt von der finanziellen Unterstützung durch Karls Vater, den Bäckermeister Franz ab. Dessen Zustimmung zu den Reiseplänen der beiden scheint jedoch ungewiss: MARIA Er hat gesagt, daß er uns das Geld gibt. KARL Ich weiß, daß er es gesagt hat, aber er tut es nicht gerne, und er hat es auch nicht gerne gesagt. MARIA Glaubst du, er gibt uns das Geld nicht? Dann können wir nicht fahren! KARL Er mag Dich. Er wird es uns geben. MARIA Ja? Also können wir doch fahren. KARL Am Morgen nach der Hochzeit fahren wir, obwohl er uns nicht gerne fortlässt. Das weißt du - 628 Mittels der Ankündigung der Reiseabsichten wird hier Spannung auf den Gang der Dramenhandlung erzeugt, die durch den Hinweis auf mögliche Einwände von Franz eine zusätzliche Steigerung erfährt. Eine spannungssteigernde Wirkung haben auch die retardierenden Einschübe in den Szenen 2 und 7-11. In Szene 2 wird Karl noch am Abend vor seiner Hochzeit fortgeschickt, um einen verschwundenen Jungen zu suchen, weshalb die Feier auf unbestimmt verschoben werden muss. Die zur Eile mahnenden Äußerungen des Vaters 629 führen dem Rezipienten das verhängnisvolle 626 EM, S. 59-60, 86. Auch in GS und FF arbeitet Schimmelpfennig mit dem Motiv der knappen Zeit, indem den Figuren zeitliche Ultimaten gestellt werden. Das Auslaufen der Frist treibt die Handlung voran. Vgl. GS, Szene 1.4, S. 419; FF, S. 673. 627 EM, S. 81. 628 EM, S. 55-56. 629 Ebd., S. 59: „FRANZ Sohn, du darfst jetzt keine Zeit verlieren.“; S. 60: „FRANZ Du kannst nicht zögern.“, „FRANZ […] Und komm bald zurück, deine Braut wartet. Deine schöne Braut.“ <?page no="147"?> 147 Vorwärtsschreiten der Zeit vor Augen und fördern damit den Spannungsaufbau. Dramenintern wirken diese Appelle temposteigernd. Karl bleibt keine Wahl, er muss sich auf die Suche nach dem Jungen begeben. Eile ist geboten, da der Aufbruch zur Suche den Aufschub der Hochzeit bedeutet. Wie in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ bedient sich Schimmelpfennig auch hier des Motivs der knappen Zeit, um Spannung zu erzeugen. Nach dieser Temposteigerung am Ende der zweiten Szene greift Schimmelpfennig in Szene 3 zum Mittel der Retardierung. Der Rezipient bleibt für die Dauer der gesamten Szene im Ungewissen darüber, ob der Bräutigam zurückkehrt und die Hochzeit, wie geplant, vollzogen werden kann. Indem Schimmelpfennig den Suchenden nicht begleitet, sondern die Anschlussszene ganz den Wartenden widmet, steigert er die Ungeduld des Rezipienten auf die Rückkehr des Bräutigams. Die Verzögerung verstärkt somit die Spannung auf den weiteren Gang der Handlung und sorgt für „eine gewaltige Präzipitation“ 630 auf das Ende hin. Szene 4 setzt dann völlig unvermittelt mit der bei Tisch sitzenden Hochzeitsgesellschaft ein. Die verdeckte Handlung der Suche wird in Form eines kurzen Berichts nachgeholt. Man erfährt, dass Karl vier Tage fort war. 631 Nachdem die Sukzession der Handlung durch das retardierende Moment der Suche aufgehalten wurde, schreitet sie nun ohne Unterbrechungen voran. Die Rückkehr des verschollenen Bruders Fritz in Szene 6, der zu Eile und Aufbruch mahnt, 632 sorgt für eine erneute Präzipitation der Handlung. In den Szenen 7-11 greift Schimmelpfennig dann erneut zum Mittel der Verzögerung, um die Spannung auf den Ausgang zu erhöhen. 633 Nicht nur dramentechnisch auch inhaltlich wird die Zeit zum Stillstand gebracht, denn die Szenen kreisen um das Thema „Warten“: Ein Jahr lang wartet Maria schon auf die Rückkehr ihres Bräutigams Karl, der in der Hochzeitsnacht verschwunden ist und seither kein Lebenszeichen von sich gegeben hat. Das Thema Zeit ist in diesen Szenen des Wartens omnipräsent, wie ein kurzer Auszug verdeutlichen soll: ONKEL Was ist das für eine Zeit, ein Jahr. Das ist nichts. 630 Pütz 1970, S. 14. 631 EM, S. 66. 632 EM, S. 78.: „FRITZ Aber es eilt.“ S. 79-80: „KARL Und wann muß ich zu ihm, wenn ich den Laden übernehmen will? […] FRITZ Dann jetzt. KARL Sofort? FRITZ […] Noch vor Sonnenaufgang. […] KARL Ich muß weg, sonst ist es zu spät! “ 633 Das Drama besteht aus zwölf Szenen. <?page no="148"?> 148 HANS Ich finde, daß ein Jahr eine lange Zeit ist. Ein Jahr ist eine lange Zeit. ONKEL Nein, nein. Ein Jahr ist nichts. EVA Es kommt darauf an. ONKEL Ja. Vier Jahre sind zum Beispiel viermal so lang. HANS Lang genug ist ein Jahr. EVA Ein Jahr ist lang genug, wenn jemand wartet. ONKEL Wieso? EVA So ein Jahr wird lang, und man kann nicht abwarten, daß es vorübergeht. ONKEL Es kommt darauf an, worauf man wartet. EVA Wenn man auf etwas wartet, das man sich ersehnt. Auf einen Menschen oder einen Brief. ONKEL Ja dann! Aber keiner widerspricht mir, wenn ich sage, daß es auch eine längere Zeit gibt. HANS Nein das nicht. ONKEL Also. EVA Aber wenn du dir ein Jahr Sorgen machst, dann ist es fast nicht auszuhalten. ONKEL Ein Jahr ist nichts. EVA Ich sage doch, es kommt darauf an. Wenn man sich Sorgen macht, ist ein Jahr zu lang. ONKEL Manche Menschen machen sich fünfzig Jahre Sorgen. Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. EVA Die fünfzig Jahre bezahlen sie mit dem Leben. Ein Jahr ist eine lange Zeit. 634 In der vorliegenden siebten Szene lässt Schimmelpfennig die Figuren über die subjektive Wahrnehmung von zeitlicher Dauer reflektieren und verweist dadurch auf die zentrale Bedeutung, die dem Thema der Zeit im Stück insgesamt zukommt. Die Zeit ist Motor der Dramenhandlung. Denn aufgrund des von Maria als zu lange empfundenen Fortbleibens ihres frisch vermählten Ehemanns Karl, kommt dessen Vater zu seiner Chance: Er hält um Marias Hand an und vertieft damit den dramatischen Konflikt, der in der Rivalität von Vater und Sohn, dem Werben um Marias Liebe, besteht. Maria nimmt den Antrag an, hofft aber dennoch weiter auf Karls Rückkehr. In ihrer Verzweiflung trägt sie einem Jungen auf, nach ihrem Mann zu suchen und bittet ihn, den Vermissten schnell zu finden, da die Zeit dränge: MARIA […] Beeil dich, dass du in zwei Wochen wieder hier bist, wenn Hochzeit ist, denn in zwei Wochen ist Hochzeit, wenn er nicht kommt. 635 634 EM, S. 81 635 EM, S. 86. <?page no="149"?> 149 Am Ende des Stückes greift Schimmelpfennig somit erneut zum Motiv der knappen Zeit, um das Geschehen voranzutreiben und Spannung zu erzeugen. Diesmal verbindet er es mit dem Motiv der Heimkehr und treibt den Grundkonflikt, Marias Zerrissenheit zwischen ihren Gefühlen zu Karl und ihren Verpflichtungen gegenüber dessen Vater Franz, damit auf den Höhepunkt: Karl bleibt nur noch wenig Zeit, wenn er seine Frau nicht an den Vater verlieren will. Nach der Verzögerung der Szenen 7-11 eilt das Geschehen in der finalen Szene 12 auf die „Katastrophe“ zu. Denn bevor es zur Verwirklichung der Hochzeitspläne kommt, kehrt der Vermisste zurück und findet die Situation zu seinen Ungunsten verändert vor: An die Stelle des lange Zeit Abwesenden ist ein anderer getreten, der ihm nun als Feind gegenübersteht. 636 Offen ausgetragen wird dieser Konflikt bei Schimmelpfennig jedoch nicht. Das Stück endet abrupt am Höhepunkt der Spannung, ohne eine Lösung der Konfliktsituation anzubieten. So weist „Die ewige Maria“ zwar eine werkimmanente Spannung sowie eine daraus resultierende Ausrichtung auf das Ende auf, enthält dieses dem Rezipienten jedoch vor. Wie die Analyse der Zeitebenen in „Die Ewige Maria“, „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ und „Besuch bei dem Vater“ gezeigt hat, bedient sich Schimmelpfennig in allen drei Stücken traditioneller Verfahren des Spannungsaufbaus und folgt damit der von Peter Pütz gegebenen Definition dramatischer Handlung, die zu Beginn dieses Kapitels zitiert wurde. 637 Der Einsatz sukzessiver Techniken lässt sich auch in den Stücken beobachten, die sich eher der simultanen Ebene und damit einem Nebeneinander der Szenen verschreiben. Indem Schimmelpfennig ein Minimum an Sukzession aufrechterhält, wahrt er auch in diesen Stücken die Spannung auf den Schluss. So bedient er sich etwa in dem simultan ablaufenden Stück „Die arabische Nacht“ des Mittels der vorwegnehmenden Ankündigung, um das Verstreichen der Zeit zu verdeutlichen: FRANZISKA Gleich ist die Sonne weg. […] KARPATI Jetzt ist die Sonne weg. 638 Indem Karpatis Aussage das Eintreffen der Ankündigung bestätigt, wird ein Vorwärtsschreiten der Zeit suggeriert. Auch in „Auf der Greifswalder Straße“, das aus einer Vielzahl von Simultanszenen besteht, gibt Schimmelpfennig das Prinzip der Sukzession nicht gänzlich auf. Das Fortschreiten der Zeit signalisieren Zeitangaben im Haupt- und Nebentext wie „später“, „in der vergangenen Nacht“, „Sams- 636 Pütz 1970, S. 160. 637 Ebd., S. 11. 638 AN, S. 314. <?page no="150"?> 150 tagvormittag“, „Es ist jetzt 14 Uhr zwei“ 639 , „es ist 16 Uhr dreißig“ 640 , „17 Uhr“ 641 . Darüber hinaus machen zahlreiche Hinweise auf das Auslaufen des Rudolf gesetzten Ultimatums 642 , das eine Präzipitation der Handlung bewirkt, sowie Figurenäußerungen wie die folgenden auf das Verstreichen der Zeit aufmerksam: SIMONA Gleich sechs Uhr. In drei Stunden muß ich arbeiten. 643 MAIKA Die Sonne kippt über den Rand der Stadt in die Nacht, als ob aus dem Uhrwerk ein paar Zähne weggebrochen wären: aus Tag - aus dem Tag, der nicht aufhören zu wollen schien, wird Nacht, fast ohne Dämmerung, auf einen Schlag. 644 Trotz der Simultaneität der Szenen und ihrer epischen Detailfülle wird die zeitliche Sukzession im Stück somit nicht außer Kraft gesetzt. Sie verzögert sich lediglich, denn Schimmelpfennig greift die einzelnen Handlungsstränge wieder auf und führt sie weiter - ein Verfahren, das an die filmische Schnitt-Gegenschnitt-Technik erinnert. 645 So bedeuten die eingeschobenen Parallelszenen zwar eine Unterbrechung des jeweiligen Handlungsstrangs, nicht aber die Aufhebung der Sukzession. Gleiches gilt für die zeitliche Struktur in „Der goldene Drache“. Auch hier schaltet Schimmelpfennig mehrere Handlungsstränge parallel - sechs an der Zahl - ohne jedoch das Prinzip der Sukzession vollständig aufzugeben. So weisen die Szenen, die um das Schicksal des kleinen Chinesen kreisen eine vorwärtsdrängende Dynamik auf. Ankündigungen wie „Der Zahn muss raus.“ 646 treiben die Handlung voran. Die Spannungskurve läuft vom Zahnschmerz über das Ziehen des schwer kariösen Zahnes bis zum Tod des kleinen Chinesen durch Verbluten. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Während die Vielzahl der Szenen als postdramatische Aufweichung dramatischer Bauprinzipien verstanden werden kann, sprechen die Gestaltung der einzelnen Handlungsstränge und ihre logische Verknüpfung zu einem kohärenten Ganzen für eine Orientierung an der dramatischen Tradition. Wie die analysierten Szenenauszüge belegen, weisen auch die Theatertexte, die sich in ihrem Grundaufbau dem Prinzip der Simultaneität ver- 639 GS, Szene 2.13, S. 443. 640 GS, Szene 3.6, S. 452. 641 GS, Szene 3.8, S. 453. 642 GS, Szene 1.4, S. 419; Szene 1.9, S. 426; Szene 2.11, S. 439-440; Szene 4.4, S. 466; Szene 4.15, S. 474-475. 643 GS, Szene 1.8, S. 425. 644 GS, Szene 3.15, S. 460. 645 Die gleiche Technik wendet Schimmelpfennig in AN an. Vgl. Mustroph: Der Vielseitige. In: Müller, Weiler (Hgg.) 2001, S. 134. 646 GD, Szene 3. <?page no="151"?> 151 schreiben, sukzessive Passagen auf. In „Auf der Greifswalder Straße“ kann mit Blick auf das Ultimatum sogar von einer finalen Ausrichtung der Handlung auf den Schluss gesprochen werden. Diese geht in Stücken wie „Vorher/ Nachher“ und „Push Up“ zwar verloren, nicht aber der zeitliche rote Faden, denn die einzelnen Szenen folgen dem sukzessiven Prinzip und lassen ein lineares Fortschreiten der Zeit erkennen. Die kausallogische Abfolge in den einzelnen Szenensplittern bleibt bewahrt, weshalb man auch hier nicht von einer völligen Negation des Zeitverlaufs sprechen kann, wie sie das postdramatische Theater proklamiert. 647 3.3. Verfahren zur Aufhebung der zeitlichen Sukzession 3.3.1. Zeitliche Simultaneität In fünf der ausgewählten Stücke wird die zeitliche Sukzession mehrfach zugunsten des Prinzips der Simultaneität aufgehoben. Es handelt sich um „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3“, „Vorher/ Nachher“, „Auf der Greifswalder Straße“ und „Der goldene Drache“, die alle dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entstammen. Ihre Zeitstruktur zeichnet sich nicht durch ein vorwärtsdrängendes Nacheinander aus, sondern durch ein simultanes Nebeneinander. Statt der diachronen Abfolge interessiert die synchrone Ebene des Gleichzeitigen, wie der folgende Auszug aus „Auf der Greifswalder Straße“, der sich wie eine Zusammenfassung des Stückes liest, deutlich macht: BABSI/ TÄUBCHEN/ SCHMIDTI An einem frühen Samstagvormittag lernt der etwa vierzigjährige Obst- und Gemüsehändler Rudolf die zwanzigjährige Maika kennen, die bei ihm an dem Tag als Vertretung arbeitet. Es ist derselbe Morgen, an dem Maikas Freundin Simona von einem großen Hund in die Hand gebissen worden war und an dem ihre Freundin Bille vor der Tür eines Tätowierers in der Bergmannstraße starb, ohne es selbst zu merken. 648 Selbstständige Einzelszenen ersetzen die dramatische Endbezogenheit der Teile, was zu einer Episierung führt. 649 Neben der Aufhebung der Finalität bringt die zeitliche Simultaneität der Szenen auch einen Verlust an dramatischer Konzentration mit sich. Epische Breite und Detailfülle erhalten Ein- 647 Lehmann 1999, S. 336. 648 GS, Szene 3.11, S. 456. 649 Pfister 2001, S. 104. <?page no="152"?> 152 lass in den Theatertext. 650 Ein Dominantsetzen der simultanen Ebene bedeutet ein Aufheben von Zeit zugunsten von Raum, wie Elisabeth Bronfen bereits 1986 in ihrer Analyse des literarischen Raumes festhält. Wirklichkeit wird nicht als zeitliches Nacheinander, sondern als verräumlichte Zeit, als simultanes Nebeneinander getrennter Ereignisse, als Dauer, als gleich bleibende Essenz verstanden. 651 So spielt der Raum in allen fünf Stücken eine bedeutende Rolle, er liefert den Rahmen für die parallel ablaufenden Ereignisse und verknüpft die unterschiedlichen Handlungsstränge zu einem Ganzen. 652 In „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3“ und „Der goldene Drache“ ist es ein mehrstöckiges Haus, in „Vorher/ Nachher“ das Hotel, in „Auf der Greifswalder Straße“ die Straße, die ein Nebeneinander an Szenen ermöglichen, denn sie alle lassen sich in eine Vielzahl von Handlungsschauplätzen aufspalten: Hochhaus und Hotel in unterschiedliche Etagen, Zimmer und Flure, die Straße in Bürgersteige, Haltestellen, Baustellen, Läden und Wohnhäuser. In „Auf der Greifswalder Straße“ wird die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die sich an den verschiedenen Schauplätzen abspielen, durch Zeitangaben wie „mitten in der Nacht“, „Nacht“, „nachts“, „in derselben Nacht“ im Nebentext hervorgehoben. Während der „Mann im Bademantel“ draußen auf der Straße nach seinem entlaufenen Hund sucht, hat Robert, der Gemüsehändler einen Albtraum, zeitgleich schleppt sich ein ausgemergelter, betrunkener Rocker nach Hause, Straßenarbeiter führen Reparaturarbeiten an einem Straßenbahngleis durch und drei junge Frauen sitzen nach durchgemachter Freitagnacht in der Straßenbahn, die sie nach Hause bringen soll. Für Manfred Pfister verbirgt sich hinter einer solchen panoramaartigen Raum- und Zeitstruktur der Wunsch, „Wirklichkeit in ihrer Totalität und in all ihren individuellen Details auf der Bühne präsentieren zu wollen.“ 653 Den Autoren solcher episch anmutenden Dramen gehe es primär um „extensive Totalität“. 654 Indem Schimmelpfennig, wie oben bereits angemerkt, in einem persönlichen Kommentar zu seinem Stück betont, dass die Greifswalder Straße als Sinnbild für jede andere vierspurige Ausfallstraße fungieren kann, bestätigt er Pfisters Analyse. 655 Hier wird das Phänomen Straße als solches in den Blick genommen, nicht 650 Ebd., S. 105. 651 Bronfen 1986, S. 356, siehe auch S. 148. 652 Neben dem Raum garantiert auch eine alle Szenen umfassende allgemeine Thematik den Zusammenhang der parallel geführten Einzelhandlungen. In AN und VN ist es die Sehnsucht nach Veränderung, in PU das Streben nach beruflichem Erfolg und Aufstieg und in GS die Vielfalt des Großstadtalltags. 653 Pfister 2001, S. 105. 654 Ebd. 655 In: „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. <?page no="153"?> 153 nur eine Berliner Straße. Die Wirklichkeit einer vierspurigen Ausfallstraße wird umfassend, in all ihren Facetten und Details studiert. Simultaneität erzielt Schimmelpfennig darüber hinaus durch Perspektivenvielfalt und den Einsatz des Mittels der Beobachtung. Oftmals werden Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. So etwa in den Szenen 2.13, 2.14 und 2.17. Zunächst sind es Frau Täuber, Frau Schmidt und die Photoladeninhaberin Babsi, die einen ausführlichen Bericht über das Geschehen auf der Straße geben. Durch das Schaufenster des Photoladens beobachten sie, wie Robert, der Besitzer des Gemüseladens, einem Mädchen hinterher läuft und an der Straßenbahnhaltestelle vor ihm auf die Knie fällt. In Szene 2.14 wird das Geschehen dann aus Sicht des aktiv beteiligten Robert präsentiert. Bevor Schimmelpfennig die Ereignisse an der Straßenbahnhaltestelle aus erneut veränderter Perspektive zeigt, lenkt er den Blick des Zuschauers auf zwei Parallelszenen. Während Robert Maika seine Liebe gesteht, sitzt eine junge Frau in einem italienischen Restaurant und isst Spaghetti. Zeitgleich gießt der Bewohner eines an der Greifswalder Straße liegenden Mietshauses die Blumen seines Balkons. Der Einschub der Szenen gleicht einem kurzen Kameraschwenk. Denn schon liegt der Fokus wieder auf Robert und Maika. In Szene 2.17 sind es die Fahrgäste der Straßenbahn, die die Szene beobachten und kommentieren. Auch Robert selbst kommt in dieser Szene noch einmal zu Wort. In Szene 3.11 fassen Babsi, Täubchen und Schmidti das simultane Geschehen dann noch einmal in Form eines narrativen Berichts zusammen. So sind es nicht nur die zahlreichen Perspektivwechsel, sondern auch solche dem Film entlehnten schnellen Szenenwechsel, mittels derer Schimmelpfennig den Eindruck von Simultaneität erzeugt. Auf die Frage, ob das Theater etwas vom Film lernen könne, antwortet Schimmelpfennig „Im Umschnitt, im Gegenschnitt, ja.“ 656 , und erläutert daraufhin die Machart der vorliegenden Szene: SCHIMMELPFENNIG […] Der Mann, der an der Straßenbahnhaltestelle kniet und plötzlich das Bild aus der anderen Perspektive, aus der Perspektive des Waggons, das ist quasi ein filmisches Mittel, weil es rein durch die Vorstellung im Kopf des Zuschauers erzeugt werden kann, es muss aber nicht mehr unbedingt bildhaft dargestellt werden, weil es die Sprache schon leisten kann. 656 In: ebd. Im virtuosen Umgang mit verschiedenen Erzählperspektiven und der Beherrschung der Schnittkunst sehen zahlreiche Kritiker die Qualität von Schimmelpfennigs Dramen. Vgl. Jörg Bochov: Das zeitgenössische Theater und seine Autoren. Verwandlungen des Theaters - Teil 5, S. 3. In: www.dradio.de/ dlf/ sendungen/ essayunddiskurs/ 631248 Vgl. Reese: Laudatio auf Schimmelpfennig, 28.04.2010. Vgl.: www.swr.de/ rp-aktuell/ -/ id=233240/ did=6314970/ pr=video/ nid=233240/ e3upa4/ index.html <?page no="154"?> 154 Vom Film kann man lernen, bildhaft groß zu denken - auch in Bereichen, die dem Theater vorenthalten zu sein scheinen. 657 Solche perspektivisch geprägten, erinnernden Szenen wie man sie in „Auf der Greifswalder Straße“ vermehrt findet, verstärken die Fiktion im Stück und führen folglich weg von einer fiktionslosen Postdramatik. Ein weiteres Beispiel für ein simultan geschaltetes Szenenpaar stellen Szene 2.8 und 3.2 dar. Die Gleichzeitigkeit der Szenen verdeutlicht Schimmelpfennig hier anhand eines Löffels, den ein Bauarbeiter in Szene 2.8 bei Renovierungsarbeiten findet und auf die Straße wirft. Eben dieser Löffel fällt einem jungen Mann in Szene 3.2 vor die Füße. Zur Veranschaulichung seien die entsprechenden Nebentextanweisungen einander gegenübergestellt. Der erste Bauarbeiter hält den Löffel hoch in die Luft und lässt ihn dann in die Tiefe fallen. Das Schlagen des Löffels gegen die Metallstangen des Gerüsts. 658 Der Löffel fiel metallisch klingend durch das mit riesigen Planen abgehängte Baugerüst auf den Bürgersteig, sprang vom Punkt des Aufpralls noch einige Meter weiter und landete vor den Füßen eines jungen Mannes. 659 Eine nahezu identische Szenenanordnung findet sich in „Der goldene Drache“. Auch hier werden die verschiedenen Handlungssequenzen simultan geschaltet und durch ein „fliegendes“ Objekt miteinander verbunden. Während in „Auf der Greifswalder Straße“ der silberne Löffel diese Funktion übernimmt, ist es in „Der goldene Drache“ der Zahn des kleinen Chinesen, der im Akt des Ziehens im Wok landet und von dort in das bestellte Suppengericht der Stewardess Inga gelangt. Bevor diese ihn vier Szenen später in ihrer Suppe entdeckt, unterbricht Schimmelpfennig die Szene mehrfach zugunsten anderer simultan ablaufender Handlungen. Einem Kameraschwenk gleichend zeigt er, was sich unterdessen in der Wohnung des Lebensmittelhändlers Hans abspielt. In „Die arabische Nacht“ ist es nicht nur die Wahl des Mietshauses mit seiner Vielzahl an Schauplätzen, die ein simultanes Nebeneinander der Bühnenvorgänge ermöglicht. Um ein Theater der absoluten Simultaneität zu erzielen, lässt Schimmelpfennig die Figuren sich permanent gegenseitig beobachten. Jeder beobachtet hier jeden, sei es vom Fenster eines gegenüberliegenden Wohnblocks aus oder aber aus unmittelbarer Nähe in einer Face to Face Situation. Tom Mustroph charakterisiert das Stück daher als „Studie des Phänomens Beobachtung“: 657 „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. 658 GS, Szene 2.8, S. 436. 659 GS, Szene 3.2, S. 447. <?page no="155"?> 155 Die Figuren äußern monologisch vor allem, was sie wahrnehmen. Ihr eigenes Tun wird in der sachlichen Beschreibung der anderen sichtbar - natürlich verfremdet, weil es in den Kontext des Beobachters eingebettet ist. Alles wird dem Beobachter Objekt. 660 Es gibt keine Distanz zwischen dem Vorgang des Erzählens und dem Erzählten selbst. Beide Vorgänge laufen simultan ab, d.h. in absoluter zeitlicher Deckung. Durch die Aufhebung der zeitlichen Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem und die Verwendung des Präsens als Erzähltempus verleiht Schimmelpfennig der geschilderten Nacht ewige Gegenwart. Es herrscht das absolute Präsens, das weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft verweist. In einem Gespräch mit Sebastian Huber erklärt der Autor: SCHIMMELPFENNIG Es gibt nur die eine Nacht, nur den Moment. Gäbe es den Morgen davor oder danach, bräuchte die Geschichte eine andere epische Erzählweise. 661 Diese Aussage ruft Lehmanns Ausführungen zum Umgang mit der Zeit im postdramatischen Theater in Erinnerung. Offene Prozessualität, die strukturell auf Anfang, Mitte und Ende verzichtet, tritt im postdramatischen Theater an die Stelle der klar strukturierten zeitlichen Ganzheiten. 662 Im Unterschied zum postdramatischen Theater wahrt Schimmelpfennig in seinem Stück jedoch eine Repräsentationsebene und verzichtet somit nicht auf das dramatische Mittel der Illusion. Der szenische Vorgang ist von der Zeit des Publikums eindeutig abgelöst. 663 Zuschauer und Leser verlassen ihre eigene Zeitsphäre und treten ein in eine an Tausendundeine Nacht erinnernde fiktive Traumzeit - die Zeit der Figuren, die ungleich der Zeit der Akteure ist. Die ästhetisch geformte Zeit der Theaterfiktion und die real erlebte Zeit von Akteuren und Rezipienten verschmelzen hier nicht zu einer „geteilten Zeit“, wie es im postdramatischen Theater, laut Lehmann, der Fall ist. 664 Die Illusion bleibt erhalten und spiegelt sich auch in der zeitlichen Struktur des Theatertextes wider. Schimmelpfennig gelingt es, der postdramatisch anmutenden Erzählstruktur 665 in „Die arabische Nacht“ ein dramatisches Kleid zu geben. Die zeitliche Präzipitation zum Ende des Stückes und sein tragischer Ausgang lassen die zugrunde liegende Drama- 660 Mustroph: Der Vielseitige. In: Müller, Weiler (Hgg.) 2001, S. 134. 661 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. 662 Lehmann 1999, S. 327. 663 Vgl. ebd., S. 328-329. 664 Ebd., S. 327. 665 Vgl. ebd., S. 196: „Ein wesentlicher Zug des postdramatischen Theaters ist das Prinzip der Narration; das Theater wird zum Ort eines Erzählakts. […] Da werden die Beschreibung und das Interesse an dem eigentümlichen Akt der persönlichen Erinnerung/ Erzählung der Akteure zur Hauptsache.“ <?page no="156"?> 156 turgie deutlich erkennbar werden. Der Eindruck der offenen Prozessualität, den der Rezipient zu Beginn vermittelt bekommt, täuscht also. Die dramatische Struktur des Stückes offenbart sich auch darin, dass sein Ende durch Kalils und Karpatis Tod eindeutig markiert und nicht offen ist. Der Tod der beiden bringt die dramatische Zeit zum Stillstand und übernimmt somit die Funktion des schließenden Rahmens. Zur Funktionalisierung des Todes am Dramenende schreibt Peter Pütz in seiner bereits mehrfach zitierten Studie zur Technik dramatischer Spannung: Wenn es keine Zukunft mehr gibt, d.h. wenn die Spannung sich gelöst hat, dann ist das Drama zu Ende; alles Zukünftige ist Gegenwart geworden und der Tod ist der vollkommenste Ausdruck dieses Endes. 666 In Theatertexten, die jedoch wie „Ende und Anfang“ keine finale Handlungsstruktur aufweisen, verliert auch der Tod seine Endgültigkeit. Der Titel ist programmatisch zu verstehen: Der Tod bedeutet hier gleichzeitig Ende und Anfang. Die im Verlauf der Handlung zu Tode gekommenen Figuren treffen sich auf einer Bank im Jenseits wieder und beginnen eine Unterhaltung. 667 Der Tod markiert hier somit nicht den Schlusspunkt. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Da Schimmelpfennig vermehrt zu einer simultanen Zeitgestaltung greift, die ein Nebeneinander kurzer Szenensplitter ermöglicht und eine Zerschlagung der Theaterzeit in Bruchstücke zur Folge hat, kann der Einfluss postdramatischer Dramaturgien auf sein Schaffen nicht geleugnet werden. Denn wie Lehmann betont, gehört das Prinzip der Simultaneität „zu den wesentlichen Merkmalen postdramatischer Zeitgestaltung“. Trotz dieser Übereinstimmung in der Bevorzugung simultaner Strukturen lassen sich aber auch hier gravierende Abweichungen von der postdramatischen Ästhetik beobachten. Denn die Zersplitterung der Zeit geschieht, wie die Ausführungen gezeigt haben, nie unter Preisgabe des inhaltlichen Gesamtzusammenhangs der Szenen. Sie bleiben verknüpft und sei der Faden, der sie zusammenhält noch so durchsichtig, es gibt ihn. 3.3.2. Dekonstruktion der zeitlichen Chronologie Ein Stück wie „Die Frau von früher“ (UA 2004) verdeutlicht, wie die Raumwirkung durch ein Dominantsetzen der Zeitstruktur zurückgedrängt werden kann. Das Zeitadverb „früher“ im Titel des Dramas macht auf die thematische Zentralität der Zeit in diesem Stück aufmerksam. Schimmelpfennig sucht die automatisierte Wahrnehmung der Zeit durch den Einsatz der dem Film entlehnten Montagetechnik aufzubrechen. Mittels der Verabschiedung des konventionellen Sukzessionsprinzips versucht er, dem Re- 666 Pütz 1970, S. 12. 667 EA, S. 221. <?page no="157"?> 157 zipienten die Bedeutung von Zeit bewusst zu machen 668 und nähert sich damit der postdramatischen Zeitästhetik an, die Zeit erfahrbar machen will: Erst eine vom Gewohnten abweichende Zeiterfahrung provoziert nämlich ihre ausdrückliche Wahrnehmung, läßt sie von der beiherspielenden unausdrücklichen Gegebenheit in den Rang eines Themas aufsteigen. 669 Schimmelpfennig legt seinem Rachedrama, das deutliche Parallelen zum Medea-Mythos aufweist, zwar eine klare, lineare Zeitstruktur zugrunde, dekonstruiert diese jedoch, indem er die Szenen des Stückes in nichtchronologischer Reihenfolge zeigt. Durch die Unterwanderung der raumzeitlichen Kontinuität des Dargestellten in Form einer Aufhebung der chronologischen Szenenabfolge wird die dem Stück unterlegte finale Handlungsstruktur verdeckt. Es ist die Aufgabe des Rezipienten, die dekonstruierte einstige Ordnung unter Zuhilfenahme der im Nebentext jeder Szene angegebenen Zeitangabe zu rekonstruieren. Da diese Ordnung sich als einzige Lösung erweist, wird Barthes „Toter Autor“ 670 durch die eigentlich verschlossene Hintertür des dekonstruktivistischen Theaters als ein lebendiger wieder eingeführt. 671 Auch Manfred Pfister sieht in dem Aufbrechen der raumzeitlichen Kontinuität den intentionalen Akt einer arrangierenden Instanz, den er jedoch nicht dem Autor-Ich zuschreibt, sondern einem auktorialen Erzähler: Wir haben schon in unserem Exkurs zum Film […] darauf hingewiesen, dass sich im Aufbrechen der raum-zeitlichen Kontinuität des Dargestellten durch Rückblenden und Einblendungen von Gleichzeitigem oder Zukünftigem ein Prinzip realisiert, das dem des auktorialen Erzählers in narrativen Texten analog ist […] die Umstellungen in der raum-zeitlichen Kontinuität implizieren eine Instanz, die diese Umstellungen vornimmt, und diese Instanz kommentiert und 668 Vgl. Pfister 2001, S. 363. 669 Lehman 1999, S. 330. 670 Roland Barthes: The death of the author. In: ders.: Image, Music, Text. London 1987, S. 142-148. 671 Mit der Frage nach einer Rückkehr des Autors beschäftigte sich das oben bereits erwähnte (S. 28) Symposium der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, das der Interdisziplinäre Arbeitskreis für Drama und Theater vom 11.-13. Januar 2007 veranstaltete, siehe: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008. Äußerungen wie die im Folgenden zitierte des spanischen Autors José Sanchis Sinisterra verdeutlichen die Aktualität der Thematik in europäischen Theaterkreisen seit den 1990er Jahren: „Mir scheint, dass der dramatische Diskurs einen interessanten und hoffnungsvollen Augenblick erlebt. Nach dem Imperialismus der Regisseure und der Blüte des Kollektiv-, Körper- und Bildertheaters befinden wir uns im Augenblick in einer Phase der Diskussion über die Theatralität aus der Perspektive des literarischen Diskurses. Heute ist es der Autor, der die Entwicklungslinie des Theaters anzeigt.“ Zitiert nach: Wilfried Floeck: Vom Regietheater zum Autorentheater? Das spanische Theater nach Franco. In: Kreuder, Sörgel (Hgg.) 2008, S. 131-132. <?page no="158"?> 158 interpretiert das Dargestellte durch die in den Umstellungen neu geschaffenen Kontrast- und Korrespondenzbezüge […]. 672 Trotz seiner dekonstruktivistischen Färbung kann das Stück somit nicht als postdramatisch beschrieben werden, da die repräsentierte Zeit in den Rahmen eines fiktiven Erzählkosmos eingebettet ist. 673 Auch gibt es einen klar definierten dramatischen Konflikt. Dieser wird durch die Aufhebung der linearen Zeitabfolge der Szenen keineswegs gefährdet, sondern vielmehr auf der Bildebene verankert: Denn der Umgang mit Zeit ist das zentrale Thema des Stückes. Dies hebt auch die Stückankündigung des Bayerischen Schauspielhauses aus dem Jahr 2005 hervor, in der folgende Frage aufgeworfen wird: Im Augenblick der Erfüllung erscheint den Liebenden die Ewigkeit, doch was macht die Zeit mit uns und unseren Glücksansprüchen? 674 Inhalt und Form bilden in Schimmelpfennigs Rachedrama eine Sinneinheit. Der spielerische Umgang mit der Zeit verstärkt das dramatische Potential des Stückes, anstatt es in postdramatischer Manier vollständig aufzulösen. Ein prägnantes Beispiel für Schimmelpfennigs spielerischen Umgang mit der Zeit findet sich auch in „Push Up 1-3“, wo Schimmelpfennig sich der dem Film entlehnten Montagetechnik bedient. 675 Durch Umstellungen in der raum-zeitlichen Kontinuität wird die Sukzession der dramatischen Handlung aufgehalten. Ein Verfahren, das Tom Mustroph wie folgt beschreibt: Der Dialog der eigentlichen Handlung wird immer wieder von probzw. retrospektiven monologischen Passagen unterbrochen. So entstehen Zeitsprünge und Zeitschleifen. 676 So reflektiert die Figur Angelika bereits in Szene 1.2 monologisch ihren Kontrollverlust, 677 der sich aber erst in Szene 1.7 szenisch ereignet, wie die dortige Nebentextanweisung verrät: Sie schüttet ihr die Tasse Kaffee ins Gesicht. 678 Mit solchen Vorwegnahmen von Ereignissen gelingt es Schimmelpfennig, Spannung auf den Gang der Handlung zu erzeugen. Leser und Zuschauer 672 Pfister 2001, S. 108. 673 Vgl. Lehmann 1999, S. 330. 674 Andrea Vilter: Love you forever and forever … In: Programmheft des Bayerischen Staatsschauspiels, „Die Frau von früher“, Premiere 12. März 2005. 675 Zur Funktionsweise der Montagetechnik siehe: Pfister 2001, S. 108-109. Vgl. Sollich, Robert: Montage. In: Metzler Lexikon. Theatertheorie, S. 208-209. 676 Mustroph: Der Vielseitige. In: Müller, Weiler (Hgg.) 2001, S. 136. 677 PU, S. 348: „ANGELIKA Ihr den Kaffee ins Gesicht zu schütten war eine Entgleisung. Ein Kontrollverlust. Aber sie hatte es nicht anders verdient.“ 678 PU, S. 360. <?page no="159"?> 159 werden dazu veranlasst, sich zu fragen, womit es Sabine verdient hat, den Kaffee ins Gesicht zu bekommen. Die Umkehrung der Zeit, die Schimmelpfennig, wie oben bereits angemerkt, für einen der größten Zauber von Theater hält, 679 kann folglich auch eine spannungssteigernde Wirkung haben. Außer Kraft gesetzt wird die zeitliche Progression auch in „Vor langer Zeit im Mai“: Eine stark redundante, zyklische Zeitstruktur ersetzt die präzipitierende finale Bewegung des klassischen, geschlossenen Dramas. Verstärkt wird die Auflösung der Zeit durch den Einsatz des Mittels der Repetition. Handlungsabläufe und bruchstückhafte Dialoge werden mehrfach wiederholt, ohne dass ein Zusammenhang zwischen ihnen erkennbar wäre. Das Stück folgt einer zyklischen Bewegung der Wiederkehr. Fabel und Bedeutung werden mithilfe der Wiederholungen destrukturiert, mehr noch dekonstruiert. 680 Der Eindruck der „Kristallisierung von Zeit“ 681 wird zusätzlich verstärkt durch die Reduktion zeitlicher Angaben im Nebentext auf vage Zeitadverbien wie „dann“, „später“, „danach“, welche die Auftritte und Bewegungsabläufe der nachfolgenden Szene gliedern, jedoch nichts über die Chronologie der Ereignisse auf der fiktiven Ebene verraten. Auch den Repliken der Figuren lassen sich keine klaren Anhaltspunkte zum Zeitpunkt des fiktiven Geschehens entnehmen. Obwohl die Figuren immer wieder Bezug auf eine lang vergangene Zeit im Mai nehmen, ist der Rezipient nicht in der Lage die Abfolge der damaligen Ereignisse zu rekonstruieren. Die Angaben der Figuren bleiben rätselhaft und vage. Der einzige Hinweis auf die Chronologie der Ereignisse findet sich in einem Lied, das den Titel des Stückes aufnimmt und von einer lang vergangenen Zeit spricht. 682 Das Lied, dessen zentrale Thematik die Vergänglichkeit der Liebe ist, kann als Kommentar zum Stück verstanden werden. Damit kommt ihm die von Brecht propagierte epische Vermittlungsfunktion zu. 683 Doch stellt der Einsatz des Liedes nur eines der Verfahren dar, mittels derer Schimmelpfennig die Einheit der fiktiven Zeit durchbricht. Das in „Die arabische Nacht“ ansatzweise verwirklichte Prinzip der offenen Prozessualität findet in „Vor langer Zeit im Mai“ zu seiner Vervollkommnung. Es 679 Vgl. das Schimmelpfennig-Zitat auf S. 137 dieser Arbeit. 680 Das Verfahren der Destrukturierung und Dekonstruktion durch den gezielten Einsatz von Wiederholungen ist nach Meinung Hans-Thies Lehmanns absolut charakteristisch für das postdramatische Theater. In: Lehmann 1999, S. 334-337. 681 Lehmann 1999, S. 335. 682 VLZM, S. 141. 683 Bertolt Brecht: Die Gesänge. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9. Frankfurt/ M. 1967, S. 795: „Die Schauspieler/ Verwandeln sich in Sänger. In anderer Haltung/ Wenden sie sich an das Publikum, immer noch/ Die Figuren des Stücks, aber nun auch offen/ Die Mitwisser des Stückeschreibers.“ <?page no="160"?> 160 lassen sich weder Anfang, Mitte noch Ende ausmachen. Das Geschehen auf der Bühne gleicht einem beständigen Kreisen. Der repetitive Rhythmus, der die Szenen organisiert, ersetzt eine finale Handlungsstruktur. Im Vordergrund steht nicht der Nachvollzug einer zeitlich strukturierten Handlung, sondern vielmehr die Teilnahme an der zeitlichen Erfahrung, die das Bühnengeschehen durch repetitive Vorgänge vermittelt. Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Erfahrung einer globalen Theaterzeit“, die durch die Eingliederung inhaltlicher Restnarrationen in einen szenischen Rhythmus erzielt werde. 684 Eine solche Dominantsetzung des Rhythmus über die Geschichte findet sich auch in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“, das aus einer Vielzahl zusammenhangloser Dialoge gebaut ist, die um Themen wie Kindheitserinnerungen, vergangenes Liebesglück, Sehnsüchte, Alltagssorgen sowie berufliche und private Zukunft kreisen und scheinbar belanglos vor sich hinplätschern. Die folgende Passage erscheint wie ein versteckter Hinweis des Autors, mit dem er den rätselhaften Charakter der Dialoge erklärt und dem Rezipienten gewissermaßen den Schlüssel zum Stück überreicht: Der Dialog ist längst nicht nur eine Form des sprachlichen Ausdrucks. Das ist er auch nie gewesen. Und warum sollen wir länger Gefühle und Gedanken trennen! 685 Zeitliche Fixierungen sind auf ein Minimum beschränkt. Wie in „Vor langer Zeit im Mai“ ist auch hier von einer zeitlich nicht näher bestimmten Vergangenheit die Rede, einem „damals“ 686 oder einem „früher“ 687 . Durch den permanenten Schauplatzwechsel werden die zusammenhanglosen Szenen verknüpft und ineinander verwoben. Das Ergebnis dieser Collagearbeit erinnert an die Sequenzen eines rätselhaften Traumes, der wirr und unverständlich und zugleich erschreckend real ist. Was die Szenen verbindet, ist nicht so sehr ihr Inhalt, als vielmehr ihr schwebender, der Zeit enthobener Rhythmus. Zu Unterbrechungen der linearen zeitlichen Progression kommt es auch in „Auf der Greifswalder Straße“, „Das Reich der Tiere“ und in „Hier und Jetzt“. Neben repetitiven Strukturen und epischen Passagen 688 sind es hier auch eingeschobene Lieder 689 und lyrische Einlagen, die die dramatische 684 Lehmann 1999, S. 341. 685 KA, S. 118. 686 KA, S. 118, 120, 121. 687 KA, S. 120, 124. 688 Auf den Einsatz epischer Erzählmittel wird in Kapitel 3.3.3, S. 162-181, ausführlich eingegangen. 689 HUJ, Spalte 8, Mitte; GS, Szene 2.1, S. 428-429. <?page no="161"?> 161 Zeit vorübergehend außer Kraft setzen. 690 Die Einheit der Zeit fällt der Zersplitterung der Handlung in zahlreiche Kurzszenen bzw. in verschiedene Erzählstränge zum Opfer. Am deutlichsten zeigt sich die Fragmentierung der Zeit jedoch in „Ende und Anfang“, wo Schimmelpfennig eine Vielzahl an Szenenfragmenten ohne erkennbare logische Ordnung aneinanderreiht. Zwar lassen sich die Szenen fünf Handlungssträngen zuordnen, 691 von denen ein Teil eine interne zeitliche Fixierung aufweist, doch entbehrt die Aneinanderreihung der Bruchstücke jeglicher Chronologie. Bereits die Gattungsbezeichnung „Dramatisches Gedicht“, mit der Schimmelpfennig seinen Theatertext untertitelt, lässt auf die Zeitenthobenheit der Szenen schließen. Dieser Bruch mit der Tradition einer linear fortschreitenden dramatischen Zeit bedeutet jedoch nicht die Aufhebung der fiktionalen Zeit an sich. Die ikonische Funktion des Zeit und Raum umfassenden Bühnengeschehens bleibt erhalten. Auch in „Ende und Anfang“ handelt es sich um ein fiktionales Geschehen, das in einem fiktionalen Raum und in einer fiktionalen Zeit situiert ist. 692 In „Die arabische Nacht“ bedient sich Schimmelpfennig des Traumes, um ein Fortschreiten der fiktiven Zeit zu verhindern. Durch eingeschobene Traum- und Erinnerungssequenzen wird die zeitliche Sukzession komplett aufgehoben. Die zeitzersetzende Macht des Traumes konstatiert schon Michail Bachtin. In seinen Ausführungen zum Abenteuerroman schreibt er dem Traum eine formbildende Funktion zu, da er die zeitliche Perspektive eines Textes verzerre und eine Deformation der Zeit bewirke. Gleiches gilt für Schimmelpfennigs Tausendundeine-Nacht-Stück: Elementare zeitliche (und räumliche! ) Relationen und Perspektiven werden außer Kraft gesetzt. Sie fallen einem subjektiven Spiel mit der Zeit zum Opfer, das Zeit anhält, sie zurückdreht oder gar gänzlich vergessen macht. 693 Auch Bachelard beschreibt die zeitzersetzende Macht des Traumes, die alle Daten tilgt und den Träumenden in einen scheinbar zeitlosen schwebenden Zustand versetzt: Ainsi les songes descendent parfois si profondément dans un passé indéfini, dans un passé débarrassé de ses dates, que les souvenirs nets de la maison natale paraissent se détacher de nous. Ces songes étonnent notre rêverie. Nous en arrivons à douter d’avoir vécu où nous avons vécu. Notre passé est dans un 690 GS, Szene 2.1, S. 428; Szene 2.10, S. 438-439.; Szene 3.1, S. 446; Szene 4.1, S. 461-462. 691 So gibt es die Szenen, die um die Mitarbeiter des Tierlabors kreisen, die Szenen, die sich der Mutter und ihrer sterbenden Tochter widmen, die Szenen zwischen Dorothea und ihrem Professor, die Szenen der Imbissbudenstammgäste und die des Vogelmannes. 692 Vgl. Poschmann 1997, S. 48. 693 Vgl. Bachtin 2008, S. 83. <?page no="162"?> 162 ailleurs et une irréalité imprègne les lieux et les temps. Il semble qu’on séjourne dans les limbes de l’être. 694 Die Welt des Traumes trägt das Merkmal einer Unendlichkeit, wie Bachelard an späterer Stelle seiner Ausführungen erklärt: […] la rêverie met le rêveur en dehors du monde prochain, devant un monde qui porte le signe d’un infini. 695 Ein solcher subjektiver Umgang mit der Zeit, der die Zersetzung der Zeit zum Ziel hat, findet sich schon im absurden Theater bei Beckett, und auch im Theater Heiner Müllers, weshalb Lehmann sie zu Wegbereitern 696 der postdramatischen Zeitästhetik macht: In Müllers wie in Becketts Text vollzieht sich ein Zerfall der Zeiteinheit und Kontinuität. […] Vision, Traum, Erinnerung, Hoffnung und »reales« Jetzt lassen sich nicht trennen. 697 Im Unterschied zu Beckett und Müller setzt Schimmelpfennig die zeitlichen Gesetze der Wirklichkeit in seinen Theatertexten jedoch meist nur vorübergehend außer Kraft. Auch wenn Vision, Traum, Erinnerung, Hoffnung und reales Jetzt in Stücken wie „Die arabische Nacht“ zu untrennbaren Einheiten verschmelzen und die Entstehung von Parallelwelten herbeiführen, so handelt es sich bei dieser Verschmelzung doch immer um eine zeitlich begrenzte Symbiose. Am Ende der Stücke werden die Figuren von der Realität eingeholt und müssen sich einer schonungslosen Jetzt-Zeit stellen. 3.3.3. Epische Erzählmittel und das Spiel im Spiel Nachdem unter Gliederungspunkt 3.3.1 bereits auf epische Tendenzen in Schimmelpfennigs Theatertexten hingewiesen wurde, sollen die Techniken epischer Kommunikation nun einer genaueren Betrachtung unterzogen 694 Bachelard 1957, S. 66. Dt. Übersetzung: „So steigen die Träume manchmal tief in eine unbestimmte Vergangenheit hinab, in eine von ihren Daten befreite Vergangenheit, so daß die klaren Erinnerungen unseres Elternhauses sich von uns abzulösen scheinen. Diese Träume sind erstaunlich für unsere Träumerei. Wir beginnen zu zweifeln, ob wir je dort gelebt haben, wo wir gelebt haben. Unsere Vergangenheit ist in einem Anderswo, und eine Unwirklichkeit durchtränkt die Orte und die Zeiten. Es scheint, als halte man sich in den Vorhöfen des Seins auf.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 76. 695 Bachelard 1957, S. 168. Dt. Übersetzung: „[…] die Träumerei löst den Träumer aus seiner nächsten Umgebung heraus und versetzt ihn in eine andere Welt, die das Merkmal einer Unendlichkeit trägt.“ Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 186. 696 Vgl. Lehman 1999, S. 324. 697 Ebd., S. 326. <?page no="163"?> 163 werden. 698 Dabei wird der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Formen der Episierung liegen, die zum Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems führen; denn durch die Etablierung eines solchen Kommunikationssystems kommt es automatisch zu einer Unterbrechung der zeitlichen Sukzession. Wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen, bedient Schimmelpfennig sich des gesamten Repertoires an Episierungstechniken, zu denen die Etablierung von spielexternen und spielinternen Erzählerinstanzen, die Integration informativer Exkurse, chorischer Passagen und Lieder sowie die Montage von Märchen und Gedichten gehören. Damit scheint sich Andrzej Wirths Feststellung aus dem Jahr 1980 zur Wirkung und Rezeption von Brechts Theorie des epischen Theaters auch heute, gut 30 Jahre später, noch zu bewahrheiten. In seinem viel zitierten Artikel „Vom Dialog zum Diskurs“ konstatiert Wirth, die von Brecht bereitgestellten epischen Verfahren der Montage, Demonstration und Erläuterung hätten im heutigen Theater einen zentralen Stellenwert eingenommen und seien zudem noch radikalisiert worden: Die sich abzeichnende „Modellhaftigkeit“ des Theaters ist radikal episch. Und es scheint nur so, daß die Bühnenfiguren in diesem dialoglosen Theater sprechen. Es wäre richtiger, zu sagen, daß sie von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen werden oder daß das Publikum ihnen seine innere Stimme verleiht. 699 Wie sehr diese Aussage auf Schimmelpfennnigs Theater zutrifft, zeigen die folgenden Ausführungen zum Einsatz epischer Erzählmittel in seinen Stücken. Zunächst sei ein Blick auf den Einsatz spielexterner und -interner Erzählerfiguren geworfen. Als Beispiel für den Einsatz einer spielinternen Kommentatorfigur bietet sich Schimmelpfennigs Rachedrama „Die Frau von früher“ an. In fünf der achtundzwanzig Szenen ersetzt der epische Bericht der Figur Tina die Darstellung. Da der Bericht auf der inneren Spielebene adressatenlos bleibt, richtet er sich folglich an das Publikum des äußeren Kommunikationssystems. Es kommt somit zum Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems und zur Aufhebung der Absolutheit des Theatertextes: Der Zuschauer wird nicht, wie im dramatischen Theater üblich, direkt mit dem Dargestellten konfrontiert, sondern das Geschehen wird ihm in subjektivierter, perspektivisch verengter Form und damit in cineastischer Manier präsentiert, wie Manfred Pfister ausführt: Der Betrachter eines Filmes wie der Leser eines narrativen Textes wird nicht, wie im Drama, mit dem Dargestellten unmittelbar konfrontiert, sondern über 698 Die Vielzahl an epischen Erzählformen, die bei Schimmelpfennig zum Einsatz kommen, und ihr hoher Stellenwert machen eine detaillierte Betrachtung notwendig. Aus diesem Grund ist dieses Kapitel deutlich umfangreicher als seine Nachbarkapitel. 699 Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. In: Theater heute 01/ 1980, S. 16-19, 16. <?page no="164"?> 164 eine perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz - die Kamera bzw. den Erzähler. 700 Indem Schimmelpfennig Techniken wie Rückblende, Montage und Schnitt vom Film übernimmt, geht er auf die Zuschauergewohnheiten eines von der Filmästhetik geprägten Publikums ein. Im Unterschied zum Film ist es bei Schimmelpfennig jedoch nicht die Kamera, die den Blick des Betrachters lenkt, sondern eine ins Stück integrierte Erzählerfigur, „ein Mittler“ wie Stanzel ihn nennt: Wo eine Nachricht übermittelt wird, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme des Erzählers hörbar. 701 Die Sukzession der fiktiven Zeit in „Die Frau von früher“ wird somit nicht nur durch die unter 3.3.2 thematisierte Dekonstruktion der chronologischen Szenenabfolge außer Kraft gesetzt, sondern auch durch den epischen Kommentar einer spielinternen Figur. 702 Das Auftauchen einer solchen narrativen Instanz, die eine Geschichte erzählt, stellt für Eike Muny eine der Grundbedingungen epischer Texte dar. In seiner 2008 erschienen Arbeit „Erzählperspektive im Drama“ weist Muny die Bedeutung narrativer Verfahren für das Drama nach und plädiert für eine Aufhebung der kategorialen Trennung von Dramatik und Epik. 703 Denn, so Muny: Dramen erzählen also Geschichten und erzeugen eine Kommunikationsebene erzählerischer Vermittlung. […] Im Grunde verfügt der dramatische Erzähler über die gleichen Möglichkeiten der narrativen Gestaltung, die auch der Stimme epischer Texte zukommen. 704 Es scheint somit durchaus gerechtfertigt, bei einem Theatertext wie „Die Frau von früher“ von narrativen Strukturen zu sprechen. Die Figur Tina übernimmt die klassischen Aufgaben eines Erzählers, die nach Ansgar Nünning „die Konstituierung der lokalen, temporalen und personalen Deixis der Ebene der Figuren sowie die Schilderung der Ereignisse der erzählten Welt“ 705 umfassen. Tinas erster Bericht macht dies überdeutlich: 700 Pfister 2001, S. 48. 701 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979, S. 15. 702 Pfister 2001, S. 363-364.: „Der epische Kommentar einer spielexternen oder spielinternen Figur […] verbraucht zwar reale Spielzeit, hebt aber die Sukzession auf der Ebene der fiktiven Zeit auf.“ 703 Eike Muny: Erzählperspektive im Drama. Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie. München 2008, S. 11. Vgl. Brian Richardson: Point of View in Drama: Diegetic Monologue, Unreliable Narrators, and the Auhor’s Voice on Stage. In: Comparative Drama, Bd. 22.3. New York 1988, S. 193-214, 194. 704 Muny 2008, S. 188. 705 Ansgar Nünning: Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählverhaltens. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 30, Würzburg 1997, S. 323-349. <?page no="165"?> 165 TINA Andi und ich, ein warmer Abend, unser letzter, die Herbstsonne steht schon tief […] wir sitzen oben auf der Böschung, wie immer, wie so oft, und sehen eine Frau in einem Regenmantel, die kommt und am Haus klingelt. 706 Hier werden durch die Erzählerfigur nicht nur die Handlungsträger eingeführt, sondern auch Ort und Zeit erfahren eine Konkretisierung. Die Handlung ist klar situiert, sie spielt an einem sonnigen Herbstabend oben auf einer Böschung. Da Tina sowohl Erzähler als auch Handlungsfigur des Erzählten ist, handelt es sich bei ihrem Bericht um den eines Ich-Erzählers. Die Erzählsituation der Szene lässt sich mit Gérard Genette als homodiegetisch 707 beschreiben, da die narrative Instanz, hier die Figur Tina, an der erzählten Welt teilhat. Durch das berichtende Erzählen der Erzählerfigur erhält der Rezipient (Zuschauer oder Leser) Einblick in das Figurenbewusstsein. Tinas Bericht enthält Innensichten, die dem Rezipienten ohne den Einsatz der narrativen Instanz verborgen blieben. Ein Beispiel für eine solche von der Erzählerfigur gegebene Innensicht stellt die folgende Textstelle dar: TINA Er hat gesagt, wir sehen uns nicht wieder. Er hat gesagt, er liebt mich, aber wir sehen uns nie wieder […] Und dann verschwindet er im Haus. Und ich - ich denke, er wird gleich wiederkommen. Er hat es zwar gesagt - dass wir uns nie mehr wiedersehen, aber was soll er da, jetzt, in der Wohnung. In der er keinen Platz hat. 708 Der Erzähler steht als Handelnder mitten im Geschehen, was zu einer nahezu vollständigen Aufhebung der epischen Distanz führt. Diese wird darüber hinaus auch durch die Wahl des Präsens als Erzähltempus reduziert. Wie auch in „Die arabische Nacht“ und „Der goldene Drache“ fallen der Vorgang des Erzählens und das Erzählte zusammen. 709 Mit ihrem Bericht präsentiert Tina zeitdeckend ihre Gedanken und Wahrnehmungen. Es dominiert die simultane Ebene. Trotz der Gleichzeitigkeit von Erzählen und Erzähltem bleibt jedoch ein Rest der epischen Distanz erhalten, denn 706 FF, S. 647. 707 Mit dem Begriffspaar homodiegetisch/ heterodiegetisch sucht Genette die Beziehung des Erzählers zur Geschichte zu erfassen. Siehe: Gérard Genette: Diskurs der Erzählung. In: ders.: Die Erzählung. Aus dem Frz. von Andreas Knop. Hg. von Jochen Vogt. 2. Aufl. München 1998, S. 174ff. 708 FF, S. 667. 709 AN, S. 307: „LOMEIER Sie läßt den Schlüssel fallen - besser als die Tüten. FATIMA Der Schlüssel fällt mir runter, aber mit dem Ellbogen komme ich an die Klingel.“ GD, Szene 19: „DER MANN Der Alte setzt die Zange an. DER MANN ÜBER SECHZIG Ich setze die Zange an […]“ <?page no="166"?> 166 Tina beschreibt die Situation bei aller Involviertheit wie ein externer Beobachter. Der folgende Textauszug veranschaulicht den Wechsel zwischen emotional stark gefärbten Erzählpassagen und nüchternem Tatsachenbericht: TINA Ich kann nicht weg - weg von dort, ich kann nicht weg. Kurze Pause. Ich kann den Ort nicht verlassen, wo Andi sein muß und nicht ist. Wo soll er hin sein? Er muß dort sein und ist nicht dort. Ich laufe ängstlich vor und zurück, ich warte oben auf der Böschung, wo wir uns immer trafen, wo wir - Kurze Pause. - wo wir die Steine warfen, ich sitze da, allein, ich werfe sogar Steine, ins Nichts, weil niemand kommt und niemand geht, außer einmal Andis Mutter, die ins Haus geht, und dann laufe ich wieder rum, vor und zurück, hin und her, schließlich laufe ich um das Haus herum, von hinten, hinter dem Haus, kann man in das Schlafzimmer von Andis Eltern sehen, da ist die Schrankwand und das große Bett, und dann stolpert plötzlich Claudia, Andis Mutter, in das Zimmer, verwundert oder sogar verwirrt, in ihren Händen hält sie eine Plastiktüte, es kommt mir vor, als hätte ich die Tüte schon einmal gesehen. Kurze Pause. Noch steht sie in der Tür, unschlüssig, zweifelnd, dann erst geht sie ins Zimmer, hält die Tüte, sie versteht etwas nicht, das kann ich sehen. 710 Die Tina zugewiesene Vermittlungsfunktion wird hier überdeutlich. Der Blick des Rezipienten wird kameraartig gelenkt: Der Rezipient sieht das Geschehen durch Tinas Augen. Die zahlreichen Wiederholungen vor allem zu Beginn des Auszugs, die Fragen und das mehrfache Innehalten verdeutlichen ihre emotionale Ergriffenheit. Das selbstreflexive Erzählen der Figur Tina ruft das Theater von Richard Foreman in Erinnerung. Es ist ein nach innen gewandtes Erzählen, das eher selbst erklärend als mitteilend wirkt. Das Selbstgespräch scheint somit auch für Schimmelpfennig eine der letzten Möglichkeiten zu sein, um Wirklichkeit zu dramatisieren. 711 Wie die nachfolgende Textstelle belegt, gibt Tina dem Rezipienten aber nicht nur Einblick in ihr eigenes Innenleben, sondern klärt ihn auch über Andis Empfindungen auf, indem sie im Plural und damit in seinem Namen spricht: 710 FF, S. 684-685. 711 Vgl. die Ausführungen von Andrzej Wirth zu der Erzählerfunktion bei Foreman. Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. In: Theater heute 01/ 1980, S. 18. Zu den Parallelen zwischen Schimmelpfennigs Dramaturgie und dem Theater von Richard Foreman siehe auch S. 307 dieser Arbeit. <?page no="167"?> 167 TINA […] wir wollen nicht nach Hause - wir können uns nicht trennen, aber morgen zieht er mit seinen Eltern weg von hier, weit weg. Wir lieben uns. Er ist mein Freund, mein erster Freund. Ich will nicht, dass er wegzieht […] wir sitzen vor der Böschung vor dem Haus und wissen nicht, was wir sagen sollen. 712 Neben dem homodiegetischen Ich-Erzähler Tina taucht im Dramentext noch ein weiterer Erzähler auf. Es handelt sich um einen spielexternen heterodiegetischen Erzähler, der in den Nebentexten zu Wort kommt. Die Bedeutung dieses heterodiegetischen Erzählers, der nicht in die Handlung involviert ist, sondern außerhalb der erzählten Welt steht, soll anhand eines Textbeispiels veranschaulicht werden: Etwa zehn Stunden später. Der Sohn und die Frau. Kurz nachdem sie in sein Zimmer verschwunden sind, kommen sie wieder heraus. Sie küssen sich, er lacht und versucht weiter sie zu küssen, während sie, ihn weiterküssend, versucht, die Plastiktüte über seinen Kopf zu ziehen. Sie verschwinden wieder in sein Zimmer. Sie erscheinen ein weiteres Mal, dieses Mal hat sie ihm die Tüte bereits über die Augen gezogen, während sie sich küssen, er versucht sich halb zu befreien, auch wenn er noch nicht begreifen will, was passiert. Sie verschwinden wieder in sein Zimmer. Beim nächsten Auftritt versucht er sich zu befreien, aber es gelingt ihm nicht, sie hat die Tüte über seinen Kopf gezogen. Er greift ins Leere. Er bekommt keine Luft. Er wird sterben. 713 Wie das Beispiel verdeutlicht, nimmt der heterodiegetische Erzähler für die Bestimmung der Chronologie der Handlung eine essentielle Rolle ein, da er die einzelnen Handlungssplitter zeitlich einordnet und somit eine Rekonstruktion der chronologischen Ordnung ermöglicht. Indem er im Präsens erzählt und die erzählte Handlung kameraperspektivisch darbietet, erweckt er den Anschein unmittelbarer Absolutheit 714 , die jedoch nur scheinbar gegeben ist. Durch das zu Wort Melden des Erzählers wird auf die Existenz einer vermittelnden Kommunikationsebene aufmerksam gemacht. Mit dem Vorhandensein einer solchen vermittelnden Kommunikationsebene, auf der die Dramenhandlung präsentiert wird, liegt nach Stanzels Definition eine Erzählung vor. 715 Der implizite dramatische Erzähler, der sich gewöhnlich „im Gegensatz zu seinem epischen Pendant als apersonal und namentlich unbekannt“ 716 erweist, gewinnt hier an Explizitheit. Indem der Erzähler des Nebentextes zukünftiges Geschehen ankündigt - „Er wird 712 FF, S. 647. 713 FF, S. 669. 714 Zur Absolutheit dramatischer Texte vgl.: Pfister 2001, S. 22. Pfister erhebt das Kriterium der Absolutheit, d.h. das Fehlen eines vermittelnden Kommunikationssystems, zum entscheidenden Charakteristikum dramatischer Texte und macht es damit zum Unterscheidungsmerkmal von epischen und dramatischen Texten. 715 Stanzel 1979, S. 15. 716 Muny 2008, S. 70-71. <?page no="168"?> 168 sterben.“ - weist er sich als allwissender auktorialer Erzähler aus. 717 Durch seine vorausdeutenden Kommentare gibt sich der Erzähler als solcher zu erkennen. Die Ebene der Vermittlung bleibt hier somit nicht verborgen, sondern wird in romantypischer Manier ausgestaltet. 718 Auch dem Einwand, der Nebentext enthalte lediglich Regieanweisungen und dürfe daher nicht als eigenständiger epischer Text verstanden werden, muss mit Gerhard Tschauder widersprochen werden. Tschauder lehnt es vehement ab, die deskriptiven Aussagen des Nebentextes als indirekte Regieanweisungen zu verstehen, da ein Drama weit mehr Rezipienten umfasse, als nur die Gruppe der Regisseure: Die Adressaten eines Dramas, auch des abgedruckten, sind vielmehr prinzipiell keine anderen als die episch narrativer Texte. Einem solchen Kreis gegenüber macht die Sprechhandlung Regieanweisung gar keinen Sinn, dieser Sinn wäre aber wiederum das entscheidende Argument, um die Indirektheit des Sprechakts zu rechtfertigen. 719 Der oben zitierte Nebentext aus „Die Frau von früher“ besitzt somit keine instruktive, sondern eine vielmehr deskriptive und damit narrative Form. 720 Auch Schimmelpfennigs Metadrama „Das Reich der Tiere“ weist eine Vielzahl an narrativen Elementen auf, die ein Fortschreiten der dramatischen Zeit verhindern. Alle von Gerhard Tschauder benannten Kategorien von Äußerungsträgern kommen hier zum Einsatz. 721 So stellen die erläuternden Hinweise zu den Figuren im Figurenverzeichnis sowie die ausführlichen Erklärungen zur Kostümierung der Tiere eindeutig Autorenkommentare dar, mit denen dieser Hinweise für eine Überführung des Textes in die Aufführung gibt. Auch die in Szene 2 und 3 auftauchenden Fußnoten zu Phänomenologie und Verhalten von Antilope, Ginsterkatze und Marabu verweisen auf die Präsenz des Autors, der hier aus Brehms Tierleben zitiert und somit einen textexternen Erzähler zu Wort kommen lässt. 722 Die Funktion dieses außerhalb der Handlung stehenden Erzählers beschränkt sich somit auf das äußere Kommunikationssystem. Er verkörpert die absolute Außenperspektive und steht somit auch außerhalb der 717 Zum Begriff des auktorialen Erzählers siehe: Stanzel 1979, S. 16. 718 Vgl. Muny 2008, S. 71. 719 Gerhard Tschauder: Wer „erzählt“ das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 22. Paderborn 1991, S. 50-67, 58. Auch Eike Muny weist daraufhin, „dass der Nebentext in aller Regel gar nicht in instruktiver Form auftritt […] und damit als komplex narrative Rede funktioniert“. In: Muny 2008, S. 69-70. 720 Zur Verwandtschaft von Deskription und Narration vgl. Muny 2008, S. 46. 721 Tschauder 1991, S. 66. 722 RT, S. 94-95. <?page no="169"?> 169 fiktiven Zeit, die er zum Aussetzen bringt. 723 Mit sachlichen Informationen zum Artverhalten von Antilope, Ginsterkatze und Marabu bedient er die Vorstellungskraft von Leser und Regisseur und hat folglich nur eine informierende, aber keine kommentierende oder wertende Funktion. Doch Schimmelpfennig beschränkt sich in der Nutzung narrativer Erzähltechniken nicht auf die oben beschriebenen außenperspektivischen Kommentare. In den Nebentexten, die die einzelnen Szenen des Stückes einleiten, taucht eine Erzählinstanz auf, die zwischen innen- und außenperspektivischer Sichtweise wechselt und das Geschehen zu dirigieren scheint. Neben der bloßen Benennung der auftretenden Personen, der Vergabe von Informationen zu Ort, Zeit und Handlungsabläufen sowie von Vorschlägen für Bühnenarrangements finden sich auch wertende Kommentare und Vorausdeutungen, die den hier zu Wort kommenden Erzähler als allwissenden ausweisen und für das Vorliegen einer auktorialen Erzählsituation sprächen. 724 Die Allwissenheit des Erzählers soll anhand eines Textbeispiels veranschaulicht werden, in dem der Erzähler nicht nur das unmittelbare Bühnengeschehen kommentiert, sondern auch Vorausdeutungen vornimmt und Rückbezüge auf Vergangenes herstellt: Zwei Schauspieler in ihrer Garderobe, Peter und Frankie. Beide sind Mitte bis Ende Dreißig. Frankie ist der Ältere. Sie sind gerade erst [unentwegte Anwesenheit des Erzählers] hereingekommen, sie tragen noch ihre eigenen Sachen. Frankie hat eine große Sporttasche dabei, die später von Bedeutung sein wird [Vorausdeutung]. Sie ziehen sich aus. Jetzt [unentwegte Anwesenheit, Beobachter des Zeremoniells] verwandeln sie sich allmählich in Tiere: Sie schminken sich, sie bemalen ihre Körper, sie bekleben sich mit Haaren oder Federn oder Fellstücken. Peter wird am Ende der Szene zu einem Löwen geworden sein, Frankie zu einem Zebra [Vorwegnahme zukünftigen Geschehens]. Die beiden folgen einer lang erprobten Folge von bedachten, sicheren Handgriffen [Bezugnahme auf die Vergangenheit]. Die Qualität und Originalität beider (und aller folgenden) Tier-Kostümentwürfe bei gleichzeitiger Einfachheit sind bestechend [wertender Kommentar]. 725 Wie der Auszug veranschaulicht, bleibt der Erzähler des Nebentextes keineswegs latent und unbemerkt, sondern er schafft sich durch seine Beobachtungen und Kommentare eine eigene Identität. Auch wenn er seinen Namen nicht preisgibt und folglich unbenannt bleibt, ist seine permanente Anwesenheit deutlich zu spüren. Durch die Vergabe von Zusatzinformationen, wie beispielsweise die Angabe der Namen und des Alters der Akteure, stellt der Erzähler seine Allwissenheit unter Beweis. Seinen Wissensvorsprung verdeutlicht er darüber hinaus, indem er zukünftiges Geschehen ankündigt oder vorwegnimmt („eine große Sporttasche, die 723 Vgl. Tschauder 1991, S. 66. 724 Vgl. Stanzel 1979, S. 170-171. 725 RT, S. 91. Die Erläuterungen in den eckigen Klammern dienen der Veranschaulichung der These und sind von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit hinzugefügt. <?page no="170"?> 170 später von Bedeutung sein wird“) und das beobachtete Geschehen in Beziehung zur Vergangenheit setzt („lang erprobten Folge von bedachten, sicheren Handgriffen“). Mittels des Einsatzes von Zeitadverbien wie „gerade erst“ und „jetzt“ macht er nicht nur auf seine eigene unentwegte Anwesenheit aufmerksam, sondern immunisiert sich gleichzeitig gegen eine Abwertung seiner Rede als bloße Regieanweisung. Die Omnipräsenz des Erzählers findet auch darin ihren Ausdruck, dass er nicht nur zu Beginn der Szenen zu Wort kommt. Vermehrt werden Dialog- und Monologpassagen durch erläuternde Nebentextpassagen unterbrochen, in denen der Erzähler seine Allwissenheit unter Beweis stellt, indem er nicht nur die den Sprechakt begleitenden Handlungen beschreibt, sondern auch Einblick in das Gefühlsleben der Figuren gibt. In Szene 2 des ersten Aktes wird dem Rezipienten die permanente stille und beobachtende Anwesenheit des Erzählers durch einen wertenden Erzählerkommentar erneut ins Bewusstsein gehoben. 726 Der Erzähler kann seine Begeisterung für die Bewegungsabläufe der Antilope nicht verbergen und setzt den Rezipienten mit Pathos davon in Kenntnis: Großartig, wie sie sich bewegt, wie sie auf hohen Schuhen einen Fuß vor den anderen setzt; und stolz, kraftvoll, wie sie dasteht, einfach nur still lange dasteht. 727 Die Tatsache, dass die hier zu Wort kommende Erzählinstanz die fiktive Welt der Tiere als real beschreibt, spricht für ihre Zugehörigkeit zur Ebene der Fiktion und folglich gegen eine Charakterisierung der Erzählsituation als auktorial. Mit den Worten Gerhard Tschauders gesprochen handelt es sich in diesem Fall um einen fiktiven Protokollanten mit innenperspektivischer Sichtweise, da er die Ereignisse auf der Bühne als Fakten präsentiert, anstatt auf ihren fiktiven Charakter zu verweisen. 728 Sicherlich dient die Beschreibung des Bewegungsablaufs der Antilope in erster Linie der Überführung des Textes in die Aufführung und ist somit an den Regisseur adressiert. Für eine reine Regieanweisung fehlt es der Äußerung jedoch an nüchterner Sachlichkeit, sie ist eindeutig zu subjektiv und gleicht in ihrer Emotionalität vielmehr einer spontanen Figurenäußerung. Dies spräche wiederum dafür, den Erzählertext nicht als reine Regieanweisung zu verstehen, sondern als Rede einer das Geschehen beobachtenden Erzählerfigur. Die Anfangsszene liefert zahlreiche Beispiele für Interventionen und Kommentare des Erzählers und führt die enge Verflechtung von Haupt- und Nebentext vor Augen: 726 Auch in BV meldet sich der Erzähler unvermittelt zu Wort, um einen wertenden Kommentar zur Szene abzugeben: Vgl. BV, S. 11: „PETER Ja - Pause. Sonderbar, wie er dasteht in seinem gebrauchten Wintermantel aus einer anderen Zeit. Der junge Mann ist gelenkig, schlaksig und gleichzeitig fest. Unbeweglich. Hart.“ 727 RT, S. 94. 728 Tschauder 1991, S. 59. <?page no="171"?> 171 PETER ebenso perplex wie gereizt, angewidert Das Spiegelei - ein Spiegelei? FRANKIE Spiegelei - ein Spiegelei. Pause PETER fragend, angewidert Oder eine Ketchupflasche? Pause PETER Ketchup. Was soll das - Ein Spiegelei und eine Ketchupflasche - Kurze Pause. Er setzt neu an. Ein Toastbrot - Kurze Pause. […] FRANKIE plötzlich Du denkst an nichts anderes. Mach dir nichts vor, du denkst an nichts anderes. Beide fahren während der gesamten Zeit fort, sich zu verwandeln. Manchmal können deshalb längere Unterbrechungen des Streits entstehen - wenn bestimmte Handgriffe zu viel Konzentration erfordern, um die Auseinandersetzung mit der angemessenen Härte weiterführen zu können. Die Szene dauert in jedem Fall so lange wie es dauert, bis sich beide ohne Hilfe von außen in ein Zebra und einen Löwen verwandelt haben. 729 Der Szenenauszug verdeutlicht die dirigierende Rolle des Erzählers, der hier nicht nur Sprechpausen vorgibt, sondern auch Intonation und Sprechgeschwindigkeit festlegt. Indem der Erzähler Einblick in die Gemütslage der Figuren gibt, präsentiert er sich hier im Unterschied zu oben zitierter Textstelle als ein außerhalb der erzählten Welt stehender heterodiegetischer Erzähler. Es bleibt somit letztlich dem Regisseur überlassen, ob er für die Präsentation des Nebentextes einen Erzähler einsetzt, der das Geschehen in der erzählten Welt kommentiert, ohne selbst an ihr teilzuhaben oder ob er den Nebentext eben doch als bloße Regieanweisung eines heterodiegetischen Erzählers versteht und ihm folglich keinen Platz in der Aufführung einräumt. Aufgrund seiner ausgeprägten Monologstruktur weist der Theatertext neben den genannten heterodiegetischen Erzählern auch mehrere homodiegetische Ich-Erzähler auf. So wird mit Ausnahme des Regisseurs Chris, der eine Nebenrolle spielt, jede der fünf Hauptfiguren zum Erzähler. Das Fortschreiten der Handlung und damit der dramatischen Zeit wird folglich immer wieder durch den Einschub von narrativen Monologpassagen unterbrochen, in denen die Figuren über verdeckte Handlungen und Sachverhalte informieren. Es handelt sich um nicht-aktionale informierende Monologe. Da sie oftmals völlig unmotiviert sind und keinen klar auszumachenden Adressaten besitzen, kommt es in ihnen zum Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems. Der Zuschauer fühlt sich direkt angesprochen, da er gezielt in Handlungszusammenhänge eingeführt und 729 RT, S. 91-92. <?page no="172"?> 172 über Sachverhalte informiert wird, die mit der dramatischen Handlung nur indirekt zu tun haben. So wird er beispielsweise vortragsartig über das Artverhalten von Marabu und Antilope aufgeklärt. Neben den rein informierenden Monologen gibt es auch Passagen, die das dramatische Geschehen reflektieren und kommentieren: In Szene 12 sinniert Isabel über das neue Stück „Der Garten der Dinge“, das anstelle von „Im Reich der Tiere“ in den Spielplan aufgenommen werden soll: ISABEL Ein Ei, ein Spiegelei, trotzdem kahl. Ebenso eine Ketchupflasche, eine Pfeffermühle, ein Toast, alle kahl, schweigend sich gegenüberstehend. Sind das Gegenstände, oder sind das Häftlinge? Gefangene? Was ist das, das Schweigen der Welt? Das Frühstücksnichts? Das Aushalten? 730 Indem Isabel zahlreiche Fragen aneinanderreiht, auf die sie keine Antworten zu finden scheint, stellt sie einen Bezug zum Zuschauer her. Da die Szene eines spielinternen Adressaten entbehrt, fühlt der Zuschauer sich dazu aufgefordert, an den Überlegungen der Figur teilzuhaben und Antworten auf ihre Fragen zu finden. Das Fortschreiten der dramatischen Zeit wird jedoch nicht nur durch den Einsatz der beschriebenen epischen Mittel aufgehalten, sondern auch durch das Verlassen der primären Spielebene zugunsten einer in den Theatertext integrierten sekundären Ebene, der Ebene des Spiels im Spiel. Immer wieder wird die primäre Handlung durch die eingeschobenen Szenen des Theaterstücks auf der sekundären Spielebene unterbrochen. 731 Während die Unterbrechungen und Retardierungen des Handlungsfortgangs auf der sekundären Spielebene spannungssteigernd wirken, rufen sie auf der primären einen das Geschehen lähmenden Eindruck hervor. Dies mag zunächst erstaunen, da auf dieser Ebene die dialogischen Passagen überwiegen, die in der Regel Progression und Lebendigkeit versprechen. Auf der sekundären Ebene des Spiels im Spiel ersetzt hingegen der epische Bericht den Dialog. Eine gesonderte Betrachtung der zeitlichen Gestaltung der beiden Spielebenen gibt Aufschluss: Trotz der Dominanz der epischen Erzählweise auf der sekundären Fiktionsebene wird das Sukzessionsprinzip hier strikt befolgt. 732 Die erzählte fabelartige Geschichte aus dem Tierreich besitzt eine eindeutig finale Handlungsstruktur, alle Erzählteile sind auf das Ende ausgerichtet. Durch die Unterbrechungen, die der Wechsel auf die primäre Spielebene herbeiführt, wird die Spannung auf den Ausgang der Geschichte zusätzlich gesteigert. Die Handlung auf der primären Fiktionsebene hingegen entbehrt jeglicher Progression. Hier do- 730 RT, S. 114. 731 RT, S. 99-102, 108-109, 115, 118, 120-121, 130, 140, 146, 155-156. 732 Dies gilt jedoch nicht für die das Drama abschließende Szene. In dieser kommt es auch auf der sekundären Spielebene zum Aussetzen der zeitlichen Progression. <?page no="173"?> 173 miniert das Prinzip der Duration, was sich inhaltlich damit erklären lässt, dass es im Leben der fünf Schauspieler keine Weiterentwicklung gibt. Seit sechs bzw. vier Jahren spielen sie die immer gleichen Rollen, sind der Löwe, das Zebra, der Marabu, die Ginsterkatze und die Antilope. 733 Der beruflichen Stagnation entspricht die statische Zeitstruktur des Theatertextes. Den Eindruck der Statik verstärken monologische Passagen 734 . Nicht nur in „Die Frau von früher“ und „Das Reich der Tiere“ bedient sich Schimmelpfennig monologischer Strukturen, um die zeitliche Sukzession der Handlung außer Kraft zu setzen und dem Theatertext eine narrative Breite zu verleihen. Auch in „Push Up 1-3“ und „Die arabische Nacht“ stört Schimmelpfennig das lineare Fortschreiten der Zeit immer wieder durch eingeschobene Monologe. Folglich eröffnet er beide Theatertexte auch nicht dialogisch, sondern mit zwei langen Monologpassagen. In „Push Up 1-3“ ist es Pförtner Heinrich, der monologisch das Figurenpersonal und den Ort der Handlung vorstellt, in „Die arabische Nacht“, übernimmt Hausmeister Lomeier die monologische Einführung. Aus narratologischer Sicht handelt es sich in beiden Stücken um einen homodiegetischen Ich-Erzähler, der in die Handlung einführt. In „Push Up 1-3“ bilden die Monologe von Heinrich und seiner Kollegin Maria den Rahmen der Dramenhandlung. Monologpassagen, in denen eine der Figuren als homodiegetischer Ich-Erzähler zu Wort kommt, finden sich jedoch nicht nur am Anfang und am Ende von „Push Up 1-3“, sie durchziehen das gesamte Stück und bestimmen folglich dessen zeitliche Struktur. In „Die arabische Nacht“ treibt Schimmelpfennig das Spiel mit dem Einsatz epischer Erzählmittel ins Extreme. Das Geschehen wird hier fast ausschließlich in Form von Beobachtungen geschildert. Zeiteinheit und Kontinuität zerfallen in zahlreiche Beobachtungssplitter: FATIMA Sie ist im Bad. So ist es jeden Abend, vor Sonnenuntergang - sie kommt nach Hause. Sie zieht sich aus, wird müde. Plötzlich kann sie sich an den zurückliegenden Tag nicht mehr erinnern. FRANZISKA Ich stehe im Bad. Neben mir das Waschbecken mit den Zahnbürsten im Plastikbecher. KARPATI Sie trägt nur Unterwäsche. Sie zieht sich aus, dreht sich um und steigt in die Badewanne. Sie dreht das Wasser auf und beginnt zu duschen. 735 Die Monologe und Reflexionen der Figuren über das Observierte verdrängen den Dialog. Aus den agierenden Figuren werden Erzähler. Das Besondere an dieser Art der Episierung ist der dennoch dialogische Charakter 733 RT, S. 122, 134. 734 Monologische Passagen finden sich an den folgenden Stellen des Dramas: RT, S. 94, 105, 110, 114, 116-117, 130, 137. 735 AN, S. 312. <?page no="174"?> 174 der Szenen. Schimmelpfennig versteht es, dieser sachlichen Beschreibung von Ereignissen die Dynamik einer dramatischen Dialogszene zu verleihen und einen Kosmos des Unwirklichen entstehen zu lassen, in dem sich nicht nur die Grenzen der Zeit, sondern auch die des Raumes aufzulösen beginnen. 736 Nicht nur in „Die arabische Nacht“ gelingt es Schimmelpfennig, aus narrativen Beobachtungssplittern dramatische Szenen mit dialogischem Charakter zu bauen. So fallen auch in „Der goldene Drache“ der Vorgang des Erzählens und das Erzählte zusammen, 737 wie der folgende Textauszug aus Szene 20 verdeutlicht: DER MANN Der Alte setzt die Zange an. DER MANN ÜBER SECHZIG Ich setze die Zange an, das ist nicht so leicht, weil der Kleine den Kopf hin und her schmeißt, hin und her, pass auf, sonst haue ich dir aus Versehen noch einen Zahn raus, der in Ordnung ist, aber der Dünne hält den Kleinen, hält ihn fest, noch ein bisschen Schnaps, Der Mann gießt Schnaps in den Mund des Chinesen. 738 Wie schon in „Die arabische Nacht“ nehmen die Figuren abwechselnd die Rolle des Erzählers ein, sie sind somit gleichzeitig Beobachter und Handelnde. Es vollzieht sich ein permanenter Perspektivwechsel, durch den die Szene ihre dramatische Dynamik gewinnt. Neben den permanent wechselnden homodiegetischen Erzählern taucht hier ein heterodiegetischer Erzähler auf, der das Geschehen von außen kommentiert, ohne involviert zu sein. Während Schimmelpfennig die Nebentextangaben in „Die arabische Nacht“ auf den viermal wiederholten Satz „Es klingelt“ und einen das Stück abschließenden Nebentext beschränkt und damit den heterodiegetischen Erzähler kaum zu Wort kommen lässt, ist er in „Der goldene Drache“ in allen Szenen präsent. So besitzt jede der Szenen einen einleitenden Nebentext, der das Personal der Szene benennt und die Existenz einer extradiegetischen 739 Vermittlungsinstanz vor Augen führt, die zwar 736 Mustroph: Der Vielseitige. In: Müller, Weiler (Hgg.) 2001, S. 134. 737 Vgl. AN, S. 307: „LOMEIER Sie läßt den Schlüssel fallen - besser als die Tüten. FATIMA Der Schlüssel fällt mir runter, aber mit dem Ellbogen komme ich an die Klingel.“ 738 GD, Szene 20. 739 Zur Unterscheidung der narrativen Ebenen siehe: Genette 1998, S. 162-165. In Bezug auf das Drama ist unter der extradiegetischen Erzählebene die Ebene des Nebentextes (Erzählerrede) und unter der intradiegetischen Ebene die Ebene des Haupttextes (Figurenrede) zu verstehen. Bei Dramen, die die traditionelle Gliederung in Haupt- und Nebentext aufgeben, gilt es, sich mit Genette zu fragen, ob man es mit einer narrativen Instanz einer ersten Erzählung (extradiegetisch) oder einer der ersten inne- <?page no="175"?> 175 nicht personal fassbar, aber durchgehend präsent ist. Obwohl der Erzähler als Äußerungsträger im Hintergrund bleibt, bedeutet der Akt der Vermittlung zumindest auf der Ebene des gelesenen Theatertextes eine Unterbrechung der dramatischen Zeit. Schimmelpfennigs Vorliebe für narrative Strukturen, die seinen Stücken eine ungewöhnliche epische Breite verleihen, findet auch in „Ende und Anfang“ und „Hier und Jetzt“ ihren Ausdruck. Bereits die Länge der Nebentextanweisungen in beiden Stücken lässt die Vermittlungsleistung des Erzählers deutlich werden. 740 In „Ende und Anfang“ nutzt Schimmelpfennig die Möglichkeiten der auktorialen Episierung 741 und stellt die dramatische Präsentation damit unter eine interpretierende Perspektive. 742 Bereits in der Eingangsszene des Stückes tritt eine heterodiegetische, allwissende Erzählinstanz hervor, die auch in den nachfolgenden Szenen präsent bleibt. Mit Pfisters Worten gesprochen etabliert sich in dieser ersten Szene „ein vermittelndes Kommunikationssystem, das aufmerksamkeitssteuernd und damit Sinn schaffend die innere Spielebene interpretiert.“ 743 Denn der einleitende narrativdeskriptive Nebentext stellt keine bloße Regieanweisung dar. Er ist literarisch durchgeformt und besitzt eindeutig auktoriale Züge, da eine der Figurenperspektive übergeordnete, interpretierende Sicht auf den Raum und die in ihm Anwesenden gegeben wird. So beschreibt der Erzähler nicht nur den Zustand von Peters Wohnung, was als reine Regieanweisung verstanden werden könnte, sondern verfügt über ein Vorwissen, das nur ein allwissender Erzähler haben kann. So weiß der Erzähler, dass die herumliegenden Schwämme zwei Jahre alt sind, dass die Kaffeereste beim Versuch, einen Kaffee aufzusetzen, verschüttet wurden und dass der im Raum anwesende Protagonist Peter sich nicht rasieren konnte, weil man ihm den Strom abgestellt hat. Neben solchen Hintergrundinformationen, die für eine Überführung des Geschilderten in die Aufführung völlig irrelevant sind, hat der Erzähler auch Einblick in die Psyche der Figuren. In Passagen wie der im Folgenden zitierten wird die auktoriale zugunsten einer personalen Erzählsituation aufgegeben: Er sieht auf das Photo am Kühlschrank, eine junge Frau, seine Halbschwester, lachend, glücklich, auf einer Premierenfeier, und ein junger Mann, nur halb von wohnenden narrativen Instanz einer zweiten Erzählung (intradiegetisch) zu tun hat. Vgl. Muny 2008, S. 52. 740 Vgl. Muny 2008, S. 79. 741 Der Begriff „Auktoriale Episierung“ stammt von Manfred Pfister, der die unterschiedlichen Formen des epischen Kommentars nach den verschiedenen Textschichten klassifiziert, in denen sich das Aussagesubjekt des epischen Kommentars situiert. In: Pfister 2001, S. 107. 742 Vgl. Pfister 2001, S. 107-109. 743 Ebd. <?page no="176"?> 176 hinten zu sehen, der ihre Hand küßt. Er versucht sich seine Zukunft vorzustellen, er hat von diesem Tag an wieder Arbeit, in ein paar Stunden wird er anfangen, es ist die erste bezahlte Tätigkeit seit zwei Jahren, auch wenn diese Arbeit nichts mit dem zu tun hat, was er einmal war oder was er einmal versuchte zu sein. Loslassen, nicht loslassen, loslassen, loslassen, dann mach doch einfach was anderes, mach doch einfach was anderes. 744 Der Erzähler ist vertraut mit den Gedanken der Figur. Er verfügt über eine absolute Innensicht. Das fiktive Geschehen wird hier ganz aus der Perspektive der Figur Peter geschildert. Um die Gedanken und Bewusstseinsinhalte der Figur wiederzugeben, bedient sich der Erzähler des Mittels der erlebten Rede. Dies belegen die letzten Sätze des Zitats, die eher einem Selbstgespräch, als einem Erzählerbericht gleichen. Die vom Erzähler vorgenommenen Wertungen und Deutungen 745 weisen ihn als expliziten Erzähler aus. 746 Neben der Integration einer heterodiegetischen Erzählinstanz auf extradiegetischer Ebene weist „Ende und Anfang“ auf intradiegetischer Ebene sowohl homodiegetische als auch heterodiegetische Erzähler auf. Darüber hinaus bedient Schimmelpfennig sich des Mittels der Montage, um die Sukzession der Zeit aufzuhalten. Zu Beginn der mit „5.“ übertitelten Szenenfolge 747 lässt er die Affen Vera und Nina ein Märchen erzählen. Die Szene besitzt damit eine doppelt anti-illusionistische Funktion, denn neben der Episierung wirkt auch die Tatsache, dass Schimmelpfennig zwei Affen sprechen lässt, illusionszerstörend. In „Hier und Jetzt“ hat Schimmelpfennig das Repertoire an Erzählertypen voll ausgeschöpft. So meldet sich in den Nebentexten ein extradiegetischer, heterodiegetischer Erzähler zu Wort. Neben diesem, um mit Gerhard Tschauder zu sprechen, fiktiven innenperspektivischen Protokollanten, weist der Theatertext darüber hinaus etliche intradiegetische Erzähler auf, denn jede Figur schlüpft vorübergehend in die Rolle des Erzählers. Der permanente Erzählerwechsel setzt das zeitliche Sukzessionsprinzip außer Kraft. Die absolute Gegenwartsfolge des klassischen Dramas wird zugunsten einer erzählten Vergangenheit aufgehoben. Der Stücktitel, der ein Be- 744 RT, S. 160. 745 Textbelege für die in Form von Wertungen zum Ausdruck kommende erzählerische Explizitheit finden sich in: EA, S. 163: „Dorothea, Anfang Zwanzig, schlaksig.“; EA, S. 167: „Am Stehtisch vor der Imbissbude eine Gruppe von Männern und Frauen, die Gesichter und Körper von jahrzehntelanger Trunksucht verformt.“; EA, S. 220: „Sie sehen sich an, fremd, aneinander gebunden, sie küssen sich, sie mühen sich, sie stöhnen, sie dringen ineinander, drängen aufeinander ein, die Jugend und das Alter, die Schöne und der Greis, ein dünner Mann, fast nur noch Haut und Knochen, man sagt so: das Fleisch fällt von den Knochen.“ 746 Zur erzählerischen Explizitheit vgl. Muny 2008, S. 68-86. 747 EA, S. 199. <?page no="177"?> 177 kenntnis zum gegenwärtigen Leben, dem „Hier und Jetzt“ impliziert, steht in scheinbarem Widerspruch zu der thematischen Absage an die Gegenwart. Indem Schimmelpfennig seine Figuren das Erzählte jedoch zeitgleich illustrieren lässt, präsentiert er das Vergangene als gegenwärtig. So ersetzt der epische Bericht zwar den Dialog, nicht aber die Handlung, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: PETER […] Neben ihm: eine Gruppe von Männern, rüde laut, grob, die Männer singen: PETER und TILO und LOTHAR und HORST und GEORG und MAR- TIN stehen auf und singen laut und grob und durcheinander. 748 Dass Vergangenheit und Gegenwart nicht zu trennen sind, verdeutlichen auch die permanenten Tempuswechsel. Mal wird im Präteritum erzählt und das Erzählte damit als abgeschlossene Handlung der Vergangenheit präsentiert, mal erfolgt der Bericht im Präsens, wodurch die Aktualität der Ereignisse betont wird. Der so vermittelte Eindruck der Gegenwärtigkeit wird jedoch dadurch aufgehoben, dass die Figuren sich beim Erzählen nicht an die Chronologie der Ereignisse halten, wodurch das Erzählte wiederum als Vergangenes präsentiert wird. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen und werden zu einer Zeit, ganz wie im lyrischen Drama, dessen Zeitstruktur Szondi wie folgt beschreibt. In der Lyrik […] werden die Zeiten eins, das Vergangene ist auch das Gegenwärtige […]. 749 Jeder der Erzähler hebt ein anderes Detail der Geschichte hervor, greift Ereignisse vorweg, überspringt ihm unwichtig Erscheinendes oder greift bereits Gesagtes wieder auf, um den Bericht des Vorgängers zu ergänzen. Der Bau des Stückes ruft Szondis Beschreibung des epischen Theaters in Erinnerung: An die Stelle der dramatischen Zielgerichtetheit tritt die epische Freiheit zum Verweilen und Nachdenken. Weil der handelnde Mensch nurmehr Gegenstand des Theaters ist, kann über ihn hinausgegangen und nach den Beweggründen seines Handelns gefragt werden. 750 Diese epische Freiheit findet auch in den zahlreichen Unterbrechungen des Erzählflusses durch eingeschobene Beispielgeschichten, Lieder und persönliche Erfahrungsberichte des jeweiligen Erzählers ihren Ausdruck. Es lassen sich verschiedene Erzählstränge unterscheiden. Den Haupterzählstrang bildet die Geschichte von Katja und Georg, die reihum erzählt wird. Auch die beiden Hauptprotagonisten selbst werden zeitweise zu Erzählern 748 HUJ, Spalte 9, Mitte. 749 Szondi 1959, S. 68. 750 Ebd., S. 100. <?page no="178"?> 178 ihrer eigenen Geschichte. Auf der intradiegetischen Erzählebene des Haupterzählstrangs kommen somit nicht nur heterodiegetische, sondern auch homodiegetische Erzähler zu Wort. Die Erzählsituation wechselt permanent zwischen auktorialer Erzählsituation 751 und Ich-Erzählsituation 752 . Neben Katjas und Georgs Geschichte weist der Theatertext, wie oben bereits angemerkt wurde, zahlreiche Nebenerzählstränge auf. Indem die Figuren die erzählte Geschichte von Katja und Georg durch eigene Erlebnisse ergänzen, wechseln sie permanent von einer heterodiegetischen zu einer homodiegetischen Erzählhaltung. Mitunter kommt es vor, dass sich Haupt- und Nebenerzählstrang kreuzen, wie im Fall der jungen Frau: DIE JUNGE FRAU Ich habs ja gesehen, ich war ja da, die stand da, bei den Fernsehern, oder davor, bei den Steckern, oder bei den Steckdosen - oder daneben, bei den Hüllen und den Rohlingen - 753 Das Zitat deckt die Unzuverlässigkeit der Erzählerin auf. Um die Bedeutung ihrer Aussage zu unterstreichen, weist sie sich zu Beginn des Zitats als Augenzeugin aus. Die Ungenauigkeit ihrer Angaben stellt jedoch ihre Glaubwürdigkeit in Frage. Sie vermag den Schauplatz der Ereignisse nicht genau zu benennen. Auch in „Auf der Greifswalder Straße“ bedient sich Schimmelpfennig verschiedener Techniken epischer Kommunikation. So ist es nicht nur die simultane Anlage der Szenen, sondern auch der Einsatz narrativer Strukturen, mithilfe dessen er die zeitliche Sukzession auf ein Minimum beschränkt. Sowohl im Nebentext als auch im Haupttext etabliert er Erzählinstanzen. So kommt im Nebentext ein heterodiegetischer Erzähler zu Wort, der zwar außerhalb der erzählten Welt steht, aber als fiktiver Protokollant mit innenperspektivischer Sichtweise dennoch Teil der Fiktion ist. Dass es sich bei den Nebentexten nicht um bloße Inszenierungsanweisungen handelt, lässt sich anhand eines Beispiels veranschaulichen: Plötzlich einsetzender und abbrechender Lärm. Das Inferno. Der kreischende Lärm von geschnittenem, zersägtem Metall und Stein. […] Drei Männer mit Bauarbeiterhelmen […] Sie sind vollkommen bedeckt von einer dicken Schicht 751 HUJ, Spalte 2, unten: „INGRID und ILSE An dem selben Vormittag […] wird die Frau, Katja - INGRID die sich gerade noch neben ihrem Mann verschlafen die Zähne putzt, INGRID und ILSE jemanden kennen lernen, einen anderen Mann. Martin.“ 752 HUJ, Spalte 6, unten: „MARTIN Ich habe mir nachdem ich sie angesprochen hatte - in dem Elektromarkt - zur Belohnung ein Eis gekauft, ein Eis am Stil, das hatte ich seit Jahren nicht gemacht […]“. 753 HUJ, Spalte 5, unten-Spalte 6, oben. <?page no="179"?> 179 aus grauem Staub. Sie sehen aus, als kämen sie aus einem Ascheregen. Überall der Baustaub, trotz der Schutzkleidung, in den Ohren, in den Haaren, auf den Wimpern, zwischen Fingern. Der Staub dringt durch die Kleidung. 754 Bereits das erste Wort des Nebentextes, das Zeitadverb „plötzlich“, weist diesen als einen literarisch durchgeformten Text mit Spannungspotential aus. Auch im zweiten Satz, in dem die in Satz eins beschriebene Situation als „Das Inferno“ bezeichnet wird, lässt die Präsenz eines Erzählers deutlich erkennbar werden. Von einem literarischen Gestaltungswillen zeugt auch Satz drei. Liest man den Text als Regieanweisung, so erscheint die Ergänzung des Adjektivs „geschnitten“ durch das Adjektiv „zersägt“ völlig überflüssig, da durch diese Präzisierung keinerlei Bedeutungszuwachs erzielt wird. Es handelt sich somit auch hier um eine literarische Spielerei. Von literarischem Gestaltungswillen zeugt auch der einleitende Nebentext zu Szene 1.9: Die kleine Küche einer Wohnung im Hinterhof, vierter Stock. Im Sommer kommt hier früh morgens die Sonne rein. 755 Unverkennbar ist die Präsenz eines allwissenden Erzählers, der als direkter Beobachter nicht nur Auskunft über die vor seinen Augen ablaufende Szene gibt, sondern allgemeine Bezüge herstellt und darauf verweist, dass die Wohnung im Sommer zu gleicher Zeit bereits sonnendurchflutet ist. Noch deutlicher zeigt sich die Integration einer Erzählinstanz in den Szenen 1.3, 1.5, 2.10, 2.15, 2.16 und 3.2, denn hier verdrängt die Erzählerrede den Haupttext. Es kommt zum völligen Aussetzen der dramatischen Handlung. Auch im Haupttext wird eine Erzählerstimme laut, wie Szene 2.13 belegt: TÄUBCHEN/ SCHMIDTI/ BABSI Babsi, 37, leicht übergewichtig, hat einen Photoladen. Seitdem Photo-Klinke zwei Straßen weiter dichtgemacht hat, geht es ihr wirtschaftlich besser. Wie sie sich vorher über Wasser gehalten hat, ist unklar. Vielleicht hätte es auch andersrum laufen können. Vielleicht hätte sie bald dichtmachen müssen, und dann würde es jetzt Photo- Klinke besser gehen, aber auf der anderen Seite: Klinke ist nicht wegen der einen Filiale in Konkurs gegangen. Klinke war eine Kette, und jetzt gibt es die ganze Kette nicht mehr. Babsi gehört der Laden selbst. Sie hat die meisten Kunden von Klinke übernommen, ihr Laden ist jetzt der einzige Photo- 754 GS, Szene 2.8, S. 435. 755 GS, Szene 1.9, S. 426. <?page no="180"?> 180 laden bis hoch zur Ringstraße. Sie kennt jetzt die Urlaubsphotos und Schnappschüsse und Sexbilder des gesamten Viertels. 756 Wie das Beispiel der Figur Babsi verdeutlicht, werden die Figuren mitunter zu Erzählern ihrer eigenen Geschichte, jedoch ohne dabei die Ich- Perspektive anzunehmen. Sie treten in völlige Distanz zu sich selbst und sprechen von sich selbst in der neutralen Außensicht der dritten Person Singular. 757 So gibt Babsi, die ja wissen müsste, wie sie es geschafft hat, trotz der Konkurrenz nicht bankrott gegangen zu sein, keinerlei Auskunft über das „Wie“ und lässt den Zuschauer bewusst im Ungewissen: „Wie sie sich vorher über Wasser gehalten hat, ist unklar.“ Indem die drei Frauen das Geschehen in größere Zusammenhänge einordnen, Hintergrundinformationen vergeben und Vermutungen äußern, verlassen sie die Spielsituation und lösen sich damit auch aus der raumzeitlichen Deixis ihrer Rollen. Es kommt zum Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems und damit einhergehend zum Aussetzen der dramatischen Zeit. Das chorische Sprechen der drei Frauen und ihre Kommentatorfunktion erinnern an den Chor der antiken Dramentradition. Wie für den antiken Chor üblich, reduziert auch Schimmelpfennig das Mithandeln der Frauen auf die Rolle eines „verbal agierenden Beobachters“ 758 , dessen epische Vermittlungsfunktion in der Möglichkeit der Reflexion besteht. Auch in Szene 4.2 lässt Schimmelpfennig eine seiner Dramenfiguren in die Rolle des Erzählers schlüpfen. Im Unterschied zur oben besprochenen Szene wählt er für den Bericht des Mannes mit der Kutsche jedoch die subjektive Ich-Erzählperspektive. Neben der Etablierung solcher Erzählsituationen, die für eine Unterbrechung der zeitlichen Sukzession sorgen, versteht es Schimmelpfennig, das Fortschreiten der dramatischen Zeit auch durch den Einschub von Gedichten, Kinderreimen und Liedern aufzuhalten. Beispiele für diese Episierungsverfahren finden sich in den Szenen 2.1, 2.10, 3.1, 4.1 und 4.2. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Schimmelpfennigs Theatertexte zeichnen sich durch einen vermehrten Einsatz epischer Erzählmittel aus. Oftmals werden aus den Akteuren seiner Stücke Erzähler. Es ist ein einsames, nach Innen gewandtes Erzählen, das Züge eines Selbstgesprächs besitzt. Wie Brecht benötigt Schimmelpfennig die Illusion eines geschlossenen Kommunikationssystems, um diese Illusion durch epische 756 GS, Szene 2.13, S. 441-442. 757 Das Bemühen um Objektivität spiegelt auch die anschließende Replik: GS, Szene 2.13, S. 442: „TÄUBCHEN/ SCHMIDTI/ BABSI Sie steht am Fenster und testet eine neue Kamera. Sie photographiert durch die Scheibe die Straße. Das macht sie oft.“ 758 Pfister 2001, S. 115. <?page no="181"?> 181 Verfremdungseffekte zerstören zu können. 759 Für den Umgang mit der fiktiven Zeit bedeutet dies eine Verzögerung, mitunter sogar ein Aussetzen der Sukzession auf der primären Spielebene. Da Schimmelpfennig den fiktiven Rahmen aber dennoch wahrt und das Erzählte immer eingebettet ist in eine fiktive Dramenhandlung, kann auch hier nicht von einer Übernahme postdramatischer Zeitkonzepte gesprochen werden. Denn wie Lehmann in Bezug auf Brecht festhält, ist auch ein episches Theater ein dramatisches Theater, da es sich trotz der narrativen Breite und des Aufbaus eines Vermittlungssystems den dramatischen Grundprinzipien verschreibt, deren oberstes die Fabel ist: Mehr und mehr tritt im Licht der neuesten Entwicklung hervor, daß in der Theorie des epischen Theaters eine Erneuerung und Vollendung der klassischen Dramaturgie stattfand. In Brechts Theorie steckte eine höchst traditionalistische These: die Fabel blieb ihm das A und O des Theaters. […] Das postdramatische Theater ist ein post-brechtsches Theater. 760 Wie aus einem Kommentar zur Entstehungsgeschichte der „Trilogie der Tiere“ hervorgeht, teilt Schimmelpfennig diese Überzeugung mit Brecht: SCHIMMELPFENNIG Es gab die Geschichte, es gab den Kontext. Es gab - abgesehen von der kompletten Geschichte - den Entwurf einer Partitur, Überlegungen zu Dynamik, Klang, Rhythmus, von mir aus Komposition. Aber das würde ich nicht als formal bezeichnen. Das ist eher eine Frage des Klimas, der Atmosphäre, der jeweiligen Aggression in den Texten. Es zählt der Inhalt. 761 Bleibt die Fabel nun aber das „A und O“ des Theaters, so hat dies ein Festhalten an einer weitgehend traditionellen Zeitgestaltung zur Folge. Zwar finden sich bei Schimmelpfennig, wie aufgezeigt wurde, Durchbrechungen der zeitlichen Chronologie, aber auf eine zeitliche Einbettung der Szenen wird in seinen Stücken dennoch nie verzichtet. So kann also trotz der epischen Anklänge nicht von einem generellen Außerkraftsetzen der fiktiven Zeit gesprochen werden. Wie das nachfolgende Kapitel aufzuzeigen sucht, ist diese im Gegenteil genau denotiert und übernimmt ebenso wie der Raum eine die Handlung motivierende Rolle. Die Ausführungen zur Semantisierung der Zeit weisen diese in Analogie zum Raum als Organisationszentrum der Handlung aus. 759 Vgl. Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. In: Theater heute 01/ 1980, S. 16. 760 Lehmann 1999, S. 48. 761 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 237. <?page no="182"?> 182 3.4. Semantisierung der Zeit Wie der Raum, so übernimmt auch die Zeit weiterreichende Funktionen, die über das Erstellen eines mimetischen Wirklichkeitsbezugs hinausgehen. So implizieren die zeitliche Strukturierung und Situierung der Handlung in Schimmelpfennigs Theatertexten oftmals semantische Konnotationen. 762 Die Bildebene der Raum- und Zeitelemente ist mit der Handlungsebene über semantische Beziehungen eng verwoben. 763 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche fundamentale Bedeutung zeitliche Festlegungen wie z.B. die Angabe von Tages- oder Jahreszeiten für die Sinnkonstitution seiner Stücke haben. 3.4.1. Semantischer Gehalt zyklischer Zeitstrukturen Bei der formalen Beschreibung der Zeitstrukturen wurde bereits darauf hingewiesen, dass die zeitliche Progression in Schimmelpfennigs Stücken nicht immer linear verläuft, sondern oftmals einer zyklischen Wellenbewegung folgt. Im Folgenden gilt es, die beschriebenen zyklischen Zeitstrukturen auf ihren semantischen Gehalt hin zu befragen. Welche Bedeutung kommt ihnen auf inhaltlicher Ebene zu? In „Hier und Jetzt“ bettet Schimmelpfennig die Dramenhandlung in den Zyklus der Jahreszeiten ein und gibt ihr damit eine fatalistische Färbung. Der Gang des Geschehens, das Scheitern von Georgs und Katjas Ehe, wird durch die Verknüpfung mit den jahreszeitlichen Bezügen als unausweichlich und naturgemäß vorbestimmt präsentiert. So kann der Frühling mit der jungen Verliebtheit des Paares gleichgesetzt werden, auch wenn diese Phase der Beziehung vor Beginn der Dramenhandlung liegt, die erst mit der Hochzeit im Sommer einsetzt. Nach der Unbeschwertheit und Heiterkeit des Sommers, in dem Georg und Katja heiraten, zeichnet sich mit dem nahenden Herbst der langsame Verfall, das Sterben der Liebe ab, denn Katja lernt Martin kennen und beginnt eine Affäre. Der Winter mit Frost und Schnee symbolisiert das endgültige Scheitern der Ehe und das Ende der Liebe. 764 Es mag zunächst verwundern, dass die Handlung im Frühling und nicht im Winter endet. Schimmelpfennig betont auf diese Weise den zyklischen Aspekt der Liebe. So wie die Jahreszeiten einem ewigen Gesetz von Kommen und Gehen unterliegen, so muss sich auch die 762 Vgl. Pfister 2001, S. 368. 763 Vgl. Andreotti 1996, S. 42-44. 764 Die Semantisierung des Winters als Zeit der endenden Liebe stellt einen beliebten literarischen Topos dar, der auch in den Gedichten Rimbauds zum Einsatz kommt. Siehe S. 97 dieser Arbeit. <?page no="183"?> 183 Liebe dieser Kreisbewegung beugen. Der zyklischen Wiederkehr des Gleichen kann auch die Liebe nicht entkommen. Dem Jahreszeitenwechsel entsprechend präsentiert sich die Handlung als zyklische Progression ohne Weiterentwicklung. Anstatt voranzuschreiten und auf eine Lösung zuzusteuern, gleicht sie einer Kreisbewegung. Das Kreisen der Handlung lässt Rettungsversuche sinnlos erscheinen und verleiht dem Stück die oben bereits genannte fatalistische Grundstimmung. Ein erster Hinweis auf das Scheitern der Liebesbeziehung findet sich bereits zu Beginn des Stückes, wo die Hochzeitsgäste in aller Ausführlichkeit den Anbruch eines idyllischen Sommertags beschreiben, der den Auftritt des glücklichen Brautpaars erwarten lässt. Das harmonische Bild wird jedoch jäh gestört durch das Erscheinen eines völlig verwahrlosten Mannes. Sein körperlicher Verfall steht in scharfem Kontrast zu dem heiteren Erwachen der Natur am frühen Morgen. Die Semantisierung des Sommers als Hoch-Zeit der Liebe wird somit hier ein erstes Mal unterwandert. Der raum-zeitlichen Gestaltung kommt hier somit eine kontrastierende Funktion zu. 765 Kaum merklich ist die Einbettung der Handlung in den Zyklus der Jahreszeiten in die „Die Frau von früher“, denn im gesamten Theatertext findet sich nur ein einziger Hinweis darauf. So erklärt Tina in ihrem Monolog in der dritten Szene: TINA Andi und ich, ein warmer Abend, unser letzter - die Herbstsonne steht schon tief, und wir - 766 Die Situierung der Handlung in den Herbst kann mit dem nahenden Ende von Andis und Tinas Liebe in Verbindung gebracht werden. Es ist ihr letzter gemeinsamer Abend, denn am kommenden Tag wird Andi mit seinen Eltern wegziehen. Der Herbst ihrer Liebe hat somit begonnen. Die tief stehende Herbstsonne verdeutlicht, dass ihnen nicht viel Zeit miteinander bleibt. Auch hier verbindet Schimmelpfennig das Kommen und Gehen der Liebe mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Die zeitliche Einbettung der Szene verweist auf Andis baldigen Tod und nimmt das Ende des Stückes vorweg. Als Sinnbild der Vergänglichkeit taucht der Herbst auch in „Ende und Anfang“ auf. In der Eingangsszene des Stückes werden beiläufig „gelbe Blätter“ und „schräg durch die Bäume auf die Straße fallendes Licht“ erwähnt. 767 Die Verfärbung der Blätter und die tief stehende Sonne verweisen auf das Scheitern der Figuren. Sie haben es nicht geschafft, ihre Lebensträume zu realisieren. Mit der Situierung der Handlung in den Herbst stellt Schimmelpfennig eine düstere Zukunftsperspektive für die Figuren aus, denn auf den Herbst folgt der Winter. Hoffnung auf eine Verbesserung 765 Vgl. S. 129 dieser Arbeit. 766 FF, S. 647. 767 EA, S. 160. <?page no="184"?> 184 ihrer Lage macht lediglich der Stücktitel, der eine Entwicklung vom Ende zum Anfang andeutet. Ob auf Herbst und Winter ein neuer Frühling folgt, bleibt am Ende des Stückes jedoch offen, es schließt mit dem Wort „Dunkelheit“ und gibt damit wenig Anlass zu dieser Hoffnung. Die Eingebundenheit der Liebe in einen zeitlichen Kreislauf von Werden und Vergehen thematisiert auch „Vor langer Zeit im Mai“. Wie in „Hier und Jetzt“ wird die Flüchtigkeit der Liebe durch die Einbettung der Dramenhandlung in eine zyklische Zeitstruktur verdeutlicht. Die permanente Wiederholung von Repliken und Handlungsabläufen, die Resignation und Verzweiflung zum Ausdruck bringen, verstärkt den Eindruck der Vergeblichkeit jeglichen Handelns. Es scheint, als sei eine Veränderung der Situation durch die Eingebundenheit der Figuren in einen ewigen Kreislauf von vorneherein ausgeschlossen - ein Eindruck, den auch „Ende und Anfang“ vermittelt. Bereits der Titel des Stückes verweist durch die Umkehrung des gebräuchlichen Begriffspaares „Anfang und Ende“ auf die Aufhebung der Chronologie zugunsten einer Kreisbewegung: Ende bedeutet zugleich immer auch Anfang, jedoch ist es kein hoffnungsvoller Neuanfang, sondern vielmehr ein quälendes Immerfort. Schimmelpfennigs Figuren befinden sich in einem Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Sie sind nicht Herr ihrer Handlungen. Zur Figurengestaltung in seinen Stücken sagt Schimmelpfennig selbst: SCHIMMELPFENNIG Sie [die Figuren] haben meistens nicht die Möglichkeit einer Strategie. Sie sind nicht souverän, können es nicht sein. […] Die Situationen, in die ich die Figuren treibe, sind von Unüberschaubarkeit, Unsicherheit geprägt. 768 Um der Schicksalhaftigkeit Ausdruck zu verleihen, der die Figuren ausgesetzt sind, unterlegt Schimmelpfennig seinen Theatertext mit einer zyklischen Zeitstruktur. Keine der Figuren vermag zu sagen, wann das Unglück seinen Anfang nahm und wann es vorüber sein wird. 769 Die Figuren sind dem „Lauf des Lebens“ 770 machtlos ausgeliefert. Es ist ihnen nicht vergönnt, Einfluss auf ihr Schicksal zu nehmen und die Unglückszeit zum Aussetzen zu bringen. Dies vermag noch nicht einmal der Tod, wie das Schicksal der toten Supermarktkassiererin in „Auf der Greifswalder Straße“ verdeutlicht, die verzweifelt nach einem Platz in der Welt sucht und nicht merkt, dass sie schon tot ist. 771 Wie die obigen Ausführungen verdeutlichen, spielt die zeitliche Gestaltung der Texte beim Erzielen des beabsichtigten Eindrucks der Unüber- 768 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 235-236. 769 EA, S. 184. 770 Ebd. 771 GS, Szene 3.11, S. 456. Vgl. Szene 2.2, S. 429-430; Szene 2.4, S. 431; Szene 2.17, S. 444- 445; Szene 3.12, S. 456-457. <?page no="185"?> 185 schaubarkeit und der Schicksalhaftigkeit eine entscheidende Rolle. Indem die Dramenhandlungen der Zeitlichkeit enthoben werden, erhalten sie überzeitliche Gültigkeit. Doch nicht nur Jahreszeiten auch Tageszeiten werden in Schimmelpfennigs Theatertexten semantisch aufgeladen. Auffällig ist die Vorliebe für Nachtszenen. Schimmelpfennig präsentiert die Nacht als Zeitraum des Geheimnisvollen und Rätselhaften, in dem sich Übernatürliches ereignet, so z.B. in „Die arabische Nacht“. In ein und derselben Nacht wird Karpati in einen Flaschengeist verwandelt, Kalil wird zum sexbesessenen Betrüger, Fatima zur blutigen Rächerin und Hausmeister Lomeier und Franziska enden als Liebespaar. In der Schlussszene, der Liebesszene zwischen Franziska und Lomeier, ist die semantische Aufladung der Nacht besonders stark. 772 Sie wird als warm und hell beschrieben. 773 In Bezug auf Lomeier und Franziska korrespondiert die Präsentation der Nacht mit den Ereignissen auf der Handlungsebene. 774 Karpatis und Kalils Schicksale stehen hingegen in scharfem Kontrast zur Milde der Nacht. So ist die Nacht nicht nur Zeitpunkt für die Vereinigung der Liebenden, sondern auch Schauplatz des Unheimlichen und Bedrohlichen: Kalil und Karpati bringt sie den Tod. 775 Eine solche Semantisierung der Nacht als Zeitraum der tödlichen Gefahren findet sich auch in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“. Mehrfach wird vor dem Einbruch der Nacht gewarnt. 776 Während der Tag mit Licht und Rettung korreliert, 777 wird die Nacht durch die Seme dunkel und Tod definiert. 778 Tag und Nacht bilden somit ein semantisch aufgeladenes Oppositionspaar, das für den Spannungsaufbau in zahlreichen Stücken des Autors sorgt. 772 Auf die Nacht als Zeit-Raum der Liebe wird in Kapitel 4.3, S. 204-219, noch näher eingegangen. 773 AN, S. 338: „FRANZISKA Schöner Abend, was? Wie hell der Mond ist.“ AN, S. 338: „LOMEIER Sie lehnt neben mir am Geländer des Küchenbalkons und blickt auf die Siedlung im Mondschein.“ AN, S. 339: „LOMEIER Die Nacht ist warm.“ 774 Eine solche Korrespondenz zwischen Bild- und Handlungsebene findet sich in Schimmelpfennigs Dramen vermehrt. Die Verknüpfung der warmen Sommernacht mit dem Glück der Liebenden taucht auch in BV (S. 42) und in EA (S. 190) auf. In der ersten Szene der mit 6. übertitelten Szenenfolge in EA entspricht die Gestaltung der Zeitebene den Ereignissen auf der Handlungsebene. Hier berichtet eine Frau von einer Nacht im Freien. Ihrem unaufgeräumten Seelenzustand entspricht die Trübheit der Nacht: EA, S. 210-211: „DIE FRAU Ich wollte nicht in ein Hotel. Den ganzen Abend über hatte ich das Gefühl, dass ich gleich etwas verliere. […] Und dann fiel mir eine Zeile nicht mehr ein. Und dann waren die Schlüssel weg. Und du warst nicht zu finden. […] Keine klare Nacht gestern.“ 775 Kalil wird von seiner Freundin aus Eifersucht erstochen und Karpati stürzt vom Balkon einer Wohnung im 7. Stock (AN, S. 341-342). 776 ASW, S. 238, 246-247. 777 ASW, S. 238, 266. 778 ASW, S. 246-247, 249, 251, 266. <?page no="186"?> 186 Wie oft sich das Schicksal von Schimmelpfennigs Figuren nachts entscheidet, führen auch „Die ewige Maria“, „Die Frau von früher“, „Auf der Greifswalder Straße“ und „Der goldene Drache“ vor Augen. In allen fünf Stücken trägt die Nacht das Sem Tod. 779 Neben die Semantisierung der Nacht als übernatürlich und geheimnisvoll tritt ihre Semantisierung als Zeitraum des Todes. Die Semantisierung des Tages als oppositärer Zeitpunkt der Rettung findet sich hingegen in „Vorher/ Nachher“. In Szene 43 korrespondiert der Weg in die Freiheit mit dem Anbruch eines neuen Tages: DIE GRILLE Er schlägt mir ins Gesicht, hart, und ich gehe zu Boden. Aber er schlägt kein weiteres Mal zu, es ist vorbei. Ich stehe auf, und diesmal gibt er den Weg frei, ich greife nach der gepackten Tasche und den Autoschlüsseln, ich gehe, und er hält mich nicht mehr auf. Als ich das Haus verlasse und in den Wagen steige, wird es hell. 780 Die Helligkeit des Morgengrauens wird der Dunkelheit der Nacht gegenüberstellt, die hier zum Sinnbild für Unfreiheit und Demütigung wird. Wie die Beispiele verdeutlichen, arbeitet Schimmelpfennig auch beim Einsatz der Zeitelemente mit Semoppositionen, um auf diese Weise zentrale Handlungsmomente auf der Bildebene zu verankern und in ihrer Bedeutung besonders hervorzuheben. Der Dunkelheit und Ausweglosigkeit der Nacht stellt er den hellen Tag gegenüber (ASW, VN), der Befreiung aus der Notsituation verspricht. Eine solche Verquickung der Ereignisse auf der Handlungsebene mit der Gestaltung der Bildebene findet sich auch in „Auf der Greifswalder Straße“. Hier korrespondiert das Stehenbleiben der Sonne mit der Ereignislosigkeit auf der Handlungsebene. Der unglücklich verliebte Rudolf wartet darauf, dass etwas geschieht: RUDOLF Ich sitze hier, und während ich hier sitze und warte, daß etwas passiert, fallen mir die Augen zu, ich bin todmüde. […] Die Zeit 779 In FF bringt die ungebetene Besucherin Romy den Sohn des Hauses nachts um (FF, Szene 12.7). In GS wird Simona nachts von einem Hund gebissen und verwandelt sich durch den Biss in einen Werwolf (GS, Szene 1.10). In der darauf folgenden Nacht wird sie erschlagen (Szene 4.7). Rudolf hat nachts einen Albtraum, in dem ihm eine Frau seinen baldigen Tod prophezeit (Szene 1.4). In der darauf folgenden Nacht bringt Maika ihn um (GS, Szene 4.17). Schimmelpfennig macht die Nacht damit zum Zeitraum des Verlustes. Diese Lesart lässt sich auch mit den Szenen der Suche nach dem nachts entlaufenen Hund Biene untermauern (GS Szenen 1.1 und 4.20). In GD verlässt die Grille nachts ihre Kammer und wird daraufhin brutal vergewaltigt. Sie stirbt an ihren Verletzungen (GD, Szene 45). Auch ihr Bruder kommt nachts um. Die Dramenhandlung setzt am frühen Abend ein (GD, Szene 1) und endet mit dem Entsorgen der Leiche nachts (GD, Szene 46). 780 VN, S. 450. <?page no="187"?> 187 steht, seit das Mädchen weg ist, still, die Sonne rückt immer langsamer vor und bleibt dann auf der Stelle stehen, sieben Uhr dreißig, wieso zieht heute die Sonne am Kirchturm nicht vorbei, die Sonne hängt am Himmel fest, obwohl die Nacht emporziehen will, der Himmel droht zu reißen. 781 Die Tatsache, dass nicht nur der emotional betroffene Rudolf, sondern auch drei Rumänen die merkwürdige Stellung der Sonne bemerken, 782 belegt, dass es sich nicht um eine bloße Emotionalisierung der Umwelt durch den vom Liebeskummer zerfressenen Rudolf handelt, sondern der zeitliche Stillstand - das Aussetzen der zeitlichen Sukzession - das gesamte Stück betrifft. Als die Rumänen sich dazu entschließen, die Sonne vom Himmel zu schießen, um sie aus der Erstarrung zu befreien, kommt Bewegung in die Handlung. Die Zeit steht plötzlich nicht mehr still, sondern steuert in rasantem Tempo auf die Katastrophe - Rudolfs Tod - zu: RUDOLF […] Jetzt rast die Zeit, und sie reißt alles andere mit sich. Was hinter mir liegt, was jetzt ist und was noch kommt: nicht zu fassen, unerreichbar, niemals einzuholen. 783 Das Abschießen des Zeit- und Raumelements Sonne sorgt für eine Präzipitation der Handlung. Es fungiert als Vorausdeutung, da es den tödlichen Schuss auf Rudolf vorwegnimmt. Wie der Szenenauszug verdeutlicht, sucht Schimmelpfennig die Dramatik der Ereignisse auf der Handlungsebene durch eine Rückbindung an die Bildebene zu intensivieren. Die hier nachgewiesene Verschränkung von Handlungs- und Bildebene zeichnet Schimmelpfennigs Theater als ein dramatisches Theater aus, denn das postdramatische Theater verzichtet sowohl auf eine eindeutig nachzuzeichnende fiktionale Handlung, als auch auf eine denotierte fiktionale Raum-Zeitstruktur. 3.4.2. Semantisierung von Vergangenheit und Zukunft Da Schimmelpfennigs Figuren keineswegs bloße Textträger sind, sondern über eine individuelle Charakterzeichnung verfügen, besitzen sie auch klare Biographien. So spielt ihre Vergangenheit in der Mehrzahl der Stücke eine nicht unbedeutende Rolle. Schimmelpfennig präsentiert sie als Zeitraum der Sorglosigkeit, der hoffnungsvollen Erwartung und des Glücks: KARPATI […] All die Hoffnungen, Neuanfänge, Gemeinsamkeiten fallen mir ein, die einmal in den Gesichtern standen, die ersten Küsse, die gemeinsamen Sommernächte, in Parks, auf Terrassen und Balkonen, die Großzügigkeit, das Einverständnis, das sich dann 781 GS, Szene 3.12, S. 457. 782 GS, Szene 3.14, S. 459. 783 GS, Szene 4.5, S. 467. <?page no="188"?> 188 eines Tages auflöst, fort ist, obwohl man doch so fest miteinander rechnete. 784 Die Vergangenheit als Inbegriff von Glück und Zuversicht steht der im Stück präsentierten Gegenwart diametral gegenüber. Denn diese steht in Karpatis Fall für Gefangenschaft und Hoffnungslosigkeit. Ähnlich idealisiert dargestellt wie in „Die arabische Nacht“ wird die Vergangenheit in „Besuch bei dem Vater“, wo Peter von einem sommerlichen Liebesabenteuer in New Mexico berichtet. 785 Die Positivkonnotation vergangener Zeiten kommt auch in Ediths Erinnerung an unbeschwerte Kindertage zum Ausdruck. 786 Ein ebenso nostalgischer Rückblick auf eine glückliche Kindheit, die im Kontrast zu einer bedrückenden Gegenwart 787 steht, findet sich in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“: DIE FRAU AUF DEM LAND […] Als Kinder haben wir hier viel Freude gehabt, auch im Sommer. Ich war mit meinen Eltern an Plätzen wie diesem, als wir noch das Haus besaßen. 788 Von zentraler Bedeutung ist die Vergangenheit auch in „Die Frau von früher“, wie bereits der Titel nahelegt. Die Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit ist hier Motor der Dramenhandlung, denn Hauptfigur Romy hat entschieden, ihre einstige Jugendliebe Frank an einen vor vierundzwanzig Jahren ausgesprochenen Liebesschwur zu erinnern: ROMY V. Siebzehn, ja genau, ich war siebzehn, du warst zwanzig, und damals hast du mir geschworen, dass du mich immer lieben 784 AN, S. 332. Vgl. KA, S. 120: „DER MANN IN ARBEITSKLEIDUNG Du solltest zurück an die Universität gehen. Du warst doch gerne an deiner Universität. Es war eine schöne Zeit, als du an der Universität warst.“ FF, S. 680: „FRANK Die Sonne stand noch tief im Osten, hinter den Hügeln, es wurde langsam hell, und die Vögel fingen nach und nach in den dunklen Bäumen zu singen an. Ein Waldrand hinter uns. Eine Wand aus Wald. Niemand sonst unterwegs. Nur wir. Ohne Schlaf. Verliebt. Wir waren in dem Sommer oft da. Und es wurde uns nie kalt.“ EA, S. 159: „Er sieht auf das Photo am Kühlschrank, eine junge Frau, seine Halbschwester, lachend, glücklich, auf einer Premierenfeier […]“ VN, S. 459: „[…] Sie haben nicht über ihre Vergangenheit geredet oder nur wenig, über einen gemeinsamen Urlaub vor Jahren in Italien, als zwischen ihnen noch alles stimmte. Oder als es zumindest beiden so vorkam.“ 785 BV, S. 42. Der gleiche Bericht findet sich in wortwörtlicher Entsprechung in EA, S. 190. 786 BV, S. 46. 787 KA, S. 104: „[…] Es ist ein unheimlicher Ort, gerade in der Mittagshitze, wenn alles so still ist.“ 788 Ebd. Siehe auch: KA, S. 113: „DER MANN IN ARBEITSKLEIDUNG Ich zog in ihre Wohnung in einem anderen, mir fremden Teil der Stadt. Es war eine schöne Zeit […]“. <?page no="189"?> 189 wirst. […] Ich bin jetzt da, um dieses Versprechen einzulösen. Und ich bin da, um dich an dein Versprechen zu erinnern - 789 Auch hier ist die Vergangenheit somit positiv konnotiert. Sie wird als Zeitraum der Liebe präsentiert und der unbefriedigenden Gegenwart gegenübergestellt, wie ein Zitat des Autors untermauert: SCHIMMELPFENNIG Romy akzeptiert die Realität nicht. Sie sagt ja, dass sie durchaus ihr Leben in den vergangenen 24 Jahren hatte. Aber da ist sie an keinen Punkt gekommen, der sie irgendwie befriedigt hätte, also geht sie dahin zurück, wo die Liebe, das Glück am reinsten und am stärksten behauptet wurde, in die Vergangenheit. 790 Als Zeitraum des Glücks präsentiert Schimmelpfennig die Vergangenheit auch in der bereits mehrfach zitierten Szene 43 aus „Vorher/ Nachher“, wo „Die Grille“ von vergangenen Zeiten schwärmt. 791 Positiv aufgeladen ist die Vergangenheit auch in „Der goldene Drache“ und steht damit, wie in den bereits zitierten Stücken, in Kontrast zu einer düsteren Gegenwart. Deutlich wird dies vor allem in Szene 5, in der es um ein junges Liebespaar geht, das aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft in einer schweren Beziehungskrise steckt. Die gemeinsame glückliche Zeit gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart wird als „absolute Katastrophe“ empfunden. 792 Aber auch die altersbedingte Krise des Großvaters in Szene 9 verdeutlicht die in Schimmelpfennigs Theatertexten thematisch dominante Idealisierung der Vergangenheit: DER JUNGE MANN 793 Die Haare, die verschwinden. Die Zähne, die ausfallen. Im Alter: zahnlos, wer hätte das gedacht, dass wirklich die Zähne ausfallen. Ich wäre so gerne wieder, wie ich einmal war. Jung. Ich wünschte, ich wäre wieder jung. Pause. Ich wäre so gerne wieder, wie ich einmal war. 794 Ebenso deutlich hervor tritt der Gegensatz zwischen einer sorgenfreien Vergangenheit und einer belastenden Gegenwart in „Ende und Anfang“, wie im Folgenden an zwei Szenenauszügen illustriert werden soll. Das Stück beginnt mit einem Rückblick, ein altes Photo ruft vergangene glückliche Zeiten in Erinnerung: 789 FF, S. 644. 790 „Ausblick in die Ewigkeit“. In: Programmheft des Bayerischen Staatsschauspiels, „Die Frau von früher“. 791 VN, S. 451. Siehe S. 101 dieser Arbeit. 792 GD, Szene 5. 793 In GD besetzt Schimmelpfennig die Rollen gezielt gegen den Strich, so wird der Großvater von einem jungen Mann gespielt. 794 GD, Szene 9. <?page no="190"?> 190 Am Anfang: Ein Photo klebt an der Kühlschranktür, ein Schwarzweißabzug neun mal dreizehn, viele Menschen stehen dichtgedrängt, gutgelaunt, ein Empfang, ein Fest, eine Premierenfeier, eine junge Frau, lachend, glücklich, und ein junger Mann, nur halb von hinten zu sehen, der ihre Hand küßt. 795 In der mit 2. übertitelten Szenenfolge wird dem damaligen Erscheinungsbild der jungen Frau das gegenwärtige gegenübergestellt: In der Tiefe des Raumes eine Frau mit einem Funktelephon in der Hand, sie steht auf einem Stuhl. Sie ist in den vergangenen zwei Jahren alt geworden, ganz verändert. Die Anstrengung hat sich in ihrem Gesicht festgesetzt, die Angst, die Erschöpfung - bei aller Fröhlichkeit, die sie noch immer haben kann. Man sieht die Unruhe in den Augen. 796 Während der an den Anfang gestellte Rückblick seine positive Wirkung der Fülle an Adjektiven verdankt, die Ausgelassenheit, Unbeschwertheit und Lebensfreude implizieren, dominieren die Substantive Anstrengung, Angst, Erschöpfung und Unruhe das Bild der Gegenwart. Die Gegenüberstellung von glücklicher Vergangenheit und düsterer Gegenwart erinnert an Tschechows Dramen, allen voran an das Drama „Drei Schwestern“, in dem die Erinnerungen an das unbeschwerte Leben in der Heimatstadt Moskau die Gegenwart der Geschwister Prosorow überschatten und erdrücken. 797 Wie Tschechow so präsentiert auch Schimmelpfennig das vergangene Glück als unwiederbringlich verloren. Es kann nicht zurückgeholt werden. So verblasst auch die Erinnerung der Figuren an ihre Vergangenheit. Schimmelpfennigs Figurenpersonal kennzeichnet ein radikaler Erinnerungsverlust, der sie zu Suchenden macht. Sie sind auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit, den Wurzeln, von denen man sich Halt und Richtung verspricht. Der Versuch, die verlorenen Erinnerungen zurückzugewinnen, durchzieht Schimmelpfennigs Stücke wie ein Leitmotiv - Erinnerungen, die Bruchstücken gleichen, deren Rekonstruktion sich als schier unmöglich erweist. Die einstige Ganzheit scheint unwiederbringlich verloren, denn wie der Autor in seinen Texten vor Augen führt, lässt sich die Zeit nicht zurückholen, sie schreitet, trotz des Versuchs sie in Form von Gedankenschleifen und Erinnerungen aufzuhalten und zu konservieren, unverdrossen und unerbittlich voran. Schimmelpfennigs Stücke erzählen von einem kollektiven Erinnerungsverlust. Die intensivste Auseinandersetzung mit dem Thema der verlorenen Zeit weist „Vor langer Zeit im Mai“ auf. Der in kurze Szenenfragmente zergliederte Dialog zwischen einem anonymen ER und einer anonymen SIE kreist um eine gemeinsame Vergangenheit, die weit zurückzuliegen scheint. Behutsam fragend versuchen die Figuren, sich des gemeinsam 795 EA, S. 159. 796 EA, S. 175. 797 Vgl. Szondi 1959, S. 27. <?page no="191"?> 191 Erlebten zu erinnern. So werden Erinnerungssplitter einer längst vergangenen Liebe sichtbar. Schimmelpfennig verzichtet auf jegliche Form der zeitlichen Progression und verschreibt seinen Theatertext ganz der Auseinandersetzung mit der erinnerten Zeit. In seiner Zeitgestaltung gleicht das Stück damit Becketts „That Time“, dessen Zeitstruktur Lehmann wie folgt beschreibt: Es gibt fragmentarische Narration, aber keinen Zeit-Raum für dramatische Handlung im Jetzt der Bühne. Zeit schreitet nicht voran, sondern gräbt sich in sich selbst ein, kreist und faltet sich als erinnerte Zeit. Die Suche nach einer verlorenen Zeit ist das gemeinsame Thema der drei erinnerten Szenen in »That Time«. 798 Auch bei Schimmelpfennig ist es die Suche nach einer verlorenen glücklichen Zeit, die die einundachtzig Bilder des Theatertextes leitmotivisch verknüpft. Wie unwiederbringlich verloren diese Zeit ist, um die die Szenenfragmente kreisen, verdeutlicht ein in den Text integriertes Lied, dessen Strophen mehrfach wiederholt werden. In Strophe zwei des Liedes heißt es: Verzeih, daß wir nicht wir mehr sind, so wie wir einmal waren, daß auch der Mai nie mehr so wird wie einst vor vielen Jahren. So waren wir, nur du und ich, das ist so lange her - das war wohl so, so waren wir und werden so nie mehr. 799 Im Unterschied zum Umgang mit der Erinnerungsthematik in seinen anderen Stücken können sich die Figuren in „Vor langer Zeit im Mai“ aber noch an die vergangene Zeit erinnern. Auf die Frage „Erinnerst du dich? “ wird eine klare Antwort gegeben: „Aber ja, natürlich. Wie könnte ich mich nicht erinnern.“ 800 So scheint die Zeit, von der die Rede ist, nun doch nicht ganz verloren, da sie in der Erinnerung der zwei Hauptprotagonisten fortlebt. In Schimmelpfennigs jüngeren Stücken „Besuch bei dem Vater“ und „Ende und Anfang“ wird hingegen das Abhandenkommen der Erinnerung als unwiederbringlicher Verlust gelebter Zeit thematisiert. Es scheint, als arbeite Schimmelpfennig sich an Pierre Noras Diktum des verlorenen Ge- 798 Lehmann 1999, S. 324. 799 VLZM, S. 141. 800 VLZM, S. 138. <?page no="192"?> 192 dächtnisses ab. 801 Immer wieder wird der Erinnerungsverlust thematisiert. In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ widmet Schimmelpfennig der Erinnerungsthematik eine ganze Szene. Die Figur Ulrich kann nicht glauben, dass seine langjährige Geliebte Anne die gemeinsamen Erinnerungen abgelegt hat. Auch hier ist die Vergangenheit Sinnbild für Glück und Harmonie. So schwingt in Ulrichs Frage „Was ist mit unseren Erinnerungen? “ 802 , die bereits das Ende dieser glücklichen Zeit ahnen lässt, deutliche Verzweiflung mit. Indem Anne die gemeinsamen Erinnerungen negiert, wird das gemeinsam Erlebte, die gemeinsame Vergangenheit der Auflösung preisgegeben, denn die Vergangenheit hat nur dann Bestand, wenn sie erinnert wird. So erklärt sich auch Ulrichs Fassungslosigkeit: ULRICH Daran erinnerst du dich nicht? Das ist nicht wahr. Du erinnerst dich nicht mehr daran? 803 Welche gravierenden Folgen der Verlust des Gedächtnisses als Ort der Erinnerungen und als Speicher gelebter Zeit für das Individuum mit sich bringt, verdeutlicht ein Ausspruch von Peter aus „Ende und Anfang“: PETER Noch verfügst du über die Erinnerungen, noch, aber was, wenn die Bilder aus deinem Kopf verschwinden. Dann haben all die Dinge niemals stattgefunden. 804 Der Verlust der Erinnerungen wird hier als Auslöschen der eigenen Biographie verstanden. Im Unterschied zum Erinnerungsverlust in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, der einem bewussten Verdrängen der geteilten Zeit gleicht, präsentiert er sich in den Stücken der „Trilogie der Tiere“ als unaufhaltsamer Prozess, dem das Individuum machtlos ausgeliefert ist. Die Figuren aus „Besuch bei dem Vater“ und „Ende und Anfang“ haben den Zugriff auf die Erinnerungswelt verloren, während sich die Figur Anne ihm willentlich verschließt. Die Tatsache, dass Peter sich selbst auf alten Photos nicht wiedererkennt, 805 verdeutlicht den bereits vorangeschrittenen Entfremdungsprozess dieser Figur. Genauso ergeht es seinem Vater Heinrich und seiner Halbschwester Isabel. 806 Schimmelpfennigs Figurenpersonal vermag keine Aussage über ein „Für- Sich-Sein“ zu machen. Die Tragik des persönlichen Erinnerungsverlustes 801 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990, S. 11: „Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.“ 802 ASW, S. 255. 803 Ebd. 804 EA, S. 191. 805 EA, S. 160, 226-227. 806 BV, S. 42, EA S. 226-227. <?page no="193"?> 193 erhöht sich darüber hinaus dadurch, dass sich auch Außenstehende nicht an den anderen erinnern: PETER Kein Mensch weiß überhaupt noch, wie du aussiehst. […] Kein Mensch erinnert sich noch daran, daß es dich überhaupt gibt. 807 Die Hoffnung, mithilfe des Gegenübers zu seiner Identität zu finden, wird bitter enttäuscht. So ist nicht nur das Sartreske „Für-Sich-Sein“ dem Vergessen anheimgefallen, auch das „Für-Andere-Sein“ scheint ausgelöscht worden zu sein. Ein weiterer Szenenauszug aus „Das Reich der Tiere“ zeugt vom Fehlen eines zwischenmenschlichen Bezugs zwischen den Protagonisten. Ohne diesen ist ein „Für-Andere-Sein“ schier nicht möglich: FRANKIE Du hast vergessen, wie ich heiße, oder? Wenn du hier morgen rausgehst, wüsstest du nicht mal, wer ich war. Kurze Pause. CHRIS Stimmt. 808 Obwohl Frankie und Chris eine vier Szenen andauernde Tête-à-tête- Konversation geführt haben, kann Chris sich am Ende des Gesprächs nicht mehr an den Namen seines Gegenübers erinnern. Doch nicht nur die Figuren in Schimmelpfennigs Stücken kämpfen gegen das Vergessen und das eigens verschuldete Ausradieren der eigenen Lebenszeit an: Im zeitgenössischen deutschen Theater nimmt das Thema Erinnerungsverlust einen zentralen Platz ein, wie ein Zitat aus Dea Lohers Theatertext „Das letzte Feuer“ (UA Januar 2008) verdeutlicht: FRAU SCHRAUBE Den Augenblick genießen, in der Gegenwart leben. Scheiß auf den Blödsinn, darin besteht die Freude nicht. Was hab ich von dem Moment, wenn ich mich morgen nicht mehr an ihn erinnern kann. Freude - dazu brauch ich Vergangenheit. Und die fällt mir nicht mehr ein. Ohne Gedächtnis bist du weniger als ein Tier - 809 Und auch in dem Stück „Der Stein“ von Marius von Mayenburg ist der Umgang mit der Erinnerung von großer thematischer Relevanz. 810 Die Vergangenheit wird zum Garanten der eigenen Identität. Wer sich nicht erinnert, gerät in die Krise und „ist weniger als ein Tier“. Neben den oben beschriebenen Formen einer Semantisierung der Vergangenheit weisen einige von Schimmelpfennigs Texten auch klare Semantisierungen der Zukunft auf. Diese erscheint düster und hoffnungslos, wie die Vorausdeutung des Mannes mit dem Manuskript in „Vorher/ Nachher“ verdeutlicht: 807 RT, S. 93. 808 RT, S. 143. 809 Dea Loher: Das letzte Feuer. Stückabdruck Theater heute 03/ 08, S. 8. 810 Marius von Mayenburg: Der Stein. Stückabdruck Theater heute 10/ 08, S. 4, 7. <?page no="194"?> 194 DER MANN MIT DEM MANUSKRIPT Ein Feuersturm wird durch unsere Täler ziehen wie durch einen Kamin, und nichts wird übrig bleiben, nichts von all dem. Nichts ist ewig, und nichts bleibt so, wie es ist. […] von all dem, was wir waren, zeugt nur noch die Wüste der Vernichtung, nicht einmal die Erinnerung wird noch sein, nur noch das Nichts, nicht einmal mehr der Schmerz, denn nichts wird übrig sein nach jenem Sturm, und nichts mehr sein so wie früher. 811 Ähnlich unheilvoll präsentiert sich die Zukunft in „Auf der Greifswalder Straße“, wo sie in Verbindung mit Krankheit und Leid gebracht wird: […] die Zukunft, das heißt vor allem die späteren Krankheiten: Leberkrebs mit Mitte Fünfzig für den Jungen in der zweiten Reihe, Grauer Star auf beiden Augen für den Jungen vorne rechts, Morbus Crohn bei dem Mädchen mit den Zöpfen und Hodenkrebs bei dem Jungen hinten, schon in fünfzehn Jahren. Blutkrebs, Brustkrebs, Gehirnblutung und Herzinfarkt. 812 Und auch in „Besuch bei dem Vater“ fällt die von Peter gegebene Zukunftsvision, nach der er und seine Schwester als Versuchspersonen oder Tierpfleger enden, äußerst düster aus. 813 In „Ende und Anfang“ ist diese Vision dann Wirklichkeit geworden. Von der Zukunft erwarten die Figuren nichts mehr, sie haben sich und ihr Leben aufgegeben, wie der folgende Auszug verdeutlicht: […] das hattest du dir nicht so vorgestellt, wie schwer das wird, wie schwer das wird, wenn man nicht weiterkommt, wenn nichts mehr, nichts mehr, nichts mehr kommt, da durch, da musst du durch, wo durch denn, wenn da nichts mehr kommt, da durch, das ist der Unterschied, die einen schaffen das, die anderen nicht, ich nicht, ich nicht […] 814 Das redundante, anaphorische Sprechen bringt die Verzweiflung der Figur zum Ausdruck. Schimmelpfennig unterstreicht damit die Ausweglosigkeit der Situation. Seine Stücke spielen sich folglich in einem Raum zwischen einer glücklichen, aber auf ewig verlorenen Vergangenheit und einer hoffnungslosen Zukunft ab, die die Gegenwart überschattet und den Figuren wenig Handlungsspielraum lässt. Nur wenn sie wie „Die Grille“ in „Vorher/ Nachher“ den Mut zur Veränderung haben, können sie auf eine positive Zukunft hoffen. 811 VN, S. 434-435. 812 GS, Szene 3.8, S. 453-454. 813 BV, S. 48. Vgl. S. 99 dieser Arbeit. 814 EA, S. 171. <?page no="195"?> 195 3.5. Fazit der zeitlichen Strukturanalyse Wie die Untersuchung der Zeitstrukturen gezeigt hat, gibt Schimmelpfennig zeitlichen Verfahren den Vorrang, die zu einer Aufhebung der Sukzession führen. Die Zeit schreitet meist nicht linear voran, sondern wird in postdramatischer Manier in heterogene Splitter zerlegt. 815 Um das zeitliche Kontinuum zu durchbrechen, greift der Autor mit Vorliebe zu Episierungstechniken. Grund für den vermehrten Einsatz epischer Strukturen ist die mit dem Verzicht auf die drei Einheiten einhergehende Zersplitterung von Handlung, Zeit und Raum. Während im klassischen Drama die Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit den Zusammenhalt und die Kohärenz der Szenen garantieren, überantwortet Schimmelpfennig diese Aufgabe vermehrt epischen Vermittlungsfiguren. 816 Immer wieder wird das Fortschreiten der Handlung durch den Einschub narrativer Passagen aufgehalten, in denen eine außerhalb der inneren Spielebene stehende Erzählerstimme laut wird. Oder aber die Figuren werden selbst zu Erzählern. Der epische Bericht ersetzt die Handlung, der Monolog den Dialog. Aus Bühnenvorgängen werden Erzählgegenstände. Damit büßen die zwei wichtigsten Formkategorien des Dramas, Handlung und Dialog, an Bedeutung ein, 817 ohne jedoch im postdramatischen Sinne gänzlich außer Kraft gesetzt zu werden. Das Drama wird episiert - eine Entwicklung, die Szondi schon Mitte des 20. Jahrhunderts konstatiert und zum Anlass für die Anfertigung seiner „Theorie des modernen Dramas“ nimmt: Da die Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selber wegführt, ist bei ihrer Betrachtung ohne einen Gegenbegriff nicht auszukommen. Als solcher stellt sich ›episch‹ ein: es bezeichnet einen gemeinsamen strukturellen Zug von Epos, Erzählung, Roman und anderen Gattungen, nämlich das Vorhandensein dessen, was man das »Subjekt der epischen Form« oder das »epische Ich« genannt hat. 818 Im Unterschied zu den von Szondi betrachteten Autoren geht es Schimmelpfennig aber nicht so sehr um eine Rettung des Dramas in seiner traditionellen Form, als vielmehr um ein Ausloten und Erweitern der Grenzen der Gattung. Dies verdeutlichen die etlichen Formexperimente, die er auf der Ebene der Zeit durchführt. Verfahren der völligen Auflösung der Zeit werden mit Mitteln ihrer forcierten Bewusstmachung kombiniert und auf diese Weise in ihrer konträren Wirkung verstärkt. Oftmals wird die Konti- 815 Lehmann 1999, S. 344. 816 Auch Szondi verweist auf die Notwendigkeit eines epischen Ich, wenn Zeit und Raum Auflösungstendenzen anheimfallen: „Zudem setzt die räumliche Zerrissenheit (wie die zeitliche) das epische Ich voraus.“ In: Szondi 1959, S. 16. 817 Szondi 1959, S. 29. 818 Ebd., S. 11. <?page no="196"?> 196 nuität der Zeit durch Brüche und Diskontinuitäten untergraben, um sogleich wieder durch zeitliche Fixierungen verstärkt ins Bewusstsein gehoben zu werden. Wiederholungen und Rückblenden, die keine futurische Intention besitzen und damit einer traditionellen dramatischen Zeitstruktur widersprechen, 819 bewirken ein Aussetzen der Sukzession. Beim Rezipienten führen sie eine Verwirrung des Zeitgefühls herbei. Die zeitliche Gestaltung in Schimmelpfennigs Theatertexten ähnelt damit der postdramatischen Zeitästhetik, die Verfahren wie Rückblenden, Zeitsprünge und obstinate Wiederholungen einsetzt, um eine Verzerrung des konventionalisierten dramatischen Zeitempfindens zu erreichen. 820 In Analogie zur postdramatischen Zeitästhetik hebt Schimmelpfennig die Homogenität der Zeit somit zugunsten der Interferenz heteronomer Zeiträume auf. 821 Und doch gibt es gravierende Unterschiede zwischen Schimmelpfennigs Zeitästhetik und der des postdramatischen Theaters: Während es in der Postdramatik zu einer Verschmelzung der Zeitebenen der Darstellung und des Dargestellten kommt, 822 sind die beiden Ebenen in Schimmelpfennigs Theatertexten strikt getrennt. Die repräsentierte Zeit ist hier immer Teil eines fiktiven Erzählkosmos und verfügt als solche über eine eindeutige Denotierung. 823 Wie oben aufgezeigt wurde, legt Schimmelpfennig den raum-zeitlichen Fokus seiner Texte oftmals auf die Ebene des simultanen Nebeneinanders. Auch darin, in der Bevorzugung des Prinzips der Simultaneität vor dem Prinzip der Sukzession, ähneln seine Stücke der Postdramatik, denn so Lehmann: Die hier dominant werdende Simultaneität gehört auch in der Bühnenaktion selbst zu den wesentlichen Merkmalen postdramatischer Zeitgestaltung. 824 Allerdings handelt es sich bei Schimmelpfennig nicht um eine Verknüpfung von Körperzeit und technologischer Zeit, sondern von verschiedenen in sich geschlossenen fiktiven Zeiteinheiten. In der Mehrzahl seiner Stücke bleibt die „temporale Identität der einzelnen Wirklichkeiten“ 825 erhalten. Ansätze zu einer Destrukturierung und Auflösung der dramatischen Zeit finden sich lediglich in „Vor langer Zeit im Mai“ und „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“. So werden in „Vor langer Zeit im 819 Vgl. Pütz 1970, S. 156. 820 Vgl. Lehmann 1999, S. 329-330. 821 Ebd., S. 301, 342-345. 822 Vgl. Lehmann 1999, S. 328-329: „Die postdramatische Zeitästhetik der Realzeit sucht zwar ebenfalls nicht die Illusion, das heißt aber nun: der szenische Vorgang ist von der Zeit des Publikums nicht abzulösen.“ Siehe auch: Ebd., S. 301 und 327. 823 Vgl. Lehmann 1999, S. 330. 824 Ebd., S. 344. 825 Ebd., S. 343. <?page no="197"?> 197 Mai“ Zeit-Räume durch eine starke Redundanz der Dialoge willentlich verwischt. Eine zyklische Zeitstruktur ersetzt das dramatische Fortschreiten der Zeit und verhindert ein Drängen auf den Schluss. In „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ sind es hingegen der rätselhaft apodiktische Charakter der einzelnen Repliken und das Fehlen eines erkennbaren Gesamtzusammenhangs, der die Szenen zu einem „sinnvollen“ Ganzen zusammenfügen könnte, die die Zerstörung des Zeitkontinuums herbeiführen. Wie in „Vor langer Zeit im Mai“ wird aber auch hier nicht gänzlich auf zeitliche und räumliche Orientierungspunkte verzichtet, Informationen zu Zeit und Raum werden immer wieder eingestreut. Überhaupt gilt es festzuhalten, dass der häufige Einsatz des Mittels der Repetition zwar auf eine Verdichtung der Zeit abzielt, nicht aber die Dekonstruktion von Fabel, Bedeutung und Formtotalität zum Ziel hat, wie Lehmann es für das postdramatische Theater nachweist. 826 Die zahlreichen Repetitionen dienen hier vielmehr der Strukturierung und dem Aufbau einer Form. 827 Dramatische und postdramatische Zeitkonzepte werden einander gegenübergestellt und ineinander verwoben, ohne dass es dabei zur völligen Auflösung der dramatischen Form käme. Im Unterschied zu den Maximen der Postdramatik, die die Fabel verabschieden, bildet sie weiterhin die Grundlage von Schimmelpfennigs Theatertexten. Damit schreibt Schimmelpfennig das Brechtsche Erbe fort. 828 Zwar untergräbt er die dramatische Form, höhlt sie durch Formexperimente aus, aber bringt sie nicht zum Einsturz. Dialog, Figuren, Handlung, Zeit und Raum bleiben als dramatische Strukturelemente erkennbar. Die stilistische und logische Kohärenz zerfällt nicht, sie bleibt bei aller Experimentierfreudigkeit erhalten. Das Spiel mit den Strukturelementen des Dramas bedeutet somit nie eine Absage an die Gattung, sondern zielt vielmehr auf ihre ästhetische Erneuerung ab. Denn trotz der Auflösung der dialogischen Rede und der Zergliederung von Zeit und Raum in winzige Splitter gelingt es Schimmelpfennig, seinen Stücken ein dramatisches Gewand zu geben, das die Vielzahl der eigenständigen Szenen zu Sinneinheiten verknüpft. Die von ihm angewandten Verfahren zur Wahrung der Kohärenz auf der Ebene der Zeit wurden in diesem Kapitel vorgestellt. Traditionell ist auch die enge Verquickung von Bild- und Handlungsebene, mit der der Autor eine sympathetische oder kontrastierende Wirkung erzielt. Wie die formale Untersuchung der Raum- und Zeitstruktur verdeutlicht hat, weisen Schimmelpfennigs Theatertexte in ihrer raum-zeitlichen Gestaltung somit eine Abkehr von der Postdramatik auf: In der großen 826 Ebd., S. 336. 827 So beispielsweise in: AN, PU, VN, EA. 828 Vgl. Lehmann 1999, S. 47-48. <?page no="198"?> 198 Mehrzahl der Stücke besitzen Raum und Zeit trotz ihrer Zersplitterung eine vom Autor vorgegebene Signifikatstruktur. Es lassen sich Semantisierungen der Zeit nachweisen. <?page no="199"?> 199 4. Chronotopische Strukturen 4.1. Handlungsbedingte Sinnkonstitutionen von Raum und Zeit Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit- und Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (Raumzeit müsste die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. Michail M. Bachtin 829 Nachdem die räumliche und die zeitliche Struktur von Schimmelpfennigs Theatertexten gesondert betrachtet wurden, widmet sich das folgende Kapitel dem Zusammenspiel von Raum, Zeit und Handlung. Wie in den methodischen Vorüberlegungen angekündigt, soll der Nachweis für eine produktive Nutzung traditioneller Chronotopoi erbracht werden. Das Vorhandensein einer solchen symbolisch-sinnhaften Beziehung zwischen Raum und Zeit in Schimmelpfennigs Dramenwerk untermauert die These einer Abkehr von postdramatischen Strukturprinzipien, denn das postdramatische Theater verschreibt sich der Auflösung solcher Signifikatstrukturen. Wie Lehmann betont, wird die Thematik der Zeit im postdramatischen Theater von der Ebene des Signifikats auf die Ebene des Signifikanten verschoben. 830 Gleiches lässt sich für die postdramatische Raumstruktur festhalten. Während das Postdramatische auf einem metonymischen Raumverständnis basiert, ist der Raum des dramatischen Theaters ein metaphorisch-symbolischer, wie auch Lehmann darlegt: […] der Raum ist hier im technischen wie im mentalen Sinn Fenster und Symbol, der Realität »dahinter« analog. Er bietet ein sozusagen maßstäbliches, durch Abstraktion und Betonung gewonnenes metaphorisches Äquivalent der Welt […]. 831 Die Ausgestaltung der Signifikatstruktur durch eine gezielte Nutzung literarischer Chronotopoi kann also als Indiz für eine Rückkehr des Dramas herangezogen werden. Da der Chronotopos immer ein Wertmoment ein- 829 Bachtin 2008, S. 7. 830 Lehmann 1999, S. 318. 831 Ebd., S. 288. <?page no="200"?> 200 schließt und das Werk ins Verhältnis zur Wirklichkeit setzt, macht er die Präsenz des Autors deutlich: Das Verhältnis des Autors zu den verschiedenen Erscheinungen der Literatur und Kultur hat dialogischen Charakter, analog den Wechselbeziehungen zwischen den Chronotopoi innerhalb des Werkes […] Es wurde bereits festgestellt, dass sich der Autor als Schöpfer nicht schlechthin außerhalb der Chronotopoi der von ihm darzustellenden Welt, sondern gewissermaßen auf einer Tangente zu diesen Chronotopoi befindet. 832 Das Auffinden chronotopischer Werte in einem Text lässt Zweifel an Barthes Diktum vom Tod des Autors aufkommen. Auch wenn die dargestellte Welt niemals chronotopisch mit der darstellenden realen Welt des Autors zusammenfallen kann, 833 wie Bachtin seine oben zitierten Ausführungen ergänzend hinzufügt, 834 so stellt das literarische Werk dennoch eine Reflexion des Autors auf diese Welt dar, eine „Widerspiegelung und künstlerisch[e] Aufbereitung“ 835 von Realitätsaspekten. Bachtins Untersuchungsergebnisse beziehen sich bekannterweise auf die Gattung des Romans, es stellt sich daher die Frage, inwieweit man es auch in zeitgenössischen Theatertexten mit einer literarischen Aneignung der realen historischen Zeit, des realen historischen Raumes und des realen historischen Menschen zu tun hat. Wie die raum-zeitlichen Analysen in Kapitel zwei und drei dieser Arbeit gezeigt haben, lässt sich eine solche künstlerische Aufbereitung und Widerspiegelung von Realitätsaspekten auch in Schimmelpfennigs Stücken nachweisen. Deutlich wird dies auch in dem an den Anfang dieser Arbeit gestellten Schimmelpfennigzitat: 832 Bachtin 2008, S. 194. 833 Auch Szondi betont die Trennung der dramatischen Welt von der Welt des Autors und ist dabei noch rigoroser als Bachtin: „Das Drama ist absolut. Um reiner Bezug, das heißt wesenhaft dramatisch sein zu können, muß es von allem ihm Äußerlichen abgelöst sein. Es kennt nichts außer sich. Der Dramatiker ist im Drama abwesend. Er spricht nicht, er hat Aussprache gestiftet. Das Drama wird nicht geschrieben, sondern gesetzt. Die im Drama gesprochenen Worte sind allesamt Entschlüsse, sie werden aus der Situation heraus gesprochen und verharren in ihr; keineswegs dürfen sie als vom Autor herrührend aufgenommen werden. Das Drama ist lediglich als ein Ganzes zum Autor gehörend, und dieser Bezug gehört nicht wesenhaft zu seinem Werksein.“ In: Szondi 1959, S. 13. Im Zuge der Episierung des Dramas wurde die von Szondi zum Wesenszug deklarierte Absolutheit des Dramas jedoch langsam aufgeweicht. Es stellt sich die Frage, ob die narrativen Sequenzen und epischen Kommentare in zeitgenössischen Theatertexten nicht doch auf die Präsenz des Autors verweisen. 834 Bachtin 2008, S. 194-195. 835 Ebd., S. 7. <?page no="201"?> 201 Ich erfinde einen Ausschnitt von Realität, den stell ich auf die Bühne - […] überhöhe, verdichte […] 836 Das Verb „erfinden“ verweist auf die Abweichungen zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit, zu denen es im Zuge der künstlerischen Aufbereitung der Realität kommt. Darüber hinaus unterstreicht es die Aktivität des Dichters bzw. des Dramatikers, seine Fähigkeit, Welt hervorzubringen. Der der Wirklichkeit entlehnte Stoff wird in der Dichterrespektive Dramatikerwerkstatt überhöht und verdichtet. Im künstlerischen Akt des Schreibens entsteht somit eine eigene Welt, die trotz ihrer Eigenständigkeit als Kunstwerk immer auch eine Abarbeitung des Dichters an der Realität darstellt. Es spricht folglich nichts dagegen, bei der chronotopischen Analyse von Schimmelpfennigs Dramatik auch autorintentionalistische Argumentationen in Erwägung zu ziehen, ohne damit dem Vorwurf der theoretischen Naivität erliegen zu müssen. Es erscheint vielmehr interpretatorisch gewinnbringend, das Werk als Reflexion des Autors auf unsere Welt zu verstehen, denn wie die Herausgeber des Sammelbandes „Rückkehr des Autors“ stichhaltig belegen, 837 ist das Dogma vom intentionalistischen Fehlschluss aus heutiger Sicht überholt. 838 Im Folgenden werden nun die in Schimmelpfennigs Dramenwerk dominanten Chronotopoi vorgestellt und auf ihre „emotional-wertmäßige Färbung“ hin untersucht. 839 Neben dem Wechselspiel von Raum und Zeit wird auch die Verquickung der Bildebene mit der Handlungsebene untersucht. Dabei geht es um die Beantwortung der oben 840 formulierten Fragen: Inwieweit bedingt die mikrostrukturelle Ebene (Bildebene) der Raum- und Zeitelemente das Handeln der Figuren auf der makrostrukturellen Ebene (Handlungsebene) und inwieweit hängt die Konstitution der mikrostrukturellen Ebene unmittelbar von der Handlung der Figuren auf der makrostrukturellen Ebene ab? Es soll Aufschluss über die sujetbildende Bedeutung des Chronotopos gegeben werden, die Bachtin besonders hervorhebt: Fragen wir nach der Bedeutung der hier behandelten Chronotopoi, so fällt vor allem ihre Relevanz für das Sujet ins Auge. Sie sind die Organisationszentren 836 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. Vgl. S. 14 dieser Arbeit. 837 Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.) 1999. 838 Zur Rückkehr des Autors siehe S. 28-30 dieser Arbeit. 839 Vgl. Bachtin 2008, S. 180: „In der Kunst und Literatur sind alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden und stets emotional-wertmäßig gefärbt.“ 840 Siehe S. 59 dieser Arbeit. <?page no="202"?> 202 der grundlegenden Sujetereignisse des Romans. Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt und gelöst. 841 Inwieweit lässt sich diese Bewertung des Chronotopos als Organisationszentrum der Handlung auf Schimmelpfennigs Theatertexte übertragen? 4.2. Chronotopos der Begegnung Von allen Chronotopoi, die sich in Schimmelpfennigs Dramenwerk nachweisen lassen, ist der Chronotopos der Begegnung der wohl bedeutendste. Er findet sich in allen Stücken. Zeit und Raum bilden in diesem Chronotopos eine untrennbare Einheit. Damit es zur Begegnung kommen kann, müssen Zeit und Ort sich decken: In allen Begegnungen ist […] die zeitliche Bestimmung (»zu ein und derselben Zeit«) nicht zu trennen von der räumlichen Bestimmung (»an ein und demselben Ort«). Auch wenn das Motiv negativ ist (»sie sind sich nicht begegnet, sie haben sich verfehlt«), bleibt die Chronotopie erhalten, nur wird das eine oder andere Glied des Chronotopos mit einem negativen Vorzeichen versehen. 842 In Schimmelpfennigs Stücken ist diese zeitliche und räumliche Deckungsgleichheit oftmals dem Zufall geschuldet, vor allem dort, wo Schimmelpfennig den Chronotopos der Begegnung mit dem ihm verwandten Chronotopos des Weges oder der Straße verknüpft, wie etwa in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ und „Auf der Greifswalder Straße“. 843 Bachtin unterstreicht die besondere Bedeutung des Chronotopos der Begegnung für die Epik: Sehr häufig erfüllt der Chronotopos der Begegnung in der Literatur kompositionelle Funktionen: Er dient zur Schürzung des Knotens, bildet zuweilen den Kulminationspunkt oder sogar die Lösung (das Finale) des Sujets. Die Begegnung ist eines der ältesten sujetbildenden Ereignisse der Epik (insbesondere des Romans). 844 Gleichzeitig betont er, dass sich das Wirkungsspektrum des Chronotopos der Begegnung und der mit ihm verwandten Motive nicht allein auf die Epik beschränkt, sondern die anderen Gattungen mit einschließt: Motive wie Begegnung und Trennung (Abschied), Verlieren und Wiedergewinnen, Suchen und Finden, Wiedererkennen und Nichtwiedererkennen gelangen als konstituierende Elemente nicht nur in die Sujets von Romanen, die verschiedenen Epochen angehören und verschieden geartet sind, sondern auch in die 841 Bachtin 2008, S. 187. 842 Ebd., S. 21. 843 ASW, S. 245, 265ff.; GS, Szene 1.10, S. 427-428. 844 Bachtin 2008, S. 21. <?page no="203"?> 203 Sujets von literarischen Werken anderer (epischer, dramatischer und sogar lyrischer) Genres. 845 So zeugt auch Schimmelpfennigs Dramenwerk von der Bedeutung der von Bachtin genannten Motive. Die sujetbildende Funktion des Chronotopos der Begegnung lässt sich besonders gut an „Vorher/ Nachher“ nachweisen. Das Stück erzählt von geglückten und misslungenen, von freudigen und traurigen Begegnungen zwischen Menschen in einem Hotel. Schon der zum Schauplatz der Handlung gewählte Raum des Hotels kann als Sinnbild für das Motiv der Begegnung gedeutet werden, da das Hotel ein Zusammentreffen von Menschen mit gänzlich unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Biographien ermöglicht. Hier kreuzen sich Lebenswege, die ohne das Hotel keinerlei Berührungspunkte hätten. Der Chronotopos des Hotels und der Chronotopos der Begegnung sind folglich eng verquickt. Die Zeit im Chronotopos des Hotels ist eine flüchtige, denn das Hotel gehört zur Gruppe der Durchgangsorte. Interessanterweise nutzt Schimmelpfennig das Potential des Raumes diesbezüglich aber gar nicht aus und konzentriert sich nicht auf das Hotel als räumliches Ganzes, sondern nur auf die einzelnen Hotelzimmer, in denen Begegnungen stattfinden oder von Begegnungen erzählt wird. Die vielen Erzählstränge lassen sich als Variationen zum Thema der Begegnung verstehen: Da ist die vermiedene Begegnung mit sich selbst in der ersten und letzten Szene, das Anbändeln auf einer beruflichen Tagung und die Liebesnacht im Hotel, die Zufallsbekanntschaft in einer Bar, die Begegnung von Jäger und Organismus im Innern des Organismus, das Treffen zwischen Geschäftspartnern, das Kennenlernen auf einer Party, die Begegnung mit der Fremde, mit Gott im Gebet und mit dem Tod. In der Mehrzahl der Szenen fungiert der Chronotopos der Begegnung als Organisationszentrum der Sujetereignisse. Seine Bedeutung ist so zentral, dass man sich mit Blick auf das Stück als geschlossenes Ganzes fragen muss, ob es nicht sogar angemessen wäre, das Motiv der Begegnung zum eigentlichen Sujet zu erheben. Besonders deutlich hervor tritt die sujetbildende Funktion des Chronotopos der Begegnung, in den Szenen, die um das Thema „Liebesabenteuer und Betrug“ kreisen. 846 Wie oben bereits angemerkt wurde, ist der Chronotopos der Begegnung eng verbunden mit dem Chronotopos der Straße und des Weges. Auch in diesem Chronotopos ist die Zeit eine flüchtige, vorwärtseilende: 845 Ebd., S. 20. 846 VN, Szenen 3, 7, 10, 15, 17, 20, 21, 26, 49. <?page no="204"?> 204 Die Zeit ergießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch […] die Metaphorisierung des Weges ist vielfältig und vielschichtig, doch ihr eigentliches Kernstück ist der Strom der Zeit. 847 Als Ort der Bewegung und der Passage 848 ermöglicht die Straße (bzw. der Weg) das zufällige Zusammentreffen von Menschen mit gänzlich unterschiedlichen sozialen Hintergründen: Der »Weg« ist zumeist der Ort der zufälligen Begegnung. Auf dem Weg (der Landstraße) überschneiden sich in einem einzigen zeitlichen und räumlichen Punkt die zeitlichen und räumlichen Wege der verschiedenartigsten Menschen, der Vertreter aller Schichten und Stände, aller Glaubensbekenntnisse, Nationalitäten und Altersstufen. 849 Wie sehr die Ereignisse auf der Straße vom Zufall regiert werden, verdeutlicht die Geschichte des silbernen Löffels, die Schimmelpfennig in sein Stück „Auf der Greifswalder Straße“ integriert. Ihr Inhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Bei Renovierungsarbeiten entdeckt ein Bauarbeiter einen Silberlöffel, der im April 1945 von seinem Besitzer Johann Erdmann aus Angst vor den russischen Plünderungen in die Hauswand eingemauert wurde. Da der Arbeiter den Löffel als wertlos erachtet, wirft er ihn auf die Straße, wo er vor den Füßen eines jungen Mannes landet, der in „die Tochter der Tochter der Tochter der Tochter des Mannes, der den Löffel eingemauert hatte“ 850 verliebt ist. Doch damit noch nicht genug der schicksalhaften Verknüpfungen, Schimmelpfennig spinnt den Schicksalsfaden noch weiter und stellt die Macht des Zufalls besonders heraus: Der Bauarbeiter war - Zufall - der Enkel des russischen Soldaten, durch dessen abgelenkte Kugel Erdmann im April’45 sein Leben verloren hatte. 851 Das Adjektiv „abgelenkte“, das dem Substantiv Kugel beigefügt ist, verdeutlicht: Auch Erdmanns Tod war dem Zufall geschuldet. Die Zufälligkeit seines Todes wird in Szene 3.8 noch einmal betont: […] dann nahm Mischka Kirillowitsch 852 rotierend jedes Fenster, jeden Balkon unter Beschuß, und dabei tötete er Opitz und durch Zufall auch Johann Erdmann, der gerade seinen silbernen Tauflöffel eingemauert hatte. 853 847 Bachtin 2008, S. 181. 848 Vgl. Annette Jael Lehmann: On the Highway. In: Diers, Kudielka, Lammert, Mattenklott (Hgg.) 2005, S. 208-220. 849 Bachtin 2008, S. 180. 850 GS, Szene 3.2, S. 447. 851 Ebd. 852 Mischka Kirillowitsch ist folglich der Großvater des Bauarbeiters, der den Löffel gefunden hat. Er ist nach dem Krieg in Berlin geblieben und arbeitet nun als Puppenspieler auf der Greifswalder Straße. 853 GS, Szene 3.8, S. 453. <?page no="205"?> 205 Die Häufung der Zufälle in „Auf der Greifswalder Straße“ liegt in der Zentralität des Chronotopos der Straße begründet und lässt sich im Rekurs auf Bachtin folgendermaßen erklären: Die Straße eignet sich besonders gut zur Darstellung von Ereignissen, die vom Zufall regiert werden. 854 Die Geschichte des silbernen Löffels illustriert die besondere Bedeutung der Kategorien Schicksal und Zufall für die Konstitution der Begegnung im Chronotopos der Straße und führt damit die enge Verschränkung des Chronotopos der Begegnung mit dem Chronotopos der Straße vor Augen. Schimmelpfennig funktionalisiert die Straße im Bachtinschen Sinne. In seinen Ausführungen zum Chronotopos des Weges hält Bachtin fest: Hier verknüpfen sich auf eigentümliche Weise die räumlichen und zeitlichen Reihen menschlicher Schicksale und Leben. 855 Die Greifswalder Straße wird zum Knotenpunkt, an dem die Schicksale des Figurenpersonals sich kreuzen und ineinander verwoben werden. Doch nicht nur in inhaltlicher, auch in dramaturgischer Hinsicht kommt der Straße eine verknüpfende Funktion zu. Als Organisationszentrum der grundlegenden Sujetereignisse verbindet der Chronotopos der Straße nicht nur die Schicksale der Figuren, sondern sorgt darüber hinaus auch für den Zusammenhalt des aus etlichen Einzelszenen bestehenden Stückes. Wie die Geschichte des silbernen Löffels veranschaulicht, werden die Ereignisse in Schimmelpfennigs Theatertexten nicht von höheren Mächten vorherbestimmt, 856 sondern vom Zufall gelenkt. Das folgende Sprichwort aus „Ende und Anfang“ kann als eine Art Leitsatz betrachtet werden: Der Zufall ist der Vater aller Dinge. 857 So verdanken auch Peter und seine Halbschwester Isabel ihr Wiedersehen in „Ende und Anfang“ dem Zufall. Die Zufälligkeit ihres Aufeinandertreffens im Aufenthaltsraum des Tierlabors wird mehrfach betont: Aber daß wir uns hier wiedersehen - was für ein Zufall - wer hätte das gedacht, daß wir uns hier wiedersehen - Das hätte ich mir heute früh nicht träumen lassen - […] 858 854 Bachtin 2008, S. 181. 855 Ebd. 856 Vgl. „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 232. 857 EA, S. 189. 858 EA, S. 177. Vgl.: EA, S. 176-177: „Was für ein Zufall: […] Peter, Mitte bis Ende Vierzig, […], trifft an diesem Tag nach langer Zeit unvermuteterweise seine Halbschwester wieder […].“ EA, S. 178: „Aber daß wir uns hier wiedersehen, das ist doch - was für ein Zufall, was für ein großer Zufall […].“ <?page no="206"?> 206 Und auch in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ ist das Zusammentreffen zwischen Ulrich, Hans und Katharina im Wald dem Zufall geschuldet, 859 ebenso wie in „Hier und Jetzt“ die Begegnung zwischen Katja und Martin in einem Elektromarkt. 860 Von zentraler Bedeutung ist der Chronotopos der Begegnung auch in „Besuch bei dem Vater“. Schon der Titel des Stückes macht auf die sujetbildende Bedeutung des Motivs der Begegnung aufmerksam. Die Heimkehr des Sohnes Peter stellt den Motor der Dramenhandlung dar. 861 Den Kern des Stückes bilden die Begegnungen zwischen dem Heimgekehrten und den verschiedenen Familienmitgliedern. Die Anfangsszene verdeutlicht die hohe „emotional-wertmäßige Färbung“ des Chronotopos der Begegnung. So drückt sich die innere Bewegtheit von Peters Stiefmutter, ihre Betroffenheit über die zu frühe Ankunft des unbekannten Stiefsohnes in ihrem elliptischen, stockenden Sprechen und im Gebrauch der Interjektion „ach“ aus: EDITH Ihr Vater - ach - ach, Sie sind der - Sie sind Peter - Pause. Sie! - Pause. Ich hatte - ich wusste gar nicht, dass Sie - 862 Schimmelpfennig versteht es, die emotionale Betroffenheit seiner Figuren mit rein sprachlichen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Der Dialog zwischen Stiefmutter und Stiefsohn wird von zahlreichen Pausen skandiert, die das Stocken des Gesprächsflusses markieren. Schimmelpfennig kombiniert das Motiv der Begegnung hier mit dem Motiv des Wiedererkennens, das für die antike Tragödie, so z.B. in Aischylos Orestie oder Sophokles König Ödipus, von zentraler Bedeutung ist. Die „emotional-wertmäßige Färbung“ des Chronotopos der Begegnung kommt auch in der Gestaltung des ersten Aufeinandertreffens von Vater und Sohn zum Ausdruck, das wiederum an antike Wiederkennungsszenen erinnert: PETER steht auf. Papa - HEINRICH vollkommen verwirrt, überrascht, überfordert Bist - bist du das? Das gibt es doch nicht, gerade habe ich 859 ASW, S. 265-268. 860 HUJ, Spalte 2, unten. 861 Gleichzeitig leitet die Rückkehr des Sohnes die Krise und den Wendepunkt im Leben seiner Familie ein, wie im nächsten Kapitel in Zusammenhang mit der chronotopischen Bedeutung der Schwelle dargelegt wird. 862 BV, S. 12. <?page no="207"?> 207 noch - ha! Warum, warum sagt mir keiner Bescheid! Warum sagt mir keiner, daß du hier bist! Junge! 863 Auch hier gelingt es Schimmelpfennig, die emotionale Ergriffenheit der Figur in Worte zu fassen bzw. den Sprachduktus der Figur emotional einzufärben. Von der Kunst, Gefühlsregungen zu versprachlichen, ohne ihre Intensität zu schmälern, zeugt auch die folgende Replik von Peters Vater: HEINRICH […] Und du! Jetzt bist du ja auch da! Kurze Pause. Willkommen - wie - ja - wie soll - wie sollen wir das - wie soll man das begehen - das ist ja fast eine Geburt! Er weint. Oder er weint fast. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. All die Jahre. Kurze Pause. Wenn ich gewusst hätte, daß es dich gibt - Kurze Pause. Kann ich das, darf ich das photographieren, das muß jemand, kann das jemand photographieren, davon müssen wir ein Photo machen - wie steht ihr da - 864 Aus dem redundanten, zögerlichen Sprechrhythmus geht deutlich hervor, wie tief berührt der Vater von der ersten Begegnung mit seinem Sohn ist. Die Nebentexterläuterungen sind hier quasi überflüssig. Die sprachliche Gestaltung der Rede lässt die emotionale Ergriffenheit der Figur überdeutlich werden. In der Eingangsszene tritt die von Lefebvre konstatierte wechselseitige Beeinflussung von Raum und Handlung deutlich hervor. So lässt sich Peters Zögern beim Eintritt in das Haus seines Vaters mit der Fremde des vor ihm liegenden Raumes begründen. Der Raum determiniert hier somit die Handlung. Zum anderen nimmt aber auch Peters stumme Anwesenheit, seine Immobilität Einfluss auf die Raumwirkung. Der Raum verändert sich mit seiner Ankunft, er wird zu einem spannungsgeladenen Raum, einem Raum der erwartungsvollen Stille: In der Tür steht ein junger Mann, Anfang Zwanzig, obwohl er vielleicht älter wirkt. Er hat sich einen alten Wintermantel gekauft, der ihm nicht richtig passt, den er aber für ein sehr gutes Kleidungsstück hält. Isabel nimmt nur kurz Notiz von ihm. Er bleibt in der offenen Tür stehen. Nichts passiert. Es schneit herein. Machen Sie bitte die Tür zu. Pause. Machen Sie bitte die Tür zu. Es wird kalt. Der junge Mann kommt rein, bringt eine Menge Schnee mit, der auf die Teppiche und die Holzdielen fällt. Er schließt hinter sich die Tür. Sie sieht weiterhin nicht zu ihm auf. Er sagt nichts. Zeit vergeht. 865 863 BV, S. 19. 864 BV, S. 20. 865 BV, S. 10-11. <?page no="208"?> 208 Wie der Textauszug verdeutlicht, verändert das schweigende Warten des jungen Mannes nicht nur die Raumwirkung, sondern auch die Wahrnehmung der Zeit. Sie erscheint zäh und ereignislos. In den Nebentextanweisungen heißt es „Zeit vergeht“. Man weiß folglich nicht, wie viel Zeit vergeht. Das Fehlen einer determinierenden Bestimmung der Zeit, in Form eines Mengenadverbs, verleiht ihr einen universalistischen Charakter. Gleichzeitig unterstreicht der Verzicht auf eine Eingrenzung der Zeit ihren durativen Charakter. Es ist eine nicht greifbare Zeit - eine Zeit, die sich einer genauen Bestimmung entzieht und deshalb besonders breit und lastend erscheint. Statisch erscheint auch der Raum, der nach Peters Eintreten jeglicher Bewegung entbehrt. 866 Die negative Raumwirkung wird zum einen durch die einströmende Kälte intensiviert. Zum anderen beeinflusst die gleichgültige Haltung der Halbschwester Isabel die Wirkung des Raumes: Weiteres Läuten an der Tür. Isabel steht auf, ohne die Augen vom Funktelephon zu nehmen, öffnet, ohne hinzusehen, wer vor der Tür steht, und kehrt zu ihrer ursprünglichen Position zurück. 867 Indem Isabel dem Neuankömmling keine Aufmerksamkeit schenkt, ihm lediglich die Tür öffnet und sich dann wieder ihrem Handy widmet, ohne Notiz von dem Wartenden im Türrahmen zu nehmen, verstärkt sie die Negativwirkung des Raumes. Ihre wenig einladende Haltung lässt den Raum statisch und ungastlich erscheinen. Die einströmende Winterkälte korrespondiert mit der Gefühlskälte, die die zwischenmenschliche Ebene dominiert. Schimmelpfennig verstärkt den Eindruck der Beziehungslosigkeit durch die Positionierung der Figuren im Raum. Es findet keine Annäherung zwischen ihnen statt, wie die folgende Nebentextanweisung noch einmal deutlich werden lässt: Er wirft aus der Entfernung einen Blick auf das Telephon, schüttelt den Kopf. Weiteres Drücken. Nichts geschieht. Er steht im Raum, sie beschäftigt sich mit dem Telephon. 868 Das zwischen den beiden Figuren herrschende Distanzverhältnis wird folglich nicht nur durch ihr Schweigen, sondern auch über ihre Positionierung im Raum ausgedrückt. Die Beziehung der Halbgeschwister wird durch das Substantiv „Entfernung“ charakterisiert. Nach Peters Eintritt in den Raum ist die Szene von Immobilität und Stillstand geprägt, und zwar Stillstand auf allen drei Ebenen: So gibt es weder Dialog noch Bewegung im Raum. Lediglich auf der Ebene der Zeit scheint Sukzession stattzufinden, denn es heißt ja: „Zeit vergeht“. Doch ist dieses Fortschreiten der Zeit, wie oben bereits angemerkt, nicht greifbar. Es entzieht sich der Messbar- 866 BV, S. 12. 867 BV, S. 10. 868 BV, S. 11. <?page no="209"?> 209 keit, da der Raum unverändert bleibt. Im Rekurs auf Cassirers Studie 869 zur raumzeitlichen Beziehungsstruktur der Sprache halten Michael C. Frank und Kirsten Mahlke im Nachwort zu Bachtins Chronotopos-Theorie fest: Jegliche Form des Ausdrucks von Beziehungen und geistigen Prozessen ist räumlich angeordnet, das heißt die Zeit ist immer nur unter räumlichen Bedingungen vorstellbar. 870 Zu ihrer Vergegenwärtigung bedarf die Zeit folglich der Veränderung des Raumes, bleibt diese aus, so erscheint auch sie zäh und unbewegt. Gebrochen wird die beschriebene Statik von Handlung, Raum und Zeit erst mit Ediths Auftritt. 871 Indem Bewegung in den Raum kommt, werden auch Handlung und Zeit aus dem Zustand der Erstarrung befreit. Die Gestaltung der Szene führt das enge Wechselspiel von Handlung, Raum und Zeit vor Augen. Es konnte aufgezeigt werden, wie Schimmelpfennig räumliche und zeitliche Merkmale im Chronotopos der Begegnung in Bachtinscher Manier „zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen“ 872 verschmilzt und mit Handlungssequenzen verknüpft. Von Bedeutung ist das Motiv der Begegnung auch in „Das Reich der Tiere“, wo es eine deutliche emotional wertorientierte Färbung besitzt; 873 denn für die Schauspieler beinhaltet jede Begegnung die Hoffnung auf Veränderung, auf einen Ausweg aus der Situation der beruflichen Stagnation und der Ausbeuterei. Von diesem Hoffen zeugt das folgende Textzitat: ISABEL Fünfhundert Euro für ein Abendessen. DIRK Benefiz. Eine Gala. Alle sind da. SANDRA Wer? DIRK Leute - SANDRA Hast du die fünfhundert? DIRK Nein! SANDRA Also - DIRK Aber vielleicht lernt man da jemanden kennen - ISABEL Wen? DIRK Ich weiß nicht. 874 Doch erfüllt sich diese Hoffnung auf einen Neuanfang nur für Frankie, der den jungen, aufstrebenden Regisseur Chris kennenlernt und mit ihm nach New York geht, wo er in der Werbebranche Fuß fasst. 875 869 Ernst Cassirer: Die Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks. In: ders. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Darmstadt 1994, S. 149-183, 149ff. 870 Michael C. Frank, Kirsten Mahlke: Nachwort. In: Bachtin 2008, S. 227. 871 BV, S. 11. 872 Bachtin 2008, S. 7. 873 Vgl. Bachtin 2008, S. 21. 874 RT, S. 147-148. Vgl. RT, S. 153. 875 RT, S. 128, 148; EA, S. 196-197. <?page no="210"?> 210 Nachdem die zentrale Bedeutung des Chronotopos der Begegnung an einigen Stücken ausführlich nachgewiesen wurde, soll der Blick abschließend ausgeweitet werden auf das gesamte Textkorpus dieser Arbeit. Ziel dieses thematischen Überblicks ist es, die sujetbildende Funktion des Motivs der Begegnung in der Gesamtheit der Stücke herauszustellen. In „Die ewige Maria“ ist es die Begegnung zwischen Karl und seinem zurückgekehrten Bruder Franz, durch die der zentrale Wendepunkt in der Handlung eingeleitet wird. Die Bedeutung der Begegnung zeigt sich auch formal in der zentralen Position der Szene. Als sechste von zwölf Szenen bildet sie die Mitte des Stückes. Von thematischer Relevanz ist das Motiv der Begegnung auch in den Stücken mit postdramatischen Einschlägen. Obwohl „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ ein Szenen verbindendes Sujet vermissen lässt und hier folglich nicht von einer sujetbildenden Funktion des Motivs der Begegnung gesprochen werden kann, so ist seine thematische Relevanz für einzelne Szenen nachweisbar. Als Beispiel sei Szene II, 2 genannt, die die zufällige Begegnung zwischen der „Frau auf dem Land“ und dem „Mann aus dem alten Gesindehaus“ schildert. 876 Eine Rolle spielt das Motiv auch im Bericht des „Mann[es] in Arbeitskleidung“ in Szene II, 4. 877 In Szene IV, 1 verbindet Schimmelpfennig es mit dem Motiv der Suche und des Findens: DER MANN IN ARBEITSKLEIDUNG Wo bist du denn gewesen? Warum konnte ich dich damals nicht finden? Ich hätte dich so gerne früher gefunden. Das hätte vieles geändert. DIE JUNGE FRAU IM FRÜHLINGSKLEID Meine Auftraggeber sitzen tief im asiatischen Hinterland. Sie sind verkeilt zwischen gewaltigen Seen und hohen Gebirgszügen. Niemand kennt sie. Nicht einmal die dort umherziehenden Schäfer begegnen Ihnen. Ihre Tarnung ist nicht enttarnbar. 878 Auch die einundachtzig Bilder in „Vor langer Zeit im Mai“ setzen sich mit dem Motiv der Begegnung auseinander. Selbst wenn Schimmelpfennig auf eine individualisierte Figurenzeichnung verzichtet und man daher nicht genau weiß, wer hier auf wen trifft, so bilden die zahlreichen Begegnungen dennoch den thematischen Schwerpunkt des Stückes. Die Dramaturgie des 876 KA, S. 106-109. 877 KA, S. 112-113. 878 KA, S. 118-119. <?page no="211"?> 211 Stückes kann als Begegnungspotpourri beschrieben werden. Wie in „Besuch bei dem Vater“ und „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ taucht das Motiv der Begegnung auch hier in Verbindung mit dem Motiv der Suche und des Findens auf: ER Ja, es geht mir gut. SIE JA? Wie schön, das zu hören. Ich habe so lange nichts von dir gehört. ER Ja, das stimmt. Und ich habe lange nichts von dir gehört. 879 Obwohl der Theatertext kein klar erkennbares Handlungsgerüst aufweist und die einzelnen Szenen fragmentarisch wirken, kommt dem Motiv der Begegnung eine sujetbildende Funktion zu. In den Texten, die eine klare Handlungslinie aufweisen, tritt diese Funktion umso deutlicher hervor. Die Begegnungen werden zu Katalysatoren der Stückhandlungen, mit ihnen entfaltet sich das Konfliktpotential, wie sich besonders gut an „Die Frau von früher“ zeigen lässt: Hier löst die Begegnung mit der Jugendliebe den zentralen Konflikt aus, der in der Katastrophe endet. Das Wiedersehen läutet den Rachfeldzug einer verlassenen Frau ein. Ähnlich verheerende Folgen hat auch Roberts Begegnung mit Maika in „Auf der Greifswalder Straße“. Allerdings bezieht sich die sujetbildende Funktion des Motivs der Begegnung hier nicht auf das gesamte Stück, sondern nur auf einzelne Szenen, zwischen denen ein thematischer Zusammenhang besteht. 880 Zum Auslöser von Konflikten werden Begegnungen auch in „Push Up 1-3“ und „Die arabische Nacht“. In „Push Up 1-3“ führt das Aufeinandertreffen der Konkurrenten zum offenen Eklat und zum beruflichen Aus des Einen, in „Die arabische Nacht“ fordert die Begegnung mit Franziska den Tod der Figuren Kalil und Karpati. Von sujetbildender Bedeutung ist das Motiv der Begegnung darüber hinaus in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, es setzt die Nebenhandlung in Gang, in der es um die gescheiterten Beziehungen der Paare Peter und Anne und Heide und Ulrich geht. Es ist die zufällige Begegnung mit Heide, die Peters Leben grundlegend verändert: PETER Es war nicht meine Absicht. Sie stand vor einem Baum und sprach mit ihm. ANNE Dann solltest Du diese Frau am besten meiden. Vielleicht ist sie verrückt. PETER Sie sah so traurig, so verlassen aus. […] PETER […] Seitdem kann ich sie nicht vergessen. ANNE Ich gebe dir fünfzehn Minuten, um deine Sachen zu packen. PETER Liebling - 879 VLZM, S. 140. 880 GS, Szenen 1.2, 1.4, 1.6, 1.9, 2.5, 2.7, 2.9, 2.11, 2.13, 2.14, 2.17, 3.4, 3.11, 3.12, 3.15, 4.3, 4.5, 4.11, 4.13, 4.14, 4.15, 4.17. <?page no="212"?> 212 ANNE Fünfzehn Minuten, und nicht einen Moment länger. Such die Verrückte, wenn du willst, aber laß mich allein. Jetzt. Jetzt gleich. PETER Du - setzt mich jetzt nicht vor die Tür! Ich weiß nicht weiter - sie stand dort und hat mich bezaubert. Was soll ich machen? Hilf mir lieber! ANNE Fünfzehn Minuten. Fünfzehn. Ich kann nicht eine Minute länger in deine verliebten Augen sehen. Fünfzehn! Verschwinde! 881 Auch hier präsentiert Schimmelpfennig den Zufall als „Vater aller Dinge“. Die zufällige Begegnung leitet den Wendepunkt im Leben der Figur ein und lässt dieser keine Entscheidungsgewalt. Als Opfer des Zufalls sieht sich auch „Die Frau in dem Kleid“ in „Der goldene Drache“, die ihren Mann für einen anderen verlässt und sich folgendermaßen zu rechtfertigen versucht: DER MANN 882 […] Ich habe einen anderen Mann kennengelernt. DIE JUNGE FRAU Das kann doch nicht sein - DER MANN Doch. Ist passiert. Der ist mir einfach begegnet. Zufall. […] DER MANN […] Ich habe mich verliebt. DIE JUNGE FRAU Und - und jetzt - ich - DER MANN Ich hatte nie vor, deswegen meinen Mann zu verlassen, nie. Nur, dass das immer stärker wurde. Zu groß. Plötzlich kam mir das mit dem anderen viel größer vor, als alles, was mein Mann und ich je erlebt hatten. Alles verblasste. 883 Wie die Darlegungen gezeigt haben, kommt den zufälligen Begegnungen auf der fiktionalen Figurenebene in Schimmelpfennigs Stücken ein hoher Stellenwert zu. Sie sind Hauptmovens der zahlreichen kleinen Episoden und Geschichten, die der Autor zu mehr oder weniger kohärenten, oftmals ausschnitthaften Handlungen verknüpft. Oftmals leiten die Begegnungen gravierende Veränderungen ein, sind Auslöser für Wendepunkte oder Krisen des Figurenpersonals, wie in Kapitel 4.3, das den Chronotopos der Krise und des Wendepunkts behandelt, ausführlicher dargelegt wird. Schimmelpfennigs Theater sucht die Begegnung folglich nicht nur auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems, wie es das postdramatische Theater vorwiegend tut, sondern auch auf der Ebene des inneren Kommunikationssystems finden Begegnungen statt, die sujetbildende Funktionen übernehmen. Die zusammengestellten Szenenbeispiele zeugen von der 881 ASW, S. 245-246. 882 Es sei abermals darauf hingewiesen, dass Schimmelpfennig die Figuren in GD gegen den Strich besetzt. „DER MANN“ spielt „Die Frau in dem Kleid“, während „DIE JUNGE FRAU“ den Ehemann spielt, der im Figurenverzeichnis als „Der Mann mit dem gestreiften Hemd“ geführt wird. 883 GD, Szene 21. <?page no="213"?> 213 Aktualität der Bachtinschen Betrachtungen zum Motiv der Begegnung. Auch heute noch stellt die Begegnung eines der universellsten Motive der Literatur dar. 884 4.3. Chronotopos der Liebesidylle In enger Verwandtschaft zum Chronotopos der Begegnung steht der Chronotopos der Liebesidylle, denn das Entflammen der Liebe setzt in der Regel die Begegnung voraus. 885 Liebesszenen sind in Schimmelpfennigs Stücken eine Rarität. Wo sie auftauchen, stehen sie oftmals in direkter Wechselbeziehung mit der raum-zeitlichen Disposition der jeweiligen Szene. Wie sehr die Gestaltung der Raum-Zeitstruktur in diesen Szenen mit den Ereignissen auf der Handlungsebene korrespondiert, soll anhand eines Szenenauszugs aus „Die arabische Nacht“ verdeutlicht werden: FRANZISKA Schöner Abend, was? Wie hell der Mond ist. […] LOMEIER Sie lehnt neben mir am Geländer des Küchenbalkons und blickt auf die Siedlung im Mondschein. In den Fenstern der unzähligen Wohnungen brennt hinter den Vorhängen Licht. […] LOMEIER Die Nacht ist warm. Nichts rauscht mehr. Nur das Heulen. Klingt fast wie Wüstenwind […] LOMEIER Wir küssen uns. Zum ersten Mal. Ich halte sie, so fest ich kann. […] FRANZISKA Wir küssen uns. Ich mache die Augen zu, und trotzdem spüre ich das Mondlicht. 886 Eine Untersuchung der raum-zeitlichen Gestaltung der Szene führt zu folgendem Ergebnis: Der Chronotopos der Liebesidylle setzt sich hier aus dem Raum-Zeitelement Nacht, den Raumelementen Balkon und Mond und dem Handlungsmoment Kuss zusammen. Die Konzeption der Szene besitzt ein hohes romantisches Potential. Schimmelpfennig arbeitet hier mit einem alten literarischen Topos, denn die Wahl des Balkons zum Ort der 884 Vgl. Bachtin 2008, S. 22. 885 Unter Begegnung ist hier nicht nur die leibhaftige Begegnung zu verstehen, sondern auch die visuelle Begegnung mit dem Abbild des bzw. der Geliebten. Eine solche visuelle Begegnung lässt sich auch in Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ nachweisen, in der Tamino singt: „Dies Bildnis ist bezaubernd schön/ Wie noch kein Auge je geseh’n.“ 886 AN, S. 338-342. <?page no="214"?> 214 Vereinigung der Liebenden ruft unweigerlich die bekannte Balkon-Szene in Romeo und Julia ins Gedächtnis. 887 Das Sem hell dominiert die Szene wie die semantische Verwandtschaft der redundanten Begriffe hell, Mond, Mondschein, Licht und Mondlicht verdeutlicht. Ergänzt wird es durch das Sem warm. Die Adjektive „hell“ und „warm“ stellen somit die dominanten Seme dieser Liebesszene dar. 888 Im Verb „brennen“ werden sie miteinander verknüpft. Die positive Konnotation des Raumes korrespondiert inhaltlich mit der Annäherung der Figuren auf der Handlungsebene, die schrittweise und ohne Hast vor sich geht. FRANZISKA Er dreht sich zu mir. LOMEIER Sie macht eine Bewegung zu mir hin. […] LOMEIER Sie steht ganz dicht vor mir. FRANZISKA Ich bin ihm ganz nah. […] LOMEIER Ich traue mich kaum zu atmen. FRANZISKA Ich lege meine Hände vorsichtig auf seine Brust. […] LOMEIER Vorsichtig legt sie ihre Hände auf meine Brust. 889 Die Präsentation der Ereignisse aus doppelter Perspektive verzögert die Sukzession und führt ein Innehalten der Zeit herbei. Durch die Parallelität der Bewegungen und der Wahrnehmungen wird die harmonische Wirkung der Szene intensiviert. Die Zeit schreitet langsam voran und entbehrt jeder Hektik, was vor allem im Vergleich mit den eingeschobenen temporeichen Szenen zwischen Kalil und Fatima deutlich wird, die einer Hetzjagd gleichen sowie dem ebenfalls parallel geschalteten unaufhaltsamen Todessturz von Karpati, der das Verstreichen der Zeit auf dramatische Weise ins Bewusstsein hebt. Die Balkonszene verdeutlicht das Zusammenspiel von Handlung, Raum und Zeit und offenbart ihre wechselseitige Beeinflussung und Determination. So legt die positive Konnotation des Raumes, seine romanti- 887 Das Motiv des Balkons als Ort der Liebenden findet sich im Drama bereits an früherer Stelle in Form einer Rückblende (AN, S. 334). Lomeier erinnert sich daran, wie er seine Frau kennengelernt hat. Nicht nur die Raumkonstitution in beiden Szenen ist vollkommen identisch, sondern auch der Handlungsablauf ist absolut deckungsgleich. 888 Die Bedeutung der Seme „hell“ und „warm“ für die Raumkonstitution in Liebesszenen, lässt sich auch an anderen Schimmelpfennig-Dramen nachweisen. So z.B. in FF, wo Tina den gemeinsamen letzten Abend mit ihrem Freund Andi als „ein warmer Abend“ beschreibt (FF, S. 647). Und auch Franks Rückblick in Szene 15.4 (FF, S. 680) belegt die Zentralität der beiden Seme. Zitiert auf S. 188 in Fußnote 784 der vorliegenden Arbeit. 889 AN, S. 340. <?page no="215"?> 215 sche Aufladung durch den Einsatz des Raumelements Vollmond, gewissermaßen den Grundstein für eine mögliche Annäherung der Figuren auf der Handlungsebene: Mit seiner positiven Wirkung beeinflusst der Raum das Empfinden der Figuren und initiiert damit Handlungsmomente wie den Kuss. Zum anderen determiniert aber auch die Handlung den Raum. Erst durch den Kuss, der nicht nur die Wahrnehmung der Zeit verändert, sondern auch die positive Raumwirkung intensiviert - Franziska nimmt das Mondlicht nun auch bei geschlossenen Augen wahr - wird er zum Raum der Liebe. Es ist folglich das Wechselspiel von Handlung, Raum und Zeit, das den Chronotopos der Liebesidylle konstituiert. In ihrer chronotopischen Gestaltung gleicht die analysierte Balkonszene einer Liebesszene in „Besuch bei dem Vater“. Zwar unterscheiden sich die beiden Szenen in ihrer sprachlichen Gestaltung - im Unterschied zu der dialogisch angelegten Balkonszene in „Die arabische Nacht“ handelt es sich in „Besuch bei dem Vater“ um den narrativen Erlebnisbericht der Hauptfigur Peter - gleichen sich aber in ihrer Raum-Zeitstruktur. So setzt sich der Chronotopos der Liebe auch hier durch die räumliche Komponente Außenraum und die zeitliche Komponente Nacht zusammen. Wie schon in „Die Zwiefachen“ wählt Schimmelpfennig das Ufer eines Sees und damit einen natürlichen Außenraum zum Schauplatz der Liebeszene, Zeitpunkt der Handlung ist eine Neumondnacht: PETER […] Es war heiß im Sommer, die Nächte waren warm. Ich hatte ein Mädchen kennengelernt, mit dem ich einmal nachts auf Fahrrädern an einen künstlichen See fuhr. Eine sternenklare Neumondnacht. Da sah ich in ihren Locken einen hellleuchtenden Punkt, erst einen, dann mehrere. Ich begann, danach zu suchen, mich hineinzugraben in ihr Haar, aber die winzigen strahlend hellen Lichter führten mich immer weiter und weiter, ohne daß ich sie je erreichen konnte - und bei Sonnenaufgang waren sie verschwunden. 890 Das Zitat legt die Dominanz der Seme „hell“ und „warm“ offen, die in den Adjektiven „heiß“, „warm“, „sternenklar“, „hellleuchtend“, „strahlend“, „hellen“ und den Substantiven „Sommer“, „Neumondnacht“, „Lichter“, „Sonnenaufgang“ enthalten sind und Raum und Zeit semantisch aufladen. Wie in „Die arabische Nacht“, „Die Zwiefachen“ und „Die Frau von früher“ konstituieren das Raumelement Mond, das Zeitelement Sommer sowie die ihnen innewohnenden Seme „hell“ und „warm“ den Chronotopos der Liebe. Im Unterschied zur Flüchtigkeit der Zeit im Chronotopos des Wendepunktes ist die Zeit im Chronotopos der Liebesidylle von Dauerhaftigkeit 890 BV, S. 42. Der gleiche Bericht findet sich in wortwörtlicher Entsprechung in EA, S. 190. <?page no="216"?> 216 und Grenzenlosigkeit gekennzeichnet, wie das folgende Zitat aus „Auf der Greifswalder Straße“ belegt: DER JUNGE MANN (FRITZ)/ KATJA Wir gehen gemeinsam die Straße runter, nicht mehr, nicht weniger, ursprünglich nur ein kurzes Stück, und dann immer so weiter - […] BEIDE das gefällt mir, und keiner hat was anderes vor, und so verbringen wir den Tag, zusammen, nebeneinander, im Park […] 891 Die Zeit im Chronotopos der Liebesidylle wird weder von Terminen noch von konkreten Plänen eingeschränkt. Unbegrenzt ist auch der Raum, den Schimmelpfennig für seine Liebesszenen wählt. Seine Stücke weisen eine deutliche Präferenz für Außenräume als Schauplatz der Liebesszenen auf. 892 Mit der Wahl des Parks zum Aufenthaltsort der Liebenden greift Schimmelpfennig ein altes romantisches Motiv auf. Als geordneter Naturraum impliziert er weder die Gefahren der ungezähmten Natur noch die Enge eines Innenraumes und untermauert somit die Harmonie der Ereignisse auf der Handlungsebene. Raumzeitliche Grenzen sind im Chronotopos der Liebe grundsätzlich aufgehoben. So wird auch die Straße in der obigen Szene als unendlich charakterisiert, sie ermöglicht ein „immer so weiter“. Sind die raumzeitlichen Grenzen aufgehoben, so bedeutet dies auf der Ebene der Zeit ein Aussetzen der zeitlichen Sukzession: Die Zeit wird angehalten, sie kreist. Es ist, als stehe die Welt für einen Augenblick still, wie Schimmelpfennig selbst erklärt: SCHIMMELPFENNIG In den Alltag bricht etwas hinein. Eine Liebeserklärung, die die Welt stillstehen lässt. 893 Wie eine solche Liebeserklärung im Detail aussieht, zeigt Schimmelpfennig in „Auf der Greifswalder Straße“, wo der Gemüsehändler Rudolf sich unsterblich in ein junges Mädchen namens Maika verliebt, das er kaum kennt: RUDOLF […] Dieses Mädchen hat mir grundlos den Kopf verdreht und will von mir nichts wissen, ich aber liebe sie, und diese Liebe, bleibt sie unerwidert, sprengt die Welt. Die Zeit steht, seit das 891 GS, Szene 3.13, S. 458. 892 So auch in FF und ASW, wo Schimmelpfennig Park (FF, S. 680) und Wald (ASW, S. 251-254) als Raum der Liebenden wählt. Und auch in seinem Stück „Die Zwiefachen“, das zwar nicht zu dem für die Analyse ausgewählten Textkorpus gehört, aber dennoch erwähnt werden soll, macht er das Ufer eines Waldsees zum Treffpunkt der Liebenden, vgl. Schimmelpfennig: „Die Zwiefachen“. In: Ebd. 2004, S. 179. 893 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 229-243, 236. <?page no="217"?> 217 Mädchen weg ist, still, die Sonne rückt immer langsamer vor und bleibt dann auf der Stelle stehen, sieben Uhr dreißig, wieso zieht heute die Sonne am Kirchturm nicht vorbei, die Sonne hängt am Himmel fest, obwohl die Nacht emporziehen will, der Himmel droht zu reißen. 894 Wie das Zitat illustriert, setzt die Ankunft der Liebe die Sukzession der Zeit außer Kraft. Ist der Fluss der Zeit aber unterbrochen, so wirkt sich dies unweigerlich auf den Raum aus. Ohne zeitliche Sukzession kann es auch keine Bewegung im Raum geben. Der Raum trotzt der Veränderung: „Die Sonne hängt am Himmel fest“. Anstatt vom Stillstand der Zeit zu sprechen, scheint es auch in Hinblick auf die oben analysierten Szenen angemessener die raum-zeitliche Beschaffenheit des Chronotopos der Liebesidylle als ein Kreisen zu beschreiben. Es lässt sich folglich festhalten, dass die Zeit im Chronotopos der Liebesidylle eine zyklische Zeit ist, die nicht voranschreitet und sich der Messbarkeit entzieht - eine Zeit, die unendlich scheint und auch von den Figuren so empfunden wird. 895 Eine solche Abschwächung aller Zeitgrenzen zugunsten eines zyklischen Zeitrhythmus führt Bachtin als Hauptmerkmal des idyllischen Chronotopos an, der den Chronotopos der Liebesidylle inkludiert. 896 Vom Aussetzen der zeitlichen Sukzession zeugt auch das Szenenende von „Die arabische Nacht“, wo der Kuss die Vergänglichkeit der Zeit vergessen macht, während die Parallelszenen ihr unerbittliches Vorwärtsschreiten vor Augen führen: LOMEIER Sie küßt mich. FRANZISKA Er küßt mich. KARPATI Dritter Stock. Ein Fest. Musik. FRANZISKA Das ist der erste Kuß in meinem Leben. KARPATI Zweiter Stock. Dunkel. LOMEIER Wir küssen uns. Zum ersten Mal. Ich halte sie, so fest ich kann. KARPATI Erster Stock. - Ich bin tot. FRANZISKA Wir küssen uns. Ich mache die Augen zu und trotzdem spüre ich das Mondlicht. 897 In diesem ersten Kuss, der einem Neuanfang gleicht, 898 scheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verschmelzen. Die Re- 894 GS, Szene 3.12, S. 457. 895 Vgl. Maikas Kommentar in GS, Szene 3.15, S. 460: „MAIKA […] aus Tag - aus dem Tag, der nicht aufhören zu wollen schien, wird Nacht, fast ohne Dämmerung, auf einen Schlag.“ 896 Bachtin 2008, S. 161. 897 AN, S. 342. 898 Franziskas Bitte, Lomeier möge seinen Kittel ausziehen (AN, S. 340), verweist jedoch bereits darauf, dass ihre Beziehung zum Scheitern verurteilt ist. Denn indem sie dies fordert, verneint sie seine Hausmeister-Identität und damit einen Teil seiner selbst. <?page no="218"?> 218 dundanz des Sprechens und der Einsatz der Stilfigur Klimax, die aus dem singulären „Sie küsst mich“ und „Er küsst mich“ ein „Wir küssen uns“ werden lässt, stellt die zentrale Bedeutung des Kusses und seine die Einsamkeit des Subjekts durchbrechende, vereinigende Kraft heraus. Indem Schimmelpfennig die Liebesszene, die das Sem Leben trägt, mit einer Todesszene kombiniert, verstärkt er die Wirkung der im gesamten Stück dominanten Semopposition von Leben und Tod. So steigert die komplementäre Parallelszene zum einen die positive Wirkung der Liebe, zum anderen intensiviert aber auch die Liebe die negative Todeserfahrung und lässt diese umso trostloser und düsterer erscheinen. Die besondere Macht des Kusses, dem Augenblick ewige Dauer zu verleihen, dokumentiert auch Szene 4.16 in „Auf der Greifswalder Straße“: KATJA UND DER JUNGE MANN (FRITZ) zusammen Am Ende des Tages, oder anders gesagt: mitten in der Nacht, oder im Grunde nicht weit vor der Morgendämmerung: der erste Kuß, der schon seit Stunden ansteht und der dann nicht mehr aufhört, einen zweiten Kuß gibt es nicht, immer nur diesen, der nicht aufhört […]. 899 Auch hier präsentiert Schimmelpfennig den Kuss als Neubeginn, denn wiederum wird betont, dass es sich um den ersten Kuss handelt. Und auch hier scheint es, als wohne dem Kuss, „der nicht aufhört“, die Macht inne, die Vergänglichkeit zu überwinden. Der Kuss wird zum Sinnbild des Lebens. Mit ihm wird die Sukzession der Zeit außer Kraft gesetzt und in den ewigen Zyklus der Liebesidylle überführt. Eine Untersuchung der zeitlichen und räumlichen Situierung der Kussszenen führt die enge Verschränkung von Bild- und Handlungsebene vor Augen. Als Zeitpunkt für die Vereinigung der Liebenden im Kuss wählt Schimmelpfennig die Nacht. Ort der Vereinigung sind die Außenräume Balkon, Straße, Park oder Wald, die durch das Sem draußen, unter freiem Himmel verbunden sind. In „Die arabische Nacht“ gehört zur Konstitution der Bildebene darüber hinaus das Raumelement Mond, das der Nacht einen hellen Glanz verleiht und damit, wie oben bereits angemerkt wurde, auch die Annäherung der Figuren auf der Handlungsebene unterstützt. Sie versucht ihn nach ihren Vorstellungen zu verändern. Wie die eingeschobenen Rückblicke vor Augen führen, die Lomeiers gescheiterte Ehe thematisieren, bedeutet der Versuch, den anderen ändern zu wollen, den Anfang vom Ende (AN, S. 327-328, 334). 899 GS, Szene 4.16, S. 475. <?page no="219"?> 219 Mehrfach wiederholen die Figuren, was für ein schöner, milder Abend es sei. 900 Selbst in einem so enigmatischen Stück wie „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ konstituiert sich der Chronotopos der Liebe über die genannten Elemente: Nacht, Außenraum, Mond und Kuss. 901 In „Auf der Greifswalder Straße“ ist es nicht der Mond, sondern die anbrechende Morgendämmerung, die der Nacht ihre Dunkelheit nimmt - wobei auch der Mond einige Szenen zuvor genannt wird und von den drei Rumänen als „fett“ bezeichnet wird, was für eine Vollmondnacht sprechen könnte. 902 Entscheidend ist jedoch, dass auch hier das Sem „hell“ die Nachtszene dominiert und den Raum damit positiv auflädt. Das Geschehen auf der Handlungsebene scheint folglich in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des Raumes zu stehen. Doch determiniert nicht nur der Raum die Handlung, auch die Handlung hat Einfluss auf die Konstitution des Raumes und verändert diesen: Durch den Kuss legen Straße und Balkon ihren funktionalen Charakter ab und werden von Nicht-Orten zu Räumen der Liebe. In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ vermag der Kuss, die bedrohliche Wirkung des dunklen Waldes, der das Liebespaar umgibt, vorübergehend aufzuheben und den Liebenden ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. 903 Hier dient der Naturraum als Kontrastfolie für die Ereignisse auf der Handlungsebene, der raumzeitlichen Gestaltung der Szene kommt somit eine komplementäre Funktion zu. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die raum-zeitliche Gestaltung der analysierten Liebesszenen Folgendes festhalten: Als zeitliche Disposition für Liebesszenen wählt der Autor mit Vorliebe die Nacht. Die Untersuchung der räumlichen Situierung zeigt eine deutliche Präferenz für Außenräume, die das Raumelement Mond aufweisen. Die Handlungsebene wird vom Kuss der Liebenden beherrscht, 904 der ein Aussetzen der raum-zeitlichen Sukzession bewirkt und der Szene damit den von Bachtin beschriebenen zeitlosen, idyllischen Charakter verleiht. 905 Doch bilden solche idyllisch konzipierten Szenen in Schimmelpfennigs Dramenwerk eher die Ausnahme. In der Mehrzahl seiner Stücke hat man es hingegen mit einer Pervertierung der oben beschriebenen romantischen Liebesmotive und der idyllischen Raum- und Zeitkonzeption zu tun, so zum Beispiel in „Push up 1-3“ und „Vorher/ Nachher“. Zwar behält 900 Vgl. AN, S. 338-339, 341. 901 KA, S. 124, 130. 902 GS, Szene 4.6, S. 467. 903 ASW, S. 237-238, 252. 904 Es sei an dieser Stelle erneut auf die raum-zeitliche Gestaltung der zentralen Liebesszene in „Die Zwiefachen“ hingewiesen, da auch sie dem genannten Muster - Nacht, Außenraum, Mond, Kuss - folgt. Vgl. Z, S. 179-182, 185-186, 191. 905 Bachtin 2008, S. 161. <?page no="220"?> 220 Schimmelpfennig auch hier die Situierung der Begegnungen in den Zeitraum der Nacht bei, aber im Unterschied zu den bereits besprochenen draußen spielenden Szenen wird die Liebe in anonym und kalt wirkende Innenräume wie das Hotelzimmer und das Büro verlegt und der Funktionalität der Räume entsprechend auf puren Sex reduziert. 906 Aufgrund der Beziehungslosigkeit der Partner auf der Handlungsebene verliert der Raum trotz der in ihm stattfindenden körperlichen Annäherung nichts von seiner Anonymität. Anstelle von zeitlicher Unendlichkeit herrscht in diesen Szenen die Flüchtigkeit. Hier steht die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse im Vordergrund, die Vergänglichkeit der Liebe wird zum zentralen Thema, nicht ihre Kraft, dem Augenblick Dauer zu verleihen. So mischen sich Robert und Patrizia in „Push up 1-3“sogleich wieder unter die Menge und verlieren sich gewollt aus den Augen, nachdem sie sich im Büro ihres Chefs, einem funktionalen Nicht-Ort, einander hingegeben haben. Und auch in „Vorher/ Nachher“ trennen sich die Paare unmittelbar nach dem Geschlechtsakt. Die Liebe wird zur bloßen Funktion herabgestuft, sei es, um der Monotonie des Alltags zu entfliehen, sei es, um sein Selbstwertgefühl zu stärken oder um den Liebesentzug eines langjährigen Partners zu rächen. Wie sehr die Liebe oder das, was von ihr übrig geblieben ist, in den jüngeren Stücken zu einem Akt der Selbstbehauptung und zu einem Machtkampf der Geschlechter wird, verdeutlicht das folgende Zitat aus „Push Up 1-3“: PATRIZIA Eigentlich wollte ich ihn am nächsten Tag in seinem Büro anrufen, aber - Kurze Pause. Ich habe ihn nicht angerufen. Nicht weil ich ihn nicht anrufen wollte, klar wollte ich ihn anrufen, aber ich dachte, es ist besser, wenn er anruft. Grundsätzlich hab ich kein Problem damit, den ersten Schritt zu machen - also - Kurze Pause. weder im Job noch mit Männern. Aber - hier ging es um etwas anderes. Hier ging es um mehr. Das hier war - Kurze Pause. Das hier war zu wichtig. 907 Aus den beiden Einzelkämpfern Robert und Patrizia wird nicht wie oben in „Die arabische Nacht“ gesehen, ein verschmelzendes „Wir“. Eine solche Symbiose bleibt hier aus, denn der zentralen Thematik des Stückes entsprechend geht es auch in der Liebe um Sieg oder Niederlage: ROBERT So eine Frau kann man nicht einfach anrufen. Das wäre ein Fehler gewesen, da bin ich mir jetzt noch sicher. Ich wollte nicht, daß sie den Eindruck hat, daß ich es in irgendeiner Weise nötig hätte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wir hatten dieselbe Klasse, wir 906 Der Verlust des zwischenmenschlichen Bezugs, den Szondi als Charakteristikum moderner Dramatik herausstellt, wird hier zum zentralen Thema. Vgl. Szondi 1959, S. 62-69. 907 PU, S. 371. <?page no="221"?> 221 arbeiteten nur auf verschiedenen Gebieten: Wir waren beide kompetent, flexibel, innovativ und hart im Umgang mit uns selbst wie mit anderen. 908 Die zentrale Semopposition von Sieg und Niederlage, Erfolg und Scheitern, dominiert die Tiefenstruktur aller Szenen in „Push Up 1-3“. Das Beispiel zeigt, wie kunstvoll Schimmelpfennig die Vielzahl an eigenständigen Szenen über diese Semopposition tiefenstrukturell zu einem kohärenten Ganzen verknüpft. Besonders deutlich wird die Funktionalisierung der Liebe 909 , die in erster Linie dem Abbau von Frustration und Aggression zu dienen scheint, in Szene 15 aus „Vorher/ Nachher“: Seit er sich sicher ist, daß seine langjährige Freundin ihn regelmäßig betrügt, hat er vor allem ein Ziel: er will eine andere Frau ficken. Er muß eine andere Frau haben, aber keine Prostituierte. Natürlich geht es um Aggression und Sex, und vor allem geht es um sein Selbstwertgefühl. Er hat das Gefühl, zurückschlagen zu müssen. Er muß sich beweisen, daß er es kann wie sie, daß er bei einer Frau landen kann, daß sich eine andere sexuell für ihn interessiert - und deshalb sucht er seit Wochen vehement nach einem Fick. 910 Die für den Chronotopos der Liebesidylle charakteristische raum-zeitliche Grenzenlosigkeit, die die oben analysierten Szenen aus „Die arabische Nacht“ und „Auf der Greifswalder Straße“ kennzeichnet, wird zugunsten der Flüchtigkeit aufgegeben. Anstatt um Liebe geht es hier um die schnelle Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Auf der Ebene der Zeit zeigt sich dies in der minutengenauen Angabe der Dauer des Liebesakts: DIE ROTHAARIGE FRAU Nach 45 Minuten ist alles vorbei, er liegt neben mir. 911 Ein Vergessenmachen der Zeit, ein Ausschalten ihrer Sukzession zugunsten einer zyklischen Bewegung wie in „Die arabische Nacht“ und „Auf der Greifswalder Straße“ stellt sich nicht ein. Auch der Raum erfährt keine romantische Aufladung. Die dem Hotelzimmer anhaftende Flüchtigkeit, sein Transitcharakter korrespondieren mit der Flüchtigkeit der Zeit, die in der zeitlichen Beschränkung der Begegnungen ihren Ausdruck findet. 912 Abermals verankert Schimmelpfennig den zentralen Konflikt der Szene auf der Tiefenebene des Theatertextes, denn wie gezeigt werden konnte, spie- 908 PU, S. 372. 909 Vgl. VN, S. 428-429: „Er spürt, daß sie sich entfernt, daß er in ihrem Leben kurze Zeit eine Funktion erfüllt hat, die jetzt schon nicht mehr gefragt ist […]“. 910 VN, S. 414-415. 911 VN, S. 420. 912 Vgl. VN, S. 410: „Sie wird sich in einigen Minuten ihre Sachen anziehen, ein Taxi kommen lassen, falls keines unten vor der Tür steht, und nach Hause fahren“. <?page no="222"?> 222 gelt sich die emotionale Teilnahmslosigkeit des Paars in der chronotopischen Gestaltung der Szene wider. Kraftlos und dem Tod geweiht präsentiert Schimmelpfennig die Liebe auch in „Ende und Anfang“, wo ein Greis in den Armen seiner jungen Geliebten stirbt, die ihm bis in den Tod fremd geblieben ist: Sie sehen sich an, fremd, aneinander gebunden […] die Jugend und das Alter, die Schöne und der Greis, ein dünner Mann, fast nur noch Haut und Knochen, man sagt so: Das Fleisch fällt von den Knochen. Du weißt nichts, wir sind uns fremd, wir sind in allem so verschieden: Du hast niemals in deinem Leben jemanden zu Grabe getragen, den Du liebtest […] du hast keinen Verlust erlitten […] keinen Verrat erlebt oder begangen - oder doch: vielleicht doch, wer weiß, was du bist, wozu du fähig bist, wozu du schon fähig warst, da ist keine Spur von fahler Abtrünnigkeit in deinem Gesicht zu lesen, aber wer weiß - vielleicht bleibt dieses Gesicht von dir für immer unberührt. 913 Wie das Zitat verdeutlicht, ist die Liebesbeziehung des ungleichen Paares von Misstrauen und einem Gefühl der Fremde geprägt. Schimmelpfennig nimmt der Liebe nicht nur ihre scheinbare Unendlichkeit, sondern auch ihren romantischen Glanz. Auf eine romantische Aufladung des Raumes wird folglich auch hier verzichtet. Es fehlen jegliche Angaben zum Schauplatz des Aufeinandertreffens. Daraus, dass das Mädchen sich auf den Weg zum Studienbüro macht, aber schon nach kurzer Zeit wieder im Zimmer ihres Professors steht, lässt sich jedoch schließen, dass das Zusammentreffen in seinem Dienstzimmer stattfindet, nach Augé einem identitätslosen Nicht-Ort, der sich lediglich durch seine Funktion als Arbeitsplatz auszeichnet. Die Liebe wird zum Akt der Verzweiflung von zwei einander triebhaft verfallenen, vereinsamten Individuen und verliert damit ihre aktivische Kraft. Schimmelpfennig reduziert sie auf ein passives Ereignis, etwas, was den Menschen widerfährt, ohne dass sie es abwenden können: […] ich wollte nichts von dir, ich hätte niemals auch nur daran gedacht, hättest du nicht das falsche Wort auf den Zettel geschrieben, BEFRIEDIGUNG, und jetzt, jetzt weißt du, was geschehen ist, du weißt, was uns passiert ist, weißt du doch […]. 914 Im Unterschied zur Figurenkonstellation in den oben beschriebenen Liebesszenen scheinen die Figuren in „Ende und Anfang“ nicht Herr ihrer Handlungen zu sein, sie sind Getriebene, die nach ihrem Platz in der Welt suchen. 915 So hat auch der alte Professor, der im Nebentext als „DER MANN ZWISCHEN SECHZIG UND SIEBZIG“ oder „DER ALTE“ bezeichnet wird, völlig ungewollt und ohne es selbst zu merken „Befriedi- 913 EA, S. 220. Vgl. EA, S. 163-164. 914 EA, S. 198. 915 Vgl. die Schimmelpfennig-Zitate auf S. 132, 184 und S. 285 dieser Arbeit. <?page no="223"?> 223 gung“ anstelle von „befriedigend“ auf den Schein seiner Studentin geschrieben und damit den Grundstein für ihre Beziehung gelegt. Der folgende Textauszug führt die Machtlosigkeit der Figuren vor Augen, ihr Handeln autonom zu bestimmen und den Lauf des eigenen Lebens eigenmächtig zu lenken: Dorothea, Anfang Zwanzig, schlaksig […] Der Alte neben ihr: Ich wünschte mir, du wärest in meinem Leben niemals aufgetaucht. Sie sagt: Wie ist es möglich, daß wir uns gefunden haben - DER ALTE: Ich kann nicht sagen, was den Stift mir führte - DAS SCHLAKSIGE MÄDCHEN: Du warst es, es war deine Hand! DER ALTE: Das Wort war nicht das Wort, das ich schreiben wollte! Befriedigend wollte ich schreiben, und besser sind deine Leistungen auch nicht gewesen! Das andere Wort, das neue: BEFRIEDIGUNG, wollte ich nicht schreiben. Wenn du es nicht bemerkt hättest! DAS SCHLAKSIGE MÄDCHEN: Wenn du es nicht geschrieben hättest! Sie umarmen sich verzweifelt. 916 Wie schon in „Die arabische Nacht“ arbeitet Schimmelpfennig auch in dieser Liebesszene mit der traditionellen Semopposition von Leben und Tod, die sich hinter den Gegensatzpaaren jung und alt und Hingabe und Verzweiflung verbirgt, und verleiht der Szene damit eine besondere Tragik. Im Unterschied zu der Balkonszene in „Die arabische Nacht“ vermag die Liebe als Inbegriff des Lebens, die Vergänglichkeit jedoch nicht zu bezwingen. Am Ende der Szene dominiert die Verzweiflung: „Sie umarmen sich verzweifelt.“ 917 Eine ähnlich trostlose Bilanz für die Liebe ziehen auch „Besuch bei dem Vater“ und „Hier und Jetzt“. In „Besuch bei dem Vater“ findet sich die Beziehung zwischen Mann und Frau ebenso wie in „Vorher/ Nachher“ auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse reduziert. Enttäuschung, Verzweiflung und Einsamkeit werden zu Attributen der entfremdeten Liebe. Diese Entfremdung der Liebe kommt in einem Monolog der Figur Sonja besonders stark zum Ausdruck: SONJA […] Es fühlte sich kurz, für einen sehr kurzen Moment, für ein paar hundert Schritte so an wie ein Anfang, ein Aufbruch, und schon gleich darauf begann die Enttäuschung. Wunschdenken. 918 916 EA, S. 163-164. 917 EA, S. 164. 918 BV, S. 29. <?page no="224"?> 224 Die chronotopische Gestaltung der Szene entspricht den raum-zeitlichen Beobachtungen zu „Vorher/ Nachher“ und „Push Up“. Auf der Ebene der Zeit dominiert die Flüchtigkeit, die Schimmelpfennig erneut durch Einsatz einer Klimax unterstreicht: „kurz, für einen sehr kurzen Moment, für ein paar hundert Schritte“. Dort wo der Kuss in „Die arabische Nacht“ und „Auf der Greifswalder Straße“ die Zeit anhält und ein Hauch von Ewigkeit die Szene erfüllt, beherrscht hier die Vergänglichkeit das Geschehen. Der Wunsch des Menschen nach Nähe und Liebe scheint zum Scheitern verurteilt. Auf die Entfremdung der Liebe verweist auch die räumliche Situierung der Annäherung zwischen Peter und Sonja. Wie Ediths Aussage „Peter und Sonja - sie sind noch mal raus.“ 919 und Peters Kommentar „Im Ernst -sie fühlen sich anders an - der Busen einer Frau, ihr ganzer Körper, die ganze Frau fühlt sich bei minus zehn Grad ganz anders an als sagen wir bei plus zwanzig, vollkommen anders.“ 920 in Szene 6 des zweiten Akts sowie der dortigen Nebentextanweisung zu entnehmen ist, geben sie sich draußen im Schnee einander hin. Die Wahl der kalten Winterlandschaft zum Schauplatz des Liebesakts hebt die emotionale Kälte hervor, welche die Beziehung von Peter und Sonja kennzeichnet. Das Fehlen von aufrichtiger Zuneigung für den anderen lässt sich darüber hinaus an Sonjas Eingeständnis ablesen: SONJA […] Ich würde Sie, ich würde dich jetzt küssen, und jeder von uns denkt dabei an jemand anderes - daß er gerade jemand anders küsst - dann sind es nicht mehr wir, die sich küssen, sondern es küssen sich nur noch die, an die wir denken. 921 Der Kuss wird funktionalisiert, er dient dem Zweck, die Präsenz eines anderen Gegenübers vorzutäuschen, 922 und verliert somit die vereinigende Kraft, die Schimmelpfennig ihm in „Die arabische Nacht“ zuschreibt. Aus den sich küssenden Figuren wird kein „Wir“. Statt Sinnlichkeit und Wärme dominieren Aggression und Kälte ihr Verhältnis zueinander: PETER plötzlich grob Was ist? Hat es dir nicht gefallen? Hat dir doch gefallen? Ist dir wohl noch nie passiert, daß einer so schnell zur Sache kommt? Ist dir wohl noch nie passiert? 923 Auch in „Hier und Jetzt“ thematisiert Schimmelpfennig die dunkle Kehrseite der Liebe und präsentiert ihre zerstörerische Macht. Der Chronotopos der Liebesidylle ist folglich auch hier entfremdet. So weist zwar die Rah- 919 BV, S. 28. 920 BV, S. 33. 921 BV, S. 29. 922 Vgl. BV, S. 67: „MARIETTA Ich sollte so tun, als sei ich meine Kusine. Ich sollte die ganze Zeit mit ihm so tun, als sei ich sie.“ 923 BV, S. 33. <?page no="225"?> 225 menhandlung der Hochzeit die typischen raum-zeitlichen Attribute auf, die Szene spielt an einem Sommerabend und die Seme warm und hell dominieren die Tiefenebene, 924 aber die Idylle trügt und wird im Verlauf der Handlung immer wieder gebrochen. Herbst und Winter verdrängen den Sommer: Die Natur zeigt ihre raue, zerstörerische Seite und korrespondiert darin inhaltlich mit der Vergänglichkeit der Liebe. Doch nicht immer entspricht die raum-zeitliche Situierung dem inhaltlichen Verlauf der Dramenhandlung. So steht die Ermordung der Braut Katja durch ihren Ehemann Georg in starkem Kontrast zu dem unmittelbar darauf folgenden Frühlingsanfang. Damit gliedert Schimmelpfennig die Liebe in den ewigen Kreislauf der Natur von Leben und Sterben ein. 925 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Schimmelpfennig dem Chronotopos der Liebesidylle, den Chronotopos der entfremdeten Liebe zur Seite stellt, der sich durch eine Negation aller Komponenten des Chronotopos der Liebesidylle auszeichnet. Anstelle von romantisch aufgeladenen Außenräumen, die die Verquickung von Mensch und Natur vor Augen führen, dominieren in Schimmelpfennigs Werk die funktionalen Nicht- Räume, die sich durch ihre klare Begrenzung und ihren Transitcharakter auszeichnen. Auf der Ebene der Zeit ersetzt Flüchtigkeit die zyklische Zeitstruktur der Chronotopoi der Liebe und der Idylle. Das Liebesglück in Schimmelpfennigs Stücken ist nicht von Dauer: Was zunächst wie ein hoffnungsvoller Anfang wirkt, entpuppt sich als bittere Enttäuschung. 926 Dort, wo der Chronotopos der Liebe in traditioneller Weise auftaucht, wird er im Fortgang des Stückes dekonstruiert. Dies verdeutlichen die tragischen Ausgänge der parallel geschalteten Liebesgeschichten in „Die arabische Nacht“, „Auf der Greifswalder Straße“ und in „Hier und Jetzt“. Mit „Besuch bei dem Vater“ liefert Schimmelpfennig den ernüchternden Gegenentwurf zu den chronotopisch gestalteten Liebesszenen: Die Sehnsüchte aller Figuren nach Liebe und Nähe bleiben hier unerfüllt. Die chronotopische Anlage der Liebesszenen in Schimmelpfennigs Stücken spiegelt folglich den Verlust des zwischenmenschlichen Bezugs. Der transitorische Charakter der Liebe wird hervorgehoben, nicht ihr Vermögen dem Augenblick ein Stück Ewigkeit abzutrotzen. Inwieweit übernimmt der Chronotopos der Liebesidylle bzw. der entfremdeten Liebe nun aber eine sujetbildende Funktion? Betrachtet man die Gesamtheit der hier besprochenen Stücke, so lässt sich die zentrale Bedeutung dieses Chronotopos für die Entfaltung der Sujetereignisse nicht leugnen. Die Sehnsucht des vereinsamten Individuums nach Nähe und Liebe lässt sich in allen analysierten Stücken nachweisen. In „Die arabische 924 HUJ, Spalte 1, oben. 925 Vgl. Kapitel 3.4.1, S. 182-187 dieser Arbeit. 926 Vgl. BV, S. 29. <?page no="226"?> 226 Nacht“ und „Vorher/ Nachher“ werden Anziehung, Verführung, Liebe und Eifersucht zum Hauptmovens der verschiedenen Handlungsstränge und auch in „Besuch bei dem Vater“ und „Hier und Jetzt“ bestimmen diese Motive den Gang der Handlung. Stücke wie „Push up 1-3“ und „Ende und Anfang“ führen die Entfremdung der Liebe durch Einzelkämpfertum und Altersunterschied vor Augen, während Stücke wie „Auf der Greifswalder Straße“ und „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ einen Rest von Liebesidylle wahren, jedoch nicht ohne ihre Vergänglichkeit vor Augen zu führen. 4.4. Chronotopos der Krise und des Wendepunkts Es geht in meinen Texten um Veränderung, um Bewegung - und sei es eine Bewegung, die die Figuren verhindern möchten. Worum geht es? Wie geht es weiter? Was ist der Kern der Szenen? Wie entwickeln sich Figuren? Roland Schimmelpfennig 927 Wie das Zitat verdeutlicht, spielt der Chronotopos der Krise und des Wendepunktes in Schimmelpfennigs Dramenwerk eine bedeutende Rolle. Oftmals wird er zum Katalysator der fiktiven Handlung. Bachtin beschreibt die räumliche und zeitliche Beschaffenheit dieses Chronotopos mit Blick auf das Romanwerk von Dostojewski wie folgt: Bei Dostojewski z.B. bilden die Schwelle und die ihr benachbarten Chronotopoi der Treppe, des Vorzimmers und des Korridors wie auch deren Fortsetzungen, die Chronotopoi der Straße und des Platzes, die wichtigsten Schauplätze der Handlung in seinen Werken - Orte, an denen es zu Krisen kommt, zum Fiasko und zur […] Erneuerung, an denen Menschen sehend werden und Entschlüsse fassen, die ihr ganzes Leben bestimmen. Die Zeit in diesem Chronotopos ist im Grunde genommen ein Augenblick, dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfällt. 928 Sowohl in Dostojewskis als auch in Schimmelpfennigs Werken sind es Orte, die nicht zum Verweilen einladen, an denen es zur Krise kommt. Die bevorzugte Wahl von Durchgangs- und Zwischenorten, wie die Türschwelle („Besuch bei dem Vater“, „Die arabische Nacht“, „Die Frau von früher“, „Vorher/ Nachher“), der Flur („Die Frau von früher“, „Die arabische Nacht“), der Aufzug („Die arabische Nacht“) und die Straße („Auf der 927 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 238. 928 Bachtin 2008, S. 186. <?page no="227"?> 227 Greifswalder Straße“), zum Schauplatz der Handlung lässt sich folglich auf ihr besonderes Krisenpotential zurückführen. Wie Bachtins Ausführungen zu entnehmen ist, verschreibt sich der Chronotopos des Wendepunktes nicht nur in seiner räumlichen Beschaffenheit der Flüchtigkeit, auch die Zeit in diesem Chronotopos hat einen ephemerischen Charakter. So ist es auch in Schimmelpfennigs Stücken oftmals ein bloßer Augenblick, der alles verändert und aus der glücklichen Vergangenheit die bedrückende, perspektivlose Gegenwart werden lässt. Dies verdeutlicht der folgende Auszug aus „Ende und Anfang“: Sag du es mir: Welches war der Augenblick, der Wendepunkt, die unbemerkte Veränderung, wann war die Stunde wenn es nicht nur eine Minute war, nur eine einzige Minute, in der das Unglück seinen Anfang nahm, in der der Lauf des Lebens aus der Bahn geriet. 929 Schimmelpfennig unterstreicht die Kürze der Zeit im Wendepunkt durch den Einsatz einer Klimax, aus der Stunde, wird die eine Minute, aus der einen Minute die eine einzige Minute. Die Flüchtigkeit der Zeit im Wendepunkt macht ein Aufhalten der Veränderung schier unmöglich. Unerwartet und plötzlich präsentiert sich der krisenhafte Wendepunkt auch dem jungen Liebespaar in „Der goldene Drache“: DER MANN ÜBER SECHZIG Das ist ja eine absolute Katastrophe, eine vollkommene Katastrophe - Die Frau über sechzig weint. DER MANN ÜBER SECHZIG Gerade war noch alles gut - alles gut, gerade eben - und jetzt - wie sollen wir denn - du bist doch viel zu - 930 Nicht immer liegt der schicksalsträchtige Wendepunkt wie in den beiden obigen Beispielen außerhalb der präsentierten Dramenhandlung und wird von den Figuren nur rückblickend reflektiert, in „Auf der Greifswalder Straße“ ist er Bestandteil der szenisch präsentierten Handlung: Ein nächtlicher Albtraum leitet hier die tragische Wende im Leben des Gemüsehändlers Rudolf ein und treibt die Handlung der Katastrophe entgegen. Mit der Thematik des schicksalhaften Augenblicks greift Schimmelpfennig ein traditionelles Dramenmotiv auf, dem auch Lehmann in seiner 929 EA, S. 184. 930 GD, Szene 5. <?page no="228"?> 228 Gegenüberstellung von postdramatischer und dramatischer Zeitgestaltung besondere Aufmerksamkeit schenkt: In der Dramatik ist auch das verwandte Thema des Zu früh oder Zu spät, des verpaßten oder verfehlten Zeitpunkts geläufig: Kairos, der einmalige und nicht wiederkehrende günstige Moment; Tyche das unkalkulierbare, zufällige, schicksalhafte Zusammentreffen von Umständen in einem bestimmten Zeitpunkt. 931 Das Aufgreifen solcher Versatzstücke der klassischen Intrige kann als Bekenntnis zur dramatischen Tradition ausgelegt werden. Durch die Einbettung der klassischen Motive in die chronotopische Struktur der Theatertexte wird ihre Wirkung verstärkt. So kann der Chronotopos der Schwelle, der in Schimmelpfennigs Werk eine bedeutende Rolle spielt, als raum-zeitliche Verankerung des Kairos-Motivs aufgefasst werden, und zwar insofern als er den Ort und den Zeitpunkt der Leben verändernden Entscheidung darstellt. Und auch das Tyche-Motiv, das die Schicksalhaftigkeit bestimmter Zeitpunkte und die Macht des Zufalls unterstreicht, findet sich darin wieder, denn das Überschreiten der Schwelle ist in Schimmelpfennigs Stücken von extremer Schicksalhaftigkeit. Als Erweiterung des Chronotopos der Krise und des Wendepunktes kommt die Schwelle vermehrt zum Einsatz. Sie markiert bedeutende, oftmals tragische Wendepunkte im Leben des Figurenpersonals. Bachtin erklärt die Bedeutung der Schwelle für die Literatur mit ihrem besonderen metaphorisch-symbolischen Gehalt und ihrer hohen emotional-wertmäßigen Intensität. 932 Besonders deutlich zeigt sich der metaphorisch-symbolische Gehalt der Schwelle in den Szenen 38 und 43 in „Vorher/ Nachher“. Das Überschreiten der Türschwelle wird hier zum Sinnbild für einen Neuanfang. Die weibliche Protagonistin, die den Namen „Die Grille“ trägt, hat mit ihrem alten Leben abgeschlossen und ist fest entschlossen, ihren Mann zu verlassen. Mit dem Schritt über die Türschwelle beginnt für sie ein neues unab- 931 Lehmann 1999, S. 313. 932 Bachtin 2008, S. 186. Auf die Metaphorisierung der Schwelle, die bis in die Antike zurückreicht, verweist auch Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ und zitiert den Neuplatoniker Porphyrios, welcher der Schwelle eine sakrale Bedeutung zuschreibt: „Eine Schwelle ist etwas Heiliges.“ In: Porphyrios, De antro nympharum § 27. Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 221. Um auf die andauernde Bedeutsamkeit der Schwelle aufmerksam zu machen, stellt er dem antiken Textbeleg ein Zitat aus Michel Barraults „Dominicales“ gegenüber, der den Zauber der Schwelle wie folgt beschreibt: „Ich ertappe mich dabei, die Schwelle Als den geometrischen Ort Des Kommens und Gehens im Hause Des Vaters zu definieren.“ In: Michel Barrault: Dominicales I. Paris 1953, S. 11. Zitiert nach: Bachelard 1987, S. 221-222. <?page no="229"?> 229 hängiges und freies Leben. Doch bleibt ihr der Schritt in die Freiheit zunächst durch ihren Mann verwehrt, der die Haustür blockiert. Wie in der Zeitanalyse bereits angemerkt, 933 korrespondiert die Freigabe des Weges mit dem Anbrechen eines neuen Tages. Durch die Verquickung der Handlungsebene mit der Bildebene gelingt es Schimmelpfennig, die metaphorische Bedeutung der Türschwelle als Aufbruch in ein neues Leben besonders hervorzuheben. Das Beispiel verdeutlicht die hohe emotionalwertmäßige Intensität des Chronotopos der Schwelle. Sie wird zum Sinnbild der Freiheit. Während der Schritt über die Schwelle hier eine positive Wende einleitet, stellt er in „Besuch bei dem Vater“ den Auslöser der Krise dar. Als Wendepunkt birgt die Schwelle auch immer die Gefahr eines Umschlagens ins Negative. Die sujetbildende Funktion der Schwelle wird in der Eingangsszene von „Besuch bei dem Vater“ durch ein Innehalten der Figur markiert, das den Wendepunkt, der mit dem Eintritt in das Haus zusammenfällt, hinauszögert: In der Tür steht ein junger Mann, Anfang Zwanzig […] Er bleibt in der offenen Tür stehen. Nichts passiert. Es schneit herein. Machen Sie bitte die Tür zu. Pause. Machen Sie bitte die Tür zu. Es wird kalt. Der junge Mann kommt rein, bringt eine Menge Schnee mit, der auf die Teppiche und die Holzdielen fällt. Er schließt hinter sich die Tür. Sie sieht weiterhin nicht zu ihm auf. Er sagt nichts. 934 Peters Zögern beim Eintreten in das Haus seines ihm unbekannten Vaters verleiht dem Schritt über die Schwelle besonderes Gewicht. Aufmerksamen Rezipienten vermag dieses Moment des stillen Verweilens, eine Vorahnung auf den tragischen Gang der Handlung zu geben. Der hereinwehende Schnee kann als Sinnbild für Misstrauen, Eifersucht und Unfrieden gedeutet werden, die mit Peters Besuch Einzug in das Haus erhalten. Aus räumlicher Perspektive kommt es zu einem Eindringen des Kälte und Gefahr symbolisierenden Außenraumes in den geschützten Innenraum. In zeitlicher Hinsicht findet eine Infragestellung der Gegenwart durch die Vergangenheit statt. Die Szene ruft das Sprichwort „Das ist doch Schnee von gestern“ in Erinnerung, denn mit Peters Ankunft kehrt die verdrängte Vergangenheit zurück. Immer wieder wird auf das Eindringen von Schnee ins Haus hingewiesen 935 und damit auf den Zusammenhang, der zwischen dem hereinwehenden Schnee und dem Unheil besteht, das mit Peter über die Türschwelle schreitet. Bild- und Handlungsebene weisen eine enge Verquickung auf: Peters Eindringen in die geschlossene Familienwelt wird 933 Vgl. S. 186 dieser Arbeit. 934 BV, S. 10. 935 Vgl. BV, S. 14: „Heinrich und Sonja, Ediths Nichte, toben zur Tür herein, Schnee weht von draußen herein, sie haben ein Jagdgewehr dabei und eine tote Ente.“ Vgl. BV, S. 33: „Peter und Sonja kommen zurück, sie betreten das Haus. Viel Schnee kommt mit ihnen zur Tür rein.“ <?page no="230"?> 230 auf der Ebene des Raumes durch das Hereintragen des Außenraumelements Schnee in den geschützten Innenraum gespiegelt. Die Schwelle wird zum Symbol für den sich anbahnenden Konflikt. Sie dient als „Angelpunkt für die Entfaltung der Szenen“. 936 Das Beispiel verdeutlicht die gestalterische Bedeutung des Chronotopos der Schwelle, die laut Bachtin darin besteht, die Sujetereignisse zu konkretisieren und den Knoten des Sujets zu schürzen. 937 Im Unterschied zur postdramatischen Raumästhetik, in der der Raum sich von jeglicher vorgeschriebener Signifikanz befreit, ist sein Bedeutungsspektrum in „Besuch bei dem Vater“ somit eindeutig festgelegt: Die Schwelle fungiert als Sinnbild für Krise und Veränderung. Als Ort der Schicksalhaftigkeit präsentiert Schimmelpfennig die Schwelle auch in „Die Frau von früher“, denn hier steht die an Medea erinnernde Rachefigur mit Namen Romy Voigtländer vor der Tür und fordert Einlass in das Haus ihres Jugendfreundes. Ihre Forderung, um die sich das Stück entspinnt, ist, wie Schimmelpfennig selbst in einem Interview betont, einfach und klar: SCHIMMELPFENNIG Eigentlich ist sie [ROMY V.] eine meiner stursten Figuren. Und wenn man mal von dem Schluss absieht, zaubert sie gar nicht, sie konfrontiert ihre Umwelt nur mit dieser ganz einfachen, klaren Forderung. Fernab aller Magie, sie ist ganz direkt, sie wählt immer den kürzesten Weg: Ich werde jetzt in deine Wohnung hineingehen und deine Frau wird rausgehen. Es wird nicht diskutiert. 938 Die zentrale Bedeutung der Schwelle spiegelt sich in der räumlichen Konzeption der Szenen. In der Mehrzahl der Szenen bildet die Türschwelle das räumliche Zentrum, wie sich an der genauen Positionsbestimmung der Figuren im Nebentext ablesen lässt. In dem Moment, in dem Romy über die Schwelle des Hauses tritt bzw. getragen wird, ist das Schicksal der Figuren besiegelt. Der Schritt über die Schwelle symbolisiert somit auch hier den Wendepunkt im Leben des gesamten Figurenpersonals. Wie in „Besuch bei dem Vater“ initiiert der Eintritt ins Haus die Tragödie. Tragische Folgen hat der Schritt über die Schwelle auch in „Der goldene Drache“. Schimmelpfennig bereitet ihn langsam vor und führt dem Rezipienten damit seine Bedeutsamkeit vor Augen. DER JUNGE MANN Die Grille in dem kleinen Zimmer in dem Bau der Ameise, viel gibt es hier nicht, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Manchmal denkt sie, der Winter müsste doch längst vorbei sein, sie möchte nachsehen, ob nicht doch schon Sommer ist. Aber sie hat Angst, dass ihr 936 Bachtin 2008, S. 188. 937 Ebd., S. 187-188. 938 „Ausblick in die Ewigkeit“. In: Programmheft des Bayerischen Staatsschauspiels, „Die Frau von früher“. <?page no="231"?> 231 etwas auf dem Weg passiert. Dass sie nicht heil rauskommt. 939 Dem Zögern der Grille vor dem Schritt über die Zimmerschwelle und der mehrfach formulierten Sorge vor den möglichen Folgen dieser Tat kommt eine vorausdeutende Funktion zu. Sie kündigen die Katastrophe an: den Tod der Grille. 940 In „Die arabische Nacht“ verknüpft Schimmelpfennig die Symbolkraft der Schwelle mit der des Kusses. So haben der Schritt über die Schwelle von Franziskas und Fatimas Wohnung sowie der Versuch die schlafende Franziska mit einem Kuss zu wecken, für das männliche Figurenpersonal weitreichende Folgen. Vor dem Betreten der Wohnung wundern sich alle drei Männer über die offen stehende Haustür, was einem Zögern gleichkommt. Die Tragweite des Schrittes über die Schwelle wird dadurch besonders hervorgehoben: Das Überschreiten der Schwelle leitet einen Wendepunkt im Leben der Männer ein, denn mit dem Betreten der Wohnung geraten sie in den Bannkreis der schlafenden Frau und können sich ihrer Anziehungskraft nicht mehr erwehren. Mit dem Kuss, der in Kalils und Karpatis Fall einer Verwünschung gleicht, nimmt die Veränderung ihren Lauf. Während in Lomeiers Fall das Überschreiten der Schwelle nur eine vorübergehende Veränderung herbeiführt, die Raum und Zeit, nicht aber Lomeiers Person betrifft, wird der Kuss für Kalil und Karpati zum Verhängnis. So findet sich Karpati auf Miniaturgröße geschrumpft in einer Whiskeyflasche wieder, 941 während Kalil von einer unstillbaren Liebessucht getrieben wird. 942 Die durch den Kuss herbeigeführte Veränderung bedeutet für beide den Tod. 943 Hausmeister Lomeier hingegen entführt der Kuss in eine Welt aus Imagination und verdrängter Vergangenheit. Um diese Welt zu erreichen, muss er abermals die Türschwelle passieren, wodurch Schimmelpfennig die Bedeutung der Schwelle als Ort der Veränderung und der Erneuerung noch einmal hervorhebt: LOMEIER Ich trete über die Türschwelle und stehe in gleißendem Licht. Ein heißer Wind erfaßt mich, und in meinen Augen brennt Sand. 944 939 GD, Szene 38, vgl. Szene 42, 45. 940 GD, Szene 47. 941 AN, S. 327: „KARPATI Ich bin winzig klein. Meine ein Zentimeter großen Schuhe sind durchtränkt von Cognac. Über mir der Flaschenhals, den ich vergessen habe, wieder zu verkorken, unerreichbar hoch. In der Öffnung der Flasche fängt sich mit tiefem Ton ein Luftzug. Hallo? “ 942 AN, S. 335: „KALIL Komm rein, ich warte schon auf dich, höre ich eine Frauenstimme sagen, als stünde sie gleich neben mir. Ich will es nicht, aber ich laufe trotzdem den Flur runter zu der Wohnung.“ 943 AN, S. 341-342. 944 AN, S. 326. <?page no="232"?> 232 Die Schwelle wird hier zum Verbindungsglied zwischen Realität und märchenhafter Traumwelt, die an Tausendundeine Nacht erinnert. Beim Überschreiten der Schwelle lösen sich die Grenzen von Zeit und Raum auf. Schimmelpfennig verknüpft den Chronotopos der Schwelle hier mit dem Chronotopos der wunderbaren Welt, in dem die Zeit des Abenteuers herrscht. 945 Der Rückgriff auf den traditionellen Chronotopos der Schwelle als Wendepunkt führt zur Konstitution eines neuen Raumes: LOMEIER Ich stehe in einer Wüste. Es ist so hell, dass ich kaum die Augen öffnen kann. Ich blicke an mir herunter - sonst habe ich mich nicht verändert - die Sandalen, der graue Kittel, alles so wie immer. 946 Die enge Wohnblockwelt weicht der Weite der Wüste. Der Einbruch des Märchenhaften verändert nicht nur die Grundstimmung des Stückes, sondern auch den Raum. Es scheint, als gäbe es Möglichkeiten, der Trostlosigkeit des Alltags zu entfliehen. Wie bereits in der Analyse zu „Besuch bei dem Vater“ gesehen, verknüpft die Schwelle als Ort des Wendepunktes und der Krise das Moment der Entscheidung oftmals mit dem Moment des Zauderns. 947 Besonders deutlich wird diese Verquickung in Szene 7 aus „Vorher/ Nachher“, wo der hoffnungsvollen Erwartung die Furcht vor der Veränderung gegenübersteht. Auch wenn die Schwelle hier nicht explizit genannt wird, bestimmt ihr metaphorisch-symbolischer Gehalt die Szene, denn es geht um den Wendepunkt im Leben einer dreißigjährigen Frau. Die Frau ist kurz davor, ihren langjährigen Freund mit einem Arbeitskollegen zu betrügen. Der Entscheidung für den Seitensprung geht ein kurzes Zögern, ein Innehalten voraus, durch das die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks markiert wird: Als sie die Kneipe verließen und er auf der Straße vor der Verabschiedung das Gefühl hatte, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde unsicher war, was sie jetzt tun solle, hat er sie gefragt, ob sie mit ihm kommen will. 948 Ort der Entscheidung ist die Straße, die Bachtin als Fortsetzung des Chronotopos der Schwelle bezeichnet. 949 Der Ausdruck „für den Bruchteil einer Sekunde“ verdeutlicht die Flüchtigkeit der Zeit, die den Chronotopos der Krise und des Wendepunkts ausmacht. Wie in „Ende und Anfang“ präsentiert Schimmelpfennig den die Veränderung herbeiführenden Wendepunkt 945 Vgl. Bachtin 2008, S. 82. 946 AN, S. 327. 947 Vgl. Bachtin 2008, S. 186. 948 VN, S. 408. 949 Bachtin 2008, S. 186. <?page no="233"?> 233 als flüchtigen Moment: Es ist nicht mehr als ein Augenblick, der den Gang der Ereignisse entscheidet und die Wende im Leben der „Frau um die dreißig“ herbeiführt. Das Wissen um die Tragweite eines Seitensprungs lässt die Frau bei der Verabschiedung ihres Arbeitskollegen einen kurzen Moment zögern. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Ihr Arbeitskollege, der ihre Unsicherheit spürt, nimmt ihr mit seiner Frage die Entscheidung ab. Indem die Frau ihrem Kollegen ins Hotelzimmer folgt, überschreitet sie nicht nur die reale Hotelzimmerschwelle, sondern im übertragenen Sinne auch ihre eigene Hemmschwelle. Während sie ihren Freund betrügt, ahnt sie, dass der Betrug einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Die Endgültigkeit der gefällten Entscheidung erregt sie einerseits, macht ihr gleichzeitig aber auch Angst. 950 Indem Schimmelpfennig das Moment der Wende mit dem Moment der Furcht verknüpft, verstärkt er die Bedeutung des Wendepunktes im Leben der Frau und erhöht auf diese Weise auch die Spannung auf den Gang der Handlung. Anhand der Betrugsszene lässt sich nicht nur die Verknüpfung von Wendepunkt und Furcht nachweisen, sondern auch die enge Verquickung des Chronotopos der Krise und des Wendepunktes mit dem Chronotopos der Begegnung. Ohne die Begegnung auf der Jahrestagung wäre es nicht zu der Veränderung im Leben der „Frau um die dreißig“ gekommen. 951 Die Handlungssequenz der „Frau um die dreißig“ lässt sich folglich in die drei Handlungsmomente Begegnung, Wendepunkt und Veränderung untergliedern. Wie tief greifend, die mit dem Betrug einhergehende Veränderung ist, verdeutlicht eine Aussage des Ex-Freundes der Frau, der mit Blick auf seine schlafende Ex-Freundin betroffen feststellt: Du bist so verändert. Du bist ein völlig anderer Mensch. Nichts an dir ist so, wie es einmal war, sogar die Schichten deiner Haut sind andere als früher […]. 952 Von dem hohen Stellenwert, den die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Veränderung in Schimmelpfennigs Stücken einnimmt, zeugt auch die Szene der sich ständig verändernden Frau in „Vorher/ Nachher“, die mehrfach am Tag eine andere körperliche Form annimmt. 953 Jede ihrer Veränderungen ist an einen Raumwechsel geknüpft: So ist die Frau auf dem Weg zur U-Bahn bereits jemand anders als bei sich zuhause. Die nächste Veränderung vollzieht sich bei der Ankunft am Arbeitsplatz: Vor dem Gerichtsgebäude wird aus der Anwältin eine asiatische Küchenhilfe, die im benachbarten Krankenhaus arbeitet. Beim Betreten des Kranken- 950 VN, S. 410. 951 VN, S. 404. 952 VN, S. 460. 953 VN, S. 412-414. <?page no="234"?> 234 hausfahrstuhls nimmt sie abermals eine andere Identität an. Im Unterschied zur „Frau um die Dreißig“ hat sie selbst keinen Einfluss auf die Veränderung und kann diese folglich nicht verhindern: DIE SICH STÄNDIG VERÄNDERNDE FRAU Ich nehme ständig eine andere körperliche Form an. Ich verwandele mich. Mehrfach am Tag. Unter Umständen sogar mehrfach in der Stunde. Zeitpunkt und Art der Verwandlung kann ich nicht beeinflussen. 954 Auch in anderen Szenen von „Vorher/ Nachher“ wird über das Thema der Veränderung reflektiert: In den Szenen 1, 39, 45 und 51 geht es um die altersbedingte Veränderung des eigenen Körpers und den Tod, 955 in den Szenen 38, 43 und 44 um Veränderungen im Berufs- und im Privatleben, in Szene 31 um die Veränderung der Welt durch eine Naturkatastrophe und in den Szenen 22 und 34 um die veränderte Lebenssituation des Mannes im Bild, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll. Auslöser der Veränderung ist hier nicht das Überschreiten einer Schwelle, sondern die intensive Betrachtung eines Bildes. Das Bild leitet den Wendepunkt im Leben des Mannes ein. Es nimmt ihn gefangen und entführt ihn aus der realen Hotelzimmerwelt in die idyllische Welt des Bildes. 956 Wie die sich ständig verändernde Frau ist der Mann der Veränderung machtlos ausgeliefert. Der Vorgang der Veränderung entbehrt jeglicher Dauer und geht daher völlig unbemerkt vor sich. Von einer Sekunde zur nächsten findet sich der Mann in der Landschaft des Bildes wieder, welche die stereotypen Elemente eines Locus amoenus aufweist 957 und den Chronotopos des Wendepunkts mit dem der Idylle verbindet. Wie in „Die arabische Nacht“ leitet ein Raumwechsel den Wendepunkt ein. Die imaginierte, fiktive Welt des Bildes verdrängt die reale Welt. Der geschlossene funktionale Raum weicht dem idealisierten Naturraum. Im Unterschied zu Lomeier, der aus der fremden Welt zurückkehrt, gibt es für den Mann im Bild keinen Weg zurück in seine alte Welt. Die Veränderung ist irreversibel, wie der folgende Textauszug verdeutlicht: Der Weg ist versperrt; es gibt, wenn nicht ein Wunder geschieht, kein Zurück. 958 954 VN, S. 412. 955 Vgl. EA, S. 175. 956 VN, S. 419: „Er blieb vor dem Bild lange stehen, so wie jetzt. Er konnte sich nicht mehr losreißen. Das Bild nahm ihn gefangen.“ 957 VN, S. 424: „Ein Fluß, Vogelgezwitscher, Nachmittagslicht. Eine Brücke […] Schmetterlinge, Grashüpfer. Entfernte Frauenstimmen.“ 958 VN, S. 438. <?page no="235"?> 235 Wie die Beispiele verdeutlichen, bilden Raumwechsel, Wendepunkt und Veränderung eine thematische Einheit. In den besprochenen Stücken stellen sie die zentralen Sujetereignisse dar. Eine sujetbildende Funktion kommt dem Thema der Veränderung auch in „Auf der Greifswalder Straße“ zu. Erneut verknüpft Schimmelpfennig den Chronotopos des Wendepunktes mit dem Chronotopos der Begegnung: RUDOLF […] Mit einem Mal ist alles anders, die ganze Welt, die Zeit, das Licht, - alles ist anders, seitdem ich weiß, daß es Dich gibt - seitdem ich weiß, daß Du zu mir gehörst. Ein Sprung geht durch die Zeit, wenn Du jetzt fortgehst. Es reißt die Erde, wenn wir jetzt getrennte Wege gehen, da wir uns endlich trafen. 959 Wieder präsentiert Schimmelpfennig den Wendepunkt als kurzen Augenblick. Die Veränderung stellt keinen langsam fortschreitenden Prozess dar, sie geht plötzlich vor sich, wie die Formulierung „mit einem Mal ist alles anders“ nahelegt. Das Ausmaß der Veränderung wird durch die Verankerung des Konflikts auf der Ebene der Zeit- und Raumelemente verdeutlicht: Nicht nur Rudolf verändert sich, auch Zeit und Raum sind von der Veränderung betroffen. Die Gestaltung der Bildebene korrespondiert mit den Ereignissen auf der Handlungsebene. 960 Dies verdeutlicht auch Szene 3.12, in der Rudolf die dramatischen Folgen für das Universum skizziert, wenn seine Liebe unerwidert bliebe: RUDOLF Dieses Mädchen hat mir grundlos den Kopf verdreht und will von mir nichts wissen, ich aber liebe sie, und diese Liebe, bleibt sie unerwidert, sprengt die Welt. Die Zeit steht, seit das Mädchen weg ist, still, die Sonne rückt immer langsamer vor und bleibt dann auf der Stelle stehen, sieben Uhr dreißig, wieso zieht heute die Sonne am Kirchturm nicht vorbei, die Sonne hängt am Himmel fest, obwohl die Nacht emporziehen will, der Himmel droht zu reißen. 961 Auch hier verankert Schimmelpfennig den zentralen Konflikt - Rudolfs unglückliche Liebe - auf der Ebene der Raum- und Zeitelemente und verleiht der Szene damit eine besondere Intensität. 962 Die Passage kann als Persiflage auf das Gefühlspathos des klassischen Dramas verstanden werden, denn die Tragik der Situation wird in Szene 3.14 auf komische Art, gebrochen, indem drei Rumänen die Sonne einfach vom Himmel schießen. So kombiniert Schimmelpfennig Momente der Tragik mit Momenten der Komik und lässt tragische Situationen ins Surrealistische kippen. Der These 959 GS, Szene 2.14, S. 443. 960 Siehe auch: S. 186-187 dieser Arbeit. 961 GS, Szene 3.12, S. 457. 962 Zur Raum-Zeitgestaltung dieser Szene siehe auch S. 216-217 der vorliegenden Arbeit. <?page no="236"?> 236 von einer eindeutigen, vom Autor vorgegebenen Signifikanz der Raum- und Zeitstruktur tut dies jedoch keinen Abbruch. Die Komik der Szene resultiert aus der Verankerung des Konflikts in Zeit und Raum. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Der Chronotopos der Krise und des Wendepunktes ist in Schimmelpfennigs Stücken von großer thematischer und struktureller Relevanz. Seine strukturelle Bedeutung für die Komposition des Theatertextes lässt sich besonders gut an der Gestaltung des Haupthandlungsstrangs in „Der goldene Drache“ aufzeigen: Das Stück beginnt mit einer krisenhaften Situation: den Zahnschmerzen des kleinen Chinesen. Ihren Höhe- und Wendepunkt findet die Krise im Ziehen des Zahnes in Szene 20, der Mitte des Stückes. Ab diesem Punkt läuft die Handlung auf die Katastrophe zu: den Tod des kleinen Chinesen. Betrachtet man nun die sich in zahlreiche Erzählstränge untergliedernde Nebenhandlung, so lässt sich auch hier eine Funktionalisierung des Motivs der Krise und des Wendepunkts zu Kompositionszwecken nachweisen. Im Fall der Grille stellt das Verlassen des Sicherheit bietenden Zimmers den Wendepunkt dar, von dem aus die Handlung auf die Katastrophe zueilt. Und auch die Handlungsstränge, die Schimmelpfennig nicht zu Ende führt und deren Ausgang offen ist, zeugen von der Bedeutung des Motivs: Für den Mann im gestreiften Hemd stellt die Untreue seiner Frau den krisenhaften Wendepunkt in seinem Leben dar, im Fall des jungen Mannes ist es die ungewollte Schwangerschaft seiner Freundin und für den Großvater, die Erkenntnis, nie wieder jung sein zu können. Die sujetbildende Bedeutung des Motivs der Krise und des Wendepunktes lässt sich somit auf den verschiedenen Handlungsebenen des Theatertextes nachweisen. Schimmelpfennig selbst äußert sich zur Funktion des krisenhaften Wendepunktes in seinen Stücken wie folgt: SCHIMMELPFENNIG Der Einbruch der Katastrophe ist wichtig als Motor, der die Bühnenfigur aus der Bahn der Normalität wirft. 963 Das Zitat unterstreicht die Relevanz des Chronotopos der Krise und des Wendepunkts in seinen Theatertexten. 4.5. Chronotopos der ländlichen Welt Der ländliche Chronotopos, 964 der an die Schauplätze in Flauberts Romanen oder in Tschechows Dramen erinnert und häufig durch enge familiäre Bindungen gekennzeichnet ist, findet sich bei Schimmelpfennig vor allem in „Besuch bei dem Vater“ und „Die ewige Maria“. Alltägliche Handlun- 963 „Sich selber auf den Kopf gucken“. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“. 964 Bachtin spricht vom Chronotopos des Provinzstädtchens, vgl. Bachtin 2008, S. 185. <?page no="237"?> 237 gen und sich wiederholende Begebenheiten prägen diesen Chronotopos. Die Zeit im ländlichen Chronotopos ist folglich eine ereignislose, zyklische Alltagszeit: Die Kennzeichen dieser Zeit sind einfacher und grob-materieller Art, sind mit den diesem Alltag entsprechenden Örtlichkeiten fest verwachsen: mit den Häuschen und Stübchen des Städtchens, mit den verschlafenen Straßen, dem Staub und den Fliegen, den Klubs, den Billardspielen usw. usf. Die Zeit ist hier ereignislos, so daß es scheint, sie sei fast gänzlich stehengeblieben. 965 Vom zeitlichen Stillstand, der diesen Orten anhaftet, zeugen auch die Wohnhäuser in den genannten Stücken. Es sind große, alte Häuser, die seit Jahren im Besitz einer Familie sind und viel Lebenszeit in sich aufgesogen haben. 966 Sie stellen eine räumliche Mikrowelt dar und sind von Nachbarhäusern und Ortskern weitgehend isoliert. 967 In Analogie zu den von Bachtin untersuchten Romanautoren nutzt auch Schimmelpfennig den ländlich-provinziellen Chronotopos als kontrastierenden Hintergrund und kombiniert ihn mit den ereignisreichen Chronotopoi der Krise, des Wendepunktes und der Begegnung, die sich durch zeitliche Präzipitation auszeichnen. In die geordnete Welt bricht ein fremdes Element ein, das die Harmonie stört und den Lebensrhythmus der Bewohner des Provinzstädtchens aus dem Gleichgewicht bringt. Sie werden durch urplötzlich eintretende Veränderungen aus der kontinuierlich ablaufenden Alltagszeit herausgerissen. In „Besuch bei dem Vater“ ist dies die Ankunft des unbekannten Sohnes Peter. Durch sie wird die ländliche Stille durchbrochen und das geordnete Leben der Hausbewohner aus dem Gleichgewicht gebracht. Bachtin spricht in diesem Zusammenhang von der Zerstörung der Familienidylle durch eine von außen einbrechende fremde Kraft: Nach einem anderen Schema […] bricht in die Mikrowelt der Familie eine fremde Kraft ein, die sie zu vernichten droht. 968 Erst mit Peters Verschwinden greift wieder die ereignislose, zähe Alltagszeit um sich, die die Schlussszene des Stückes dominiert: ISABEL […] Nein, es hat nicht geklingelt. Edith erscheint in einer der Türen. Nein, es hat nicht geklingelt. Das hätte ich gehört. 965 Bachtin 2008, S. 185. 966 Zur Größe der Häuser siehe: BV, S. 9, 19, 47. EM, S. 50, 63, 85. Zur Eigentumsgeschichte des Hauses: BV, S. 17, 19. EM, S. 90-91. 967 Vgl. Bachtins Ausführungen zum idyllischen Chronotopos, die sich mit den Beschreibungen des Chronotopos des Provinzstädtchens teils überschneiden und diese teils ergänzen. In: Ebd., S. 160ff. 968 Bachtin 2008, S. 168. Auch in FF hat man es mit dem Eindringen einer solchen zerstörerischen Macht in die Welt der Familie zu tun. <?page no="238"?> 238 Kurze Pause. Siehst Du jemanden? Kurze Pause. Kannst Du jemanden am Tor sehen? EDITH Nein. ISABEL Wie ich sagte - Kurze Pause. Siehst du - keiner da. ENDE 969 Die Ereignislosigkeit auf den Ebenen der Zeit und der Handlung sowie die Immobilität des Raumes, die die Szene charakterisiert, kulminiert in der Nebentextanweisung „Ende“, mit der der Theatertext schließt. Sie macht jedwede Hoffnung auf Bewegung und Entwicklung zunichte und bedeutet absoluten Stillstand. Auch in „Die ewige Maria“ wird der beschauliche ländliche Alltag durch unerwartete Ereignisse gestört. Hier sind es das Verschwinden des Jungen, sein Selbstmordversuch, die Rückkehr des verschollenen Bruders, Karls Verschwinden und seine Heimkehr in der letzten Szene, die zur Unterbrechung der Alltagszeit führen. Im Unterschied zu „Besuch bei dem Vater“ kehrt am Ende des Stückes die ländliche Ruhe nicht wieder ein. Der Kreis schließt sich nicht, denn das Stück endet offen. Von zurückgekehrter Ruhe und Frieden kann hier nicht die Rede sein. Die letzten Sätze sind von einer starken Präzipitation gekennzeichnet und deuten auf eine sich anbahnende Katastrophe hin. Um die Erregung der beiden Protagonisten zu verdeutlichen, lässt Schimmelpfennig Rede und Gegenrede im Stil der griechischen Stichomythie unmittelbar aufeinanderfolgen. Die Auseinandersetzung zwischen Maria und Karl erhält dadurch eine besondere Dramatik: KARL Gib mir die Hand, Maria. MARIA Nein. Was willst - KARL Komm zu mir - MARIA Leg das Messer weg, Karl. KARL Komm - Gib mir deine Hand, Maria, komm. MARIA Nein. KARL Gib mir die Hand, Maria. MARIA Was willst du - KARL Komm zu mir - MARIA Leg das Messer weg, Karl. KARL Komm - 970 Karls Rückkehr bringt die friedliche, beschauliche Welt des ländlichen Chronotopos zum Zusammenbruch. Das Stück endet mit der Suspension der Alltagszeit, sein Ausgang ist offen. 969 BV, S. 86. 970 EM, S. 96. <?page no="239"?> 239 Charakteristisch für den ländlichen Chronotopos ist die Heimatliebe seiner Bewohner, die, so Bachtin, besonders stark in der idyllischen Variante dieses Chronotopos zum Ausdruck komme. Dem Ort ihrer Herkunft halten die Dorfbewohner ein Leben lang die Treue. So ist der Ort ihrer Geburt und Kindheit meist auch der Ort ihres Alterns und ihres Todes. 971 Oftmals wohnen verschiedene Generationen einer Familie unter einem Dach. So auch bei Schimmelpfennig: In „Die ewige Maria“ bewohnen Franz, sein Sohn, seine Schwiegertochter und sein Bruder das Haus der Eltern. Und auch in „Besuch bei dem Vater“ dient das Elternhaus den verschiedenen Mitgliedern einer Großfamilie als Herberge, hier allerdings nur vorübergehend, wie sich dem Kommentar der Gastgeberin Edith entnehmen lässt: EDITH […] In ein paar Tagen sind alle wieder weg. 972 Obwohl das Figurenpersonal in „Besuch bei dem Vater“ nur vorübergehend im Elternhaus residiert, so lässt sich dennoch auch hier eine besondere Heimat- und Familienverbundenheit nachweisen. Mehrfach wird betont, dass das Landhaus, in dem die Familie zusammentrifft, seit mehreren Generationen, wenn auch mit Unterbrechungen, im Besitz von Ediths Familie ist, 973 weshalb Tochter Isabel es „die Familiengruft“ nennt. 974 Aus dieser Bezeichnung lässt sich auf die dem Haus innewohnende Zeitlosigkeit schließen. Die Zeit steht hier still. Das Haus bewahrt das Familienerbe, das Andenken an seine Bewohner, wie ein Grab. Es zeigt kaum Spuren der Veränderung und negiert das Fortschreiten der Zeit. Ediths Verbundenheit mit dem Ort ihrer Kindheit geht aus dem folgenden Textzitat deutlich hervor: EDITH Wissen Sie, ich habe schon als Kind hier gewohnt, aber dann mussten meine Eltern das Haus aufgeben. Und jetzt gehört es wieder mir. Ich habe es zurückgekauft. Mein Urgroßvater hatte das Haus damals gekauft, und dann habe ich es wiedergekauft. 975 Schimmelpfennig rekurriert hier bewusst oder unbewusst auf das Motiv der Verwurzelung in der Heimat, das laut Bachtin ein typisches Kennzeichen für die Chronotopoi der Idylle ist, zu denen er die Liebesidylle, die ländliche Idylle und die Familienidylle zählt. 976 Und nicht nur hier, auch in 971 Vgl. BV, S. 11: „Sie [Edith] hat in diesem Haus bereits als Kind gelebt, ist hier aufgewachsen, lebt jetzt wieder hier mit ihrem Mann Heinrich und ihrer gemeinsamen Tochter Isabel.“ 972 BV, S. 14. 973 BV, S. 11, 17, 19, 46. 974 BV, S. 18. 975 BV, S. 17. 976 Bachtin 2008, S. 160: „Das Leben und seine Ereignisse sind organisch an einen Ort - das Heimatland mit all seinen Fleckchen und Winkeln, die vertrauten Berge, Täler und Felder, Flüsse und Wälder, das Vaterhaus - gebunden, mit ihm verwachsen. Das idyllische Leben mit seinen Ereignissen ist nicht zu trennen von diesem räumlichen <?page no="240"?> 240 „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ kommt das Motiv zum Einsatz, wie der folgende Auszug belegt: WILHELM Wie lange leben wir seitdem allein in diesem grünen Schatten? ERNST Wir sind ein Teil von diesem Wald wie dieses Laub. WILHELM Ernst, wir sind fast schon fest gewachsen mit Wurzelholz bis weit hinab ins Erdreich. 977 Hier wird die von Bachtin genannte Verwurzelung in der Heimat sowie die „Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur“ 978 überdeutlich. Aus dieser besonderen Heimatverbundenheit resultiert, laut Bachtin, auch die zyklische Zeitstruktur, die dem idyllischen und dem ländlichen Chronotopos zueigen ist. Auch sie lässt sich anhand von Schimmelpfennigs Theatertexten nachweisen. So ist der Alltag der Figuren in „Die ewige Maria“ von „sich wiederholenden Begebenheiten“ gekennzeichnet. 979 Er läuft nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ab: Die Tage sind durch die Arbeit in der Bäckerei klar strukturiert und unterscheiden sich nicht voneinander. Das Leben verschreibt sich einem zyklischen Rhythmus, einem ewigen Kreislauf, wie schon der Stücktitel nahelegt. Zeugnis davon legen die folgenden Aussprüche der Figuren ab: ONKEL Es ist wie jeden Morgen vor der Arbeit. 980 KARL So, wie jedes Mal, wenn jemand Hochzeit hat. 981 Wie die Zitate verdeutlichen, ist der Alltag des Figurenpersonals in „Die ewige Maria“ von festen Gewohnheiten geprägt. Die Ausgangssituation des Stückes entspricht damit Bachtins Beschreibung des Chronotopos des Provinzstädtchens: Von Tag zu Tag wiederholen sich die gleichen alltäglichen Handlungen, die gleichen Gesprächsthemen, die gleichen Worte usw. Die Menschen in dieser Zeit essen und trinken, schlafen, haben Ehefrauen, haben Geliebte (keine romanhaften), spinnen kleine Intrigen, sitzen in ihren Läden oder Büros, spielen Karten und ergehen sich in Klatscherei. 982 Fleckchen, wo die Väter und Vorväter lebten, wo die Kinder und Enkel leben werden. Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst; sie ist mit anderen Orten, mit der übrigen Welt nicht auf wesentliche Weise verbunden.“ 977 ASW, S. 234. Vgl. ASW, S. 238: „HANS Der Vater ist selbst fast schon ein Baum, der kennt den Wald.“ 978 Bachtin 2008, S. 161. 979 Vgl. ebd., S. 185. 980 EM, S. 51. 981 Ebd. 982 Bachtin 2008, S. 185. <?page no="241"?> 241 Auch der Umgang mit dem ländlichen Aberglauben zeugt von vorhandenen eisernen Gesetzen, die nicht gebrochen werden dürfen, wie die Diskussion um die Anfertigung des Hochzeitsbrots verdeutlicht: FRANZ Gut. Gut. Dann werde ich jetzt für euch das Hochzeitsbrot backen. […] ONKEL Ich werde zusehen, wie du es machst. FRANZ Aber daß du mir nichts anrührst! EVA Bloß das nicht - das bringt Unglück über die Brautleute. ONKEL Nein, nein, ich rühre nichts an - es ist doch nicht das erste Mal. KARL Ich kann es auch machen, wenn du etwas anderes tun willst. FRANZ Das geht nicht, Sohn, das weißt du doch. Außerdem glaubst du doch immer noch, daß im schwarzen Teig die Asche von den bösen Geistern ist. EVA Wenn der Bräutigam hilft, trägt der Wind in der Hochzeitsnacht das Bett davon. MARIA Und wenn ich helfe? HANS Dann kommt Feuer über das Haus. FRANZ So ist es. 983 Um die bösen Geister zu vertreiben, die ins Hochzeitshaus kommen, wenn alle schlafen, 984 muss der Brautvater dem Brautpaar ein Brot aus schwarzem Teig backen, bei dessen Anfertigung ihm nicht geholfen werden darf. Der hier zutage tretende Aberglaube, der die Figuren in ihrem Denken und Handeln beeinflusst, durchzieht das gesamte Stück. 985 Er ist repräsentativ für den ländlichen Chronotopos, in dem das Leben festen Regeln folgt. Ein solcher Volksglaube, der das Leben der Dorfbewohner prägt und Verhaltensvorschriften beinhaltet, findet sich auch in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“. 986 Allerdings hat das Missachten der uralten Gesetze hier tragische Folgen. All die, die sich zu weit in den Wald hineinwagen und die Wege verlassen, werden zu Bäumen, ganz wie der vorherrschende Aberglaube es prophezeit. 987 Auch in „Besuch bei dem Vater“ folgt das Leben auf dem Land festen Regeln. Zwar hat deren Missachtung keine solch tragischen Folgen wie in „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, aber dennoch wird auf ihre Respektierung Wert gelegt. Wie sehr die Dorfbewohner auf die Einhaltung von Regeln achten, die ein friedliches Zusammenleben garantieren, verdeutlicht der folgende Auszug: HEINRICH Was für ein Glück, ich habe keinen Jagdschein, was ich auf meinem Land schieße, mag noch meine Sache sein, wobei das die 983 EM, S. 54. 984 EM, S. 82. 985 EM, S. 51, 54, 82, 87-88, 90-91. 986 ASW, S. 238. 987 ASW, S. 263, 269-277. <?page no="242"?> 242 Leute im Dorf sicher nicht so sehen, die sehen das anders, aber außerhalb, außerhalb - SONJA Ja - Sie lacht. Ach so - Sie meinen, wenn das getroffene Vieh noch über den Zaun gerauscht wäre - HEINRICH Oder manchmal kommen sie noch mal hoch, flattern noch einmal auf, wenn der Vogel auf der anderen Seite des Zauns auf den Acker gefallen wäre - das wird nicht gern gesehen - SONJA Aber wer hätte das sehen sollen - HEINRICH lacht auf Ja - wer weiß - 988 Die umzäunten Grundstücke spiegeln das Ordnungsdenken der Dorfbewohner wider. Auch beim Jagen sind die Grundstücksgrenzen zu beachten und dürfen nicht überschritten werden, da es sonst zu Beschwerden kommen kann. Wie gerne sich auch die Dorfbewohner in „Die ewige Maria“ in Beschuldigungen ihrer Mitbürger ergehen, illustriert der folgende Textauszug: KARL Du sollst Leute ausgeraubt haben. FRITZ Ich? KARL Heißt es. FRITZ Das habe ich nie getan. Sicher nicht. Das darfst du nicht glauben. KARL Nie? FRITZ Es ist nicht immer so einfach. KARL Einen sollst du umgebracht haben, Fritz. FRITZ Nein, wirklich nicht. Sieh mich doch an. 989 Der vorliegende Textauszug führt die Bedeutung des ländlichen Chronotopos als Organisationszentrum der Handlung deutlich vor Augen. Jemandem wie Fritz, der das Dorf ohne ein Wort des Abschieds verlassen hat und über dessen Verbleib nichts bekannt ist, begegnen die Dorfbewohner mit Argwohn und Misstrauen. Sein Handeln - wie auch das seines Bruders Karl, der seine Braut in der Hochzeitsnacht alleine zurücklässt, um in der Ferne Arbeit zu suchen - steht im Widerspruch zu den uralten ländlichen Gesetzen und Traditionen. Die zentralen Konflikte im Stück, so lässt sich zusammenfassend festhalten, resultieren aus dem Wunsch, die dörfliche Welt bzw. das Vaterhaus, das Inbegriff dieser Welt des Stillstands und der Tradition ist, zu verlassen, um in der Fremde eine eigene Existenz aufzubauen. Wie die Ausführungen gezeigt haben, kommt dem ländlichen Chronotopos auch in „Besuch bei dem Vater“ eine sujetbildende Funktion zu. In die abgeschiedene, ruhige Welt des elterlichen Landhauses tritt ein Frem- 988 BV, S. 15. 989 EM, S. 77. <?page no="243"?> 243 der ein, der die zyklische Alltagszeit durchbricht und die bis dahin existierende Ordnung umwirft. 4.6. Fazit der Chronotoposanalyse In der methodisch an Bachtin anknüpfenden Chronotoposanalyse konnte der Nachweis für eine produktive Nutzung traditioneller Chronotopoi erbracht werden. Es konnte aufgezeigt werden, dass Schimmelpfennig sich bei der raum-zeitlichen Gestaltung seiner Stücke verschiedener literarischer Chronotopoi bedient, die, so Bachtin, „zur Aneignung der realen, zeitlichen (im Extrem - der historischen) Wirklichkeit dienen und es ermöglichen, wesentliche Momente dieser Wirklichkeit widerzuspiegeln und in die künstlerische Ebene des Romans einzuführen.“ 990 - und eben nicht nur in die Ebene des Romans, sondern auch in die Ebene des Theatertextes. Wie in der Einleitung zur Chronotoposanalyse bereits angemerkt wurde, untermauert das Vorhandensein einer solchen symbolisch-sinnhaften Beziehung zwischen Raum und Zeit die These einer Abkehr von postdramatischen Strukturprinzipien, denn das postdramatische Theater verschreibt sich der Auflösung solcher Signifikatstrukturen. Die Ausgestaltung der Signifikatstruktur durch eine gezielte Nutzung literarischer Chronotopoi stellt somit ein Indiz für die Rückkehr des Dramas dar. Im Folgenden seien die in Schimmelpfennigs Stücken nachweisbaren Chronotopoi noch einmal zusammengestellt: Es handelt sich um die Chronotopoi der Begegnung, der Liebesidylle, des Wendepunktes und der ländlichen Welt. Von sujetbildender Bedeutung sind vor allem die Chronotopoi der Begegnung und des Wendepunktes. Wo traditionelle Chronotoposstrukturen auftauchen, stehen Raum, Zeit und Handlung in einer symbolisch-sinnhaften Beziehung zueinander. Die wechselseitige Beeinflussung von mikrostruktureller und makrostruktureller Ebene konnte an verschiedenen Szenen veranschaulicht werden. Besonders deutlich zeigt sie sich in der Balkonszene aus „Die arabische Nacht“. Hier begünstigt die romantische Aufladung der Natur zum einen die Annäherung der Figuren auf der Handlungsebene, zum anderen intensiviert der Kuss die Romantisierung der Raum-Zeit. Er führt eine Unterbrechung der zeitlichen Sukzession herbei und bewirkt damit eine Aufhebung der Vergänglichkeit. Die Gestaltung der mikrostrukturellen Ebene steht somit in Abhängigkeit von den Ereignissen auf der makrostrukturellen Ebene und umgekehrt. Zentrale Ereignisse auf der makrostrukturellen Ebene werden durch eine spezifische Gestaltung der mikrostrukturellen Ebene besonders hervorgehoben, so z.B. in „Auf der Greifswalder Straße“, wo Rudolfs Liebe zu Maika das 990 Bachtin 2008, S. 189. <?page no="244"?> 244 Universum stillstehen lässt und die Sonne am Untergehen hindert. 991 Raum und Zeit in den untersuchten Stücken weisen somit eine metaphorische Struktur auf. Wie die Untersuchung gezeigt hat, tauchen bestimmte semantische Verknüpfungen von mikrostruktureller und makrostruktureller Ebene in mehreren Stücken auf. Unter den Raumelementen fungiert der Vollmond als Charakteristikum für Liebesszenen (AN, GS, Z), die Schwelle und die ihr benachbarten Chronotopoi des Flurs, der Treppe und des Aufzugs 992 sind Sinnbilder für Krisen und Wendepunkte (BV, AN, VN, FF, PU). Und nicht nur der Raum, auch die Zeit wird metaphorisch aufgeladen. So kann das Aussetzen der Sukzession in den klassisch angelegten Liebesszenen als Zeichen für die Kraft der Liebe gedeutet werden, dem Augenblick Dauer zu verleihen. Wendepunkte werden hingegen als kurze, flüchtige Momente präsentiert, wodurch die Machtlosigkeit der Figuren gegen die einsetzende Veränderung hervorgehoben wird. Die Gestaltung von mikrostruktureller und makrostruktureller Ebene weist Schimmelpfennigs Theater als ein Theater aus, das sich der Übermittlung von semantisierten Zeichen verschreibt. 993 Damit ist es seinem Wesen nach ein dramatisches Theater. Doch hat man es nicht immer mit der oben beschriebenen Kongruenz von mikrostruktureller und makrostruktureller Ebene zu tun. Mitunter setzt Schimmelpfennig die Raum- und Zeitelemente auch als bewussten Gegenpol zu den Ereignissen auf der Handlungsebene ein, wie z.B. in „Hier und Jetzt“, wo die liebliche Sommerlandschaft im harten Kontrast zu Georgs desolatem physischen und psychischen Zustand steht. Raum und Zeit übernehmen hier eine kontrastierende Funktion und intensivieren damit den düsteren Stimmungswert der makrostrukturellen Ebene. Der Auftritt des verwahrlosten Mannes verändert den Raum, entlarvt die Idylle als trügerisch und bricht folglich mit den konventionalisierten Erwartungen. Das Beispiel verdeutlicht, wie sich der Raum im Handeln der Figur neu konstituiert und verändert. Ähnlich diametral ist das Verhältnis von mikrostruktureller Ebene und makrostruktureller Ebene auch in der Schlusssequenz von „Die arabische Nacht“, allerdings betrifft die Kontrastierung hier nur einen Teil der Handlung. Während die Annäherung zwischen Franziska und Lomeier in völliger Kongruenz zur raum-zeitlichen Gestaltung der Szene steht, bilden Kalils und Karpatis Tod einen harten Kontrast zur Liebeshandlung. Die fehlende Kongruenz zwischen der Ge- 991 GS, Szene 3.12, S. 457. 992 In AN ist der stecken gebliebene Aufzug Sinnbild für die sich anbahnende Katastrophe. Der defekte Aufzug wird Kalil zum Verhängnis, da er die wartende Fatima sonst noch in der Wohnung abgepasst hätte und es nicht zu den tödlichen Missverständnissen gekommen wäre. In PU und EA ist es der nach unten fahrende Fahrstuhl, der Scheitern und Tod bedeutet, vgl. hierzu S. 87 und 91 dieser Arbeit. 993 Vgl. Lehmann 1999, S. 286. <?page no="245"?> 245 staltung der mikrostrukturellen Ebene und den Ereignissen auf der makrostrukturellen Ebene verstärkt deren tragische Wirkung: Vor dem Hintergrund der romantisch aufgeladenen, lauen Sommernacht gewinnt der Tod der beiden zusätzlich an Tragik. Der Chronotopos der Liebesidylle wird durch die Parallelhandlung entfremdet. Abschließend muss auf die Frage eingegangen werden, inwieweit der Rückgriff auf traditionelle literarische Chronotopoi die Konstitution neuer Räume begünstigt. Als Beispiel für eine Verdrängung des konventionalisierten Raumes zugunsten eines im Bewusstsein der Figur entstehenden Transitionsraumes wurde „Die arabische Nacht“ angeführt, in der das Küssen der schlafenden Franziska und das anschließende Überschreiten der Türschwelle, den Hausmeister Lomeier in eine Wüstenwelt entführt. In Karpatis Fall bewirkt der Kuss nicht nur eine räumliche Veränderung, sondern auch eine seine Person betreffende Verwandlung: Er findet sich auf Däumlingsgröße geschrumpft in einer Whiskeyflasche wieder. Sowohl für Lomeier als auch für Karpati führt die Begegnung mit der schlafenden Frau die Auflösung der konventionellen räumlichen - in Lomeiers Fall auch der zeitlichen 994 - Relationen herbei. 994 Mit dem Eintritt in die arabische Wüstenwelt begibt sich Lomeier auch in eine andere Zeit. Er durchlebt Szenen seiner eigenen Vergangenheit noch einmal: „LOMEIER Vor mir liegen die Minarette Istanbuls. Hier war ich schon einmal. Auf unserer Hochzeitsreise. Vor vierundzwanzig Jahren. Neben mir steht eine Frau, die aussieht wie Helga, meine erste Frau, sie trägt dieselben Kleider wie damals, sie sieht ganz unverändert aus, nur über ihr Gesicht läuft eine breite senkrechte Narbe vom Scheitel über die Nase bis zum Kinn - “ In: AN, S. 334. <?page no="247"?> 247 5. Schimmelpfennigs Raumentwürfe in der szenischen Realisierung 5.1. Zum Zusammenspiel von modalem und medialem Raum Zum einen kann nach dem ›erzählten‹ Raum, zum anderen nach dem Raum, in dem erzählt wird, gefragt werden. Im ersten Fall wird durch das Erzählen ein (imaginärer) Raum konstituiert, der mit der und für die Aktion, die in ihm stattfindet, hergestellt wird. Hier werde ich von einem ›modalen‹ Raum sprechen, denn er wird durch die Art und Weise des (thematischen, perspektivischen etc.) Erzählens bestimmt. Im zweiten Fall ist ein bestimmter Raum vorgegeben, damit überhaupt das Erzählen stattfinden kann. Hier werde ich von einem ›medialen‹ Raum sprechen, denn er bildet das Medium oder die materiale Bedingung des Erzählens in verschiedenen Modalitäten. Joachim Paech 995 995 Joachim Paech: Eine Szene machen. In: Beller, Emele, Schuster (Hgg.) 2000, S. 93-121, 93. Nachdem die raum-zeitliche Struktur der ausgewählten Stücke auf der Ebene des Textes analysiert wurde, untersucht das folgende Kapitel die theatralische Umsetzung dieser Konstitutionen. Die ausgewählten Inszenierungen werden daraufhin befragt, welche theatralischen Interpretanten für die im Text konstituierten Bedeutungen von Raum und Zeit gefunden wurden. Da der Untersuchungsgegenstand Inszenierungen aus vierzehn Jahren umfasst, betrachtet wird der Zeitraum 1996 bis 2009, bietet sich als Methode nur das historiografische Vorgehen an. Trotz des Wissens um die Einseitigkeit der semiotischen Analyse wird diese folglich nicht durch eine phänomenologische Ausrichtung ergänzt. Zuschauerreaktionen werden außer Acht gelassen. Der Fokus der Untersuchung liegt auf dem Vorgang der Produktion und nicht auf der Rezeption und Wirkung der ausgewählten Inszenierungen. Ziel der Analyse ist es, das Raumkonzept der jeweiligen Inszenierung zu ermitteln und damit zur Beantwortung der aufführungsübergreifenden Frage zu kommen, wo das zeitgenössische deutsche Theater im Spannungsfeld von Postdramatik und Dramatik steht. Die Bedeutung von phänomenologischen Analyseverfahren als Ergänzung semio- <?page no="248"?> 248 tischer Untersuchungen soll damit aber keineswegs in Frage gestellt werden. So wird Erika Fischer-Lichte recht gegeben, die mit Nachdruck auf die Notwendigkeit phänomenologischer Analysen verweist: Jede Konstitution von Bedeutung, sei sie einzelne Elemente, verschiedene Segmente oder die Inszenierung als Ganzes betreffend, ist - wenn auch in unterschiedlichen Graden - von den beobachtbaren Reaktionen der Zuschauer und der Wirkung, die sie im Analysierenden auslösen, abhängig. 996 Damit zum Untersuchungsgegenstand: Gegenstand der Analyse sind dreizehn Inszenierungen der Jahre 1996 bis 2009. 997 Bei der Auswahl der Inszenierungen für die Inszenierungsanalysen wurde Wert darauf gelegt, dass es sich um Urinszenierungen handelt. Die Wahl von vier Gosch- Inszenierungen mag überraschen. Sie liegt darin begründet, dass er der bevorzugte Regisseur des Autors ist. 998 In seiner Laudatio auf den im Juni 2009 verstorbenen Regisseur und seinen Bühnenbildner Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2009 legt Schimmelpfennig die Gründe für sein Vertrauen in beide dar. Er beginnt die Rede mit einem Gosch-Zitat: „Alles ist spielbar, solange es im Text vorkommt.“ 999 Das Zitat stellt den Leitsatz der Rede dar. An späterer Stelle wird Schimmelpfennig noch präziser und legt die Bedeutung dieser Gosch- Maxime offen: SCHIMMELPFENNIG Das Theater von Gosch und Schütz ist schnörkellos, direkt, aber es nimmt sich in jedem Fall die Zeit, die der Text braucht. […] Und beide, Regisseur und Bühnenbildner, begreifen den Text nicht als Material, sondern als eigenständigen, unangreifbaren Körper. Gosch inszeniert jedes Satzzeichen, jedes Komma, jede Pause - das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. 1000 Es ist die Genauigkeit, die Unbedingtheit, mit der Gosch und Schütz sich dem Text widmen, die Schimmelpfennig an ihnen so sehr schätzt. Gosch selbst betont seine Verpflichtung dem Text gegenüber in Gesprächen über seine Arbeit immer wieder, so in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel: 996 Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen 2009, S. 88. 997 Da das Theater Oberhausen in seinem Archiv vergeblich nach einem Mitschnitt der Uraufführung von „Die ewige Maria“ aus dem Jahr 1996 gesucht hat, muss auf die Analyse der theatralen Umsetzung dieses Stückes leider verzichtet werden. Das Untersuchungskorpus umfasst somit nur dreizehn Inszenierungen. 998 Die Zusammenarbeit zwischen Jürgen Gosch und Roland Schimmelpfennig endete im Juni 2009 mit Goschs Tod. 999 Roland Schimmelpfennig: Laudatio auf Jürgen Gosch und Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2009. In: Theater heute 06/ 2009, S. 36-39, 36. 1000 Ebd., S. 38. <?page no="249"?> 249 GOSCH Alle Mittel, auch die völlig unspektakulären, müssen sich legitimieren durch ihren Einsatz für den Text, für die Sicht auf das Stück. 1001 Für Roland Schimmelpfennig liegt die Qualität von Goschs Regiearbeiten aber nicht nur in ihrer Wertschätzung und Achtung des Textes, sondern auch in der Tatsache: „dass in diesen Arbeiten jeder der Mitwirkenden zu sich selber in gewisser Weise findet, bei sich ist und schnörkellos, direkt versucht, das auszudrücken, was das jeweilige Projekt wirklich erfordert, also in das Herz der Sache vorzudringen.“ 1002 Wie es Gosch gelingt, „in das Herz der Sache vorzudringen“, wird in den Analysen der vier ausgewählten Gosch-Inszenierungen offen gelegt. Methodisch wird folgendermaßen vorgegangen: Da es, wie Erika Fischer-Lichte in ihrer Einführung in die Theaterwissenschaft betont, wenig sinnvoll und noch dazu aufgrund der Vielzahl der theatralen Zeichen und ihrer Heterogenität schlicht unmöglich ist, sämtliche Aspekte einer Aufführung in ein und derselben Analyse zu berücksichtigen, 1003 konzentrieren sich die folgenden Analysen auf die Zeichen des Raumes. Mit Raum ist hier der Aufführungsraum gemeint in Abgrenzung zum Großraum Theater. Die Verortung des Theaters im Stadttext ist folglich nicht Gegenstand der Untersuchung. Auf die Raumkonzeption der jeweiligen Spielstätte - die Aufteilung des Raumes in Bühne und Zuschauerraum - wird nur dann näher eingegangen, wenn sie von der traditionellen Anordnung im Theater abweicht, also in den Fällen, in denen es sich nicht um eine Guckkastenbühne handelt und die klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben ist. Auf eine gesonderte Betrachtung der Zeichen der Zeit wird in den Analysen verzichtet. Die Fokussierung auf den Raum liegt in seiner bedeutenden Stellung unter den Theaterzeichen begründet, die Erika Fischer-Lichte wie folgt beschreibt: Denn als derartige größere Einheiten werden nur diejenigen Kategorien fungieren können, die wir als irreduzible Faktoren, ohne die der theatralische Prozeß nicht abzulaufen vermöchte, erkannt haben. Als solche irreduziblen Faktoren haben aber unsere Ausführungen in Kapitel 1 - 4 mindestens zwei Kategorien 1001 „Der entfesselte Bürger“. Zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens: „Macbeth“- Regisseur Jürgen Gosch über Nacktheit, Gewalt und Tod. Der Tagesspiegel, 05.05.2006. In: www.tagesspiegel.de/ kultur/ der-entfesselte-buerger/ 708080.html 1002 Transkription eines Videobeitrags: Anna Postels, Matthias Weigel: Videobeitrag anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2009 an Jürgen Gosch und Johannes Schütz. ZEIT online, 06.05.2009. In: www.theatertreffen-blog.de/ tt09/ tag/ jurgen-gosch/ 1003 Fischer-Lichte 2009, S. 69. Vgl. Fischer-Lichtes Ausführungen zum Verfahren der Segmentierung. In: dies. Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 3. Die Aufführung als Text. 4. Aufl. Tübingen 1999 [1983], S. 76-85. <?page no="250"?> 250 ausgewiesen: die der Rollenfigur und die des Raumes. Denn die Rollenfigur stellt ohne den Raum eine Kategorie der Literatur und der Raum ohne die Rollenfigur z.B. eine Kategorie der Bildenden Kunst dar. Wenn wir also, ausgehend von den heterogenen theatralischen Zeichen, mit größeren Einheiten arbeiten wollen, haben wir mindestens jene zwei zu berücksichtigen - Rollenfigur und Raum -, auf die sämtliche Arten theatralischer Zeichen zu verweisen vermögen. 1004 Daraus ergibt sich der folgende Umkehrschluss: Wenn sämtliche Arten theatralischer Zeichen auf Raum und Rollenfigur verweisen, so impliziert eine Analyse der Zeichen des Raumes auch die Berücksichtigung der Kategorie Zeit. Denn wie in den methodischen Vorüberlegungen bereits angemerkt wurde, 1005 ist das Theater rezeptionsästhetisch gesehen eine prozessuale Kunstform, weshalb die Konstitution des theatralen Raumes immer in Beziehung zur Zeit geschieht. Bei der Analyse der Inszenierungen wird folgendermaßen vorgegangen. Zunächst wird die räumliche Grundordnung der jeweiligen Inszenierung anhand der Eingangsszene ermittelt. Als Zeichen des Raumes werden Dekoration, Requisite und Licht berücksichtigt. Dieser erste Analyseschritt ergänzt die auf der Ebene des Textes durchgeführte Untersuchung der Schauplatztypen. In einem zweiten Schritt wird dann auf die Veränderung des Raumes durch die Aktionen der Schauspieler eingegangen. Es fließen Beobachtungen aus verschiedenen Szenen in die Analyse ein. Da die Inszenierungen - mit Ausnahme von „Ende und Anfang“ - auf aufwendige Dekorationen und variierende Bühnenaufbauten verzichten und mit einem weitgehend statischen Bühnenbild arbeiten, können die zu den einzelnen Szenen gemachten Aussagen in der großen Mehrzahl der Inszenierungen generalisiert werden. 5.2. Der goldene Drache Wie die Analyse der Schauplatztypen gezeigt hat, gehört Schimmelpfennigs preisgekröntes Stück zur Gruppe derer, die den Arbeitsplatz zum Hauptschauplatz der Handlung haben. Schimmelpfennig integriert das Titel gebende Thai-China-Vietnam-Restaurant „Der Goldene Drache“ in ein mehrstöckiges Wohnhaus. Als Nebenschauplätze tauchen deshalb auch private Wohnräume auf. Gegenstand der folgenden Analyse ist Schimmelpfennigs eigene Inszenierung des Stückes am Akademietheater des Wiener Burgtheaters im Dezember 2009. In ihrer Puristik erinnert Schimmelpfennigs Inszenierung an eine Gosch-Inszenierung - ein Eindruck, der sicher- 1004 Fischer-Lichte 1998 [1983], S. 187. 1005 Siehe S. 60 dieser Arbeit. <?page no="251"?> 251 lich auch der Zusammenarbeit mit Goschs Standard-Bühnenbildner Johannes Schütz geschuldet ist. Die Zeichen des Raumes in Schimmelpfennigs Inszenierung des „Goldenen Drachen“ sind stark reduziert. Das von Johannes Schütz entworfene Bühnenbild ist von großer Kargheit: Für Bühnenboden und Bühnenrückwand wählt er ein reines Weiß. Die schwarzen Seitenwände der Bühne treten dadurch vollkommen zurück und lassen den Raum zweidimensional flächig wirken. Auf Dekoration und Requisiten wird weitgehend verzichtet, da die Ausführlichkeit der verbalen Raumbestimmungen sie überflüssig macht. Als Merkzeichen der Vertikalen taucht nur ein großer Gong auf, der an der Bühnenrückwand in ca. 50 cm Höhe befestigt ist. Die Horizontale konstituieren fünf Holzstühle, die an der Bühnenrückwand in einer horizontal ausgerichteten Reihe, in gleichmäßigem Abstand aufgestellt sind. Auf dem Boden liegen einige wenige Requisiten verteilt, darunter Bierdosen, Klangschalen, zwei Rollkoffer, Tabletts und Fertiggerichte. Gleißendes Licht fällt auf den nahezu kontrastlosen Raum und leuchtet ihn komplett aus. Die Lichtverhältnisse bleiben während der gesamten Vorstellung unverändert. Die einheitliche Beleuchtung, die neutrale Farbgebung des Bühnenraums und die Sparsamkeit der Dekoration rücken die Schauspieler und ihre Aktionen in den Vordergrund. Vor der weißen Rückwand wirken sie wie ausgestellt - ein Eindruck, der durch die häufige Positionierung der Schauspieler am vorderen Bühnenrand verstärkt wird. Arrangements wie in der Eingangsszene, in der alle fünf Schauspieler vorn an der Rampe, dicht an der imaginären „vierten Wand“ positioniert sind, verleihen dem Bühnengeschehen einen Gemäldecharakter. Der Bühnenrahmen fungiert in dieser Szene weniger als Spielfeld, sondern wird vielmehr als Bildfläche genutzt. 1006 Schimmelpfennig arrangiert die Akteure wie auf der Leinwand eines Gemäldes. Verstärkt wird diese Wirkung durch die weitgehende Immobilität der Schauspieler. Theater wird hier zur szenischen Malerei. 1007 Die Konkretisierung des nahezu leeren Raumes überantwortet Schimmelpfennig der Wortkulisse. 1008 Standortbestimmungen zu Beginn der Szenen garantieren eine eindeutige Situierung der Handlung. Der folgende 1006 Vgl. Lehmann 1999, S. 294-295. 1007 Für Hans-Thies Lehmann handelt es sich hierbei um ein typisch postdramatisches Verfahren. Vgl. Lehmann 1999, S. 294-295. 1008 Von den 48 Szenen weisen 39 eine in die Figurenrede integrierte Ortsbestimmung auf, die mitunter durch zeitliche Angaben ergänzt wird. Ausnahmen bilden die Szenen der Grille (7, 9, 15, 17, 19, 23, 25), die sich dadurch einmal mehr von der Dramenhandlung abheben, sowie die Szenen 29 und 43. In 32 der 39 Szenen findet sich die Angabe zum Raum in der ersten Replik und leitet folglich die Szene ein. In 13 Szenen (Szene 1, 3, 6, 10, 13, 16, 18, 20, 27, 32, 39, 41, 44) ist Schauplatz der Handlung das Schnellrestaurant „Der goldene Drache“. <?page no="252"?> 252 Auszug aus der Eingangsszene soll der Veranschaulichung dieser Art der Raumbestimmung dienen: DER MANN Der goldene Drache. Früher Abend. Fahles Sommerlicht fällt durch die Fensterscheiben auf die Tische. Fünf Asiaten in der winzigen Küche des Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants. 1009 Wie das Beispiel verdeutlicht, wird der Schauplatz der Szene genau benannt: hier das Thai-China-Vietnam-Restaurant „Der goldene Drache“. Doch nicht nur den Repliken der Rollenfiguren lässt sich entnehmen, an welchem fiktiven Schauplatz die Handlung spielt, eine Konkretisierung des Raumes erfolgt auch über die Kostüme der Schauspieler und den Einsatz einiger weniger immer wieder auftauchender Requisiten. 1010 So stellen blaue Schürze und weißes T-Shirt die Arbeitskleidung der Asiaten dar, deren Aktionsraum, mit Ausnahme der letzten Szene, das Schnellrestaurant ist. Jeder der siebzehn Rollenfiguren kann ein solcher primärer Aktionsraum zugeordnet werden: Im Fall des jungen Liebespaares ist es die Dachwohnung, im Fall des Großvaters eine Wohnung mit Balkon, im Fall der Stewardessen das Schnellrestaurant und im Fall des Mannes im gestreiften Hemd und der Frau im roten Kleid eine „Vier-Zimmer-Wohnung ein paar Etagen über dem Restaurant DER GOLDENE DRACHE“ 1011 . Die Kostüme der Rollenfiguren lassen somit Rückschlüsse auf den fiktiven Raum zu, in dem sie sich aufhalten. Anders ausgedrückt gibt es für jeden Raum ein Kostüm oder ein Requisit, das ihn bedeutet. Ein weißes Nachthemd und eine schwarze Perücke stellen die Attribute der Grille dar, deren Aktionsraum die Wohnung des Lebensmittelhändlers Hans ist. Nachthemd und Perücke verweisen also auf die Wohnung des Lebensmittelhändlers. Kostüme und Requisiten werden damit zu Merkzeichen des Raumes. Der räumliche Überblick bleibt somit trotz der zahlreichen, schnellen Szenen- und Rollenwechsel und dem Fehlen einer konkretisierenden Dekoration bewahrt. Ein Beispiel für die Konstituierung eines konkreten Raumes durch ein Requisit stellt Szene 14 dar. Hier wird eine Türglocke zum Symbol für den Lebensmittelladen des Besitzers Hans. Räumliche Konkretisierung erreicht Schimmelpfennig darüber hinaus über eine klare Einteilung des Bühnenraums. Er überträgt die vertikale Gliederung des Wohnhauses auf die Horizontale der Bühne, indem er jedem der sechs Handlungsstränge einen bestimmten Bühnenabschnitt zuteilt. Jede Figur hat einen ihr zugewiesenen abgegrenzten Raum. So spielen die Szenen der Grille alle im vorderen bis mittleren Bühnenbereich, 1009 GD, Szene 1. 1010 Da jeder der fünf Schauspieler verschiedene Rollenfiguren darstellen muss, sind die Kostüme so gewählt, dass sie in Sekundenschnelle gewechselt bzw. durch wenige Accessoires verändert werden können. 1011 GD, Szene 8. <?page no="253"?> 253 und zwar immer in der Bühnenmitte, wodurch die Schlüsselrolle der Fabel, ihre Bedeutung für die Gesamtaussage des Stückes, besonders hervorgehoben wird. Die Küchenszenen verlegt Schimmelpfennig in den vorderen Bereich der Bühne, sie spielen überwiegend am vorderen linken Bühnenrand, während er den Restaurantraum am vorderen rechten Bühnenrand situiert. Die Wohnung des Mannes im gestreiften Hemd und der Frau im roten Kleid ist im mittleren Bühnenbereich verortet, die Dachwohnung des jungen Paares am vorderen rechten Bühnenrand. Der Balkon der Wohnung des Großvaters liegt direkt vorne an der Rampe, die Wohnung selbst dahinter in der Bühnenmitte. Durch die Festlegung solcher imaginärer räumlicher Grenzen wird die Bühne auch ohne Dekoration zum fiktionalisierten Raum, der ein genau festgelegtes Bedeutungsspektrum besitzt. Schimmelpfennig gelingt es folglich, den nahezu leeren Raum als bedeutungserzeugendes System zu nutzen. Indem er die Bühne in verschiedene Handlungsräume untergliedert und den verschiedenen Handlungssequenzen bestimmte Bühnenabschnitte zuordnet, konstituiert er räumliche Bedeutung. Ergänzt wird diese Art der Bedeutungskonstitution durch Bewegung und Proxemik. Das Spiel der Schauspieler definiert die Räume und macht ihre unsichtbaren Grenzen sichtbar. So sind die Szenen, die in der winzigen Küche des Thai-China-Vietnam-Restaurants spielen, von einem sehr eingeschränkten Bewegungsradius gekennzeichnet. Meist verharren die Schauspieler in ihrer eingenommenen Position. Sie wirken immobil, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und bewegen oftmals nur Kopf, Arme und Rumpf. Selten verlassen sie ihre Ausgangsposition. Die ersten fünf Szenen, die in der Küche des Schnellrestaurants spielen, weisen eine identische Raumaufteilung auf und wirken daher wie Standbilder: Vier der Schauspieler stehen und einer, der unter Zahnschmerzen leidende kleine Chinese, kniet. Nicht nur die Statik der Szenen, auch die Proxemik der Schauspieler verweist auf die Enge des Raumes, die Abstände zwischen den Schauspielern sind gering. Für Positionswechsel und Wege scheint kein Platz zu sein. Mit dem Wendepunkt der Geschichte, dem Ziehen des Zahnes in Szene 13, verändert sich auch die räumliche Anordnung der Rollenfiguren. Der kleine Chinese sitzt jetzt mit dem Rücken zum Publikum auf einem Stuhl. Seine vier Arbeitskollegen stehen im Halbkreis dicht um ihn herum. Die Hektik der Bewegungen und die Steigerung von Sprechtempo und Lautstärke verdeutlichen die Tragik der Situation. Positionswechsel sind aber auch hier auf ein Minimum beschränkt. Ist die neue Position einmal eingenommen, so wird in ihr verharrt. Nur in seltenen Fällen, wie z.B. beim Holen der Zange, wird die räumliche Anordnung für einen kurzen Moment durchbrochen. Wie das Spiel der Schauspieler die Räume definiert und ihre Grenzen sichtbar macht, lässt sich besonders gut in Szene 14 beobachten, in der „DER MANN“ den Lebensmittelladen des Besitzers Hans beschreibt. Um die Grenzen des Raumes zu verdeutlichen, <?page no="254"?> 254 verharrt er während seines Vortrags auf der Stelle und zieht bei Thematisierung der räumlichen Enge die Schultern zusammen, als müsse er sich zwischen den hoch aufgetürmten Waren hindurchzwängen. Indem Schimmelpfennig sowohl die Anzahl der Schauspieler - er verteilt die siebzehn Rollen auf fünf Akteure - als auch Dekoration und Kostüm aufs Äußerste reduziert, stellt er die Zeichenhaftigkeit des Theaters aus und bestätigt damit folgende Aussage des Theaterwissenschaftlers Michael Gissenwehrer: Das Theater braucht den Umweg über das Detail nicht, die Idee allein reicht aus. 1012 So genügen ein Halstuch und ein Rollkoffer, um dem Zuschauer zu verdeutlichen, dass nun die Stewardess spricht. Stock, Strickjacke und gebückte Körperhaltung machen aus dem jungen Schauspieler Philipp Hauß den Großvater. Ein vorgehaltenes rotes Kleid verwandelt Falk Rockstroh in die Frau, die ihren Mann wegen einer Chorbekanntschaft verlässt. Gestreiftes Hemd und Bierdose lassen Christiane von Poelnitz zu einem verlassenen Ehemann werden. Die Reduktion der Zeichen lässt die vorhandenen umso bedeutsamer werden. Es ist, wie Ulrich Weinzierl für das Onlineportal der Zeitung „Die Welt“ schreibt: Vermeintlicher Mangel wirkt wie reichste Fülle. Ein paar Holzstühle, ein Gong, einige Klangschalen, Bierdosen, zwei Trolleys (für Nicht-Viel-Flieger: Köfferchen auf Rädern) genügen, damit wir vor unserem inneren Auge sehen, was wir auf der Bühne eben nicht sehen können. 1013 Wie sein Regievater Jürgen Gosch, so sucht auch Schimmelpfennig ein Abtauchen des Zuschauers in die Illusion zu verhindern und bedient sich dabei der unterschiedlichsten Mittel. Der Bewusstmachung der theatralen Situation dient nicht nur die Reduktion der Zeichen, sondern auch die permanente Anwesenheit aller Schauspieler auf der Bühne ist diesem Zweck verschrieben. In Szenen, in denen die Schauspieler nicht aktiv spielen müssen, nehmen sie auf den Stühlen hinten auf der Bühne Platz und verfolgen das Bühnengeschehen als passive Zuschauer. Lehmann weist daraufhin, dass diesem Verfahren der szenischen Montage ein der Malerei entlehntes Organisationsprinzip zugrunde liegt, das dem Rezipienten eine bestimmte Sehrichtung vorgibt: Dabei ist ein Organisationsprinzip hervorzuheben, das auch der Malerei eigentümlich ist: indem die Akteure auf der Bühne sich immer wieder wie Zuschauer zu dem verhalten, was die anderen Spieler tun, entsteht eine eigentümliche Fo- 1012 Zitiert nach: Gedächtnisprotokoll zur Disputationsprüfung von Anna Stecher. Institut für Theaterwissenschaft, LMU München, 04.02.2011. 1013 Ulrich Weinzierl: Der goldene Drache in Wien. Die Ameise als Zuhälter der Grille. 07.09.2009. In: http: / / welt.de/ kultur/ theater/ article4481244 <?page no="255"?> 255 kussierung auf die derart beobachtete Aktion. Sie funktioniert analog zur »Blickregie« klassischer Gemälde, die durch die Blickrichtung der dargestellten Figuren den »Seh-Weg« des Betrachters vorzeichnen, dem auf diese Weise eine bestimmte sequentielle »Lektüre« und eine Hierarchie der dargestellten Szenen nahegelegt wird. 1014 Im Theater geht eine solche Fokussierung immer mit einer Distanzierung von der vorgespielten Szene einher. Indem der Schauspieler selbst zum Beobachter der Bühnenaktion wird, tritt er in Distanz zu seiner eigenen Rolle. Zwar kommentiert er das Geschehen nicht in brechtscher Manier, aber eine dem Zuschauer nahegelegte kritische Hinterfragung der dargebotenen Szene ist dennoch gegeben. Man fühlt sich an Richard Schechner erinnert, der die Verschmelzung des Schauspielers mit seiner Rolle in seiner Performance-Theorie radikal ablehnt, um jeglichen Illusionsaufbau zu verhindern: Rather, there is the role and the person of the performer; both role and performer are plainly perceivable by the spectator. 1015 Auch wenn die Schauspieler bei Schimmelpfennig ihre Rolle nicht wie in Schechners Performances dazu nutzen, um eigene Erfahrungsberichte zu präsentieren, sondern weiterhin in einem fiktiven Rahmen agieren, wird die Verschmelzung des Schauspielers mit seiner Rolle immer wieder durchbrochen. Dem Ziel der Verfremdung dienen in „Der goldene Drache“ auch die auf der Bühne vorgenommenen Rollen- und Kostümwechsel. Gebrochen wird die Illusion darüber hinaus durch laut gesprochene Nebentextinformationen. So wird die auf das Sprechtempo bezogene Angabe „Pause“ von den Schauspielern immer mitgesprochen. Derart wird einer Wahrnehmungsverzerrung, wie sie das klassische Illusionstheater kennzeichnet, entgegengewirkt. Die Funktion der verfremdenden Mittel fassen die Herausgeber der Stückankündigung des ZDF Theaterkanals wie folgt treffend und prägnant zusammen: Die verfremdenden Mittel sorgen für Distanz und erlauben einen neuen Blick auf altbekannte Ungerechtigkeiten. 1016 Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: In ihrer räumlichen Konzeption weist Schimmelpfennigs Inszenierung durchaus postdramatische Tendenzen auf. Die Bühne ist nicht als homogener Bedeutungsraum 1014 Lehmann 1999, S. 297. 1015 Schechner 1973, S. 166. 1016 Schauspiel. Der goldene Drache. Vom Träger des Mühlheimer Dramatikerpreises 2010: Roland Schimmelpfennig. In: http: / / theaterkanal.zdf.de/ ZDFde/ inhalt/ 6/ 0,1872,8069126,00.html <?page no="256"?> 256 konzipiert, sondern wird in postdramatischer Manier in heterogene Spielfelder zerlegt. Lehmann beschreibt dieses Verfahren wie folgt: Die Bühne ist nicht als homogenes Feld ausgelegt, sondern besteht aus abwechselnd und synchron bespielten »Feldern«, die durch Licht und Gegenstände markiert sind. Der Spiel-Raum wird Moment für Moment im Verlauf der Aufführung definiert. 1017 Diese postdramatische Raumästhetik lässt sich ohne Einschränkungen auf Schimmelpfennigs Inszenierung übertragen. Denn auch in „Der goldene Drache“ wird der Spiel-Raum über die Aktionen der Schauspieler sowie den Einsatz von Gegenständen und Licht, das hier allerdings eine untergeordnete Rolle spielt, definiert. Auf Konkretisierungen des Raumes durch aufwendige Bühnenaufbauten und Dekoration wird fast vollständig verzichtet. Postdramatisch mutet auch das zu beobachtende Spiel mit Raum und Fläche an. Oftmals gleicht das Bühnenarrangement der Anordnung auf einem Gemälde. Trotz dieser Schnittstellen mit der postdramatischen Raumästhetik gibt es gravierende Einwände, die gegen eine Charakterisierung der Inszenierung als postdramatisch sprechen. Im Unterschied zum postdramatischen Theater gibt es bei Schimmelpfennig einen narrativen Rahmen, der für die Wahrung der räumlichen Kontinuität sorgt. Die Fragmentierung des Raumes in einzelne Spielfelder führt folglich nicht zur Aufhebung seiner Signifikanz. Im Gegenteil: Im „Goldenen Drachen“ wird der Raum in dem Moment, in dem er bespielt wird, auf eine bestimmte Signifikanz festgelegt. So sind auch die Schauspieler bei Schimmelpfennig keine identitätslosen Textträger, sondern Inhaber traditionell angelegter Rollenfiguren, die über Biographien verfügen. Ihr Auftreten stellt somit immer schon eine Konkretisierung des Raumes dar. Die Besonderheit von Schimmelpfennigs Inszenierung und damit auch ihre Abweichung von postdramatischen Inszenierungskonzepten bestehen in der Atomisierung der theatralen Zeichen und ihrer gleichzeitigen Rekonstruktion. Schimmelpfennig zerlegt die Zeichensysteme des Theaters in ihre Bestandteile, liefert mit dem Text jedoch gleichzeitig die „Gebrauchsanweisung“ für den Wiederaufbau des Ganzen. So fungiert die ins Stück integrierte Fabel von der Grille und der Ameise gewissermaßen als Schlüssel zur gesellschaftskritischen Gesamtaussage des Stückes. Für Orientierung im Dschungel der zerlegten Zeichen sorgt auch das Programmheft, das einen Stückabdruck beinhaltet. Mit dem an den Anfang des Stückes gestellten Figurenverzeichnis gibt Schimmelpfennig dem Zuschauer einen Leitfaden an die Hand, um die verwirrende Gegen-den-Strich-Rollenbesetzung durchschauen zu können. Damit büßt weder der Text seine 1017 Lehmann 1999, S. 296. <?page no="257"?> 257 zentrale Stellung ein, noch verlieren die Theaterzeichen ihre referentielle Funktion. Im Unterschied zur Postdramatik, die die Aufführung aus der Vorherrschaft des Textes zu befreien sucht, bemüht sich Schimmelpfennigs Theater darum, den „einheitstiftenden Konnex“ zwischen dem Text und seiner Aufführung zu erhalten. 1018 Die dramatischen Kategorien Textdominanz, Figurenkonflikt, Totalität der Handlung und Repräsentation von Welt bilden die Basis seiner Inszenierung. Schimmelpfennigs Theater ist somit trotz der konstatierten Affinität zur postdramatischen Raumästhetik und der Entthronung des Dialogs ein dramatisches Theater, dessen Bretter die Welt bedeuten. Es versteht sich als Entwurf einer Welt, deren Schöpfer der Autor ist. 1019 5.3. Hier und Jetzt Schauplatz der fiktiven Rahmenhandlung in „Hier und Jetzt“ ist ein nicht näher bestimmter Außenraum: ein Hof oder Garten, in dem eine Hochzeitsfeier stattfindet. An einer langen Tafel aus zusammengestellten Tischen wird gegessen und getrunken. Zeitpunkt der Handlung ist eine warme Sommernacht. Soweit die einleitende Nebentextangabe der Textgrundlage. 1020 Die Uraufführung des Stückes in der Regie von Jürgen Gosch erfolgte im April 2008 in der Züricher Schiffbauhalle. Mit der Wahl der Schiffbauhalle zum Spielort liegt eine besondere Raumsituation vor. Einen abgeschlossenen Bühnenraum, der sich nach dem Prinzip der Guckkastenbühne in Vorderbühne, Hinterbühne und Garderobe gliedern lässt, gibt es hier nicht. In Hinblick auf das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne handelt es sich folglich um eine offene Raumsituation. Wie schon in seinen Berliner Inszenierungen von „Auf der Greifswalder Straße“ und „Das Reich der Tiere“ vertraut Jürgen Gosch die Einrichtung der Bühne Johannes Schütz an. Ein schlammfarbenes, rechteckiges Podest im Zentrum des mit Erde 1021 bedeckten Hallenbodens markiert die Bühne als Spielfeld. Nach hinten begrenzt eine eingezogene Bühnenrückwand von gleichem Braungrau die Spielfläche. Das Fehlen von Bühnenseitenbe- 1018 Ebd., S. 92. 1019 Vgl. ebd., S. 87. 1020 HUJ, Spalte 1, oben. 1021 Um den gesamten Hallenboden mit Erde bedecken zu können, benötigte Johannes Schütz 65 Tonnen Erde. Schütz und Gosch schrecken vor keinem Aufwand zurück, sie lieben die „Unverhältnismäßigkeit“, wie Schimmelpfennig selbst betont: „SCHIMMELPFENNIG Beide lieben Unmöglichkeiten, beide lieben die Überforderung, die Unverhältnismäßigkeit.“ In: Schimmelpfennig: Laudatio auf Jürgen Gosch und Johannes Schütz. In: Theater heute 06/ 2009, S. 36. <?page no="258"?> 258 grenzungen lässt den Blick auf die unverputzten Wände der Schiffsbauhalle offen und beugt dem Illusionsaufbau vor. Der Zuschauer soll sein eigenes Hier und Jetzt während der Rezeption nicht vergessen. Durch das Fehlen eines geschlossenen Bühnenraums wird er permanent mit der natürlichen Raumsituation der Schiffbauhalle konfrontiert, die von Funktionalität geprägt ist und somit einen deutlichen Gegenpol zum Hochzeitssetting der fiktiven Handlung darstellt. Die Divergenz von bespieltem Raum und gespieltem Raum zeigt sich auch in der Farbwahl der Bühnenausstattung. So steht das Braun von Bühnenpodest, -rückwand und -boden in deutlichem Kontrast zu einem festlich gedeckten Tisch mit weißem Tischtuch in der Bühnenmitte. Dieser Farbgegensatz wird jedoch mehr und mehr verwischt, je weiter die Handlung voranschreitet. Zum einen durch den Einsatz von weißen Daunen, die Schnee symbolisieren, und den Bühnenboden gegen Ende der Aufführung bedecken. Zum anderen durch stattgefundene Blut-, Wasser- und Rotweinschlachten, die die Bühne am Schluss wie ein Schlachtfeld aussehen lassen und den anfänglichen deutlichen Gegensatz von strahlendem Weiß und mattem Braun aufheben. Solche Materialschlachten sind durchaus charakteristisch für Goschs Inszenierungen. Der Regisseur spielt mit der Dialektik von Fülle und Leere und nähert sich darin der postdramatischen Ästhetik an. 1022 Trotz der Markierung eines zentralen Spielfeldes lässt Gosch die Schiffbauhalle in ihrer gesamten Länge und Breite bespielen. So verlegt er die Handlung in einigen Szenen vom zentralen Bühnenpodest an die ebenerdigen Seitenflügel der Halle und in den Zuschauerraum. Diesen markieren treppenartig angeordnete Podeste an der gegenüberliegenden Breitseite der Halle. Sitzkissen ersetzen die Bestuhlung; die Zuschauer nehmen direkt auf den mit Erde bedeckten Stufen Platz. Da es keine Nummerierungen gibt, können sie ihren Platz frei wählen. Der unkonventionelle Spielort, dessen Funktionalität offen ausgestellt wird, und die freie Platzwahl der Zuschauer können als Referenz auf Richard Schechners „Environmental Theater“ gedeutet werden. Indem er das Theater zum „environment“ deklarierte, suchte Schechner die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufzuheben und eine stärkere Einbeziehung des Zuschauers zu erzielen. Der Raum sollte in seiner gegebenen Konstitution akzeptiert und nicht künstlich verändert werden, wie es die Theatertradition über Jahrhunderte hinweg praktiziert hatte. 1023 Ebenso verhält es sich mit der Schiffbauhalle, deren Identität nicht durch aufwendige Requisiten oder Umbauarbeiten verstellt wird. Indem Gosch auch die Bereiche links und rechts von den Zuschauern bespielen lässt, hebt er die Trennung von Zuschauerraum und Bühne weitgehend 1022 Vgl. Lehmann 1999, S. 151. 1023 Schechner: Six Axioms for Environmental Theatre. In: ders. 1969, S. 157-180, 165-175. <?page no="259"?> 259 auf. Die Zuschauer sind nicht mehr nur passive Voyeure, sie sind vielmehr als Teil der Hochzeitsgesellschaft in das Geschehen involviert. Anders als Schechner, der den Text als Rohmaterial versteht und offen zugibt, ihn gegen den Willen des Autors zu bürsten, 1024 hält Gosch sich bei der Aufteilung des Raumes jedoch eng an die Textvorlage. Denn wie Georgs Schlussworte verdeutlichen, in die sich eine Metaebene hineinlesen lässt, ist die Integration des Zuschauers im Text verankert: GEORG […] Also, das wars dann. Vielen Dank, dass ihr da wart, vielen Dank fürs Kommen. Das wars. Kurze Pause. Danke. Gehen wir. Lichter aus. Ende. 1025 Die Aufhebung der Distanz zwischen dem Bühnenraum, also dem Raumabschnitt, in dem der Schauspieler A agiert, um die Rollenfigur X darzustellen, 1026 und dem Zuschauerraum hat Einfluss auf die Gesamtdeutung des dargebotenen Stückes. Die Wirklichkeitsbereiche der Rollenfiguren und der Zuschauer überschneiden sich, wodurch der Zuschauer verstärkt zur Reflexion über das Gesehene angeregt wird. Das Fehlen einer eindeutigen räumlichen Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum begünstigt die Verschmelzung der Erfahrungsräume von Zuschauern und Schauspielern, ein Prozess, der charakteristisch für postdramatische Theaterformen ist. Obwohl es sich um ein weitgehend traditionell gebautes Stück handelt, das weder auf eine individuelle Figurenzeichnung noch auf eine Konkretisierung von Raum und Zeit verzichtet, zielt die räumliche Einrichtung auf eine Verknüpfung der Erfahrungswelten von Schauspielern und Publikum, wie sie das postdramatische Theater kennt. 1027 Postdramatisch wirken auch die Unterbrechungen der dramatischen Handlung durch sich wiederholende, referenzlose und teils musikalisch untermalte Abläufe, die Ritualen gleichen, wie z.B. Lauf und Kampf der Brüder Tilo und Peter. 1028 Beim Lauf nimmt Tilo Peter auf den Rücken und rennt unter dem Gewicht des Bruders keuchend und schwitzend die leeren Ränge seitlich des Zuschauerraums hoch. 1029 Zuvor haben sich beide ihrer Kleider entledigt, ein Akt, den man als Befreiung von jeglicher Signifikanz und als Ausstellung reiner Körperlichkeit verstehen könnte. Denn Körperlichkeit ist eines der elf Theaterzeichen, die für Hans-Thies Lehmann den Inbegriff des postdrama- 1024 Ebd., S. 178-180. Siehe S. 49, Fußnote 188 dieser Arbeit. 1025 HUJ, Spalte 12, unten. 1026 Vgl. Fischer- Lichte 1998 [1983], S. 142. 1027 Vgl. Lehmann 1999, S. 146, 241. 1028 Vgl. ebd., S. 115-116. 1029 Das Stöhnen und Schwitzen der Schauspieler kann in Lehmanns postdramatischer Terminologie als „Exposition intensiver Körperlichkeit“ beschrieben werden. Vgl. Lehmann 1999, S. 164. <?page no="260"?> 260 tischen Theaters darstellen. Die neue Rolle des Körpers im postdramatischen Theater beschreibt er wie folgt: Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Körper zum Zentrum. Das zentrale Theaterzeichen, der Körper des Schauspielers, verweigert den Signifikantendienst. 1030 Im postdramatischen Theater vollzieht sich nach Lehmann also die Abkehr vom „Körper der Signifikanz“ und damit einhergehend die Hinwendung zu einem „Körper sinnfreier Geste“. 1031 Wird der Körper aber in seiner Zeichenhaftigkeit vieldeutig, so überträgt sich diese Referenzlosigkeit auch auf den Raum, den er durchquert. Denn wie Lefebvre in seinen Studien zum Raum nachweisen konnte, beeinflussen Raum und Handlung sich wechselseitig. 1032 Sowohl in der Laufszene als auch beim Kampf begeben sich die Brüder aus dem fiktionalen Raum der Hochzeitsfeier in einen unbestimmten Raum exponierter Körperlichkeit, was auf der Ebene des realen Raumes durch das Verlassen des zentralen Bühnenpodests angedeutet wird. Die in beiden Szenen zu beobachtende Hervorhebung der Körperlichkeit des Theatervorgangs erinnert an das Theater Einar Schleefs. Denn wie bei Schleef wird das Publikum auch bei Gosch direkt mit der physischen Wirkung des schweißtreibenden Spiels der Schauspieler konfrontiert. 1033 Bühnenraum und Zuschauerraum verschmelzen, werden eins. Durch die unmittelbare Konfrontation mit der physischen Präsenz der Schauspieler, die Ausstellung ihrer Körperlichkeit sucht Gosch, den Zuschauer zur Reflexion zu veranlassen. Doch bleibt er auch darin immer Schimmelpfennigs Textgrundlage verpflichtet. Denn sowohl Lauf als auch Kampf sind im Text fest verankert. Bevor die Szenen vorgespielt werden, werden sie verbal inszeniert. Sowohl der Lauf als auch der Kampf sind narrativ eingebunden. So kann der Lauf, bei dem der dünne Tilo den schweren Peter trägt, als Veranschaulichung der Anekdote von der schwer tragenden Ameise gedeutet werden, die Lothar zum Besten gibt. Der Kampf stellt hingegen eine Vorwegnahme des Duells zwischen dem betrogenen Bräutigam Georg und seinem Widersacher Martin dar. Die beiden Szenen stehen somit nicht neben der Handlung, sondern dienen ihrer Veranschaulichung. Im Unterschied zum postdramatischen Theater sind sie somit nicht allein der Exposition intensiver Körperlichkeit gewidmet. Sie 1030 Lehmann 1999, S. 163. 1031 Ebd., S. 164-165. Vgl. die Ausführungen von Erika Fischer-Lichte zur Dominanz des Körpers und der Desemantisierung der Sprache. In: dies.: Die semiotische Differenz. In: Herta Schmid, Jurij Striedter (Hgg.): Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 123-140. 1032 Lefebvre 1974, S.43. 1033 Vgl. Lehmann 1999, S. 165-167. <?page no="261"?> 261 sind eingebunden in einen narrativen Rahmen und dienen der Verdeutlichung, im Fall des Kampfes gar der Veranschaulichung des dramatischen Konflikts. Verfremdung und Illusionsbruch finden auch darin ihren Ausdruck, dass es, wie in Gosch-Inszenierungen allgemein üblich, keine Auf- oder Abtritte der Schauspieler gibt: Sie sind während der gesamten Dauer des Stückes auf der Bühne präsent, was in „Hier und Jetzt“ natürlich auch mit der geschlossenen Raumstruktur der Rahmenhandlung des Stückes zu tun hat. Bei Einlass des Publikums befinden sich die Schauspieler bereits auf der Bühne. Sie sitzen an drei Seiten der Hochzeitstafel und speisen mit Blick auf die einströmenden Menschenmassen völlig ungerührt weiter. Ein Durchbrechen der konventionellen Theatersituation erreicht Gosch auch durch den Verzicht auf eine Verdunkelung der Fensterfront an der der Bühne gegenüberliegenden Längsseite der Schiffbauhalle. Der Regisseur nutzt das einfallende Tageslicht und ergänzt es lediglich durch eine sehr flächige Beleuchtung, die die zentrale Spielfläche des Bühnenpodests gleichmäßig ausleuchtet. Die Bereiche neben dem Bühnenpodest werden nicht künstlich beleuchtet. Auch bei Verlagerung der Handlung vom zentralen Spielfeld auf die Seitenflügel der Halle wird auf eine künstliche Ausleuchtung des Aktionsfeldes verzichtet. So ist am Ende des Stückes aufgrund der einsetzenden Dämmerung nur noch das zentrale Bühnenpodest beleuchtet. Die Seitenflügel der Halle und auch der Zuschauerraum liegen am Schluss der jeweiligen Abendvorstellung im Dunkeln. Wie bereits angedeutet, beschränkt sich die Bühnendekoration auf eine lange Tafel aus neun zusammengeschobenen Tischen, die im Zentrum des Bühnenpodests in paralleler Ausrichtung zur Bühnenrückwand aufgebaut und mit elf Klappstühlen bestückt ist. Zwei der Stühle sind an den Kopfenden der Tafel positioniert, die restlichen neun an der zur Bühnenrückwand liegenden Seite der Tafel. Der fast vollständige Verzicht auf Bühnenaufbauten und Dekoration überrascht nicht, ist die Reduktion der Zeichen doch ein Charakteristikum der Bühnenwelten von Schütz. Doch steht der spärlichen Ausstattung der Bühne der reich gedeckte Tisch gegenüber, an dem die Hochzeitsgesellschaft speist. Es türmen sich Teller, Gläser, Schüsseln, Obstplatten, Brotkörbe, Wasser- und Rotweinflaschen. Auffällig ist darüber hinaus die Vielzahl an Musikinstrumenten, die im Stück zum Einsatz kommen. Da sind Georgs Horn, Martins E-Gitarre, Ingrids Schifferklavier und Tilos Cello. Der beschriebene bespielte Bühnenraum und der gespielte Raum der Rahmenhandlung (der Hochzeitsfeier) werden durch zahlreiche imaginäre Räume erweitert, die im Erzählen der Figuren entstehen. Gleich zu Anfang des Stückes entwerfen die Hochzeitsgäste eine liebliche Sommerlandschaft, die in hartem Kontrast zur trostlosen Wirkung des Bühnenraums steht. Oft werden die erzählten Räume - meist sind es Erinnerungsräume - durch <?page no="262"?> 262 musikalische Untermalung instrumentaler oder gesanglicher Art konkretisiert. Oftmals illustrieren die Schauspieler das, was ein anderer gerade erzählt, und führen damit eine Verschmelzung von erzähltem und gespieltem Raum herbei. In solchen Erzählmomenten wird der illusionistischen Kraft des Theaters freier Lauf gelassen. Für die Dauer des Erzählten darf der Zuschauer sich der Illusion hingeben und sich aus der Schiffbauhalle in eine imaginäre Welt entführen lassen. Während bei der Produktion dieser Erzählräume die raumschaffenden Möglichkeiten der Figurenrede und der Musik ausgeschöpft werden, greift Gosch in anderen Szenen zu realen Hilfsmitteln, um bestimmte Raumwirkungen zu erzeugen. Gemäß Schimmelpfennigs Forderung an die Regie, die Nebentextanweisungen seiner Texte ernst zu nehmen 1034 und nach theatralen Lösungen für sie zu suchen, greift Gosch dort, wo es im Nebentext heißt: „Es beginnt zu regnen.“ als Behelf zu einem Gartenschlauch und lässt seine Schauspieler real nass regnen. Ziel dieses kompromisslosen Bühnenrealismus ist jedoch keineswegs die Erzeugung von traditionellem Illusionstheater. Das Gegenteil ist der Fall: Denn indem Gosch den Regen von den Schauspielern auf der Bühne mithilfe des Gartenschlauchs selbst erzeugen lässt, führt er dem Zuschauer die Konstruiertheit der Situation vor Augen. Er stellt die Zeichenhaftigkeit des Theaters aus und durchbricht damit die Illusion. Gleiches lässt sich bei der Gestaltung der Herbst-, der Winter- und der Frühlingsszene beobachten. Wieder sind es die Schauspieler, die mithilfe von Requisiten, die vom Text geforderten Raumveränderungen herbeiführen. So wird der von der „Jungen Frau“ beschriebene Herbstanfang durch den Einsatz echter Blätter illustriert, die sie kreisend fallen lässt. Den Wintereinbruch mit Schneefall symbolisieren die Darsteller durch Daunen, die sie aus erhöhter Position - sie stehen auf den Tischen der Hochzeitstafel - aus Wäschekörben auf die Bühne rieseln lassen. Der Erzeugung des Frühjahrsnebels dienen zwei Nebelmaschinen, die von den Schauspielern unverdeckt auf der Bühne benutzt werden. Auch hier hat man es mit der Konstruktion eines Illusionsraums zu tun, der jedoch im gleichen Atemzug als solcher entlarvt wird. Goschs Inszenierung führt die produktive Verknüpfung postdramatischer und dramatischer Theaterformen vor Augen. Immer wieder wird der Rahmen narrativer Kontinuität durch den Einsatz postdramatischer Verfahren der Musikalisierung und der Visualisierung gebrochen, jedoch nie ganz aufgelöst. Auch in Szenen, die der Ausstellung der Körperlichkeit des Theatervorgangs verschrieben sind, also mehr Präsenz als Repräsentation bedeuten, bleibt eine Rückkopplung an den Text bewahrt. So lässt sich zwar die von Lehmann als postdramatisch charakterisierte Verschiebung der Theaterwahrnehmung „vom Sich-Mitreißen-lassen im Strom einer Nar- 1034 Siehe S. 15, Fußnote 17 und S. 49 dieser Arbeit. <?page no="263"?> 263 ration (= dramatisches Theater) hin zu einem konstruierenden und konstruktiven Mitvollzug der audio-visuellen Gesamtkomplexion des Theaters“ 1035 beobachten, jedoch geht diese ohne eine Dekonstruktion der Fabel vonstatten. Die szenische Architektur des Ganzen bleibt stets erkennbar. In Goschs Inszenierung lassen sich folglich Ansätze eines postdramatischen Theaters der Kräfte, Intensitäten und Affekte finden. Doch wird trotz Brüchen und Diskontinuitäten der Repräsentationscharakter des Theaters nicht grundlegend in Frage gestellt. Auch die Szenen, die eher Zustände als Handlung zeigen, sind der Logik der Repräsentation unterworfen. Eine Referenz auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen ist stets gegeben. 5.4. Das Reich der Tiere In „Das Reich der Tiere“, dem zweiten Teil der „Trilogie der Tiere“, befasst sich Schimmelpfennig mit dem Arbeitsalltag im Theater. Hauptschauplatz der fiktiven Handlung ist eine Künstlergarderobe. Wie aus der Schauplatzanalyse hervorgeht, präsentiert Schimmelpfennig das Theater als Machtkollektiv, das seine Mitarbeiter ausbeutet und ihnen keine Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Dieser Negativkonnotation entspricht auch die Gestaltung der Bühne durch Johannes Schütz. Für die Uraufführung des Stückes in Berlin im September 2007 hat der Bühnenbildner einen hermetisch wirkenden grau-weißen Kasten auf die Bühne des Deutschen Theaters gestellt. Die geschlossene Wirkung wird durch das Fehlen von Fenstern oder Türen in den Wänden des Bühnenkastens hervorgerufen sowie durch die Begrenzung des Raumes nach oben durch eine für einen Bühnenraum äußerst niedrige Decke, die hell beleuchtet und dadurch besonders markiert ist. Die Sparsamkeit der Dekoration verstärkt den Effekt der Geschlossenheit: Sie beschränkt sich auf fünf schmale Ganzkörperspiegel und fünf Stühle, die an den Seitenwänden des Kastens aufgestellt sind sowie ein paar Farbeimer und Kisten in der Bühnenmitte. Die Wände sind kahl und vermitteln ein Gefühl von Kälte, Leere und Trostlosigkeit. Verstärkt wird diese Wirkung durch die strenge beinahe symmetrische Anordnung der Stühle, die im hinteren Bühnenbereich links und rechts an den Seitenwänden aufgestellt sind. Der Anordnung der Stühle entspricht im vorderen Bühnenbereich die Positionierung der Spiegel. Die Statik des Raumes, die auch in der nicht variierenden flächigen Beleuchtung ihren Ausdruck findet, korreliert mit der im Text nachgewiesenen Opposition von innen und außen. Innen herrscht Stillstand, die Figuren haben keine Entwicklungs- 1035 Lehmann 1999, S. 340-341. <?page no="264"?> 264 möglichkeiten, sie wirken wie Gefangene. 1036 Zugang zur Bühne gibt es nur über den Zuschauerraum, nach hinten und zur Seite gibt es keine Aufbzw. Abgänge, was die Geschlossenheit des Raumes intensiviert. Gosch lässt die Schauspieler daher in der ersten Parkettreihe Platz nehmen und von dort über eine kurze aus Podesten gebaute Treppe, die die Breite der Bühne einnimmt, auf- und abtreten. In Szenen, in denen sie nicht spielen, sitzen die Schauspieler im Zuschauerraum und werden selbst zu externen Beobachtern des Bühnengeschehens. Eine solche Distanzierung der Schauspieler von der gespielten Rolle durch das Einnehmen der Zuschauerperspektive ist für Goschs Inszenierungen charakteristisch. Die vierte Wand ist vollkommen aufgehoben, der Übergang vom Bühnenzum Zuschauerraum ein fließender. Indem der Regisseur die theatrale Aufführungssituation nie in Vergessenheit geraten lässt, verhindert er ein Abtauchen in die Illusion. Diesem Ziel dient auch die sparsame, antiillusionistische Bühnengestaltung. Gebrochen wird die Illusion darüber hinaus durch die auf der Bühne bei voller Beleuchtung vorgenommenen Umbauten. Für den Schauplatzwechsel im zweiten Akt werden die Farbeimer und Verkleidungsutensilien, die das Dekor der ersten Szenen bilden, von den Schauspielern an den hinteren Bühnenrand gebracht. Aus den fünf Stühlen bauen sie das von Schimmelpfennig im Nebentext geforderte Sitzmöbel, ein Ecksofa. 1037 Die fünf Spiegel werden zur Zimmerwand umfunktioniert. Sie werden von den nicht aktiv an der Szene beteiligten Schauspielern festgehalten, was dem Rezipienten einerseits die Konstruiertheit der Szene vor Augen führt und andererseits Distanz zur dargestellten Handlung hervorruft. Gosch sucht den Rezipienten, zur Auseinandersetzung mit sich selbst anzuregen. Diesem Ziel dient auch die Anordnung der Spiegel auf der Bühne. Sie sind so aufgestellt, dass das Publikum sich selbst darin sieht. Durch die Spiegelung wird der Rezipient zu einer veränderten Wahrnehmung geführt, denn plötzlich nimmt er sich selbst und die Anwesenheit der anderen Zuschauer wahr. In der Spiegelung verwischen die räumlichen Grenzen von Zuschauerraum und Bühne, sie verschmelzen, werden 1036 Vgl. Peters Bilanznahme in Szene 1, RT, S. 93: „PETER Genau. Du bist hier von Anfang an dabei. Kurze Pause. Du bist hier seit sechs Jahren dabei. Kurze Pause. Seit sechs Jahren. Kurze Pause. Sechs Jahre! Kurze Pause. Seit sechs Kackjahren - Kurze Pause - Sechs Jahre sechs Tage die Woche. Sechs Tage in der Woche, oder mehr noch: an Weihnachten, an Ostern. Pause. Sechs Jahre lang. Du bist das Zebra. Seit sechs Kackjahren bist du das Zebra. Kein Mensch weiß überhaupt noch, wie du aussiehst. Du, nicht das Zebra. Das Zebra kennt jeder. Kein Mensch erinnert sich noch daran, daß es dich überhaupt gibt.“ Das Beispiel verdeutlicht, wie sehr Goschs Inszenierungen dem Text verpflichtet sind. In Zusammenarbeit mit seinem Bühnenbildner sucht er, die im Text enthaltenen Stimmungen in theatrale Zeichen zu übersetzen und auf der Bühne sichtbar zu machen. 1037 RT, S. 132: „Chris wirft sich auf das Sofa oder ein anderes Sitzmöbel.“ <?page no="265"?> 265 eins und machen die Zuschauer damit zu Mitspielern. Die ästhetische Distanz der Zuschauer zum Bühnenvorgang wird aufgehoben. Die Zuschauer agieren auf einem Raumabschnitt, der ihnen als Rezipienten eigentlich vorenthalten ist, und werden so dazu angeregt, ihre „Konsumentenrolle“ zu hinterfragen. Da die sparsame Ausstattung der Bühne wenig Anhaltspunkte für eine räumliche Konkretisierung bietet, überantwortet Gosch die Konstituierung des Raumes den Tätigkeiten und Bewegungen der Schauspieler. So beginnt das Stück mit einem zehnminütigen stummen Spiel, einem Verkleidungszeremoniell, das den Zuschauer in postdramatischer Manier mit der „»stummen« und dichten Gegenwart der Körper, Materien und Formen“ 1038 konfrontiert. Die Schauspieler Ernst Stötzner und Falk Rockstroh entledigen sich ihrer Kleider und verwandeln ihre nackten Körper mithilfe von Farben und Sand in Löwe und Zebra. Ein dramatisches Vorwärtsdrängen der Handlung gibt es hier nicht. Es herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre, die durch die sicher und geübt wirkenden Handgriffe der beiden Schauspieler hervorgerufen wird. Der Zuschauer wird zur kontemplativen Betrachtung ihrer Verwandlungskunst eingeladen. Die ruhige Dramaturgie der Szene ruft Gertrude Steins Idee des „Landscape Plays“ in Erinnerung. 1039 Das Prinzip der dramatischen Spannung wird vom postdramatischen „Prinzip der Duration“ 1040 abgelöst, denn der Verwandlungsprozess dauert ganz im Sinne der Nebentextangabe, „so lange, wie es dauert, bis sich beide ohne Hilfe von außen in ein Zebra und einen Löwen verwandelt haben“ 1041 . Nicht die Rede konstituiert in dieser Eingangsszene den Raum, wie es im dramatischen Sprechtheater in der Regel der Fall ist, sondern die stumme Handlung, die Ritualcharakter besitzt. Gosch bedient sich in der Eingangsszene einer visuellen Dramaturgie, die den menschlichen Körper ins Zentrum rückt. Der Körper selbst und der Vorgang seiner Betrachtung werden zum theaterästhetischen Objekt. 1042 Der Regisseur greift dabei zu allen Mitteln der von konservativen Mahnern als Ekeltheater verschrienen Regiekunst und spart nicht an Farben, Sand, Federn und 1038 Vgl. Lehmann 1999, S. 168. 1039 Stein setzte sich aktiv für eine Reform der theatralen Wahrnehmungsweise ein, weg von der Mitgerissenheit im Strom dramatischer Spannung hin zu Ruhe und Kontemplation. Sie äußerte den Wunsch, Bühnenvorgänge mit der gleichen Ruhe betrachten zu können, wie einen Park oder eine Landschaft und forderte zu diesem Zweck die Ablösung aufreibender dramatischer Räume durch lyrisch-atmosphärische, die in ihrer Wirkung beruhigend seien. Vgl. Lehmann 1999, S. 103-105. 1040 Lehmann sieht in dem Prinzip der Zeitdehnung einen hervorstechenden Zug des postdramatischen Theaters. Durch das Bewusstmachen von Dauer suche man der Fragmentierung der Erfahrungszeit durch Alltag, Medien und Lebensorganisation entgegenzuwirken. In: Lehmann 1999, S. 331. 1041 RT, S. 92. 1042 Vgl. Lehmann 1999, S. 366. <?page no="266"?> 266 klebrigem Schleim, um die Körper zu entstellen und beim Rezipienten ein Gefühl von Ekel hervorzurufen. 1043 Doch im Unterschied zur postdramatischen Ästhetik bleibt der Körper in Goschs Inszenierungen bei aller Provokation, die von seiner Nacktheit und noch mehr von seiner Besudelung ausgeht, doch immer Signifikant. Die Exposition reiner Körperlichkeit zielt nicht auf die Ermöglichung einer sinnfreien Erfahrung ab, wie sie das postdramatische Theater sucht. 1044 So bleibt der Körper in seiner nackten Ausgestelltheit Zeichen einer zu repräsentierenden Wirklichkeit. Die Entblößung der Schauspieler, ihre Regression vom Menschen zum Tier kann als Kritik an einem unmenschlichen Theaterapparat gelesen werden. In einem Interview mit der Zeitung „Die Zeit“ sagt Gosch zur Funktion der Nacktheit in seinen Inszenierungen: GOSCH Manchmal glaube ich, die Nacktheit der Schauspieler, der Körper, könne etwas mitteilen über die Dinge, mit denen wir uns da beschäftigen. 1045 An späterer Stelle des Interviews äußert er sich ganz konkret zur Bedeutung der Nacktheit in „Das Reich der Tiere“: GOSCH In meiner Erinnerung ist mir der Umgang mit der Nacktheit am besten gelungen in meiner Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Stück „Im Reich der Tiere“. Dort verwandeln die Menschen sich gleichsam auf der Bühne in Tiere. Man ist gezwungen, sich wirklich im Sinne des Wortes mit der Nacktheit der Kreatur zu beschäftigen. 1046 Obwohl das Entkleiden und Beschmieren des nackten Körpers mit einer Exposition reiner Körperlichkeit einhergeht, wie sie für das postdramatische Theater charakteristisch ist, so teilt Goschs Theater nicht dessen Streben nach Selbstreferenz und Sinnentzug. Im Handeln der Figuren entsteht Bedeutung. Trotz Ausstellung von Präsenz und Körperlichkeit wahren die Zeichen ihren Mitteilungscharakter. So führt die Verkleidungsszene nicht nur die desolate Situation der Schauspieler vor Augen, sondern konkretisiert auch den Raum. Das Verkleiden definiert ihn als Künstlergarderobe. Die Konstituierung des Raumes vollzieht sich im Handeln der Figuren in der Zeit. Dies lässt sich besonders gut an der Umsetzung von Szene 4.2 nachweisen. Es handelt sich um eine der Szenen, die im Reich der Tiere 1043 Vgl. Jenny Hoch: Bestialisch komisch. Uraufführung von „Das Reich der Tiere“. Spiegel online, 02.09.2007. In: www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,503402,00.html 1044 Vgl. Lehmann 1999, S. 366-368. 1045 „Vom Zittern der Zeit“. Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur Jürgen Gosch und dem Schauspieler Ulrich Matthes über die Scham, die Wahrhaftigkeit und den Kampf auf der Bühne. Zeit online, 11.06.2009. In: www.zeit.de/ 2009/ 20/ Interview-Gosch-Matthes 1046 Ebd. Anmerkung der Verfasserin: Gosch verwechselt den Titel des Stücks im Stück „Im Reich der Tiere“ mit dem Dramentitel, der „Das Reich der Tiere“ lautet. <?page no="267"?> 267 spielen. Mit dem Wechsel auf die innere Ebene des Spiels im Spiel schlüpfen die fünf Schauspieler in ihre Tierrollen, eine Verwandlung, die durch ihre veränderten Bewegungsabläufe visualisiert wird. So fällt Falk Rockstroh in den leichten Kreuztrab des Zebras, Ernst Stötzner nimmt den wiegenden schwerfälligen Gang des Löwen an, Wolfgang Michael wird zum flügelschlagenden Marabu, Dörte Lyssewski stolziert majestätisch auf hohen starken Läufen und lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Antilope ist und Kathrin Wehlisch besitzt in ihren schnellen, katzenartigen Bewegungen plötzlich Anmut und Geschmeidigkeit der Ginsterkatze. Die Imitation von Tierlauten verstärkt die durch die Bewegungen herbeigeführte veränderte Raumwirkung. Aus der Künstlergarderobe ist die afrikanische Steppe geworden. Aus dem Wassereimer, der zuvor beim Verkleidungszeremoniell als Hilfsmittel zum Einsatz kam, wird das Wasserloch. Gosch stellt die Vieldeutigkeit von theatralischen Zeichen aus, die Erika Fischer-Lichte folgendermaßen beschreibt: Ein theatralisches Zeichen ist also nicht nur imstande, als Zeichen eines Zeichens zu fungieren, das es materiell selbst darstellt, sondern darüber hinaus als Zeichen eines Zeichens, das jedem beliebigen anderen Zeichensystem angehören mag. 1047 Indem die Schauspieler sich um den Eimer scharen und abwechselnd daraus trinken, geben sie ihm die im Text genannte neue Bedeutung. In Szene fünf wechselt der Eimer dann abermals seine Bedeutung. Auch hier konstituiert sie sich im Handeln der Figuren. Während Peter und Dirk ein Männergespräch führen, entleeren sie auf Schritthöhe gehaltene Wasserflaschen in den Eimer. Wie die an ihm vollzogenen Tätigkeiten nahelegen, bedeutet der Eimer nun eine Herrentoilette. Das Beispiel des Eimers belegt Erika Fischer-Lichtes Behauptung, räumliche Objekte auf dem Theater seien imstande, die an ihnen realisierten praktischen Funktionen zu bedeuten. 1048 In der besonderen Herausstellung der semantischen Variabilität theatraler Zeichen, ihrer Vieldeutigkeit, weist Goschs Theater Affinitäten zu Robert Wilsons Theaterkunst auf. Lehmann charakterisiert Wilsons Ästhetik mit dem Slogan „Von der Handlung zur Verwandlung“ 1049 . Wie zutreffend dieses Motto auch für eine Beschreibung von Goschs „Das Reich der Tiere“-Inszenierung ist, verdeutlichen das lange Verkleidungszeremoniell und die intensive Nutzung der Mobilität theatraler Zeichen. Während die mehrfache Umfunktionierung des Eimers von einer Reduktion der Zeichen des Raumes zeugt, weisen andere Szenen eine solche Fülle an Requisiten auf, dass eine illusionistische Absicht dahinter vermutet werden könnte. So etwa in den Szenen II, 1; II, 3; II, 5 und II, 7, die in 1047 Fischer-Lichte 1998 [1983], S. 182. 1048 Ebd., S. 133. 1049 Lehmann 1999, S. 131. <?page no="268"?> 268 Frankies Wohnung spielen. Zwar ist das Dekor auch hier, wie oben bereits erwähnt, schlicht gehalten, aber an Requisiten lässt Gosch es nicht mangeln. So kommen ein Telefon, ein Handy, eine Sporttasche, Weingläser, ein Tablett, eine Schnapsflasche sowie diverse Nahrungsmittel hier zum Einsatz. Von Sparsamkeit kann somit keine Rede sein. Noch stärker ist die Aufladung der Bühne als Illusionsraum aber in Szene III, 5.2. Gosch setzt Schimmelpfennigs Nebentextangabe „Dann duschen sie alle“ eins zu eins um und lässt seine Schauspieler vier funktionstüchtige Duschen auf der Bühne errichten. Gebrochen wird die Illusion in dieser Szene lediglich durch die vom Spiel gezeichnete Bühne, die einem wüsten Schlachtfeld gleicht: Das Verkleidungszeremoniell, die zwischen den Tieren ausgetragenen Kämpfe und das Duschen haben Spuren hinterlassen. Der zu Beginn der Vorstellung streng geordnete weiße Raum wirkt nun bunt und chaotisch; der anfangs weiße Bühnenboden ist mit Farbflecken, Federn, Sand, Wasser- und Schaumspuren übersäht und auch die Wände weisen etliche Farbspuren auf. Wie die Inszenierung verdeutlicht, sind Goschs Bühnenräume lebende Räume, die sich im Spiel verändern, gezeichnet sind von den in ihnen stattfindenden Aktionen. Die anfangs statische Wirkung wird zugunsten eines anarchistischen Durcheinanders aufgehoben. Dieser Prozess setzt bereits zu Beginn des Stückes mit den Verwandlungen der Schauspieler in Tiere ein. Am Ende von Szene 3 ist nicht nur das äußere Erscheinungsbild der Akteure ein anderes, auch der Raum hat sich verändert. Dort, wo der Löwe sich verkleidet hat, bedeckt Sand den Bühnenboden, den Schminkplatz des Zebras kennzeichnen Farbreste. Mit den Verwandlungen der anderen drei Schauspieler in Antilope, Ginsterkatze und Marabu schreitet die Veränderung des Raumes voran. Mehr und mehr wird aus dem neutral wirkenden grau-weißen Bühnenraum das besudelte, bunte Reich der Tiere, denn die Tiere markieren ihr Revier durch Farbe, Federn, Sand, Körpersäfte und Kleister. Sie loten die Grenzen des Raumes aus, scheuern sich an seinen Wänden und hinterlassen auch dort ihre Spuren. Dabei schaffen sie einen Theaterraum, der an die Raumkonzeption von Performances erinnert und Richard Schechners Diktum „The space of the performance is organically defined by the action“ 1050 Rechenschaft trägt. Der Raum wird zum Mitspieler. Er wird herausgefordert, besudelt, wird selbst zum flüchtigen Kunstwerk, denn bei keiner der Aufführungen sieht er gleich aus. Schimmelpfennig selbst beschreibt die Bühnenräume von Johannes Schütz in oben zitierter Laudatio wie folgt: 1050 Richard Schechner: Public Domain. Essays on the Theatre. Indianapolis, Kansas City, New York 1969, S. 166. <?page no="269"?> 269 SCHIMMELPFENNIG Diese Räume sind manchmal wie die Fassung und das Brennglas. Sie sind mehr als vital. In diesen Räumen toben die Elemente: Wasser, Sand, Erde, Regen, Schnee. 1051 Wie bei Performancekunst und Action-Painting steht der Raum in „Das Reich der Tiere“ ganz im Zeichen der Ereignishaftigkeit. Die Flüchtigkeit und Einmaligkeit des Theatervorgangs weitet sich damit auf den Raum aus. Mit ihrer Raumgestaltung, die einer Ästhetik der Flüchtigkeit verpflichtet ist, stellen Gosch und sein Bühnenbildner die Einzigartigkeit des Theatervorgangs aus, die in seiner Vergänglichkeit begründet liegt: SCHIMMELPFENNIG Das wirklich Schreckliche, schrecklich Schöne, auch das Großartige, Einmalige, Unvergleichliche am Theater ist die dem Theater innewohnende Vergänglichkeit. Vor unseren Augen erschaffen jeden Abend Menschen ein Kunstwerk, das nicht aus Marmor ist oder aus Celluloid, ein Kunstwerk, das kommt und wieder verschwindet, wenn das Licht auf der Bühne ausgeht. 1052 Die Tatsache, dass der weiß-graue Bühnenkasten für jede Aufführung gesäubert und neu präpariert werden muss, gibt ihm einen Einwegcharakter. Doch ist nicht nur der Raum von Flüchtigkeit gekennzeichnet. Den Inbegriff der Vergänglichkeit stellen die Sand-, Farb- und Federkostüme der Schauspieler dar. Sie werden vom Spiel stark in Mitleidenschaft gezogen. So haben die Farben am Ende ihren Glanz verloren, sind eingetrocknet und verschmiert. Die Federn des Marabus bedecken den Bühnenboden, ebenso wie der Sand des Löwen. Am Ende wird das, was noch übrig geblieben ist vom aufwendigen Verkleidungszeremoniell einfach weggeduscht. Momenthaftigkeit und Einmaligkeit des Theatervorgangs werden dadurch extrem ausgestellt. In Szenen, die von großer thematischer Dramatik sind - die Flucht vor dem Feuer, das Überqueren des Flusses, der Angriff des Krokodils, die Jagd des Löwen auf das Zebra - nutzt Gosch den Bühnenraum in seiner gesamten Tiefe und Breite aus und stellt derart die Unbegrenztheit der Steppe aus. Ein Gefühl von Weite erzeugt er darüber hinaus über eine gezielt eingesetzte Blickregie. Beim Brand der Steppe blicken die Schauspieler über den Zuschauerraum hinaus in die Ferne und beschreiben mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen die aus dieser Richtung - der Richtung des Zuschauerraums - näher rückende Feuerfront. Die Illusion ist in diesem Moment der Inszenierung perfekt. Mithilfe von Minenspiel und Intonation, in den Worten der Schauspieler schwingt Panik mit, verleihen sie der imaginären Feuersbrunst Wirklichkeit. Der Zuschauer fühlt sich veranlasst, sich umzublicken, um die tödliche Gefahr mit eigenen Augen 1051 Schimmelpfennig: Laudatio auf Jürgen Gosch und Johannes Schütz. In: Theater heute 06/ 2009, S. 39. 1052 Ebd. <?page no="270"?> 270 zu sehen. In den narrativen Szenensequenzen, in denen die Schauspieler zu Erzählern werden, positioniert Gosch sie hingegen in frontaler Ausrichtung nah an der Rampe und baut dadurch eine besondere Nähe zu den Zuschauern auf, die zu den Adressaten des Erzählten werden. Wie schon bei seiner Inszenierung von „Hier und Jetzt“ so hält sich Gosch auch in der Inszenierung von „Das Reich der Tiere“ streng an Schimmelpfennigs Textvorlage. Die Nebentextangaben des Autors werden eins zu eins umgesetzt, wie das Beispiel der Duschen verdeutlicht. Der Text ist mehr als nur Element, Schicht und Material der szenischen Gestaltung 1053 . Die Sprache ist immer Figurensprache, weshalb man die Inszenierung trotz postdramatischer Einschläge nicht als postdramatisch charakterisieren kann. Wie das synthetisierende Schlussbild der Inszenierung deutlich macht, wird das Kriterium der Einheit und der Synthesis bei aller Experimentierfreudigkeit nicht über Bord geworfen. Zwar opfert Gosch Teile der dramatischen Darstellungsweise, aber das Herzstück des dramatischen Theaters bleibt erhalten, nämlich der „entscheidend[e] einheitstiftend[e] Konnex zwischen dem Text einer Handlung, eines Berichts, eines Vorgangs und der auf sie hin orientierten theatralen Darbietung“ 1054 . Goschs Inszenierung ist als Repräsentation von Welt zu verstehen, und zwar als farcenartige Auseinandersetzung mit den Sorgen und Nöten der darstellenden Branche. Die dramatische und narrative Logik bleibt selbst in Szenen mit visueller Dramaturgie gewahrt. Der Grundkonflikt des Stückes, die Kritik am unmenschlichen Theaterapparat, wird nicht aus dem Auge gelassen. Er ist in allen Szenen präsent und spiegelt sich auch in der Konzeption des Bühnenraumes. Dessen Gestaltung lässt auf ein metaphorischsymbolisches Raumverständnis schließen, denn in der Geschlossenheit des Bühnenkastens spiegelt sich die dem Stück zugrunde liegende Mangelsituation: die Unfreiheit und Perspektivlosigkeit der fünf Theaterschauspieler, die von einem menschenverachtenden System ausgebeutet und geschunden werden. So wie der Raum kein Entkommen ermöglicht außer der Flucht nach vorne in den Zuschauerraum, und damit in einen anderen Wirklichkeitsbereich, so gibt es auch für die Darsteller des Repertoirestücks „Im Reich der Tiere“ keine andere Art der Befreiung aus den Fesseln des Theaterapparats als ein Absetzen ins Ausland. Die Geschlossenheit des Raumes korrespondiert auf inhaltlicher Ebene mit der Ausweglosigkeit der Situation. In ihren Tierrollen reiben sie sich an den Wänden des Kastens auf, bis sie blutig sind, drücken sich in Gefahrensituationen dicht an die Wand und sind doch schutzlos - was auf übertragener Ebene als verzweifelte Ausbruchsversuche und Rebellion gegen die Verhältnisse gedeutet werden kann. So endet Goschs Inszenierung folgerichtig mit der Kapitula- 1053 Vgl. Lehmann 1999, S. 13. 1054 Ebd., S. 92. <?page no="271"?> 271 tion der Schauspieler. Sie ergeben sich in ihr Schicksal. Eingesperrt in überdimensional große Rollenkostüme, die ihnen jegliche Bewegungsfreiheit und auch die Sicht rauben, verneigen sie sich, von Tieren nun zu Dingen degradiert, vor dem Publikum. Ein Black, mit dem Gosch an die traditionelle Theaterkonvention anknüpft, setzt den Schlussstrich unter diese düstere Bilanz, die am Ende dann doch nicht ganz so düster ausfällt, denn als das Licht für den Schlussapplaus wieder angeht, brechen die Schauspieler ihre Kostüme entzwei und können sich somit zu guter Letzt aus dem Korsett der Rollen befreien. Während die Gestaltung des Bühnenraums als geschlossener Bühnenkasten dem metaphorisch-symbolischen Raumbegriff des dramatischen Theaters entspricht, 1055 stellt das Verwischen der Grenze zwischen realem und fiktivem Raum durch die Platzierung der Schauspieler im Zuschauerraum einen deutlichen Bruch mit diesem Raumkonzept dar. Und auch die räumliche Konzeption der Eröffnungsszene des zweiten Aktes, die den Zuschauer durch die Positionierung der Spiegelwand zum Mit-Akteur macht, weist Charakteristika einer metonymischen Raumsituation auf. Insofern als der szenische Raum hier als Fortsetzung des Theaterraums gedacht wird, verbleibt er im Kontinuum des Realen und ist damit Teil der Lebenswirklichkeit der Zuschauer. 1056 So ist der szenische Raum bei Gosch nicht durchweg „separiertes Symbol einer Welt als Totalität“ 1057 , es kommt zu Durchbrechungen des metaphorisch-symbolischen Raumes in Form von Verknüpfungen von realem und fiktivem Raum. Die Verweise auf den Raum der Theatersituation bedeuten jedoch nicht eine völlige Zerstörung des fiktiven Raumes, vielmehr hat man es hier mit einer an Brecht erinnernden Verfremdungsfunktion zu tun, die eine Distanznahme zum Bühnengeschehen ermöglicht mit dem Ziel einer vertieften Reflexion. 5.5. Ende und Anfang Die Uraufführung von „Ende und Anfang“ erfolgte am 7. Oktober 2006 am Wiener Akademietheater. Regie führte Nicolas Stemann. Die Einrichtung der Bühne besorgte Katrin Nottrodt. Für Kostüme war Esther Bialas verantwortlich. Wie die von Schimmelpfennig gewählte Gattungsbezeichnung „Dramatisches Gedicht“ bereits verrät, handelt es sich beim dritten Teil der „Trilogie der Tiere“ um eine Verknüpfung von lyrischer und dramatischer Schreibweise. Im 18. Jahrhundert bezeichnete der Gattungsbegriff „Drama- 1055 Zur Unterscheidung des metaphorisch-symbolischen Raumverständnisses des dramatischen Theaters vom metonymischen Raumbegriff des postdramatischen Theaters siehe: Lehmann 1999, S. 287-289. Siehe auch: S. 199 der vorliegenden Arbeit. 1056 Vgl. Lehmann 1999, S. 288. 1057 Lehmann 1999, S. 288. <?page no="272"?> 272 tisches Gedicht“ Bühnendichtungen in Verssprache. 1058 Davon ist bei Schimmelpfennig trotz lyrischer Anklänge jedoch nichts zu finden. Der Autor macht sich frei von derartigen Gattungskonzepten: „Ende und Anfang“ lässt sich weder inhaltlich noch formal einer bestimmten Gattung zuordnen. Es scheint vielmehr, als suche der Autor, jede Gattungszugehörigkeit durch formale und inhaltliche Vielfalt bewusst zu untergraben. Ausschweifende narrative Beschreibungen, lyrisch-rhythmische Passagen, Gedankenfetzen und Bruchstücke von Dialogen werden scheinbar willkürlich, unter völligem Verzicht auf Kohärenz aneinandergereiht. Es kommt zu Satzbrüchen und Auslassungen, die dem Stück den Charakter eines Fragments geben. Kaum ein Satz wird zu Ende gebracht, kaum ein Gedanke zu Ende gedacht. Der Einsatz von formalen und sprachlichen Ausdrucksmitteln wie Satz-, Wort und Klangfiguren verleiht dem Text eine lyrische Dichte. Passagen wie die folgende, in der die Häufung ähnlicher Begriffe durch die Stilfiguren Alliteration und Klimax verstärkt wird, vergegenwärtigen den klangvollen Charakter der Sprache: „Und Frankie, verkohlt, verbrannt, schwarz […]“ 1059 Durch Akkumulationen, Repetitionen und Tautologien gewinnen die Aussagen der Figuren an Eindringlichkeit. Von einer solchen Intensitätssteigerung durch Wiederholungsfiguren zeugt auch ein Auszug aus der ersten Szenensequenz: Tut mir leid, Junge, tut mir leid, wenn ich damals nicht so, wenn du damals zu Hause geblieben wärest - wenn ich damals - dann wärest du heute nicht - tut mir leid. 1060 Wie die Beispiele verdeutlichen, stellt das Verfahren der Repetition eines der Strukturprinzipien des Stückes dar. Viele der Szenen wirken wie Endlosschleifen. Die lyrischen Anklänge sowie die Häufung von Repetitionen, die zu einer Auflösung der „Formtotalität“ führt, 1061 erinnern an postdramatische Theaterformen. Lehmann beschreibt die „neue Wahrnehmung des Theaters jenseits des Dramas“ als „szenisches Gedicht“. 1062 Die Wahl der Gattungsbezeichnung „Dramatisches Gedicht“ könnte man folglich als Bekenntnis zur postdramatischen Ästhetik deuten. Dafür sprächen auch die Beziehungslosigkeit der Teile und der Verzicht auf Kontiguität. Im Unterschied zur Postdramatik, die sich wie das Avantgardetheater von Stanislaw Ignacy Witkiewicz dem reinen Formalismus verschreibt, 1063 ist die Wahl der Form in „Ende und Anfang“ aber inhaltlich motiviert. So 1058 Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990, S. 169. 1059 EA, S. 178. 1060 EA, S. 160. 1061 Lehmann 1999, S. 334-336. 1062 Ebd., S. 143. 1063 Ebd., S. 106-108, 161. <?page no="273"?> 273 spiegeln die zahlreichen Wiederholungen die aussichtslose Situation der Figuren. Ihr Leben scheint an einem Endpunkt angekommen, von dem aus es nicht mehr weiter geht. Auf die immer wieder gestellte Frage, was noch kommt, wird die immer gleiche Antwort gegeben: „Nichts“. Schimmelpfennig bleibt damit seiner an den Anfang dieser Arbeit gestellten Prämisse treu: Der Inhalt bestimmt die Form, nicht umgekehrt. 1064 So bleibt das Erzählen einer fiktiven Geschichte, deren Träger identifizierbare Figuren sind, trotz aller Formexperimente zentrales Anliegen des Autors. In der formalen Präsentation der Geschichte weist das Stück hingegen dekonstruktivistische und damit postdramatische Züge auf. Von der Freude an Dekonstruktion zeugt zum Beispiel die Aufhebung der klassischen Unterteilung des Theatertextes in Haupt- und Nebentext. Im Unterschied zu den ersten beiden Teilen der Trilogie ist die Figurenrede in „Ende und Anfang“ typographisch nicht als solche gekennzeichnet. Es bleibt folglich dem Regisseur überlassen, ob er die teils seitenlangen narrativen Passagen als Figurenrede inszeniert oder aber sie als bloße Regieanweisungen versteht. Stemann entscheidet sich für einen Mittelweg, indem er sie sowohl von den Figuren sprechen lässt, als auch in geschriebener Form in den Bühnenhintergrund projiziert. Bei dieser Textdoppelung kommt es immer wieder zu Abweichungen zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Text. Teils werden gänzlich andere Textpassagen in den Hintergrund projiziert, als die von den Schauspielern gesprochenen. In diesen Fällen handelt es sich meist um erklärende Hintergrundinformationen. Teils liegen die Differenzen in der Verschiedenheit von Sprechgeschwindigkeit und Projektionsrhythmus begründet. Mitunter resultieren die Abweichungen auch in Textunsicherheiten der Schauspieler. Inhaltlich lässt sich die Visualisierung des Textes als Zeichen der Entindividualisierung und der fehlenden Autonomie der Figuren deuten. Selbst ihre Rede ist nicht authentisch, sondern vorgeschrieben. Die Zersplitterung des Textes in etliche Kurzszenen und die damit einhergehende Dekonstruktion der logischen Ordnung erschweren eine „synthetisierende Auslegung“ 1065 . machen sie jedoch nicht unmöglich, wie Stemanns Inszenierung vor Augen führt. Der Regisseur gliedert den Text in sieben Abschnitte mit den Überschriften (sofern vorhanden): 1. Anfang, 2. Versuchstierlabor, 3. Pjotr Antinowitsch Rostow, 4. Die ewige Maus, 5. Im Keller, 6. ohne Überschrift, 7. Am Ende. Durch die Eingliederung der zusammenhanglos wirkenden Szenenfragmente in eine narrative Struktur 1064 Im Gespräch über die „Trilogie der Tiere“ betont Schimmelpfennig die „untergeordnete Rolle“, die die Form im Vergleich zum Inhalt spielt. In: „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 236-237. Siehe auch S. 20 der vorliegenden Arbeit. 1065 Lehmann 1999, S. 26. <?page no="274"?> 274 gelingt es Stemann, Bezüge zwischen den Einzelschicksalen der Figuren herzustellen. Das Versuchstierlabor als Ort, der die Figuren zusammenführt, wird zum Szenen verknüpfenden Glied. Sprache wird von Stemann gerade nicht als „Ausstellungsobjekt“ 1066 behandelt, sondern als Figurenrede. Zu diesem Zweck teilt er die nicht als Rede markierten Textfragmente auf verschiedene Sprecher auf, gliedert und kürzt sie. Gestützt wird die Figurenrede durch die Visualisierung des Textes. Die stilistische logische Kohärenz der Rede bleibt durchgehend bewahrt. Im Unterschied zur Postdramatik, die den Text als Material sieht, versteht Stemann ihn als Sinnangebot. 1067 Geste und Wort sind semantisch verknüpft: Die Figur untermalt das Gesagte mit ihrer Geste. Der Text und die gestischen, visuellen und auditiven Theatermittel stehen in einer sinnhaften Beziehung zueinander, sie werden als Gesamtzusammenhang begriffen. Signifikant und Signifikat gehen eine feste Verbindung ein. Das Prinzip der Repräsentation steht somit im Vordergrund. Zu Beginn seiner Inszenierung lässt Stemann dem geschriebenen Wort den Vortritt vor dem gesprochenen, wodurch die Textgrundlage eine deutliche Aufwertung erfährt. Damit setzt er sich von der postdramatischen Inszenierungspraxis ab, die dem Text lediglich eine untergeordnete Rolle zuweist. Auch die Einleitung der Aufführung durch ein konventionelles Black spricht für eine Distanzierung von der postdramatischen Ästhetik. Im Bühnen- und Zuschauerraum herrscht komplette Dunkelheit, als eine unsichtbare Hand „Ende und Anfang“ in blau leuchtenden Lettern ins schwarze Nichts der abgedunkelten Bühne schreibt. Der Schriftzug verschwindet und wird durch einen zweiten ersetzt: „Dramatisches Gedicht“. Wieder verlischt die Schrift und die Hand setzt erneut zum Schreiben an: „1. Anfang“ liest man nun. Klanglich untermalt wird der Schreibprozess durch eine sich wiederholende rhythmische Tonfolge, aus drei tiefen Tönen und einem hohen Ton, die dem zermürbenden Geräusch eines tropfenden Wasserhahns gleicht und bereits bei Einlass der Zuschauer zu hören ist. Bezieht man die Tonfolge auf den Inhalt des Stückes, so mag man an das Sprichwort: „Steter Tropfen höhlt den Stein“ erinnert werden. Denn Schimmelpfennigs dramatisches Gedicht präsentiert sich als Variation über das Thema der Resignation und des Scheiterns. Die zu Beginn der Inszenierung herrschende Dunkelheit, die alles verschluckt und außer der Schrift als letztem Hoffnungsträger nichts erkennen lässt, kann als Zeichen ihrer tiefen Desillusion verstanden werden. Doch vermag die musikalische Untermalung noch andere Assoziationen hervorzurufen. Die rhythmischen Schläge erinnern an den menschlichen Pulsschlag. In diesem Zusammenhang wäre die Tonfolge als Verweis auf die dem Stück zugrunde liegende 1066 Ebd., S. 266. 1067 Vgl. ebd., S. 13, 73-76. <?page no="275"?> 275 Opposition von Leben und Tod zu verstehen. Der im Stücktitel „Ende und Anfang“ enthaltene Verweis auf den unendlichen Kreislauf von Leben und Sterben wird offen gelegt und klanglich erfahrbar gemacht, denn der hohe Ton bildet sowohl das Ende einer Tonfolge als auch den Anfang einer neuen identischen. Was sich im Stück inhaltlich und formal ereignet, nämlich die permanente Wiederholung, wird hier klanglich vorweggenommen. Die von den Figuren formulierte Erkenntnis: „Daß es keinen Sinn hat, auf einem Ziel zu bestehen. Daß es auch immer so weitergehen kann wie bisher. Daß es so ist wie es ist.“ 1068 , findet in der zyklischen Tonfolge ihren klanglichen Ausdruck. Der mit Musik unterlegte schriftliche Vorspann führt zur Entstehung einer cinematographischen Atmosphäre. Stemann scheint an die Kinoerfahrungen der Zuschauer anknüpfen zu wollen. Bühne und Zuschauerraum verschmelzen im Dunkeln zu einer Einheit. Durch das Ausbleiben einer Aktion wird Spannung aufgebaut, die im plötzlichen Verstummen der rhythmischen Untermalung und dem Ausbleiben der Textprojektion ihren Höhepunkt findet: Das Aussetzen des regelmäßigen Pulsschlags wirkt spannungssteigernd, bei manch einem Zuschauer mag die plötzliche Stille ein Gefühl der Beklemmung hervorrufen. Für einen kurzen Augenblick herrscht vollkommene Dunkelheit. Die Stille lässt das Dunkel noch massiver wirken. Das erneute Aufleuchten einer hellblauen Schrift-Projektion mag daher wie eine Erlösung empfunden werden. Die gedruckten Anfangszeilen der Textgrundlage werden in stark gegliederter Form an den Bühnenhorizont projiziert. Oft werden nur ein oder zwei Wörter gleichzeitig eingeblendet. Liest man sie im Verbund, so konstituieren sie eine räumliche Situation: Ein Photo klebt an der Kühlschranktür, ein Schwarzweißabzug neun mal dreizehn, viele Menschen stehen dichtgedrängt, gutgelaunt, ein Empfang, ein Fest, eine Premierenfeier, eine junge Frau, lachend, glücklich, und ein junger Mann, nur halb von hinten zu sehen, der ihre Hand küsst. 1069 Um die im Text beschriebene Situation zu konkretisieren, ist die Zeile „ein Fest“ mit Geräuschen unterlegt. Man hört Stimmengewirr und Gläserklirren. Die Geräuschunterlegungen regen die Vorstellung an und lassen die unsichtbare, aber auditiv wahrnehmbare Feier plastischer werden. Das Verfahren der Raumkonstitution durch Musik- und Geräuschteppiche kommt im weiteren Verlauf der Aufführung noch mehrfach zum Einsatz, so z.B. bei einem Monolog der Figur Isabel, der Teil der mit „1. Am Anfang“ überschriebenen Szenenfolge ist. Während die Figur von einem Barbesuch erzählt, erklingen Bargeräusche und Pianomusik. Die Geräuschunterlegung veranschaulicht den Figurenbericht. Lautmalerisch gearbeitet 1068 EA, S. 216. 1069 EA, S. 159. <?page no="276"?> 276 wird auch beim Bericht von Frankies Flugzeugabsturz. Man hört Motorengeräusche, dann eine ohrenbetäubende Explosion. Und auch im Fall des todkranken Mädchens fungiert Musik als Bedeutungsträger. Der Auftritt des Mädchens wird bis zu ihrem Tod von einer melancholischen, fast sphärisch klingenden Glockenspiel-Melodie begleitet. Dem Zuschauer wird der Ernst der Erkrankung des Mädchens, die fehlende Aussicht auf Heilung klanglich vermittelt. Die Melodie verdeutlicht den Sterbeprozess, den das Mädchen verbal beschreibt. So dient der Einsatz von musikalischen Klangunterlegungen auch hier der Verdeutlichung der Figurenrede. Auch der Tod des Mädchens wird musikalisch inszeniert. Die Klangunterlegung wird durch Beleuchtungseffekte verstärkt. Das Mädchen steht in einer Toröffnung am hinteren Bühnenrand, die in milchiges Licht getaucht ist. In ihrer Ästhetik, der Verknüpfung von Ton- und Bild, erinnert die Szene an eine Filmszene. Wie in einer spannenden Filmszene ersetzt auch bei Stemann die Musik die Sprache, um das sich vollziehende Inferno in seiner Wirkung emotional aufzuladen. Eine hohe Tonfrequenz wird bis ins Unerträgliche gesteigert und dann von einem lauten Knistern abgelöst. Es klingt, als entlade sich elektrische Spannung. Die Soundsteigerung wird von einer Übersteuerung des Lichtes eingeleitet. Die Toröffnung wird von hinten so hell ausgeleuchtet, dass das Mädchen nur noch als dunkler Schatten zu erkennen ist. Die Beleuchtungssituation gleicht dem extrem hellen Aufleuchten einer Glühbirne, bevor sie kaputt geht und verlischt und verdeutlicht damit das letzte Aufbäumen des Lebens. Auf die extreme Helligkeit folgen ein Black und Stille, die den Sieg des Todes veranschaulichen. Die Anekdote des sterbenden Mädchens kann als Schlüssel zur Gesamtaussage des Stückes verstanden werden: Es gibt keine Hoffnung, für keine der Figuren, deshalb scheint die Haltung des Mädchens, das sich ohne Widerstand in sein Schicksal ergibt, die einzig richtige. Im Unterschied zu den von Lehmann beschriebenen Verfahren des postdramatischen Theaters, die die konventionalisierten Wahrnehmungsgewohnheiten zu untergraben suchen, um zu einer neuen Sehweise zu gelangen, 1070 knüpfen die musikalischen und klanglichen Untermalungen in Stemanns Inszenierung an die Erfahrungen des Publikums an. Die deutlichen semantischen Verknüpfungen zwischen Musik bzw. Geräuschkulisse und Figurenrede verweisen auf eine der Inszenierung zugrunde liegende textorientierte Dramaturgie. Den erzählten Räumen wird klanglich Gestalt gegeben. Nach diesen kurzen Ausführungen zur Funktionalisierung von Musikeinspielungen in Stemanns Inszenierung, zurück zu ihrem schriftlichen Auftakt: Mit dem Verschwinden der Textprojektion verklingt auch die Toneinspielung, es folgt ein Black. Nur eineinhalb Minuten dauert dieser 1070 Vgl. Lehmann, S. 130. <?page no="277"?> 277 aktionslose Vorspann und wirkt doch wie eine Ewigkeit, denn die Einladung zur stillen Textlektüre weicht von der gewohnten Theatererfahrung ab. Das Sichtbarwerden der Bühne und der Auftritt der Rollenfigur Peter sind für den von der Theaterkonvention geprägten Zuschauer sicher von befreiender Wirkung, da sie den Beginn der erwarteten Bühnenhandlung kennzeichnen. Ein kaltes bläuliches Licht, das eine Endzeitstimmung hervorruft, erhellt den Bühnenraum. Es markiert eine quadratische Spielfläche im vorderen Bereich der Hauptbühne. Vorderbühne und Bühnenhorizont liegen immer noch im Dunkeln. Aufgrund der Dunkelheit des angrenzenden Raumes sieht es aus, als schwebe das hell erleuchtete Quadrat im Nichts. Leere beherrscht den Bühnenraum. Der Verzicht auf räumliche Konkretisierungen mag postdramatisch anmuten, doch ist die Leere der Bühne inhaltlich motiviert. Sie verweist auf die Vereinzelung der Figur, auf ihre Verzweiflung. Leer ist nicht nur die Bühne, auch in der Figur Peter sieht es leer aus. So sind auch Gestik, Mimik und Proxemik in dieser ersten Szene Ausdruck ihrer Vereinsamung. Peter tritt auf, positioniert sich am vorderen Rand des leeren Lichtquadrats und hält einen einsamen Monolog. Nahezu immobil steht er dort, die Hände in den Taschen, den Blick gesenkt. Seine verkrampfte Körperhaltung zeugt von tiefer Enttäuschung. Auch aus seiner Stimme spricht Resignation. In monotonem Tonfall beschreibt er den völlig heruntergekommenen Zustand seiner Wohnung, die einem Schlachtfeld gleicht. 1071 Die Adjektive „leer“ und „halbvoll“ dominieren den Monolog. Der Monolog gleicht einer Bestandsaufnahme: Peter hält Inventur und führt sich vor Augen, was ihm von seinem früheren Leben geblieben ist. Die Bilanz ist vernichtend: Ihm ist nichts weiter geblieben als das Chaos um ihn herum. Ein paar leere und halbvolle Flaschen, Essensreste, gebrauchtes Geschirr und Müll sind die letzten Zeugen seines vorherigen Lebens, nur über sie ist folglich eine Selbstdefinition noch möglich, was ihre Bedeutung erklärt. Die übertriebene Genauigkeit, mit der er Nebensächlichkeiten erwähnt, stellt somit einen Verweis auf seine Desillusion dar. Diese findet auch in der redundanten Verwendung von „leer“ und „halbvoll“ ihren Ausdruck. Das Adjektiv „leer“ wird zu Beginn des Monologs auf die Bühnenrückwand projiziert. In seiner einsamen Stellung spiegelt es Peters Position am Bühnenrand. Durch die Abtrennung vom Rest des Textes und die Großschreibung gewinnt es substantivischen Charakter. Erst bei fortlaufender Textprojektion - die Folgezeilen lauten: „und halbvolle Flaschen“ - erkennt man seine adjektivische Funktion. Indem Peter das einzelne Wort durch eine anschließende Pause akzentuiert, hebt er die leitmotivische Bedeutung der Thematik der „Leere“ in Stemanns Inszenierung hervor. 1071 EA, S. 159. <?page no="278"?> 278 Wie die mit „2. Versuchstierlabor“ überschriebene Szenenfolge deutlich macht, ist Peters Scheitern exemplarisch für den Rest der Figuren. Frankie, Isabel, Pjotr Antinowitsch Rostow, Irina Iwanowa Lysenkowa, das todkranke Mädchen, der Vogelmann, die junge Studentin und der Greis, sie alle sind Gescheiterte. Die Zerstörung ihrer Lebensträume hat sie in die Verzweiflung, manche in den Alkoholismus getrieben. 1072 Sie haben sich selbst aufgegeben, haben kapituliert 1073 und dem Druck einer Gesellschaft nachgegeben, die ihren Träumen keinen Raum lässt. Es gibt für sie keine Zukunft, kein Weiterkommen. Ihre Situation scheint hoffnungslos. Mit der Annahme des Tierpflegerjobs sind sie im „Nichts“ angekommen: […] wenn du da morgen hingehst […] wenn du das machst, wird es kein Zurück mehr geben, keine Umkehr, nie mehr, das ist noch keinem gelungen, dann bist du genauso gescheitert, wie du es immer allen anderen vorhergesagt hast, nur nicht dir, dir nicht, das hattest du dir nicht so vorgestellt, wie schwer das wird, wie schwer das ist, wenn man nicht weiterkommt, wenn nichts mehr, nichts mehr, nichts mehr kommt, da durch, da musst du durch, wo durch denn, wenn da nichts mehr kommt, da durch, das ist der Unterschied, die einen schaffen das, die andern nicht, ich nicht, ich nicht, ich nicht, so geht das bis kurz vor Morgengrauen. 1074 Das Adverb „nicht“ und das Indefinitum „nichts“ dominieren die Textstelle. Sie drücken die Perspektivlosigkeit aus, unter der die Figuren leiden. Das Fehlen einer Zukunftsperspektive drückt sich auch in der folgenden Befragung der Figur Isabel aus: Wann haben Sie zuletzt Ihren Beruf ausgeübt? Am 23.5. vorvergangenen Jahres, eine Tourneeproduktion, »Der geteilte Gatte« oder so ähnlich […] Und danach? Das war die letzte Vorstellung. Danach nichts mehr. Nichts. Nichts. 1075 Stemann unterlegt Isabels Antwort mit einem Echo: „Nichts“ schallt es aus allen Mündern des Tierpflegerensembles, das sich dabei von der Bühnenrückwand aus auf Isabel zubewegt und sie einkreist. Das bedrohlich wirkende Näherkommen visualisiert die räumliche Ausbreitung des „Nichts“, vor dem es kein Entkommen gibt. Es folgt eine Musikeinspielung, die die Herrschaft des „Nichts“ klanglich untermauert: Die ersten Takte von Edith Piafs weltberühmten Chanson „Je ne regrette rien“ werden in einer ständigen Schleife eingespielt: „Non, rien de rien! (Nein, nichts gar nichts) schallt es durch den Theaterraum. Das Hängenbleiben des Liedes im Auftakt verdeutlicht die Situation der Stagnation, in der sich die Figuren befinden. Es gibt für sie kein Weiterkommen. Sie sind an einem Ort ohne Zukunft ange- 1072 Vgl. EA, S. 165, 168. 1073 Vgl. EA, S. 177: „UMSCHULUNG: Eine leichte Fiebrigkeit am Tag der Aufgabe, sie nannte es den Tag der Kapitulation […]“. 1074 EA, S. 171. 1075 EA, S. 177. <?page no="279"?> 279 kommen: dem Personalaufenthaltsraum, einem von Marc Augés identitätslosen „Nicht-Orten“, Treffpunkt gescheiterter Existenzen, die nur noch wie Schatten ihrer selbst wirken. Piafs so positives, kämpferisches Lied wird damit zum düsteren Abgesang auf die Zukunft. Die Versuchstierlabor-Szenen zeugen von der semantischen Verknüpfung der theatralen Zeichen in Stemanns Inszenierung. Licht, Dekoration, Kostüme, Proxemik, Gestik, Mimik, Musik und Sprache bringen die Entindividualisierung der Figuren zum Ausdruck. Die Figuren treten in diesen Szenen vermehrt als Kollektiv auf. Ausdruck des Identitätsverlusts der Figuren sind ihre blauen Laborkittel, die farblich auf die Textprojektionen im Hintergrund abgestimmt sind und die ihre Träger zu einer identitätslosen kollektiven Masse machen. Bis auf die Figuren Peter und Frankie ist das gesamte übrige Figurenpersonal zu Beginn der Szenenfolge im hinteren Bühnenbereich positioniert und agiert von dort als chorisch sprechendes Kollektiv. Die Wege, die die Figuren auf der Bühne zurücklegen, wirken vorgegeben. Sie stehen bewegungslos in einer Reihe hinten am Bühnenrand in gleichem Abstand zueinander und treten nur zum Reden in gerader Linie vor, und zwar in militärischer Art, so als folgten sie einem einstudierten Bewegungsablauf. Von militärischem Gehorsam zeugt auch die im Chor herausgebrüllte Schauplatzbestimmung: „Personalaufenthaltsraum“. Immer wieder ertönt diese Gehorsamsbekundung in stets gleichem Tonfall. Auch in ihrem Denken sind die Figuren nicht frei. Das im Versuchstierlabor herrschende Gedankendiktat findet nicht nur im chorischen Sprechen der Figuren seinen Ausdruck, sondern auch in der Visualisierung des von ihnen zu sprechenden Textes im Bühnenhintergrund. In Szenen, in denen Stemann die Figuren mit dem Rücken zum Publikum positioniert und sie den Text von der Projektionsfläche ablesen lässt, wird ihre Unmündigkeit besonders deutlich. Sie werden zu Sprechautomaten, eine Deutung, die auch ihr schnarrender Tonfall nahelegt. Nur beim Erzählen ihrer vergangenen Erlebnisse besitzen die Figuren eine eigene individuelle Stimme und Sprache. In ihrer Funktion als Erzähler der eigenen Lebensgeschichte treten die Figuren vorne an den Bühnenrand und sprechen zum Publikum. Mitunter richten sie Fragen an die Zuschauer, ohne jedoch auf eine Antwort zu warten, was die entstandene Erzählsituation der Nähe und des Vertrauens als vorgetäuschte entlarvt. Den Verlust jeglicher Individualität spiegelt auch die Gestaltung des Bühnenraums. Katrin Nottrodt hält sich in ihrem Raumentwurf eng an die Vorgaben des Textes, der ein trostloses Bild entwirft: Von hermetisch abgeriegelten Komplexen, Kabelbäumen, Rohren, Schächten, Schleusen, Toren und Leuchtstofflicht ist dort die Rede. 1076 1076 EA, S. 185, 207, 215. <?page no="280"?> 280 Nottrodt lässt die Aufführung mit einer sehr starken Reduktion der Zeichen des Raumes beginnen, um ihre Dichte dann langsam zu steigern. Zu Beginn beherrscht Leere den Raum. Auf Dekoration wird gänzlich verzichtet. Die in der formalen Analyse nachgewiesene Negativkonnotation des Arbeitsplatzes findet in der Eingangsszene ihren räumlichen Ausdruck in der Leere des Raumes und dem kalten Licht. Das hell ausgeleuchtete leere Spielfeld-Quadrat, das an den Seiten von Dunkelheit begrenzt wird, verdeutlicht die ausweglose Lage der Figuren, ihre Perspektiv- und Hilflosigkeit. Ihnen bleibt als letzter Hoffnungsschimmer nur noch der Raum ihrer Erinnerungen, ein Lichtquadrat in der dunklen Gegenwart. Wie gefährdet auch dieser letzte Rückzugsort ist, verdeutlicht das folgende Textzitat: Noch verfügst du über die Erinnerungen, noch, aber was, wenn die Bilder aus deinem Kopf verschwinden. Dann haben all die Dinge niemals stattgefunden. 1077 Die Erinnerungen stellen eine Gegenwelt zu der vom „Nichts“ überschatteten Gegenwart dar. Für die Desillusionierten stellen sie neben Wunschträumen und Wahnvorstellungen einen Hoffnungsschimmer dar, da sie ihnen ermöglichen, für einen kurzen Augenblick aus der dunklen Wirklichkeit des Versuchstierlabors zu entfliehen. Doch sind die Erinnerungen vom Vergessen bedroht, das sich ausbreitet. Auf der Bühne wird dies durch das Verschwinden der Hintergrundbilder zum Ausdruck gebracht - als Peter sich an einen Sommer in New Mexico erinnert, erscheint im Hintergrund eine Frau - die die Erinnerungssequenzen in der Regel illustrieren. Seinen Höhepunkt findet das Vergessen in der Schlussszene, in der Peter und Isabel sich auf alten Photos nicht mehr erkennen. Der Prozess der Selbstentfremdung ist damit gefährlich weit vorangeschritten. Der Kontrast zwischen Wunsch- und Realwelt wird räumlich durch den Einsatz von Farben und lautlich durch Geräuschunterlegungen und musikalische Soundteppiche veranschaulicht. Erinnerungs- oder Phantasiefrequenzen setzen sich in ihrer Farbigkeit deutlich von den tristen Grautönen des permanenten Bühnenbilds ab. Hellblaue Wolkenhimmel und rote Theatervorhänge visualisieren die Träume der Figuren. Ihre Farbigkeit gibt dem Raum eine positive Wirkung. Verstärkt wird diese Positivkonnotation durch stimmungsvolle Musikuntermalungen. Der Wechsel von der Gegenwartsebene in die Vergangenheit wird in vielen Szenen zusätzlich durch das Ablegen des Arbeitskittels markiert, der den Verlust der früheren Identität symbolisiert oder aber durch musikalische Einspielungen unterlegt. Doch sind diese Hoffnungsschimmer nur von kurzer Dauer. Meist folgt auf den Traum das böse Erwachen, wie im Fall des Vogelman- 1077 EA, S. 191. <?page no="281"?> 281 nes, der nach seinem Wolkenflug auf der Bühne zerschellt. Mit seinem Aufschlagen wird die Bühne in rotes Licht getaucht. Während das Rot des Theatervorhangs auf vergangene glückliche Zeiten verweist, steht das rötliche Licht hier für den gewaltsamen Tod und führt damit die Vergänglichkeit des Glücks vor Augen. Wie bereits angemerkt wurde, gewinnen visuelle Verfahren im Verlauf des Stückes die Überhand. Der anfänglichen Sparsamkeit der Zeichenverwendung steht eine Überfülle an räumlichen Zeichen in den Schlussszenen gegenüber. Die anfangs leere Bühne verwandelt sich in einen trostlos wirkenden Stallkomplex mit Toren, Stiegen, Galerien und Schächten. Bereits am Ende der ersten Szenensequenz konkretisiert sich der Schauplatz. Durch eine erweiterte Beleuchtung gewinnt der bis dahin auf das ausgeleuchtete Quadrat begrenzte Bühnenraum an Breite und Tiefe. Das helle Lichtquadrat im vorderen Bereich der Hauptbühne löst sich auf. Die Bühne gliedert sich nun in drei unterschiedlich stark beleuchtete Spielflächen, die schmalen Streifen gleichen. Während der vordere und der hintere Spielstreifen hell ausgeleuchtet sind, liegt die Mitte der Bühne im Halbdunkel. Der Bühnenhorizont ist weiterhin in schwarze Dunkelheit gehüllt und nicht eindeutig auszumachen. Nur sehr schwach zeichnen sich die Umrisse einer Wand ab. Erst Mitte der zweiten Szenenfrequenz werden bei erneut veränderter Beleuchtung sechs Stalltore in der Bühnenrückwand sichtbar. Auch die Vorderbühne wird nun vermehrt bespielt. Sie ist mit Sand ausgeschüttet. Die tote Erde kann als Verweis auf das im Stücktitel angekündigte „Ende“ gedeutet werden. In den Szenensequenzen fünf und sieben, die mit „Im Keller“ und „Am Ende“ überschrieben sind, tritt die Semantisierung der oppositären Bereiche „oben“ und „unten“ deutlich hervor, die in der formalen Analyse der Textvorlage nachgewiesen wurde. 1078 So ist der Bereich des räumlichen Oben eindeutig als positiver Raum konnotiert. Er steht für die Wünsche und Hoffnungen der Figuren und ist farbig gestaltet, wie der Wolkenflug des Vogelmannes verdeutlicht. Das räumliche Unten bedeutet hingegen Scheitern und Tod, wie sich am Fall des Vogelmanns, seinem Zerschellen auf dem Bühnenboden ablesen lässt. Mit der fünften Szenensequenz schreitet die Metamorphose des Raumes weiter voran. Aus der Bühne wird ein unterirdisches Kellergewölbe. Es öffnen sich Falltüren. Der Bühnenboden reißt auf. Die zu Beginn der Szenenfrequenz auf die Rückwand projizierte Treppe, die die Figuren hinuntergehen müssen, leitet den Niedergang der Figuren ein. Sie verweist auf das Ende: den Absturz ins Nichts, der in der Schlussszene im Versinken der Hauptprotagonisten Isabel und Peter im Orchestergraben seinen Höhepunkt findet. Wie die Analyse der Zeichen des Raumes gezeigt hat, stellt die von Katrin Nottrodt eingerichtete Bühne trotz ihrer visuellen Vielfältigkeit einen 1078 Siehe S. 91 dieser Arbeit. <?page no="282"?> 282 homogenen Raum dar. Sie ist Ausdruck der Heimatlosigkeit der Figuren. Im Unterschied zum postdramatischen Theater steht die visuelle Dramaturgie somit ganz im Dienst des Textes. Die semantische Verknüpfung von Raumentwurf und Stückinhalt zeugt von der Bedeutung der dramatischen Kategorien Ganzheit, Illusion und Repräsentation. Stemanns Inszenierung präsentiert sich trotz der Zersplitterung in kurze Szenensequenzen als logisches Ganzes und unterscheidet sich damit grundlegend von postdramatischen Theaterformen. Der Regisseur hat die fragmenthaften Szenen so zusammengesetzt, dass ein kohärenter szenischer Zusammenhang mit Anfang und Ende entsteht. Aus Schimmelpfennigs Dramenfragment „Ende und Anfang“ wird bei ihm eine von Anfang bis Ende erzählte Geschichte, in deren Zentrum die gescheiterten Träume der Angestellten eines Tierlabors stehen. Von der Geschlossenheit der Geschichte zeugen die Übertitelungen der Anfangs- und der Schlussszene mit den Worten „Am Anfang“ und „Am Ende“. Während erstere dem Text entnommen ist, stellt die zweite eine Hinzufügung des Regisseurs dar. Die Abgeschlossenheit von Stemanns Inszenierung steht in Kontrast zu der repetitiven Grundstruktur des Textes, die schon in der Wahl des Titels, in der Umstellung des Oppositionspaars zum Ausdruck kommt - aus „Anfang und Ende“ macht Schimmelpfennig „Ende und Anfang“. Während der Autor die mit der ersten Szene geöffnete Klammer offen lässt und die letzte Szenenfrequenz nicht mit „Am Ende“ überschreibt, setzt der Regisseur mit dem Schließen der Klammer einen deutlichen Schlusspunkt, der durch ein die Aufführung abschließendes Black in seiner Wirkung verstärkt wird. Stemanns Inszenierung präsentiert sich damit als Ausdruck eines mimetisch-fiktionalen, repräsentationalen Theaterverständnisses. Das postdramatische Theater hingegen präferiert zyklische Strukturen, die einer Endlosschleife gleichen, wie das folgende Lehmann-Zitat verdeutlicht: Das Theater scheint zudem auf die Idee eines Anfangs und Endes zu verzichten, der Gedanke, die Katastrophe (oder das Amüsement) könne darin bestehen, daß es immer so weitergeht, liegt ihr näher. 1079 Aus Schimmelpfennigs Textgrundlage, die einem offenen Formexperiment gleicht, auf ein Ende verzichtet und daher wie ein Vermittlungsversuch zwischen dramatischer und postdramatischer Ästhetik, zwischen einem Theater der Auflösung und der Konkretisierung erscheint, macht Stemann ein geschlossenes Ganzes. Der Regisseur inszeniert „Ende und Anfang“ als Drama des Untergangs: Leere und Perspektivlosigkeit stellen die zentralen Vokabeln seiner Inszenierung dar, mit der er eine düstere Bilanz zieht: Die Gegenwart lässt individueller Entfaltung keinen Raum, leben lässt sich nur noch rückwärtsgewandt. 1079 Lehmann 1999, S. 464. <?page no="283"?> 283 5.6. Besuch bei dem Vater Der erste Teil der „Trilogie der Tiere“, Schimmelpfennigs Heimkehrer- Stück „Besuch bei dem Vater“, wurde am 14.04.2007 am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Elmar Goerden uraufgeführt. 1080 Es erzählt die Geschichte von der Rückkehr des verlorenen Sohnes einmal ganz anders, denn mit ihm erhalten Betrug und Eifersucht Einzug in das Haus des Vaters. Schauplatz der fiktiven Handlung ist ein „großes, altes Landhaus“ 1081 , eine Situierung, die an Tschechow und Ibsen erinnert. Doch wie der Zusatz „Die leere Bühne“ im Nebentext verdeutlicht, schwebt Schimmelpfennig für die Inszenierung seines Stückes kein Bühnenrealismus des 19. Jahrhunderts vor. Mit der in sich widersprüchlichen Angabe stellt der Autor den Regisseur seines Stückes vor eine schwierige Aufgabe. Goerden löst sie in Zusammenarbeit mit seinen Bühnenbildnern Silvia Merlo und Ulf Stengl, indem er mit räumlichen Andeutungen arbeitet. Aufgrund des sparsamen Umgangs mit Dekoration wirkt die große Bühne des Bochumer Schauspielhauses, die sich in Haupt- und Vorderbühne gliedert, kahl und leer. Ein einzelner Pfeiler aus Naturstein, der bei der sonstigen Leere des Raumes verloren wirkt, unterteilt die Hauptbühne in zwei ungleiche Spielflächen. Er ist als Verweis auf die verschiedenen Zimmer des Hauses zu verstehen. 1082 So fungiert die größere rechte Spielfläche als Zeichen für den gemeinschaftlichen Wohnraum, in dem die Mehrzahl der Szenen spielt. Die kleinere Spielfläche, die kaum genutzt wird und mehr den Auftritten der Figuren dient, trägt die Bedeutung Nebenzimmer. Auch die Vorderbühne weist eine Aufteilung in zwei Spielflächen auf, eine höher gelegene Spielfläche zur Linken, die nur eine Stufe von der Hauptbühne trennt, und eine nochmals zwei Stufen tiefer liegende Spielfläche zur Rechten, die sich auf einer Ebene mit dem Zuschauerraum befindet und sich anhand einer Anrichte als Küche identifizieren lässt. Durch die Gliederung der Bühne in unterschiedliche Spielflächen, die Vielzahl an Bühnenaufgängen und die langen Auftrittswege, entsteht der Eindruck, man habe es mit einem weitläufigen Haus mit zahlreichen Zimmern zu tun. Goerden verstärkt diese Wirkung, indem er die Spielflächen simultan bespielen lässt. Es wird der Eindruck vermittelt, die Figuren hielten sich in verschiedenen Zimmern des Hauses auf. 1080 Es sei an dieser Stelle bereits auf die schlechte Ton- und Bildqualität des vom Schauspielhaus bereitgestellten Premierenmitschnitts hingewiesen, der die Analyse erheblich erschwert hat. Ein anderer Mitschnitt in besserer Qualität stand leider nicht zur Verfügung, was auch das Schauspielhaus sehr bedauert hat. 1081 BV, S. 9. 1082 BV, S. 19: „HEINRICH Wie gefällt Dir das Haus, großartig, nicht wahr, hat dir schon jemand das Haus, zwanzig Zimmer, es hat einmal Ediths Eltern gehört, seit wann bist du hier, Sonja, Marietta! “ <?page no="284"?> 284 Die Dekoration der Anfangsszene zeugt von der Texttreue der Inszenierung. Die Nebentextangaben des Autors werden strikt befolgt. 1083 So umfasst die Dekoration einige Stühle, eine Sitzbank, ein Schrankelement, ein gerahmtes Bild, das einsam am Pfeiler hängt, einen Tisch, der allerdings erst Mitte der ersten Szene hereingetragen wird, und die schon erwähnte Küchenanrichte auf der Vorderbühne. Dennoch wirkt die Bühne leer, was mit der räumlichen Anordnung des Mobiliars zusammenhängt. So stehen zwei der Stühle und die Bank im Schatten des Pfeilers. Der Rest der Möbel ist nah am rechten Bühnenseitenrand positioniert und tritt dadurch ebenso wie Bank und Stühle räumlich zurück. Ein Schrank scheint rechts aus den Seitenwänden der Hauptbühne hervorzuwachsen, so nah ist er am Bühnenseitenrand positioniert. Eine hohe Küchenanrichte, vor der zwei weitere Stühle stehen, begrenzt die ebenerdige Vorderbühne nach rechts. Die senkrechte Ausrichtung der Anrichte öffnet den Bühnenraum in Richtung Zuschauerraum: Das Möbelstück ragt in den Zuschauerraum hinein. Von Zuschauern der ersten Sitzreihe mag die räumliche Nähe des Möbelstücks als bedrängend empfunden werden. Doch steht die Positionierung der Möbel an den Rändern der Bühne ganz im Dienste des Textes. Durch den Randbezug treten die Möbel in ihrer Raumwirkung zurück, sie verschwinden aus dem Blickfeld und geben den Blick auf die Bühnenmitte frei. Dort, im Zentrum der Bühne, herrscht Leere, ganz so, wie es der Autor in seiner oben zitierten Nebentextanweisung fordert. Während der Bühnenraum durch das Schwarz der Bühnenseitenwände zu den Seiten hin unbegrenzt wirkt - eine Wirkung, die durch die oben beschriebenen Randbezüge verstärkt wird - ist seine hintere Grenze deutlich markiert. Zwei breite weiße Stellwände begrenzen die Bühne nach hinten. Eine dritte schmalere weiße Stellwand ist so vor den beiden anderen platziert, dass ein zweiseitiger Bühnenaufgang entsteht. Auf der fiktionalen Ebene bedeutet er den Hauseingang des Landhauses. Die Stellwände dienen als Projektionsfläche für wechselnde Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Landschaftsstudien von Wolken, verschneiten Ebenen Ästen und Baumstämmen wechseln sich ab mit Nahaufnahmen von Fasern und Stoffstrukturen. Die Raumwirkung verändert sich je nach Bildeinstellung. Mal gewinnt der Raum durch die Projektion der Bilder eine besondere Tiefe - so zum Beispiel zu Beginn des dritten Aktes, wo ein verschneiter Weg, der in die Ferne führt, und Waldstudien den Hintergrund bilden - mal verstärken die Bildausschnitte die Begrenztheit des Raumes nach hinten. In der Anfangsszene erscheint ein lang gezogener schmaler Filmstreifen auf der weißen Wand, der die Begrenzung der Bühne nach hinten besonders hervorhebt. Da der Filmstreifen bis an die Ränder der Projektionsfläche heranreicht 1083 BV, S. 8. <?page no="285"?> 285 und sich dann im Dunkeln der Bühnenseitenwände verliert, wird auch durch ihn die Breite der Bühne betont. Der Bühnenraum wirkt dadurch zu den Seiten hin unbegrenzt. Diese Hervorhebung der Bühnenbreite lässt sich wiederum als räumlicher Verweis auf die Größe und die Weitläufigkeit des Landhauses verstehen. Für eine bewusste semantische Verknüpfung von Raumentwurf und Drameninhalt sprechen auch die harten Schwarz-Weiß-Kontraste der Projektionen, die als räumliche Spiegelung der zwischen den Figuren zu Tage tretenden Rivalitäten gedeutet werden können. Sie verstärken die kalte Wirkung des Raumes, intensivieren das Gefühl der Ungeborgenheit, das die Leere der Bühne im Betrachter hervorruft. Auf inhaltlicher Ebene kann man die Farblosigkeit der Bilder als Referenz auf den monotonen farblosen Alltag der Landhausbewohner verstehen. Meist markiert der Wechsel der Projektionen das Ende einer Szene oder eines Aktes, wodurch ihre Abgeschlossenheit besonders betont wird. Die Aktgrenzen werden zusätzlich durch Blacks gekennzeichnet. Goerden hebt auf diese Weise den klassischen Bau des Stückes, seine Gliederung in fünf Akte, besonders hervor. Mitunter kommen Projektionswechsel aber auch inmitten der Szenen zum Einsatz, um inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. So z.B. in Szene 4 des zweiten Aktes. In der Mitte von Peters Monolog verändert sich die Hintergrundsprojektion, und zwar genau an der Stelle, die auf Textebene durch eine Pause markiert ist. Auch hier arbeitet der Regisseur somit im Rückbezug auf die Textgrundlage. Durch die räumliche Veränderung wird auf die zentrale Bedeutung der Textstelle verwiesen. Mit seiner Frage „wer weiß das, wo er steht“ benennt Peter die Grundproblematik der „Trilogie der Tiere“, deren erster Teil „Besuch bei dem Vater“ ist. Die Figuren sind auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft, wie Schimmelpfennig in einem Gespräch über die „Trilogie“ selbst festhält: SCHIMMELPFENNIG Die Figuren stehen - in allen Teilen der Trilogie - vor der Frage: Wohin geht es? Was wird aus mir? Kaum der Augenblick, um souverän dem Schicksal entgegen zu lächeln. 1084 Die untersuchte Szene stellt einen weiteren Beleg dafür dar, welchen hohen Stellenwert Goerden der Textgrundlage zuweist. Bild- und Handlungsebene sind eng verknüpft, wie auch die Raumgestaltung in der siebten Szene des fünften Aktes verdeutlicht, die den dramatischen Höhepunkt des Stückes darstellt. Mit Beginn des Showdowns in Szene 7 des fünften Aktes erlöschen die Projektionen auf den Stellwänden. Sie erstrahlen nun in hartem Weiß und tauchen die Bühne in ein kaltes, bläuliches Licht. Indem Goerden auf eine 1084 „Theater ist immer Eskalation“: In: Schimmelpfennig 2007, S. 235-236. <?page no="286"?> 286 zusätzliche Beleuchtung der Bühne verzichtet, 1085 verstärkt er die schonungslose Wirkung der weißen Wände. Ihr kaltes Licht ruft eine Endzeitstimmung hervor. Die zwischen den Figuren herrschende Gefühlskälte, ihre Beziehungslosigkeit, aber auch Heinrichs Entschlossenheit und sein blanker Hass finden in der Konstitution des Raumes ihren Ausdruck. Der Raum ist Sinnbild tiefster Enttäuschung und Verzweiflung: Die Leere der Projektionsfläche kann als Spiegelung der seelischen Verfassung der Figuren gedeutet werden. Während die Projektion des verschneiten Weges im dritten Akt noch auf eine hoffnungsvolle Zukunft hindeutet, drückt das Nichts auf den Stellwänden das Scheitern des versuchten Neuanfangs aus. Die Perspektivlosigkeit, die am Ende des Stückes die Figuren beherrscht, findet Ausdruck in dem Erlöschen der räumlichen Perspektive. Das weiße Nichts ersetzt den Weg. Von dem Rückfall der Figuren in die Alltagslethargie zeugt die räumliche Einrichtung der Schlussszene. Denn das letzte Bild von Goerdens Inszenierung gleicht in seiner räumlichen Konstitution der Anfangsszene. Auf den Stellwänden erscheint der gleiche Filmstreifen, der den Hintergrund der ersten Szene bildet. Auch die Figur Isabel befindet sich wieder am Ausgangspunkt des Spiels. Wie in der ersten Szene sitzt sie vor dem Pfeiler - einziger Unterschied: Diesmal sitzt sie nicht auf dem Boden, sondern auf einem Stuhl. Mit der Entscheidung für eine identische Raumgestaltung der ersten und der letzten Szene deutet Goerden den Rückfall der Figuren in die alte Ordnung und die Wiederaufnahme alter Gewohnheiten an. Die Statik des Raumes steht für das Ausbleiben einer Entwicklung und symbolisiert somit Stagnation. Alle Hoffnungen auf einen Neuanfang wurden enttäuscht. 1086 Der Fremde ist verschwunden und mit ihm die Aussicht auf eine Befreiung aus der Einsamkeit. Noch schwebt ein Rest an Hoffnung auf die Rückkehr des Fremden im Raum, der in dem suchenden in die Ferne gerichteten Blick der Figur Isabel seinen Ausdruck findet. Das Warten erfüllt den Raum. Doch wie die wieder eingesetzte alte räumliche Ordnung anzeigt, ist dieses Warten auf Erlösung aus der erdrückenden Monotonie des Alltags vergeblich. Wie so oft in Schimmelpfennigs Stücken wird die Sehnsucht seiner Figuren nach Veränderung enttäuscht. Das Stück endet mit den resigniert klingenden Worten: ISABEL Wie ich sagte - Kurze Pause. Siehst du - keiner da. 1085 Aufgrund der schlechten Bildqualität des Aufführungsmitschnitts, stehen Aussagen zur Beleuchtungssituation stets unter dem Vorbehalt der möglichen Verfälschung durch die Aufnahme. 1086 Schon in Szene 3 des zweiten Aktes weist ein Monolog der Figur Sonja auf das Scheiten des erhofften Neuanfangs hin. In: BV, S. 29. Die entsprechende Textstelle ist auf S. 223 dieser Arbeit zitiert. <?page no="287"?> 287 Goerden unterstreicht die deprimierende Wirkung dieser Schlussreplik durch das unmittelbar auf sie folgende Black, mit dem das Ende des Stückes klar markiert ist. Isabels Feststellung wird damit Endgültigkeit verliehen. Am Ende der Inszenierung steht der Sieg der Einsamkeit. 1087 Die Aussicht auf eine hoffnungsvolle Wende wird dem Rezipienten genommen. Betrachtet man abschließend das Verhältnis von Bühnen- und Zuschauerraum in Goerdens Inszenierung, so fällt als erstes die oben bereits erwähnte Nähe beider Bereiche zueinander auf. So gehen Vorderbühne und Zuschauerraum direkt ineinander über. Der konventionelle räumliche Niveauunterschied zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum ist aufgehoben. Verstärkt wird diese Situation der Nähe durch die im Zuschauerraum herrschenden Lichtverhältnisse. So verschwinden die Zuschauer nicht als identitätslose Rezipientenmasse im Dunkeln, sondern sind in weiten Teilen der Aufführung für die Schauspieler auf der Bühne sichtbar, ein Zustand, der durch die Helligkeit des Projektionslichtes hervorgerufen wird. Diese Situation der Sichtbarkeit begünstigt die Aufhebung der Distanz zwischen Schauspieler und Publikum, die bei einer Verdunkelung des Zuschauerraumes gegeben wäre. Wie Gosch, so versucht auch Goerden, den Zuschauer durch das Schaffen einer Situation der gegenseitigen Wahrnehmung und der Transparenz stärker in das Geschehen auf der Bühne zu involvieren und seine Beteiligung am Theaterprozess herauszustellen. Der Verzicht auf eine Verdunkelung des Zuschauerraumes hat eine antiillusionistische Wirkung. Das Abtauchen in die Illusion und das Vergessen der eigenen Person und der mitanwesenden Theaterbesucher im Raum wird auf diese Weise erschwert. Im Unterschied zu Goschs Regiearbeiten, in denen der Einsatz von Illusionsbrüchen fester Bestandteil ist, finden sich in Goerdens Inszenierung aber keine weiteren antiillusionistischen Ansätze. So markiert er Anfang und Ende des Stückes sowie den Beginn der einzelnen Akte jeweils mit einem konventionellen Black. Nicht nur die Bühne, auch der Zuschauerraum ist am Ende der Aufführung in absolutes Dunkel getaucht. Die zuvor zwischen Bühne und Zuschauerraum bestehende Situation der Sichtbarkeit wird für die Dauer des Black aufgehoben. In Abweichung von Goschs Inszenierungen, die mit Illusionsbrüchen arbeiten, bleibt die Illusion bei Goerden stets gewahrt. Umbauten werden bei abgedunkelter Bühne durchgeführt und nicht wie bei Gosch als Teil des Bühnenspiels inszeniert. Der Moment, in dem sich der Schauspieler in die Rollenfigur verwandelt, wird nicht wie bei Gosch offen ausgestellt. Goerden arbeitet mit traditionellen Auf- und Abgängen. In seiner Inszenierung 1087 Von der zentralen Bedeutung der Einsamkeitsthematik zeugt Szene 3 des vierten Aktes. In. BV, S. 63: „MARIETTA […] entscheidend ist die Einsamkeit und die Verhärtung, die diese Einsamkeit mit sich gebracht hat, die jahrelange vollkommene Einsamkeit mit ihrem verhassten Körper.“ <?page no="288"?> 288 sind die Schauspieler nur dann auf der Bühne präsent, wenn sie aktiv sind. Sie verlassen die fiktive Ebene nicht, treten nicht aus ihren Rollen und werden folglich nicht zu Zuschauern des Bühnengeschehens. Wie aus der Raumanalyse hervorgeht, weist Goerden den einzelnen Bühnenabschnitten feste Bedeutungen zu. Die räumliche Gliederung der Bühne und ihre eindeutige Denotierung lassen auf ein metaphorischsymbolisches Raumverständnis schließen. Es kann folglich nicht von einer postdramatischen Raumästhetik gesprochen werden. Wohnraum, Nebenzimmer und Küche sind trotz der Spärlichkeit der Dekoration klar als solche definiert. Der hohe Grad an Konkretheit der räumlichen Gestaltung lässt kaum Deutungsspielräume offen. Lediglich die linke Vorderbühne besitzt wechselnde Bedeutungen, mal ist sie erweiterter Wohnraum, mal Garten oder Feld. Ihre jeweilige Bedeutung wird aber durch Requisiten und Kostüme sowie die auf ihr vollzogenen Handlungen der Figuren eindeutig definiert. So tragen die Schauspieler in Szenen, die draußen spielen, Mäntel, Schals und Stiefel und verweisen mit ihrem Handeln auf eine Außenraumsituation. Ein Beispiel für die Konkretisierung des Draußen durch Handlung, Kostüm und Requisite stellt Szene 4 des zweiten Aktes dar. Die Darsteller der Figuren Peter und Sonja tragen warme Jacken. Das Gewehr deutet die Jagdsituation an, die durch Peters Handlung, das Absuchen des Bühnenhimmels mit den Augen, das Halten des Gewehrs im Anschlag, das schnelle Zielen und den Schuss szenische Wirklichkeit erhält. Wie das Beispiel verdeutlicht, vollzieht sich die Konstitution und Konkretisierung des Raumes im Handeln der Figuren in der Zeit und wird darüber hinaus durch Kostüme, Requisite und Dekoration gestützt. Die Bühne wird zum Zeichen einer geschlossenen, eindeutig denotierten Welt. Gemäß seiner zu Anfang dieser Arbeit zitierten Prämisse stellt Schimmelpfennig einen Ausschnitt von Wirklichkeit auf die Bühne: Hier ist es die Welt der Familie, die fokussiert wird. 1088 Die von Goerden angewandte Raumästhetik lässt das dahinter stehende metaphorisch-symbolische Raumverständnis, das Lehmann als Charakteristikum dramatischen Theaters anführt, 1089 nicht verkennen. Denn die gewählten Raumkonstellationen und die Proxemik spiegeln den dramatischen Konflikt, der im Anspruch eines Fremden auf Nähe wurzelt. 1090 Besonders deutlich wird die Verankerung des dramatischen Konflikts auf der Ebene des Raumes. Davon zeugt die Verquickung von Handlungs- und Bildebene in der Präsentationsszene des ersten Aktes, in der die Raumgliederung das Eindringen des Fremden in die väterliche Welt, die 1088 Das Schimmelpfennig-Zitat findet sich auf S. 14 dieser Arbeit. 1089 Lehmann 1999, S. 288. 1090 BV, S. 68: „HEINRICH […] Ich habe keine Ahnung, wer das ist. Keine Ahnung. Beunruhigend, oder? Ein Fremder mit einem Anspruch auf Nähe.“ <?page no="289"?> 289 Untergrabung und den Sturz der patriarchalischen Ordnung widerspiegelt. Die räumliche Positionierung der Figuren zeigt an, wie der Fremde den Vater verdrängt und die herrschende Ordnung zum Einsturz bringt. Denn anfangs steht die Familie, bestehend aus Heinrich und seinen vier Frauen, dem Neuankömmling als geschlossene Einheit gegenüber. Die Familienmitglieder stehen dicht nebeneinander in der Bühnenmitte und damit in großer Distanz zu Peter, der am vorderen Bühnenrand positioniert ist und mit dem Rücken zum Publikum steht. Durch die Distanz wird Peters Außenseitertum hervorgehoben, seine verschränkten Arme signalisieren eine Abwehrhaltung. Auch Heinrichs besondere Stellung als einziger Mann unter Frauen findet in der räumlichen Anordnung der Figuren ihren Ausdruck: Heinrich ist eingerahmt von seinen vier Frauen, zwei stehen rechts, zwei links von ihm. Durch die gewählte Proxemik wird seine dominante Position als Hausherr und Familienoberhaupt unterstrichen. Dem Rezipienten wird auf diese Weise die im Landhaus herrschende Hierarchie vor Augen geführt, die sich mit Peters Ankunft allerdings umkehrt. Indem Heinrich Peter in die Familie integriert, was räumlich durch das Zugehen auf Peter und das Umarmen des Sohnes verdeutlicht wird, leitet er die Wende ein: Peter nimmt seinen Platz ein und verdrängt ihn aus der Mitte der Frauen. Heinrich steht am Ende der Begrüßungsszene mit dem Rücken zum Publikum in deutlicher Distanz zu seiner Familie. Er steht dort, wo Peter zuvor gestanden hat. Das Verhältnis von Nähe und Distanz hat sich umgekehrt. Die räumliche Ordnung wurde umgestürzt, dem Vater das Zepter entrissen. Was sich hier räumlich vollzieht, kann als Vorausdeutung auf den Fortgang der Handlung gedeutet werden. Nicht nur eine Metonymisierung des Raumes, auch postdramatische Körperbilder sucht man in Goerdens Inszenierung vergeblich. Szenen, in denen die reine Ausstellung von Körperlichkeit über den Vollzug von Handlung dominiert, gibt es bei Goerden nicht. Repräsentation, nicht Präsenz, ist das zugrunde liegende Prinzip seiner Inszenierung. Die fiktionale Erzählebene, also die Ebene der dramatischen Handlung, wird zu keinem Augenblick zugunsten energetischer Vorgänge verlassen. Der Körper bleibt Träger einer fiktionalen Figurenidentität und ist als solcher handlungsfähig. Er macht hier folglich nicht die von Lehmann beschriebene „Metamorphose“ vom „Implikat“ zur „formbestimmenden Wirklichkeit“ durch. 1091 Des Weiteren verzichtet Goerden auf postdramatische Musikalisierungen, wie sie in „Hier und Jetzt“ nachgewiesen wurden. Musik wird in Goerdens Inszenierung als psychologisches Hilfsmittel eingesetzt. Der Eindringling Peter wird mit der Fliege aus Michel Polnareffs Chanson „La Mouche“ verglichen. Denn wie die Fliege, die auf den Lippen einer schö- 1091 Lehmann 1999, S. 363. <?page no="290"?> 290 nen Frau landet und nicht mehr verschwinden will, so nistet sich auch Peter im Haus seines Vaters ein und nimmt Besitz von den Lippen der dort wohnenden Frauen. Erst als er mit dem Tode bedroht wird, ist er bereit, das Feld zu räumen. Im Unterschied zu Polnareffs Fliege gelingt ihm die Flucht. 5.7. Auf der Greifswalder Straße Wie der Titel des Stückes verrät, stellt eine Straße den fiktiven Schauplatz dar. Es ist die Greifswalder Straße, eine viel befahrene vierspurige Ausfallstraße im Norden Berlins, die Schimmelpfennig zum räumlichen Rahmen der dreiundsechzig Kurzszenen wählt. Das Stück stellt eine Momentaufnahme des Großstadtalltags dar, die fiktive Handlung umfasst einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden. Vorgestellt werden ein Stadtviertel und seine Bewohner. Themen wie Liebe, Tod, Metaphysik, Magie und Alltagsschmerz durchdringen sich. Die Uraufführung des Stückes erfolgte am 27.01.2006 am Deutschen Theater in Berlin. Regie führte auch hier Jürgen Gosch, Bühnenbild und Kostüme stammen von Johannes Schütz. Bei der Einrichtung der Bühne greift der für seinen spartanischen Umgang mit Dekoration bekannte Schütz nicht zu städtebaulichen Zitaten. 1092 Auf eine Konkretisierung des Raumes durch Berliner Lokalkolorit wird bewusst verzichtet. Die Neutralität und Allgemeingültigkeit des Bühnenbildes trägt Schimmelpfennigs Aussage Rechnung, das Stück könne in jeder Großstadt spielen und sei nicht auf Berlin festgelegt. 1093 Da es sich bei der Bühne des Deutschen Theaters um eine Guckkastenbühne handelt, ist die Aufteilung des Raumes in Bühne und Zuschauerraum konventionell, nicht aber seine Nutzung, denn Gosch weitet den Bühnenraum bis in den Zuschauerraum aus: Das von Johannes Schütz entworfene Bühnenbild, eine flache schwarze Treppe, die die gesamte Breite und Tiefe der Bühne ausfüllt, reicht über den Orchestergraben hinaus weit in den Zuschauerraum. Die ersten beiden Parkettreihen fallen ihr zum Opfer. Durch die so herbeigeführte Erweiterung des Bühnenraumes sind die Proszeniumslogen links und rechts des Bühnenportals in den Bühnenraum integriert und werden folglich auch bespielt. In Szene 2.8, die Bauarbeiter bei der Renovierung eines Mietshauses zeigt, verlegt Gosch das 1092 Vgl. Stephan Reinke: Roland Schimmelpfennig »Auf der Greifswalder Straße«. Metaphysische Milieustudie am Deutschen Theater. In: www.summacultura.de/ magazine/ 2006/ 07-2006/ roland-schimmelpfennig-auf-dergreifswalder-strasse 1093 „Kein Tag wie jeder andere“. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“. <?page no="291"?> 291 Geschehen in die Logen. Die Verlagerung der Szene in den Zuschauerraum stellt einen Bruch mit dem symbolisch-metaphorischen Raumverständnis des dramatischen Theaters dar. Die Grenze zwischen realem und fiktionalem Raum verschwimmt. Damit liegt eine metonymische Raumsituation vor. Der Bühnenraum fungiert nicht länger als Symbol für eine abgeschlossene fiktive Welt, er ist Teil der Lebenswirklichkeit der Zuschauer. Die von Gosch forcierte Verschmelzung von realem und fiktivem Raum findet auch darin ihren Ausdruck, dass die Schauspieler - wie schon in „Das Reich der Tiere“ - in Spielpausen in der ersten Sitzreihe des Parketts Platz nehmen und das Bühnengeschehen als Zuschauer verfolgen. Dem Zweck einer Durchdringung von Bühnenraum und Zuschauerraum dient darüber hinaus die durchgehende Beleuchtung des Zuschauerraums, die einen drastischen Bruch mit der Theaterkonvention darstellt. Die Lichter im Saal erlöschen nicht, wodurch die Beobachtersituation des Zuschauers sich grundlegend verändert. Es liegt eine dem griechischen Theater vergleichbare Raumsituation vor, denn die Zuschauer sind aufgrund der im Zuschauerraum herrschenden Helligkeit auch für die Schauspieler präsent, ebenso wie die Zuschauer sich nun gegenseitig wahrnehmen können. Diese Transparenz führt zu einer Symbiose von Zuschauer und Akteur, die Erika Fischer-Lichte wie folgt beschreibt: Handelnde und Zuschauende sind dergestalt direkt aufeinander bezogen und bilden eine vollkommene Einheit […]. 1094 In der Aufhebung der Grenzen zwischen Handelnden und Zuschauenden sieht Erika Fischer-Lichte einen charakteristischen Zug des Theaters des 20. Jahrhunderts, 1095 das sich damit deutlich vom klassischen Illusionstheater distanziert. So führt auch die Raumsituation in Goschs Inszenierung zu einem Illusionsbruch. Das Einfühlen in die Figuren und das damit einhergehende Abtauchen in die Illusion wird durch die Helligkeit im für gewöhnlich abgedunkelten Zuschauerraum verhindert. Der Zuschauer bleibt emotional auf einer gewissen Distanz zum Bühnengeschehen. Inwieweit die Helligkeit die Beziehung unter den Zuschauern beeinflusst und ob diese veränderte Wahrnehmungssituation als positiv oder negativ empfunden wird, ist sicherlich Typ abhängig. Während der extrovertierte, experimentierfreudige Theaterbesucher die Möglichkeit nutzen wird, Blickkontakt zu seinen Nachbarn aufzunehmen und dadurch in eine kommunikative Situation einzutreten, wird der introvertierte, zurückhaltende Rezipient diese Situation größerer Öffentlichkeit wohl eher als Verunsicherung empfinden. Der fehlende Schutz der Dunkelheit, der das Gefühl der Fremde unter den Zuschauern vergessen macht, wird auf ihn eine 1094 Fischer-Lichte 1998 [1983], S. 140. 1095 Ebd., S. 142. <?page no="292"?> 292 verstörende Wirkung haben. Während die Intimität der Dunkelheit ein Gefühl von vorgetäuschter Gemeinschaft vermittelt und die Rezipienten zu stillen Verbündeten macht, erschwert das Licht eine solche heimliche Symbiose. Es fordert den Rezipienten zu Aktion und Stellungnahme auf. Die von Gosch gewählte Raumsituation verwehrt dem Zuschauer das individuelle Erlebnis eines konventionellen Theaterabends, bei dem er ein von der Dunkelheit verborgener und somit unsichtbarer Beobachter des szenischen Spiels ist. 1096 Denn Goschs Theaterraum ist ein öffentlicher Raum, der die Vereinzelung des Zuschauers zu durchbrechen sucht. Die Tatsache, dass nicht nur die Schauspieler auf der Bühne im Rampenlicht stehen, sondern auch die Zuschauer durch Licht fokussiert werden, macht sie zu indirekten Mitspielern. Der Zuschauerraum erhält seine ursprüngliche im griechischen Theater wurzelnde Funktion zurück: Er wird zum Platz der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Theater gewinnt damit seine Fähigkeit zurück, „als Selbstdarstellung und Selbstreflexion einer Gesellschaft zu fungieren.“ 1097 Der Bühnenraum ist nicht länger „Projektionsraum für die Innerlichkeit der vereinzelten Zuschauer“, sondern „Ort des gesellschaftlichen Lebens“. 1098 Gosch führt das Theater damit zurück auf seine griechischen Wurzeln. Die Deutung liegt nahe, Gosch suche durch die räumliche Hervorhebung des Zuschauerraums auf die Bedeutung des Rezipienten für den Theatervorgang zu verweisen. In der Mitte des Stückes gleichen sich die Lichtverhältnisse auf der Bühne und im Zuschauerraum einander an, was die emotionale Distanz verringert und das Eindenken in die fiktionale Welt der Figuren erleichtert. Am Ende der Vorstellung kehren sich die Lichtverhältnisse dann wieder um und pervertieren wie zu Beginn die gewohnte Theatersituation: Der Zuschauerraum ist hell erleuchtet, während auf der Bühne Halbdunkel herrscht. Der Fokus liegt somit am Ende der Aufführung wieder auf dem Zuschauer. Man könnte diese erneute Fokussierung als Versuch deuten, den Zuschauer noch einmal verstärkt zur Reflexion über das Gesehene anzuregen mit dem Ziel, ihm zu verdeutlichen, dass er Teil der auf der Bühne dargebotenen Handlung ist. 1096 Erika Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang vom Zuschauer als einem „indiskreten Beobachter“, da der Schauspieler in dem in tiefes Dunkel gehüllten Zuschauerraum niemanden ausmachen könne, agiere er, als sei er unbeobachtet. In: Fischer-Lichte 1998 [1983], S. 140. 1097 Ebd., S. 141. 1098 Ebd. In Abgrenzung von Erika Fischer-Lichte, die mit der hellen Raumsituation eine Verbesserung der Kommunikationsbedingungen unter den Zuschauern verbindet und die Sichtbarkeit als Befreiung des Zuschauers aus seiner Vereinzelung deutet, plädiere ich für eine differenziertere Sichtweise. Sicherlich mag die veränderte Wahrnehmungssituation für aufgeschlossene Theaterbesucher eine solch positive Wirkung besitzen, nicht aber für eher schüchterne Theaterbesucher, für die sie eine Überforderung darstellt und somit Kommunikation eher hemmt als fördert. <?page no="293"?> 293 In Bezug auf die Funktionalisierung der Beleuchtung lässt sich somit festhalten: Zwar hebt die Helligkeit die unter den Zuschauern herrschende Anonymität stärker ins Bewusstsein, gleichzeitig bietet sie aber die Möglichkeit ihrer Durchbrechung, sei es in Form einer stillen Blickkommunikation oder einer Ansprache des nun sichtbaren Gegenübers. Offene Publikumsreaktionen fordern unter diesen „entlarvenden“ Rezeptionsbedingungen allerdings mehr Mut, da der einzelne Zuschauer ohne die ihn umgebende Dunkelheit von allen im Theater Anwesenden, Akteuren und Rezipienten gesehen und identifiziert werden kann und sich damit bei Spontanreaktionen eine gewisse Blöße gibt. Für konservative Theaterbesucher mag die veränderte Wahrnehmungssituation, die dem offenen Raumkonzept von Performances gleicht und eine stärkere Involvierung des Zuschauers in den Theatervorgang bedeutet, eine Provokation und Überforderung darstellen. Manch einer mag sich ungeschützt und beobachtet fühlen und die Helligkeit als anstrengend empfinden. Auch die Raumaufteilung zeugt von dem Wunsch einer stärkeren Durchdringung von Bühnen- und Zuschauerraum. Die aufsteigenden Treppen des Bühnenbildes stellen eine Spiegelung der Zuschauerränge dar. Der gewöhnliche Niveauunterschied zwischen Parkett und Bühne ist aufgehoben, Bühne und Zuschauerraum gehen eine nahezu übergangslose Verbindung ein. Um die Nähe der Bühnenhandlung zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer herauszustellen, lässt Gosch die Treppe, die Sinnbild der Greifswalder Straße ist, im Zuschauerraum beginnen. Ihre unterste Stufe liegt unmittelbar vor der ersten Parkettreihe. Damit sind alle Barrieren, die ein Betreten der Bühne durch den Zuschauer verhindern, aufgehoben. Es entsteht eine Situation der Nähe, die durch die permanente Beleuchtung des Zuschauerraumes noch forciert wird. Der Zuschauer ist Teil des Szenariums und blickt quasi wie durch das Fenster eines Wohnhauses auf die Bühne, die so zum Sinnbild für den eigenen Lebensraum wird. Überträgt man das Bild des Hauses auf die räumliche Gliederung des Theaterraums, so entspricht die erste Parkettreihe dem Erdgeschoss, denn nur von dort aus ist der Zugang zur Bühne, also zum öffentlichen Raum der Straße, möglich. An der Schnittstelle von Bühne und Zuschauerraum geht der private Raum des Wohnhauses in den öffentlichen Raum der Straße über. In Szenen wie der Rockerszene zu Beginn des Stückes wird die Durchdringung von Bühnenraum und Zuschauerraum, von privatem und öffentlichem Raum überdeutlich. Ein betrunkener Rocker stolpert beim Versuch, die Bühne zu betreten und fällt von der Bühne in den Zuschauerraum. Der Sturz des Rockers aus der Realität des Bühnenraumes in die Realität des Zuschauerraumes ist von symbolischer Bedeutung, führt er doch die enge Verknüpfung von realer und fiktiver Welt auf das Deutlichste vor Augen. Bis zu dem Punkt, wo die in der ersten Parkettreihe sitzenden Schauspieler aufstehen und ihm aufhelfen, sind sie Zuschauer. In dem <?page no="294"?> 294 Moment, wo sie aktiv in das Bühnengeschehen eingreifen, werden sie zu Akteuren, wechseln also von ihrer privaten Zuschauerrolle zur öffentlichen Schauspielerrolle. Aus der Privatperson wird die Rollenfigur. Ebenso offen vollzogen wird der Wechsel der Wirklichkeitsebenen bei Umbauten auf der Bühne. Die Schauspieler nehmen sämtliche Umbauten selber vor und verlassen damit vorübergehend die fiktionale Ebene der Rollenfiguren. Durch die zentralperspektivische Ausrichtung der Treppe, ihre Gerichtetheit auf einen fernen Fluchtpunkt am Bühnenhorizont, wird die Tiefe der Bühne besonders betont. Sie scheint unendlich und nimmt dadurch Straßencharakter an. Auch ohne aufwendige Dekorationen und städtebauliche Verweise wird eine Konkretisierung des Schauplatzes erreicht. In den ersten Szenen verstärkt der Verzicht auf eine direkte Beleuchtung der Bühne - Licht spendet nur das Saallicht des Zuschauerraums - den Eindruck der Grenzenlosigkeit des Raumes. Der Bühnenhorizont liegt in diesen Szenen im Dunkeln und ist nicht auszumachen. Mehrfach lässt Gosch seine Schauspieler die Treppe hinaufrennen und auf diese Weise aus dem schwach beleuchteten Spielfeld heraustreten. Das Eintauchen der Akteure in die Dunkelheit des Bühnenhorizontes, ihre nur noch schemenhafte Gestalt ruft das Bild von sich entfernenden Menschen auf einer Straße wach, deren Konturen mit zunehmender Distanz undeutlicher werden, bis sie nur noch als sich bewegende Punkte am Horizont wahrnehmbar sind. In den Tagszenen, in denen die Bühne komplett ausgeleuchtet ist - die Saalbeleuchtung wird nun durch eine direkte Bühnenbeleuchtung ergänzt - markiert Gosch die Länge der Straße durch die Positionierung seiner Schauspieler auf unterschiedlichen Niveaus der Treppe. Straßencharakter gibt er der Bühne darüber hinaus, indem er auf ihr Fußball spielen lässt. Auf inhaltlicher Ebene zeigen die wechselnden Lichtverhältnisse auf der Bühne das Verstreichen der fiktiven Zeit an. Die Handlung, die, wie bereits angemerkt wurde, einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden umspannt, beginnt und endet nachts, weshalb die Bühne zu Beginn und am Ende jeder Aufführung im Dunkeln liegt. Eine bedeutende Rolle für die Raumkonstitution spielen neben der Beleuchtung auch die zahlreichen Requisiten, die in Goschs Inszenierung zum Einsatz kommen. Sie stehen der Schlichtheit der Bühnendekoration gegenüber und übernehmen eine den Raum konkretisierende Funktion. So kommen Schweißbrenner, Ghettoblaster, Schubkarre, Bauschutt und Wasserschlauch zum Einsatz, um den Baustellen in Szene 1.5 und 2.8 Gestalt zu geben. Der Einsatz echten Wassers, das ohne Rücksicht auf die Wasserempfindlichkeit des historischen Bühnenraums benutzt wird, und die Verwendung echter Ziegel, die aus der Proszeniumsloge auf die Bühne gekippt werden, zeichnet Gosch als kompromisslosen Realisten aus. Räume entstehen bei Gosch aber nicht nur durch Beleuchtung, Bühnenbild und Requisiten, sondern vielmehr auch durch Gestik, Mimik und <?page no="295"?> 295 Bewegung. So nimmt die fahrende Straßenbahn in Szene 2.7 allein durch das Spiel der Schauspieler Gestalt an. Indem sie synchron in den Knien wippen und die durch die Fahrt bedingten Erschütterungen der Bahn mithilfe ihrer Körperbewegungen visualisieren, geben sie ihr eine räumliche Identität. Eine solche Konstitution des Raumes durch das Handeln der Figuren lässt sich auch in Szene 2.4 beobachten, die im Supermarkt spielt. Auf konkretisierende Dekoration und Requisiten wird auch hier verzichtet. Lediglich die Kittel der vier Schauspielerinnen verweisen auf ihre Kassiererinnen-Identität. Die Konkretisierung des Raumes vollzieht sich ganz über Wortkulisse und untermalende Gestik. Das Scannen der Ware wird durch eine Handbewegung veranschaulicht und mit Lautmalerei unterlegt, sodass kein Zweifel an der ausgeführten Handlung besteht. Intonation und chorisches Sprechen rufen die Monotonie des Kassenalltags wach. Ähnlich funktioniert die Raumkonstitution in Szene 3.8, denn auch hier überantwortet Gosch die räumliche Konkretisierung dem Spiel der Schauspieler. Ihre Anordnung auf den Stufen der Treppe mit starrem Blick ins Publikum verrät bereits, dass es sich um eine Theater- oder Kinosituation handelt. Die Schauspieler blicken auf eine imaginäre Leinwand im Zuschauerraum und bebildern somit den Bericht des Erzählers, der am linken Bühnenrand situiert ist. Die Szene zeugt von Goschs Vorliebe für visuelle Dramaturgien, die sich auch in seinen Inszenierungen von „Das Reich der Tiere“ und „Vorher/ Nachher“ widerspiegeln. Immer wieder verlangsamt oder unterbricht er die Handlung, um dem Zuschauer reine Bilderfahrungen zu ermöglichen. In „Das Reich der Tiere“ zeugt das Verkleidungszeremoniell von einer solchen Privilegierung der visuellen Ebene vor der Handlungsebene. In „Vorher/ Nachher“ und „Auf der Greifswalder Straße“ macht Gosch die Schauspieler zum Bildhintergrund von parallel ablaufenden Szenen. Szene 2.1, in der er eine typische Straßenszene nachstellen lässt, verdeutlicht dieses Verfahren. Ein Schauspieler nach dem anderen betritt die Bühne, vollzieht eine Handlung und friert in der Bewegung ein. Nach und nach füllt sich die Bühne, bis das detaillierte Bild einer belebten Straße entstanden ist. Man sieht ein Mädchen, das sich die Nase schnäuzt, ein anderes, das gerade in sein Sandwich beißen will, eine Frau mit Fahrrad, eine andere, die in ihrer Handtasche kramt, eine dritte, die ein Buch liest, eine vierte, die auf einem Stadtplan nach etwas sucht, einen Jungen mit Einkäufen, einen Mann, der telefoniert und einen, der der lesenden Frau über die Schulter guckt. Erst wenn alle Schauspieler ihre Position eingenommen haben, beginnt die eigentliche Szene. Die Statik einer solchen Dramaturgie macht die Bühne zum Bildraum und legt den Zusammenhang von Theater und Photographie offen, der für postdramatische Theaterformen, laut Lehmann, charakteristisch ist. 1099 1099 Lehmann 1999, S. 333. <?page no="296"?> 296 Wie die Ausführungen zur Funktionalisierung der Beleuchtung gezeigt haben, spielt Licht für die Raumkonstitution dieser Gosch-Inszenierung eine zentrale Rolle. So zeigt es auf der fiktionalen Ebene das Verstreichen der fiktionalen Zeit an und definiert auf der realen Ebene des äußeren Kommunikationssystems das Verhältnis der Zuschauer zum Bühnengeschehen. In Abgrenzung zum konventionellen Theatererlebnis, bei dem eine vermeintliche kollektive Einheit unter den Zuschauern geschaffen wird, sucht Gosch das echte gemeinschaftliche Erlebnis und macht die Zuschauer durch die durchgehende Beleuchtung des Zuschauerraumes zu Mitspielern. Doch geht er bei der Öffnung des Theaterraums nicht so weit wie die Performance, die den Zuschauer zum direkten Eingreifen in die Bühnenaktion auffordert. Auch direkte Publikumsansprachen, die bei der Helligkeit des Zuschauerraums zu erwarten wären, bleiben aus. Die Schauspieler richten die Rede höchstens in ihrer Funktion als Erzähler direkt an das Publikum, treten aber in solchen narrativen Passagen nicht aus den Rollen und bleiben somit stets Teil der fiktiven Welt, während die Zuschauer im gesamten Stück ihre Rezipientenrolle beibehalten. Die Raumkonzeption von Goschs Inszenierung spiegelt die Verschmelzung von dramatischen und postdramatischen Raumkonzepten wider, denn trotz der Aufweichung der Grenzen zwischen Bühnen- und Zuschauerraum bleibt die Bühne ein fiktionalisierter Raum, der durch den Einsatz von Licht, Requisite und durch das Spiel der Schauspieler in seiner jeweiligen Bedeutung konkretisiert wird. Die Ablösung des symbolischmetaphorischen Raumbegriffs durch einen metonymischen findet folglich nur vorübergehend statt. Durch die räumliche Verknüpfung von Bühne und Zuschauerraum macht Gosch die Zuschauer zu einem Teil der Greifswalder Straße. Realer und fiktiver Raum durchdringen sich. Die räumliche Symbiose von Zuschauerraum und Bühne lässt sich mit Blick auf die Rolle des Theaters in der Gesellschaft dahingehend interpretieren, dass das Theater zu den Menschen kommt und sich damit von seinem größten Konkurrenten, dem Kino, absetzt. 5.8. Die Frau von früher Ein vor vierundzwanzig Jahren gegebenes Liebesversprechen wird für den verheirateten Familienvater Frank zum Verhängnis. Einen Tag, bevor er mit Frau und Sohn zu einem neuen Leben in Übersee aufbrechen will, holt ihn die Vergangenheit ein: Seine Jugendliebe Romy Voigtländer steht vor der Tür der leer geräumten Wohnung und fordert die Einlösung des damals gegebenen Liebesschwurs: ROMY V. Siebzehn, ja genau, ich war siebzehn, du warst zwanzig, und damals hast du mir geschworen, daß du mich immer lieben wirst. <?page no="297"?> 297 […] Und ich habe es dir auch geschworen. daß ich dich immer lieben werde […] Ich bin jetzt da, um dieses Versprechen einzulösen. Und ich bin da, um Dich an dein Versprechen zu erinnern - 1100 Ein nicht eingelöstes Versprechen bildet den Grundkonflikt von Schimmelpfennigs Stück „Die Frau von früher“, das den blutigen Rachefeldzug einer betrogenen Frau erzählt. Mit Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische und Arabische gehört es zu den erfolgreichsten Stücken des Autors. Die Uraufführung erfolgte am 12. September 2004 im Wiener Akademietheater. Regie führte Stephan Müller, der sich mit seiner Inszenierung eng an die Textvorlage hält und die ausführlichen Nebentextanweisungen des Autors eins zu eins umsetzt. Müllers Inszenierung verschreibt sich ganz der Aufgabe, die Bedeutung von Zeit bewusst zu machen. Das geschieht zum einen durch die vom Text vorgeschriebenen Wiederholungen von Szenenteilen, aber auch durch visuelle und musikalische Mittel. Um die Rekonstruktion der zeitlichen Chronologie, die auf Textebene durch den ständigen Wechsel von Vorgriffen und Rückblenden aufgehoben ist, zu ermöglichen, werden die von Schimmelpfennig vorgegebenen Zeitangaben zu Beginn der Szenen eingeblendet. Von dem hohen Stellenwert, den Müller der zeitlichen Konkretisierung beimisst, zeugt die überdimensionale Größe der Projektionen. Oft nehmen sie die gesamte Bühnenrückwand ein. Visuell hervorgehoben werden die Zeitangaben nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch die völlige Abdunkelung des Bühnenraums. Die hellen Schrift-Projektionen durchbrechen das Dunkel der mit Musik unterlegten Blacks, die den Wechsel der Szenen markieren. Der Rhythmus der Musik, der an das Ticken einer Uhr erinnert, führt zu einem Spannungsaufbau: Er weckt das Gefühl einer ablaufenden Frist. Die nicht nur visuelle, sondern auch musikalische Hervorhebung der Zeitthematik, zeugt von dem Anliegen, Zeit erfahrbar zu machen. Müller nutzt Musik als Mittel der Veranschaulichung und der Vorausdeutung. Dies zeigt sich auch in der Abschiedsszene zwischen Tina und Andi, für die er eine melancholisch-unheilvoll klingende Westernmelodie im Stil von „Spiel mir das Lied vom Tod“ wählt. Durch die musikalische Untermalung gewinnt die Szene an Tragik. Gleiches lässt sich in der Szene von Andis Todeskampf beobachten. Das von Katrin Brack entworfene Bühnenbild - ein überdimensional großer Sperrholzcontainer mit der Aufschrift „fragile“, der den gesamten Bühnenraum einnimmt - verweist auf die Aufbruchssituation, in der sich die zur Auswanderung entschlossene Familie befindet. Als Inspirations- 1100 FF, S. 644. <?page no="298"?> 298 quelle für die Verortung der Handlung in einem Containerraum mag ein Figurenzitat des Familienvaters Frank gedient haben. Nicht ohne Stolz blickt er auf neunzehn Jahre Ehe zurück und hält bedeutungsvoll fest: FRANK Diese neunzehn Jahre füllen in diesem Moment mehr als einen ganzen Container! 1101 Die Aufschrift „fragile“ auf der Containerbreitseite kann als Verweis auf die Zerbrechlichkeit des Familienglücks und das Scheitern ihrer Auswanderungspläne gedeutet werden. Bei Einlass des Publikums ist der Container geschlossen. Den Beginn der Aufführung markiert der Auftritt eines Trupps von fünfzehn Bühnenarbeitern, die aufgrund ihrer Tragegurte an Möbelpacker erinnern. Sie öffnen den Container an der zum Zuschauerraum liegenden Breitseite und legen die hölzerne Seitenwand auf der Vorderbühne ab. Auf diese Weise entstehen zwei unabhängige Spielflächen: eine an drei Seiten begrenzte Spielfläche im Innern des Containers und eine freiliegende vor dem Container, die im Verlauf des Stückes als Außenraum fungiert. Da das Licht im Zuschauerraum beim Auftritt der Arbeiter zunächst unverändert bleibt, wird ihr Agieren auf der Bühne von den Zuschauern erst nach und nach wahrgenommen. Realer Bühnenaufbau und Fiktion durchdringen sich in diesem Moment. Es bleibt unklar, ob das Öffnen des Containers bereits zum Spiel gehört oder ob es lediglich der Vorbereitung des Spiels dient, also ganz der Ebene des äußeren Kommunikationssystems zuzuordnen ist. Erst das langsame Dimmen des Lichtes im Zuschauerraum führt zum Aufbau einer konventionellen Rezeptionsatmosphäre und zur Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das Bühnengeschehen. Durch die fokussierte Beleuchtung wird der Innenraum des Containers zu einer Guckkastenbühne und stellt somit eine Doppelung der Bühne des Akademietheaters dar. Im Innern des Containers dominiert Leere den Raum. Fünf hohe Türen in der Containerrückwand und Spiegelwände an den Seiten, die den Raum größer erscheinen lassen, genügen als Verweis auf eine Innenraumsituation. Die Vielzahl der Türen in Kombination mit den Spiegeln rufen die Assoziation Flur hervor. Mit der ungewöhnlichen Höhe der Türen, sie nehmen die gesamte Containerhöhe ein, trägt Katrin Brack der einleitenden Nebentextanweisung des Autors Rechnung: Schimmelpfennig konkretisiert den Schauplatz als Flur einer Altbauwohnung. Die mittlere der Türen wird durch eine Gegensprechanlage als Wohnungstür gekennzeichnet. Vor ihr steht ein männlicher Schauspieler in wartender Position, den Rücken zum Publikum. Entgegen seiner gewöhnlichen Funktion als Transportmittel für Gegenstände birgt der Container einen Wohnraum und seine Bewohner. 1101 FF, S. 677. <?page no="299"?> 299 Die Dekoration des Containerraumes ist minimalistisch. Sie beschränkt sich auf einen Miniatur-Holzcontainer im Zentrum des Raumes, einen daneben liegenden Umzugskarton und eine Glasflasche, die vor der linken Spiegelwand positioniert ist. Der Miniatur-Holzcontainer stellt ein Modell des Außen-Containers dar. Er gleicht ihm in Material und Farbe. Am Ende des Stückes birgt er die Leiche des Sohnes Andi und wird damit zum Sarg. Die Situierung der gesamten Wohnung in einem Container kann als Verweis auf den tödlichen Ausgang des Stückes gedeutet werden: Am Ende des Stückes befinden sich zwei Leichen im Containerraum. Der Container wird damit seiner ursprünglichen Funktion als Transportmittel für leblose Gegenstände gerecht. In diesem Zusammenhang erscheint die Aufschrift „fragile“ wie ein Hinweis auf die Vergänglichkeit irdischen Glücks. Die Bedeutung des Containermotivs für die Gesamtaussage der Inszenierung lässt sich an der Beleuchtungssituation der Schlussszene festmachen. Ein einzelner Lichtspot erhellt die Bühne. Er ist auf den Miniaturcontainer gerichtet, der Andis Leiche birgt und stellt somit die stumme Antwort auf Tinas vorausgegangene Frage „Wo ist Andi? “ dar. Der Container wird zum Sinnbild des Todes. Vor diesem Hintergrund gewinnt die oben zitierte Aussage der Figur Frank, eine neue Bedeutung. Dem im halbdunklen Raum herumirrenden Familienvater bleibt von seiner neunzehnjährigen Ehe am Ende des Stückes nur der Container. Was ihm zuvor viel erschien, erweist sich nun als erschreckend wenig. Romys Prophezeiung, die einem Fluch gleicht, bewahrheitet sich: ROMY V. Dann werde ich jetzt alleine von hier weggehen, und du wirst hier mit nichts alleine bleiben. 1102 Am Ende des Stückes wird der Container für den verstoßenen Geliebten zum Gefängnis. Seine verzweifelten Ausbruchversuche sind vergeblich: Die Wohnungstür ist verschlossen und lässt sich nicht mehr öffnen. Das Schlussbild zeigt einen Mann, der alles verloren hat. Abgekämpft und blutig geschunden liegt er am Boden. Es ist unklar, ob er die Kraft findet, wieder aufzustehen. Der Container, so scheint es, wird auch für ihn zum Grab. Bühnenbild und Dekoration bleiben während des gesamten Stückes unverändert. Es finden keine Umbauten statt. Unterschiedliche Stimmungen werden durch Variationen der Beleuchtung, musikalische Untermalungen und das Einspielen einer schnell geschnittenen Filmsequenz in Szene 11 hervorgerufen. Die Doppelung von Bühnenhandlung, Frank bewegt sich in der Containerwohnung, und Videoeinspielung etabliert eine Konkurrenz von „Körperzeit“ und „technologischer Zeit“, wie man sie im postdramatischen Theater oft findet. 1103 Auf Seiten des Rezipienten provo- 1102 FF, S. 681. 1103 Vgl. Lehmann 1999, S. 344. <?page no="300"?> 300 ziert die Gleichzeitigkeit von Bühnenaktion und schnell wechselnden Videobildern, die einer anderen Zeitebene angehören, eine Verwirrung des Zeitgefühls. Die Homogenität der Zeit wird in postdramatischer Manier aufgelöst und die Rekonstruktion der zeitlichen Chronologie der Szenen für den Zuschauer damit zunehmend erschwert. In seiner subjektiven Kameraführung erinnert der eingespielte Filmstreifen an die enigmatische Filmästhetik von David Lynch. Die Spiegel an den Seiten des Containers verstärken die verstörende Wirkung der Bilder durch kaleidoskopartige Verdoppelungen und surreale Verzerrungen. Verfremdende Nahaufnahmen der heftig miteinander streitenden Figuren jagen über die Containerwände und rufen ein beklemmendes Gefühl hervor. Die schnellen Schnitte intensivieren die Aggressivität der gefilmten Handgreiflichkeiten. Der filmische Rückblick, der durch die Zeitangabe „Zwei Tage vorher“ eingeleitet wird, legt das zwischen den Figuren vorhandene Konfliktpotential offen und besitzt damit ähnlich wie die Musik eine vorausdeutende Funktion. Prophezeienden Charakter besitzt auch die Proxemik. In den ersten Szenen lassen sich die Positionen von Frank, Romy und Claudia zu einem Dreieck verbinden, das die Beziehungsproblematik andeutet. Frank steht links der Haustür, Claudia rechts. Ihre räumliche Distanz zueinander spiegelt das wachsende Misstrauen und den einsetzenden Entfremdungsprozess. Zwischen ihnen in der offenen Tür befindet sich Romy. Sie bildet somit räumlich gesehen die Spitze des Dreiecks. Auf inhaltlicher Ebene lässt sich ihre Positionierung in der Spitze als Verweis auf den Keil deuten, den sie zwischen die Eheleute treibt. In der Proxemik der Szene spiegelt sich der zentrale Konflikt des Stückes, der mithilfe von Beleuchtungseffekten noch stärker herausgearbeitet wird. Franks Schatten fällt auf die geöffnete Tür und ist dort als deutliche Silhouette zu sehen. Er steht damit zwischen den beiden Frauen und wird zum Zeichen ihrer Rivalität. Die semantische Verknüpfung von Proxemik und Textgrundlage zeigt sich auch in Szene 15.4, in der Romy einen letzten Versuch unternimmt, Frank zurückzugewinnen. Sie sucht ihn mit vorwurfsvollen Fragen in die Enge zu treiben. Der Erfolg dieser verbalen Angriffsstrategie spiegelt sich in der gewählten Proxemik. Während Romy auf Frank einredet, geht sie von der Bühnenmitte aus langsam auf ihn, der in der linken Containerhälfte positioniert ist, zu. Ihr Näherkommen wirkt bedrohlich. Der nicht zu Wort kommende, sichtlich eingeschüchterte Mann, weicht zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand steht. Mit dem Erreichen der Raumgrenze fällt sein Widerstand. Er knickt in seiner Abwehrhaltung ein und ergibt sich der auf ihn einredenden Frau, was räumlich dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass er mit dem Rücken die Wand hinabrutscht und eine hockende Position einnimmt. Mit den Worten „Also gut, lass uns gehen! “ erhebt er sich und unterstreicht damit den gefassten Entschluss. Wie <?page no="301"?> 301 das Beispiel verdeutlicht, besteht zwischen der Figurenrede und den Bewegungsabläufen der Figuren ein eindeutiger Zusammenhang. Auch die Wege der Figuren auf der Bühne sind inhaltlich motiviert. Die Inszenierung verschreibt sich dem Kriterium der Synthesis. Ihr liegt der metaphorisch-symbolische Raumbegriff des dramatischen Theaters zugrunde. Dies verdeutlicht auch die Funktionalisierung der Türschwelle im Sinne von Bachtins Chronotoposlehre. 1104 Müller arbeitet die symbolische Bedeutung der Schwelle, die in der chronotopischen Analyse des Dramentextes nachgewiesen wurde, in seiner Inszenierung deutlich heraus. Der Schritt über die Türschwelle markiert die zentralen Wendepunkte in der Handlung. In Müllers Inszenierung wird diese „sujetbildende Bedeutung“ 1105 der Schwelle durch das auffällig lange Zögern der Figuren vor dem Überschreiten verdeutlicht. In Szene 7 muss Sohn Andi eine gute Minute lang in der geöffneten Tür ausharren, bis er die für tot gehaltene Fremde über die elterliche Schwelle tragen darf. Das Herauszögern einer Entscheidung wirkt spannungssteigernd und markiert die Schwelle als Wendepunkt. Die vorangegangenen Szenen, in denen Romy wartend vor der Eingangstür steht, bereiten den Schritt über die Schwelle vor. Auch bei geschlossener Tür bleibt sie vor der Schwelle stehen, wie beim plötzlichen Öffnen der Wohnungstür durch Claudia deutlich wird. Romys permanente Präsenz wirkt bedrohlich. Manchmal lehnt sie sich nach vorne und deutet damit die Absicht an, einzutreten, tut es dann aber doch nicht. Sie wartet, bis der Widerstand gebrochen ist und man sie aus eigenem Antrieb in die Wohnung trägt. Die sechs Szenen andauernden Versuche, den Eintritt der fremden Frau in die private Welt der Familie zu verhindern, verdeutlichen die von ihr ausgehende Gefahr. Immer wieder lässt Müller den Moment des Überschreitens der Schwelle durch eine Pause akzentuieren, um seine Schicksalhaftigkeit zu unterstreichen und Spannung zu erzeugen. So auch in Szene 15.1, in der Claudia vor dem Eintritt in die Wohnung lange innehält. Zögernd steht sie im Türrahmen und verleiht dem Moment des Überschreitens damit besonderes Gewicht. Der Schritt in die Wohnung kann für sie das Scheitern ihrer neunzehnjährigen Ehe bedeuten, denn vor ihrem Weggang hat sie ihrem Mann das folgende Ultimatum gestellt: CLAUDIA Ich werde jetzt die Wohnung verlassen. In zwanzig Minuten - Sie sieht auf die Uhr. - in zwanzig Minuten bin ich wieder da, und wenn dann diese Frau noch hier ist, ist alles, was je zwischen uns war, vorbei. Claudia ab. Sie knallt die Wohnungstür zu, die natürlich wieder aufgeht. 1106 1104 Bachtin 2008, S. 186. 1105 Ebd., S. 187. 1106 FF, S. 673. <?page no="302"?> 302 Besonders deutlich zeigt sich die metaphorische Bedeutung der Schwelle in Szene 15.4, die den endgültigen Wendepunkt der Handlung herbeiführt. Romys Eintritt in die Wohnung wird hier zwei Minuten lang herausgezögert, die wie eine Ewigkeit wirken. Der Zuschauer spürt, dass das Schicksal der Familie davon abhängt, ob sie eintritt oder weggeht. Hält der Vater dem Drängen der Fremden stand, gelingt es ihm, sie wegzuschicken und die Tür zu schließen, so scheint ein Abwenden noch größeren Unheils möglich. Wird der Widerstand des Vaters jedoch gebrochen, so ist die Familie verloren. Ein langer Kuss auf der Schwelle und eine hereinbittende Geste des Familienvaters besiegeln das Schicksal der Familie schließlich. Die Inszenierung des Kusses als Schwellenkuss verdeutlicht seine Tragweite. Mit ihm wird der zentrale Wendepunkt eingeleitet. Die Handlung läuft nun unaufhaltsam auf die Katastrophe zu. Die räumliche Konzeption der Schlussszenen entspricht der im Text nachgewiesenen Semantisierung der Bereiche „oben“ und „unten“. So wird das räumliche „Oben“ in Müllers Inszenierung eindeutig als Bereich der Überlegenheit und des Sieges definiert, während das räumliche „Unten“ Scheitern und Tod bedeutet. Das positiv konnotierte „Oben“ ist Romy zugeordnet. Sie ist die einzige Figur, die den Bühnenraum am Ende von Szene 15.4, vier Szenen vor Schluss, aufrechten Ganges verlässt. Die anderen vier Figuren werden durch den Fluch der Rachegöttin zu Fall gebracht und im negativ konnotierten Bereich des räumlichen „Unten“ zurückgelassen. Zwei von ihnen sind tot, die anderen beiden liegen regungslos am Boden, Frank im Container, Tina auf der Vorderbühne. Das Schlussbild ist von beklemmender Wirkung. Es dokumentiert die Vernichtung einer ganzen Familie. Das mehrfache laute Klingeln an der Tür, auf das niemand reagiert, verstärkt die düstere Stimmung. Es ruft die Eingangssituation der Inszenierung in Erinnerung, spiegelt den Auftakt des Albtraums, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Der Bühnenraum ist zum leblosen Raum geworden. Dem abschließenden Black, mit dem Müller dem brutalen Ausgang Endgültigkeit verleiht, geht ein kurzer Moment der Stille voraus. Es ist eine tödliche Stille. Wie die Inszenierungsanalyse gezeigt hat, arbeitet Regisseur Stephan Müller mit dem metaphorischen Raumbegriff des dramatischen Theaters. Die Bühne ist ein homogener Bedeutungsraum, der vom Zuschauerraum abgetrennt ist, was sich auch in der Beleuchtungssituation widerspiegelt: Der Zuschauerraum ist komplett abgedunkelt, nur die Bühne ist beleuchtet. Es liegt eine an klassische Theaterkonventionen anknüpfende Rezeptionssituation vor. Die Abdunkelung des Zuschauerraums sorgt mit dafür, dass die Illusionsbildung trotz des Hin- und Herspringens in der Handlung und den etlichen Repetitionen von Szenenausschnitten gelingt. In Anbetracht der aufgehobenen Chronologie wirken die Wiederholungen nicht redundant, sondern strukturierend. Sie erleichtern die Rekonstruk- <?page no="303"?> 303 tion der Fabel. Im Unterschied zum postdramatischen Theater, das die Repetition als Mittel der Destrukturierung einsetzt, 1107 nutzt Müller sie als Mittel der Verdichtung und macht sie zum Garanten der Synthesis. Zu Illusionsbrüchen kommt es auch in den narrativen Szenen der Figur Tina, die als Erzähler auftritt und das Bühnengeschehen zum Stillstand bringt: Auf der Bühne anwesende Schauspieler frieren während ihres Erzählerberichts in ihren Positionen ein. Tinas Berichte stellen folglich eine Unterbrechung der Bühnenhandlung dar. Dies zeigt sich auch darin, dass sich ihr Bericht nicht mit ihren beim Sprechen vollzogenen Handlungen deckt. In Szene 3 steht sie mit Andi auf der Vorderbühne. In ihrem Bericht heißt es hingegen: TINA Andi und ich, ein warmer Abend, unser letzter […] wir sitzen oben auf der Böschung […] 1108 Durch das Aussetzen der aktiven Bühnenhandlung wird der Zuschauer aus dem Bann des Bühnenspiels befreit und zur Reflexion eingeladen. Die Referenz auf das Brechtsche Verfremdungsverfahren ist unverkennbar. Tinas Aktionsraum ist die Vorderbühne. Ihre Distanz zum Bühnengeschehen wird dadurch auch räumlich akzentuiert. Sie steht meist mit dem Rücken zur Hauptbühne und verharrt in ihrer einmal eingenommenen Position. Ihre frontale Ausrichtung ermöglicht ihr die Aufnahme von Blickkontakt zu den Zuschauern, die sich dadurch direkt angesprochen fühlen. Es entsteht eine Erzählsituation, in der es zum Aufbau von Nähe zwischen Erzählerfigur und Publikum kommt, nicht aber zur Interaktion. Tinas Berichte gleichen Selbstgesprächen, an denen sie die Zuschauer als stille Zuhörer teilhaben lässt. Direkte Publikumsansprachen bleiben aus. Die Grenze zwischen fiktivem und realem Raum wird nicht durchbrochen. Trotz ihrer räumlichen Separierung und der eingenommenen Beobachter- und Kommentatorenrolle ist die Figur Tina Teil der fiktiven Welt. Die Prinzipien der Mimesis und der Fiktion bleiben somit auch in den erzählenden Passagen gewahrt. Sowohl die Gestaltung der Bühne als Container als auch die Positionierungen und Bewegungsabläufe der Figuren sind in Müllers Inszenierung inhaltlich motiviert. Mitunter haben sie vorausdeutende Funktionen und ermöglichen Rückschlüsse auf den weiteren Gang der Handlung. Die Zeichen des Raumes besitzen ebenso wie der von den Figuren gesprochene Text Mitteilungscharakter. Raumkonzeption, Proxemik und Text sind semantisch verknüpft und damit auf eine bestimmte Signifikanz festgelegt. Müller distanziert sich mit seiner Inszenierung folglich von der postdramatischen Inszenierungspraxis, die sich die Autonomisierung des Signifikan- 1107 Lehmann 1999, S. 336. 1108 FF, S. 647. <?page no="304"?> 304 ten zum Ziel setzt. 1109 Von einer Enthierarchisierung des Textes im Sinne der postdramatischen Ästhetik kann bei ihm nicht gesprochen werden. Der Text stellt das Fundament seiner Inszenierung dar. Damit distanziert sich der Regisseur eindeutig von der postdramatischen Ästhetik, in der die semantische Verknüpfung zwischen Text und Aufführung reißt. 1110 Im Unterschied zum postdramatischen Ereignistheater, das sich dem Prinzip der Präsenz verschreibt, zeugt Müllers Inszenierung von einer Bevorzugung des Prinzips der Repräsentation. Die Theatermittel stehen bei ihm im Dienste des Textes. Affinitäten zur Postdramatik lassen sich lediglich beim Umgang mit Zeit beobachten. Sie liegen in der Bedeutung der Zeitthematik begründet und lassen sich mit folgender Feststellung Lehmanns erklären: Erst eine vom Gewohnten abweichende Zeiterfahrung provoziert nämlich ihre ausdrückliche Wahrnehmung, läßt sie von der beiherspielenden unausdrücklichen Gegebenheit in den Rang eines Themas aufsteigen. 1111 So greift der Regisseur Müller zu den postdramatischen Prinzipien der Duration und der Beschleunigung, 1112 um die Dauer von Zeit ins Bewusstsein zu heben, nicht aber - und darin unterscheidet sich sein Vorgehen entscheidend von postdramatischen Verfahren - um sie aus dem Rahmen des fiktiven Erzählkosmos herauszulösen. Die Intensivierung der Wahrnehmung von Zeit ist eindeutig inhaltlich motiviert. Sie legt den zentralen Konflikt des Stückes offen, der in der Bedeutung von gelebter Zeit wurzelt und die fatalen Folgen einer verdrängten Vergangenheit aufzeigt. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Auch wenn Müller mit seiner Inszenierung an die Tradition dramatischen Sprechtheaters anknüpft, so kann man sie dennoch nicht als traditionalistisch oder gar restaurativ beschreiben. Vielmehr spiegelt sie die zunehmende Mediatisierung des Theaters. Mit dem Einblenden der Zeitangaben und dem Einspielen einer Filmsequenz, die in ihrer enigmatischen und verstörenden Ästhetik an Filme von David Lynch erinnert, knüpft der Regisseur an Sehgewohnheiten des Kinos an. Die Doppelung von Bühnenaktion und Videoeinspielung verdeutlicht die Konkurrenz von Körperzeit und technologischer Zeit und bildet somit die Rivalität von Theater und Film ab. Cinematographischen Charakter hat auch der Einsatz der Musik als Mittel der Verdeutlichung und des Spannungsaufbaus. 1109 Lehmann 1999, S. 161. 1110 Vgl. ebd., S. 92. 1111 Ebd., S. 330. 1112 Zu zeitlichem Stillstand kommt es in den narrativen Szenen der epischen Figur Tina, die ein Aussetzen der aktiven Bühnenhandlung herbeiführen. Auch die etlichen Wiederholungen von Szenenversatzstücken hemmen das Vorwärtsschreiten der Zeit und wirken in ihrer Redundanz postdramatisch. Eine Verzerrung der Zeit durch Temposteigerung findet sich hingegen in der eingespielten Videosequenz. <?page no="305"?> 305 5.9. Vorher/ Nachher Mit „Vorher/ Nachher“ beginnt die langjährige Zusammenarbeit zwischen Regisseur Jürgen Gosch, Bühnenbildner Johannes Schütz und Autor Roland Schimmelpfennig. In seiner Laudatio auf Regisseur und Bühnenbildner äußert sich Schimmelpfennig 2009 voller Dankbarkeit über diese Arbeitsgemeinschaft: SCHIMMELPFENNIG Die Begegnung mit Gosch und Schütz hat mein Leben verändert. Ich kann beiden für ihre Offenheit, Radikalität, Kraft, Sturheit und Fantasie im Umgang mit meinen Texten nur danken. Die Begegnung mit beiden ist immer beflügelnd, inspirierend, erhebend, und jede der Produktionen […] führte bei mir - und ich glaube, auch bei Gosch und Schütz - zu einer Art Aufbruchsstimmung, zu einem kreativen Tatendrang […]. 1113 „Vorher/ Nachher“ spiegelt wie kaum ein anderes Stück die von Schimmelpfennig erwähnte Radikalität des Duos Gosch und Schütz im Umgang mit den theatralen Zeichen. Radikale Reduktion prägt ihre Inszenierung am Schauspielhaus Hamburg, wo sie das Stück, in dessen Zentrum die Besucher eines Hotels stehen, am 22. November 2002 zur Uraufführung brachten. In ihrer Ästhetik gleicht die Inszenierung Goschs späteren Regiearbeiten. Die Bühne wird zur Simultanbühne. Szenen laufen parallel ab. Das gesamte Schauspielerensemble ist permanent auf der Bühne anwesend. Bereits bei Einlass des Publikums sind die Schauspieler auf der Bühne. Sie unterhalten sich und wirken privat. Gosch akzentuiert auf diese Weise den Augenblick des Übergangs von der Schauspieleridentität zur Rollenfigur. Anders als etwa in „Auf der Greifswalder Straße“ und „Das Reich der Tiere“, wo die Schauspieler mit völliger Selbstverständlichkeit in die Rolle von Zuschauern schlüpfen, im Parkett Platz nehmen und von dort aus das Bühnengeschehen als stille Beobachter verfolgen, reagieren die Figuren in „Vorher/ Nachher“ immer wieder irritiert auf die Präsenz der anderen Schauspieler auf der Bühne. Sie treten somit nicht aus der Rolle, sondern bewahren ihre Figuren-Identität. Denn das Schauspieler-Ich, das die Szenenabfolge kennt, dürfte der Auftritt der anderen Schauspieler nicht überraschen. Auf der fiktionalen Ebene des Hotelzimmers hingegen muss das Auftauchen fremder „Personen“ Unverständnis und Verwirrung hervorrufen. Solche Momente, in denen die Grenze zwischen fiktionaler und realer Welt verschwimmt, verleihen Goschs Inszenierung die grotesk-komische Wirkung absurden Theaters. Es scheint, als suche der Regisseur die Absurdität der Welt abzubilden. Schimmelpfennigs Textgrundlage bietet sich dafür an. Die Vielzahl an irrationalen Geschichten, wie die des Mannes, der 1113 Schimmelpfennig: Laudatio auf Jürgen Gosch und Johannes Schütz. In: Theater heute 06/ 2009, S. 36. <?page no="306"?> 306 in einem Bild verschwindet oder die der sich ständig verändernden Frau verleihen seinem Hotel tatsächlich absurde Züge. Es präsentiert sich als Kosmos des Sonderbaren und Unmöglichen. Einigen der narrativen Berichte fehlt jegliche Bodenhaftung. Sie wirken wie Phantasiegespinste von Anstaltsbewohnern. Diesen Aspekt greift Gosch mit seiner Inszenierung auf. In manch einer Szene erinnern die Bühne und die auf ihr Anwesenden mehr an ein Irrenhaus und seine Insassen als an ein Hotel und seine Gäste. So zum Beispiel, wenn die Figuren Schimmelpfennigs Horrorszenarien, wie die einer Käferplage, eines Feuersturms oder der Invasion eines todbringenden Organismus mit aller Überzeugung in wissenschaftlichem Tonfall vortragen. Die permanente Präsenz aller Schauspieler auf der Bühne ließe sich in diesem Zusammenhang mit einer Gemeinschaftsraumsituation in einer psychiatrischen Anstalt assoziieren. Ein Teil der „Insassen“ hört dem Vortragenden andächtig zu und tauscht sich untereinander leise tuschelnd über das Gehörte aus. Andere hingegen wenden sich kopfschüttelnd ab, geben damit zu verstehen, dass sie den dozierenden „Mitinsassen“ für verrückt halten, sich selbst aber für normal - was unter geistig Verwirrten häufig vorkommt - und verschwinden in der Dunkelheit der Hinterbühne. Wieder andere sind so in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie die Parallelhandlung komplett ignorieren und sich ganz ihrem eigenen Spiel hingeben. Die Assoziation einer Nervenheilanstalt stellt sich auch dann ein, wenn Schauspielerin Christiane von Poelnitz im weißen Bademantel, dessen Weiß sich durch eine forcierte Beleuchtung besonders hart vom Schwarz des Bühnenraums absetzt und fast gespenstisch wirkt, nervös rauchend auf der Bühne auf und ab geht und dabei von ihren mehrfach am Tag stattfindenden Verwandlungen erzählt. Während ihres Redeschwalls, sie redet extrem schnell, macht keine Pausen und wirkt wie gejagt, öffnet sie in exhibitionistischer Weise den Bademantel, und zeigt ihren nackten Körper. Die anderen Figuren halten Distanz zu ihr und werfen ihr ablehnende Blicke zu. Schon der durch die Beleuchtung akzentuierte weiße Bademantel lässt an eine Behandlungssituation denken. Von komisch-grotesker Wirkung sind auch die Szenen, in denen die Schauspieler beim Rezitieren ihres Textes Fitness- und Turnübungen ausführen, die sie so außer Atem kommen lassen, dass sie nur mühevoll weitersprechen können. Andererseits könnte man in dieser Stählung des Körpers auch einen Verweis auf Frühsport treibende Hotelbesucher sehen und sie als indirekte Kritik an der nie ruhenden Leistungsgesellschaft deuten. Absurd ist ihre Wirkung aber in jedem Fall. Für die Entstehung einer Atmosphäre des Absurden sorgen darüber hinaus die Brüche zwischen gesprochenem Text und vollzogener Handlung. Im Fall des russischen Paares in Szene 4 wird dies besonders deutlich. Im Nebentext, den die Figuren in Goschs Inszenierung im Chor sprechen, heißt es erklärend: <?page no="307"?> 307 Beide sind um die Fünfzig. Beide sind korpulent, sie ist schwerer als er. […] Sie trägt ein kariertes Kostüm und teuren Schmuck, Ohrringe, die sie jetzt abnimmt, während er bei offener Tür im Bad am Waschbecken steht. Die Tür zum Bad ist offen. 1114 Nichts davon ist zutreffend. Die beiden Darsteller sind jung und schlank. Sie trägt weder ein kariertes Kleid, noch teuren Schmuck, noch Ohrringe. Die detaillierten Angaben, die eigentlich einer Konkretisierung der Szene dienen sollen, werden hier ins Absurde gewendet und die Illusionsbildung auf Seiten der Zuschauer verhindert. Beim zweiten Auftritt des russischen Paares, gegen Ende der Inszenierung, entsprechen Text und Handlung dann plötzlich einander. Die Schauspieler illustrieren den Text mit ihren Aktionen. Wie das Beispiel verdeutlicht, versteht Gosch den Text als Angebot. In seiner Inszenierung legt er die theatralen Möglichkeiten der Umsetzung offen, die ihm der Text bietet. Die Wechsel zwischen den Szenen sind übergangslos, mitunter unterbrechen die Schauspieler einander und verdrängen den zuvor Redenden aus der zentralen Erzählposition an der Rampe. Typisch für Goschs Theater ist auch die Doppelung der Rollen. Jeder der Schauspieler übernimmt mehrere Rollen. Die unterschiedlichen Figurenidentitäten werden durch veränderte Kostümierungen, die meist von großer Einfachheit sind, angedeutet. Um sich in Nonnen zu verwandeln, werfen sich drei der Schauspielerinnen schwarze Tücher über. Da Schimmelpfennigs Textgrundlage auf Dialoge weitgehend verzichtet und die Mehrzahl der Szenen monologisch angelegt ist, müssen die Schauspieler oftmals als Alleinunterhalter agieren. Indem sie ihre Berichte mimisch und gestisch ausschmücken, geben sie den erzählten Geschichten Wirklichkeit. Um den Aufbau einer Erzählsituation zu ermöglichen, treten sie nah an die Rampe und sprechen in frontaler Ausrichtung zu den Zuschauern, ohne jedoch mit ihnen in Interaktion zu treten. Die frontale Positionierung der Schauspieler ruft das Theater von Richard Foreman in Erinnerung, dessen Wirkung Andrzej Wirth wie folgt beschreibt: Die Tableaux und Gesten der Spieler sind frontal ausgerichtet, und obwohl sie sich an das Parkett adressieren, bleiben sie formal - mehr selbst erläuternd denn wirklich dazu bestimmt, an das Publikum zu gelangen. […] Seine [Foremans] Figuren sprechen nicht, sie werden gesprochen von ihrem Erfinder. Kein Wunder, daß in diesem Modell epischen Theaters der Dialog als überholt gilt. 1115 Diese Charakterisierung lässt sich eins zu eins auf Goschs Inszenierung übertragen, der Aufbau einer Gesprächssituation zwischen Schauspieler und Zuschauer geht über den Blickkontakt nicht hinaus. Wie bei Foreman, 1114 VN, S. 405. 1115 Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. In: Theater heute 01/ 1980, S. 18. <?page no="308"?> 308 so wirkt die Rede der Figuren auch in „Vorher/ Nachher“ formell und merkwürdig unemotional. Von großer Nüchternheit ist auch die Raumgestaltung. Auf der Bühne des Schauspielhauses herrscht gähnende Leere, was nicht überrascht, denn Johannes Schütz ist bekannt für seine minimalistischen Bühnenbilder, die trotz ihrer Sparsamkeit im Umgang mit Dekoration und Requisite von großer Wirkung sind. Das Schwarz von Bühnenboden, Bühnenseitenbegrenzungen und -rückwand lässt den Raum dunkel und unbegrenzt wirken. Verstärkt wird diese Wirkung durch eine sehr reduzierte Beleuchtung, die sich in der Mehrzahl der Szenen auf den vorderen Teil der Bühne beschränkt und lediglich die jeweils Sprechenden hervorhebt. Die Leere des Raumes, mit der sich dieser einer Bedeutungsvermittlung verweigert, mutet postdramatisch an: Postdramatisches Theater arbeitet angesichts des Zeichenbombardements im Alltag mit einer Strategie des Refus. Es praktiziert eine als Askese erkennbare Sparsamkeit der Zeichenverwendung […] Riesige Bühnen werden provokant leer gelassen, Handlungen und Gesten auf ein Minimum beschränkt. 1116 In seinem Bedeutungsspektrum ist der Raum in Goschs Inszenierung nicht festgelegt, er konstituiert sich durch die Worte und Handlungen der Schauspieler stets neu und fordert den Zuschauer zum aktiven Mitvollzug auf. In der Aktivierung des Zuschauers, die ein grundlegendes Prinzip von Goschs Theaterarbeiten darstellt, kann eine weitere Referenz auf die postdramatische Theorie gesehen werden: Das Spiel mit der geringen Dichte der Zeichen zielt auf die eigene Aktivität des Zuschauers, die auf der Basis von geringfügigem Ausgangsmaterial produktiv werden soll. Absenz, Reduktion und Leere verdanken sich nicht einer minimalistischen Ideologie, sondern einem Grundmotiv des aktivierenden Theaters. 1117 Hinter den von Goschs Leibbühnenbildner Johannes Schütz konzipierten radikal leeren Bühnenräumen steht jedoch nicht nur das Motiv einer Aktivierung des Zuschauers, sondern auch des Schauspielers. Wie aus den Analysen zu „Der goldene Drache“, „Hier und Jetzt“, „Das Reich der Tiere“ und „Auf der Greifswalder Straße“ hervorgeht, bevorzugt Schütz neutrale Schwarz-, Weiß- und Graubrauntöne für seine Bühnenräume. Vor den nackten Wänden, die jegliches Dekor vermissen lassen, wirken die Schauspieler wie ausgestellt. Die extreme Reduktion der Zeichen des Raumes fordert sie stark heraus. Der Schauspieler Ulrich Matthes, der in zahlreichen Gosch-Inszenierungen gespielt hat, erklärt die Funktion der radikal leeren Bühnenräume von Johannes Schütz folgendermaßen: 1116 Lehmann 1999, S. 153. 1117 Ebd. <?page no="309"?> 309 ULRICH MATTHES Diese absolut reduzierten, den Schauspieler bloßstellenden Räume von Johannes Schütz entsprechen der Arbeitsweise von Gosch extrem, dem kommt es auf eine Art von sozusagen schauspielerischer Nacktheit, jetzt nicht im buchstäblichen, sondern im übertragenen Sinne an. 1118 Der Verzicht auf räumliche Konkretisierungen rückt die Schauspieler und ihre Aktionen ins Zentrum. Sie müssen die leere Bühne mit ihrer bloßen Präsenz füllen und durch ihr Spiel fiktive Welten entstehen lassen, die durch keinerlei Visualisierung gestützt werden. Schimmelpfennigs konkretisierende Textgrundlage hilft ihnen dabei. So konkretisiert sich der leere Raum wie in „Auf der Greifswalder Straße“ auch in „Vorher/ Nachher“ im Erzählen der Figuren. Das gestisch-mimische Spiel und die Proxemik der Schauspieler stützen den sprachlichen Raumentwurf. Eine schwebende Wand, die eine weiße und eine schwarze Seite besitzt, stellt die einzige Dekoration dar und kann als Verweis auf die Innenraumsituation des Hotels gedeutet werden. Sie ist im Bühnenhimmel aufgehängt und verändert unentwegt ihre Position und Ausrichtung: Mal ist sie an den Bühnenrändern positioniert, mal in der Bühnenmitte, mal steht sie im rechten Winkel zur Rampe und ist daher als Wand kaum wahrnehmbar, mal ist sie parallel zur Rampe ausgerichtet und begrenzt die Bühne nach hinten. Durch die Mobilität der Wand, ihre zwei unterschiedlich farbigen Seiten und eine variierende Beleuchtung gewinnt der Bühnenraum eine stets andere Wirkung. Beim Sichtbarwerden der weißen Wandseite erscheint er klar begrenzt. Der harte Kontrast des weißen Quadrats zur Schwärze der Bühne gibt dem Raum eine kalte schonungslose Wirkung. Ist hingegen die schwarze Wandseite zu sehen, so lösen sich ihre Konturen im Dunkeln fast ganz auf. Die Wand wirkt nur noch wie ein dunkler Schatten. Die permanente Metamorphose des Raumes kann als Hinweis auf die Vielzahl an Hotelzimmern gedeutet werden, die zum Schauplatz der Handlung werden. In ihr spiegelt sich das zentrale Thema des Stückes und seiner Inszenierung durch Jürgen Gosch. Es geht um Veränderung. Zu Beginn der Inszenierung erscheint der Bühnenraum konturenlos, da lediglich die Vorderbühne schwach beleuchtet ist. Der mittlere und hintere Teil der Bühne liegen im Dunkeln. Von der mobilen Wand ist nichts zu erkennen, sie wird von der Schwärze des Bühnenraums vollkommen verborgen. Wie in Goschs Inszenierung von „Auf der Greifswalder Straße“ bleibt das Licht im Zuschauersaal bei Beginn der Aufführung eingeschaltet. Der Regisseur bricht auf diese Weise mit der Theaterkonvention. Der Fokus der Beleuchtung liegt nicht auf den Schauspielern auf der Büh- 1118 Transkription eines Videobeitrags: Anna Postels, Matthias Weigel: Videobeitrag anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2009 an Jürgen Gosch und Johannes Schütz. ZEIT online, 6. Mai 2009. In: www.theatertreffen-blog.de/ tt09/ tag/ jurgen-gosch/ <?page no="310"?> 310 ne, sondern auf den Zuschauern. Es entsteht eine Situation der Sichtbarkeit, die die gewohnte Theatersituation umkehrt und die Reaktionen der Zuschauer ins Zentrum rückt. Die Schauspieler, die gewöhnlich von dem hellen Scheinwerferlicht stark geblendet sind und die Zuschauer nur als dunkle Masse wahrnehmen können, sind nun in der Lage, einzelne Gesichter zu erkennen und gezielten Blickkontakt aufzunehmen. Damit wird der kommunikative Aspekt des Theatervorgangs hervorgehoben. Die Zuschauer werden sich ihrer aktiven Rolle als Rezipienten bewusst und nehmen aufgrund der Helligkeit auch die mit ihnen anwesenden Rezipienten stärker wahr. Die Situation der Helligkeit bedeutet ein mehr an Transparenz. Durch die Umkehrung der theatertypischen Beleuchtungsverhältnisse stellt Gosch die Bedeutung des Rezipienten für den Theaterprozess heraus. Die Aufwertung des Zuschauers erinnert an postdramatische Theaterformen, die die Aufhebung der ästhetischen Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen anstreben. Der Zuschauer soll zum Mitspieler werden. Im Unterschied zu postdramatischen Theaterformen, die in ihrer Aktivierung und Einbeziehung des Publikums oftmals Performancecharakter besitzen, 1119 bleibt eine solche aktive Beteiligung der Zuschauer an den Vorgängen auf der Bühne in Goschs Inszenierung jedoch aus. Bühne und Zuschauerraum bleiben räumlich getrennte Wirklichkeitsbereiche. Anders als in „Auf der Greifswalder Straße“, wo das Licht im Zuschauerraum während der gesamten Aufführung eingeschaltet bleibt, wird es in „Vorher/ Nachher“ mit fortschreitender Handlung immer stärker gedimmt, bis der Zuschauerraum im Dunkeln liegt und damit die gewohnte Theatersituation etabliert ist. Wie auch in seinen späteren Schimmelpfennig-Inszenierungen gelingt es Gosch, postdramatische Verfahren zu nutzen, ohne jedoch den Text zu vernachlässigen. So steht auch der Einsatz von Verfahren der Musikalisierung, die nicht die inhaltliche Seite der Sprache in den Vordergrund rücken, sondern ihre lautliche Qualität, im Dienste des Textes. Gosch versucht, versteckte Stimmungen im Text auf diese Weise hörbar zu machen. Eine solche scheinbare Unterordnung des Inhalts unter den klanglichen Ausdruck weist Szene 48 auf. Gosch stellt in dieser Szene die klangliche Vielfalt von Sprache aus und nähert sich darin postdramatischen Verfahren der Polylogie an. 1120 Nicht Bedeutungsvermittlung, sondern Vielstimmigkeit ist das Ziel einer solchen Klangdramaturgie. Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von einem Theater der Stimmen, dessen primäres Anliegen die Ausstellung der Stimmgewalt, nicht die Repräsentation einer 1119 Zur Bedeutung der Zuschauerpartizipation in der Performance-Theorie siehe: Richard Schechner: Environmental Theatre. New York 1973. 1120 Vgl. Lehmann 1999, S. 263. <?page no="311"?> 311 fiktiven Welt ist. 1121 Die sinnliche Realität des Textes, seine Qualität als Klangmaterial, soll hervorgehoben werden, nicht aber seine semantische Seite: Simultaneität, Polyglossie, Chor und »Schreiarien« (Wilson) tragen dazu bei, daß der Text häufig zum semantisch irrelevanten Libretto und zum Klangraum ohne feste Grenzen wird. Verwischt sind die Grenzen zwischen Sprache als Ausdruck lebendiger Präsenz und Sprache als vorgefertigtem Sprachmaterial. Die Wirklichkeit der Stimme wird selbst zum Thema. 1122 Obwohl Gosch die Physis der Stimme und nicht ihre semantische Seite ins Zentrum der Szene stellt, widmet er sich dem Text, den Schimmelpfennig formal als reinen Nebentext gesetzt hat. Indem Gosch die Schauspieler den Text zunächst chorisch, dann wild durcheinander und dann wieder chorisch rezitieren lässt, bringt er die Rätselhaftigkeit und die Dynamik der erzählten Geschichte zum Ausdruck: Ein Mann durchschreitet einen Raum und läuft kopfüber die Decke entlang. So führt das Durcheinander der Stimmen nicht nur die Klangmacht des Wortes vor Augen, sondern auch den kryptischen Charakter des Textes, der sich sowohl in seiner formalen Gestaltung als reiner Nebentext als auch in seinem Inhalt widerspiegelt. 1123 In der Dominantsetzung des Prinzips der Simultaneität lässt sich ein weiterer Anklang an postdramatische Inszenierungskonzepte sehen. So tritt das von der Postdramatik präferierte Prinzip der Simultaneität 1124 in „Vorher/ Nachher“ an die Stelle des dramatischen Prinzips der Sukzession. Ein dramatisches Vorwärtsdrängen der Handlung wird bereits auf Textebene durch ihre Zersplitterung in einundfünfzig Einzelszenen und zwanzig Handlungsstränge verhindert. So findet man auch in Goschs Inszenierung statt eines dramatischen Nacheinander, ein Nebeneinander der Szenen. In vielen Szenen bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich auf den jeweils sprechenden Schauspieler konzentriert oder aber das parallele Spiel der anderen Schauspieler fokussiert, das auf Sprache verzichtet, aber dafür oftmals eine große Dynamik aufweist. In einer Szene jagen sich zwei Liebende laut kreischend über die Bühne, während ein anderer Schauspieler einen pseudowissenschaftlichen Vortrag hält. Die Freiheit des Zuschauers, eigenständig zu entscheiden, welche Wertigkeit er den Parallelhandlungen gibt, entspricht ganz der von der Postdramatik geforderten 1121 Hans-Thies Lehmann: Just a word on a page and there is the drama. Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.), S. 26-33, 28. 1122 Lehmann 1999, S. 276. 1123 Zur veränderten Stimmästhetik im Gegenwartstheater vgl.: Bayerdörfer, Leyko, Deutsch-Schreiner (Hgg.) 2007, S. 8: „Die veränderte Stimmästhetik findet Anhalt und Entfaltung in der Textgestalt selbst und stellt daher einen der wichtigsten energetischen Faktoren zwischen Bühne und Text des letzten Jahrhunderts dar.“ 1124 Lehmann 1999, S. 149-151. <?page no="312"?> 312 stärkeren Aktivierung des Rezipienten 1125 . In der Einbeziehung des Zuschauers geht Gosch jedoch nicht so weit wie die Postdramatik. Wie oben bereits angemerkt wurde, findet eine aktive Beteiligung des Zuschauers am Bühnengeschehen bei ihm nicht statt. Auch die Bedeutung, die Gosch dem Prinzip der Visualität beimisst, erinnert an postdramatische Theaterformen. Von einer visuell organisierten Dramaturgie zeugt die permanente Anwesenheit aller Schauspieler auf der Bühne. Diejenigen, die nicht aktiv an einer Szene beteiligt sind, nehmen oft statische Positionen ein. Ihre Anordnung auf der leeren Bühne gleicht der Komposition eines Bildes. Mit den Worten Lehmanns gesprochen, wird der Theatervorgang damit zur „wesentlich bildräumlichen Erfahrung“ 1126 . So stellt auch die Nacktheit der Schauspieler weniger ein Bekenntnis zu einer realistischen Inszenierungsweise dar, als den Versuch, den Körper des Schauspielers ins Zentrum zu rücken und ihn als Kunstwerk auszustellen. Die Neutralität des Bühnenraumes unterstützt dieses Vorhaben. Viele der Nacktszenen besitzen Gemäldecharakter. In Szene 49 lässt der Regisseur Wiebke Puls die Pose der Venus aus dem Gemälde „Geburt der Venus“ von Botticelli einnehmen. Ihre Statik lädt zum eingehenden Betrachten ein, ganz wie ein Bild oder eine Statue im Museum. Nicht Aktion, sondern Kontemplation steht hier im Vordergrund. Dem Vorwärtseilen dramatischen Theaters setzt Gosch eine Ästhetik der sinnlichen Betrachtung und des Verweilens entgegen, mit der er an das postdramatische Prinzip der Duration anknüpft. 1127 Im Unterschied zur visuellen Dramaturgie der Postdramatik, die sich vom Text lossagt und eine eigene Logik zu entfalten sucht, 1128 stellt Gosch seine Bildästhetik jedoch in den Dienst des Textes. Die Referenz auf das Gemälde des Renaissancemalers ist inhaltlich begründet. Sie kann als Verweis auf die Veränderung der Frau gedeutet werden, auf ihre Wiedergeburt, die ihr Ex-Freund wie folgt beschreibt: Du bist so verändert. Du bist ein völlig anderer Mensch. Nichts ist an dir so, wie es einmal war, sogar die Schichten deiner Haut sind andere als früher, und wie dünn du geworden bist. Und warum bist du so weit weg - Das Thema der Veränderung ist für ein Verständnis von „Vorher/ Nachher“ von zentraler Bedeutung, wie bereits der Stücktitel nahelegt. Alle einundfünfzig Szenen stellen Variationen zu diesem Thema dar. Schimmelpfennig stellt sich die Frage, welchen Stellenwert Veränderungen in unserem Leben einnehmen und präsentiert das Sein als ewigen Wandel, wie vor allem die Szene der sich ständig verändernden Frau zeigt, aber auch die altersbedingten, privaten und beruflichen Veränderungen der 1125 Vgl. ebd., S. 150-151, 285-289. 1126 Ebd., S. 292. 1127 Ebd., S. 331-332. 1128 Vgl. ebd., S. 159. <?page no="313"?> 313 anderen Figuren verdeutlichen. Folglich macht auch Gosch die Veränderung zur Leitvokabel seiner Inszenierung. Sein Inszenierungskonzept lässt sich mit dem auf Heraklit zurückgeführten griechischen Aphorismus „panta rhei“ beschreiben, denn bei Gosch ist alles im Fluss. Davon zeugen nicht nur die schnellen, übergangslosen Szenen-, Rollen- und Kostümwechsel, sondern auch die dynamische Raumgestaltung. Die mobile Wand, die sich permanent bewegt und den Raum verändert, kann als Metapher für die Prozessualität der Welt ausgelegt werden. Sie symbolisiert das Fortschreiten der Zeit, das auf der Ebene des Textes durch Zeitsprünge und zeitraffende Berichte zum Ausdruck gebracht wird. Im Unterschied zur postdramatischen Raumästhetik, die sich der Bedeutungsvermittlung versagt, steht der in seiner Zeichenhaftigkeit aufs Äußerste reduzierte Raumentwurf in Goschs Inszenierung im Dienste des Textes. Die mobile Wand bringt die Unbeständigkeit des Lebens zum Ausdruck, von der der Text erzählt. Nichts hat in dieser Welt des „Vorher/ Nachher“ Bestand, weder der Raum noch die zwischenmenschlichen Beziehungen, von denen das Stück erzählt. Es gibt keine Kontinuität. Szenen laufen simultan ab, überschneiden einander, wirken teils unvollendet und fordern die Synthesefähigkeit des Zuschauers heraus. Er ist nicht mehr nur passiver Empfänger, sondern muss der Reizüberflutung der parallel ablaufenden Handlungen standhalten, sich für einen Wahrnehmungsfokus entscheiden und die Erzählsplitter eigenständig verknüpfen. Das Prinzip der Zusammensetzung, das sowohl der Text, als auch Goschs Inszenierung privilegieren, erinnert an filmische Montagetechniken, die im Theater der historischen Avantgarde programmatisch wurden. 1129 Goschs Inszenierung von „Vorher/ Nachher“ zeigt die Welt im zeitlichen Wandel. Sie zeichnet sich durch einen permanenten Stoff- und Formenwechsel aus. In ihrer permanenten Rückkoppelung an den Text weist sich Goschs Inszenierung als nicht postdramatisch aus. In der großen Mehrzahl der Szenen bewahrt die Sprache ihre semantische Qualität und spielt damit die Rolle der Dominanten, die sie im dramatischen Sprechtheater besitzt. Gegen eine Charakterisierung von Goschs Theater als postdramatisch spricht auch die Wahrung der dramatischen Konzepte von Individualität, Charakter und Fabel. Die Figuren besitzen erkennbare Identitäten und werden nicht zu bloßen Textträgern. Auch wenn der Regisseur die dramatische und narrative Logik in einigen Szenen untergräbt, so verschreibt sich seine Inszenierung dennoch der „Präsentation eines fiktiven und fingierten Text- Kosmos“ 1130 und hält damit am Kern dramatischen Theaters fest. Gosch inszeniert Schimmelpfennigs Hoteldrama als teils düsteren, teils groteskkomischen Kosmos der Verschiedenheit und referiert damit auf unsere 1129 Vgl. Robert Sollich: Montage. In: Metzler Lexikon. Theatertheorie, S. 208-209. 1130 Lehmann 1999, S. 89. <?page no="314"?> 314 individualistisch geprägte Wirklichkeit. Seine Inszenierung ist somit als Repräsentation von Welt zu verstehen. Im Sinne der zu Beginn dieser Arbeit gegebenen Definition fällt Goschs Inszenierung damit trotz ihrer postdramatischen Einschläge in die Kategorie dramatischen Theaters. Sie ist Ausdruck eines mimetisch-fiktionalen, repräsentationalen Theaters, das mit psychologisch angelegten Figurenidentitäten arbeitet und den Text als bedeutenden Bestandteil des Theaterprozesses betrachtet. Texttreue und Orientierung an der dramatischen Tradition bedeuten bei Gosch jedoch keineswegs Traditionalismus: SCHIMMELPFENNIG Er [Gosch] folgt dem jeweiligen Text mit äußerster, buchstabengetreuer Genauigkeit, er nimmt ihn ernst, er lässt sich vom Text führen, aber gleichzeitig begegnet er dem Stück mit vollkommener Freiheit und oft mit großem anarchischen Humor. Alles ist spielbar, solange es im Text vorkommt. 1131 5.10. Die arabische Nacht Schimmelpfennigs erfolgreiches Tausendundeine-Nacht-Stück wurde am 3. Februar 2001 am Theater im Depot, der Bühne für Nachwuchstalente des Stuttgarter Staatstheaters, in der Regie von Samuel Weiss uraufgeführt. Die Auseinandersetzung mit einer Inszenierung von „Die arabische Nacht“ führt unweigerlich zu der Frage nach den Möglichkeiten des Theaters, die im Text entworfene schimärische Traumwelt auf der Bühne entstehen zu lassen. Friedrich Kittlers Feststellung, dass die Rezeption eines Raumes immer durch sein „mediales a priori“ bestimmt ist, wird hier zu einer immensen Herausforderung für den Regisseur: Denn Schimmelpfennigs Text, der sich zwischen orientalischem Märchen und kritischer Gesellschaftsstudie, zwischen Traum und Wirklichkeit bewegt, entwirft eine skurril-poetische Welt der Metamorphosen, in der räumliche Grenzen aufgehoben und die Gesetze der Gravitation außer Kraft gesetzt werden. Die Abhängigkeit der Darstellungsmodi des modalen Raums vom medialen Raum kann für die Inszenierung eines solch schwebenden Textes folglich zum realen Hindernis werden. Nicht aber für Samuel Weiss, der seine Inszenierung der Mobilität theatraler Zeichen anvertraut und die surrealen Traumwelten im Erzählen der Figuren entstehen lässt. Meist illustrieren die Schauspieler den eigenen Bericht oder den der anderen durch ihr Spiel, was aufgrund der häufigen Umfunktionierung der theatralen Zeichen zu grotesk-komischen Situationen führen kann. Stellenweise ersetzt der Bericht die Handlung komplett. Die in solchen Szenen bestehende Inkongru- 1131 Schimmelpfennig: Laudatio auf Jürgen Gosch und Johannes Schütz. In: Theater heute 06/ 2009, S. 38-39. <?page no="315"?> 315 enz zwischen dem Erzählten und den im Moment des Erzählens ausgeführten Handlungen führt zum Illusionsbruch. Die räumliche Konzeption der Bühnenbildnerin Ewa Marta zeichnet sich durch eine radikale Reduktion der Zeichen des Raumes aus. Ein braunes Ledersofa und ein Wasserspender bilden die konstante Dekoration der kleinen Bühne des Theaters im Depot. Das Ledersofa verweist auf die Innenraumsituation des Wohnhauses, das den Schauplatz der fiktiven Handlung darstellt. Der Wasserspender kann als Verweis auf das abhandengekommene Wasser gedeutet werden, von dem die Figur des Hausmeisters Lomeier in seinem Eingangsmonolog spricht. Sparsamkeit kennzeichnet nicht nur den Umgang mit Dekoration, auch die Zahl der zum Einsatz kommenden Requisiten ist begrenzt. Sie beschränkt sich auf einen rot lackierten Löschsandbehälter, einen Fes 1132 , ein arabisches Gewand, fünf durchsichtige Plastikbecher, fünf Cognacgläser, eine Cognacflasche, ein arabisches Teeservice, eine Tasche, ein Tablett, einen Telefonhörer und die Beine einer Schaufensterpuppe. In ihrer Raumästhetik erinnert die Inszenierung an „Der goldene Drache“, denn wie in Schimmelpfennigs eigener Inszenierung hat man es auch hier mit einer Aufteilung der Bühne in heterogene Spielfelder zu tun, deren Bedeutungen variieren. Weiss konzipiert die Bühne folglich nicht als homogenen Bedeutungsraum, wie es die dramatische Tradition vorschreibt. Die Bedeutung der einzelnen Spielfelder konstituiert sich im Spiel. In dem Verzicht auf eine Festlegung des Raumes auf ein bestimmtes Bedeutungsspektrum nähert sich Weiss der postdramatischen Raumästhetik an. 1133 Die Bühne wird zum Raum ohne „Telos, Hierarchie, Kausalität, fixierbaren Sinn und Einheit“ 1134 . Wie der Raum, so zerfällt auch die Zeit in heterogene Splitter. Sie wird angehalten und gedehnt, zurückgedreht oder aber durch das Zusammenfallen von Handlung und Bericht sowie die Steigerung der Sprechgeschwindigkeit extrem beschleunigt. Im Unterschied zur postdramatischen Raumästhetik, die sich ganz der Unbestimmtheit verschreibt, wird der bespielte Raumabschnitt bei Weiss jedoch durch die Repliken der Figuren und den Einsatz von Requisiten, Kostümen, Beleuchtungseffekten und Musik in seiner jeweiligen Bedeutung konkretisiert. Der Zeitpunkt der Handlung lässt sich anhand von Visualisierungen und Figurenäußerungen erschließen. Bei der Umsetzung der vom Text vorgeschriebenen raum-zeitlichen Veränderungen nutzt Weiss die ganze Bandbreite der zur Verfügung stehenden theatralen Mittel. Den Wechsel von Tageszeiten konkretisiert er durch das Zusammenspiel 1132 Arabisch-türkische Kopfbedeckung in der Form eines stumpfen Kegels aus rotem Filz mit meist schwarzer Quaste. 1133 Lehmann 1999, S. 296. 1134 Ebd., S. 263. <?page no="316"?> 316 von Wortkulisse, Beleuchtungseffekten, Visualisierungen und Soundunterlegungen. So wird der von Karpati gesprochene Satz „Es wird Abend“ visuell und klanglich untermalt. Die visuellen Effekte, eine gedimmte Beleuchtung und eine an den Bühnenhimmel projizierte Mondsichel, werden von den Schauspielern durch das Summen der Melodie von „Der Mond ist aufgegangen“ begleitet. Durch die Methode der Blickregie - sie drehen sich um und fixieren die Bühnenrückwand - lenken sie die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Mond und tragen auf diese Weise zur Konkretisierung des Zeitpunkts der Handlung bei. Wie das Beispiel verdeutlicht, werden die theatralen Mittel ganz in den Dienst des Textes gestellt. Sie sind semantisch mit ihm verknüpft und unterstützen die Vorstellungskraft des Zuschauers, der somit im Dschungel der inkonstanten Theaterzeichen nicht allein gelassen wird. In ihrer Konkretheit nähern sich Requisiten und Kostüme dem Bühnenrealismus dramatischen Theaters an. Sie fördern die Illusionsbildung. So erleichtern Arbeitskittel und Goldkette die Identifizierung des Hausmeisters. Auch Realien wie Wasser und Sand kommen zum Einsatz, um Raumwechseln und Figurenaktionen mehr Konsistenz zu geben. Ihre Verwendung wirkt jedoch nicht immer illusionsfördernd, sie kann auch grotesk-komische Wirkungen hervorrufen, wie im Fall von Franziskas Bad. Die Schauspielerin positioniert sich unter dem Wasserspender, dreht ihn auf und beginnt sich mit Wasser zu bespritzen. Beim Publikum ruft die Szene Lacher hervor. Der Einsatz von echtem Wasser führt hier zum Illusionsbruch. Indem Weiss die Illusion untergräbt und groteske Elemente in seine Inszenierung einbaut, sucht er Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen und den Zuschauer zu einer neuen Sehweise zu führen. 1135 Damit nähert er sich der Postdramatik an, die einen veränderten Umgang mit dem Zuschauer anstrebt und sich die Aufhebung der Grenze zwischen realem und fiktivem Raum zum Ziel macht. Von dem Versuch einer Durchbrechung konventioneller Sehgewohnheiten zeugt auch die Eröffnungsszene der Weissschen Inszenierung, denn in ihr kommt es zu einer Umkehrung der klassischen Rezeptionssituation im Theater. Bei Einlass des Publikums sitzen die fünf Schauspieler bereits auf dem in der Mitte der Bühne positionierten Sofa und blicken mit unbewegten Minen in den Zuschauerraum. Ein warmer Lichtspot, der auf Sofa und Schauspieler gerichtet ist, sorgt dafür, dass sie sich vom Dunkel des restlichen Bühnenraums abheben. Die Szene erinnert an eine Fernsehsituation. Es drängt sich die Frage auf, wer nun eigentlich wen beobachtet. Die Regungslosigkeit der Schauspieler erweckt den Anschein, als seien sie es, die an diesem Abend die Rezipientenrolle einnähmen. Entgegen der konventionellen Theatererfahrung kennzeichnet nicht Aktion, sondern ein Moment der Stille und der Statik den Beginn der Auffüh- 1135 Ebd., S. 130, 287. <?page no="317"?> 317 rung, der etwa zwei Minuten dauert, dem erwartungsvollen Zuschauer aber wie eine Ewigkeit vorkommt. Die Bühne gewinnt Bildcharakter und lädt wie ein Gemälde zur Kontemplation ein. Das Ausbleiben einer Handlung lässt die Zeit lang und zäh erscheinen. Die Dauer von Zeit wird in dieser stummen Eingangsszene zum Gegenstand der ästhetischen Erfahrung. Indem Weiss Handlung durch den Zustand des Wartens ersetzt, referiert er auf die postdramatischen Verfahren der Duration und der Zeitdehnung. 1136 Die Thematik der Zeit wird „von der Ebene des Signifikats auf die Ebene des Signifikanten“ 1137 verschoben, ganz so, wie Lehmann es für das postdramatische Theater konstatiert. In Analogie zur postdramatischen Theorie steht die Zeit am Beginn der Aufführung nicht im Dienste einer Handlung, sondern stellt sich förmlich selbst aus. Immer wieder kommt es in der Weissschen Inszenierung zu solchen Momenten des Stillstands, die den Rezipienten auf sich selbst zurückwerfen, ihm die Möglichkeit der vertiefenden Betrachtung und der Reflexion bieten. Die fiktive Zeit wird der realen zeitlichen Wirklichkeit der Zuschauer gegenübergestellt. Durchbrochen wird die Statik dieser wortlosen Eröffnungsszene lediglich durch minimale Variationen der Beleuchtung. So beginnt der zunächst unsichtbare Wasserspender plötzlich von innen zu leuchten und gewinnt dadurch räumliche Konsistenz. Gleiches vollzieht sich im Fall einer am rechten Bühnenseitenrand liegenden roten Kopfbedeckung und eines am linken Bühnenseitenrand positionierten roten Löschsandbehälters. Während ihre Konturen und ihre Farbigkeit in der Anfangseinstellung im Schwarz der unbeleuchteten Bühne verschwinden, nehmen sie durch ein Zurückfahren des zentralen auf das Sofa gerichteten Lichtspots und eine auf sie fokussierte Beleuchtung räumliche Gestalt an. Sie markieren die Begrenzung des Bühnenraums zu den Seiten. Der Beginn der Inszenierung steht somit ganz im Dienste einer visuellen Dramaturgie, die von Stillstand und Konstanz geprägt ist und in der „Sparsamkeit der Zeichenverwendung“ 1138 an Wilsons Theater der Langsamkeit erinnert. Die Schlagwörter „Schweigen“, „Langsamkeit“, „Repetition“ und „Dauer“, mit denen Lehmann Wilsons frühe Arbeiten charakterisiert, 1139 treffen die Ästhetik der Weissschen Eröffnungsszene im Kern. Mit der Gestaltung der Eingangsszene als Standbild distanziert sich Weiss von den Wahrnehmungsgewohnheiten der virtuell geprägten Gesellschaft, die an schnelle Bildwechsel gewöhnt ist. Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Strategie des Refus“ 1140 , mit der die Postdramatik 1136 Ebd., S. 334. 1137 Ebd., S. 342. 1138 Ebd., S. 153. 1139 Ebd. 1140 Ebd. <?page no="318"?> 318 Abstand von den Reizüberflutungen des Alltags nimmt. Auch als nach den langen zwei Minuten der Stille plötzlich Bewegung in das Spiel der Schauspieler kommt, bleiben Langsamkeit und Monotonie die dominanten dramaturgischen Prinzipien. In Zeitlupentempo erhebt sich der in der Mitte des Sofas sitzende Darsteller des Hausmeisters Lomeier und schlurft ohne jegliche Eile zum Wasserspender, um sich einen Becher mit Wasser zu füllen und sich sodann wieder hinzusetzen. Während er seinen Becher füllt, steht der links außen sitzende Darsteller der Figur Kalil auf, auch seine Bewegungen sind unendlich langsam. Die Darstellerinnen der Figuren Franziska und Fatima folgen dem Beispiel der beiden Herren und stellen sich in einer Schlange vor dem Wasserspender auf, um mit den gefüllten Wasserbechern in den Händen wieder auf dem Sofa Platz zu nehmen. Der rechts außen sitzende Darsteller der Figur Karpati verharrt während der gesamten Aktion bewegungslos in seiner Position auf dem Sofa und rührt sich erst, als der Hausmeister ihm seinen Wasserbecher anbietet. Es folgt erneut ein Moment des Stillstands. Die Figuren frieren in ihren Positionen ein und sitzen wie zuvor regungslos auf dem Sofa, den leeren Blick nach vorne gerichtet, in den Händen den Wasserbecher. Durch das Aussetzen der Handlung gewinnt die Bühne abermals Bildcharakter. Der Zuschauer wird mit der gleichen Bildeinstellung konfrontiert wie zu Beginn der Inszenierung. Das postdramatische Prinzip der Repetition greift. Durchbrochen wird der Moment der Stille diesmal nicht durch einen visuellen Reiz, die veränderte Beleuchtung, sondern durch einen auditiven: das Aufsprudeln des Wasserspenders. Als seien sie ferngesteuert wenden die fünf Schauspieler den Blick in einer synchronen Bewegung nach links in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und fixieren den Wasserspender. Auch dieser Vorgang ist von Langsamkeit geprägt. Nach dem kurzen Moment des Innehaltens wenden sie, immer noch gleichzeitig, den Blick ab und führen mit Ausnahme von Lomeier ihre Wasserbecher zum Mund, um laut schlürfend einen Schluck daraus zu trinken. Bei den weiblichen Figuren provoziert die Flüssigkeitsaufnahme einen Hustenanfall, sie beugen sich nach vorne und stellen den Becher vor sich auf den Boden. In seiner Synchronie wirkt der Bewegungsablauf stark einstudiert und unterstreicht auf diese Weise die Künstlichkeit des Theatervorgangs. Im Rückbezug auf den Text kann die Gleichförmigkeit der Bewegungen als Identitätsverlust gedeutet werden. Individualität scheint in der uniformen Wohnblockwelt, in der jedes Stockwerk und jede Wohnung eine identische Aufteilung besitzen, 1141 keinen Platz zu haben. Die Tagesabläufe der Figuren sind immer gleich, wie aus ihren etlichen Selbstgesprächen hervorgeht. Die leeren, ins Nichts gerichteten Blicke der Figuren und ihr Phlegmatismus zeugen von Desillusion und Resignation. Inhaltlich motiviert ist auch die Platzierung 1141 AN, S. 307. <?page no="319"?> 319 der fünf Schauspieler auf einem Viersitzer-Sofa. Sie lässt sich als Verweis auf die bedrückende Enge der Wohnhauswelt auslegen, in der sich zwei erwachsene Frauen wie Franziska und Fatima eine Zwei-Zimmerwohnung teilen. Die räumlich-proxemische Konzeption der Eingangsszene ist somit nicht willkürlich gewählt. Weiss referiert mit ihr auf den Inhalt des Stückes und führt in die zentrale Problematik der Alltagsmonotonie ein, die den Hintergrund für die wundersamen Metamorphosen darstellt. Die Schwerfälligkeit, die diese ersten Minimalhandlungen der Schauspieler kennzeichnet, gibt dem Raum eine ähnlich zähe Wirkung wie die Unbeweglichkeit der Akteure zuvor der Zeit. Der Raum wird zum Widerstand. Die Lethargie der Schauspieler, die Langsamkeit jeder ihrer Bewegungen kann somit als Verweis auf die drückende Hitze ausgelegt werden, von der Hausmeister Lomeier in seinem Eröffnungsmonolog spricht. 1142 Inhaltlich motiviert ist auch das laute Schlürfen beim Trinken, das Lomeiers ersten Satz „Ich höre Wasser“ 1143 antizipiert. Weiss arbeitet viel mit solchen lautmalerischen Verfahren, mit denen er das Fehlen visueller Konkretisierungen kompensiert. So auch in Kalils Mopedszene, in der die anderen vier Schauspieler sein pantomimisches Spiel mit der Imitation von Motorengeräuschen unterstützen. Verstärkt wird die Lautmalerei durch eine musikalische Soundeinspielung. Um der Szene noch mehr Konsistenz zu geben, wippen die Schauspieler im Takt der Musik mit den Köpfen und simulieren damit die fahrtbedingten Erschütterungen. Für Fahrtwind sorgt ein großer Ventilator am vorderen linken Bühnenrand, vor dem sich Kalil positioniert. In einer späteren Szene dient er zur Simulation von Wüstenwind. Von der Mobilität der theatralen Zeichen zeugt auch die Bedeutungsvielfalt des Tabletts, das nicht nur in seiner ursprünglichen Bedeutung als Transportmittel für Geschirr Verwendung findet, sondern auch als Warnschild und Aufzugstür zum Einsatz kommt. Genauso verhält es sich mit der Rückenlehne des Sofas, die mal als Liegefläche des Sofas, mal als Reling einer Fähre fungiert, mal Türschwelle und mal Küchenbalkon bedeutet. Die oftmals kühne Umfunktionierung der Zeichen führt zur Entstehung einer grotesk-komischen Wirkung und provoziert Lacher im Publikum. So etwa, wenn Karpati Franziskas Beobachtung „Im Haus gegenüber, auf der schattigen Seite von Wohnblock B, geht im siebten Stock ein Fenster auf“ 1144 durch das Hochschieben seiner Brille illustriert, oder wenn er sich der träumenden Franziska nähert und dicht vor sie stellt und diese daraufhin sagt: „Vor mir steht, mitten im Basar, vor einer Art Café, ein riesiges Kamel.“ 1145 Für eine grotesk-komische Wirkung sorgen auch die 1142 Ebd. 1143 Ebd. 1144 AN, S. 313. 1145 Ebd., S. 323. <?page no="320"?> 320 vielen Musikzitate, mit denen Weiss auf bekannte Werke der Popkultur referiert. So gibt der Darsteller der Figur Kalil seiner mit den Worten „Tief im Westen“ 1146 beginnenden Replik den Sound von Herbert Grönemeyers Bochum-Song, der auch inhaltlich zu der Wohnblockszenerie passt. Karpatis Ausspruch „Das ist die Hölle“ 1147 versehen die übrigen Schauspieler mit einem „Hölle, Hölle“-Echo im Stil von Wolfgang Petris Schlager „Wahnsinn“ und nehmen ihm damit seine Tragik. Die Wandelbarkeit der einzelnen Zeichen, ihre ständige Metamorphose ruft erneut die Wilsonsche Ästhetik als Referenz in Erinnerung. 1148 Auch das Ausgeliefertsein der Figuren an übernatürliche Kräfte, die gegen ihren Willen Verwandlungsprozesse einleiten, erinnert an Wilsons Theater, in dem die Figuren oftmals fremdbestimmt wirken. 1149 So scheint es auch im Fall von Kalil und Karpati, als würden ihre Verwandlungen in einen Flaschengeist und einen Don Juan von unsichtbaren Mächten gelenkt. Weiss verstärkt diesen Eindruck durch den Einsatz von Musik. Ihr Rhythmus drängt sich den Figuren auf und versetzt ihre Körper in Schwingung. So beginnt Franziska plötzlich auf der Rückenlehne des Sofas zu arabischer Musik einen Bauchtanz vorzuführen, der den Eintritt in die arabische Traumwelt markiert. Ihr tanzender Körper wirkt wie eine Marionette. Und auch Karpatis Verwandlung wird durch Musik eingeleitet. Wie Franziska kann auch er sich dem Rhythmus der Musik nicht entziehen und fängt an, auf der Rückenlehne des Sofas zu tanzen. Für ihn wählt Weiss Madonnas Song „Music“, dessen Refrain „When the music starts/ I never wanna stop/ It’s gonna drive me crazy“ die Macht der Musik und damit im übertragenen Sinne die Unaufhaltsamkeit der Verwünschung zum Ausdruck bringt. Besonders deutlich zeigt sich die Verknüpfung von Text, Schauspieleraktion, Beleuchtung, Musikeinspielung, Bühnen- und Kostümgestaltung in den Verwandlungsszenen, in denen sich verschiedene Wirklichkeitsebenen überschneiden. Der Übergang von der okzidentalen Welt der Erinnerungen zur orientalischen Welt des Hier und Jetzt wird musikalisch gekennzeichnet. Als Motiv des Westens wählt Weiss eine jazzige Loungemusik, die wegen ihrer repetitiven Melodie an eine Endlosschleife erinnert und die Monotonie des Wohnblocklebens klanglich verdeutlicht. Die arabische Welt symbolisieren verschiedene orientalische Musikstücke, deren dynamische Rhythmen zugleich lebhaft und geheimnisvoll klingen. Für den Zuschauer stellt die Musik eine Orientierungshilfe dar, da sie verdeutlicht auf welcher Wirklichkeitsebene sich die jeweilige Handlung gerade ab- 1146 AN, S. 311. 1147 AN, S. 332. 1148 Vgl. Lehmann 1999, S. 131. 1149 Ebd., S. 131-132. <?page no="321"?> 321 spielt. Das Aussetzen der Handlung zugunsten von Musikchoreographien dient bei Weiss somit nicht der Untergrabung der Synthesis, sondern der Verdeutlichung. Um dem Zuschauer das Verschwimmen der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit bewusst zu machen, greift der Regisseur darüber hinaus zu visuellen Mitteln. Eine veränderte Beleuchtung, die sich entweder durch ihre Farbigkeit, ihre Helligkeit oder aber ihre Fokussiertheit von der flächigen Beleuchtung der Wohnblockwelt unterscheidet und arabische Accessoires zeigen den Wechsel der Wirklichkeitsebene an. Die exotische Welt des Orients kennzeichnen leuchtende Farben, wie Rot- und Goldtöne, während die Wohnblockwelt durch gedeckte Beige- und Grautöne charakterisiert wird. So werden Lomeier und Franziska nach ihrer räumlichen Versetzung in die arabische Wüstenwelt mit farbenfrohen orientalischen Accessoires ausgestattet. Karpatis Eintauchen in die arabische Welt, seine Verwünschung in einen Flaschengeist symbolisiert der rote Fes, den er vom Zeitpunkt seiner Verwandlung an trägt. Durch das semantische Zusammenspiel von Musik, Beleuchtung, Kostümierung und Bewegungschoreographie gelingt es Weiss, die schummerige Atmosphäre eines Beduinenzeltes auf die Bühne des Depottheaters zu zaubern. Die Kongruenz der auditiven, visuellen und kinetischen Zeichen, die zu Semantisierungen des Raumes führt, zeigt sich auch in der romantischen Balkonszene, mit der das Stück schließt. Weiss überführt die Konstituenten des Chronotopos der Liebe in theatrale Zeichen. Er positioniert die Darsteller der Figuren Lomeier und Franziska auf einem Podest hinter dem Sofa und schreibt ihnen damit den Bereich des räumlichen Oben zu, dessen Positivkonnotation auf Textebene nachgewiesen wurde. Für den Zuschauer sieht es so aus, als balancierten die Schauspieler auf der Rückenlehne des Sofas. Am Bühnenhimmel leuchtet die Mondsichel, die als raumzeitliches Symbol von Nacht und Außenraum fungiert und die positive Bedeutung des räumlichen Oben intensiviert. Vom Aussetzen der Zeit im Chronotopos der Liebe zeugt das Einfrieren der Figuren. Die Gestaltung der Szene dokumentiert die Texttreue der Inszenierung. Weiss bringt den Chronotopos der Liebe auf die Bühne. Er konstituiert sich im Wechselspiel von Handlung, Raum und Zeit. Auch die zentrale Bedeutung des Chronotopos der Schwelle wird in der Weissschen Inszenierung durch eine spezielle Licht- und Tonregie besonders hervorgehoben. So begleiten ein Lichtwechsel und das Erklingen orientalischer Musikklänge Lomeiers Schritt über die Schwelle, der ihn in die arabische Traumwelt führt. Von einer Semantisierung des Lichts zeugt auch die Gestaltung von Karpatis Verwandlungsszene. So wird die schicksalhafte Bedeutung der Cognacflasche während Karpatis Metamorphose durch Lichteffekte hervorgehoben. Sie leuchtet rot in seinen Händen auf, bevor er sie sich wie ein <?page no="322"?> 322 Katana 1150 in den Bauch rammt. Die gestische Referenz auf die japanische Tradition des Harakiri stellt eine Vorausdeutung auf Karpatis Tod dar. Zwar nimmt er sich nicht wie ein Samurai selbst das Leben, sondern wird mit der Flasche vom Balkon gestoßen, aber auch sein Tod wurzelt in einer Ehrverletzung: der Zurückweisung durch Franziska, die sein Kuss nicht wecken kann. Die Lichtregie steht somit ganz im Dienste des Textes. Inhaltlich motiviert ist auch der Einsatz eines Filmzitats aus „From Dusk till dawn“. Als Kalil die Wohnung von Marion Richter betritt, stimmt Karpati den Werbeslogan des Sexclubs Titty Twister an: „Allright, come on in pussy lovers. We got velvet pussy, yellow pussy, red pussy, brown pussy“ und verweist damit auf den tödlichen Ausgang der Szene: Im Film stellt das Betreten des Sexclubs ein Todesurteil dar, denn die verführerischen Pussys entpuppen sich als Vampire und bringen ihre männliche Kundschaft eiskalt um. Im Stück nimmt Fatima die Rolle dieser Rachegöttinnen an. Sie erfüllt die tödliche Prophezeiung, die das Filmzitat beinhaltet, indem sie dem treulosen Freund ein Messer in den Rücken jagt. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Wie Schimmelpfennig in seiner Inszenierung von „Der Goldene Drachen“, so stellt auch Weiss die Zeichenhaftigkeit des Theaters aus. Seine besondere Qualität, die darin besteht, in der Andeutung Welten entstehen zu lassen, wird zum dramaturgischen Leitprinzip. Der Verzicht auf räumliche Details und die Arbeit mit einer fast leeren Bühne rücken das Spiel der Schauspieler in den Vordergrund. Ihrer körperlichen Präsenz wird damit mehr Raum gegeben. Diese Ausstellung des körperlichen Ausdruckspotentials geht jedoch nicht einher mit einer Verweigerung des Signifikantendienstes, wie sie postdramatische Theaterformen praktizieren. In beiden Inszenierungen stellen die Schauspieler ihr Spiel in den Dienst des Textes. Ihre Körper bleiben Träger von Sinn, ihr Spiel eingebunden in einen fiktiven Erzählkosmos. Während die Reduktion der theatralen Zeichen dekonstruktivistisch und damit postdramatisch anmutet, stellt ihre Eingliederung in einen narrativen Rahmen ein Charakteristikum dramatischen Theaters dar. Sowohl Schimmelpfennig als auch Weiss treiben das Spiel mit den theatralen Zeichen bis an die Grenze zur Atomisierung und Auflösung ihrer Signifikanz, überschreiten diese jedoch nicht. In der Reduktion der Zeichen gehen sie nie weiter, als man gehen darf, ohne die Konsistenz der Geschichte zu bedrohen. So werden Raum- und Zeitgefühl zwar durch den Einsatz postdramatischer Verfahren verwirrt, eine vollständige Auflösung der raumzeitlichen Kohärenz ist jedoch nicht gegeben. In den Traumsequenzen verschwimmen die Grenzen zwischen den verschiedenen temporalen und räumlichen Wirklichkeiten der fiktionalen Ebene. Doch der Regisseur gibt dem Zuschauer Orientierungshilfen. Um den Wechsel von der Wirklichkeitsebene 1150 Japanisches Langschwert. <?page no="323"?> 323 zur Traumebene zu verdeutlichen, greift er zu visuellen und auditiven Verfahren. Träume und surreale Begebenheiten werden, wie oben gesehen, stets durch eine veränderte Beleuchtung und durch Musikeinspielungen eingeleitet. Für den Zusammenhalt der zerlegten Zeichen und die Wahrung ihrer Signifikanz sorgt der Text, dessen Belastbarkeit die Regisseure ausloten. Bei aller Experimentierfreude bleibt die Sicherung der Kohärenz der erzählten Geschichte oberstes Gebot. Im Unterschied zum postdramatischen Theater, das erst dort anfängt, wo der Erzählfaden reißt, bildet die Fabel weiterhin das Zentrum ihrer Regiearbeiten. 1151 In der ständigen Rückbindung der Bühnenhandlung an die Textgrundlage unterscheidet sich die Weisssche Inszenierung bei aller zuvor konstatierten Affinität zur Postdramatik gravierend von typisch postdramatischen Theaterformen. Während sich das postdramatische Theater gänzlich vom Text lossagt, stellt er in der Weissschen Inszenierung die entscheidende Referenz dar. Gegen eine Charakterisierung der Inszenierung als postdramatisch spricht auch der konsequente Aufbau von Spannungskurven. Der Wechsel von Momenten des Stillstands und der Beschleunigung dient folglich nicht der Dekonstruktion der Fabel, sondern dem Aufbau von Spannung. Zu einem solchen kommt es kurz vor Franziskas Eintritt in die Traumwelt. Angeheizt von Lomeiers wildem Trommeln auf dem Wasserspender werden Sprechgeschwindigkeit und -lautstärke ins Extreme gesteigert, bis das Einsetzen der arabischen Musik, das den Übergang in die Traumwelt symbolisiert, zur Auflösung der Spannung führt. Zu einer ähnlichen Temposteigerung kommt es beim finalen Showdown, bei dem Karpati und Kalil zu Tode kommen. Man kann folglich von einer Ausrichtung der Handlung auf den Schluss sprechen. Entgegen der postdramatischen Ästhetik, die auf Anfang und Ende verzichtet, markiert Weiss das Ende seiner Inszenierung durch ein langsames Abblenden des Lichts, das Einfrieren der Figuren in ihren Posen und eine Musikeinspielung, die orientalische und okzidentale Klänge verbindet. Die Inszenierung endet, wie sie begonnen hat: mit einem Standbild. Ein darauf folgendes langes Black unterstreicht die Abgeschlossenheit der Bühnenvorgänge. Die visuelle und auditive Gestaltung der Schlussszene können als Versuch einer Synthese gedeutet werden. Indem Weiss seine Inszenierung als geschlossenes Ganzes konzipiert, widerspricht er der postdramatischen Absage an die Kriterien der Einheit und der Synthesis. Während postdramatische Theaterstücke das Publikum oftmals im Unklaren darüber lassen, ob die Aufführung zu Ende ist oder nicht, schließt Weiss jeden Zweifel durch das Setzen eines klaren Schlusspunktes aus. In der Musik leuchtet die zentrale Thematik des Stückes noch einmal auf: das 1151 Vgl. Lehmann 1999, S. 89, 113-118. <?page no="324"?> 324 Verschmelzen der Welten von Orient und Okzident. Die musikalische Gestaltung der Szene ist somit inhaltlich motiviert. Sie fungiert als Mittel der Verdeutlichung und stellt damit ein weiteres Indiz für die Distanzierung des Regisseurs von der postdramatischen Ästhetik dar. In ihrer Dramaturgie weist die Schlussszene Analogien zum Film auf. Das Standbild des Arm in Arm schlafenden Liebespaars und die friedliche Begleitmusik, es erklingt das bekannte deutsche Wiegenlied „Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein“, erinnern an den Abspann einer Filmromanze. Es fehlen lediglich die eingeblendeten Namen der Mitwirkenden. Verstärkt wird die romantische Wirkung durch das Entzünden von Wunderkerzen, das als Referenz auf die kitschigen Schlussszenen von TV-Romanzen - z.B. der Traumschiffserie - gedeutet werden kann. Wie der Text des abschließend erklingenden Schlafliedes verdeutlicht, stehen Musik und Bühnenhandlung in völliger Kongruenz zueinander. Im Lied heißt es: „Schlafe beim silbernen Schein, schlafe mein Prinzchen schlaf ein“, was die Schauspieler prompt tun. Man fühlt sich an einen Dornröschenschlaf erinnert. Die Schlusseinstellung, in der nur noch der Mond am Bühnenhimmel hell leuchtet, während der Rest der Bühne bereits abgedunkelt ist, verstärkt die idyllische Wirkung, die das Lied hervorruft. 5.11. Push Up 1-3 Die Uraufführung von „Push Up 1-3“ erfolgte in Form eines Ensembleprojektes 1152 am 10. November 2001 an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Im Unterschied zu konventionellen Theaterbauten überzeugen die Räumlichkeiten der Schaubühne mehr durch Funktionalität als durch Prunk. Seit dem Umbau des Hauses am Lehniner Platz im Jahr 1981 gehört es zu den technisch am besten ausgestatteten Theatern Deutschlands. Der Theaterraum gleicht einer großen Halle, die für jede Aufführung individuell bestuhlt werden kann. Die konventionelle Aufteilung des Theaterraumes in Bühne und Zuschauerbereich ist folglich aufgehoben. Dank zweier Rolltore lässt sich der Gesamtraum in drei unabhängige Säle untergliedern. Die technischen Möglichkeiten sind daher schier unbegrenzt: Neben sämtlichen klassischen Theaterformen können auch experimentelle Bühnenprojekte realisiert werden. 1153 1152 Mitglieder des Ensembleprojektes in alphabetischer Reihenfolge: Lars Eidinger, Tina Engel, Julika Jenkins, Martina Krauel, Linda Olsansky, Thomas Ostermeier, Tilo Prückner, Falk Rockstroh, Mark Waschke, Tilo Werner. 1153 Das Gebäude am Lehniner Platz, in dem die Schaubühne heute residiert, wurde von dem Architekten Erich Mendelsohn in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Herberge des Uraufführungskinos „Universum“ errichtet. Den Umbau des Hauses zur neuen Spielstätte der Schaubühne am Halleschen Ufer in den Jahren 1978-1981 <?page no="325"?> 325 Im Fall von „Push-Up 1-3“ ersetzt eine Drehscheibe die Bühne, die nach hinten von einer halbrunden Glaswand begrenzt wird. Mit der karussellartigen Gestaltung der Bühne referiert Bühnenbildner Ulrich Frommhold auf den im Text beschriebenen Machtkampf: Die Bühne wird zum Karrierekarussell. Ihr Drehen versinnbildlicht das Rotieren der Mitarbeiter des Konzerns durch die einzelnen Abteilungen auf ihrem Weg nach oben: in die Spitze des Konzerns. 1154 In der semantisch motivierten Raumkonzeption spiegelt sich die klare Dominanz des Textes, die für die gesamte Inszenierung charakteristisch ist. Ort der Aufführung ist der hufeisenförmige Saal C. Die Bühne befindet sich an der halbrunden Seite des Raumes. Mit der Wahl des kleinsten der drei Schaubühnen-Säle hat sich das Regieensemble für eine Atmosphäre der Intimität entschieden. Die Rezeptionssituation ist von Nähe geprägt, denn die Zuschauer der ersten Sitzreihe sind direkt am Rand der Drehscheiben-Bühne platziert. Der Aufbau einer direkten Kommunikationssituation zwischen Darstellern und Publikum wird durch die gewählte Raumaufteilung begünstigt. Immer wieder wenden sich die dargestellten Figuren mit ihrer Rede unmittelbar an die Zuschauer im Saal. Sie lassen das Publikum an ihren Reflexionen teilhaben und stellen ihm zuweilen sogar Fragen, ohne jedoch eine Antwort abzuwarten. In Konfliktsituationen fordern sie die Unterstützung der Menge im Saal ein, die in solchen Momenten zur legitimierenden Macht wird. Mit kurzen rhetorischen Fragen wie „Oder? “ suchen sie das Publikum auf die eigene Seite zu ziehen. Im Unterschied zu Brechts epischem Theater treten die Schauspieler während der Wendung zum Publikum nicht aus ihren Rollen. Sie bleiben der fiktionalen Welt verhaftet. Eingeleitet werden die epischen Einschübe durch eine sphärisch klingende Tonfolge und eine veränderte Licht-Regie. Oft wird ein Spot auf die reflektierende Figur gerichtet, während der restliche Bühnenraum abgedunkelt ist. In der Szenenfolge von Hans und Frank wird das Licht im gesamten Bühnenraum gedämpft, um den Eintritt in die Vorstellungswelt zu verdeutlichen. Darüber hinaus kennzeichnet die Regungslosigkeit des Mitspielers den Wechsel von der Handlungsauf die Reflexionsebene. In der ersten Szenensequenz wird er zusätzlich zu den oben genannten Verfahren durch das Drehen der Bühne veranschaulicht. Teils am Anfang, teils am Ende des reflexiven Einschubs beginnt sie sich zu drehen. Die deutliche Markierung des Übertritts auf die andere Wirklichleitete der Architekt Jürgen Sawade. Im Herbst 1981 nahm man den Spielbetrieb im modernisierten und technisch perfekt ausgestatteten Haus auf. Für weitere Informationen zur Architektur des Hauses siehe: www.schaubuehne.de/ de_DE/ house/ architecture/ 1154 Zum Aufwärtsstreben der Figuren siehe: PU, S. 352-353, 378-379. <?page no="326"?> 326 keitsebene ist Ausdruck eines logisch strukturierten Inszenierungskonzepts, das sich der Synthese verschreibt. Der Sicherung der Kohärenz dient auch der Einsatz von musikalisch unterlegten Blacks zur Kennzeichnung der Szenenwechsel. Mit der Bereitstellung solcher Orientierungshilfen distanziert sich das Regie-Ensemble deutlich von der postdramatischen Ästhetik des Schocks und der Überforderung. Da der Bühnenvorgang klar als inszenierte Fiktion definiert ist, bleibt die ästhetische Distanz des Rezipienten gewahrt, die, wie auch Lehmann betont, 1155 ein eindeutiges Kennzeichen dramatischen Theaters darstellt. Der Zuschauer wird an die Hand genommen. Er muss seine Situation nicht wie im postdramatischen Theater selbst definieren. 1156 Die eingesetzten theatralen Mittel stützen seine Vorstellungskraft, denn sie stehen im Dienste des Textes und verweigern den Signifikantendienst nicht. Auch die Sprache erfährt keine Desemantisierung, sondern bewahrt ihre stilistische und logische Kohärenz. Sie ist eingegliedert in einen narrativen Erzählrahmen und fungiert als Übermittler von Sinn. Trotz narrativ reflexiver Einschübe bleibt der Dialog die dominante Redeform. In ihrer Funktion als Figurenrede verleiht die Sprache den Figuren individuelle Züge. Sie lässt Rückschlüsse auf ihren Charakter zu. Indem das Regie-Ensemble Konzepte von Individualität, Charakter und Fabel bewahrt, bekennt es sich zu einer repräsentationalen Ästhetik. Die Schlagwörter Texttreue und Bühnenrealismus kennzeichnen das Inszenierungskonzept. In ihrer Konzeption kann die Inszenierung somit als dramatisch beschrieben werden. Davon zeugt auch das realistische Bühnenbild, das die Bühne zum homogenen Bedeutungsraum werden lässt. Im Unterschied zur postdramatischen Raumästhetik, in der die meist leere Bühne in ihrer Bedeutung nicht festgelegt ist und erst durch die Worte und Gesten der Akteure energetisch aufgeladen wird, 1157 besitzt der Raum in der Berliner Inszenierung eine bereits vor Beginn der Bühnenhandlung determinierte Signifikanz. Das Regie-Ensemble arbeitet folglich mit dem metaphorischen Raum- Begriff des dramatischen Theaters: Der Raum ist Symbol der Realität und steht folglich in Analogie zu ihr. 1158 Die Raumsituation auf der Drehbühne ist durch die Dekoration klar definiert: Schreibtisch, Sessel, Stuhl, Papierkörbe, Telefon und die angedeutete Fensterfront im Hintergrund lassen keinen Zweifel daran, dass man es mit einer Bürosituation zu tun hat. Durch die mehrfache Spiegelung des Schreibtisches in den sieben Fenstern der Glaswand wird die Arbeitsatmosphäre verstärkt, die den Raum prägt. Es entsteht der Eindruck, als lägen 1155 Vgl. Lehmann 1999, S. 178. 1156 Vgl. ebd., S. 176. 1157 Vgl. ebd., S. 292. 1158 Ebd., S. 288. <?page no="327"?> 327 hinter der Glaswand weitere Büros. Die zwischen den Szenen an die Rückwand des Saales projizierte Fassade eines mehrstöckigen Gebäudes mit erleuchteten Fenstern intensiviert die realistische Wirkung des Raumes. Authentizität kennzeichnet auch die Gestaltung der Umkleide des Wachpersonals, die durch einen grauen, mit typischem Spindinventar gefüllten Metallspind, einen Stuhl, ein Radio, eine Elektrokochplatte und einen Teekessel konkretisiert wird. Sie befindet sich an der rechten Außenwand des ebenerdigen Saales und damit in deutlicher Distanz zur zentral positionierten, erhöhten Drehbühne. Die Aufteilung des Bühnenraums in zwei separate Spielflächen unterstreicht das Außenseitertum von Heinrich und Maria. Sie sind von den acht Figuren die einzigen, die sich nicht am Karrieremachtkampf beteiligen. In ihrer Position als Angestellte eines Sicherheitsdienstes haben sie auch nicht die Möglichkeit dazu. Räumlich wird ihre Chancenlosigkeit dadurch ausgedrückt, dass sie die Drehbühne, deren Semantisierung als Karrierekarussell damit klar erkennbar wird, nicht betreten. Darüber hinaus kann der Niveauunterschied zwischen beiden Spielebenen als Verweis auf die unterschiedlichen Stockwerke des Bürogebäudes gedeutet werden. Wächter Heinrich erklärt in seinem Eingangsmonolog, er und seine Kollegin Maria säßen „unten hinter der Glasscheibe, in der Lobby“ des sechzehnstöckigen Gebäudes. Die Gliederung des Bühnenraumes in ein räumliches Oben und ein Unten stellt ein weiteres Indiz für die Texttreue der Inszenierung dar. Das Oppositionspaar oben-unten, dessen Verankerung auf der Tiefenebene des Textes nachgewiesen wurde, 1159 ist somit auch für die Raumkonzeption der Inszenierung konstitutiv. Von der Bedeutung der Oben-Unten-Opposition zeugt auch die Positionierung der Figuren auf der Bühne. In der Proxemik spiegeln sich die zwischen den Figuren herrschenden Machtverhältnisse. 1160 Besonders deutlich zeigt sich eine solche Funktionalisierung in der Auseinandersetzung zwischen Hans und Frank. Der Wettstreit der Figuren um einen Posten in Delhi findet in der räumlichen Konzeption der Szene seinen Ausdruck. Die Überlegenheit einer Figur zeigt sich in ihrem Raumverhalten: So tritt der stehende Hans nah an den sitzenden Rivalen Frank heran und legt ihm von hinten die Hand auf die Schulter, als wolle er ihn in den Sitz drücken. Es folgt die siegessichere Mitteilung: HANS Ich soll die Leitung in Delhi übernehmen. 1161 1159 Siehe Kapitel 2.4.1, S. 84-92 der vorliegenden Arbeit. 1160 Von einer Semantisierung der Proxemik zeugt z.B. die Positionierung von Angelika und Sabine in der ersten Szenenfolge. Sabines Stuhl ist ungewöhnlich weit vom Schreibtisch ihrer Chefin Angelika abgerückt. Die so hervorgerufene räumliche Distanz zwischen beiden Frauen ist Ausdruck ihres unterkühlten Verhältnisses. 1161 PU, S. 391. <?page no="328"?> 328 Die körperliche Berührung stellt ein Eindringen in die Privatsphäre des Gegenübers dar und damit eine eindeutige Demonstration von Macht. Mit der Dominanzgeste sucht Hans dem Konkurrenten klarzumachen, dass er sein Spiel verloren hat. Dieser wehrt sich jedoch. Es kommt zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden. Der Machtkampf wird zum Überlebenskampf, der unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer auf dem Boden der Drehbühne ausgetragen wird. Durch die ungewöhnliche Nähe der Kampfszene zum Zuschauerraum kommt es zur Aufhebung der ästhetischen Distanz. Eine solche Hervorhebung der Körperlichkeit des Theatervorgangs mutet postdramatisch an. 1162 Der Zuschauer wird unmittelbar mit der physischen Präsenz der Schauspieler konfrontiert, mit ihren keuchenden, ineinander verschlungenen Körpern. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die Exposition von Körperlichkeit jedoch von der postdramatischen Ästhetik: Der Körper verliert seine Signifikanz nicht. Anders als in der Kampfszene in „Hier und Jetzt“ bleibt er Träger von Sinn. Der Kampf der Konkurrenten stellt eine inhaltlich motivierte Figurenaktion dar und ist als solche Teil des logisch strukturierten Ganzen. Hans bewahrt beim Kräftemessen die Oberhand. Er steht als Erster wieder auf den Beinen und verdeutlicht seinen Sieg, indem er den am Boden liegenden Konkurrenten einige Male mit dem Fuß anstößt, um zu prüfen, ob er noch lebt, und ihm dann großmütig aufhilft. Die Positionierung der Figuren lässt die Semantisierung der oben-unten Opposition noch einmal besonders deutlich werden: Das räumliche Oben ist als Bereich des Erfolgs definiert und das oppositäre Unten als Bereich des Scheiterns. Obwohl Hans am Ende des Kampfes noch als klarer Sieger erscheint, kehrt sich das Machtverhältnis schon kurz darauf um und er nimmt den Platz des Verlierers ein. Eingeleitet wird der Wendepunkt durch einen Positionswechsel im Raum. Hans nimmt auf seinem Schreibtischsessel Platz, während Frank nun die Position des Stehenden einnimmt. Der Umkehrung der Hierarchie geht die Umkehrung der räumlichen Anordnung voraus. Es ist nun Frank, der die Sieger-Position innehat. Dem sitzenden Hans erklärt er: FRANK Das Problem ist, Hans, Ihre Information ist falsch. Was man Ihnen gesagt hat, stimmt nicht. HANS Ach ja? FRANK Ja. Kurze Pause. Sie werden Delhi nicht übernehmen. Pause. Ich werde Delhi übernehmen. 1163 1162 Vgl. Lehmann 1999, S. 162-167. 1163 PU, S. 392. <?page no="329"?> 329 Diese Worte besiegeln den räumlich vollzogenen Machtwechsel. Für den Rest der Szene nimmt Frank die Position des Überlegenen ein. Seine Dominanz findet ihren räumlichen Ausdruck darin, dass er Hans, dem die Niederlage offenbar zu Kopf gestiegen ist, wie einen Säugling aus dem Sessel hebt, ihn auf dem Schreibtisch ablegt und dort bespielt. Franks Sieg im Duell um den Posten in Delhi wird durch die räumliche Anordnung der Figuren in der Schlussszene noch einmal hervorgehoben. Schauplatz der Szene ist Marias und Heinrichs Umkleide. Hoch oben auf dem Spind thront Frank, während Maria zu seinen Füßen ihrem täglichen Umziehmanöver nachgeht. Auch in dieser letzten Szene wird die Überlegenheit der Figur Frank durch den Einsatz der Oben-Unten Opposition zum Ausdruck gebracht. Im Kampf um die Führungsposition in Delhi hat er sich gegen die anderen Bewerber durchsetzen können. Wie fragwürdig die Entscheidung für seine Person ist, führt ein hinzuerfundener Dialog vor Augen, mit dem das Regie-Ensemble Schimmelpfennigs Textentwurf weiterführt. Der auf dem Spind thronende Frank simuliert ein Gespräch mit einem indischen Verkäufer in schlechtestem Englisch. Verwundert muss der Deutsche feststellen, dass der Verkäufer nur Rupies und keine Euros akzeptiert. Der fingierte Dialog legt folglich Franks Naivität offen. Um den Schauplatz der imaginierten Indien-Szene zu konkretisieren, unterlegt das Ensemble sie mit einer leisen indischen Flötenmusik und Vogelgezwitscher. Immer wieder greift das Regie-Ensemble zu Musik und nutzt sie als Mittel der Konkretisierung und der Psychologisierung. So werden unterschwellige Aggressionen und verheimlichte Gefühle der Figuren in Klangsequenzen überführt und hörbar gemacht. Ihre plötzlichen Gewaltausbrüche werden von ohrenbetäubenden aggressiv klingenden Musikeinspielungen begleitet. Auf Überraschungsmomente in Form von Illusionsbrüchen wird somit trotz der weitgehend illusionistischen Inszenierungsweise nicht gänzlich verzichtet. Die zwischen Robert und Patricia bestehenden Spannungen finden in Heavy-Metal-Einspielungen ihren Ausdruck, die von lautem Gebrüll der Schauspieler begleitet werden. Sie wirken wie besessen und jagen einander gleich wild gewordenen Tieren über die Drehbühne. Musik und Handlung stehen hier somit in völliger Kongruenz zueinander. Von ihrer semantischen Verknüpfung zeugt auch die zwischen den Szenen eingespielte Pausenmusik, die eine Mischung aus indischen Rhythmen, Pianomusik und an Tastaturgeklimper erinnernden Klängen darstellt. Zum einen spiegelt sie den zentralen Delhi-Konflikt, zum anderen verstärkt sie die Büroatmosphäre und ruft Roberts und Patricias Bemerkungen zur Chefetage in Erinnerung, mit der sie das Klicken der Tastaturen assoziieren. 1164 1164 PU, S. 378-379. <?page no="330"?> 330 Dass der Einsatz der Musik inhaltlich motiviert ist, belegt auch die klangliche Untermalung von Roberts Zögern vor dem Eintritt in das Büro seines Chefs Kramer: ROBERT Ich stand vor Kramers Büro, und mir fielen die vielen Leute ein, die es nicht geschafft hatten. Die genau wie ich hierhin wollten, in die Chefetage, und für die es eines Tages nicht mehr weiter nach oben ging. Die irgendeinen Fehler gemacht hatten und deshalb auf der Strecke geblieben waren, während ich an ihnen vorbeizog und weiter meinen Weg machte. 1165 Eine mit Warnsignalen durchsetzte Pianomusik hebt die Bedeutung des Schritts hervor, mit dem Robert schlussendlich nicht Patrizias, sondern seinen eigenen Rauswurf herbeiführt. Die Musik fungiert hier folglich als Mittel der Vorausdeutung auf den weiteren Gang der Handlung. Mit dem langen Herauszögern des Eintritts wird die chronotopische Bedeutung der Schwelle hervorgehoben, deren Überschreiten auch hier, wie in „Die arabische Nacht“, den Wendepunkt einleitet. Das Aussetzen der Handlung zugunsten von Musikeinspielung und pantomimischem Spiel markiert die Tragweite des Schrittes. Der Schauspieler überführt die Zweifel der Figur, die der Text zum Ausdruck bringt, in Bewegungen. Es scheint, als kämpfe er gegen eine unsichtbare Macht an. Der warnende, synkopische Charakter der Musik unterstreicht diese Wirkung. Wie das Beispiel verdeutlicht, sucht das Regie-Ensemble, den auf der Tiefenebene des Textes verankerten Konflikt mit musikalischen Mitteln offen zu legen. In der Hervorhebung der chronotopischen Färbung der Szene zeigt sich die Verknüpfung von Theaterzeichen und Text. Die Musik steht somit ganz im Dienste des Textes. Sie ist psychologisches Hilfsmittel und verdeutlicht die Konflikte der Figuren. Neben Musik und Raum übernehmen auch Requisiten und Kostüme eine konkretisierende illusionistische Funktion. Die illusionistische Wirkung der Requisiten lässt sich besonders gut anhand der ersten Szenenfolge aufzeigen: So ist die Kaffeetasse, die Angelika in Sabines Richtung entleert mit echtem Kaffee gefüllt und Angelikas Brechreiz hinterlässt realistisch aussehende Kotzspuren auf ihrer Bluse. Eine illusionistische Wirkung erzielt das Regie-Ensemble auch durch die realistische Kostümierung der Figuren. Nele Fleischmann referiert mit der Wahl der Kostüme auf die Business-Welt von heute. So tragen die Frauen Kostüme bestehend aus Jackett und kurzem Rock, die Männer Anzüge. Einige der Figuren haben über ihre Straßenschuhe einen Hygieneschutz gezogen, der darauf schließen lässt, dass es in der Firma keimfreie Zonen gibt, die nur mit entsprechender Schutzkleidung betreten werden dürfen. Man kann in den 1165 PU, S. 378. <?page no="331"?> 331 Schuhen einen Verweis auf die Labore sehen, die Heinrich in seinem Eingangsmonolog erwähnt. 1166 Die Uniformität der Kleidung verweist auf den Verlust von Individualität, den die Arbeit in einem so großen Konzern mit sich bringt. Die Angestellten werden zu Marionetten des Machtapparats. Diese Fremdbestimmung findet auch im Spiel der Schauspieler ihren Ausdruck: Immer wieder kommt es zu Szenen, in denen eine der Figuren einfriert und die andere den Körper des Gegenübers wie eine Puppe bewegt. Lediglich die außerhalb des Personalmachtkampfs stehenden Figuren Maria und Heinrich, auf deren Außenseitertum bereits hingewiesen wurde, sind unabhängig und haben sich ihre Individualität bewahrt. Davon zeugt auch ihre individuelle Kleidung, die sie im Spind einschließen und erst nach der Arbeit wieder anziehen. Wie die Ausführungen gezeigt haben, nutzt die Inszenierung die Konstituenten 1167 dramatischen Theaters: Textdominanz, Figurenkonflikt, Totalität der Handlung und Repräsentation von Welt prägen die Arbeit des Regie-Ensembles. Die zentrale Stellung des Textes wird nicht zugunsten visueller oder musikalischer Dramaturgien aufgegeben. Der Dialog, der neben der Handlung die wichtigste Formkategorie dramatischen Theaters darstellt, 1168 bleibt das entscheidende sprachliche Medium. Die Figuren besitzen unverwechselbare Identitäten. Ihnen ist die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Aussprache nicht abhanden gekommen. 1169 Streitgespräche dominieren das Bühnengeschehen. Ihre Zeitstufe ist die Gegenwart. Durch den Einschub narrativer und musikalischer Sequenzen kommt es zum Aussetzen der zeitlichen Sukzession. Die reflexiven Passagen, mit denen die zeitliche Chronologie durchbrochen wird, verwirren das Zeitgefühl des Rezipienten. Einer Überforderung des Zuschauers wird jedoch durch eine eindeutige Markierung der Unterbrechungen vorgebeugt. Der Erhalt der logischen Ordnung scheint oberstes Gebot zu sein. Das belegt auch die Gestaltung von Bühnenbild und Kostümen, mit der das Regie- Ensemble auf die heutige Wirklichkeit referiert. Im Sinne der zu Anfang dieser Arbeit gegebenen Definition lässt sich die Inszenierung des Regie-Ensembles damit eindeutig der Kategorie des dramatischen Theaters zuordnen, denn sie präsentiert sich als ein mimetisch-fiktionales, repräsentationales Theater, das den Text als bedeutenden Bestandteil des Theaterprozesses betrachtet. Die von Lehmann abgesetzten Kategorien Drama, Handlung und Nachahmung werden retabliert. 1166 PU, S. 345. 1167 Vgl. Lehmann 1999, S. 77-78. 1168 Vgl. Szondi 1959, S. 29. 1169 Vgl. ebd., S. 13-16. <?page no="332"?> 332 5.12. Vor langer Zeit im Mai Schimmelpfennigs Stück „Vor langer Zeit im Mai“ gehört zu den wenigen Arbeiten des Autors, die auf eine dramatische Darstellungsweise verzichten. Wie bereits der Untertitel „Einundachtzig kurze Bilder für die Bühne“ verrät, wird die dramatische Handlung zugunsten kurzer Bilder aufgegeben. Bruchstückhafte Dialogpassagen zwischen einem namenlosen „ER“ und einer ebenso anonymen „SIE“ wechseln mit stummen repetitiven Abläufen von zeremoniellem Charakter. Damit büßt die Sprache auf der Ebene der Aufführung die gewohnte Vormachtstellung ein, die das dramatische Theater ihr zuschreibt. Sie wird zu einem Theaterzeichen unter vielen. Die Entthronung der Sprache und die damit einhergehende Aufwertung visuell-auditiver und gestischer Theaterzeichen zeugen von der postdramatischen Prägung des Stückes. Postdramatische Züge trägt auch die Berliner Uraufführung des Stückes am 13. März 2000 an der Schaubühne am Lehniner Platz. Regisseurin Barbara Frey gelingt es, die nonhierarchische Bildersprache der Postdramatik zu benutzen, die Bilder, Bewegungen und Worte in Gleichberechtigung zueinander stellt, ohne die detaillierten Vorgaben der Textgrundlage zu vernachlässigen und gänzlich auf einen narrativen Rahmen zu verzichten. Vom hohen Stellenwert des Textes zeugt die Aufteilung des Bühnenraumes in zwei unterschiedliche Ebenen, eine höher gelegene balkonartige Spielfläche, die den dialogischen Szenen vorbehalten ist und eine tiefer liegende halbrunde Arena, in der die zeremoniellen Abläufe vonstattengehen. Frey nutzt die vielfältigen technischen Möglichkeiten der Schaubühne folglich, um der Gliederung des Textes in eine rein beschreibende und eine dialogische Ebene Rechnung zu tragen. Auf inhaltlicher Ebene entspricht die Zweiteilung des Bühnenraumes der im Stück zelebrierten Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit. Das räumliche Oben symbolisiert die Gegenwart, während die untere Spielfläche den Raum der Erinnerungen darstellt. Ein auf den Boden des breiten Balkons gemalter Zahlenstrahl, der von eins bis einunddreißig geht, ruft die Assoziation eines Kalenderblattes hervor und kann folglich als Verweis auf den titelgebenden Monat Mai gedeutet werden. Durch ihn verdeutlicht Bühnenbildnerin Bettina Meyer die Zentralität der Zeitthematik. Bei aller Reduktion der Zeichen des Raumes lassen sich somit dennoch Verweise auf den Stückinhalt finden. Da sich die Raumaufteilung der Schaubühne von konventionellen Theatern unterscheidet und noch dazu von Inszenierung zu Inszenierung variiert, wird sie im Folgenden detailliert beschrieben. Barbara Frey wählt für ihre Inszenierung den relativ kleinen Saal C, der eine Situation der Nähe zwischen Schauspielern und Publikum entstehen lässt. Bühnen- und Zuschauerraum sind durch Abgrenzungen, die an Balkongeländer erinnern, jedoch klar voneinander getrennt. Ihnen kommt eine <?page no="333"?> 333 Sicherheitsfunktion zu, denn die Zuschauerränge beginnen oberhalb der arenaartigen unteren Spielfläche und steigen nach hinten hin an. Die Zuschauer blicken somit von oben auf die Vorgänge in der Arena. Der Boden der Arena ist mit Sägespänen bedeckt und ruft dadurch die Assoziation einer Zirkus-Manege wach. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die dort präsentierten Choreographien, die mehr einstudierten Nummern als Theaterszenen gleichen, so zum Beispiel die Fahrradchoreographien, die im Zuge der Aufführung an Komplexität gewinnen und ihren Schwierigkeitsgrad bis ins Artistische steigern. Am Ende der Aufführung bilden acht Darsteller auf einem Fahrrad eine Menschenpyramide. Unter dem Beifall des beeindruckten Publikums fahren sie aus der Arena und benutzen dabei einen Bühnenausgang, der unter den Zuschauerrängen liegt. Das Verschwinden der Fahrradakrobaten in einem tunnelartigen Gang erinnert an die Raumsituation von Stadien. Gegen die Zirkus- und Stadion-Assoziationen spricht jedoch die Kargheit des Raumes, die ein Gefühl der Ungeborgenheit hervorruft. Weder Prunk noch Farbe schmücken ihn. Auf Dekoration wird vollkommen verzichtet. Nach hinten begrenzt eine halbrunde betonfarbene Wand die Arena, die die trostlose Stimmung intensiviert. Sechs Türen mit Milchglasfenstern sind in die Wand eingelassen. Sie dienen den Auf- und Abtritten der Schauspieler. Ihre symmetrische Anordnung unterstreicht die Strenge des Raumes. Auch die obere Spielfläche, die sich auf Höhe der mittleren Zuschauerränge befindet und aufgrund identischer Sicherheitsgeländer wie eine Spiegelung der Ränge wirkt, begrenzen unverputzte Betonwände. In seiner Trostlosigkeit erinnert der Gesamtraum damit an funktionale Industriebauten. Durchbrochen wird diese Wirkung durch die Auftritte der Schauspieler auf der unteren Ebene. Während das Paar auf der oberen Spielebene in Schwarz-Weiß-Töne gekleidet ist und damit der tristen Raumwirkung nichts entgegenzusetzen hat, tragen die Schauspieler der unteren Ebene verschiedenfarbige Kostüme, die Gegenpole zum Grau der Betonwände darstellen. Bei den Kleidern der Frauen überwiegen Pastelltöne wie hellblau, cremeweiß, beige und rosa, was auf die Verklärung der Vergangenheit hindeutet. Sie erscheint in sanfteren Farben als die trostlose Gegenwart. Die unterschiedliche Beleuchtung der Spielebenen verstärkt den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart. Auf der Balkonebene dominiert die Dunkelheit. Ein schwacher Lichtspot ist auf das dort sitzende Paar gerichtet. Die Arena ist hingegen außer in den Szenen der Frau im Rokokokleid, die in ein bläuliches Traumlicht getaucht sind, hell ausgeleuchtet. Nicht nur in der Intensität auch in seiner Farbigkeit unterscheidet sich das Licht der oberen Ebene von dem der Arena. Es ist hart und weiß, erinnert in seiner kalten, schonungslosen Wirkung an Neonlicht und steht in deutlichem Kontrast zu dem gelblich-warmen Licht der Arena. Am Ende der Inszenierung lässt sich eine inhaltlich motivierte Angleichung der <?page no="334"?> 334 Lichtverhältnisse beobachten. Arena und Balkon sind nun gleichermaßen in ein schwaches, graues Licht getaucht, das die trostlose Wirkung der unverputzten Betonwände unterstreicht. Die Wahl des Lichts verdeutlicht das Scheitern einer Versöhnung des streitenden Paares. Die in der Arena herrschende Leere zeigt an, dass die Erinnerungen an die gemeinsame glückliche Zeit erloschen sind. Es scheint, als habe der Schatten der Gegenwart sich über die Vergangenheit gelegt. Obwohl Raumgliederung und Lichtregie Kennzeichen einer inhaltlichen Motivation aufweisen, zeigt Barbara Freys Inszenierung deutliche Affinitäten zur Postdramatik. So stellt die Regisseurin ihre Arbeit ganz unter das postdramatische Motto: „Nicht Handlung, sondern Zustände“ 1170 . Bei seiner Umsetzung greift sie zu einer visuellen Dramaturgie, die sich den postdramatischen Prinzipien der Repetition, der Duration und der Beschleunigung verschreibt. Fünf wortlose Bildsequenzen, die man mit den Überschriften „Das Fahrrad“, „Die Frau im Rokokokleid“, „Der Koffer“, „Das Liebespaar“ und „Die fegende Frau“ übertiteln könnte, werden ohne erkennbaren Zusammenhang aneinandergereiht und in einer Art Endlosschleife präsentiert. Man fühlt sich an eine auf Bilddurchlauf gestellte Diashow erinnert. Lange Momente des Stillstands lassen einen vorübergehend vergessen, dass es sich bei Barbara Freys Bilderreigen um bewegte Bilder handelt. Manche der Bilder sind musikalisch unterlegt. Das ihnen zugeordnete Musikmotiv steigert den Wiedererkennungswert des Bildes, wie das Beispiel der Frau im Rokokokleid verdeutlicht, deren Auftritt von einer leisen Pianomusik begleitet wird. Die Raumerfahrung, die ein solcher repetitiver Bilderreigen hervorruft, besitzt eine typisch postdramatische Qualität, wie das folgende Lehmann-Zitat verdeutlicht: Der postdramatische Raum »dient« nicht mehr dem Drama, auch nicht in einer politisierenden Aktualisierung. Vielmehr wird umgekehrt der Theatervorgang zur wesentlich bildräumlichen Erfahrung. 1171 Jedes der szenischen Bilder zeichnet sich durch seinen ästhetischen Eigenwert aus, der sich gerade nicht aus der Eingliederung in ein Erzählganzes speist. So sind die einzelnen Bildsequenzen als unabhängige Kunstwerke zu betrachten, die sich nicht zu einem logischen Ganzen zusammenfügen lassen. Man hat es mit einem „unsynthetisierbaren, unkontrollierten und unkontrollierbaren Ablauf“ 1172 zu tun, der in seiner Wirkung der von Lehmann beschriebenen „negativen postdramatische[n] Version des Erhabenen“ entspricht: 1170 Lehmann 1999, S. 113. 1171 Ebd., S. 292. 1172 Ebd., S. 336. <?page no="335"?> 335 Wir erleben das eintönige Rauschen einer Brandung von Zeichen, die sich ihres Mitteilungscharakters entleert haben und nicht mehr als Teil einer poetischen, szenischen, musikalischen Werkganzheit zusammenzugreifen sind: negative postdramatische Version des Erhabenen. 1173 Im Verlauf der Inszenierung tauchen in den verschiedenen Sequenzen Variationen auf. Die Endlosschleife wird durchbrochen, die repetitiven Abläufe verändern sich. Es kommt zu Verdoppelungen der Bildelemente: Statt eines Fahrradfahrers sind es plötzlich zwei, später sogar drei. Ebenso verhält es sich mit den anderen Bildsequenzen. Ihre Konstituenten werden verdoppelt, verdreifacht, im Fall der Frau im Rokokokleid sogar vervierfacht. Darüber hinaus lassen sich Verknüpfungen der verschiedenen Bildsequenzen beobachten: Eine hereinstürzende Frau mit Koffer stört das Liebespaar, vier Frauen in Rokokokleidern überraschen einen Fahrradfahrer, ein Liebespaar zwei fegende Frauen. Frey setzt ein wahres Bilderkarussell in Gang, das sich immer schneller und schneller dreht und nicht mehr zu stoppen scheint. Der schnelle Wechsel der Bilder lässt sich auf das postdramatische Prinzip der Beschleunigung zurückführen, mit dem die Postdramatik Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen sucht und eine Überforderung des Zuschauers provoziert. Die Art und Weise, in der sich die alten Bildmotive verändern und mit neuen mischen, erinnert an die Komposition einer Fuge: Nachdem das musikalische Thema in einer Stimme eingeführt ist, wird es durch neu einsetzende Stimmen aufgenommen, verändert oder aber mit einem zweiten Thema verknüpft. Ist die Fuge einmal in Gang gekommen, so läuft sie ohne Unterbrechung bis zum Ende durch. Häufig kommt es zu Engführungen, in denen sich die verschiedenen Stimmen mischen und übereinander türmen. Ihre bildliche Entsprechung findet die Engführung in der Menschen umrennenden Frau mit dem Koffer und in der Menschenpyramide. Die Wiederholung der Anfangsbilder am Ende der Inszenierung kann mit der Rückkehr zur Ausgangstonart gleichgesetzt werden. Das Bilderkarussell fährt nun langsamer und findet in einer Reihe von Verabschiedungen seine Schlusskadenz. Der langsam verebbende Bilderreigen kündigt das Ende des Streitgesprächs auf der Dialogebene an. Bild- und Wortebene scheinen somit bei aller Zersplitterung dennoch miteinander verbunden zu sein. Dies belegen zum einen die inhaltlichen Übereinstimmungen: Sowohl der Dialog als auch die Choreographien auf der Bildebene kreisen um ein Fahrrad und einen Koffer. Zum anderen entsprechen sich die Geschehnisse auf beiden Ebenen in ihrer Dynamik. So folgt auf das harkende Ordnen des Bühnenbelags stets ein Moment der Annäherung, während die hereinstürzende Frau mit dem Koffer und das Fahrrad Ele- 1173 Ebd. <?page no="336"?> 336 mente der Störung darstellen und zur Aufhebung der Harmonie zwischen den Figuren beitragen. Anhand der Anfangsszene, in der ein Fahrradfahrer in weiten Kreisen über die untere Spielfläche fährt, lässt sich die Verquickung von Bild- und Wortebene besonders gut vor Augen führen. Mit seinem Kreisen überführt der Fahrradfahrer das Schwelgen der Figuren in den gemeinsamen Erinnerungen in ein Bild. Sein plötzliches Abbremsen und das rasante Hinausfahren aus der Arena, das von dem Geräusch eines Aufpralls begleitet wird, kann mit dem Aufschrecken der Figuren aus ihren Erinnerungen gleichgesetzt werden. Die Wiederholungen und Doppelungen der Bildsequenzen lassen sich in diesem Zusammenhang als Verweis auf die Intensität der Erinnerungsbilder verstehen. Immer wieder vergessen die Figuren die Gegenwart und geben sich ganz dem Bilderkarussell der Erinnerungen hin. Die Spuren, die die Fahrräder im Streubelag der Bühne hinterlassen, können als Verweis auf die Kraft der Erinnerungen ausgelegt werden. Sie verdeutlichen, wie tief sich die Bilder des Fahrrads und des Koffers in das Gedächtnis der Figuren eingegraben haben. Als Versuch der Befreiung aus dem Sog der Erinnerungen lässt sich hingegen die Bildsequenz der fegenden Frau deuten. Während des Harkens nimmt die Bühne den Charakter eines Zen-Gartens an. In der Lehre des Kare-san-sui bedeutet das Harken das Ordnen der Seele, die Seele soll ins Gleichgewicht gebracht werden. Der geharkte Zen-Garten symbolisiert den geordneten, ruhigen und disziplinierten Idealzustand der Seele. In Übertragung auf die Handlung im Stück kann das Harken als ein Moment des Innehaltens verstanden werden, in dem die Figuren versuchen, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Im Unterschied zur beruhigenden Wirkung der harkenden Frau stellt der Koffer, wie oben bereits angemerkt, ein Element der Störung dar. Wie das Abbremsen des Fahrrads, so holt auch die hereinstürzende Frau mit dem Koffer die Figuren aus der verklärten Vergangenheit zurück in die Wirklichkeit. Das Auftauchen des Koffers zerstört die Harmonie auf beiden Spielebenen. So treibt er nicht nur die sich küssenden Liebespaare in der Arena auseinander, sondern sorgt auch für ein abruptes Ende des Liebesspiels auf der oberen Ebene. Die Reaktionen der Paare auf der oberen und der unteren Ebene entsprechen einander: Die unteren Paare stieben auseinander und verlassen die Arena zu verschiedenen Seiten und auch das obere Paar trennt sich und nimmt weit voneinander entfernt liegende Plätze ein. Das Beispiel des Koffers verdeutlicht somit noch einmal die bestehenden inhaltlichen Parallelitäten zwischen beiden Ebenen. Vom synergetischen Zusammenspiel der Abläufe auf den zwei Ebenen zeugt auch die synchrone Gestaltung von Höhepunkten. Als der Streit der Figuren seinen Höhepunkt erreicht und kurz vor der Eskalation steht, kommt es auch in der Bildkomposition auf der unteren Spielfläche zu einem Höhepunkt: Acht Schauspieler bilden auf einem Fahrrad eine Menschenpyrami- <?page no="337"?> 337 de und fahren aus der Arena. Es folgen ein Black und das Geräusch eines Aufpralls. Das Geräusch suggeriert das Umkippen der Menschenpyramide und bedeutet in Übertragung auf den Streit die Eskalation. Von diesem Punkt an wird das Bilderrad zurückgedreht und die Anfangsbilder werden noch einmal gezeigt. Von der Äquivalenz der Stimmungen auf der oberen und der unteren Ebene zeugen auch die Abschiedssequenzen, die das Auseinandergehen der Figuren auf der oberen Spielebene einleiten. Während die Flut an wortlosen Bildsequenzen, deren Abläufe durch die permanente Wiederholung Ritualcharakter gewinnen, typisch postdramatisch anmutet, zeugt die Eingliederung der Bilder in einen zwar losen, aber dennoch erkennbaren narrativen Rahmen von einem dramatischen Gestaltungswillen. Die Rückbindung der zeremoniellen Bildsequenzen an den Inhalt des Dialogs widerspricht dem postdramatischen Kampf gegen die Vorherrschaft des Textes. In Abgrenzung zur Postdramatik, die sich vom Text lossagt, hält Frey sich eng an Schimmelpfennigs Textvorlage. So zeugt selbst die Dominanz des postdramatischen Prinzips der Repetition von der Texttreue ihrer Inszenierung, denn Schimmelpfennig gibt die repetitiven Abläufe vor. In der Detailliertheit der szenischen Anweisungen unterscheidet sich „Vor langer Zeit im Mai“ deutlich von radikal postdramatischen Stücken, die auf solche konkretisierenden Angaben völlig verzichten und den Raumentwurf dem performativen Akt überantworten, ihn also ganz in die Hände der Schauspieler legen. 1174 Ein Beispiel für einen typisch postdramatischen Text, der sich nur noch als Materialangebot, nicht aber als Vorgabe versteht, stellt „4.48 Psychosis“ von Sarah Cane dar. 1175 Im Unterschied zu Cane gibt Schimmelpfennig die Choreographien der wortlosen Abläufe in seinem Text vor. Barbara Frey nimmt die Vorgaben des Autors ernst und setzt die meisten seiner Nebentextangaben eins zu eins um. Lediglich am Ende ihrer Inszenierung gibt es größere Abweichungen, da die Dialogebene des Textes um einige Repliken ergänzt wird. In ihrer Textgebundenheit widerspricht Freys Inszenierung somit der postdramatischen Forderung nach einem „Ende der Hierarchie des Textes“ 1176 . Abweichungen von der postdramatischen Theorie lassen sich auch im Umgang mit Sprache beobachten. Den sprachlichen Mitteln kommt trotz ihrer durch den Text vorgegebenen Reduktion eine bedeutende Rolle zu. Denn dort, wo Sprache zum Einsatz kommt, präsentiert sie sich nicht als 1174 Lehmann: Just a word on a page and there is the drama. In: Arnold, Dawidowski (Hgg.) 2004, S. 28. 1175 Ebd., S. 28-33. 1176 Ebd., 13. <?page no="338"?> 338 „autonome Theatralik“ 1177 , sondern als Figurenrede und wird auch von Barbara Frey als solche inszeniert. So verteilt die Regisseurin die Dialogfetzen, wie im Text vorgegeben, auf eine weibliche Schauspielerin und ihr männliches Pendant. Zwar ist das Sprechen der Figuren stark elliptisch, doch trotz der Unvollständigkeit der Sätze lassen sich Restnarrationen ausmachen. Ein Mann und eine Frau treffen sich nach einer Zeit ohne Kontakt wieder und sprechen über die gemeinsame Vergangenheit, in der ein Fahrrad und ein Koffer von Bedeutung waren. Man kann somit weder von einer „Entpsychologisierung“ 1178 der Figuren noch von einer „Entthronung der Sprachzeichen“ 1179 sprechen. Zwar werden Mann und Frau in ihren Aussagen nie konkret, sondern verlieren sich in Andeutungen, aber das ins Stück integrierte Lied ermöglicht die Dechiffrierung ihres bruchstückhaften Dialogs. Es ist in sich kohärent und erzählt die Geschichte einer verloren gegangenen Liebe. Sprache erfährt hier keine Desemantisierung im Stile von Jelineks Sprachflächen-Ästhetik. Der Text fungiert weiterhin als Sinn gebende Instanz. Davon zeugen auch die hinzuerfundenen Dialogpassagen am Ende der Inszenierung, die Synthesecharakter besitzen. Frey lässt die Schauspieler sämtliche Bruchstücke ihres Dialogs noch einmal wiederholen und zu einem Streitgespräch zusammenfügen. Mit der erfundenen Streitsituation liefert sie die Erklärung für die Zerstückelung des Dialogs, denn die beiden Streitenden unterbrechen einander permanent. Mit Empörung und Fassungslosigkeit reagieren sie auf die Darstellung des Gegenübers und suchen sich zu rechtfertigen. Es scheint, als könnten sie das Gehörte nur schwer glauben, weshalb sie es mehrfach wiederholen. Der Versuch, einen Konsens zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. Die Inszenierung endet mit einer wortlosen Verabschiedung, die durch eine vorangegangene räumliche Distanzierung vorbereitet wird: Als die Figuren erkennen, dass sie zu keiner Einigung kommen werden, verstummen sie, verbergen das Gesicht in den Händen oder blicken ins Leere und erheben sich schließlich von ihren Sitzplätzen. Von der Mitte des Balkons aus gehen sie zu seinen Außenrändern und nehmen in maximaler Distanz zueinander ein letztes Mal Platz, als wollten sie die Tragweite des nächsten Schrittes damit verdeutlichen. Dann verlassen sie den Bühnenraum in entgegengesetzten Richtungen und markieren damit das Ende der Inszenierung klar und deutlich. Die Zuschauer beginnen bereits zu klatschen, bevor der Bühnenraum abgedunkelt ist. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Während die Handlungsarmut, der non-hierarchische Zeichengebrauch, der Verzicht auf Verweise, die Verwendung einer repetitiven Bildersprache und das Fehlen 1177 Lehmann 1999, S. 14. 1178 Ebd., S. 161. 1179 Ebd. <?page no="339"?> 339 eines logisch strukturierten Ablaufs von einer starken postdramatischen Prägung der Freyschen Inszenierung zeugen, stehen die gewissenhafte Umsetzung von Schimmelpfennigs Nebentextangaben und die Wahrung des Dialogs als Form der Rede im Widerspruch zu den postdramatischen Forderungen nach einer Befreiung aus der Vorherrschaft des Textes und nach Polylogie. 1180 Frey praktiziert in ihrer Inszenierung zwar die Enthierarchisierung der Theaterzeichen, nicht aber die völlige Loslösung vom Text. Der narrative Rahmen einer Geschichte mit Figurenkonflikt bleibt bei aller Zerstückelung der Zeichen dennoch erkennbar. Die Sprache erfährt keine Desemantisierung, sondern bleibt Träger von Sinn. Der Dialog, das Kernstück dramatischen Theaters, wird entmachtet, aber nicht völlig verabschiedet. Er behält eine zentrale Stellung im Meer der gleichberechtigten Theaterzeichen. Durch die hinzuerfundenen Dialogpassagen stellt Frey nicht nur die Bedeutung der Dialogebene heraus, sondern erleichtert dem Zuschauer auch die Synthetisierung der Dialog-Bruchstücke. Indem sie dem Zuschauer eine solche Orientierungshilfe bietet, zeigt die Regisseurin mehr Willen zur Geschlossenheit als Schimmelpfennig selbst. Der Phantasie des Zuschauers sind aber dennoch keine Grenzen gesetzt. Das Ausschmücken der Umstände, die zum Aufeinandertreffen der Figuren geführt haben, sowie die Deutung der Erinnerungsbilder, allen voran des Koffers und des Fahrrads, bleiben jedem Zuschauer selbst überlassen. Und auch die Zukunft des Paares ist ungewiss: Zwar gehen sie am Ende der Inszenierung getrennte Wege, doch steht es jedem Zuschauer zu, sich eine Fortsetzung ihrer Geschichte auszumalen. Die Wahrung eines narrativen Rahmens bedeutet somit nicht zwangsweise eine Einschränkung der Deutungsspielräume. Was Barbara Frey in ihrer Inszenierung praktiziert, kann als produktive Verknüpfung von Postdramatik und Dramatik beschrieben werden. 5.13. Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte Neben „Die arabische Nacht“ gehört auch „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ zu den Stücken, in denen sich Schimmelpfennigs Vorliebe für märchenhafte Elemente besonders stark niederschlägt. In „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“ ist es das uralte Märchenmotiv vom finsteren, verwunschenen Wald, das der Autor aufgreift. Die Figuren verlaufen sich in ihm und verwandeln sich schließlich selbst in Bäume. Wie in „Die arabische Nacht“ so werden auch hier elementare zeitliche und räumliche Gesetze außer Kraft gesetzt. 1180 Vgl. Lehmann 1999, S. 13, 263. <?page no="340"?> 340 Beide Stücke zeugen von Schimmelpfennigs Fähigkeit, Geschichten ins Unwahrscheinliche zu steigern. Es scheint, als suche er den von der Moderne verabschiedeten Glauben an das Übernatürliche zu reaktivieren, indem er surreale Elemente in seine Stücke einflicht. Ebenso märchenhaft und verwunschen wie die Handlung des Stückes präsentiert sich auch der Raum, den der Bühnenbildner Thomas Dreißigacker für die Mainzer Uraufführung des Stückes am 25.04.1998 unter der Regie von Hartmut Wickert entworfen hat. Geheimnisvoll wirkt schon die Eröffnungsszene, in der auf der stockdunklen Bühne zunächst nur vier einsame laternenartige Lichter zu sehen sind, die sich bei aufgeblendetem Licht als Baustellenleuchten entpuppen. Gemäß dem Stücktitel lässt Regisseur Hartmut Wickert die Bühne des Staatstheaters in zwei Bereiche untergliedern: den Bereich der Stadt und den des Waldes. Die zwischen beiden Welten bestehenden Oppositionen werden durch die Größe der ihnen zugewiesenen Raumabschnitte zum Ausdruck gebracht. Während der Bereich der Stadt räumlich auf die Vorderbühne begrenzt ist, nimmt der Wald die gesamte Hauptbühne ein und wirkt schier unbegrenzt - ein Eindruck, der zum einen durch die auf der Bühne herrschende Dunkelheit hervorgerufen wird, zum anderen durch eine auf der Hinterbühne positionierte Projektionsfläche, auf der immer wieder unheimliche Schattenspiele zu sehen sind. Da die Größe der Schatten variiert, sie mal riesenhaft groß und mal winzig klein erscheinen, erweitern sie den Raum nach hinten. Im Unterschied zur Eingrenzung des Stadtraumes auf den Bereich der Vorderbühne, die Wickert durch eine selektive Beleuchtung unterstreicht, ist das Ende des Waldes für den Zuschauer nicht klar erkennbar. Es liegt im Ungewissen. Die scheinbare Unendlichkeit des Waldraumes sowie die unheimliche Wirkung der undefinierbaren Schatten korrespondieren mit den Aussagen der Figuren im Text, wie anhand von zwei Beispielen belegt werden soll: KATHARINA […] Der Wald ist riesig, und überall lauert Gefahr! 1181 ULRICH In einer knappen Stunde sei ich an der Busstation, und immer geradeaus! Jetzt geht die Sonne auf, die Bäume werfen lange Schatten, und immer noch ist kein Saum des Grüns abzusehen! 1182 Bedrohlich präsentiert sich der Wald auch in Wickerts Inszenierung. Bei seinem ersten „Auftritt“ in Szene I, 2, bemächtigt er sich der Stimmen von Holzfäller Ernst und Schreiner Wilhelm und verwandelt sie in ein finsteres Grollen. Auch ihre Schatten macht er sich zu eigen und verzerrt sie riesenhaft. Die Macht des Waldes findet darüber hinaus darin ihren Ausdruck, 1181 ASW, S. 237. 1182 ASW, S. 264. <?page no="341"?> 341 dass er die schlafwandelnden Städter anzulocken vermag. Mit ihren Baustellenleuchten in der Hand wirken sie auf der dunklen Bühne wie Irrlichter, die dem Ruf des Waldes folgen und sich damit in ihr Verderben stürzen. Wie das Beispiel verdeutlicht, flicht Wickert traditionelle Sagenmotive in seine Inszenierung ein, um das geheimnisvolle Potential von Schimmelpfennigs Text auf der Bühne sichtbar zu machen. Die Opposition von Stadt und Wald spiegelt sich nicht nur in der Größe des ihnen zugeteilten Bühnenbereichs, sondern auch in der konträren Ausstattung beider Räume. Sparsamkeit und Symmetrie kennzeichnen die Raumordnung der Vorderbühne, Vielfalt und Chaos die des Waldes. Der Gegensatz zwischen dem geordneten Kulturraum Stadt und dem wilden, ungeordneten Naturraum Wald findet in der Gestaltung der Bühne seinen Ausdruck. Auf der Vorderbühne ist die Dekoration äußerst reduziert: Sie umfasst vier Holzstühle, die in gleichmäßigem Abstand parallel zur Rampe aufgestellt sind. Am linken Bühnenseitenrand hängt eine großgeblümte Tapetenrolle vom Bühnenhimmel herab, die eine Zimmerwand andeutet. Sie fungiert als Verweis auf die Innenraumsituationen der Stadtszenen. Darüber hinaus kann sie als Zeichen der zivilisierten Welt gedeutet werden. Auf Zivilisation und Fortschritt deuten auch die elektrischen Baustellenleuchten hin, mit denen die Städter ausgerüstet sind, während die Waldbewohner Ernst und Wilhelm eine Öllampe benutzen. Die Reduktion der Zeichen des Raumes auf der Vorderbühne steht in hartem Kontrast zu der Fülle an räumlichen Zeichen, die auf der Hauptbühne zum Einsatz kommen. Den Wald deutet Thomas Dreißigacker durch eine Vielzahl von kreuz und quer übereinandergelegten Holzbrettern an, die an Holzstege erinnern. Mit der Gestaltung der Hauptbühne als Bretterwald referiert der Bühnenbildner auf den Text, denn die Figuren im Stück suchen im Wald nach geeigneten Brettern für den neuen Bühnenboden ihres abgebrannten Theaters. Auch die chaotisch wirkende Übereinanderschichtung der Bretter ist inhaltlich motiviert. Mit ihr verweist der Bühnenbildner auf den ungeordneten, labyrinthischen Charakter des Waldes und sein verworrenes Wegenetz. Warnungen vor der tückischen Dichte des Waldes und seinen Irrwegen durchziehen den Text. So droht der böse Waldgeist Ilse denen, die zu tief in den Wald vordringen: ILSE Wer sich zu tief in diesen Wald verläuft, der findet aus dem Wald nicht mehr heraus. 1183 Wie das Zitat verdeutlicht, hält sich der Bühnenbildner bei der Gestaltung des Bühnenbildes eng an den Text. Davon zeugt auch die Wandelbarkeit des Bretterwaldes, mit der Dreißigacker wiederum einer Aussage des Waldgeistes Rechnung trägt: 1183 ASW, S. 241. <?page no="342"?> 342 ILSE […] der Wald ändert sich immerfort - 1184 Im Verlauf des Stückes wird das Bretterlabyrinth auf der Bühne durch senkrecht hängende Holzplanken ergänzt. Sie fallen aus dem Schnürboden und gleichen in ihrer vertikalen Ausrichtung endlosen Baumstämmen. Je weiter die Figuren in die Tiefe des Waldes vordringen, desto mehr werden es. Am Ende von Szene II, 3 wirken die sich herabsenkenden vertikalen Stämme wie die Gitter eines Gefängnisses. Das Bild deutet daraufhin, dass Heide und Peter den Wald nicht mehr verlassen, sondern, in Bäume verwandelt, auf ewig in ihm gefangen sein werden. Ilse macht aus ihrer Drohung Ernst, weshalb der gute Waldgeist Bruno sie verflucht: BRUNO Du wirst es büßen, böse Ilse, bitter büßen! Es ist deine Schuld! 1185 Die permanente Metamorphose des Bretterwaldes wird folglich auch in Wickerts Inszenierung vom bösen Waldgeist Ilse gelenkt. Der Bühnenwald verändert sich aber nicht nur durch das mysteriöse Hinzukommen von Planken, die ohne fremdes Zutun aus dem Bühnenhimmel fallen, sondern auch durch das aktive Eingreifen des Waldgeistes. In Szene II, 4 baut sich Ilse aus einem der auf der Bühne liegenden Bretter eine Schaukel, indem sie es an den Seilzügen des Schnürbodens befestigt. In der Schlussszene der Inszenierung legen dann all die Figuren Hand an den Wald, die in Bäume verwandelt wurden. Sie bringen die vertikalen Holzplanken zu Fall. Durch das anschließende Rezitieren berühmter Theatertexte heben sie die Doppeldeutigkeit der nun horizontal angeordneten Bretter hervor. Sie konstituieren nicht nur den Wald im Stück, sondern stellen darüber hinaus einen ständigen Verweis auf die Bretter des Theaters dar, nach denen man auf der fiktionalen Ebene des Stückes sucht und auf denen man auf der außerfiktionalen Ebene der Aufführung spielt. Die Tatsache, dass die Figuren auf der Suche nach den Bühnenbrettern permanent über solche laufen, wirkt grotesk-komisch. Nicht nur die Mobilität der Bretter auch zwei transparente, auf Schienen befestigte Vorhänge in der Bühnenmitte, ermöglichen es, Gestalt und Wirkung des Waldraums zu verändern. Sie wandern wie von Geisterhand gelenkt über die Bühne und verstärken auf diese Weise die gespenstische Stimmung, die die Waldszenen charakterisiert. Ihre Bedeutung ist nicht eindeutig festgelegt. Je nach Beleuchtung wirken sie entweder wie dichtes Blattwerk, durch das die Figuren sich ihren Weg bahnen müssen, oder wie zarte Nebelschwaden, die den dahinter spielenden Szenen etwas Unscharfes, Geheimnisvolles geben. Mitunter ist nur einer der Vorhänge zu sehen. So zum Beispiel in Szene I, 4: Der rechte Vorhang flattert hier wie eine Liane im Wind und verleiht dem Bretterwald damit Dschungelcharakter. 1184 ASW, S. 242. 1185 ASW, S. 250. <?page no="343"?> 343 Doch dienen die Vorhänge nicht nur dem Stimmungsaufbau, sondern stellenweise auch der Markierung von Szenenwechseln. Sie büßen ihre traditionelle Funktion im Theater somit nicht gänzlich ein: Durch ihr Öffnen und Schließen wird die Aufführung in Szenen untergliedert. Noch häufiger verhüllen die Vorhänge aber die Auf- und Abgänge der Figuren. So tauchen die Waldschrate Ernst und Wilhelm in den Waldszenen stets wie aus dem Nichts auf, da einer der wandernden Vorhänge ihren Auftritt verbirgt. Auch ihre Abgänge werden auf diese Weise mystifiziert. Der Vorhang dient somit einerseits der Mystifizierung des Waldraumes, andererseits verweist er wie auch die Bretter auf die Metaebene des Stückes. Unterschiedliche Raumwirkungen rufen auch die oben erwähnten Schattenspiele auf der Projektionsfläche im Hintergrund hervor. Zum einen bringen sie die düstere, unheimliche Seite des Waldes zum Ausdruck, zum andern visualisieren sie die Phantasien der Figuren. So erscheint in Szene II, 6, in der Wilhem seinem Freund Ernst von einer schönen Schauspielerin erzählt, die er einst im Theater gesehen und seitdem nie vergessen hat, der schemenhafte Umriss einer nackten Frau auf der Leinwand. Das Bild flackert auf und verschwindet immer wieder, was als Verweis auf die Zerbrechlichkeit und das Zittern der Frau gedeutet werden kann: WILHELM Sie war so zart, beinahe durchsichtig, so zerbrechlich und verzweifelt. ERNST Ja. WILHELM So stand sie da, zitternd […] 1186 Das Beispiel stellt einen weiteren Beleg für die Texttreue der Wickertschen Inszenierung dar. Eine Konkretisierung des Raumes erfolgt auch über die Aktionen der Figuren. Mit Sprache, Gestik und Mimik laden sie den Raum auf und geben ihm seine jeweilige Bedeutung. So deuten die Darsteller der Figuren Hans und Katharina Dunkelheit, Dichte und Bedrohlichkeit des Waldes durch vorsichtige Schritte und spähende Blicke an. Voller Achtsamkeit setzen sie einen Fuß vor den anderen, nehmen geduckte Körperhaltungen ein und schlängeln sich an unsichtbaren Sträuchern vorbei, so als sei das Brett, auf dem sie gehen, ein schmaler überwucherter Pfad. Immer wieder halten sie inne, horchen und blicken mit weit aufgerissenen ängstlichen Augen um sich, als wollten sie sich vor im Dickicht lauernden Gefahren schützen. Die unheimliche Atmosphäre, die sie durch ihr stummes Spiel aufbauen, wird durch ihre Worte noch verstärkt: HANS Hab keine Angst, Liebste. KATHARINA Doch - 1186 ASW, S. 260. <?page no="344"?> 344 HANS Ich bin bei Dir. KATHARINA Wenn wir nur wüßten, wo wir sind! HANS Es ist zu dunkel, um den Weg zurückzufinden. Komm, komm her zu mir. 1187 Die Referenz auf „Hänsel und Gretel“ ist an dieser Stelle unverkennbar. Verstärkt wird die märchenhafte Gruselstimmung durch den Einsatz von Musik und Licht. Musik besitzt in Hartmut Wickerts Inszenierung eine konkretisierende, illusionistische Funktion. So werden die von den Figuren beschriebenen Geräusche, wie zum Beispiel das Pfeifen in den Leitungen, 1188 hörbar gemacht. Auch den bedrohlichen Charakter des Waldes bringt Wickert klanglich zum Ausdruck. Als musikalisches Motiv für den Wald wählt der Regisseur, in Anlehnung an die Aussagen der Figuren, eine Mischung aus sphärischen Glockenklängen, unheimlichen Tierlauten, verstörenden Atemgeräuschen und schrillen metallenen Tönen. Indem Wickert dem Wald eine Stimme gibt, referiert er auf den Text. Denn in Schimmelpfennigs Textgrundlage finden sich etliche Personifizierungen des Waldes. So warnt Holzfäller Ernst seinen Freund Wilhelm in Szene I, 2 eindringlich vor der „furchtbaren Eifersucht“ des Waldes. 1189 Wickert bringt die Personifizierung des Waldes nicht nur durch die Wahl eines musikalischen Motivs zum Ausdruck, sondern auch durch die perspektivisch verzerrten Schatten der Schauspieler, die auf der Projektionsfläche im Bühnenhintergrund zu sehen sind. In ihren vertikalen Verzerrungen wirken sie wie eine Symbiose aus Mensch und Baum und verweisen damit auf die im Wald stattfindenden Verwandlungen von Menschen in Bäume, auf die auch eine Aussage der Figur Anne hindeutet: ANNE […] Ich denke oft im Wald, dass jemand da ist und niemand ist zu sehen. 1190 Während die Holzbretter und die transparenten Vorhänge dem Wald ein Gesicht geben, verleihen ihm Schatten und Musik eine eigene Identität. Daher leitet Wickert die Waldszenen oft durch sie ein. Obwohl diese eingeschobenen wortlosen Szenen, in denen musikalische und visuelle Verfahren dominieren, eine Unterbrechung der Handlung bedeuten, führen sie nicht zu einer Enthierarchisierung der Sprache und einer damit einhergehenden Autonomisierung der außersprachlichen Mittel. Musik- und Bildgestaltung stehen ganz im Dienste des Textes und bewirken den Aufbau einer bedrohlichen Atmosphäre, die der semantischen Tiefenstruktur des Textes entspricht. Ihr Einsatz hat folglich keine dekonstruktivistische, son- 1187 ASW, S. 251. 1188 ASW, S. 227, 235. 1189 ASW, S. 232. 1190 ASW, S. 230. <?page no="345"?> 345 dern eine psychologisierende spannungssteigernde Funktion. Dem Aufbau von Spannung ist auch die Lichtregie verpflichtet. In der Mehrheit der Szenen dominiert Dunkelheit den Bühnenraum. Durch den reduzierten Einsatz von Licht sucht Wickert die unheimliche Stimmung auf der Bühne zu verstärken. Wie Bühnenbild und Musik so steht auch die Beleuchtung ganz im Dienste des Textes. Das Substantiv „Dunkelheit“ und das dazugehörige Adjektiv „dunkel“ gehören zu den festen Attributen des Waldes. Immer wieder berichten die Figuren in Schimmelpfennigs Textgrundlage von der bedrückenden Dunkelheit des Waldes. So auch Ernst, der den Mangel an Licht dafür verantwortlich macht, dass er und sein Freund Wilhelm ihre Frauen verloren haben: ERNST Das lag nicht an der Eifersucht - das lag an diesem Leben hier im Wald, in Einsamkeit und Dunkelheit und Stille - das lag daran, dass beinahe kein Sonnenstrahl durch das dichte Blattwerk dringt. 1191 Von der illusionistischen Funktion der Lichtregie zeugt auch die Öllampe, mit der Wickert die Figuren Ernst und Wilhelm ausstattet. Ihr flackernder Schein lässt die Dunkelheit des restlichen Bühnenraums noch massiver erscheinen. Sie steht darüber hinaus für die Naturverbundenheit der Waldbewohner und zeugt damit von einem Inszenierungskonzept, das sich dem Bühnenrealismus verschreibt. Realistisch gestaltet ist auch die Kostümierung der Figuren. So tragen die Waldschrate lange Rauschebärte, grobe Fellkleidung und Holzstecken, die ihre Zugehörigkeit zum Wald deutlich hervorhebt. Die Kostüme der übrigen Figuren sind eher unauffällig und lassen nicht auf einen bestimmten Menschenschlag schließen. Lediglich ihre Perücken oder Kopfbedeckungen wirken extravagant. Sie erleichtern die Unterscheidung der verschiedenen Charaktere. Dies ist deshalb besonders wichtig, weil Wickert die zehn Rollen im Stück auf sechs Schauspieler verteilt. Die unter den Augen der Zuschauer vollzogenen Rollen- und Kostümwechsel bedeuten einen Bruch in der sonst so illusionistischen Inszenierungsweise. Sie lassen sich jedoch mit dem Märchencharakter des Stückes rechtfertigen, denn in Märchen sind doppelte Identitäten und Verwandlungen von Menschen in Waldgeister nichts Ungewöhnliches. Man kann folglich nicht von einer Aufhebung der Kohärenz im Sinne postdramatischer Verfahren sprechen. Vielmehr gelingt es dem Regisseur durch die Doppelung der Rollen, den märchenhaft verwunschenen Charakter von Schimmelpfennigs Stück offenzulegen. Dem Aufbau einer märchenhaften Stimmung verschreibt sich auch die Traumszene, mit der Wickert seine Inszenierung beginnen lässt. In ihr 1191 ASW, S. 234. Hinweise auf die Dunkelheit des Waldes finden sich darüber hinaus auf S. 238, 246, 251, 266. <?page no="346"?> 346 werden die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt. So nutzt der Regisseur die Mobilität theatraler Zeichen und funktionalisiert eine Baustellenleuchte zum Telefon um. Zu Beginn der Szene kauern die Figuren auf den vier in einer Reihe aufgestellten Stühlen und schlafen. Das Setting erinnert an den Dornröschenschlaf. Figur Anne ist die Erste, die erwacht. Ihr Monolog eröffnet das Drama. Nachdem sie ihn gehalten hat, schläft sie wieder ein. Dann schrecken plötzlich alle vier Figuren aus dem Schlaf hoch. Sie stehen auf, wandern auf der Bühne auf und ab und sprechen laut und zusammenhanglos vor sich hin. Wickert lässt sie Dialogversatzstücke aus dem gesamten Stück rezitieren. Das Stimmengewirr mutet postdramatisch an, da es die Klangseite der Sprache in den Vordergrund rückt und nicht ihren Mitteilungscharakter. Der Zerfall der logischen Kohärenz ist jedoch inhaltlich motiviert, denn die Figuren scheinen zu schlafwandeln und nur deshalb nicht Herr ihrer Sprache zu sein. Unmittelbar nach ihrem kurzen Rundgang rollen sie sich wieder auf ihren Stühlen zusammen und schlafen weiter. Traum und Wirklichkeit durchdringen einander in dieser ersten Szene. Wickert geht es folglich nicht darum, die Sprache von ihrer bedeutungsvermittelnden Funktion zu befreien. Sein Ziel ist es vielmehr, eine Märchenatmosphäre aufzubauen, in der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Auch in späteren Szenen der Inszenierung werden Dialogbruchstücke aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und von den Figuren wie eine Art Mantra wiederholt. Es scheint, als erlaube der Regisseur dem Zuschauer in solchen Momenten einen Blick in die Psyche der Figuren, denn die in Endlosschleifen wiederholten Sätze legen ihre innersten Widersprüche offen, wie das Beispiel der Figur Anne verdeutlicht. ANNE […] ich liebe dich allein auf dieser Welt, aber hierbleiben kannst du nicht, unmöglich, tut mir leid. 1192 Doch stellen Rollenwechsel nicht den einzigen Illusionsbruch in Wickerts Inszenierung dar. Von antillusionistischer Wirkung ist auch der offene Einsatz der Bühnentechnik. So bleibt der technische Apparat des Theaters dem Zuschauer bei der Umgestaltung des Bretterwaldes nicht verborgen: Waldgeist Ilse hängt ihre Bretterschaukel an einen der Züge des Schnürbodens, der zu diesem Zweck vor den Augen der Zuschauer heruntergelassen wird. In der Schlussszene wird der Blick hinter die Kulissen noch ausgeweitet. Sämtliche Züge des Schnürbodens werden sichtbar. Die märchenhaft-illusionistische Wirkung, die Wickerts Inszenierung prägt, wird somit am Ende zugunsten einer Ausstellung der technischen Seite des Theaters aufgelöst. 1192 ASW, S. 231. <?page no="347"?> 347 In ihrer klaren Orientierung an der Textvorlage zeichnet sich Wickerts Inszenierung als traditionell dramatische aus. Die dramatischen Prinzipien Textdominanz, Figurenkonflikt, Totalität der Handlung und Repräsentation von Welt bilden die Grundlage von Wickerts Inszenierung. Der Dialog bewahrt seine zentrale Stellung. Es kommt nur in kurzen Traumsequenzen zu einer Aufhebung der stilistischen und logischen Kohärenz der Rede. Den Kriterien der Einheit und der Synthesis wird somit keine generelle Absage erteilt. Die räumliche Konzeption von Wickerts Inszenierung zeugt von der Anwendung des metaphorisch-symbolischen Raumbegriffs des dramatischen Theaters, denn das Bedeutungsspektrum des Raumes ist eindeutig festgelegt. Dies lässt sich anhand der klaren Gliederung der Bühne in die Bereiche von Stadt und Wald nachweisen. Der Raum wird folglich nicht aus dem Signifikantendienst befreit. Er steht im Dienst der Textsemantik, 1193 wie die Gesamtheit der zum Einsatz kommenden Theatermittel in Wickerts Inszenierung. Der Raum ist folglich nicht „Bruchstück der Lebenswirklichkeit“ der Zuschauer, sondern „separiertes Symbol einer Welt als Totalität“. 1194 Wickerts Inszenierung stellt den Entwurf einer fiktionalen Welt dar. Auch in der eindeutigen Markierung von Anfang und Ende orientiert sich Wickert an der dramatischen Tradition und setzt sich damit von der Postdramatik ab. 1195 Indem er der ersten und der letzten Szene seiner Inszenierung die gleiche Dramaturgie gibt, weist er ihnen die Funktion eines Rahmens zu und betont die Abgeschlossenheit der Bühnenhandlung. 5.14. Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ gehört zu den rätselhaftesten unter Schimmelpfennigs bisher erschienen vierunddreißig Stücken. So schreibt auch der Theaterkritiker Peter Michalzik in Erinnerung an den Besuch der Uraufführung am 4. April 1996 im Werkraum der Münchner Kammerspiele: Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid - der Titel war zunächst so befremdlich wie das Stück unverständlich. Trotzdem spielten da fünf Schauspieler und sprachen einen Text, den sie, da bin ich mir heute einigermaßen sicher, genauso unverständlich fanden wie ich. Sie versuchten eine Welt herzustellen, die wahrscheinlich die meisten hinter oder in diesen Worten ahnten, vielleicht spürten, von der aber niemand wusste, wie sie aussehen sollte. […] In einer kleinen Kritik hatte ich, wenn ich mich recht erinnere, geschrieben, daß die Sprache 1193 Lehmann 1999, S. 292. 1194 Ebd., S. 288. 1195 Ebd., S. 464. <?page no="348"?> 348 »einigermaßen heutig« sei. Die Kritik war jetzt in keinem Archiv mehr zu finden. Eines aber weiß ich sicher noch: Ich war diesem Stück gegenüber mindestens genau so hilflos wie alle anderen. 1196 Wie das Zitat verdeutlicht, erleichtert Peer Boysens Inszenierung den Zugang zu Schimmelpfennigs Stück nicht. Es ist schier unmöglich, zwischen den einzelnen Szenen des Stückes, die Boysen übergangslos hintereinander weg spielen lässt, einen Zusammenhang zu erkennen. Den dramatischen Prinzipien der Einheit und der Synthesis wird eine klare Absage erteilt. Obwohl die Rezeptionssituation im hundertsiebzig Personen fassenden Werkraum von Nähe und Übersichtlichkeit geprägt ist, erscheint das Bühnengeschehen fern und entrückt. Daran kann auch die Aufhebung der ästhetischen Distanz in den Szenen der fünf arbeitslosen Schauspieler, die nicht auf dem Bühnenpodest, sondern direkt vor der ersten Zuschauerreihe spielen, nichts ändern. Vielmehr sorgt das Verwischen der Grenze zwischen fiktivem und realem Raum für eine zusätzliche Verunsicherung der Zuschauer. Zu einer solchen Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und realem Theatererlebnis kommt es gleich zu Beginn der Inszenierung. In der Eröffnungsszene stehen vier Schauspieler, drei Männer und eine Frau, in einer Reihe vor dem vorderen Vorhang. Nachdem sie eine Weile schweigend und tatenlos vor dem Vorhang gewartet haben, setzt der links außen stehende Schauspieler mit seiner ersten Replik ein. Doch kommt er nicht weit. Kaum hat er begonnen, hört man aus dem Off hinter der Bühne eilige Schritte näher kommen. Der Schauspieler hält inne, tritt zur Seite und wartet, bis seine heraneilende Kollegin ihren Platz eingenommen hat, um dann noch einmal von vorne mit seinem Text zu beginnen. Für den Zuschauer stellt sich die Frage, ob das Zuspätkommen der Schauspielerin Teil des Stückes ist oder eine reale Panne darstellt, denn vor Beginn der Aufführung betritt ein unbekannter privat gekleideter Mann die Bühne und flüstert dem Schauspieler, der das Stück mit seiner Replik eröffnen muss, etwas ins Ohr. Unklar bleibt, ob er den Schauspieler von der realen Verspätung der Kollegin in Kenntnis setzt oder ob sein Auftritt Teil der fiktiven Bühnenhandlung ist. Für den Zuschauer ist es in diesem Moment unmöglich, Fiktion und Realität auseinanderzuhalten. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der dargebotenen Handlung stellt sich hier ein erstes Mal und wird durch den enigmatischen Charakter des Textes noch verstärkt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Schauspieler in Boysens Inszenierung den verschlüsselt wirkenden Text sprechen, der sich jeglicher Sinn- Zuweisung widersetzt, erinnert an das absurde Theater von Samuel Beckett. Wie in „Glückliche Tage“ oder „Warten auf Godot“ reden die Figuren auch in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ permanent aneinander vorbei. Das Kuriose daran ist: Sie reagieren keineswegs ver- 1196 Peter Michalzik im Vorwort zu: Schimmelpfennig 2004, S. 7. <?page no="349"?> 349 wundert auf die rätselhafte Rede des Gegenübers, sondern scheinen sie zu verstehen. Dem Zuschauer hingegen bleibt der Sinn ihrer Worte verborgen. Obwohl die Sätze, die die Figuren voller Überzeugung sagen, vertraut klingen, lassen sie sich nicht dechiffrieren. Sie widersetzen sich jedweder Logik und können folglich nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt werden. Die Sprache hat ihren Mitteilungscharakter verloren, präsentiert sich aber dennoch als Figurenrede. Sie wirkt desemantisiert. Es scheint, als sprächen die Figuren eine Geheimsprache, deren Code nur Eingeweihten vertraut ist. Die Unverständlichkeit der Dialoge mag darin begründet liegen, dass es sich nicht um die traditionelle dramatische Form der dialogischen Rede handelt, sondern um eine neue Art des Dialogs, wie die „1. Schauspielerin“ in der mit „III.“ überschriebenen Szene erklärt: 1. SCHAUSPIELERIN […] Der Dialog ist längst nicht nur eine Form des sprachlichen Ausdrucks. Das ist er auch nie gewesen. Und warum sollen wir länger Gefühle und Gedanken trennen! 1197 Gedanken, Gefühle und Erinnerungen der Figuren verschmelzen zu verworrenen Redebeiträgen, in denen die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt werden. Wie sehr die Dialoge von Emotionen geleitet werden, verdeutlicht Szene IV, 1, in der „Die junge Frau im Frühlingskleid“ ihren Gesprächspartner den „Mann in Arbeitskleidung“ erschießt. 1198 Im Unterschied zur Postdramatik, die den Dialog durch polyloge Stimmchoreographien abzulösen versucht, 1199 kommt ihm in Boysens Inszenierung trotz seiner Verschlüsselung ein bedeutender Stellenwert zu. Nicht nur der Umgang mit Sprache, auch die Illusionsbrüche, die zur Entstehung grotesk-komischer Wirkungen führen, erinnern an das absurde Theater. So heißt es im Eingangsdialog, die Schauspieler stünden vor dem alten roten Hauptvorhang des Theaters, während sie in Wirklichkeit vor einem transparenten Gaze-Vorhang stehen. Von antiillusionistischer Wirkung ist auch die Frage „Was hat er denn im Arm -“ 1200 , mit der „Die junge Frau im Frühlingskleid“ in Szene II, 1 den Auftritt des „Mann[es] aus dem alten Gesindehaus“ kommentiert, denn in Boysens Inszenierung sind seine Arme leer. Absurd wirkt auch die Erschießungsszene, in der „Die junge Frau im Frühlingskleid“ lange mit einem Revolver auf den „Mann in Arbeitskleidung“ zielt, bei der tatsächlichen Erschießung dann aber den Revolver sinken lässt und den Schuss gestisch mit der anderen Hand ausführt. 1197 KA, S. 118. 1198 KA, S. 118-121. 1199 Vgl. Lehmann, S. 261-263. 1200 KA, S. 105. <?page no="350"?> 350 Einer Dechiffrierung widersetzt sich auch die Raumkonzeption der Inszenierung. Sie zeugt von äußerster Reduktion und gibt daher keinerlei Anhaltspunkte für eine mögliche Deutung des Stückes. Indem Boysen auf eine Konkretisierung des Raumes durch den Einsatz bedeutungsvermittelnder räumlicher Zeichen wie Dekoration, Requisite oder Licht verzichtet, verstärkt er den rätselhaften Charakter des Stückes. Die aus einem rechteckigen Podest bestehende Bühne, in deren Mitte sich eine quadratische Vertiefung befindet, ist gähnend leer. Zwei Holzstühle stellen neben dem oben erwähnten Revolver die einzigen Requisiten dar, die in Boysens Inszenierung zum Einsatz kommen. Sie sind meist in der Bühnenmitte positioniert. Die statische Wirkung des Raumes wird durch eine unspezifische und flächige Beleuchtung verstärkt, die während der gesamten Inszenierung nicht variiert. Damit verweigert nicht nur die Sprache den Signifikantendienst, sondern auch der Raum. Der Einsatz von transparenten Gaze- Vorhängen, die den Raum konturlos und weich erscheinen lassen, steigert die mysteriöse Wirkung des Bühnengeschehens. Die Bühnenvorgänge gewinnen durch sie etwas von der Unschärfe von Träumen. Die Vorhänge begrenzen die Bühne zu allen vier Seiten. Während die seitlichen Vorhänge lediglich als Bühnenseitenbegrenzung fungieren und kaum zur Geltung kommen, bilden die anderen zwei den konstanten Hintergrund der Szenen. Mal wird vor ihnen gespielt, mal hinter ihnen. Mal ist der geteilte vordere Vorhang geschlossen, mal ist er geöffnet und gibt den Blick auf den durchgehenden hinteren Vorhang frei, hinter dem die Umrisse eines zweiseitigen Treppenaufgangs und einer Wand mit zwei dunklen torartigen Öffnungen zu erkennen sind. Obwohl die Vorhänge räumliche Variationen ermöglichen, so stellen sie dennoch keine Interpretationshilfe dar. Wie der Text, so entzieht sich auch der Raum einer eindeutigen Bedeutungszuweisung. Boysens Inszenierung verschreibt sich der Reduktion der Zeichen. So sind nicht nur die Zeichen des Raumes auf ein Minimum beschränkt, Sparsamkeit prägt auch den Umgang mit kinesischen und nonverbalen akustischen Zeichen. Das Spiel der Schauspieler ist von Statik gekennzeichnet. Bewegungen werden aufs Äußerste reduziert. Meist verharren die Darsteller immobil im Raum und rezitieren ihren Text, ohne ihn durch Mimik und Gestik zu stützen. Während sich die Mehrheit der Zeichen ihrer bedeutungsvermittelnden Aufgabe entledigt, kommt den realistisch gestalteten Kostümen eine konkretisierende Funktion zu. Sie weisen den Figuren ihre Identitäten zu, denn Schimmelpfennigs Textgrundlage verzichtet auf eine konkrete Namensgebung. So trägt „Die junge Frau im Frühlingskleid“ in Boysens sonst so zeichenarmer Inszenierung tatsächlich ein lindgrünes, ärmelloses Kleid, das frühlingshaft wirkt, und wird dadurch als solche identifizierbar. Von illusionistischer Qualität ist auch die Kleidung des „Mann[es] in Arbeitskleidung“. Er trägt eine dunkelbraune Arbeitshose und eine gleichfarbige <?page no="351"?> 351 funktionale Weste mit etlichen Taschen. Die Identität der „Frau auf dem Land“ wird durch einen Strohhut angezeigt. Die Kleidung des „Mann[es] aus dem alten Gesindehaus“ und des „Mann[es] am Kanal“ ist hingegen unspezifisch und ermöglicht keine Rückschlüsse auf ihre Identität. Obwohl die Befreiung der Sprache von ihrer bedeutungsvermittelnden Funktion, ihre Loslösung aus dem Netz semantischer Verknüpfungen der postdramatischen Idee einer Autonomisierung der Sprache entspricht, trifft die Bezeichnung postdramatisch auf Boysens Inszenierung nur ansatzweise zu. Denn trotz ihrer Desemantisierung bleibt die Hierarchie der Sprache unter den Theatermittel erhalten. Damit ist nach Lehmanns Definition der Schritt zum postdramatischen Theater noch nicht vollzogen: […] das Theater des Absurden gehört wie das Brechts zur dramatischen Theatertradition. Einige Texte sprengen den Rahmen dramatischer und narrativer Logik. Aber erst wenn die Theatermittel jenseits der Sprache in Gleichberechtigung mit dem Text stehen und systematisch auch ohne ihn denkbar werden, ist der Schritt zum postdramatischen Theater getan. Daher wäre nicht von einer »Fortführung« des absurden und epischen Theaters [Poschmann 1997, S. 183] im neuen Theater zu sprechen, sondern der Bruch zu bezeichnen, daß sowohl das epische als auch das absurde Theater mit unterschiedlichen Mitteln an der Präsentation eines fiktiven und fingierten Text-Kosmos als Dominante festhalten, das postdramatische Theater nicht mehr. 1201 Wie das Zitat belegt, unterstreicht Lehmann die Zugehörigkeit des absurden Theaters zur dramatischen Tradition und setzt sich damit gezielt von Gerda Poschmann ab, die in der Unterwanderung der dramatischen Form eines der Hauptmerkmale absurden Theaters sieht und es damit zur Vorstufe postdramatischen Theaters macht. 1202 Lehmann hingegen geht nicht von dieser Kontinuität aus, sondern betont den Bruch zwischen absurdem, epischem und postdramatischem Theater. In ihrem Festhalten an der Präsentation einer vom Text entworfenen fiktiven Welt und der damit einhergehenden Orientierung an der dramatischen Tradition unterscheidet sich Boysens Inszenierung folglich von postdramatischen Theaterformen. Sie verschreibt sich der Repräsentation von Welt, auch wenn es sich bei der abgebildeten Wirklichkeit um eine absurde Welt handelt. Die dramatischen Prinzipien der Narration und der Figuration werden durch die Aufhebung der logischen Kohärenz der Rede entmachtet, aber nicht gänzlich abgeschafft. In den Gesprächen der Figuren lassen sich bei aller Verschlüsselung thematische Schwerpunkte ausmachen, wie die Arbeitslosigkeit der Schauspieler, der Gegensatz von Stadt und Land, die Macht der Natur, eine vergangene Liebe und ein geheimer Auftrag, der ins asiatische Hinterland führt. Es sind Restnarrationen er- 1201 Lehmann 1999, S. 89. 1202 Poschmann 1997, S. 183. <?page no="352"?> 352 kennbar. Oft kommt es zum Aufbau einer Erzählsituation, die in der Proxemik der jeweiligen Szene ihren Ausdruck findet: So sitzt „Der Mann in Arbeitskleidung“ bei seinem langen Bericht in Szene II, 4 wie ein Geschichtenerzähler auf einem Stuhl, während „Der Mann am Kanal“ neben ihm kniet und ihm gebannt zuhört. Die Dominanz der Rede, die die Münchner Inszenierung kennzeichnet, zeigt sich hier sehr deutlich. Von einer Gleichberechtigung der Theatermittel kann bei Boysen somit nicht gesprochen werden. Es kommt weder zur Aufwertung visueller Verfahren noch zur Exposition reiner Körperlichkeit. Auch auf Musikalisierungen wird verzichtet. Die Sprache definiert die Figuren, auch wenn sie kryptisch ist. Sie tritt folglich nicht als „autonome Theatralik“ 1203 im Stile von Jelineks Sprachflächen auf, sondern bewahrt ihre traditionelle dramatische Funktion: Als Figurenrede ist sie der Darstellung eines fiktiven Kosmos verpflichtet. 5.15. Fazit der Inszenierungsanalysen Wie die Inszenierungsanalysen gezeigt haben, stellt das Erzählen einer Geschichte das zentrale Anliegen aller genannten Regisseure dar. Man mag, wie die Theaterwissenschaftler Andreas Englhart und Jörg von Brincken, darin eine Reaktion auf die gesellschaftliche Verunsicherung durch Terroranschläge sehen, 1204 oder aber den Ausdruck eines alten menschlichen Bedürfnisses: Die Sehnsucht nach Geschichten, die die Welt erklären, hat die Menschen zu jeder Zeit erfüllt. Indem sie das Erzählen einer fiktionalen Geschichte ins Zentrum rücken, die von fiktiven Figuren getragen wird und sich als verdichtetes Abbild der Wirklichkeit präsentiert, offenbaren sich die analysierten Inszenierungen als ein mimetisch-fiktionales, repräsentationales Theater, das den Text als bedeutenden Bestandteil des Theaterprozesses betrachtet. Die von Lehmann abgesetzten Kategorien Drama, Handlung und Nachahmung werden retabliert. Der Raumentwurf des Autors wird ernst genommen und in theatrale Zeichen übersetzt. Lehmanns These von einer abnehmenden Dominanz des Textes im Sprechtheater konnte mit Blick auf die untersuchten Inszenierungen widerlegt werden, 1205 da sie alle von einer Aufwertung des Textes im Theater zeugen. So ist selbst eine so postdramatische Inszenierung wie „Vor langer Zeit im Mai“ von Barbara Frey von Texttreue gekennzeichnet und offenbart damit die zentrale Bedeutung, die der Text in den analysierten Theaterarbeiten einnimmt. Auch Szenen, in denen Zustände die Handlung er- 1203 Lehmann 1999, S. 14. 1204 Von Brincken, Englhart 2008, S. 98. 1205 Vgl. Lehmann 1999, S. 89, 263. <?page no="353"?> 353 setzen oder es zur Ausstellung von Körperlichkeit kommt, weisen eine semantische Beziehung zum Text auf. Von einer konventionalisierten postdramatischen Inszenierungspraxis kann mit Blick auf die analysierten Regiearbeiten folglich nicht die Rede sein, vielmehr schenken die Regisseure dem Text wieder mehr Aufmerksamkeit und bemühen sich, wie Schimmelpfennig es ausdrückt, „in das Herz der Sache vorzudringen“ 1206 . Eine völlige Verabschiedung der dramatischen Kategorien Handlung, Figur und Repräsentation von Welt, wie Lehmann sie konstatiert, findet sich in keiner der Inszenierungen. Die dramatischen Grundprinzipien Mimesis und Fiktion bewahren in zeitgenössischen Theaterinszenierungen einen bedeutenden Stellenwert. 1207 Auch im 21. Jahrhundert präsentiert sich das Theater somit als Entwurf von Welt. Der erzählerische Duktus der Inszenierungen und der häufige Griff zum Mittel des Illusionsbruchs erinnern an das epische Theater von Bertolt Brecht. Im Unterschied zu Brecht erzählen zeitgenössische Regisseure mit ihren Arbeiten jedoch nicht mehr eine große Geschichte, sondern viele kleine. In der Zerstückelung der Handlung in etliche Erzählsplitter kann man ein postmodernes, respektive postdramatisches Erbe sehen. Doch gehen die Regisseure der untersuchten Inszenierungen in der Ablehnung von Konzepten der Einheit und der Synthesis längst nicht so weit wie radikale Vertreter der Postdramatik. Zeitgenössische Regisseure streben, wie es scheint, in ihren Arbeiten vielmehr die Verknüpfung von postdramatischen und dramatischen Verfahren an als die Ablehnung der einen oder der anderen Theorie. So kommt es durch den Einsatz postdramatischer Verfahren der Musikalisierung und der Visualisierung zwar zu Unterbrechungen der narrativen Kontinuität, nicht aber zur Dekonstruktion der Fabel. Regisseure wie Jürgen Gosch verstehen es, die postdramatischen Prinzipien der Repetition, der Duration und der Beschleunigung in einen Erzählrahmen einzugliedern. Ihr Einsatz dient folglich nicht dem Sinnentzug, sondern der Verdichtung und dem Spannungsaufbau. Von einer Eingliederung der Bühnenvorgänge in den narrativen Rahmen einer Geschichte zeugen auch die analysierten Raumentwürfe. Obwohl die große Mehrzahl der Inszenierungen von einer Reduktion der Zeichen des Raumes gekennzeichnet ist - Ausnahmen bilden „Ende und Anfang“ und „Push-Up 1-3“ - nutzen sie ihn zur Herstellung semantischer Bezüge. In den Inszenierungsanalysen zu „Der goldene Drache“ und 1206 Transkription eines Videobeitrags: Anna Postels, Matthias Weigel: Videobeitrag anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2009 an Jürgen Gosch und Johannes Schütz. ZEIT online, 6. Mai 2009. In: www.theatertreffen-blog.de/ tt09/ tag/ jurgen-gosch/ 1207 Lehmann hingegen konstatiert die Überwindung und Abschaffung der Prinzipien der Mimesis und der Fiktion. In: Lehmann 1999, S. 71, 170. <?page no="354"?> 354 „Vorher/ Nachher“ wurde aufgezeigt, wie es den Regisseuren gelingt, die Zeichenhaftigkeit des Theaters auszustellen und die Mobilität der Theaterzeichen zu nutzen. Die Homogenität des Raumes wird zugunsten von heterogenen Spielfeldern aufgegeben, ohne jedoch seine Signifikanz zu opfern. Der Raum bleibt „Symbol einer Welt als Totalität“ 1208 . Er besitzt eine bedeutungsvermittelnde Funktion. Durch die starke Reduktion der Zeichen gewinnen die zum Einsatz kommenden Requisiten und Dekorationselemente an Bedeutung. Im Zusammenspiel mit Mimik, Gestik und Proxemik konstituieren sie die jeweilige Bedeutung des Raumes, die der Text vorgibt. Dem Text kommt die Aufgabe zu, leere Bühnen zu füllen und den mobilen Theaterzeichen Bedeutungen zuzuweisen. Im Spiel der Schauspieler wird der leere Raum zum bedeutungserzeugenden System. Damit erteilen zeitgenössische Regisseure trotz der beschriebenen Reduktion und Atomisierung der theatralen Zeichen den Kriterien der Einheit und der Synthesis, die das dramatische Theater kennzeichnen, keine Absage. Auch wenn die Inszenierungen die Grundprinzipien dramatischen Theaters aufrechterhalten und sie mehr oder weniger intensiv nutzen, verfolgen sie das Ziel, Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen. Während die Postdramatik versucht, den Zuschauer durch Überforderung und Schock zu einer neuen Sehweise zu führen, gehen die Regisseure der analysierten Inszenierungen dabei behutsamer vor. Ihre Methode ist die Reduktion, die sich in den Raumentwürfen widerspiegelt. Schimmelpfennig selbst äußert sich zur Bedeutung der Reduktion wie folgt: SCHIMMELPFENNIG Die Reduktion läßt den Zuschauer bestimmte Teile selbst zusammensetzen, entdecken, abwägen. Exemplarisch findet sich das in „Die Frau von früher“. Das ist ein dialogischer Umgang mit dem Zuschauer. Es geht darum, die Geschichte so zu erzählen, daß man dem Zuschauer die Chance läßt, das Geschehen abzugleichen, zu überprüfen. Ich mag Theater als offenes System. 1209 Wie die häufigen Wendungen zum Publikum in den analysierten Inszenierungen belegen, gibt es bei zeitgenössischen Regisseuren wieder den Dialog mit dem Zuschauer. Die aufgezeigten Verknüpfungen von realem und fiktivem Raum sind im Sinne der Brechtschen Verfremdungsfunktion zu deuten. Die Regisseure verfolgen das Ziel, den Zuschauer zu einer Distanzierung vom Bühnengeschehen zu bewegen und ihn damit zu einer vertieften Reflexion zu führen. Auf diese Weise soll er aktuelle Bezüge erkennen. Durch direkte Ansprachen, Raumaufteilungen und Lichtregie, die von gewohnten Theaterkonventionen abweichen und eine Situation der Nähe 1208 Lehmann 1999, S. 288. Für das postdramatische Theater postuliert Lehmann hingegen die Dominanz eines metonymischen Raumbegriffes. In: Ebd., S. 287-289. 1209 „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 242. <?page no="355"?> 355 entstehen lassen, wird der Zuschauer zum Mitspieler. Seine Einbeziehung in das Bühnengeschehen dient der Aktivierung. Durch das Verschwimmen der Grenze zwischen realem und fiktivem Raum kommt es folglich zu Durchbrechungen der metaphorisch-symbolischen Raumordnung, nicht aber zu ihrer Zerstörung. Der Repräsentationscharakter des Theaters wird trotz Brüchen und Diskontinuitäten nicht in Frage gestellt. <?page no="356"?> 356 6. Schlussbetrachtung Ein Autor wird zum Dramatiker, indem er auf der Bühne erzählt, oder seine Figuren erzählen lässt. Sven Hanuschek 1210 Diese kurze Definition, die der Germanist Sven Hanuschek in seiner Arbeit zum Dramenwerk von Heinar Kipphardt bereitstellt, trifft das Schaffen von Roland Schimmelpfennig im Kern. Für ihn wie auch für andere zeitgenössische Autoren 1211 rückt das Erzählen von Geschichten wieder in den Blickpunkt des Interesses. Das Theater wird mehr und mehr zum Ort eines Erzählakts. Auch Regisseure wie Jürgen Gosch messen dem Vorgang des Erzählens im Theater neue Bedeutung bei. Die Parameter Text, Figuren und Handlung erfahren eine Aufwertung. Damit einher geht die Wiederkehr eines semantisierten Raumes, der Handlung und Figuren determiniert, denn um eine Geschichte erzählen zu können, bedarf es eines Raumes, der diese konstituiert. Der Raum stand daher im Fokus der vorliegenden Untersuchung. Die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten modalen und medialen Raumanalysen belegen: Sowohl auf der Ebene des Textes als auch auf der Ebene der Aufführung besitzt der Raum eine bedeutungsvermittelnde und sujetbildende Funktion und nähert sich damit wieder dem metaphorischsymbolischen Raumbegriff dramatischen Theaters an. Schimmelpfennigs Theatertexte zeugen von einem wieder erstarkten Vertrauen in das Prinzip der Mimesis und der dramatischen Situation. Bei aller Bühnenpoesie ist es für Schimmelpfennig immer die Situation, die zählt. 1212 Hinter der Forderung nach einem Theater der Situation verstecken sich die Kritik am Regietheater und der Wunsch nach Werktreue. Von den Regisseuren seiner Dramen verlangt der Autor, dass sie die Sprache und die Situation erkennen und annehmen, die seine Texte vorgeben und nicht versuchen, diese mittels einer von ihm als aggressiv empfundenen Phantasie zu ändern. Der 1210 Sven Hanuschek: „Ich nenne das Wahrheitsfindung“. Heinar Kipphardts Dramen und ein Konzept des Dokumentartheaters als Historiographie. Bielefeld 1993, S. 65. 1211 Siehe S. 11 dieser Arbeit. 1212 Mit dem Eintreten für ein Theater der Situation tritt Schimmelpfennig das Erbe Jean Paul Sartres an, der schon im November 1947 die Rückbesinnung auf ein Theater der Situation forderte. Vgl. Sartre: Für ein Situationstheater. In: ders. 1979, S. 40. <?page no="357"?> 357 Text ist für Schimmelpfennig ohne das Zutun des Regisseurs funktionstüchtig. Schimmelpfennigs Stücke wurzeln in dem Glauben, Welt in erzählbare Strukturen überführen zu können. Damit gliedern sie sich in eine gattungsübergreifende Entwicklung in der europäischen Literatur ein, die Vera Nünning als „Rückkehr der Narration“ beschreibt. 1213 Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bricht sich ein neuer Realismus Bahn. Er verschreibt sich der Verknüpfung von Tradition und Experiment. In eben diesem Brückenschlag liegt die Besonderheit von Schimmelpfennigs Theatertexten begründet. Der Autor versteht es, dramatische und postdramatische Elemente kunstvoll zu verschmelzen. Seine Stücke stehen somit einerseits in der Tradition dramatischen Theaters, verschließen sich andererseits aber auch nicht gegenüber innovativen Neuerungen und Formexperimenten. Betrachtet man die oftmals fragmentarische oder collageähnliche Form von Schimmelpfennigs Stücken, so kann eine postmoderne respektive 1214 postdramatische Prägung nicht negiert werden. Der Pluralismus der Erscheinungsformen, die Verschiedenheit der etlichen miteinander kombinierten Szenen, ihr Fragmentcharakter und die Zitatstruktur in Stücken wie „Das Reich der Tiere“ muten postdramatisch an und zeugen von einer Beeinflussung durch die postmoderne Theorie. Denn laut Wolfgang Welsch liegt Postmoderne dort vor, „wo ein grundsätzlicher Pluralismus der Verfahrensweisen praktiziert wird.“ 1215 Schimmelpfennigs Stücke sind von Heterogenität geprägt. Erzählt wird nicht die eine große Geschichte, sondern die Stücke zerfallen in etliche Erzählstränge. Jede Figur erzählt ihre eigene kleine Geschichte. Die Vielzahl an Erzählerstimmen ruft die postmodernen Prämissen der Diversität und der Vielfalt in Erinnerung. Wie die Analysen dieser Arbeit belegen, zeugen nicht nur die Haupttexte in Schimmelpfennigs Theatertexten von einer „Koexistenz des Heterogenen“ 1216 , sondern auch die Nebentextanweisungen des Autors weisen unauflösbare Kontradiktionen auf und stellen unvereinbare Entwürfe einander gegenüber. Trotz dieser dekonstruktivistischen Tendenzen handelt es sich bei Schimmelpfennigs Theatertexten aber nicht um willkürlich aneinandergereihte Einzelszenen, es gibt einen verknüpfenden Rahmen, einen roten Faden, der die Vielzahl an Szenen bzw. Erzählerstimmen zusammenhält und ordnet. Oftmals ist es der Raum, der eine solche Kohärenz sichernde Funktion übernimmt. In einem Stück wie „Die Frau von frü- 1213 Nünning: Beyond Indifference. In: Beyond Postmodernism 2003, S. 250. 1214 Die vorliegende Arbeit geht von einem Verwandtschaftsverhältnis von Postmoderne und Postdramatik aus und stimmt darin mit Bernd Stegemann überein, der die Postdramatik als „Kind der Postmoderne“ bezeichnet. Siehe Kapitel 1.3, S. 24. 1215 Welsch: Postmoderne. In: Kemper (Hg.) 1988, S. 15. 1216 Ebd. <?page no="358"?> 358 her“ wird dem Zuschauer die Aufgabe übertragen, die Szenensplitter zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen. Dies geschieht jedoch in Anleitung durch den Autor, der mit seinen Nebentextinformationen die Rekonstruktion einer vorgegebenen Ordnung ermöglicht. Wie dieses Beispiel verdeutlicht, gewinnen die von Postmoderne und Postdramatik abgewerteten Kategorien Autor und Text wieder an Bedeutung. In Abgrenzung zum postdramatischen Theater, das sich der Dekonstruktion des Textes verschreibt, 1217 stellt Schimmelpfennig ihn ins Zentrum des Theaters: SCHIMMELPFENNIG Die entscheidende Grundlage des Theaters ist der Text. Er ist eine Vorlage, ein Gesprächsangebot. Theatermacher müssen hören, was der Text zu sagen hat. 1218 Mit der Dominantsetzung des Textes knüpft Schimmelpfennig an die Tradition dramatischen Sprechtheaters an. Während das postdramatische Theater die Abkehr von Drama, Handlung und Nachahmung propagiert, 1219 zeichnet sich das dramatische Theater durch die Prinzipien „Ganzheit, Illusion, Repräsentation von Welt“ 1220 aus und versucht, ein Modell des Realen zu sein; so auch Schimmelpfennigs Theater: Bei aller Fragmentierung der Handlung präsentiert es sich als Entwurf einer Welt, deren Schöpfer der Autor ist und distanziert sich damit eindeutig von den postdramatischen Forderungen nach einer Ablösung des Repräsentationsprinzips und einer Befreiung aus der Hierarchie des Textes. Wie die Inszenierungsanalysen gezeigt haben, bedeutet diese Aufwertung des Textes aber keine Abwertung der anderen theatralischen Zeichen. Eine Aufführung wie „Der goldene Drache“ zeigt, welche entscheidende Rolle Proxemik, Mimik und Gestik bei der Konstitution von Schimmelpfennigs dramatischen Welten einnehmen. Der Text fungiert nur als Gerüst, er entmachtet die übrigen theatralischen Zeichen nicht, sondern stellt im Gegenteil ihre Bedeutung besonders heraus. Der Verweis auf eine außertheatrale Wirklichkeit ist ein zentrales Strukturmerkmal von Schimmelpfennigs Stücken. Wie oben bereits angemerkt wurde, schreibt der Autor sich damit in eine allgemeine Entwicklung ein, von der Postmoderne Abstand zu nehmen. An die Stelle des „deeply felt loss of faith in our ability to represent the real“ 1221 treten die einst ver- 1217 Vgl. Lehmann 1999, S. 263. 1218 Zitiert nach: Gedächtnisprotokoll zur Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, Frankfurter Hof, Mainz, 28.04.2010. 1219 Lehmann 1999, S. 55. 1220 Ebd., S. 22. 1221 Hans Bertens: The idea of the postmodern. A history. London and New York 1995, S. 11. <?page no="359"?> 359 worfenen Kategorien „truth, trust and tact“ 1222 . Die von Postmoderne und Postdramatik postulierte Untauglichkeit des Repräsentationsprinzips zur künstlerischen Bewältigung von Welt wird revidiert, Lyotards Einwand, die Wirklichkeit könne nicht repräsentiert werden, entkräftet. 1223 Der für tot erklärte Autor meldet sich plötzlich wieder zu Wort und wird erneut zum Bezugspunkt literarischer Vermittlung. Die Krise der Repräsentation scheint überwunden. So rückt auch Roland Schimmelpfennig den Ablauf einer Geschichte mit ihrer internen Logik ins Zentrum seiner Theaterarbeit und grenzt sich damit eindeutig von postdramatischen Theaterformen ab. 1224 Es geht ihm darum, die Wirklichkeit erzählerisch zu erfassen, denn für ihn sind Geschichten dafür da, dass sie erzählt werden und wieder erzählt werden: ILSE Das macht doch nichts, dass wir die Geschichte schon kennen, das macht doch nichts. Kurze Pause. Im Gegenteil! Umso besser! Das ist doch das Schöne! Dafür sind Geschichten doch da - dass man sie wieder und wieder erzählt und dass man sie wieder und wieder hört. Kurze Pause. Das ist es doch. 1225 Die etlichen Wiederholungen in Schimmelpfennigs Theatertexten zeugen also von der Lust am Erzählen und sind nicht als Versuch einer „Destrukturierung und Dekonstruktion von Fabel, Bedeutung und Formtotalität“ 1226 zu verstehen, wie sie das postdramatische Theater anstrebt. Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stellt sich folglich nicht mehr die Frage, ob noch erzählt werden kann. Vielmehr muss danach gefragt werden, was und wie man heute noch erzählen kann. 1227 Das Erzählen auf der Bühne impliziert eine Hinwendung zum Publikum. Während Szondi Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Absetzung des Dialogs zugunsten des narrativen Berichts als Verlust des 1222 Hassan: Beyond Postmodernism. In: Stierstorfer 2003, S. 201. 1223 Jean-Francois Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1991, S. 33-48, 48: „Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann.“ 1224 Lehmann macht die Abwendung vom Geschichtenerzählen, von der Illustration einer Fabel zu einem seiner Hauptargumente für das Ausrufen eines Paradigmenwechsels vom dramatischen zum postdramatischen Theater. Vgl. Lehmann, S. 29. 1225 HUJ, Spalte 4, unten. 1226 Lehmann 1999, S. 336. 1227 Vgl. Schneider: Das Licht am Ende des Erzählens. In: Arnold (Hg.) 1988, S. 55: „So sehr die Literatur in ihrer Stoffwahl an eine Handvoll von Archetypen gebunden bleibt, so sehr ist sie auf der Ebene der Darstellung zur permanenten Revolution gezwungen. Deswegen löst sich die Frage, ob man noch erzählen könne, immer wieder in die andere auf, wie man jetzt und hier erzählen kann.“ <?page no="360"?> 360 zwischenmenschlichen Bezugs interpretierte, drängt sich heute eine andere Bewertung auf. Das Hinwenden an das Du des Theaterbesuchers zeugt eher von dem Versuch, den auf der Ebene des inneren Kommunikationssystems verloren gegangenen zwischenmenschlichen Bezug auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems zu retablieren. Wie Goschs und auch Schimmelpfennigs eigene Regiearbeiten belegen, bemühen sich zeitgenössische Regisseure um eine stete Einbeziehung des Zuschauers. Der Rezipient im Saal ersetzt das dramenintern verloren gegangene ansprechbare Gegenüber; er wird zum Gesprächspartner, die Aufführung selbst zum Dialog. Schimmelpfennig nimmt den Zuschauer an die Hand und entführt ihn in fantasievolle und zugleich realistische Welten. In Abgrenzung zur Postdramatik, die Schockerlebnisse und Überforderungen des Zuschauers nicht ausschließt, präsentiert sich sein Theater wie eine geführte Reise, 1228 die zwar Raum für Überraschungen und Abenteuer lässt, niemals aber eine Verunsicherung des Zuschauers beabsichtigt. Vielmehr suchen die Texte des Autors Fragen aufzuwerfen, die dem Zuschauer die Möglichkeit geben, eigene Antworten zu finden. So bleibt der Rezipient trotz der Führung durch den Autor autonom. Schimmelpfennigs Theater lässt sich damit als dialogisches Erzähltheater charakterisieren. Als Leitfrage der vorliegenden Arbeit galt es zu klären, ob und inwieweit dieses Erzähltheater als dramatisch beschrieben werden kann. Da in Schimmelpfennigs Stücken meist erzählt und nicht direkt erlebt wird, widerspricht ihre Anlage dem von Szondi beschriebenen Absolutheitskriterium dramatischen Theaters. 1229 Statt der Darstellung von etwas Primärem und einer absoluten Gegenwartsfolge finden sich in ihnen sekundäre Darstellungsmethoden und Rückblicke. Oftmals ersetzen Berichte und Reflexionen die vorwärtseilende Handlung. Indem der Autor seine Figuren zu Erzählern macht, bricht er mit der aristotelischen Forderung, alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. 1230 Aristoteles fordert explizit die Nachahmung von Handlung, die der Bericht nicht ersetzen darf. 1231 Erhebt man die aristotelische Poetik zum normativen Maßstab dramatischen Theaters, so fällt Schimmelpfennigs Theater wegen seiner narrativen Strukturen heraus. Da ein solcher normierter, denotativer Dramenbegriff den unterschiedlichen Ausprägungen und innovativen Neugestaltungen in der Entwicklung der dramatischen Gattung jedoch 1228 Der Begriff der Reise stammt vom Autor selbst: „SCHIMMELPFENNIG Ich wollte immer Stücke schreiben, bei denen man als Zuschauer mitgenommen wird - wie auf eine Reise.“ Zitiert nach: „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 238. 1229 Vgl. Szondi 1959, S. 14-15. 1230 Vgl. Aristoteles 2003, S. 9. 1231 Vgl. ebd., S. 19. <?page no="361"?> 361 nicht gerecht wird, 1232 verwendet die vorliegenden Arbeit den Poschmannschen Dramenbegriff, der das Drama als eine „repräsentational-fiktionale Gattung“ beschreibt. 1233 Erhebt man das Kriterium der Nachahmung zum Differenzkriterium von dramatischen und nicht-dramatischen Theaterformen, so ist Schimmelpfennigs Theater ein eindeutig dramatisches. Denn seine Dramen sind eine Nachahmung von gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit. 1234 Für eine Charakterisierung als dramatisch spricht auch die Wahrung des Kriteriums der logischen Kohärenz. Obwohl Schimmelpfennigs Dramen häufig Erzählsplittern gleichen und die Narration mitunter fragmentarisch oder gar zerfallen wirken mag, kommt es in der Mehrzahl seiner Dramen nicht zur Suspension von dramatischer und narrativer Logik. Die zahlreichen Einzelszenen werden über Details zu einem dichten Bedeutungsnetz verknüpft. 1235 Oft ist es der Raum, der diese verknüpfende Funktion übernimmt. Ausnahmen bilden die als postdramatisch charakterisierten Stücke „Vor langer Zeit im Mai“ und „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“. Auch „MEZ“ gehört zu dieser kleinen Gruppe von Stücken, in denen dem Vorgang des Erzählens zwar eine zentrale Bedeutung zukommt, nicht aber dem Inhalt des Erzählten. Die Stücke widersetzen sich jeglicher narrativen Logik. Betrachtet man Schimmelpfennigs Gesamtwerk, so zeigt sich ein gänzlich anderes Bild. Was zählt, ist der Inhalt. Dominiert der Inhalt aber über die Form, so scheint es berechtigt, Schimmelpfennigs Theater im traditionellen Sinne als dramatisch zu charakterisieren d.h. als ein Theater der Bedeutung und des Sinnentwurfs. 1236 Davon zeugen auch seine Raumentwürfe, die im Dienste der Textsemantik stehen. Denn wie die in dieser Arbeit durchgeführten semiotischen Analysen gezeigt haben, sind zentrale Konflikte auf der Ebene der Raum- und Zeitelemente verankert. Trotz ihrer Vorliebe für narrative Strukturen lassen sich Schimmelpfennigs Dramen als Zusammenfügung von Geschehnissen und als Nachahmung von Lebenswirklichkeit beschreiben. Sie verzichten folglich nicht auf den Mythos und werden damit einer der zentralen Forderungen von Aristoteles gerecht: 1232 Vgl. Pfister 2001, S. 33. 1233 Siehe S. 13 der vorliegenden Arbeit. 1234 Von einer solchen gesellschaftlichen Funktion des Theaters zeugt das Schimmelpfennig-Zitat auf S. 15 dieser Arbeit. 1235 Zur Bedeutung des Details äußert sich Schimmelpfennig wie folgt: „SCHIMMELPFENNIG Die Geschichte hat ein Detail, und das Detail erzählt eine Geschichte. Ohne das Detail keine Geschichte, auch wenn das Detail mehr erzählt als die Geschichte des Stücks. Das Detail macht ein Fenster auf.“ In: „Theater ist immer Eskalation“. In: Schimmelpfennig 2007, S. 234. 1236 Vgl. Lehmann 1999, S. 26. <?page no="362"?> 362 Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. 1237 Neben dem Mythos stellen die Charaktere für Aristoteles ein wesentliches Strukturmerkmal der Tragödie dar. Von Bedeutung sind sie auch für Schimmelpfennig. Seine Theatertexte zeugen von einer Individualisierung und Aufwertung der Figur. Es handelt sich um psychologisch motivierte Figuren. Mit Ausnahme der entpersonalisiert wirkenden Figuren in „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ und „Vor langer Zeit im Mai“ besitzen sie unverkennbare Identitäten. Der Text ist nicht länger von den Figuren abgekoppelt, wie es im postdramatischen Theater von Robert Wilson der Fall ist, 1238 welcher mit der Entwicklung neuer theatraler Spielformen, der Verabschiedung der Mimesis von Handlung und einer radikalen Erweiterung des Theaterraums die traditionellen Grenzen des Theaters in den achtziger Jahren aufbrach. Wie die „Trilogie der Tiere“ verdeutlicht, stattet Schimmelpfennig seine Figuren mit ganzen Biographien aus, sie sind somit in keinem Fall bloße Textträger, sondern weisen eine deutliche Psychologisierung auf. Es handelt sich um plastisch ausgestaltete „dramatis personae“, deren fortwährende Existenz Lehmann für das „neue Theater“ negiert. 1239 Schimmelpfennig rückt den Menschen mit all seinen Schwächen und Fehlern ins Zentrum seines Theaters. 1240 Damit tritt er das Brechtsche Erbe an, denn für diesen stellt der veränderliche und verändernde Mensch im epischen Theater den Gegenstand der Untersuchung dar. 1241 In ihrer formalen Gestaltung präsentieren sich Schimmelpfennigs Theatertexte hingegen oftmals als Aneinanderreihung zusammenhanglos wirkender Kurzszenen. Eine ordnende, Kohärenz schaffende Funktion übernimmt der Raum: In Stücken wie „Vorher/ Nachher“, „Auf der Greifswalder Straße“, „Ende und Anfang“ und „Der goldene Drache“ fungiert er als narrativer Rahmen und sorgt für den Zusammenhalt der szenischen Architektur. Auch die Figuren sind durch den Raum determiniert. Da der 1237 Aristoteles 2003, S. 23. 1238 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas 2. Von der Romantik bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Tübingen, Basel 1999 [1990], S. 284. 1239 Lehmann 1999, S. 49. 1240 Diese Haltung teilt er mit Gosch und Schütz. In seiner Laudatio auf die beiden sagt er: „SCHIMMELPFENNIG Beide suchen so etwas wie den kürzesten Weg in das Zentrum des Textes. Und im Zentrum des Textes steht bei Gosch und Schütz der Mensch - der Mensch im Stück, also die Figur, und der Mensch auf der Bühne, der Schauspieler. Es geht ihnen um die Abbildung des Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, in all seiner Größe und Jämmerlichkeit, in seiner Komik und in seinem kompletten Elend.“ Zitiert nach: Theater heute 06/ 2009, S. 38. 1241 Vgl. Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt/ M. 1967, 1009f. <?page no="363"?> 363 Raum einen vertieften Zugang zu Schimmelpfennigs Stücken und eine Orientierung in der Vielzahl der Szenen ermöglicht, wurde für diese Arbeit die Methode der semiotischen Raumanalyse gewählt. Abschließend gilt es nun zu reflektieren, inwieweit der Weg über den Raum neue Erkenntnisse im Umgang mit zeitgenössischen Theatertexten erbringen kann. Mit der Analyse von vierzehn Schimmelpfennig-Stücken und ihren Inszenierungen konnte der Nachweis für eine organisierende und verdichtende Funktion des Raumes erbracht werden. Die Ergebnisse belegen, dass sich über die Kategorien Raum und Zeit die Tiefenebene selbst jener Stücke erschließen lässt, die sich traditionellen Analyseverfahren aufgrund ihrer enigmatischen Struktur widersetzen. So offenbart die Raum-Zeitanalyse von „Vor langer Zeit im Mai“ eine dem Stück zugrunde liegende Opposition von negativ konnotierter Gegenwart und positiv konnotierter Vergangenheit, die die Gliederung des Textes in eine dialogische und eine stumme Ebene erklärt. Auf der strukturellen Ebene fungiert der Raum somit als Organisationszentrum des Textes. Die Zeit ist ihm untergeordnet. Auch bei Stücken, die in ihrer äußeren Form traditionell anmuten und sich einer Deutung nicht verschließen, wie „Die ewige Maria“, „Besuch bei dem Vater“, „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, hat sich die Raumanalyse als gewinnbringend erwiesen, da der Raum sympathetische und kontrastierende Funktionen übernimmt und die den Stücken zugrunde liegenden Konflikte verdeutlicht. Wie die Ausführungen zu den räumlichen Oppositionen oben-unten, innen-außen, nah-fern gezeigt haben, werden die den Text tragenden Isotopien in Schimmelpfennigs Stücken auf der Achse der Raumelemente unmittelbar manifest. Die dort verankerten Oppositionen führen zur Entstehung der den Text bestimmenden semantischen Achsen. Der Zugang über den Raum legt somit die zentrale Funktionsweise der Texte offen. Davon zeugen auch die chronotopischen Analysen, in denen eine sujetbildende Funktion des Raumes nachgewiesen werden konnte. Wie die Schauplatzanalysen gezeigt haben, lässt der Raum zum einen Rückschlüsse auf die Anlage der Figuren zu, zum anderen referiert Schimmelpfennig mit der räumlichen Gestaltung seiner Stücke immer auf die außertheatrale Wirklichkeit. Der Raum wird zum verdichteten Abbild heutiger Lebenswelten. Gerade in den jüngeren Texten wird er zum Spiegel von gesellschaftlichen Missständen. Stücke wie „Push Up 1-3“, „Das Reich der Tiere“, „Ende und Anfang“ und „Der goldene Drache“ zeugen von einem wachsenden Interesse an der Auseinandersetzung mit heutigen Arbeitswelten. Auch das Problem der globalen Enträumlichung findet Einzug in Schimmelpfennigs Texte. Indem der Autor Zwischenräume und identitätslose Nicht-Orte wie ein Hotel, ein Schnellrestaurant, einen Aufenthaltsraum und eine Straße zum Schauplatz seiner Stücke macht, ver- <?page no="364"?> 364 arbeitet er aktuelle Themen wie Translokalität, Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Seine Figuren leiden unter Identitätsverlust. Identität vermag nur noch der Raum ihrer Erinnerungen, ihrer Phantasie und ihrer Träume zu stiften. Er wird zum letzten Bezugspunkt in einer entpersonalisierten Welt. Doch steht der Raum in Schimmelpfennigs Stücken nicht immer in Analogie zu der abgebildeten Wirklichkeit. Durch das Einflechten surrealer Elemente erweitert der Autor den Raum und öffnet ihn in Richtung von Phantasie- und Traumwelten, in denen die raum-zeitlichen Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Ein Bild wird zum Tor zu einer anderen Wirklichkeit, ein Kuss entführt in eine arabische Traumwelt. Die vordergründig traditionell erscheinende fiktionale Raum- und Zeitgestaltung dient als Folie für eine märchenhafte Erweiterung des Raumes. Erst eine klare Konstituierung des Raumes macht das Sprengen seiner Grenzen möglich. Es ist die Dichte von Schimmelpfennigs sprachlichen Raumentwürfen, die Dekoration und Requisite für eine Konkretisierung seiner Phantasiewelten auf der Bühne vollkommen überflüssig macht. Der Sprache kommt somit eine bedeutungsvermittelnde Funktion zu; sie ist Träger von Sinn und konkretisiert den oftmals leeren Raum im Zusammenspiel mit Gestik, Mimik und Proxemik der Schauspieler. Indem Schimmelpfennig dekonstruktivistische Ansätze mit traditionellen Methoden des Raumentwurfs verbindet, schafft er aus formalästhetischer Sicht einen neuen Raumbegriff, der zwischen dem metaphorischsymbolischen Raumbegriff des dramatischen Theaters und dem metonymischen des postdramatischen Theaters vermittelt. Der Begriff der Transition bietet sich an. Denn Schimmelpfennigs Räume präsentieren sich als Räume des Übergangs und der Veränderung. Sie oszillieren sowohl formalästhetisch als auch inhaltlich zwischen Innovation und Tradition, zwischen Postdramatik und Dramatik. Durch den Einsatz postdramatischer Verfahren der Diskontinuität und der Collage gewinnen sie trotz der Nutzung traditioneller Verfahren der Raumkonstitution, wie Nebentext und Wortkulisse, einen modernen experimentellen Charakter. Um konventionelle theatrale Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen, greift Schimmelpfennig darüber hinaus zu filmischen Mitteln. So ist die szenische Montage, bei der sich der Bühnenraum in abwechselnd oder synchron bespielte Felder gliedert, 1242 charakteristisch für seine Dramaturgie. Auch die Vielzahl an erzählerischen Rückblicken und Szenenwechseln sind dem Film entlehnt. Sie sorgen für Heterogenität, nicht aber für die Auflösung der Kohärenz, denn sie sind in den narrativen Rahmen eines fiktiven Erzählkosmos eingegliedert und damit Teil eines Ganzen. Da die einzelnen Szenenfragmente nicht referenzlos sind und sich nicht der Synthese ver- 1242 Lehmann 1999, S. 295-299. <?page no="365"?> 365 weigern, kann man nicht von einem postdramatischen Theater sprechen. Auch inhaltlich bewegen sich Schimmelpfennigs Stücke zwischen Tradition und Innovation. Wie die Chronotoposanalyse gezeigt hat, widmen sie sich den alten literarischen Motiven Begegnung, Liebe und Krise und verknüpfen sie mit aktuellen Themen wie Arbeitslosigkeit, Translokalität und Entwurzelung. Schimmelpfennigs Dramatik präsentiert sich folglich nicht nur formalästhetisch, sondern auch inhaltlich als eine Dramatik der Transition. Das Festhalten an den Kriterien der Nachahmung, der fiktionalen Handlung, des konkreten Raumes und der personalisierten Figuren zeichnet sein Theater als ein dramatisches Theater aus. Der Einbruch des Irrationalen, Unerklärlichen, Dekonstruktivistischen und Spielerischen mutet hingegen postdramatisch an. Damit entzieht sich Schimmelpfennigs Theater einer eindeutigen Zuordnung. Es strebt nach Veränderung und Bewegung, wie der Autor selbst betont: SCHIMMELPFENNIG Es geht in meinen Texten um Veränderung, um Bewegung - und sei es eine Bewegung, die die Figuren verhindern möchten. 1243 Wie die Analysen der vorliegenden Arbeit gezeigt haben, bewegt sich Schimmelpfennigs Theater zwischen Postdramatik und Dramatik, schafft also den Spagat zwischen Tradition und Innovation. 1243 „Theater ist immer Eskalation“. 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Vom harten Pflaster der Hauptstadt in wohlige Münchner Bürgerwelten: Roland Schimmelpfennig „Auf der Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater Berlin und Händl Klaus’ „Dunkel locken- <?page no="376"?> 376 de Welt“ in den Münchner Kammerspielen - Uraufführungen von Jürgen Gosch und Sebastian Nübling. In: Theater heute 03/ 2006, S. 4-7. ders.: Wuttkes Mangel oder Schwierige Geschichten. Nach dem Engagement ist vor dem Erzählen - Einblicke in die Sinnhaushalte der dramatischen Jahresproduktion. In: Theater heute Jahrbuch 2008, S. 80. Winko, Simone: Einführung: Autor und Intention. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hgg.): Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs: Rückkehr des Autors. Tübingen 1999, S. 39-46. Wirth, Andrzej: Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte. In: Theater heute 01/ 1980, S. 16-19. ders.: Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien. 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Zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens: „Macbeth“ - Regisseur Jürgen Gosch über Nacktheit, Gewalt und Tod. Gesprächsführung: Peter von Becker. Der Tagesspiegel, 05.05.2006. In: www.tagesspiegel.de/ kultur/ der-entfesselte-buerger/ 708080.html Zuletzt aufgerufen am: 01.04.2011. „Eine aufregende Zeit, um für das Theater zu schreiben“. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Roland Schimmelpfennig über „Der goldene Drache“, Techniken des Erzählens und seine Erfahrungen als Regisseur. Gesprächsführung: Franz Wille. In: Theater heute Jahrbuch 2010, S. 112-121 „Gespräch über das Theater der neunziger Jahre“. Franziska Schößler im Gespräch mit John von Düffel. In: Heinz Ludwig Arnold, Christian Dawidowski (Hgg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. Text+Kritik Sonderband. München 2004, S. 42-51. „Gleichzeitigkeit und Repräsentation“. Robert Weimann im Gespräch mit Heiner Müller. In: Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht (Hgg.): Postmoderne - Globale Differenz. Frankfurt/ M. 1991, S. 182-207. „Jede Auseinandersetzung mit einem Text ist eine Auseinandersetzung mit der Tradition“. Ein Gespräch mit Robert Schuster und Bernd Stegemann. In: Christa Hasche, Eleonore Kalisch, Holger Kuhla und Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hgg.): Theater an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Berliner Theaterwissenschaft, Bd. 10. Berlin 2002, S. 21-34. „Kein Tag wie jeder andere“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Oliver Reese. In: Programmheft des Deutschen Theaters Berlin, „Auf der Greifswalder Straße“, Premiere 27.01.2006. „Sich selber auf den Kopf gucken“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Sebastian Huber. In: Programmheft des Staatstheaters Stuttgart, „Die arabische Nacht“, Uraufführung 03.02.2001. „Theater ist immer Eskalation“. Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling. In: Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tiere. Stücke. Hg. von Uwe B. Carstensen und Stefanie von Lieven. Frankfurt/ M. 2007, S. 229-243. „Vom Zittern der Zeit“. Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur Jürgen Gosch und dem Schauspieler Ulrich Matthes über die Scham, die Wahrhaftigkeit und den Kampf auf der Bühne. Gesprächsführung: Peter Kümmel. Zeit online, 11.06.2009. In: www.zeit.de/ 2009/ 20/ Interview-Gosch-Matthes Zuletzt aufgerufen am: 01.04.2011. „Wir Gralsritter“. Detlef Brandenburg im Gespräch mit Friedrich Schirmer und seinen Dramaturgen Sebastian Huber, Michael Propfe, Kekke Schmidt, Ingrid Trobitz, Florian Vogel. In: Die deutsche Bühne. Das Theatermagazin 03/ 2001, S. 22-27. <?page no="378"?> 378 Gedächtnisprotokolle Gedächtnisprotokoll zur Diskussionsveranstaltung an der Theaterakademie August Everding München, 03.03.2008. Gedächtnisprotokoll zur Disputationsprüfung von Anna Stecher. Institut für Theaterwissenschaft, LMU München, 04.02.2011. Gedächtnisprotokoll zur Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, Frankfurter Hof, Mainz, 28.04.2010. 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PP Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes PU Push-Up 1-3 RT Das Reich der Tiere SU Start Up VLZM Vor langer Zeit im Mai VN Vorher/ Nachher Z Die Zwiefachen <?page no="382"?> 382 Uraufführungsdaten der Stücke Stand: September 2012 Alice im Wunderland Uraufführung: 31.05.2003 | Schauspiel Hannover Regie: Michael Simon Ambrosia Uraufführung: 24.09.2005 | Schauspiel Essen Regie: Anselm Weber Angebot und Nachfrage Uraufführung: 04.11.2005 | Schauspielhaus Bochum, Theater unter Tage Regie: Jan Langenheim Ursendung: 01.10.2003 | hr Auf der Greifswalder Straße Uraufführung: 27.01.2006 | Deutsches Theater, Berlin Regie: Jürgen Gosch Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte Uraufführung: 25.04.1998 | Staatstheater Mainz Regie: Hartmut Wickert Besuch bei dem Vater Uraufführung: 14.04.2007 | Schauspielhaus Bochum Regie: Elmar Goerden Bühnenfassung nach dem Roman „Körperzeit“ von Don DeLillo Uraufführung: 11.04.2007 | Theater am Neumarkt, Zürich Regie: Jan Langenheim Calypso Uraufführung: 28.02.2008 | Schauspielhaus Hamburg Regie: Jürgen Gosch Canto minor Uraufführung: 12.05.2004 | Chilenisches Nationaltheater als Gastspiel beim Mülheimer Theatertreffen Regie: Raúl Osorio <?page no="383"?> 383 Das fliegende Kind Uraufführung: 04.02.2012 | Burgtheater (Akademietheater), Wien Regie: Roland Schimmelpfennig Das Gesicht im Spiegel (Opernlibretto) Uraufführung: 17.07.2003 | Cuvilliés-Theater, München Regie: Jörg Widmann Das Reich der Tiere Uraufführung: 01.09.2007 | Deutsches Theater, Berlin Regie: Jürgen Gosch Das weiße Album nach The Beatles Uraufführung: 06.02.2010 | Schauspiel Frankfurt Regie: Florian Fiedler Der elfte Gesang Uraufführung: 27.02.2010 | Schauspielhaus Bochum Regie: Lisa Nielebock Der goldene Drache Uraufführung: 05.09.2009 | Burgtheater (Akademietheater), Wien Regie: Roland Schimmelpfennig Die arabische Nacht Uraufführung: 03.02.2001 | Staatstheater Stuttgart Regie: Samuel Weiss Ursendung: 05.09.2001 | hr Die ewige Maria Uraufführung: 27.01.1996 | Theater Oberhausen Regie: Volker Schmalöer Die Frau von früher Uraufführung: 12.09.2004 | Burgtheater (Akademietheater), Wien Regie: Stephan Müller Die Zwiefachen Uraufführung: 06.06.1997 | Münchner Kammerspiele Regie: Markus Völlenklee Ende und Anfang Uraufführung: 07.10.2006 | Burgtheater, Wien Regie: Nicolas Stemann <?page no="384"?> 384 Fisch um Fisch Uraufführung: 08.05.1999 | Staatstheater Mainz (TIC) Regie: Roland Schimmelpfennig Für eine bessere Welt Uraufführung: 04.10.2003 | Schauspielhaus am Pfauen, Zürich Regie: Falk Richter Ursendung: 08.08.2004 | hr Hier und Jetzt Uraufführung: 25.04.2008 | Schauspielhaus Zürich Regie: Jürgen Gosch Idomeneus Uraufführung: 16.06.2008 | Cuvilliés-Theater, München Regie: Dieter Dorn Ipanema - Kurzszenen Uraufführung: 16. 05. 2007| Schauspielhaus Bochum Regie: Elmar Goerden Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid Uraufführung: 04.04.1996 | Münchner Kammerspiele Regie: Peer Boysen M.E.Z. Uraufführung: 05.05.2000 | Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin Regie: Gian Manuel Rau Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes Uraufführung: 20.06.10 | Volcano Theatre Toronto Regie: Liesl Tommy Dt. Erstauff.: 19.11.10 | Deutsches Theater, Berlin Regie: Martin Kusej Push Up 1-3 Uraufführung: 10.11.2001 | Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin Regie: Ensembleprojekt Start Up Uraufführung: 12.10.07 | German Theatre Abroad, New York Dt. Erstauff.: 13.10.07 | Nationaltheater Mannheim Regie: Burkhard C. Kosminski <?page no="385"?> 385 Vier Himmelsrichtungen Uraufführung: 30.07.2011 | Salzburger Landestheater (im Rahmen der Salzburger Festspiele) Regie: Roland Schimmelpfennig Vor langer Zeit im Mai Uraufführung: 13.03.2000 | Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin Regie: Barbara Frey Vorher/ Nachher Uraufführung: 22.11.2002 | Deutsches Schauspielhaus, Hamburg Regie: Jürgen Gosch Ursendung: 03.10.2001 | hr Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum Uraufführung: 09.04.2011 | Schauspiel Frankfurt Regie: Christoph Mehler <?page no="386"?> 386 Weiterführende Literatur zu den Stücken des Untersuchungszeitraums 1996-2010 Alice im Wunderland Jantschek, Thorsten: Hannover: Wunderland im Kopf. Roland Schimmelpfennig nach Lewis Carroll „Alice im Wunderland“, Michel Houellebecq „Plattform“. In: Theater heute 07/ 2003, S. 49-50. Ambrosia Keim, Stefan: Was wär’ die Welt ohne Lieder? In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 11/ 2005, S. 28-29. Kümmel, Peter: Der Bürger geht in Fetzen. Arbeitslosigkeit, Suff, Unglück: Die Dramatiker Roland Schimmelpfennig und Moritz Rinke baden im Elend der deutschen Mitte. In: DIE ZEIT, 40/ 2005. Spreng, Eberhard: Mittelstand am Stammtisch. Gosch inszeniert Schimmelpfennigs „Ambrosia“ in Berlin mit mäßigem Erfolg. In: Deutschlandfunk Kultur heute 21.09.2006. In: www.dradio.de/ dlf/ sendungen/ kulturheute/ 546181/ Zuletzt aufgerufen am: 05.03.2010. Wahl, Christine: Das ist mir Durst. Jürgen Gosch exekutiert Roland Schimmelpfennigs „Ambrosia“ am Deutschen Theater. In: Der Tagesspiegel, 22.09.2006. Wille, Franz: Denken und Schreiben, Schreiben und Denken. Kein Mangel an neuen Stücken, die Uraufführungs-Wirtschaft floriert. In: Theater heute 12/ 2006, S. 13- 18. Angebot und Nachfrage Angebot und Nachfrage. In: Theater, Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke, Bd. 13. Hg. von Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt/ M. 2003, S. 584. Franziska Prechtl: Roland Schimmelpfennig „Angebot und Nachfrage“. 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Stadtplan Seele. In: Theater heute Jahrbuch 2005, S. 161-162. <?page no="387"?> 387 Wille, Franz: Museum der Gegenwartskunst. Vom harten Pflaster der Hauptstadt in wohlige Münchner Bürgerwelten: Roland Schimmelpfennig „Auf der Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater Berlin und Händl Klaus’ „Dunkel lockende Welt“ in den Münchner Kammerspielen - Uraufführungen von Jürgen Gosch und Sebastian Nübling. In: Theater heute 03/ 2006, S. 4-7. Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte Krumbholz, Martin: Holz in die Hütte. Roland Schimmelpfennig „Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte“, uraufgeführt in Mainz. In: Theater heute 06/ 1998, S. 47. Laages, Michael: Traum, Raum, Baum. Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück in Mainz. In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 06/ 1998, S. 52-53. Besuch bei dem Vater Marcus, Dorothea: Besuch bei dem Vater und Platonow. Zwei Premieren in Bochum. In: Deutschlandfunk Kultur heute 02.09.2007. 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Stadelmaier, Gerhard: Die Abgesoffenen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2008. Villiger Heilig, Barbara: Trinken oder ertrinken. Jürgen Gosch mit der Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs „Calypso“ in Hamburg. In: Neue Zürcher Zeitung, 01.03.2008. Wille, Franz: Die Geschichte geht weiter. Die Wonnen der Kulturkritik: Neue Stücke von Tankred Dorst, Roland Schimmelpfennig, Ewald Palmetshofer, Jan Neumann und Theresia Walser. In: Theater heute 04/ 2008, S. 40-45. Das Gesicht im Spiegel Brandenburg, Detlef: Bei Klonen, welche Liebe fühlen. In: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin 09/ 2003, S. 28-30. <?page no="388"?> 388 Das Reich der Tiere Hoch, Jenny: Uraufführung von „Das Reich der Tiere“. Bestialisch komisch. Spiegel online, 02.09.2007. In: www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,503402,00.html Zuletzt aufgerufen am: 29.03.2011. Höbel, Wolfgang; Matussek, Matthias: Theater: Gier auf Frischfleisch. 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Für die langjährige finanzielle Unterstützung und die ideelle Förderung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die es mir ermöglicht hat, mich ganz auf meine Doktorarbeit zu konzentrieren. Ein freundlicher Dank geht an das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, das den Druck dieser Arbeit durch das Oskar-Karl-Forster-Stipendium finanziell unterstützt hat. Bei den Theatern, die mir ihre Aufführungsmitschnitte zur Verfügung gestellt haben und diese Arbeit damit erst ermöglicht haben, möchte ich mich besonders herzlich bedanken. Von Herzen danke ich meinen Eltern, die mein Vorhaben zu jeder Zeit unterstützt haben und mir liebevoll zur Seite standen. Ein ganz besonderer Dank geht an Dr. Martin Koeppel, der mich zu dieser Arbeit inspiriert hat und mir in der anstrengenden Schlussphase immer wieder Mut gemacht hat. Auch bei meinen Geschwistern und engen Freunden möchte ich mich herzlich für den seelischen Beistand und das Interesse an meinem Projekt bedanken.
