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Narratives und interkulturelles Verstehen

Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit

0718
2012
978-3-8233-7732-0
978-3-8233-6732-1
Gunter Narr Verlag 
Lothar Bredella

In diesem Buch werden zwei neue didaktische Ansätze entwickelt. Der literaturdidaktische Ansatz rückt die Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit als Bildungsziel in den Mittelpunkt. Der Ansatz des interkulturellen Verstehens überwindet die Transkulturalität, die kulturelle Unterschiede als rassistisch abschaffen will, als auch die Multikulturalität, die kulturelle Unterschiede verabsolutiert, und entwickelt einen »aufgeklärten Universalismus« (Aleida Assmann), der es ermöglicht, mit kulturellen Unterschieden zu leben und sich über sie zu verständigen.

<?page no="0"?> Lothar Bredella Narratives und interkulturelles Verstehen Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit Bredella Narratives und interkulturelles Verstehen In diesem Buch werden zwei neue didaktische Ansätze entwickelt. Der literaturdidaktische Ansatz rückt die Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit als Bildungsziel in den Mittelpunkt. Der Ansatz des interkulturellen Verstehens überwindet sowohl die Transkulturalität, die kulturelle Unterschiede als rassistisch abschaffen will, als auch die Multikulturalität, die kulturelle Unterschiede verabsolutiert, und entwickelt einen „aufgeklärten Universalismus“ (Aleida Assmann), der es ermöglicht, mit kulturellen Unterschieden zu leben und sich über sie zu verständigen. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Giessener Beiträge ISBN 978-3-8233-6732-1 <?page no="1"?> Narratives und interkulturelles Verstehen <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Lothar Bredella, Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Michael K. Legutke, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler <?page no="3"?> Lothar Bredella Narratives und interkulturelles Verstehen Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-6732-1 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung................................................................................................................... 9 I. Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit...11 1. Geschichten als Erkenntnisform................................................................ 14 2. Geschichten ohne Anspruch auf Erkenntnis, moralische Relevanz .....20 2.1 Die formalistische Literaturauffassung ..................................................... 20 2.2 Literatur als Ideologie.................................................................................. 22 2.3 Der dekonstruktivistische Literaturbegriff ............................................... 23 2.4 Der Literaturbegriff des radikalen Konstruktivismus............................. 25 2.5 Geschichten im Rahmen der Panfiktionalität und des Panlinguismus .............................................................................................. 27 3. Der Erkenntnisanspruch fiktionaler Geschichten................................... 32 4. Zur Entwicklung moralischer Sensibilität bei der Rezeption von Geschichten .................................................................................................. 34 5. Selbstbestimmung als Erziehungs- und Bildungsziel.............................. 36 6. Zur Entwicklung der Empathiefähigkeit .................................................. 40 6.1 Spiegelneuronen und Empathie................................................................. 42 6.2 "Theory of Mind" ......................................................................................... 44 6.3 "Tun als ob": Rollenspiele und die Rezeption von Geschichten ............45 7. Zur Entwicklung der Urteilsfähigkeit ....................................................... 48 7.1 Die Bedeutung von Geschichten für die Entwicklung der Urteilsfähigkeit ............................................................................................. 48 7.2 Lesen als Sinnbildungsprozess ................................................................... 49 7.3 Die Bedeutung der Urteilsfähigkeit für die Orientierung in der Welt .53 7.4 Zwei unterschiedliche Informationsbegriffe ............................................ 55 7.5 Lügen bei der Rezeption von Geschichten ............................................... 56 8. Zur Entwicklung von Kooperationsfähigkeit........................................... 58 8.1 Moral als Voraussetzung der Kooperation............................................... 59 8.2 "Altruistisches Bestrafen" ............................................................................ 64 8.3 Zum Verhältnis von Strafe und Rache...................................................... 65 9. Bildungsrelevante Fähigkeiten bei der Rezeption von Geschichten .....70 <?page no="6"?> 9.1 Die Bedeutung von Geschichten für das interkulturelle Verstehen .....70 9.2 Wünsche "zweiter Ordnung" und Selbstbestimmung ............................ 71 9.3 Perspektiveneinnahme und Perspektivenkoordination ......................... 72 9.4 Die Weltsicht von Geschichten.................................................................. 72 9.5 Reflexion über Rezeptionsprozesse ........................................................... 73 II. Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität......................................................................................... 74 1. Die Forderung nach Transkulturalität...................................................... 76 2. Gibt es einen Ausgrenzungstrieb? ............................................................. 82 3. Die transkulturelle Welt als "gemeinschaftsfreie Zone".......................... 84 4. Hybridität als Bildungsziel der "Cultural Studies"................................... 86 5. Interkulturelles Verstehen als dritter Ort ................................................. 90 6. Zur Relation zwischen Eigenem und Fremdem ...................................... 92 7. Kampf um Anerkennung............................................................................ 94 8. Interkulturelles Verstehen zwischen Monismus und Relativismus ......98 8.1 Formen des moralischen Monismus ......................................................... 99 8.2 Formen des moralischen Relativismus ...................................................102 8.3 Zum Umgang mit kulturellen Unterschieden .......................................105 9. Interkulturelles Verstehen als "Wille zur Macht" ..................................109 10. Exotismus und interkulturelles Verstehen .............................................110 11. Zur Vermittlung westlicher und asiatischer Kultur ..............................112 12. Transkulturalität in Natur- und Kulturwissenschaften........................114 13. "Tyrannischer" und "aufgeklärter" Universalismus ...............................116 14. Zur Ethik des interkulturellen Verstehens .............................................118 III. "Arranged marriages": Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität: Der Roman (un)arranged marriage und die Autobiografie Shame ...............................................124 1. "Politics of Recognition"............................................................................125 2. (un)arranged marriage von Bali Rai ........................................................130 3. Shame von Jasvinder Sanghera ................................................................136 Literaturverzeichnis .............................................................................................141 <?page no="7"?> Danksagung Bedanken möchte ich mich bei Kolleginnen, Kollegen, Lehrerinnen und Lehrern und Studierenden, die mit mir sowohl die Bedeutung des narrativen Verstehens und die damit zusammenhängenden Bildungsziele Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit als auch die Bedeutung des interkulturellen Verstehens zwischen Trans- und Multikulturalität diskutiert haben. Mein besonderer Dank gilt Ann Kimes, Tamara Brück und Franz Wieselhuber, die das Manuskript mit großer Sorgfalt gelesen, Fehler aufgedeckt und mir wichtige Anregungen gegeben haben, sowie Marc-Manuel Kern, der das Manuskript in das richtige Format gebracht hat. <?page no="9"?> Einleitung Der vorliegende Band enthält drei Beiträge. In Beitrag I geht es um die Frage, ob wir Geschichten im Fremdsprachenunterricht lesen sollen. Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne vorher zu bestimmen, was Geschichten (faktuale und fiktionale) leisten und welche Kompetenzen bei ihrer Rezeption entwickelt werden können. Bei fiktionalen Geschichten stellt sich zudem eindringlich die Frage, ob sie einen Erkenntnisanspruch erheben können und ob sie für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins relevant sind. Es erfolgt daher eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Literaturbegriffen, um aufzuzeigen, dass fiktionale Geschichten, wenn sie uns den Spiegel vorhalten, einen Erkenntnisanspruch erheben und menschliches Handeln erhellen, wobei durch ihre Rezeption Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit gefördert werden kann. Kooperation ist für das Überleben der Menschen notwendig, aber sie wird ständig durch Betrug infrage gestellt. In vielen Geschichten suchen Protagonisten und Protagonistinnen die gestörte Ordnung wieder herzustellen, auch wenn sie dabei Nachteile für ihre Person in Kauf nehmen müssen. Es wird daher im Rahmen der evolutionären Biologie und Psychologie vom "altruistischem Bestrafen" gesprochen, wobei wir als Rezipienten erwarten, das Betrüger bestraft und die verletzte Ordnung wieder hergestellt wird. In Beitrag II geht es um die Bedeutung des interkulturellen Verstehens in der Auseinandersetzung mit Trans- und Multikulturalität. Transkulturalität lehnt interkulturelles Verstehen als rassistisch ab, weil es der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Kulturen dient und damit Menschen ausgrenzt. Multikulturalität dagegen verabsolutiert kulturelle Grenzen und lehnt daher das interkulturelle Verstehen ebenfalls ab, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen. Trans- und Multikulturalität stellen uns vor eine verhängnisvolle Alternative, die wir durch interkulturelles Verstehen überwinden können. Die Forderung nach Transkulturalität ist zwar aus erkenntnistheoretischer, moralischer und politischer Hinsicht problematisch und enthält totalitäre Züge, aber sie erscheint vor allem aus zwei Gründen attraktiv. a) Nach Freud ist das Leben in Kulturen mit einem enormen Triebverzicht verbunden, so dass wir uns von ihnen befreien wollen. b) Nach Platon sind wir in der Höhle unserer Kultur gefangen und nehmen nur Schattenbilder wahr. Wir müssen deshalb aus der Höhle unserer Kultur heraustreten, um zu erkennen, wie die Welt wirklich ist. Doch wir können die Kulturbedingtheit unserer eigenen Auffassungen nicht ignorieren. Daher führt Transkulturalität nach Aleida Assmann zu einem "tyrannischen" Universalismus, der in der Einheit <?page no="10"?> 10 das Gute und in der Vielheit das Böse sieht. Ihm stellt sie einen "aufgeklärten" Universalismus gegenüber, der es ermöglicht, mit kulturellen und sprachlichen Unterschieden zu leben und sich über sie zu verständigen. Während Transkulturalität kollektive Identitäten generell abschaffen will, weil sie den Einzelnen unterdrücken, verlangt Multikulturalität, dass er sich ihnen unterordnet. Dagegen erkennt das interkulturelle Verstehen das Recht des Einzelnen auf sein individuelles Wohl an. Transkulturalität will eine Welt jenseits der Begriffe des Eigenen und Fremden, aber ohne das relationale Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem sind Erkenntnis und Verstehen unmöglich. Wir können nicht in einer Welt ohne Grenzen leben. Sie sind unvermeidlich. Mit jeder Bestimmung wird etwas hervorgehoben und wird etwas ausgeschlossen. Wir sind weder transsprachliche noch transkulturelle, sondern sprachliche und kulturelle Wesen, die nicht jenseits von Sprachen und Kulturen, sondern in ihnen existieren. Daher ist das interkulturelle Verstehen unverzichtbar. In Beitrag III wird an einer Unterrichtseinheit zum Thema "arranged marriages" aufgezeigt, wie in einem Roman und in einer Biografie die Protagonisten, die zu "arranged marriages" gezwungen werden, jenseits der Alternative von Trans- und Multikulturalität um ein selbstbestimmtes Leben kämpfen. In allen drei Beiträgen wird deutlich, dass die Existenz von unterschiedlichen Kulturen und Sprachen die Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit erfordert. <?page no="11"?> I have wanted to make it clear that our capacity to render experience in terms of narrative is not just child's play, but an instrument for making meaning that dominates much of life in culture - from soliloquies at bedtime to the weighing testimonies in our legal system. (Bruner 1990: 97) Tatsächlich kann individuelles und gesellschaftliches Handeln in der Regel nur dann erfolgreich sein, wenn es im Lichte der eigenen Erfahrung vollzogen wird und dabei zugleich mit den Grundstrukturen der jeweiligen Persönlichkeit übereinstimmt. (Pauen / Roth 2008: 174) I. Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit Die PISA-Studie hat erreicht, dass dem Lesen verstärkte Aufmerksamkeit zukommt. Doch im Mittelpunkt der gegenwärtigen Diskussion um das Lesen stehen Sachtexte, und Lesekompetenz wird nicht selten auf Informationsentnahme verkürzt. Hinzu kommt eine Verengung des Bildungsbegriffs, wenn Bildung in den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Bildungsstandards als Output bestimmt wird und nur noch Inhalte gelehrt und gelernt werden sollen, die "prinzipiell mit Testverfahren erfasst werden können" (BMBF 2003: 19). In einer solchen Situation haben Geschichten, und insbesondere fiktionale Geschichte einen schweren Stand. In der PISA-Studie ist das Verhältnis von Sachtexten zu Geschichten ungefähr 1 zu 10. Ob dieses Verhältnis gut oder schlecht ist, können wir erst beantworten, wenn wir geklärt haben, was die Lektüre von Geschichten für die Ausbildung kognitiver, affektiver und moralischer Kompetenzen leistet. Es geht in dem Beitrag in erster Linie um fiktionale Geschichten. Ich habe nicht den Begriff "literarische Texte", sondern den der Geschichten in den Mittelpunkt gestellt, weil Geschichten (faktuale und fiktionale) für unsere Orientierung in der Welt eine konstitutive Rolle spielen und die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Geschichten grundsätzliche erkenntnistheoretische und moralische Fragen aufwirft und weil es zur elementaren Bildung gehört, mit Geschichten reflektiert umgehen zu können. Im Rahmen der PISA-Studie ist ein Auszug aus dem Stück Amanda und die Herzogin von Jean Anouilh mit den gestellten Aufgaben veröffentlicht <?page no="12"?> 12 worden. Mit einer der Multiple-Choice-Aufgaben wird die Aufmerksamkeit auf die Regieanweisungen gelenkt. Die Aufgabe lautet: "Im Skript des Stückes gibt es außer den Wörtern, die die Schauspieler sprechen, auch noch Anweisungen, die Schauspieler und Theatertechniker ausführen müssen. Wie kann man diese Anweisungen im Skript erkennen? " (PISA 2000: 39) Die richtige Antwort lautet: Regieanweisungen sind kursiv gedruckt. Anschließend wird den Schülern ein Text vorgelegt, in dem verschiedene Theaterberufe definiert werden, und es wird die Aufgabe gestellt, die entsprechenden Passagen aus der Bühnenanweisung zu Amanda und die Herzogin in eine Tabelle, in der die Theaterberufe aufgeführt sind, einzutragen. Die Aufgabe lautet: Die Tabelle enthält eine Liste von Theatertechnikern, die bei der Aufführung dieses Auszuges aus dem Skript beteiligt sind. Vervollständige die Tabelle, indem du jeweils eine genaue Bühnenanweisung aus dem TEXT 1 einträgst, welche die Beteiligung des betreffenden Technikers erfordert. (Ibid.) Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Aufgabe eine kognitive Leistung darstellt. Handelt es sich hier jedoch um eine für das Verstehen von Geschichten angemessene Aufgabe? Was kennzeichnet Geschichten? Ein wesentliches Moment bei der Rezeption von Geschichten besteht darin, dass wir an dem Schicksal der Charaktere Anteil nehmen und wir uns in ihnen wiedererkennen, wie das folgende Zitat von David Richter erkennen lässt: One of the great attractions of reading, starting from earliest childhood, is the access it gives us to the places and times we can never actually visit and to people we never actually meet. Without technology we can go with Jules Verne's adventures to the center of the earth - and to me it seems amazing that we can go to the center of characters who seem no less complicated than we are ourselves. It wasn't just Flaubert who was Emma Bovary: I was Emma Bovary too for a time, just as I was Twain's Huckleberry Finn for a time and Virginia Woolf's Lily Briscoe and Ralph Ellison's Invisible Man. (Richter 1994: 216) Wenn wir dieser Auffassung folgen, versetzen wir uns bei der Rezeption von Geschichten in Charaktere und können Empathie- und Urteilsfähigkeit entwickeln, wenn wir ihr Handeln bewundern oder uns über es empören. Dieser Hinweis auf die Rezeption lässt ferner erkennen, dass die Rezeption von Geschichten kein monologischer, sondern ein dialogischer Prozess ist, bei dem wir auf das, was wir verstehen, antworten. Wie John Gardner aufzeigt, können wir andere Menschen nicht verstehen, wenn wir nur Informationen über sie aufnehmen: Though a distinction between knowledge and understanding may seem abstruse, it is one we recognize in everyday speech: I can "understand" you, hav- <?page no="13"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 13 ing felt the coherence of your speech, gestures, behavior but we all agree, that no human being can really "know" another one. If I say I "know" you, I mean I know some of the classifications which help to identify you: your name, features, occupation, age, religion, persuasion, and so on. (Gardner 2000: 139) Diese ersten Überlegungen lassen erkennen, warum es für die Literaturdidaktik notwendig ist, den Rezeptionsprozess und die Funktion von Geschichten näher zu bestimmen. Nur so können wir begründet entscheiden, warum wir im Fremdsprachenunterricht Geschichten bzw. literarische Texte lesen sollen. Wolfgang Hallet sieht die Aufgabe der Literaturdidaktik in "der Vermittlung von und der Begegnung mit fremdsprachigen Literaturen und literarischen Texten in Bildungsinstitutionen, vornehmlich an allgemeinbildenden Schulen und Hochschulen" und hebt vier Teildisziplinen hervor. Die erste lautet: "Sie ist zum ersten eine Theorie vom Stellenwert der Literatur in Bildungsprozessen und den Rahmenbedingungen, Bildungszielen und Orientierungen, die mit dem institutionellen fremdsprachlichen Literaturunterricht verknüpft sind" (Hallet 2010: 201). In meinem Beitrag wende ich mich dieser ersten Teildisziplin zu und suche das Bildungspotenzial von fiktionalen Geschichten, wie sie in Märchen, Kurzgeschichten, Fabeln, Romanen, Dramen, usw. vorliegen, zu definieren. Doch um fiktionale Geschichten näher zu bestimmen, werde ich in Kapitel 1 generell die Bedeutung von Geschichten für die Orientierung in der Welt untersuchen. Ohne das Verstehen von Geschichten können wir auch Handlungen nicht verstehen. In Kapitel 2 kritisiere ich Literaturauffassungen, die literarischen Geschichten einen Anspruch auf Erkenntnis, moralische Relevanz und Wahrheit absprechen. In Kapitel 3 wende ich mich dem Anspruch von Geschichten auf Erkenntnis und in Kapitel 4 dem Anspruch von Geschichten auf moralische Relevanz zu. In Kapitel 5 geht es um eine Klärung des Bildungsziels "Selbstbestimmung", das nicht mit willkürlichem Handeln zu verwechseln ist. In den Kapiteln 6 bis 8 werde ich näher bestimmen, wie die Rezeption von Geschichten die Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit fördern kann. In Kapitel 9 weise ich stichwortartig auf die Entwicklung weiterer Fähigkeiten bei der Rezeption von Geschichten hin. <?page no="14"?> 14 1. Geschichten als Erkenntnisform Geschichten sind eine grundlegende Erkenntnisform. Wenn wir Handlungen verstehen wollen, müssen wir eine Geschichte erzählen. Das ist von verschiedenen Seiten hervorgehoben worden. Für Jerome Bruner gibt es zwei unterschiedliche Formen der Erkenntnis: "each providing distinctive ways of ordering experience and of constructing reality" (Bruner 1986: 11). Die eine Form der Erkenntnis nennt er "paradigmatic". Ihr geht es vor allem um den Erwerb verlässlicher Erkenntnis, wobei der Erkenntniserwerb der Naturwissenschaften vorbildlich ist. Die andere nennt er "narrative". Narrationen benötigen wir, wenn wir außergewöhnliche und unvorhergesehene Handlungen verstehen wollen, denen wir nicht unmittelbar eine Intention zuschreiben oder die wir nicht unter eine Norm subsumieren können: When you encounter an exception to the ordinary, and ask somebody what is happening, the person you ask will virtually tell a story that contains reasons (or some specification of an intentional state). The story, moreover, will almost invariably be an account of a possible world in which the encountered exception is somehow made to make sense or to have "meaning." (Bruner 1990: 49) "To make sense or to have 'meaning'" bedeutet hier, dass menschliche Handlungen verständlich und nachvollziehbar werden. Wir können nie absolut sicher sein, ob der Andere wirklich so gehandelt hat, wie wir es uns verständlich machen. Es geht um Wahrscheinlichkeit und Plausibilität: Both can be used as means for convincing another. Yet what they convince of is fundamentally different: arguments convince one of their truth, stories of their lifelikeness. The one verifies by eventual appeal to procedures for establishing formal and empirical proof. The other establishes not truth but verisimilitude. (Bruner 1986: 11) Im Gegensatz zum paradigmatischen Denken, das gesetzmäßige Zusammenhänge zu erkennen sucht, um damit Prognosen aufstellen zu können, ist die Vorhersagekraft bei historischen Ereignissen und Handlungen begrenzt. Aber man kann sie rekonstruieren und dazu gehört, dass wir die angestrebten Ziele der Beteiligten ermitteln und untersuchen, ob sie verwirklicht werden konnten oder ob sie eine Eigendynamik gewannen, die zu ganz anderen Ergebnissen als den angestrebten führten. Dabei geht es um das Verstehen individueller Ereignisse und Handlungen: One [the paradigmatic form] leads to search for universal truth conditions, the other [the narrative form] for the likely particular connection between two events -mortal grief, suicide, foul play. While it is true that the world of a sto- <?page no="15"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 15 ry (to achieve verisimilitude) must conform to canons of logical consistency; it can use violations of such consistencies as a basis of drama. (Ibid.: 12) Menschen suchen im Handeln ihre Intentionen zu verwirklichen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen, aber dabei darf nicht übersehen werden, dass Menschen in einer Welt leben, die sie nicht unter Kontrolle haben, sondern in der sie in Situationen geraten, die sie nicht geplant haben und in denen ihnen etwas widerfährt, mit dem sie nicht gerechnet haben und auf das sie antworten müssen. Es sind vor allem diese Situationen, die von Geschichten erforscht werden: It [the fabula of a story] contains a plight into which characters have fallen as a result of intentions that have gone awry either because of circumstances, of the ‚character of characters’ or most likely of the interaction between the two (Ibid.: 21). Geschichten beschäftigen sich oft mit dem, was 'schief' geht. Das macht sie erzählenswert. In Anlehnung an Kenneth Burke ist für Bruner und Joan Lucariello (1989) "trouble" der Motor, der eine Geschichte antreibt: This is […] the engine of narrative: the trouble is the violation of the legitimate, the expectable, the appropriate. And the outcome of the story depends upon seeing legitimacy either maintained, restored or redefined. (Bruner / Lucariello 1989: 77) Lucariello hat Kindern unterschiedliche Geschichten vorgelesen, um herauszufinden, wie sie von ihnen angesprochen und herausgefordert werden. Kinder, denen eine Geschichte vorgelesen wurde, in der ein Mädchen auf seiner Geburtstagsfeier glücklich ist, reagierten mit Unverständnis auf die Frage, warum das Mädchen glücklich ist. Ganz anders verhielten sich Kinder, denen eine Geschichte vorgelesen wurde, bei denen ein Mädchen auf seiner Geburtstagsfeier weint. Als ihnen die Frage gestellt wurde, warum es wohl weint, äußerten sie vielfältige Vermutungen (vgl. Bruner 1990: 81f.). Eine Geschichte regt zum Mitdenken und Mitfühlen an, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht und Normen verletzt werden. Wie für Bruner besteht für Jürgen Straub die Funktion von Geschichten darin, dass sie uns helfen, mit Kontingenzen, Störungen und Normverletzungen zu leben (vgl. Straub 1998: 150). Wir reagieren intensiv auf Unvorhergesehenes, Unverständliches und Außergewöhnliches. Das ist auch sinnvoll für ein biologisches und soziales Lebewesen, das auf Störungen des Vertrauten und Kanonischen antworten muss, um zu überleben. Und dabei spielen Geschichten eine zentrale Rolle. Sie regen den Leser an, sich mit dem Außergewöhnlichen zu beschäftigen, um es verständlich zu machen und um auf es antworten zu können: "The function of the story is to find an intentional state that mitigates or at least makes <?page no="16"?> 16 comprehensible a deviation from a canonical cultural pattern" (Bruner 1990: 49f.). Wenn wir davon sprechen, wie Geschichten uns dazu bringen, mit dem Außergewöhnlichen umzugehen und es auf das Normale und Erwartete zu beziehen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir selbst erst lernen müssen, was als Norm und was als Störung der Norm gilt. Nach Bruner dienen die Selbstgespräche, die Emily 1 in der Zeit zwischen ihrem achtzehnten Monat und drei Jahren abends im Bett führt, einer solchen Zielsetzung: Emily's push to better grammatical construction and a more extended lexicon seemed to be impelled by a need to get things organized in an appropriate social order, to get them marked for their specialness, to take some stance on them. (Ibid.: 89) Wenn sie in ihren Selbstgesprächen Wörter wie "sometimes" und "always" benutzt, scheint es, als wolle sie klären, was das Erwartete und Kanonische ist, um vor dessen Hintergrund das Außergewöhnliche zu bestimmen. Wenn wir uns dem Außergewöhnlichen zuwenden, geht es immer auch um das, was das Vertraute und Normale ist. Dabei orientieren wir uns an dem, was Geschichten konstituiert: "who did what to whom, where, was it the 'real' and steady thing or rogue happening, and how do I feel about it? " (ibid.: 92). Nach Bruner brauchen Kinder Geschichten, weil sie mit ihnen Modelle für den Umgang mit der Welt erwerben: "Without those skills we would never endure the conflicts and contradictions that social life generates. We would become unfit for the life of culture" (ibid.: 97). Nach Ricœur verwandeln Geschichten Kontingenz als "blinden Zufall" in "eine intelligible Kontingenz", indem sie Vorfälle synthetisieren und in eine bestimmte Ordnung bringen. Einer solchen Synthese gibt Aristoteles den Namen "mythos". Ricœur übersetzt diesen Begriff mit "Einfädeln einer Intrige", um den dramatischen Charakter der Synthese, die der Mythos zustande bringt, zu unterstreichen. Im jeweiligen Kontext des Mythos erhalten die jeweiligen Ereignisse erst ihre volle Bedeutung, so dass - streng genommen - ein Ereignis in zwei unterschiedlichen Geschichten nicht mehr das gleiche Ereignis sein kann (vgl. Ricœur 1986: 14). Dass Geschichten eine grundsätzliche Erkenntnisform darstellen, zeigt sich besonders anschaulich an biografischen Erzählungen. Wir können Anderen nur mitteilen, wer wir sind, indem wir Geschichten über uns erzählen und damit sehr unterschiedliche Erfahrungen aufeinander beziehen. Für Jürgen Straub besteht die große Leistung von Geschichten darin, dass sie Heterogenes aus verschiedenen Wirklichkeitsbereichen durch eine diachronische Ab- 1 Emily ist die Tochter einer der Forscher, deren Selbstgespräche vor dem Einschlafen auf Tonband aufgenommen worden sind. <?page no="17"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 17 folge aufeinander beziehen und damit Ereignisse und Handlungen "plausibilisieren" (Straub 1998: 144). Dabei ist die Fabel "Dreh- und Angelpunkt narrativer Sinnbildung" (ibid.). Im ersten Band von Zeit und Erzählung zeigt Ricœur im Einzelnen auf, wie in Geschichten über Kontingenz und Dissonanzen vermittelte Sinnzusammenhänge aufgebaut werden. Insofern stellen Geschichten nicht nur Ordnung her, sondern verweisen auch auf das, was sie bedroht: "Die Fabelkomposition ist nie der bloße Triumph der 'Ordnung'. Selbst das Paradigma der griechischen Tragödie lässt für die störende Rolle der peripeteia, der Kontingenzen und Schicksalsschläge Raum, die Furcht und Mitleid auslösen" (Ricœur 1988: 116). Narrative Erkenntnis unterscheidet sich somit von gesetzmäßiger Erkenntnis dadurch, dass sie erst vom Ende einer Geschichte her verständlich wird: "Eine Geschichte mitvollziehen heißt, inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet" (ibid.: 108). Wir benötigen narrative Intelligenz, um die inneren Zusammenhänge vom Schluss her rekonstruieren zu können: "Geschichten verstehen heißt, zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muss" (ibid.). Der Schluss einer Geschichte ist aber nicht nur in kognitiver, sondern auch in moralischer und emotionaler Hinsicht von Bedeutung. Kenneth Gergen betont, dass ein Schluss "werthaltig" sein muss, um auf Rezipienten eine nachhaltige Wirkung auszuüben: "Der gewählte Endpunkt ist immer eine werthaltige Angelegenheit, das heißt, er wird entweder als begehrenswert oder als unerwünscht verstanden" (Gergen 1998: 173). Mit Geschichten lernen wir unser Verhalten zu rechtfertigen. Dabei müssen wir uns aber auch auf die Wertvorstellungen der Anderen einstellen, um abschätzen zu können, welches Verhalten sie akzeptieren und welches sie ablehnen. Bruner hat sich wiederholt Geschichten zugewandt, in denen Kinder erzählen, um zwischen ihren Taten und Wünschen auf der einen Seite und den vorgegebenen Normen auf der anderen Seite zu vermitteln und um dadurch zu erreichen, was sie wollen: "Getting what you want very often means getting the right story" (Bruner 1990: 86). Bruner greift einen Gedanken aus "A Plea for Excuses" von John Austin auf und erläutert an ihm, dass eine Rechtfertigung für eine Handlung darin besteht, dass man für mildernde Umstände plädiert und fügt hinzu: "But to get the story right, to pit yours successfully against your younger brother's, requires knowing what constitutes the canonically acceptable version" (ibid.: 86). Dabei lernt das Kind, wie es seine Handlungen ins rechte Licht rückt; <?page no="18"?> 18 dazu gehört auch, dass es Empathie entwickelt und sich in den Anderen hineinversetzt und sich an dessen Auffassungen orientiert. Geschichten führen uns Normverletzungen und Konflikte vor Augen, aber sie zeigen uns auch, wie Charaktere mit ihnen umgehen, und ermuntern ihre Leser, sich mit ihnen zu beschäftigen. Daher sind sie für Bruner "puffers that guard the hearer or reader against the terrors of unlimited possibilities" (Bruner 2002: 52). Ohne sie wären wir "unfit for the life of culture" (Bruner 1990: 97). Ähnlich argumentiert Straub: Geschichten stellen Konflikte, Normverletzungen und Ambivalenzen dar und verhindern damit, "in überwältigende, emotionale und motivationale Nöte zu geraten“ (Straub 1998: 150). Unser Gehirn kann sich nur wenige isolierte Einzelheiten merken, aber es kann lange Geschichten mit ihren Handlungsabfolgen, Handlungsüberschneidungen und Konflikten im Gedächtnis behalten, und es scheint, dass wir Erzählstrukturen und Schemata von Geschichten nicht erst ausdrücklich erlernen müssen. Sie scheinen uns angeboren zu sein. Wie Karl Eibl hervorhebt, gelingt es jugendlichen Lesern ohne große Anstrengung, "eine Geschichte wie die von Odysseus oder von Parzival auf Grund von Worten und Buchstaben in [ihrem] Verstand zu synthetisieren" (Eibl 2004: 266). Literaturwissenschaftler werden dagegen einwenden, dass die jeweiligen Erzählstrukturen kulturbedingt seien und erst erlernt werden müssten. Dagegen wendet Eibl ein: "Wer sich in jungen Jahren auf die geläufigen umfangreichen Prosafassungen der Odyssee oder des Parzival oder auch auf den Herrn der Ringe einlässt, hat von den entsprechenden literarischen Traditionen keine Ahnung" (ibid.: 266f.). Deshalb ist es auch problematisch, wenn bei der Lektüre von Märchen oder Kurzgeschichten das Bildungsziel lautet, dass die Schülerinnen und Schüler die Struktur von Märchen oder Kurzgeschichten lernen müssen, bevor sie ein Märchen oder eine Kurzgeschichte verstehen können. Damit wird natürlich nicht gesagt, dass wir uns nicht Erzählstrukturen bewusst zuwenden sollen, aber wir müssen darauf achten, dass wir sie nicht verselbständigen. Sie gewinnen selbst erst ihre Bedeutung, wenn wir erkennen, wie sie den Sinn der individuellen Geschichte bestimmen. Was immer auch Dekonstruktivisten behaupten, wir sprechen nicht, um Sprache anzuwenden, sondern wir setzen Sprache dafür ein, um unsere Bedürfnisse zu artikulieren und mit Anderen Kontakt aufzunehmen. Wir sind, wie wir noch genauer sehen werden, auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Insofern dürfen wir Sprache im Sinne von de Saussure nicht auf langue reduzieren, sondern müssen uns der parole zuwenden. Wie können wir uns erklären, dass Geschichtenschemata angeboren sind? In Anlehnung an Walter Burkert führt Eibl aus, dass "gute" Geschichten leicht verständlich sind, weil ihre "Grundstruktur etwas ab[bildet], was in unserem <?page no="19"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 19 Geist oder Gehirn als Schema, Skript, Gestalt usw. darauf wartet, bestätigt zu werden. Es gibt, um es pointiert zu sagen, angeborene Plots" (ibid.: 265). Ein solcher angeborener Plot ist die Nahrungssuche, die für ein paar Millionen Jahre die wichtigste Tätigkeit des Menschen war. Das bedeutet nicht, dass alles Suchen auf Nahrungssuche zurückgeführt werden muss. Die Suche kann sich auch auf das höchste Gut, den Gral, richten. Entscheidend ist, dass wir erkennen, dass wir das jeweils Einzelne immer schon auf ein Ganzes beziehen, und dabei einer Struktur folgen, bei der die Abfolge von Handlungen zu einem Höhepunkt, der oft mit einer Störung, einem Konflikt und einer Normverletzung verbunden ist, führt und zur Normalität zurückkehrt, wobei Freude darüber herrscht, dass das Abenteuer bestanden wurde. Plots verhindern, dass die Welt in isolierte Einzelheiten zerfällt. Geschichten haben eine Grundstruktur, mit der wir uns in der Welt orientieren können: Die Individuen befinden sich auf diese Weise immer in Geschichten, d.h. in sinnvollen Ereignis-Sukzessionen. Ob diese Ereignis-Sukzessionen dann auch tatsächlich als Entwürfe realer Geschichtsabläufe gehandhabt werden und verfolgt werden, ist nicht einmal so wichtig. Entscheidend ist, dass die Einbettung das Einzelereignis im Augenblick aus seiner Isolation löst und zum Teil einer sinnvollen Ereigniskette macht. Insofern sind wir alle Dichter. (Ibid.: 265) Wir benötigen Schemata und Plots, die es uns ermöglichen, in den Blick zu bekommen, was für uns wichtig ist. Das gilt auch für die Nahrungssuche: Eine solche Regel kann lauten: "Achte auf Rotes! ", weil das häufig die Farbe reifer Früchte ist. Aber wenn diese Suchregeln zu genau werden, dann verfehlt der Organismus die allernächsten Leckerbissen, nur weil sie etwas ungewöhnlich angeordnet oder gefärbt sind. (Ibid.: 267) Suchschemata müssen offen sein, weil der Mensch über die ganze Welt verstreut ist und er sich an die jeweiligen Lebensbedingungen anpassen muss. Dabei geht es um vielfältige Suchschemata, zu denen beispielsweise auch die für Kleidung, Schmuck, Werkzeuge und eine Vielfalt sozialer Bedürfnisse gehören. Deshalb können die angeborenen Plots nur hoch abstrakte Dispositionen sein. Insofern können wir auch nicht vom Plot der Ausfahrt und Heimkehr, sondern nur von einer "Art Ausfahrt-und-Heimkehr-Erwartungs- Disposition" (ibid.) sprechen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass wir beim Lesenlehren den Tabula-rasa-Empirismus überwinden, nach dem wir zuerst Einzelheiten aufnehmen und sie nachträglich zu einem Ganzen zusammensetzen. Leser besitzen ein bestimmtes Vorverständnis von Geschichten, das sie aktivieren müssen, um sie zu verstehen. Bevor wir jedoch die Bedeutung von Geschichten näher bestimmen, sei auf Literaturbegriffe hingewiesen, die Geschichten einen Erkenntnisanspruch absprechen. <?page no="20"?> 20 2. Geschichten ohne Anspruch auf Erkenntnis, moralische Relevanz Für den formalistischen Literaturbegriff beziehen sich literarische Texte nicht auf die Welt, sondern nur auf sich selbst und können daher keinen Erkenntnisanspruch erheben. Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie uns mit einem Spiel formaler Formen erfreuen und uns damit von der Welt der Erkenntnis befreien. Dieser weitverbreitete Literaturbegriff, wie wichtig er auch in bestimmten Zusammenhängen ist, lässt, wie wir sehen werden, zentrale Aspekte von Geschichten außer Acht. Auch aus Sicht der Ideologiekritik können Geschichten keinen Erkenntnisanspruch erheben, weil sie die Welt immer nur 'verzerrt' darstellen, um die Interessen der herrschenden Klasse zu fördern. Neben Formalismus und Ideologiekritik betont auch der Dekonstruktivismus, dass Texte generell keinen Erkenntnisanspruch erheben können, weil sich Sprache als ein in sich geschlossenes System nicht auf die Welt beziehen könne. Auch für den Literaturbegriff des radikalen Konstruktivismus bezieht sich Sprache nicht auf die Welt, weil in das semantisch geschlossene Gehirn keine Bedeutungen von außen eindringen könnten. Panfiktionalität und Panlinguismus bestreiten ebenfalls den Erkenntniswert von Geschichten und damit auch den Begriff der Wahrheit, indem sie die Differenz zwischen Fiktionalität und Sprache auf der einen Seite und Wirklichkeit auf der anderen einebnen. 2.1. Die formalistische Literaturauffassung Für den Formalismus sind literarische Texte selbstreferenzielle Gebilde, die wir um ihrer Form willen lesen, um die Welt, in der wir leben, vergessen zu können. Sie sollen deshalb auch keinen Bezug zu der Welt haben, in der sie entstanden sind. Daher werden Fragen nach der Intention des Autors als "intentional fallacy" (vgl. Wimsatt / Beardsley 1954a: 3-18) und Fragen nach der Wirkung des Textes auf den Leser als "affective fallacy" abgelehnt (Wimsatt / Beardsley 1954b: 21-39) abgelehnt. Literarische Texte erscheinen als kostbare Gegenstände, deren Form präzise bestimmt werden soll. Nach Roger Sell liegt dem Formalismus die Tendenz zugrunde, "to-depersonalize and dehistoricize literature" (Sell 2001: 4). Aber literarische Texte sind für Formalisten nicht nur selbstreferenziell, sondern haben auch eine unergründliche Bedeutung, die sich jeder Deutung entzieht (vgl. ibid.). Für Wayne Booth verwandelte der Formalismus literarische Texte "into a thoroughly distanced puzzle or enigma" (Booth 1994: 254). Der Leser muss sich, so kann man zu- <?page no="21"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 21 gespitzt sagen, dem literarischen Text wie einem unergründlichen Gott ehrfurchtsvoll nähern und sich ihm unterwerfen, um erlöst zu werden. Im Unterricht besteht das Ziel des Formalismus vor allen Dingen darin, Stil- und Strukturmerkmale von Märchen, Fabeln, Kurzgeschichten, Dramen, Romanen usw. zu vermitteln. Es ist unbestreitbar, dass er damit unsere Aufmerksamkeit für Stil- und Strukturmerkmale geschärft hat, aber er hat gleichzeitig die Lesemotivation geschwächt. Wie schon erwähnt, lesen wir literarische Texte nicht, um zu demonstrieren, dass wir ihre Stil- und Strukturmerkmale erkennen und benennen können. Zudem lässt sich die Form nicht vom Inhalt trennen, so dass die Bedeutung von Formen nur in der Rezeption individueller Inhalte erfahren werden kann. Besonders problematisch erweist sich die Auffassung des Formalismus, die besagt, dass Leser, die sich mit Charakteren identifizieren und mit ihnen denken und fühlen, literarisch ungebildet sind und daher umerzogen werden müssen. Nach seiner Sicht 'wissen' literarisch gebildete Leser, dass Charaktere nur aus Worten bestehen und weder denken noch fühlen können und dass literarische Texte nicht um ihrer Inhalte, sondern um ihrer Form willen gelesen werden. In Kulturen der Empathie kritisiert Fritz Breithaupt Formalismus und Strukturalismus, weil beide das emotionale und moralische Engagement der Rezipienten nicht erfassen. Dieses Engagement ist nicht ein Mangel, sondern ein wesentliches Moment literarischer Bildung: Erst wenn und weil der Leser / Hörer / Erzähler sich für den einen und nicht den anderen entschieden hat, nimmt er Anteil, konstruiert dessen Geschichte, narrativiert. Was dem rein Narrativen fehlt, ist eben dieser menschliche Akt der Parteinahme. (Breithaupt 2009: 171) Würden wir nicht Partei ergreifen und Anteil nehmen, könnten Geschichten bzw. literarische Texte keine Wirkung erzielen. Für den Formalismus ist Parteinahme der Sündenfall, weil sie erkennen lässt, dass wir bei der Lektüre literarischer Texte nicht eine Welt reiner Formen, sondern eine Welt von Konflikten betreten und dabei kognitiv, emotional und moralisch herausgefordert werden. Formalismus und Strukturalismus missverstehen Tragödien. Sie sind keine reinen Formen, sondern lösen Emotionen wie Furcht und Mitleid aus: Ständen sich die Kontrahenten in der Tragödie einfach gegenüber, ohne dass Zuschauer für die eine Sache (oder auch beide) Partei ergriffen, wäre das Schauspiel leer. Es erginge diesen Zuschauern wie den Zuschauern bei einem Sportwettkampf, der sie nicht betrifft. Nur die Fans können Ereignisse wie einen "Ballverlust" aus der Sicht ihrer Helden als gravierende Kehrtwende wahrnehmen. (Ibid.: 168) <?page no="22"?> 22 Der Formalismus will der Semantik und Pragmatik der Sprache entkommen, um den Bereich reiner Sprache zu betreten. Aber damit verkennt er das Wesen der Sprache. Daher kann Eibl schreiben: "Die Lust an der Sprache ohne semantische Dimension wäre keine Lust an der Sprache. Sie schließt immer schon die semantische Dimension ein, selbst da, wo sie sie verweigert" (Eibl 2004: 340). Sprache ist nach Gerhard Kaiser welthaltig und hat ihren Sitz im Leben: Letztendlich haben alle Wörter und Sätze mit ihren optischen und akustischen Substraten ihren Sitz im Leben und weisen darauf zurück. Selbst die Dada- Bewegung infolge des ersten Weltkrieges und die sogenannte Konkrete Poesie unserer Zeit mit ihren graphischen Wort- und Buchstabenspielen leben von der Sensation, daß sie den Bezug von Sprache auf Sachverhalte unserer Lebenspraxis voraussetzen, indem sie ihn zur Diskussion stellen. (Kaiser 2005: 10) Der Formalismus lenkt mit Recht die Aufmerksamkeit auf die Form, aber er missversteht sie, indem er eine unüberbrückbare Kluft zwischen Form und Inhalt errichtet. 2.2. Literatur als Ideologie Im Gegensatz zum Formalismus betont die Ideologiekritik, dass fiktionale Geschichten und literarische Texte sich auf die Welt, in der wir leben, beziehen und dass sie uns von einer bestimmten Weltsicht überzeugen wollen, aber sie betont gleichzeitig, dass diese Weltsicht uns täuscht. Sie ist Ideologie, d.h. sie ist Ausdruck eines 'falschen Bewusstseins' und steht im Dienste der herrschenden Klasse, die an der Aufrechterhaltung einer ungerechten Gesellschaftsordnung interessiert ist. Wie immer wir die Rezeption von literarischen Texten im Besonderen und von Kunst im Allgemeinen begründen, der Ideologiekritiker wird diesem Tun, wie Bruno Latour aufzeigt, wenig schmeichelhafte Motive zuschreiben: "Jede Skulptur, jedes Gemälde, jede Hautecuisine-Speise, jeder Techno-Rave und jeder Roman sind bis zur Nichtigkeit durch die sozialen Faktoren erklärt worden, die sich 'hinter ihnen verbergen'" (Latour 2007b: 406). Ideologiekritiker verlangen, "alles, was die Leute sagen, unter Verdacht zu stellen, denn natürlich wissen wir, daß sie im Bann einer kompletten illusio hinsichtlich ihrer wahren Motive leben" (Latour 2007a: 14). Wenn gewöhnliche Kunstliebhaber erklären, "warum sie bewegt, berührt und ergriffen werden von Kunstwerken, die sie dazu bringen, Dinge zu empfinden" (Latour 2007b: 406), wird der Ideologiekritiker sie darüber aufklären, dass es in Wirklichkeit gar nicht um Kunst, sondern um das Klasseninteresse geht. Der Ideologe spielt nach Latour die Rolle eines negativen König Midas, <?page no="23"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 23 bei dem alles, was er anfasst, wertlos wird. Terry Eagleton wirft Ideologiekritikern mangelndes historisches Bewusstsein vor, wenn für sie Kunst generell nur ein Klasseninteresse verfolgt: Homer was not a liberal humanist, Virgil did not champion bourgeois values. Shakespeare put in a good word for radical egalitarianism, Samuel Johnson cheered on popular insurrection in the Caribbean, Flaubert despised the middle class and Tolstoy had no time for private property. (Eagleton 2009: 52) Eagleton stellt den Grundsatz der "Cultural Studies" infrage, der besagt, dass kulturelle Produkte inhärent politisch seien und dass wir über deren politische Implikationen wachen müssen (vgl. ibid.: 122). Es ist nicht zu bestreiten, dass kulturelle Produkte im Kampf um Klasseninteressen eingesetzt werden können, aber es ist entschieden falsch, Geschichten und literarische Texte auf diese Funktion zu reduzieren und ihnen grundsätzlich einen Anspruch auf Erkenntnis abzusprechen. Ideologiekritiker sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie in einer Welt, in der alle anderen Menschen von Klasseninteressen und von einem 'falschen Bewusstsein' beherrscht werden, den Anspruch erheben, dass sie das 'richtige Bewusstsein' besitzen. Ich kann hier nicht nachzeichnen, welche Versuche unternommen worden sind, um dieses Problem zu lösen, sondern will nur darauf hinweisen, dass wir im Rahmen der Ideologiekritik keine Begründung für, sondern nur gegen die Rezeption von Geschichten geben können. Aus Sicht der Ideologiekritik sollten wir froh sein, wenn Schüler und Schülerinnen keine Geschichten lesen. Es wäre wenig sinnvoll, sie zunächst zu ihrer Lektüre zu ermutigen, um sie anschließend vor ihnen zu warnen. Übrigens wurde in den 1970er Jahren die Abschaffung der Literatur im Fremdsprachenunterricht auch mit dem Argument begründet, dass die Chancen der Unterschichtenkinder erhöht würden, wenn sie nicht mehr die Literatur der Ober- und Mittelschichtenkinder lesen müssten. Der Formalismus wirft der Ideologiekritik vor, dass sie fiktionale Geschichten bzw. literarische Texte von vornherein missversteht, weil sie ihnen einen Erkenntnisanspruch zuschreibt. Begreift man sie jedoch als selbstreferenzielle Gebilde, können sie die Welt gar nicht 'verzerrt' darstellen. Doch eine Auffassung von Geschichten und literarischen Texten, die ihnen einen Erkenntnisanspruch abspricht, entwertet sie und nimmt ihnen ihre soziale, moralische und politische Bedeutung. 2.3. Der dekonstruktivistische Literaturbegriff Der Dekonstruktivismus fordert, dass wir unser Leben dem Lesen von Texten widmen, wobei aber eine besondere Art des Lesens gefordert wird: Wir sollen <?page no="24"?> 24 sie so lesen, dass wir dabei die Unmöglichkeit des Lesens erfahren. Literarische Texte geben uns somit einen Einblick in die wahre Natur der Sprache, die uns sonst verborgen bleibt. Bei Hillis Miller heißt es: To live is to read, or rather to commit again and again the failure to read which is the human lot. We are hard at work trying to fulfill the impossible task of reading from the moment […] we wake in the morning until the moment we fall asleep at night, and what are our dreams but more lessons in the pain of the impossibility of reading […]. (Miller 1987: 59) Das Lesen von Texten erweist sich für den Dekonstruktivismus grundsätzlich als unmöglich, weil die kafkaesken Gesetze der Sprache verhindern, dass Autoren und Autorinnen sagen können, was sie sagen wollen. Ferner ist das Lesen unmöglich, weil Sprache generell ein geschlossenes Gebilde ist und sich nicht auf die Welt beziehen lässt. Die referenzielle Sprachfunktion gilt grundsätzlich als Illusion. Darüber hinaus gilt für den Dekonstruktivismus, dass wir nicht den Sinn eines Textes erfassen können, sondern dass er sich im unendlichen Spiel der Signifikanten auflöst. Aus dekonstruktivistischer Sicht sind wir Opfer der Sprache. Wir sprechen nicht die Sprache, sondern werden von ihr gesprochen und können daher auch nicht für das, was wir sprechen und schreiben, verantwortlich gemacht werden. Mit einer solchen Sprachauffassung verstricken sich Dekonstruktivisten in einen performativen Widerspruch, weil sie für sich in Anspruch nehmen, dass sie sagen können, was sie sagen wollen, was nach ihrer eigenen Theorie jedoch gar nicht möglich sein kann. Umberto Eco hat daher nicht ohne Sarkasmus darauf hingewiesen, dass sich der Dekonstruktivist als "auserwählter Übermensch" fühlen könne, der "die einzige Wahrheit begreift, nämlich daß der Autor selber nicht wusste, wovon er redete, weil die Sprache an seiner Stelle geredet hat" (Eco 1999: 74) (vgl. zur Kritik am Dekonstruktivismus Bredella 2010: 56-70). Sicherlich ist das Verhältnis zwischen Sprache und Welt ein komplexes Verhältnis, auf das wir besonders auch bei der Rezeption literarischer Texte achten müssen, aber dieses Verhältnis wird nur bedeutsam, wenn es das Wesen der Sprache ist, sich auf etwas zu beziehen, was nicht Sprache ist. Am Dekonstruktivismus wird besonders deutlich, dass mit der jeweiligen Sprach- und Literaturauffassung immer auch ein bestimmtes Menschenbild verbunden ist. Der Dekonstruktivismus vertritt ein anti-humanistisches Menschenbild. Nicht der Mensch, sondern die Sprache wird zum Subjekt erhoben, so dass der Mensch ein Opfer der Sprache ist. Daher ist Selbstbestimmung für den Dekonstruktivismus nicht möglich. <?page no="25"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 25 2.4. Der Literaturbegriff des radikalen Konstruktivismus Ist der Mensch aus der Sicht des Dekonstruktivismus ein Opfer der Sprache, ist das menschliche Gehirn aus der Sicht des radikalen Konstruktivismus allmächtig und erschafft sich seine eigene Welt. Das bedeutet für die Literaturdidaktik, dass wir Texte, die wir zu lesen glauben, in Wirklichkeit selbst schreiben. Lesen ist unmöglich, weil wir von außen keine Bedeutungen in unser semantisch geschlossenes Gehirn aufnehmen können. Nach Michael Wendt wird das semantisch geschlossene Gehirn nur von bedeutungslosen Schallwellen "von außen wie ein Fußball durch einen 'Kick' getroffen" (Wendt 1996: 39). Texte können uns somit von außen durch bedeutungslose Schallwellen anregen, selbst Texte zu schreiben, die jedoch keinen Leser finden können. Für Wendt sind Texte ein Angebot, "Bedeutungen selbst zu erschaffen" (ibid.: 18). Für das semantisch geschlossene Gehirn besteht ein Text nur aus bedeutungslosen schwarzen Punkten auf weißem Papier. So führt der radikale Konstruktivismus zum "despotischen Solipsismus" (Brandt 2009: 51). Es gibt für den radikalen Konstruktivismus nichts außerhalb unseres Gehirns, und wenn es etwas gäbe, könnten wir es nicht erkennen, weil alles von unserem allmächtigen Gehirn erschaffen wird. Wie kann eine solche Auffassung, die fundamental unseren alltäglichen Erfahrungen widerspricht, überhaupt vertreten werden? Alva No ë , der sich kritisch mit dem radikalen Konstruktivismus auseinandersetzt, weist zunächst darauf hin, dass der radikale Konstruktivismus den Eindruck erwecke, dass das allmächtige Gehirn unabhängig von unserem Körper existiere: The brain calculates and infers and eventually produces commands so that we act. We really are our brains, and our bodies are at most robotic tools at our brains' disposal. The brain is sole author of what is in fact a grand illusion: that we inhabit a richly detailed and meaningful world, that we are the sort of beings we think we are. (No ë 2009: 4) Nach No ë kommt die Auffassung, dass unser allmächtiges Gehirn die Welt erschafft, durch eine unzulässige Verallgemeinerung von Erkenntnissen über das Sehen zustande. Das Sehen wird seit Jahrhunderten intensiv erforscht, wobei die Auffassung nahe gelegt wird, "that the brain is the creator and the world is a grand illusion" (ibid.: 131), weil wir auf der Netzhaut Dinge 'verkehrt' sehen und weil das Gehirn zwei-dimensionale Bilder in dreidimensionale umwandelt: According to this story, seeing happens 'in here', somewhere where the light strikes the eye and the back of the head. […] The world causally perturbs the nervous system at its periphery (the senses), thus giving rise to the events that cause us to seem to see. (Ibid.: 136f.) <?page no="26"?> 26 Aus der Auffassung, dass wir nur sehen, was wir erwarten, ist der Schluss gezogen worden, dass wir nur sehen können, was wir erwarten (ibid.: 137). Aber dieser Schluss ist überzogen. Wir erzeugen nicht die Welt, die wir zu sehen glauben. Das zeigt sich schon daran, dass wir die Welt nie als Ganzes sehen, sondern dass wir sie nur in der Bewegung erfahren. Wir müssen beispielsweise um ein Gebäude herum gehen, um seine Rückseite zu sehen: "The world doesn't show up for me as present all at once in my mind. It shows up as within reach, as more or less nearby, as more or less present" (ibid.: 141). Wir sehen die Welt in einer bestimmten Weise, nicht weil wir sie so erschaffen, sondern weil sie so ist (vgl. ibid.: 141f.). Wir dürfen die Differenz zwischen Sehen und Erzeugen nicht einebnen: Seeing is an activity of exploring the world, one that depends on the world and on the full character of our embodiment. Far from being the case that the world is a grand illusion, we find that we are at home in the world, that we are of it. (Ibid.: 146) Die Welt existiert nicht nur in unserem Gehirn als dem vermeintlichen "Weltschöpfer", sondern erschließt sich uns erst, indem wir mit unseren Handlungen auf das antworten, was uns widerfährt (vgl. ibid.: 164). Es ist der Irrtum des radikalen Konstruktivismus, dass er den Menschen auf das Gehirn reduziert und seinen Körper in der Interaktion mit seiner Umwelt nicht beachtet: Consciousness requires the joint operation of brain, body, and world. Indeed, consciousness is an achievement of the whole animal in its environmental context. I deny, in short, that you’re your brain. But I don’t deny that you have a brain. And I certainly don't deny that you have a mind. (Ibid.: 10) Der radikale Konstruktivismus wiederholt den Dualismus, den Descartes mit der Unterscheidung zwischen "res cogitans" und "res extensa" eingeführt hat und mit dem man nicht erklären kann, wie man in der Welt überhaupt handeln kann. Deshalb ist wichtig, daran zu erinnern, dass wir körperliche Wesen sind, die, um überleben zu können, sich nicht nur eine Welt ausdenken, sondern in ihr handeln müssen. Um zu beweisen, dass wir auch ohne "res extensa" auskommen können, haben Gehirnphysiologen bestimmte Stellen im Gehirn gereizt, so dass der Eindruck entsteht, dass wir sie uns vorstellen, obwohl sie gar nicht existieren (vgl. ibid.: 174). Aber diese Experimente können nicht beweisen, was sie beweisen sollen. Denn, wenn es die äußere Welt nicht gibt, müssten sich auch die Gehirnphysiologen vorstellen, nur bestimmte Stellen im Gehirn ihrer Probanden zu reizen. In Das Gehirn - ein Beziehungsorgan zeigt Thomas Fuchs eindringlich auf, dass das Gehirn kein "Weltschöpfer", sondern ein Beziehungsorgan ist: Wenn es um andere Menschen geht, können wir uns nicht auf einen radikalkonstruktivistischen Standpunkt zurückziehen. Denn damit würden wir nicht nur seine Gegenwart zu einer virtuellen erklären, sondern auch die notwendi- <?page no="27"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 27 gen Begrenzungen aufheben, die der Andere für unser eigenes Selbst-Sein darstellt. Der Andere ist für mich wirklich - und dadurch gewinne ich selbst erst Wirklichkeit. Ich kann kein solipsistisches oder Konstruktwesen mehr sein. (Fuchs 2009: 48) Die Vorstellung, dass wir Texte nicht lesen, sondern nur schreiben, verhindert die elementare Einsicht, dass wir durch Texte kommunizieren und uns miteinander verständigen. 2.5. Geschichten im Rahmen der Panfiktionalität und des Panlinguismus Panfiktionalität und Panlinguismus führen zu der modischen Entwertung des Begriffs der Wirklichkeit. Im Glossar zu Animal Poeta: Bausteine der biologischen und Kultur- und Literaturtheorie schreibt Eibl über den Begriff "Wirklichkeit": In manchen wissenschaftlichen Milieus hält man das für ein Wort, das nur noch wissenschaftliche Stallknechte im Munde führen. Die Einsicht, dass wir die Wirklichkeit, d. h. unser Wirklichkeitsbild, 'konstruieren' ist aber eher trivial. Weniger trivial ist, dass an dieser Konstruktion sowohl das Genom als auch die Gesellschaft / Kultur beteiligt ist. Und von radikalen Konstruktivisten vernachlässigt wird, dass wir mit unseren Konstruktionen auch scheitern können. Zur Vermeidung sprachlicher Krämpfe spreche ich weiterhin von Wirklichkeit. Ich verstehe darunter die Menge der Ereignisse, an denen wir bei unseren Operationen scheitern (oder scheitern können) und die wir deshalb bei unseren Folgeoperationen in unsere Wirklichkeits-Konstruktion einzubauen versuchen. (Eibl 2004: 370) Eine ganze Reihe postmoderner und poststrukturalistischer Denker betrachten die Annahme einer Wirklichkeit als erkenntnistheoretisch naiv und sehen in der Überwindung des Begriffs der Wirklichkeit eine Befreiung von Zwängen und Einschränkungen. Mit der Abschaffung des Begriffs der Erkenntnis wird auch der Begriff der Wahrheit abgeschafft. Nach Richard Rorty ist es unmöglich zu fragen, ob etwas wahr oder falsch ist, weil die Antwort auf diese Frage bedeuten würde, dass wir aus unserer Sprache heraustreten können, um zu sehen, wie die Dinge unabhängig von unserer Sprache sind. Das kann nur Gott; für uns endliche Menschen ist es unmöglich. Wir sind in unserer Sprache gefangen und können nicht die Welt erkennen: If all awareness is a linguistic affair, then we are never going to be aware of a word on the one hand and a thing-denuded-of-words on the other and see that the first is adequate to the second. (Rorty 1991a: 100) <?page no="28"?> 28 Nach dieser Auffassung beschreibt Sprache nicht unsere Welt, sondern erfindet sie, so dass die Unterscheidung zwischen wahr und falsch irrelevant wird. Nach Rorty können wir nicht sagen, dass Newton und Kopernikus das ptolemäische Weltbild widerlegt haben, sondern können nur sagen, dass sie ein neues Weltbild erfunden haben, das uns besser gefällt als das vorhergehende. Die Theorien von Ptolemäus, Newton, Kopernikus, Galilei und Aristoteles sagen, so Rorty, nichts über die Welt aus, sondern nur etwas darüber, was wir gegenwärtig für interessant halten. Für Rorty ist die Auffassung - "the world speaks Newtonian" (Rorty 1989: 6) - erkenntnistheoretisch unhaltbar. Es gibt nach seiner Sicht nicht "Dinosaurier" dort draußen, sondern es gibt sie nur, weil wir über sie sprechen (Rorty 1998: 90). Rorty kann nicht den Anspruch erheben, dass seine Auffassung wahr ist. Er kann nur darauf hinweisen, dass sie attraktiver ist als die Auffassung, die glaubt, dass wir die Welt erkennen können. Wir sollten die Welt der Wissenschaftler verlassen und die Welt der Dichter betreten. Dadurch würden wir die Welt entscheidend verändern: There would be less talk about rigor and more about originality. The image of the great scientist would not be of somebody who got it right but of somebody who made it new. The new rhetoric would draw more on the vocabulary of Romantic poetry and socialist politics, and less on that of Greek metaphysics, religious morality, or Enlightenment scientism. (Rorty 1991b: 44) Mit dem Panlinguismus ist die Auffassung verbunden, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind. Deshalb wird immer wieder der Satz von Wittgenstein zitiert: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" (zitiert in Eibl 2009b: 272). Diesen Satz hätte auch Rorty schreiben können, um auszudrücken, wie wir in unserer Sprache gefangen sind. Aber dieser Satz ist, wie Eibl hervorhebt, einerseits trivial und tautologisch und ist andererseits falsch, wenn er "mit dem dramatischschicksalhaften Unterton zitiert wird, als bedeute er die Einkerkerung der Seele in die Entfremdung der Sprache" (ibid.). Sprache, so Eibl, ist durchlässig für die Erfahrungen, die wir in der Welt und in anderen Sprachen machen und deshalb kommt es zum Sprachwandel. Sprachliche Grenzen lassen sich, anders als Kerkermauern, verschieben. Wir können fremde Sprachen lernen und fremde Kulturen verstehen. Wäre unsere Umwelt nur ein Konstrukt unserer Sprache, wären die Herausforderungen, die wir durch eine sich verändernde Umwelt erfahren, gar nicht verständlich. Mit der Entwertung der Wirklichkeit ist auch die Entwertung des Begriffs der Wahrheit verbunden. Wenn es keine Wirklichkeit gibt, die wir erkennen können, verliert die Forderung nach Wahrheit ihre Bedeutung. Sie wird gleichgültig, wenn nicht schädlich. Das ist eine zentrale Herausforderung an unser bisheriges Menschenbild. In seiner Schrift Über die Wahrheit setzt sich <?page no="29"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 29 Harry G. Frankfurt kritisch mit der Forderung postmoderner Denker nach Abschaffung der Wahrheit auseinander. Er wendet sich zunächst gegen ihre Auffassung von Wahrheit: Was ein Mensch als wahr ansieht, ist entweder lediglich eine Funktion des individuellen Standpunkts dieses Menschen oder es ist durch das bestimmt, was der Mensch durch verschiedene komplexe und unentrinnbare gesellschaftliche Zwänge als wahr anzusehen gezwungen ist. (Frankfurt 2007a: 24) Für Frankfurt handelt es sich bei der Kritik an der Wahrheit um eine oberflächliche Auffassung, die zentrale Momente unserer Erfahrung nicht erfasst. Ingenieure und Architekten müssen beim Bau einer Brücke exakte Messungen vornehmen, um zu verhindern, dass die Brücke einstürzt, und diese Messungen müssen zudem konstant und korrekt sein (ibid.: 25). Ein solcher Erkenntnisanspruch gilt auch für die Medizin: "Ärzte müssen danach streben, begründete Urteile zu fällen, wie man mit Krankheiten und Verletzungen umgeht" (ibid.: 26). Sie müssen wissen, welche Wirkungen von Medikamenten ausgehen. Daher würde sich wohl kein Patient einem Arzt anvertrauen, der nicht an der Unterscheidung zwischen wahren und falschen Urteilen interessiert ist. An vielen Beispielen macht Frankfurt die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit eindringlich deutlich und stellt die postmoderne Geringschätzung der Wahrheit infrage. Wie Frankfurt betont auch Eibl im Rahmen der evolutionären Biologie und Psychologie die Bedeutung des pragmatischen Wahrheitsbegriffs. Wer nicht zwischen wahren und falschen Informationen unterscheiden kann, wird nicht überleben können: Aussagen haben die biologische Funktion, Informationen über die Umwelt zu konservieren und zu transportieren, damit man in dieser Umwelt erfolgreich handeln kann. Ist eine solche Information falsch, dann führt dies zu unangepaßtem Handeln. (Eibl 2009a: 126) Postmoderne Denker haben die Korrespondenztheorie der Wahrheit als naiv kritisiert, aber sie ist ein unverzichtbares Moment, wenn es um die Wahrheit geht, auch wenn sie allein nicht ausreicht. Wir müssen auch auf Konsistenz und Kohärenz und Widerspruchsfreiheit achten: Für die einfachen Leute, die Pilze sammeln oder Kraftwerke bauen, gilt weiterhin: Wenn eine zwischenweltliche Information zu der Auskunft führt, dass ein Pilz sowohl giftig ist als auch nicht oder dass ein Kraftwerk vielleicht explodiert oder auch nicht, dann ist diese Information unbrauchbar. Auch hier ist das Handeln die entscheidende Probe. (Ibid.: 127) Zum erfolgreichen Handeln gehört ferner, dass wir den Rat unserer Mitmenschen einholen und uns mit ihnen über gemeinsame Ziele und Zwecke ver- <?page no="30"?> 30 ständigen. Insofern gehört zum Handeln die Konsenstheorie der Wahrheit, wie sie Jürgen Habermas entwickelt hat. Aber sie allein reicht nicht aus. Man kann nicht durch Konsens ohne Bezug auf die Realität klären, ob Kraftwerke explodieren und ob bestimmte Pilze giftig sind. Wir müssen uns deshalb kritisch gegenüber der Entwertung der Wahrheit verhalten. Es ist in jedem Fall höchste Vorsicht geboten, wenn verkündet wird: "alles sei Fiktion (und alle Rede metaphorisch), alles sei Konstruktion, alle Differenz sei Trug, weil es die Wirklichkeit gar nicht gibt oder weil wir sie nicht erkennen können" (Eibl 2004: 278). Wir können die Frage nach der Wahrheit nicht als überholt beiseite schieben: Denn für den praktischen Einsatz unseres Wissens ist es von größter, lebenswichtiger Bedeutung, ob Informationen wahr oder erfunden sind, ob zwei Tagereisen weiter wirklich eine Wasserstelle ist oder ob der Kundschafter nur anregend flunkert. Menschen, die diese Unterscheidung nicht machen konnten, sind sehr bald aus der Evolution ausgeschieden. (Ibid.) Eibl begründet die Bedeutung der Wahrheit mit Einsichten der evolutionären Biologie und Psychologie. Janich begründet sie mit handlungstheoretischen und sprachphilosophischen Argumenten. Er orientiert sich dabei am amerikanischen Pragmatismus. In beiden Fällen wird Wahrheit nicht vorgefunden, sondern "erzeugt" (Janich 2005: 50): "Danach sind wahre Gedanken stets wertvolle Instrumente für das Handeln, falsche nicht" (ibid.: 49). Janich zitiert zustimmend William James: Konkrete Wahrheiten, in der Mehrzahl, müssen nur dann anerkannt werden, wenn ihre Anerkennung zu etwas dient…Unsere Pflicht, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen, hat, wie man sieht, ihren Grund in einem Dickicht konkreter Nützlichkeit. (James in ibid.) Wir können uns nicht so schnell über den Begriff der Wahrheit hinwegsetzen, wie dies eine Reihe panfiktionaler und panlinguistischer Auffassungen nahe legen. Die damit versprochene Befreiung ist mehr als fragwürdig. Wir lernen uns erst verstehen, indem wir uns nicht über die Wirklichkeit hinweg-, sondern uns mit ihr auseinandersetzen und unsere Grenzen erfahren: Wir lernen, was wir tun können und was wir nicht tun können und was für Anstrengungen wir unternehmen müssen, um das zu erreichen, was tatsächlich möglich ist. Wir lernen unsere Kräfte und Verwundbarkeiten kennen. Das verschafft uns nicht nur ein noch nachdrücklicheres Gefühl unserer Eigenständigkeit. Es definiert für uns die spezifische Art von Wesen, die wir sind. (Frankfurt 2007a: 93) Wie sehr wir an dem Erkennen der Wirklichkeit und der Wahrheit interessiert sind, wird an der Lüge deutlich, die unser Vertrauen in Andere und un- <?page no="31"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 31 ser Zusammenleben unterminiert. Wir haben das Gefühl, dass Lügen uns verletzen. Woraus resultiert dieses Gefühl? Das Schlechte an Lügen ist zumindest, daß es ihnen gelingt, unser natürliches Bemühen um ein Begreifen der wirklichen Sachlage zu stören und zu beeinträchtigen. Sie sind darauf angelegt, uns daran zu hindern, im Kontakt mit dem zu sein, was wirklich vor sich geht. (Ibid.: 72) Die Lüge versetzt uns in eine Scheinwelt, die nicht den Fakten entspricht, und der Lügner versucht uns seinen Willen aufzuzwingen: "Insofern ihm [dem Lügner] dies gelingt, eignen wir uns eine Weltsicht an, die ihre Quelle in seiner Phantasie hat, anstatt direkt und verlässlich auf die relevanten Fakten gegründet zu sein" (ibid.: 73). Lügen zerstören unseren Glauben an die Realität: "Sie sind somit auf eine ganz reale Weise dazu bestimmt, uns verrückt zu machen. Insoweit wir ihnen Glauben schenken, wird unser Geist von Fiktionen, Phantasien und Illusionen okkupiert und beherrscht, die sich der Lügner für uns ausgedacht hat" (ibid.). Aber nicht nur das Opfer der Lüge wird von der Wirklichkeit abgeschnitten, sondern auch der Lügner selbst wird von ihr getrennt und gerät in eine einsame Welt. Seine Welt ist einsam, wie Frankfurt in Anlehnung an Adrienne Rich ausführt, "weil der Lügner nicht einmal offenbaren kann, dass er einsam ist - daß in seiner erfundenen Welt niemand wohnt -, ohne dadurch zu enthüllen, daß er gelogen hat" (ibid.: 75). Wir sehen hier, wie bedenklich Panfiktionalität und Panlinguismus sind, die den Begriff der Wirklichkeit und den Begriff der Wahrheit entwerten. 2 2 In Linguistik der Lüge weist Harald Weinrich darauf hin, dass der Sprachforscher Friedrich Kainz die Sprache auf Lügenhaftes untersucht und davon so viel findet, dass wir nicht nur sagen können, dass die Sprache für uns denkt und dichtet, sondern auch für uns lügt: "Er [Kainz] prägt dafür den Ausdruck "Sprachverführung". Der Ausdruck besagt daß unser Denken sich in sprachlichen Bahnen bewegt und daß die Lügen der Sprache folglich auch unser Denken zur Lüge zwingen (Weinrich 2006: 10). Weinrich verweist auf weitere Äußerungen von Autoren, die deutlich machen, dass die Lüge gleichsam zum Sprechen und Denken gehört: In dem Dialog Der Kapaun und der Masthahn von Voltaire heißt es: "Sie [die Menschen] bedienen sich des Denkens nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen, und benutzen ihre Worte nur, um ihre Gedanken zu verkleiden" (Voltaire in ibid.: 8). Doch diese Äußerungen stellen die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge nicht infrage, sondern setzen sie voraus. Wir könnten nicht von "Sprachverführung" sprechen, wenn wir zwischen Wahrheit und Lüge nicht unterscheiden könnten. <?page no="32"?> 32 3. Der Erkenntnisanspruch fiktionaler Geschichten Ich habe in Kapitel 1 aufgezeigt, wie Geschichten als eine grundsätzliche Erkenntnisform Handlungen erhellen und nachvollziehbar machen. Hier gilt es, den Erkenntnisanspruch fiktionaler Geschichten näher zu bestimmen. Wie der Anthropologe Victor Turner in seinen Büchern ausführt, halten uns literarische Texte den Spiegel vor, wobei es sich um magische Spiegel handelt: "they exaggerate, invert, re-form, magnify, minimize, dis-color, re-color, even deliberately falsify, chronicled events" (Turner 1988: 42). Wer uns den Spiegel vorhält, bildet die Welt nicht einfach ab, sondern erhebt einen Anspruch auf Erkenntnis und moralische Relevanz. Für Formalisten liegt die Bedeutung literarischer Texte darin, dass sie keinen Anspruch auf Erkenntnis und moralische Relevanz erheben. Aus ihrer Sicht hat in der modernen Welt eine Ausdifferenzierung zwischen dem Bereich der Erkenntnis, für den die Wissenschaft zuständig ist, dem Bereich der Moral, für den die Ethik zuständig ist, und dem Bereich der Kunst, für den die Ästhetik zuständig ist, stattgefunden (vgl. Bredella 2002: 164-168). In diesem Rahmen scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass fiktionale Geschichten keinen Erkenntnisanspruch erheben. Betrachten wir daher den Begriff der Fiktionalität etwas näher. Frank Zipfel definiert fiktionale Geschichten wie folgt: "Die Geschichte handelt von nicht-wirklichen Ereignissen, nichtwirklichen Figuren, nicht-wirklichen Orten oder nicht-wirklichen Zeiten" (Zipfel 2009: 290). Diese Formulierung legt es nahe, fiktionale Geschichten als Fantasieprodukte im Gegensatz zur Wirklichkeit zu sehen, doch das wäre eine vorschnelle Schlussfolgerung, die die Einsicht von Turner verstellt, dass fiktionale Geschichten uns den Spiegel vorhalten können. Für Aristoteles "ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung, denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit" (Aristoteles 2001: 29). Das bedeutet jedoch nicht, dass Dichtung in Philosophie übergeht, denn Aristoteles fügt hinzu, dass das Allgemeine der Dichtung in den individuellen Handlungen der einzelnen Charaktere zum Ausdruck kommt. Nach Aristoteles kann der Dichter im Gegensatz zum Historiker Handlungen der Charaktere erfinden, um eine bestimmte notwendige oder wahrscheinliche Handlung zur Darstellung zu bringen. Erfundene Handlungen können somit einen Wahrheits- und Erkenntnisanspruch erheben. Der Schriftsteller Milan Kundera sieht zweieinhalbtausend Jahre nach Aristoteles seine Aufgabe darin, Daseinsmöglichkeiten zu gestalten: "A novel that does not discover a hitherto unknown segment of existence is immoral. Knowledge is the novel's only morality" (Kundera 1990: 5f.). Diese Forderung bedeutet für Kundera jedoch nicht, dass der Ro- <?page no="33"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 33 man um jeden Preis innovativ sein muss, sondern bedeutet nur, dass er sich nicht über den Anspruch auf Erkenntnis hinwegsetzen darf. In dem postkolonialen Roman Small Island erhebt Andrea Levy den Anspruch, dass sie an den Erfahrungen und Handlungen von vier individuellen Erzählern zur Darstellung bringt, wie sich England nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt (zur Interpretation des Romans vgl. Bredella 2010: 193-201). Das England des Romans ist nicht ein Abbild des wirklichen Englands. Eine Verdoppelung wäre weder möglich noch wünschenswert, aber das England des Romans ist kein nicht-wirklicher Ort. Ohne geografische Kenntnisse über England könnte der Leser nicht einmal den Titel des Romans Small Island verstehen. Auch das Geschehen des Romans vollzieht sich nicht in einer nicht-wirklichen Zeit, sondern bezieht sich auf historische Ereignisse und verlangt vom Leser historisches Wissen über den englischen Kolonialismus und den Zweiten Weltkrieg. Nur wenn Leser dieses Vorwissen mitbringen, kann es auch durch den Roman korrigiert werden. Bestünde keine Beziehung zwischen der Welt des Romans und der des Lesers, könnte der Roman keine Wirkung auf ihn ausüben. Fiktion bedeutet nicht, dass etwas bloß ausgedacht ist und keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Auch ein Gedicht, in dem ein Autor aufrichtig seine Erfahrungen darstellt, ist eine Fiktion. Auch was in einen Roman zur Darstellung kommt, kann wirklich stattgefunden haben. Der Roman als Fiktion besagt, dass es offen bleiben kann, ob das Dargestellte wirklich statt gefunden hat oder erfunden wurde und dass er nicht eine unmittelbare pragmatische Funktion erfüllt. Damit wird es auch ermöglich, das Dargestellte in einem größeren signifikanten Zusammenhang wahrzunehmen und zu deuten. Fiktionalität bedeutet jedoch nicht, dass Romane als frei von pragmatischen Funktionen sind. Wie wir gesehen haben, will uns Small Island von einer bestimmten Weltsicht überzeugen. Wie wir beim Spielen in Kapitel 6.3 noch genauer sehen werden, ist es durchaus vereinbar, dass wir das Spielen um seiner selbst vollziehen und dass dabei wichtige Funktionen erfüllt werden können. So können auch Befreiung und Erfüllung von pragmatischen Funktionen nebeneinander bestehen. Für Marcel Proust sind Romane "optische Instrumente", mit denen wir als Leser die Welt, in der wir leben, durchleuchten. Nussbaum greift diese Metapher auf und schreibt: "The work is, in that sense, as Proust puts it, an 'optical instrument' through which the reader may focus on certain personal realities" (Nussbaum 2006: 243). Wenn die Bedeutung der Welt einer fiktionalen Geschichte für die eigene Lebenswelt relevant werden soll, muss sie zunächst in ihrer Unterschiedenheit von der eigenen Welt wahrgenommen werden. Das wird von Michail Bachtin nachdrücklich betont: "As we have already said, there is a sharp and categori- <?page no="34"?> 34 cal boundary line between the actual world as source of representation and the world represented in the work" (Bakhtin 1994: 253). Er verdeutlicht diese Unterscheidung mit folgendem Beispiel: Wir können von einer Pflanze nur sprechen, wenn sie sich von dem Boden, in dem sie wächst, unterscheidet. Wenn wir sie aber aus dem Boden herausreißen, um sie rein zu betrachten, stirbt sie ab. Sie lebt nur in Verbindung mit dem Boden (vgl. ibid.: 253f.). Insofern kommt es bei der Rezeption literarischer Texte darauf an, dass wir die Unterschiede zwischen der Welt der Geschichten und der eigenen erkennen, um jene zur Erhellung der eigenen heranziehen zu können. 4. Zur Entwicklung moralischer Sensibilität bei der Rezeption von Geschichten Aus der Sicht des Formalismus müssen Ästhetik und Moral scharf voneinander getrennt werden. Doch eine solche Forderung übersieht, dass in fiktionalen Geschichten immer wieder dargestellt wird, wie Menschen gedemütigt werden und wie ihnen Unrecht zugefügt wird und dass wir sie ohne moralische Vorstellungen von Gut und Böse gar nicht verstehen könnten. Paul Ricœur betont in Anlehnung an Überlegungen von Aristoteles, dass das Mitleid bei der Rezeption von Geschichten eine zentrale Rolle spielt und dass wir als Rezipienten kein Mitleid empfinden könnten, "wenn der ästhetische Genuß von jeder Sympathie und Antipathie gegenüber der ethischen Beschaffenheit der Charaktere unabhängig wäre" (Ricœur 1988: 97). Nach Jerome Bruner kann es keine Geschichte ohne einen moralischen Standpunkt geben: "To tell a story is inescapably to take a moral stance, even if it is a moral stance against moral stances" (Bruner 1990: 51). Nach dem dänischen Philosophen Knud Løgstrup blieben die durch literarische Texte "ausgelösten Gedanken und Gefühle leer und unverbindlich" (Løgstrup 1998: 88), wenn wir sie nicht auf unsere Sicht- und Handlungsweisen bezögen. Bachtin schreibt in Art and Answerability: "I have to answer with my own life for what I have experienced and understood in art, so that everything I have experienced and understood would not remain ineffectual in my life"(Bakhtin 1990: 1). Wenn Formalisten betonen, dass Ästhetik und Moral scharf voneinander getrennt werden müssen, wollen sie die Literatur vor der Moral schützen und betonen deren Autonomie. Literatur habe sich von den vorherrschenden moralischen Vorstellungen emanzipiert. Aber selbst, wenn das stimmen sollte, bedeutet es nicht, dass fiktionale Geschichten einen moralfreien Raum <?page no="35"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 35 darstellen. Das würde, wie schon erwähnt, zur Entwertung der Literatur führen, weil sie zu moralischen Fragen nicht mehr Stellung nehmen könnte. Nach Mieke Bal besteht in der Literaturwissenschaft weitgehend Einigkeit darüber, künstlerische und moralische Werte voneinander zu trennen: Diese Indifferenz trat beispielsweise in der begeisterten Rezeption vehement frauenfeindlicher Romane von Norman Mailer und Arthur [sic] Miller zutage oder im berühmt-berüchtigten Fall der großartigen aber antisemitischen Romane von Louis-Ferdinand Célines. (Bal 2009: 115) "Moralische Indifferenz" bedeutet hier nicht, dass Moral in diesen Romanen keine Rolle spielt, sondern nur, dass sie für ihre Bewertung keine Rolle spielen soll. Bedeutet dies, dass sich Leser als amoralische Wesen verstehen sollen? Radikalere Formalisten werden behaupten, dass Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus in Romanen etwas ganz anderes bedeuten als Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus in der Realität, weil literarische Texte als fiktive Gebilde nichts mit der Realität zu tun haben. Generell stellt sich die Frage, was es bedeutet, einen frauenfeindlichen oder einen antisemitischen Roman wegen seines künstlerischen Wertes zu schätzen. Wie werden hier Form und Inhalt getrennt? Die von Bal konstatierte "moralische Indifferenz" wird von Thomas Mann kritisiert. Er schreibt im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der Romantrilogie Joseph und seine Brüder, dass er stolz darauf ist, die Erzählung von Joseph und Potiphars Frau so umgeschrieben zu haben, dass sie nicht mehr zur Rechtfertigung von Frauenfeindlichkeit herangezogen werden könne und dass ihm dieses Umschreiben künstlerisch gelungen sei. Bal fasst die Auffassung von Thomas Mann in den Worten zusammen: "Für seine Neuerzählung einer Geschichte aus dem religiösen Kanon reklamiert er literarische Kanonizität aus ethischen, politischen Gründen" (ibid.) und kommt bei der Interpretation verschiedener Geschichten über Potiphars Frau zu dem Ergebnis, dass es nicht möglich sei, literarische Qualität von ethischen Fragen zu trennen: Da Erzählliteratur immer an die komplizierten Zusammenhänge zwischen privaten und öffentlichen Aspekten der Subjektivität rührt, sind alle Versuche, fragwürdige ethische Standpunkte unter einer glanzvollen literarischen Gestaltung gleichsam zu verstecken, zum Scheitern verurteilt. Dergleichen auch Versuche, diese komplexen Zusammenhänge mittels moralischer Indifferenz als getrennte Bereiche zu behandeln, also ein Werk aus ethischen Gründen zu verurteilen, während man es gleichzeitig unter ästhetischen Prämissen als Teil des Kanons weiterhin liest. (Ibid.: 121) Mit Recht betont Bal, dass die Versuche, "fragwürdige ethische Standpunkte unter einer glanzvollen literarischen Gestaltung gleichsam zu verstecken, zum Scheitern verurteilt sind". Moralischen Einstellungen gehören zur ästheti- <?page no="36"?> 36 schen Erfahrung, und es ist legitim, Geschichten wegen ihrer fragwürdigen moralischen Einstellungen zu kritisieren. Dass künstlerische und moralische Werte auseinander fallen können, setzt voraus, dass sie aufeinander bezogen sind. Es ist selbst eine moralische Entscheidung, den moralischen Wert dem künstlerischen unterzuordnen. 5. Selbstbestimmung als Erziehungs- und Bildungsziel Selbstbestimmung kann nicht bedeuten, dass wir uns von allen Einflüssen frei machen und spontan entscheiden, was wir jeweils wollen. Oft werden Selbstbestimmung und Freiheit im Gegensatz zum Determinismus gesehen. Eine solche Auffassung von Selbstbestimmung und Freiheit würde sich jedoch nicht von Willkür unterscheiden. In Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit zeigen Michael Pauen und Gerhardt Roth auf, dass die Auffassung, Selbstbestimmung und Determinismus als Gegensätze zu begreifen, zwar auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität besitzt, aber sich bei genauerer Analyse als unhaltbar erweist. Eine selbstbestimmte Handlung muss, wie die beiden Autoren aufzeigen, zwei minimale Anforderungen erfüllen. Die Handlung darf nicht erzwungen und von außen vollständig determiniert sein. Pauen und Roth sprechen hier vom Autonomieprinzip, das erfüllt sein muss, um von Selbstbestimmung sprechen zu können (vgl. Pauen / Roth 2008: 27). Die zweite Minimalforderung besagt, dass Handlungen nicht willkürlich und zufällig sein dürfen, sondern einem Urheber zugeschrieben werden müssen. Eine zufällige Handlung kann nicht frei und selbstbestimmt sein. Insofern führt die Aufhebung der Determination nicht zu Selbstbestimmung. Es muss einen Urheber für eine Handlung geben. Handlungen sind selbstbestimmt, "wenn sie auf der Basis eigner Überzeugungen nach reiflicher Überlegung vollzogen werden" (ibid.: 29). Deshalb erfordert Selbstbestimmung eine gründliche Beschäftigung mit der Welt und den eigenen Wünschen und Überzeugungen in bestimmten Situationen. Wenn wir beurteilen wollen, ob eine Handlung selbstbestimmt vollzogen wurde, müssen wir die konstitutiven Merkmale einer Person erkennen: Hierzu gehört z.B. ein Mindestmaß an Rationalität, das erforderlich ist, um die Konsequenzen eigener Handlungen abzuschätzen. Dazu zählt auch Selbstbewußtsein, also die Fähigkeit, die eigenen Ziele als die eigenen zu erkennen, weiterhin sich in Konfliktfällen für das wichtigste Motiv zu entscheiden, und <?page no="37"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 37 schließlich das Vermögen zur reflektierenden Beurteilung und gegebenenfalls zur Modifikation der eigenen Ziele. (Ibid.: 34) Selbstbestimmung ist mit Selbst- und Welterkenntnis verbunden und verweist auf Präferenzen, Überzeugungen und Wertvorstellungen der handelnden Person, die erklären kann, warum sie so und nicht anders handelt: "Lässt sich die Handlung einer Person auf solche Einstellungen zurückführen, dann muss die Handlung folglich selbstbestimmt sein" (ibid.: 35). Zur Selbstbestimmung gehört aber auch, dass wir Überzeugungen und Präferenzen aufgeben können, wenn es die Situation erfordert. Das ist nicht möglich, wenn man süchtig oder indoktriniert worden ist, so dass man sie nicht aufgeben kann. Im Rahmen der Selbstbestimmung bedeutet somit Determination, "daß die Entscheidung nicht unabhängig von meinen Wünschen und Überzeugungen variieren kann" (ibid.: 39). Wichtig ist hier, dass es nicht um eine grundsätzliche Abschaffung von Determination geht. Eine solche Abschaffung wäre kein Gewinn an Freiheit und Selbstbestimmung, sondern würde im Gegenteil dazu führen, dass unsere Handlungen willkürlich und zufällig werden: "Eine Entscheidung, die völlig indeterminiert wäre, könnte eben nicht durch die Motive des Urhebers festgelegt sein" (ibid.: 139). 3 Entscheidungen beruhen auf Abwägungsprozessen, die mannigfach bedingt sind, aber als selbstbestimmt gelten können, soweit sie von inneren und äußeren Zwängen frei sind. Wer sich selbst bestimmen will, muss sich auch bestimmen lassen. Martin Seel kritisiert daher die romantische Auffassung von Selbstbestimmung, nach der wir ganz aus uns selbst heraus bestimmen und uns damit über die Welt hinwegsetzen: Wer überhaupt etwas bestimmen will, sei es in theoretischer und praktischer Absicht, muss sich in mehrfacher Hinsicht bestimmen lassen durch die Materie, durch das Medium und durch das Motiv seiner Bestimmung. Jede erkennende Festlegung muss auf das eingehen, was jeweils Gegenstand ihrer Erkundung ist. (Seel 2002: 287) Selbstbestimmung setzt voraus, dass man "ansprechbar und damit: irritierbar - durch die Welt, die anderen und sich selbst" (ibid.: 295) bleibt. Selbstbestimmung ist kein monologischer, sondern ein dialogischer Prozess, wie wir in den nächsten drei Kapiteln noch genauer sehen werden. Wir existieren nicht aus eigener Kraft, sondern im Dialog mit Anderen. Eine Auffassung von Selbstbestimmung, die diesen dialogischen Charakter nicht erfasst, greift zu kurz. 3 Vgl. die Ausführungen zur "Selbstbestimmung als artikulierter, verstandener und gebilligter Wille" in Bredella 2010: 246-249. <?page no="38"?> 38 Für das Verständnis von Selbstbestimmung ist die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen konstitutiv. Der Mensch kann nur selbstbestimmt handeln, wenn er sich von Gründen bestimmen lässt. Wie Pauen und Roth ausführen, erklären wir mit Ursachen, wie es zu bestimmten Ereignissen kommt: "Eine Ursache ist z.B. das Auftreffen eines Balles auf eine Scheibe; ein Ereignis, das gestern Nachmittag am Nachbarhaus stattgefunden hat und dazu geführt haben mag, daß die Scheibe zerbrach" (Pauen / Roth 2008: 113f.). Gründe dagegen liefern die Basis für das Verstehen von Handlungen: "eine Person, die durstig ist und gesehen hat, daß im Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser steht, hat einen guten Grund, zum Kühlschrank zu gehen" (ibid.: 114). Gründe im Unterschied zu Ursachen haben einen normativen Charakter: Gründe können den Vollzug bestimmter Handlungen oder das Akzeptieren von anderen Überlegungen rechtfertigen. Für Ursachen gilt das nicht. Die Tatsache, dass ein Ball gegen eine Scheibe geprallt ist, liefert keine Rechtfertigung dafür, daß die Scheibe zerbricht. (Ibid.: 115) Gründe unterscheiden sich von Ursachen dadurch, dass sie keine räumlich und zeitlich bestimmbaren Einzelereignisse sind, wie das Treffen eines Balls auf eine Scheibe, sondern Abstrakta wie z.B. mathematische Regeln und moralische Grundsätze, die nicht an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit existieren. Menschen können selbstbestimmt handeln, weil sie nach Gründen handeln können. Die Anerkennung dieser Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen ist notwendig, um Selbstbestimmung plausibel bestimmen zu können. Für denjenigen, für den es keine Gründe, sondern nur Ursachen gibt, ist Selbstbestimmung eine Illusion. Selbstbestimmung erfordert, dass wir einerseits erkennen, dass wir nicht unabhängig von sozialen, sprachlichen, diskursiven und biochemischen Prozessen im Gehirn denken und dass wir uns von Anderen bestimmen lassen und dass wir andererseits Entscheidungen begründen und rechtfertigen können. Selbst wer behauptet, dass Selbstbestimmung eine Illusion ist, muss seine Auffassung begründen. Denken lässt sich nicht auf neuronale Prozesse reduzieren, auch wenn es nicht ohne sie gelingen kann. "Eine freie Handlung ist genauso wenig wie eine Rechenoperation in Wirklichkeit ein neuronaler Prozess, sondern eine freie Handlung bzw. eine Rechenoperation" (ibid.: 165). Wäre die physische Realität die einzig wahre Realität, könnten wir sie nicht erkennen und wären nach Pauen und Roth nicht zur Selbstbestimmung fähig. Dazu gehört jedoch, dass wir uns nicht über die Welt hinwegsetzen, sondern auch in den Blick bekommen, wie wir von jeweiligen Gegebenheiten abhängig sind und von ihnen geprägt werden: <?page no="39"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 39 Dabei lassen sich der untersten limbischen Ebene die grundlegenden Lebens- und Überlebensbedürfnisse und ihre Befriedigung zuordnen. Hinzu kommt auf dieser Ebene die elementare Affektstruktur einer Person, die man gemeinhin als Temperament bezeichnet, und der man unterstellt, daß sie weitgehend genetisch bedingt ist. Darüber liegt die mittlere limbische Ebene, auf der sich im wesentlichen die - insbesondere vorgeburtlich und früh nachgeburtlich stattfindende - emotionale Konditionierung vollzieht. Dieser Prozess legt zusammen mit dem Temperament den unbewussten, egozentrischen Anteil unserer Persönlichkeit fest, wobei die frühkindliche Bindungserfahrung eine herausragende Rolle spielt. Wiederum darüber befindet sich die bewusste limbische Ebene, die von zentraler Bedeutung für Erziehung und Sozialisierung durch Familie, Freunde und Schule usw. ist. (Ibid.: 168f.) Dieses Netzwerk ermöglicht Selbstbestimmung, aber verweist auch auf seine Grenzen. Insofern ist die Vorstellung des radikalen Konstruktivismus, der das Gehirn als Weltschöpfer begreift, nicht haltbar. Bevor wir uns dem Verstehen Anderer zuwenden, müssen wir uns mit dem Einwand des radikalen Konstruktivismus auseinandersetzen, der besagt, dass unser Gehirn semantisch geschlossen sei und wir gar nicht verstehen können, was ein Anderer sagt (vgl. zur Kritik am dekonstruktivistischen Literaturbegriff in Kapitel 2.4). In seinem Grundlagenartikel über "Verstehen " in dem Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz scheint Hans- Herbert Kögler diese Auffassung zu bestätigen, wenn er schreibt: "Denn in den eigenen Erfahrungen meiner mentalen Zustände bin ich ja nur mir selbst und meiner Gedanken wirklich gewiss; alles andere, jedes Objekt oder jedes Phänomen, existieren als solche nur relativ zu mir, sozusagen als intramentales Konstrukt" (Kögler 2007: 78). Doch die Auffassung, dass wir gar keinen Zugang zur Wirklichkeit gewinnen können, geht von der falschen Voraussetzung aus, dass wir uns außerhalb der Welt befinden. Sie übersieht, "dass sich das alltägliche Verstehen von Subjekten immer schon in vertraut eingespielten Praxiszusammenhängen bewegt, die das gemeinsame Verständnis der Welt herstellen" (ibid.). In diesen Praxiszusammenhängen erwerben wir ein Vorverständnis für das, was uns begegnet. Diese Überlegungen über unser "In-der-Welt-Sein" (Heidegger) lassen erkennen, dass die Sicht, die vom isolierten Individuum, das der Welt gegenüber steht und sich fragt, wie es die Welt erkennen kann, ausgeht, in die Irre führt. Es kann gar nicht bezweifeln, dass es auf Andere angewiesen ist und nur mit ihnen überleben kann. Selbst Descartes hätte sein berühmtes cogito ergo sum nicht formulieren können, wenn er nicht von Anderen sprechen gelernt und Andere nicht vor ihm bereits philosophiert hätten. In Das Mich der Wahrnehmung kritisiert Lambert Wiesing das vorherrschende konstruktivistische Denken, wie es dem Panlinguismus und Panfik- <?page no="40"?> 40 tionalismus zugrunde liegt (vgl. Kapitel 2.5). Bei seiner phänomenologischen Analyse der Wahrnehmung zeigt er auf, dass uns in der Wahrnehmung etwas widerfährt, auf das wir antworten: "Meine Wahrnehmung erlaubt mir ja gerade nicht, als ein Zuschauer in der Welt zu sein, sondern weil ich wahrnehme, bin ich gezwungen, an dem wirklichen Weltgeschehen teilnehmen zu müssen" (Wiesing 2009: 145f.). Bevor wir uns als Zuschauer verhalten können, sind wir Mitspieler: "Man wird - ob man will oder nicht - persönlich in die wahrgenommene Welt involviert. Denn eine gegenwärtige Existenz von irgendetwas ist ohne das leibliche Dabeisein des Wahrnehmenden undenkbar" (ibid. 152). Die Phänomenologie der Wahrnehmung führt uns eindringlich vor Augen, dass wir die Welt nicht aus dem Nichts konstruieren: "Wenn man die Augen aufschlägt, hat man keine Wahl, was man sehen wird: Wenn man sich zum Sehen entschließt, muß man sehen, was gegeben ist" (ibid.: 35). Wir leben in der Welt und werden von ihr geprägt: "Wer nach dem Zugang des Menschen zur Welt fragt, tut fatalerweise so, als gäbe es das weltlose Subjekt, das vor seiner Benutzung des Weltzugangs kein Teil der Welt ist" (ibid.: 69). In seinem Buch Verkennende Anerkennung entwickelt Thomas Bedorf einen "responsiven Intersubjektivismus", bei dem uns Andere ansprechen und wir auf sie antworten. Dabei bezieht er sich auf Überlegungen von Ludwig Wittgenstein und Stanley Cavell, die die Aufmerksamkeit auf unsere existenziell-praktischen Erfahrungen mit Anderen richten. Wenn ich sage: - "Ich weiß, du hast Schmerzen" - stelle ich nicht eine Behauptung auf, die besagt, dass ich überprüft habe, ob es dich wirklich gibt und ob du wirklich Schmerzen hast, sondern ich bringe mit diesen Worten meine Anteilnahme zum Ausdruck und erkenne dich als Person an: "Den Satz ' Ich weiß, du hast Schmerzen ' als Anteilnahme zu deuten, kann dann etwa heißen, einem Mitleiden Ausdruck zu verleihen oder auch die Versicherung, sich für dessen Linderung einsetzen zu wollen" (Bedorf 2010: 132). Sprache ist hier Teil einer lebensweltlichen Praxis, bei der wir uns in Andere versetzen und unsere Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit fördern. Wie diese Fähigkeiten durch Geschichten gefördert werden können, wird in den nächsten drei Kapiteln näher bestimmt werden. 6. Zur Entwicklung der Empathiefähigkeit In dem umfangreichen Buch On the Origin of Stories hebt Brian Boyd hervor, dass Menschen ein Bedürfnis nach Geschichten haben, weil sie ihre Mitmen- <?page no="41"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 41 schen verstehen wollen und weil Geschichten es ermöglichen, mit Menschen aus anderen Kulturen und Zeiten in Kontakt zu treten: Fiction allows us to extend and to refine our capacity to process social information, especially the key information of character and event - individuals and associates, allies and enemies, goals, obstacles, actions, and outcomes and to metarepresent, to see social information from perspectives of other individuals, or other times, or conditions. (Boyd 2009: 192) Der Mensch muss aufgrund seiner offenen Handlungsprogramme erst lernen, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten soll. Das gilt in beschränktem Ausmaß schon für Tiere. Sie müssen sich in bestimmten Situationen entscheiden, ob sie fliehen, kämpfen oder sich unterwerfen, aber beim Menschen explodieren die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Eibl zählt einige von ihnen auf: "So gibt es nun die Möglichkeit des Verhandelns oder des symbolischen-finanziellen Vergleichs, die ihrerseits wieder eine Fülle von Vertragsvarianten eröffnen. Man kann es auch mit Beten oder Zaubern versuchen, die Frage der Bewaffnung kommt auch ins Spiel" (Eibl 2009a: 14). Nach Joseph Carroll stellen Geschichten Handlungsmuster dar, an denen wir uns orientieren können (vgl. Carroll: 2011: 27). Je variabler, so Eibl, das Verhalten der Partner sein kann, "desto notwendiger ist es, Vorstellungen über deren Motivlage zu entwickeln, über ihren Informationshorizont und ihre Verarbeitungsweise, damit man das künftige Verhalten errechnen kann" (Eibl 2009a: 49). Wenn wir Geschichten in diesem Sinne verstehen, gewinnen sie für das interkulturelle Verstehen eine zentrale Bedeutung. Für Martha Nussbaum sind sie besonders in multikulturellen Gesellschaften wichtig, weil sie die Möglichkeit bieten, to identify sympathetically with individual members of marginalized or oppressed groups within our own society, learning both to see the world, for a time, through their eyes and then reflecting as spectators on the meaning of what we have seen. (Nussbaum 1995: 92) Diese Auffassung über die Bedeutung von Geschichten muss mit dem Einwand rechnen, dass wir nicht Charaktere in Geschichten, sondern Menschen in der Realität verstehen sollen. Dieses Argument übersieht jedoch, was die Rezeptionssituation leistet. Leser können sich auf das Dargestellte in kognitiver und emotionaler Hinsicht intensiv einlassen, weil sie vom Handlungsdruck in der Lebenswelt entlastet sind. Die Rezeption von Geschichten ermöglicht es, sich gefahrlos auf neue Welten einzulassen und in ihnen probeweise zu handeln. Auf diese Bedeutung von Geschichten weist auch David Storey hin: <?page no="42"?> 42 Understanding is easier in literature than in life because the reader has been relieved of physical involvement and can rehearse the dynamics of human transactions with both emotional intensity and detachment. (Storey 1996: 138) Wenn beim Verstehen von Handlungen Empathiefähigkeit entwickelt wird, stellt sich die Frage, wie sie hervorgerufen wird. Sie wird hervorgerufen, wenn Charaktere in Entscheidungssituationen geraten und wir als Leser Vermutungen über ihre Motive und Handlungen äußern: Diese Tätigkeit des Mitratens, Mitüberlegens, Mitreagierens und Auskundschaftens der möglichen und unmöglichen Möglichkeiten knüpft uns an den Beobachteten. Ohne dieses Mitraten und Vorhersagen gäbe es wohl keine "Empathie". (Breithaupt 2009: 77f.) Aus diesen Überlegungen folgt eine zentrale Einsicht für die Literaturdidaktik, die von formalistischen und strukturalistischen Literaturauffassungen nicht berücksichtigt wird, wenn sie fordern, dass Leser in distanzierter Einstellung stilistische und strukturalistische Merkmale identifizieren. Hier muss aber auch erwähnt werden, dass Empathie nicht bedeutet, dass Leser mit Charakteren identisch werden. Sie 'wissen', dass sie sich von den Charakteren unterscheiden. Daher kann Nussbaum sagen: "[…] if one really had the experience of feeling the pain in one's own body, then one would precisely have failed to comprehend the pain of another as other'' (Nussbaum 2006: 32f.). Ich habe hier in groben Zügen die Bedeutung von Empathie umrissen. In den folgenden Kapiteln soll näher bestimmt werden, wie sie möglich ist und welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben. 6.1. Spiegelneuronen und Empathie Der Begriff der Empathie ist sehr häufig mit Geringschätzung behandelt worden. Wer von Einfühlung spricht, kann keinen Anspruch auf verlässliche Erkenntnis erheben. Im Grunde seien, so die Kritiker, Empathie und Einfühlung nichts anderes als Projektion. Das Gegenüber ist uns wesentlich verschlossen. Wir könnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich bei dem Gegenüber um einen Menschen oder um einen Roboter handelt. Daher ist aus dieser Sicht sowohl intraals auch interkulturelles Verstehen im Grunde unmöglich. Doch die Entdeckung der Spiegelneuronen hat gezeigt, dass es falsch ist, Psychisches auf Physisches zu reduzieren. Die Phänomenologie hat das schon immer gewusst. Wir projizieren nicht die Trauer oder Freude des Anderen in sein Gesicht, sondern nehmen sie in ihm wahr. Darauf weist Wittgenstein hin, wenn er schreibt: "We describe a face immediately as sad, radiant, bored, even when we are unable to give any other description of the <?page no="43"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 43 features" (zitiert in Boyd: 134). Aber die Phänomenologie konnte die Skeptiker des Verstehens des Psychischen nicht überzeugen. In den 1990er Jahren entdeckten jedoch Gehirnphysiologen die Spiegelneuronen, die beim Wahrnehmen der Handlungen Anderer zu feuern beginnen, und dazu führen, dass der Wahrnehmende bei sich die Handlungen Anderer hervorruft. Die Spiegelneuronen feuern nicht, wenn Andere nur eine unwillkürliche Bewegung ausführen. In ihrem Buch Empathie und Spiegelneuronen. Die biologische Basis des Mitgefühls beschreiben Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia die vielfältigen Untersuchungen, die zur Entdeckung der Spiegelneuronen bei Affen und Menschen geführt haben. Ich kann hier nur das für uns wichtige Ergebnis skizzenhaft festhalten: Nach der bisher vorherrschenden Auffassung über kognitive Verarbeitungen aus der Sicht der Konstruktivisten strömen aus der Außenwelt bedeutungsfreie Informationen auf unser Gehirn ein, denen wir erst mit den uns zur Verfügung stehenden Filtern und Repräsentationen eine Bedeutung zuschreiben. Es besteht somit eine radikale Trennung zwischen den rein bedeutungsfreien neuronalen Prozessen und den Bedeutungen, die wir in unserem Gehirn konstruieren und denen nichts in der Außenwelt entspricht. Die Entdeckung der Spiegelneuronen überwindet diese radikale Trennung zwischen Innen und Außen und weist darauf hin, dass wir dort draußen bei den Dingen sind: Von den elementarsten und natürlichsten Akten, wie eben dem Ergreifen der Nahrung mit der Hand und dem Mund, bis hin zu den raffiniertesten, die besondere Fähigkeiten erfordern, wie etwa dem Vortrag eines Tanzschrittes, einer Sonate auf dem Klavier, gestatten die Spiegelneuronen unserem Gehirn, die beobachteten Bewegungen mit unseren eigenen in Beziehung zu setzen und dadurch deren Bedeutungen zu erkennen. (Rizzolatti / Sinigaglia 2008: 14) Die vorherrschende Auffassung von Projektion wird durch die Entdeckung der Spiegelneuronen widerlegt: Die starre Abgrenzung zwischen perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen entpuppt sich am Ende als weitgehend künstlich: Nicht nur scheint die Wahrnehmung in die Dynamik der Handlung verwickelt und stärker artikuliert zu sein, als man bisher gedacht hat; vielmehr ist das agierende Gehirn auch und vor allem ein verstehendes Gehirn. (Ibid.: 13f.) Aus evolutionärer Sicht ist es ein Vorteil für das Überleben der Menschen, wenn sie unterscheiden können, ob sie Handlungen oder bloße Bewegungen wahrnehmen. Wie Experimente zeigen, neigen sie in ambivalenten Fällen eher dazu, eine Bewegung als Handlung zu deuten. Das ist nach Boyd sinnvoll, weil es besser ist, irrtümlich einen Zweig für eine Schlange zu halten als umgekehrt. Auch in der sozialen Welt ist es von entscheidender Bedeutung, <?page no="44"?> 44 dass wir in den Gesten der Anderen nicht nur physikalische Bewegungen, sondern in ihnen Freude, Trauer, Zuneigung oder Ablehnung wahrnehmen. Empathiefähigkeit ist ein Wert für das soziale Zusammenleben und Überleben: "Those individuals who could more accurately assess others as associates or opponents would on average leave more descendants" (Boyd 2009 139). Wie wir die Intentionen der Handlungen Anderer in uns hervorrufen können, können wir auch Schmerz und Ekel, den Andere empfinden, in uns hervorrufen: "so werden dieselben Bereiche der Großhirnrinde gereizt, die beteiligt sind, wenn wir selbst Schmerz und oder Ekel empfinden" (Rizzolatti / Sinigaglia 2008: 15). Dieser Spiegelmechanismus gilt auch, wenn wir uns das Verhalten Anderer nur vorstellen. Die vorgestellten Wahrnehmungen und Emotionen aktivieren "dieselben neuralen (motorischen bzw. viszeromotorischen) Strukturen, die für unsere eigenen Emotionen verantwortlich sind" (ibid.: 189). Empathie führt nicht notwendigerweise zu Sympathie, sondern kann auch zu Antipathie führen. Was wir empfinden, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Rizzolatti und Sinigaglia zählen einige von ihnen auf: [w]er der andere ist, welche Beziehungen wir zu ihm haben, ob wir uns in seine Lage versetzen können, ob wir die Absicht haben, uns mit seiner emotionalen Situation zu belasten, von seinen Wünschen, seinen Erwartungen usw. Wenn es jemand ist, den wir kennen oder gegen den wir nichts haben, kann die durch den Anblick seines Leids verursachte emotionale Resonanz uns zu Mitgefühl anregen oder Mitleid bewegen; die Dinge können jedoch einen anderen Verlauf nehmen, wenn der andere ein Feind ist oder etwas tut, das in der gegebenen Lage eine partielle Bedrohung für uns darstellt, oder wenn wir unverbesserliche Sadisten sind. (Ibid.: 190) Bei der Rezeption von Geschichten werden wir in der Regel, wenn wir die Dinge mit den Augen der Anderen sehen, angeregt, für sie Sympathie zu entwickeln. 6.2. "Theory of Mind" Zum Verstehen einer Handlung gehört nicht nur, dass wir die Intentionen, Wünsche und Handlungsmotive der Handelnden erkennen, sondern auch, dass wir erkennen, welches Bild sie von der Welt haben. Dieser Grundgedanke liegt der "Theory of Mind" zugrunde. Der Begriff "Theory of Mind" wurde 1978 eingeführt und ist seitdem in vielen Experimenten überprüft und modifiziert worden. In Zur Entwicklung des Verstehens von Wünschen und Überzeugungen: Elemente der kindlichen Theory of Mind definiert Julia Kern den Begriff "Theory of Mind" wie folgt: <?page no="45"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 45 Der Mensch als soziales Wesen versucht, in seinem Alltag die Handlungen und Emotionen anderer Personen für sich erklärbar zu machen, indem er wie ein Psychologe deren mentale Zustände berücksichtigt: Erkennt er den Wunsch sowie die Überzeugung einer anderen Person, kann er daraus deren Handlungen vorhersagen. Handlungen deutet er wiederum als Folge bestimmter Überzeugungen, Wünsche und Absichten. (Kern 2005: 8) Mit den jeweiligen Überzeugungen ist gemeint, dass Menschen ein bestimmtes Bild von der Welt besitzen. Wie kann man eine solche Annahme überprüfen? Ich will hier eines der vielen Experimente, die im Rahmen der "Theory of Mind" durchgeführt wurden, kurz beschreiben. Kinder beobachten folgendes Szenario: Sally legt eine Murmel in ein Gefäß, wobei Tony sie beobachtet. Dann gehen beide aus dem Zimmer. Tony kehrt zurück, legt die Murmel in eine Schachtel und verlässt wieder das Zimmer. Etwas später kommt Sally zurück. Die Frage, die in diesem Experiment beantwortet werden soll, lautet: "Where will Sally look for her marble? " Kinder unter vier Jahren beantworten die Frage in der Regel dahingehend, dass Sally sie dort sucht, wo Tony die Murmel hingelegt hat. Sie haben noch keine "Theory of Mind", die ihnen sagt, dass Sally sie dort suchen wird, wo sie glaubt, dass sie liegt. Ab dem vierten Lebensjahr sind jedoch Kinder fähig, sich in Sally zu versetzen, so dass sie sagen können, dass Sally sie dort suchen wird, wo sie nach ihrer Auffassung liegt und nicht wo sie sich in Wirklichkeit befindet. Wir Menschen sind in der Lage, uns in Andere hineinzuversetzen und Vorhersagen über ihr Handeln zu treffen, indem wir unser Wissen über ihre Auffassungen und Intentionen heranziehen. Diese Fähigkeit ermöglicht uns das Verstehen von Geschichten. Es zeichnet den Menschen aus, dass er die unterschiedlichen Sichtweisen von Charakteren in Geschichten voneinander abgrenzen und die Welt der Geschichte von seiner eigenen unterscheiden kann. Das befähigt ihn als soziales Wesen, seine Mitmenschen zu verstehen und sich in einer Welt mit unterschiedlichen Sichtweisen zu orientieren. 6.3. "Tun als ob": Rollenspiele und die Rezeption von Geschichten Mit der "Theory of Mind" hängt eng zusammen, dass Kinder fähig sind, sich vorzustellen, was nicht ist. Wie Forschungen zeigen, erfreut sich "pretend play" bei Kindern zwischen dem Alter von 18 Monaten und 6 Jahren großer Beliebtheit. Ein Kind, das "I pretend" sagt, klammert seine Repräsentation der Wirklichkeit ein und ist in der Lage, eine andere Rolle einzunehmen und dementsprechend zu handeln. Damit erprobt das Kind, wie Andere auf sein ausgedachtes Verhalten reagieren. Wenn es merkt, dass es auf Ablehnung stößt, kann es sich damit rechtfertigen, dass es nur etwas vorgetäuscht hat. <?page no="46"?> 46 Insofern ist "pretend" für das Kind äußert wichtig, um auszuloten, wie weit es gehen kann und was sozial akzeptiert oder nicht akzeptiert wird. "Pretend" kann sich zu Rollenspielen ausweiten. Das verlangt von den Kindern, dass sie die Rollen der Anderen bei sich hervorrufen können, um situationsadäquat handeln zu können. Damit kommen weitere kognitive, soziale und reflexive Leistungen ins Spiel: "children's ability to pretend effectively with others begins to emerge between 2 and 3 years of age. At this stage they can talk about the content of the pretence (e. g. that monkey's head now has toothpaste on it" (Doherty 2009: 95). Indem wir diese Fähigkeiten, uns in fremden Welten zu bewegen, bereits als Kinder praktizieren, wird verständlich, dass wir uns in den komplexeren fremden Welten von Geschichten verhältnismäßig leicht orientieren können. Rollenspiele sind für Kinder wohl das wichtigste Mittel, sich die Welt, in der sie leben, spielerisch zu erschließen. Sie nehmen selbst eine bestimmte Rolle ein und stellen sich die Rollen der Anderen im Rahmen des jeweiligen Rollenspiels vor. Dabei können sie erfahren, was es emotional und moralisch bedeutet, in diesen Rollen zu leben. John Spinks sagt über die Bedeutung von Rollenspielen: In playing mothers and fathers, hospitals and schools, children are not only finding out what people do but also how they feel. In caring for a doll or in constructing conversations between soft toys and puppets, children explore how it feels to be a parent rather than a child, a nurse rather than a patient, a teacher rather than a pupil. (Spink 1990: 25) In Mimesis as Make-Believe zeigt Kandall Walton auf, dass das Lesen von Geschichten als Weiterentwicklung von Rollenspielen verstanden werden kann. Während wir in Rollenspielen Handelnde sind und das Geschehen mitbestimmen, werden wir beim Lesen zu Zuschauern, die nicht mehr in das Geschehen handelnd involviert sind. Das ermöglicht ein verstärktes emotionales und urteilendes Engagement bei der Rezeption des Dargestellten: We don't just observe fictional worlds from without. We live in them (in the world of our games, not work worlds), together with Anna Karenina and Emma Bovary and Robinson Crusoe and the others, sharing their joys and sorrows, rejoicing and communicating with them, admiring and detesting them. (Walton 1993: 237) Wir leben mit den Charakteren. Ulrich Greiner zeigt an Beispielen auf, wie Geschichten uns emotional engagieren: Wir fürchten uns mit Rotkäppchen vor dem bösen Wolf und freuen uns, wenn es Hänsel und Gretel gelingt, die Hexe zu verbrennen. Wir lauschen mit <?page no="47"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 47 Heidi dem Glockenklang des Frankfurter Doms und bestehen mit Old Shatterhand die gefährlichsten Zweikämpfe. (Greiner 2005: 16) Es ist wichtig, diese Dimension bei der Rezeption von Geschichten zu betonen, weil aus Sicht der formalistischen Literaturauffassung nur literarisch ungebildete Leser an dem Schicksal der Charaktere Anteil nehmen, während literarisch gebildete Leser ihre Aufmerksamkeit auf die Form richten (vgl. auch die Literaturbegriffe unter Kapitel 2.1 bis 2.5, für die emotionales und moralisches Engagement und Emapthiefähigkeit keine Rolle spielen und nach denen sich die Geschichten nicht auf die Welt beziehen). Kinder erschließen sich die Welt durch Rollenspiele und durch die Rezeption von Geschichten. Das bereitet ihnen Freude, so dass sie diese Tätigkeiten um ihrer selbst willen ausübern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie wichtige Funktionen erfüllen. Eibl bezieht sich bei seiner Analyse des Spielens auf Erkenntnisse von Leda Cosmides und John Tooby, die zwischen einem Funktionsmodus ("functional mode") und einem Organisationsmodus ("organizational mode") unterscheiden. Der Funktionsmodus umfasst die ausgebildeten Formen, die wir als Anpassung an unsere Umwelt benötigen und die wir im Organisationsmodus zunächst einmal erwerben müssen: Deshalb sind vor allem Kindheit und Jugend der Tiere die Zeit spielerischer Bestätigung. Jeder komplexe Organismus muss sich nach seiner Geburt überhaupt erst einmal "epigenetisch" fertigbauen, und dieses Fertigbauen geschieht im Organisationsmodus. Das gilt für Gehirnfunktionen nicht weniger als für die Funktionen körperlicher Leistungsfähigkeit. (Eibl 2009a: 165) Der Organisationsmodus ist eine zweckfreie Tätigkeit, die jedoch dem Funktionsmodus dient: "Wenn der Vogel scheinbar grundlos die waghalsigsten Flugmanöver vollzieht, dann erwirbt er damit im Organisationsmodus ein Können, das ihm im Funktionsmodus die Flucht vor einem Raubfeind oder das Fangen der Beute ermöglicht" (Eibl 2004: 280). Beim Funktionsmodus werden wir durch den Erfolg belohnt, beim Organisationsmodus empfinden wir bei der Ausführung der Handlung Lust und Freude. Es erfolgt hier eine Entkoppelung von dem Erfolg der Handlung. Nach Boyd bereiten uns Spiel und Kunst, die wir um ihrer selbst willen ausführen, Freude und Lust, was nicht ausschließt, dass wir dabei ein differenziertes Verständnis der Welt erwerben: "Art becomes compulsive because it arouses pleasure, and it arouses pleasure because, like play, it fine-tunes our systems" (Boyd 2009: 95). Die Auffassung, dass das Spielen um seiner selbst willen Freude bereitet, wird von der Neurophysiologie insofern bestätigt, als bei ihm Dopamine ausgeschüttet werden: "Play stimulates the release of the neurotransmitter dopamine (central to the brain's reward system and a key motivator of evolutionary positive actions like eating and sex), which encourages further play" (ibid.: 93). <?page no="48"?> 48 Bei Rollenspielen ebenso bei der Rezeption von Geschichten ist von zentraler Bedeutung, dass wir uns in Andere hineinversetzen und wir erfahren, wie sie denken und fühlen und warum sie handeln, wie sie handeln. Dabei hat sich gezeigt, dass Empathiefähigkeit eine konstitutive Rolle spielt und für unsere Orientierung in der Welt unverzichtbar is. Empathiefähigkeit allein reicht jedoch nicht aus. 7. Zur Entwicklung der Urteilsfähigkeit 7.1. Die Bedeutung von Geschichten für die Entwicklung der Urteilsfähigkeit Wie Nussbaum betont, fördert die Rezeption von Geschichten nicht nur unsere Empathie-, sondern auch unsere Urteilsfähigkeit: "Since the story is not ours we do not find ourselves caught up in the 'vulgar heat' of our personal jealousies or our angers or in the sometimes blinding violences of our loves" (Nussbaum 1990: 48). In einem einflussreichen Essay "The Role of the Onlooker" von 1937 hat D. W. Harding die Bedeutung des Zuschauens generell hervorgehoben: At a street accident the spectators are thrilled or horrified, pitying, or perhaps ironic; they may judge one or the other of the participants to have been at fault, they may reflect on the stupidities of the modern transport system. In all this they remain, as we say, 'detached.' But though they make no operative response, they still assess the light in the light of all the interests, desires, sentiments, and ideals that they can relate it to; and they feel it to be noteworthy, commonplace, agreeable or disagreeable, tragic, funny, contemptible, heroic, - to mention a few of the cruder responses. (Harding 1937: 260) Wenn schon ein Unfall die Urteilsfähigkeit der Zuschauer anregt, dann gilt das insbesondere für Geschichten, die von Schriftstellern geschrieben werden, die besonders geschickt unsere Urteilsfähigkeit ansprechen könnrn. Für Richard Shusterman ist für die Kunst im Allgemeinen und für Literatur im Besonderen kennzeichnend, dass sie "dramatisiert". Dramatisieren bedeutet, "to put something on the stage", "to take some event or story and put it in the frame of a theatrical performance or the form of a play or scenario" (Shusterman 2002: 233). Der Zuschauer kommt somit in eine Situation, in der er befreit von den alltäglichen Handlungszwängen reagieren und urteilen kann. Deshalb kann Shusterman sagen: "Because art's experience is framed in a realm alleged to be apart from the wearisome stakes of what we call real life, we feel much more free and secure in giving ourselves up to the most intense <?page no="49"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 49 and vital feelings" (Shusterman 2002: 237). Um zu begreifen, wie die Urteilskraft bei der Lektüre von Geschichten ins Spiel kommt, müssen wir auf den Sinnbildungsprozess achten. 7.2. Lesen als Sinnbildungsprozess Ich habe oben in Kapitel 2.3. aufgezeigt, dass für dekonstruktivistische Leser Lesen unmöglich ist, weil sich der Sinn eines Textes im unendlichen Spiel der Signifikanten auflöst. Doch, wenn wir genauer hinschauen, bedeutet Lesen nicht, Sinn aufzulösen, sondern Sinnbildungen vorzunehmen. Das wird von Weinrich im Verhältnis von Wort- und Satzsemantik im Einzelnen aufgezeigt. Um die Wortsemantik zu klären, entwirft er eine fiktive Kommunikationssituation, in der wir das Wort "Feuer" hören, ohne uns einen bestimmten Kontext vorzustellen. Hier hat das Wort "Feuer" einen geringen Informationswert: Es kann ein Herdfeuer sein oder ein Strohfeuer, eine Feuerbrunst oder ein Kerzenlicht, ein loderndes oder ein glimmendes, wirkliches oder gedachtes Feuer. Er weiß nicht einmal ganz sicher, ob die Rede überhaupt von einem Feuer ist. Es kann ja das Feuer des Weins, das Feuer der Liebe oder ein Gewehrschuß sein. (Weinrich 2006: 15) Es handelt sich hier um eine künstliche Situation, weil wir in der Lebenswelt Wörter immer in einem Kontext hören und lesen. Doch ist das Nachschlagen von unbekannten Wörtern bei der Lektüre fremdsprachlicher Texte gar nicht so weit von dieser künstlichen Situation entfernt. Verfolgen wir jedoch weiter, welche Einsichten Weinrich aus der Untersuchung von Wort- und Satzsemantik gewinnt. Der erste Hauptsatz der Wortsemantik besagt: "Jede Bedeutung ist weitgespannt" (ibid.). Mit diesem ersten Hauptsatz ist der zweite eng verbunden: "Jede Bedeutung ist vage" (ibid.). Wie weitgespannt und vage die Bedeutung des Wortes "Feuer" aber auch sein mag, die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft teilen bestimmte Bedeutungen und Assoziationen, die mit dem Wort Feuer verbunden sind. Daher besagt der dritte Hauptsatz: "Jede Bedeutung ist sozial" (ibid.: 16). Das bedeutet, dass der Leser in einem fremdsprachlichen Text bei einem Wort mit sozialen Bedeutungen und Konnotationen rechnen muss, die sich von denen des Wortes in seiner Kultur unterscheiden. Der vierte Hauptsatz der Wortsemantik - "Jede Bedeutung ist abstrakt" (ibid.: 17) - ergibt sich daraus, dass bei der Beschreibung eines individuellen Feuers aus dem "Insgesamt der von einer Sprachgemeinschaft als relevant gesetzten Merkmale eines Gegenstandes" (ibid.: 16f.) einige von ihnen unter Relevanzgesichtspunkten ausgewählt werden. <?page no="50"?> 50 Die Erkenntnis, dass Wortbedeutungen weitgespannt, vage, sozial und abstrakt sind, hat oft zu der Klage geführt, dass Sprache nicht Nuancen und Individuelles erfassen kann. Nach Voltaire haben wir nur die Worte "Liebe" und "Haß", aber Liebe und Hass sind im Leben tausendfach verschieden. Für Weinrich ist diese Klage über die Ungenauigkeit der Sprache nicht berechtigt: "Denn gegenüber der tausendförmigen Liebe gibt es nicht nur das eine Wort 'Liebe', sondern auch tausend Sätze um die Liebe" (ibid.: 22). Wir dürfen aus der ungenauen Bedeutung isolierter Wörter nicht auf die Ungenauigkeit von Wörtern in Sätzen und Texten schließen. Deshalb stellt er den vier Hauptsätzen der Semantik vier Korollarsätze gegenüber, die anzeigen, was mit Wörtern in Sätzen und Texten geschieht. Der Sprecher, der von einem bestimmten, unverwechselbaren Feuer berichtet, nimmt Präzisierungen vor: "Die Wörter des Textes begrenzen sich gegenseitig und schränken sich ein, und zwar umso wirksamer, je vollständiger der Text ist" (ibid.: 22). Lesen bedeutet nicht, die Bedeutung eines Textes im unendlichen Spiel der Signifikanten, wie der Dekonstruktivismus behauptet, aufzulösen, sondern seine Bedeutung zu präzisieren, um zu ihr Stellung nehmen zu können. Insofern ist Lesen im Sinne von Jean-Paul Sartre "eine Übung in Großherzigkeit" (Sartre 1964: 32), weil wir die Gedanken und Gefühle eines Anderen in uns hervorrufen und ihnen eine Gestalt geben. Die Formulierung von Sartre wird für viele Ohren überzogen klingen, aber sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf etwas, was gegenwärtig nicht nur in dekonstruktivistischen, sondern auch in radikal-konstruktivistischen und subjektivistischen Leseauffassungen verloren geht. Nach deren Auffassungen sind wir nicht an dem interessiert, was Andere schreiben, weil unser Gehirn semantisch geschlossen ist oder weil wir von unseren Bedürfnissen so sehr bestimmt werden, dass wir in Texte nur projizieren, was wir in ihnen sehen wollen, oder weil unser Wille zur Macht und zur Selbsterschaffung es uns nicht ertragen lässt, dass wir uns von Anderen etwas sagen lassen (vgl. Bredella 2010: 37-41, vgl. auch die Literaturbegriffe unter Kapitel 2.1 bis 2.5). Wären wir wirklich so egozentrisch und ethnozentrisch, wie von verschiedenen Seiten behauptet wird, hätten wir wahrscheinlich nicht überleben können. Lesen ist nach Sartre "gelenktes Schaffen" (Sartre 1964: 29). Das bedeutet, dass wir uns von dem Text bestimmen lassen müssen, aber wir müssen dabei auch kreativ werden, weil der Sinn eines Textes nicht einfach abgelesen werden kann, sondern von uns in der Interaktion mit ihm formuliert werden muss. Und dazu gehört auch, dass wir auf den Sinn des Textes antworten. Würden wir nicht antworten, bliebe das, was der Text sagt, wirkungslos und unverbindlich. Weinrich erörtert das Verhältnis von Wort- und Satzsemantik an der Frage, ob Texte übersetzbar seien, und kommt zu dem Schluss: "Man kann sich <?page no="51"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 51 an die Regel halten: "Übersetzte Wörter lügen immer, übersetzte Texte nur, wenn sie schlecht übersetzt sind" (Weinrich 2006: 24). Man kann Texte übersetzen, weil sie mehr sind als Anhäufungen von Wörtern. Sie bestehen aus Sätzen, die die Struktur von Urteilen besitzen. Die Formulierung "Schöner, grüner Jungfernkranz" ist kein Satz, sondern erst die folgende ist ein Satz: "Wir winden dir den Jungfernkranz." Was kennzeichnet somit einen Satz? Da ist zunächst das Personalmorphem "wir" in unserem Beispiel. Das Personalmorphem bezieht die Bedeutung des Verbs und damit den Sinn des ganzen Satzes auf die Grundsituation allen Sprechens, auf das Kommunikationsdreieck Ich: Du: Er. Auch die Pluralform "wir" legt den Ort der Information in diesem Kommunikationsmodell fest. Es gehört ferner zum Verb ein Tempusmorphem. In unserem Beispiel ist es ein Präsens. (Ibid.: 51) Wir befinden uns bei dieser Beschreibung im Bereich der Linguistik, aber das linguistische Wissen ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem Verstehen, bei dem wir darüber urteilen, ob die individuelle Äußerung des Anderen wahr oder falsch ist. In jeden Satz kann das Morphem "nicht" eingeführt werden und den Sinn des Satzes in sein Gegenteil verkehren. Sprachen sind so beschaffen, "daß es keinen Satz gibt, der nicht durch ein Morphem, hörbar oder nicht hörbar, auf Ja oder Nein hin determiniert wäre" (ibid.: 52). Um etwas als wahr oder falsch beurteilen zu können, muss der Leser sein Vorwissen und sein Vorverständnis über den jeweiligen Sachverhalt in den Leseprozess einbringen. Nur so kann er den Sinn des Textes verstehen und ihn auf seinen Wahrheitsgehalt befragen. Insofern reicht beim Lesen die Sprachkompetenz nicht aus. Ein Satz enthält eine Voraussetzung, die in ihm selbst nicht enthalten ist. Er ist eine Antwort auf eine Frage: "Durch eine Frage hervorgelockt, ist die Aussage aber selbst wieder Frage, und ruft eine weitere Aussage hervor. Und so erhalten wir eine lange Kette von Fragen und Antworten" (ibid.: 55). Das besagt: "Nur wer etwas schon weiß, kann überhaupt fragen" (ibid.: 57). Darin liegt der Dialogcharakter des Lesens begründet, wie er von Gadamer wiederholt aufgezeigt worden ist. Und deshalb greift die Auffassung des Lesens als Informationsentnahme zu kurz. In "Critique of Saussurian Linguistics" kritisiert V. N. Voloshinov bzw. Michail Bachtin (vgl. zur Frage der Autorschaft Morris 1994: 4) die Trennung zwischen "langue" und "parole". "Langue" ist als Sprache "an objective external to and independent of any individual consciousness" (Voloshinov / Bakhtin in Morris 1994: 31); hingegen ist "parole" eine rein individuell Äußerung ohne gemeinsame soziale Bedeutungen. 4 Mit dieser Trennung wird nicht erfasst, 4 Es sei hier nur erwähnt, dass Probleme des Dekonstruktivismus dadurch entstehen, dass er Texte nicht als "parole", sondern als ein Stück Sprache betrachtet. Bei der Sprache als System kann man mit Recht sagen, dass es ohne Sprecher und Hö- <?page no="52"?> 52 was geschieht, wenn wir Sprache verwenden: "In actuality, we never say or hear words, we say and hear what is true or false, good or bad, important and unimportant, pleasant or unpleasant, and so on. Words are always filled with content and meaning drawn from behavior or ideology" (ibid.: 33). Diese Einsicht bedeutet, dass Äußerungen verständlich werden, weil sie Antworten auf Fragen sind: "Any utterance - the finished, written utterance not excepted - makes response to something and is calculated to be responded to in return" (ibid.: 35). Was geschieht, wenn wir die hier skizzierte Konzeption des Lesens nicht beachten, will ich an zwei Beispielen illustrieren. In der DESI-Studie wurde von 2001 bis 2006 eine repräsentative Leistungsstudie bei Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe in Deutschland durchgeführt. Beim Testen der Lesekompetenz wurde ein Text mit dem Titel "Arrested" (273 Wörter) herangezogen. Es handelt sich um einen Bericht aus einer Zeitung, in dem sich eine Mutter darüber empört, dass ihre 14-jährige Tochter Anne Hedgepeth in Washington DC in Handschellen abgeführt wurde, weil sie in einer Metro-Station einen " cheeseburger" gegessen hat (vgl. Nold / Rossa 2007: 208). Zu dem Text wurden zwei Aufgaben gestellt. Eine von ihnen lautet: "Anne Hedgepeth was eating a cheeseburger: at the bus station, in front of a police station, in an underground station or on the train? " (ibid.) Diese Aufgabe ist wenig geeignet, das Leseverstehen dieses Textes zu testen, bei dem es um die Bewertung einer Bestrafung geht. Zudem ist die Aufgabe bedenklich, weil sie die Aufmerksamkeit auf irrelevante Unterschiede lenkt. Wenn Schüler ankreuzen, dass Anne den "cheeseburger" in der Metro und nicht in der Metro-Station gegessen hat, haben sie nach der Logik des Tests den Text nicht verstanden, obwohl es für dessen Bedeutung völlig gleichgültig ist, ob sie den "cheeseburger" in der Metro oder in der Metro-Station gegessen hat. Aber wahrscheinlich wird diese Aufgabe damit begründet, dass Schüler lernen sollen, Texte genau zu lesen. Doch diese Art von Genauigkeit führt zu der fragwürdigen Auffassung, dass der gute Leser sich möglichst viele Einzelheiten einprägen soll. Im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen werden die sechs Niveaustufen für die Lesekompetenz, wie Jürgen Quetz und Karin Vogt aufzeigen, mit sehr heterogenen Begriffen bestimmt (vgl. Quetz / Vogt 2009: 70-74). Vor allen Dingen werden sie nach dem Umfang des Wortschatzes und der Länge der Texte bestimmt. So heißt es auf der untersten Stufe A1: "Kann rer existiert und dass es keine referenzielle Sprachfunktion kennt. Jedes Wort bezieht sich nur auf ein anderes Wort, so dass sie sich in einem geschlossenen System gegenseitig bestimmen. Das gilt jedoch nicht für "parole". Deshalb können wir auf die Unterscheidung zwischen "parole" und "langue" nicht verzichten (vgl. zur Kritik des dekonstruktivistischen Sprachbegriffs Bredella 2010: 56-69). <?page no="53"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 53 vertraute Namen, Wörter und ganz elementare Wendungen in einfachen Mitteilungen im Zusammenhang mit den üblichsten Alltagssituationen erkennen." Was geschieht in diesem Rahmen, wenn Schüler mit geringem Wortschatz eine Geschichte verstehen, indem sie die einzelnen Handlungen der Charaktere in einen kohärenten Zusammenhang bringen und die Emotionen der Charaktere nachvollziehen? Gibt es dafür eine Niveaustufe? Auf der höchsten Niveaustufe C2 heißt es: "Kann praktisch alle Arten geschriebener Texte verstehen und kritisch interpretieren (einschließlich abstrakte, strukturell komplexe oder stark umgangssprachliche literarische oder nichtliterarische Texte)" (Europarat 2001: 74f.). Wer kann von sich behaupten, praktisch alle Arten geschriebener Texte zu verstehen und kritisch zu interpretieren? Die hermeneutische Einsicht, dass wir keinen Text ohne Vorverständnis verstehen können, scheint hier nicht zu gelten, ganz zu schweigen davon, dass zum Verstehen die Verständigung über die Sache gehört. Auch wird mit keinem Wort erwähnt, worin die Differenz zwischen Verstehen und Interpretieren besteht! Sinnbildungsprozesse und Urteilskraft scheinen keine Rolle zu spielen. 7.3. Die Bedeutung der Urteilsfähigkeit für die Orientierung in der Welt Wie wir in diesem Kapitel sehen werden, ermöglicht es die Urteilsfähigkeit, dass wir aus der solipsistischen Welt heraustreten und die Welt als etwas Externes beurteilen können. Aber wie können wir die Urteilskraft begründen, wenn immer wieder selbst von Autoren, die Selbstbestimmung fordern, darauf hingewiesen wird, dass das Verhalten des Menschen durch sprachliche, diskursive und soziale Kräfte determiniert ist? In der groß angelegten Studie mit dem Titel Bildung, Kultur und Wissenschaft. Reflexive Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts will Stephan Breidbach zeigen, wie Reflexion und Selbstbestimmung im bilingualen Sachfach gefördert werden können. Über weite Teile des Buches weist er aber darauf hin, wie unser Verhalten von sprachlichen und diskursiven Kräften determiniert wird. Dabei bezieht er sich vor allem auf Überlegungen von Foucault: Der Kerngedanke Foucaults ist dabei, dass der Einzelne durch machtvolle Disziplinierungstechniken den institutionellen Handlungserwartungen unterworfen wird und diese als Illusion eines autonomen Handelns verinnerlicht hat. (Breidbach 2007: 191) Selbstbestimmung ist hier nichts Anderes als verinnerlichte Disziplinierung. Ferner bezieht sich Breidbach auf Freud, der zeigt, dass der Mensch nicht <?page no="54"?> 54 Herr im eigenen Hause sei, und auf Soziologen, für die der Mensch nur aus einem Bündel von Rollen besteht, die ihm vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat. Der Mensch existiert demnach "nur als Zahler, Wähler, Klient, Patient, Dirigent, ' Berufsmensch ' oder Kunde" (ibid.: 193). Es sei hier nur erwähnt, dass Roland Barthes in seinem berühmtem Aufsatz über den Tod des Autors betont, dass nicht der Autor, sondern die Sprache den Text schreibt: "to write is […] to reach that point where only language acts, 'performs', and not 'me'" (Barthes 1994: 223). Raymond Tallis fasst Barthes Auffassung über den Tod des Autors in den Worten zusammen: The text is merely 'a multi-dimensional space where a multitude of styles blend and clash'. The author is merely a site through which language passes: he/ she does not use language to write his/ her text; rather language uses him/ her to write the text. (Tallis 1999: 277) Immer wieder wird versucht, die Sprache zum Subjekt zu erheben und den Sprecher der Sprache als Objekt zu entwerten. Folgt man dieser Auffassung, sind Selbstbestimmung und Urteilsfähigkeit Illusionen. Es kommt daher darauf an, dass wir die Urteilskraft näher bestimmen. In seinem Buch Können Tiere denken? lenkt Reinhard Brandt die Aufmerksamkeit auf die Grundstruktur des Urteilens. Ein Urteil besteht darin, dass wir einem Subjekt ein Prädikat zu- oder absprechen: "S ist P, S ist nicht P" (Brandt 2009: 30). Es enthält somit drei Momente: Es gibt erstens etwas außerhalb des Urteils, ein Urteilexternes, auf das wir im Urteil Bezug nehmen; zweitens das, was im Urteil behauptet wird, sei es, dass es bejaht oder verneint wird; und drittens die Unterscheidung von wahren und falschen Urteilen: "Es gibt kein menschliches Denken und Sprechen, das keine Urteile dieser Grundstruktur enthielte; sie erst ermöglichen viertens die Übersetzbarkeit der Sprachen ineinander" (ibid.: 32f.). Die fundamentale Bedeutung von Urteilen besteht für Brandt darin, dass sie uns erfahren lassen, dass wir nicht in einer solipsistischen Welt leben, sondern dass wir uns auf eine Welt, die außerhalb des Urteils besteht, beziehen können, indem wir zwischen wahren und falschen Urteilen unterscheiden können: Mit diesem ersten "Nein" im Universum war der despotische Solipsismus der Welt durchbrochen und der erste Schritt des Menschen zur Freiheit getan. Es war die gemeinsame Erzeugung eines Urteils mit einer Referenz, der Alternative von Bejahung und Verneinung und damit die Wahr- oder Falschheit. Jetzt kann etwas erkannt und behauptet und bestritten werden. (Ibid.: 51) In der Welt determiniert ablaufender Naturprozesse kann es keine Urteile geben. Sie kommen nur durch den Menschen, der Dinge erkennen und beurteilen kann, in die Welt. Die Welt unabhängig vom Menschen ist "widerspruchsimmun": <?page no="55"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 55 Gehirnströme und Herzklopfen können sich so wenig wie Atome, Kristalle oder Bäume oder Bilder widersprechen, weder äußerlich oder innerlich, auch Zeichen und Zeichensequenzen der Pflanzen, Menschen und Tiere sind (im Gegensatz zu Urteilen) Fakten, die widerspruchsimmun sind. (Ibid.: 35) Innerhalb der Natur kann es keine Irrtümer und keine Täuschungen geben, sondern erst innerhalb der Naturwissenschaft, weil es in ihr um Erkenntnis und Urteile geht, die richtig oder falsch sein können. Deshalb kommt es darauf an, die Urteilskraft gegen den Determinismus abzugrenzen. 7.4. Zwei unterschiedliche Informationsbegriffe Wie Janich in seinem Buch Was ist Information? Zur Kritik einer Legende aufzeigt, erhält der Begriff der Information durch den ungeheuren Erfolg der Naturwissenschaften eine neue Bedeutung. Wir sprechen von Informationen in Genen und in Gehirnwindungen, die dem menschlichen Bewusstsein entzogen sind. Informationen sind hier Ursachen, die unwillkürlich wirken. Versteht man Lernen in diesem Sinne wird es zu einem unbewussten Prozess von Reiz und Reaktion. Lernen als Informationsverarbeitung ist, so Janich, "ein Instrumentarium, mit dem konsequent tierliches und menschliches Verhalten durch kybernetische, d.h. informationsverarbeitende Steuerungs- und Regelungsprozesse im Rahmen eines differenzierten Reiz-Reaktions-Schemas erfasst werden soll" (Janich 2006b: 219). Diese naturwissenschaftliche Auffassung von Informationen ist jedoch für das Verstehen menschlichen Handelns und für das Verstehen von Geschichten unzulänglich und führt zu naturalistischen Fehlschlüssen. Wir bemerken diese Fehlschlüsse oft nicht, weil das Wort "Verhalten" so umfassend verstanden werden kann, "daß das ganze Spektrum von Vorgängen darunter fällt, an dessen einem Ende das Verhalten eines Steins steht, sich in der Sonne zu erwärmen oder im Wasser unterzugehen, und an dessen anderem Ende das 'Verhalten' als heroische Tat steht, bei der ein Schiffsführer sein Leben einsetzt, um seine Passagiere zu retten" (Janich 2000: 124). Diese Differenz zwischen unwillkürlichem Verhalten und intentionalem Handeln ist für das menschliche Handeln und das Verstehen von Geschichten konstitutiv. Wir müssen unterscheiden: "zwischen einem bloßen Verhalten wie Stolpern, Erschrecken und Niesen und den Tätigkeiten, die uns sittlich oder rechtlich als Schuld oder Verdienst, als vorsätzlich, fahrlässig oder unverschuldet zugerechnet werden" (ibid.: 105f.). Gäbe es nur unwillkürliches Verhalten, gäbe es keine Geschichten, in der Menschen auf Widerstände antworten und sich an den Intentionen und Überzeugungen der Anderen orientieren (vgl. die Ausführungen über die "Theory of Mind" in Kapitel 6.2.). Geschichten eröffnen uns eine Welt, in der Handlungen uns "als <?page no="56"?> 56 Schuld oder Verdienst, als vorsätzlich, fahrlässig oder unverschuldet zugerechnet werden". Insofern ist die Urteilkraft unverzichtbar und setzt eine Welt mit Normen und Werten voraus. Wir müssen zwischen der Welt der Naturgesetze und der Welt menschlichen Handelns mit ihren Normen und Werten unterscheiden. Janich verdeutlicht diesen Unterschied mit folgendem Beispiel: Ob ein Taschenrechner richtig oder falsch rechnet, können wir nicht entscheiden, wenn wir uns nur an naturgesetzlich ablaufenden Prozessen orientieren. Auch der Taschenrechner, der falsch rechnet, folgt Naturgesetzen. Ob er richtig oder falsch rechnet, können wir erst in einer Welt bestimmen, in der wir festgelegt haben, was richtig und falsch ist. Wenn wir diesen Unterschied nicht beachten, unterliegen wir einem naturalistischen Fehlschluss, denn Naturgesetze gelten, "sowohl für gestörte wie für ungestörte Geräte gleichermaßen" (Janich 2006b: 240). Rechenfehler gibt es nicht in der Natur, sondern nur in der Welt "menschlicher Zwecke von Konstrukteuren und Benutzern von Rechenmaschinen" (ibid.: 197). Wir dürfen die Welt der Gründe nicht auf die Welt der Ursachen reduzieren. Wir empfangen nicht Anweisungen von Neuronen und Synapsen, sondern rechtfertigen unsere Auffassungen mit Gründen und Argumenten. Selbst der radikale Konstruktivist wird sich, wie schon erwähnt, nicht auf Prozesse im Gehirn, sondern auf Gründe berufen, um seine Theorie zu rechtfertigen (vgl. Brandt 2009: 12). Der Gehirnforscher Gerald Hüther weist darauf hin, dass die Auffassung, die besagt, dass unser Verhalten determiniert ablaufe, deshalb attraktiv sei, weil sie uns von Verantwortung freispreche: "Wir lieben solche einfachen Erklärungen, vor allem solche, die uns suggerieren, etwas anderes als wir selbst sei dafür verantwortlich, dass wir so sind, wie wir sind" (Hüther 2011: 64). Die Hinweise auf Gene, Hormone, Neuronen, sozialen oder diskursiven Kräften verhindern, "dass wir uns selbst erkennen und entdecken können" (ibid.: 65). Selbstverständlich existiert der Mensch nicht unabhängig von Genen, Hormonen, sozialen und diskursiven Kräften. Er ist nicht, wie wir bei der Selbstbestimmung in Kapitel 5 gesehen haben, in einem radikalen Sinn frei. Das wäre Willkür. Der Mensch ist aber auch nicht ein determiniertes Wesen, sondern besitzt Empathie- und Urteilsfähigkeit, so dass er bei der Rezeption von Geschichten sich selbst entdecken und erkennen kann. 7.5 Lügen bei der Rezeption von Geschichten Ich habe in Kapitel 2.5 darauf hingewiesen, dass wir auf die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge nicht verzichten können und dass uns Lügen <?page no="57"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 57 verletzen und das Vertrauen in Andere zerstören. In Linguistik der Lüge stellt sich Harald Weinrich die Frage: "Können Wörter lügen? ", wobei gemeint ist, "ob Wörter, rein für sich, lügen können" (Weinrich 2006: 34), und zitiert eine Reihe von Autoren, die die Frage bejahen. Dazu gehört Stefan Andres, der in der an Brecht anknüpfenden Umfrage Schwierigkeiten, heute die Wahrheit zu schreiben, ausführt: Übrigens: auch das Wort Wahrheit segelt heute genauso wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Treue, Ehre und viele andere unter der Quarantäneflagge, diese Begriffe sind samt und sonders verseucht - von der Ideologie, Pragmatismus und Zwecklügen aller Art. (Andres in ibid.: 35) Besonders im Nationalsozialismus sind viele Worte missbraucht worden, so dass sich für Weinrich die Frage stellt: "Ist die deutsche Sprache dadurch eine Sprache der Lüge geworden? Sind ihre Wörter entmenschlicht? " (ibid.) Doch einzelne Wörter können, so Weinrich, nicht lügen. Lügen können sie nur in bestimmten Kontexten. Die Wörter "Blut" und "Boden" können als einzelne Wörter auch heute noch unbekümmert gebraucht werden, aber in ihrer Verbindung "Blut und Boden" verweisen sie auf ein lügenhaftes Begriffssystem und eine totalitäre Ideologie. Wir könnten Lügen nicht entlarven, wäre Sprache ein geschlossenes System, das sich nicht auf die Welt beziehen könnte. Das Wort "Demokratie" steht für eine Staatsform, in der das Volk seine Repräsentanten frei wählen darf. Daher lügt derjenige, der dieses Wort für eine Staatsform verwendet, in der das Volk seine Repräsentanten nicht frei wählen darf. Diese Lüge wird auch nicht zur Wahrheit, wenn man von "Volksdemokratie" spricht (vgl. ibid.: 38). Um Lügen zu entlarven, müssen wir demnach das, was im Urteil behauptet wird, mit dem vergleichen, was außerhalb des Urteils existiert oder tatsächlich geschieht. Das gehört zur Lesekompetenz und kann durch die Lektüre von Geschichten besonders gefördert werden. In Bertolt Brechts Kaukasischem Kreidekreis sagt die Gouverneursfrau (die schlechte Mutter) den Satz: "Ich liebe das Volk mit seinem schlichten, geraden Sinn." Doch woher wissen wir, dass dieser Satz eine Lüge ist, wenn wir nicht in das Herz der Gouverneursfrau schauen können? Wir können es aus dem Kontext erkennen: Als sie den Gerichtssaal betritt, weicht sie vor den armen Leuten zurück und bemerkt: "es ist nur der Geruch, der mir Migräne bereitet." Und später, als sie Grusche (die gute Mutter) sieht, fragt sie: "Ist das die Person? " So spricht man nicht, wie Weinrich betont, "wenn man das Volk und seinen schlichten, geraden Sinn liebt" (ibid.: 39). Wir werden bei der Lüge mit zwei Sätzen konfrontiert: "Sie liebt das Volk (mit seinem schlichten, geraden Sinn)" und "Sie liebt das Volk (mit seinem schlichten, geraden Sinn) nicht". Diesen zweiten wahren Satz hören wir nicht, aber wir gewinnen seine wahre <?page no="58"?> 58 Bedeutung, indem wir dem ersten Satz, den wir hören, das Wort "nicht" hinzufügen: Den zweiten Satz hören wir nicht, denn er bleibt in der Brust verschlossen. Dieser Satz ist wahr. Er besagt nicht einfach etwas anderes als der gelogene Satz, sondern das gerade Gegenteil. Das bedeutet sprachlich: Der wahre Satz gleicht dem gelogenen Satz peinlich genau - bis auf das kleine Wörtchen "nicht". (Ibid.: 40) Innerhalb einer fiktionalen Geschichte stellt sich somit die Frage, ob eine Äußerung wahr oder falsch ist. Es gibt aber auch Geschichten, bei denen es von entscheidender Bedeutung ist, ob sie selbst wahr oder falsch sind. Diesen Sachverhalt verdeutlicht Weinrich an einer Rede Hitlers im Jahr 1938, in der er über seine Verhandlungen mit dem britischen Premier Chamberlain berichtet: Ich habe ihm versichert, daß das deutsche Volk nichts anderes will als Frieden (…). Ich habe ihm weiter versichert und wiederhole es hier, daß es - wenn dieses Problem gelöst ist - für Deutschland kein weiteres territoriales Problem gibt. (Hitler in ibid.: 58f.) Beim Verstehen von Hitlers Rede wollen nach Weinrich die Zuhörer nicht neue Informationen von Hitler erfahren, sondern sie erwarten eine Antwort "auf die messerscharfe Frage Krieg - ja oder nein? " (ibid.: 60): Man hört also auf ein Morphem. In diesem Morphem wird die Wahrheit gefälscht. Die schlimme, die böse, die totale Lüge ist syntaktischer Natur; sie fälscht den Sinn an jener entscheidenden Stelle, wo sich Sprache und Welt begegnen, in der Sprechsituation. (Ibid.: 60) Doch die Zuhörer können aus der Rede keine Antwort "auf die messerscharfe Frage Krieg - ja oder nein? " erwarten. Dazu wäre ein größerer Kontext notwendig, um Hitlers wahre Absichten einschätzen zu können. Diese knappen Andeutungen zur Lüge unterstreichen, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge für unsere Orientierung unverzichtbar ist, wie auch die zwischen Kooperation und Betrug, wie wir in Kapitel 8 sehen werden. 8. Zur Entwicklung von Kooperationsfähigkeit In Was ist Information? Zur Kritik einer Legende zeigt Janich auf, dass Kooperation für uns Menschen unverzichtbar ist, weil wir uns auf gemeinsame Ziele verständigen müssen: <?page no="59"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 59 Auf Kooperation sind wir Menschen angewiesen. Nicht nur in einer hoch arbeitsteiligen, komplexen Gesellschaft, sondern sogar in den familiären und kleinteiligen Lebensgemeinschaften reden wir dort, wo wir es ernst meinen, im Sinne eines kooperativen Miteinanders. (Janich 2006a: 147) Für Formen der Kooperation ist nicht nur Sprache notwendig, sondern auch die Fähigkeit, "sich gegenseitig für das Reden verantwortlich zu machen": Wo also etwas versprochen oder gemeinsam geplant wird, wo eine Freundschaft geschlossen oder aufgekündigt, ein Verein gegründet oder aufgelöst, ein Vertrag geschlossen oder ein Auftrag erteilt wird, werden wir selbstverständlich "beim Wort genommen". (Ibid.: 148) Janich leitet die Kooperation aus handlungstheoretischen und sprachphilosophischen Überlegungen ab. Wir sind als handelnde und sprachliche Wesen auf sie angewiesen. Für die evolutionäre Biologie und Psychologie ist Kooperation für das Überleben der Menschen unverzichtbar. Boyd sagt über sie: In fact sociobiology's central preoccupation has been cooperation, or more precisely the complex mix of cooperation and competition in any society, and evolutionary psychology and evolutionary economics have placed more emphasis on generosity, trust, and fairness than nonevolutionary psychology or economics ever had. (Boyd 2009: 26) Wenn wir im Zusammenhang mit Geschichten über Kooperation sprechen, geht es vor allem um die Störungen der Kooperation, um Ungerechtigkeiten und Betrug und wie Gerechtigkeit und die verletzte Ordnung wiederhergestellt werden können. Wie wir sehen werden, spielt bei der Rezeption von Geschichten das "altruistische Bestrafen" eine wichtige Rolle. Darüber hinaus geht es aber auch um die angemessene Form der Strafe. Darauf werde ich in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels näher eingehen. Doch zunächst will ich mich der Auffassung von Moral im Rahmen der evolutionären Biologie und Psychologie zuwenden. Aus ihrer Sicht steht Moral im Dienste der Kooperation und unterscheidet sich von der vorherrschenden an Freud orientierten Moral, bei der es um die Überwindung asozialer Triebe geht. 8.1. Moral als Voraussetzung der Kooperation Evolutionäre Biologen und Psychologen weisen darauf hin, dass wir den Menschen weder als ein friedliches und selbstloses noch als ein machtbesessenes und egoistisches Wesen konzipieren dürfen. In der Vorrede zu Why we cooperate schreibt Michael Tomasello, dass Kinder bereits nach dem ersten Lebensjahr kooperativ und hilfsbereit sind und dass sie dieses Verhalten nicht von ihren Eltern gelernt haben können. Später richten sie ihr kooperatives <?page no="60"?> 60 Verhalten stärker an dem Urteil Anderer aus, wobei vielfältige kulturelle Erwartungen ins Spiel kommen. Kinder sind aber auch auf ihr eigenes Wohl bedacht, sonst könnten sie gar nicht überleben: "Human cooperativeness and helpfulness are, as it were, laid on top of this self-interestedness" (Tomasello 2009: 5). In seinem Buch Das Prinzip der Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen betont Frans de Waal, dass der Mensch einerseits ohne die Fähigkeit zur Kooperation, zum Altruismus und zur Empathie nicht hätte überleben können und dass er andererseits auch ein anreizgesteuertes Tier ist: Wir sind Gruppentiere - sehr kooperativ, gegen Ungerechtigkeit empfindlich, manchmal kriegerisch, doch überwiegend friedliebend. Eine Gesellschaft, die diese Neigungen ignoriert, kann nicht ideal sein. Gewiss, wir sind auch anreizgesteuerte Tiere - fokussiert auf Status, Territorium und Nahrungssicherung -, weshalb auch keine Gesellschaft, die diese Tendenzen außer Acht lässt, ideal sein kann. (de Waal 2011a: 15) Wenn es richtig wäre, so de Waal, dass der Mensch nur von dem Willen zur Macht und zur Ausbeutung bestimmt sei, "hätte sich die Evolution nie mit der Empathie abgegeben" (ibid.: 63). Aber auch die Empathie besitzt Grenzen, wenn sie die eigene Selbsterhaltung gefährdet: Was wäre das für ein Leben, wenn wir alles Leid der Welt mitfühlen müssten? Empathie braucht zweierlei: einen Filter, mit dessen Hilfe wir auswählen, worauf wir reagieren und einen Knopf zum Abschalten. Wie jede emotionale Reaktion, hat sie ein 'Tor', eine Situation, die sie in der Regel auslöst oder der wir gestatten, sie auszulösen. Das wichtigste Tor der Empathie ist die Identifikation. (Ibid.: 275f.) Auch für Eibl ist der Mensch weder ein friedfertiges und selbstloses noch ein machtbesessenes und egoistisches Wesen, weil in ihm eine lange Geschichte unterschiedlicher Einflüsse wirksam ist. Er hat die "Neigung zum Betrug, und zur Ehrlichkeit, zu Fremdenfeindlichkeit, und Neugier, zu Vergewaltigung und Liebe, Totschlag und Selbstopfer, Herrschbegier und Unterwürfigkeit" (Eibl 2004: 108). Wir können daher das menschliche Verhalten nicht auf einen Trieb zurückführen: Unser Verhalten beruht auf den Sedimenten einer Seelen-Stammesgeschichte, die bis zu Reptilien und Fischen zurückreicht. Man kann sie sich vorstellen, wie ein altes Haus, das immer wieder umgebaut wurde und in dem alte Materialien immer wieder einmal zu neuen Zwecken eingesetzt wurden. (Ibid.) Es kommt somit darauf an, dass wir einen Ausgleich zwischen den eigenen Interessen und Bedürfnissen und denen der Anderen finden: "Man kann sich <?page no="61"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 61 die Triebe als ein Orchester vorstellen, das polyphone Stücke spielt" (ibid.: 108f.). Insofern führt die Frage, ob der Mensch von Natur aus aggressiv oder friedliebend ist oder ob er durch die Kultur aggressiv oder friedliebend wird, in die Irre: "Er [der Mensch] ist von Natur aus keines von beiden, sondern bringt nur Dispositionen zu beiden mit, die ontogenetisch mit diesem oder jenem Akzent fertig gebaut werden können und in dieser konditionierten Form dann von der jeweiligen Handlungssituation abgerufen werden" (ibid.: 109). Wenn wir den Menschen als ein Wesen begreifen, das Dispositionen zu unterschiedlichen Verhaltensweisen besitzt, ergibt sich für die Moral die Aufgabe, Normen zu finden, die einen Ausgleich zwischen Kooperation und Wettbewerb ermöglichen und die bei der weitgehend genetischen Offenheit menschlicher Verhaltensprogramme die Handlungen der Anderen wie der eigenen berechen- und vorhersagbar machen. Das stellt an den Menschen erhebliche Anforderungen: Die treibende Kraft, deretwegen sich die symbolisch-kommunikative Kultur beim Menschen viel stärker entwickelt hat, ist vermutlich die Moral. Deren kommunikative Vermittlung hat beim Homo sapiens deshalb so exzeptionelle Bedeutung, weil sein Handeln sonst für die Mitmenschen unberechenbar wäre - anders als beim starrer instinktgeleiteten Tier, auf dessen Aktionen und Reaktionen sich die Artgenossen und koevolvierten Organismen weitgehend 'verlassen' können. (Ibid.: 18) Die hier angedeutete Begründung für die Moral unterscheidet sich von der an Freud orientierten Auffassung von Moral, die auf dem Antagonismus zwischen asozialen Trieben und verinnerlichten moralischen Normen beruht. Eibl skizziert Freuds Moral- und Kulturkonzept, um den Unterschied zwischen beiden Auffassungen deutlich zu machen. In Totem und Tabu steht für Freud an der Spitze der Steinzeithorde "ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt" (Freud in ibid.: 95). Das führt dazu, dass der Vater von den Söhnen ermordet wird und ein Zustand der Anarchie und Promiskuität entsteht, der durch das Inzestverbot gebändigt wird. Die Beseitigung des Urvaters hat nach Freud in der Erinnerung der Menschen tiefe Spuren hinterlassen, die sich heute noch in Ersatzhandlungen auswirken. Für Freud treffen "im Ödipus-Komplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammen" (ibid.). Freud glaubte mit der Annahme einer "Massenpsyche" erklären zu können, dass ein singuläres Ereignis vererbt werden kann, was Eibl entschieden bestreitet. <?page no="62"?> 62 In Das Unbehagen in der Kultur stellt Freud den Begriff der Libido in den Mittelpunkt. Libido sei eine universelle Bejahungskraft, die sich jedoch in der Welt nicht durchsetzen kann: Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus der Beziehung zu anderen Menschen. (Freud in ibid.: 96) Da sich die Libido in der Welt nicht durchsetzen kann, stellt sich der psychische Mechanismus auf 'Leidabwehr' um und muss sich mit Ersatzbeglückungen zufrieden geben. Freud konzipiert Libido nach einer bestimmten physikalischen Menge, wie der Druck in einem Kessel, so dass die Umleitung als Sublimierung den Druck lindern kann. Aber der Mensch besitzt nur eine bestimmte Menge von ihr, so dass er das, was er für Kultur und Sublimierung verwendet, nicht für die Liebe verwenden kann. Wie problematisch Freuds Konzeption von Kultur und Moral auch ist, sie erscheint vielen von uns als plausibel für die Erklärung unseres Verhaltens in Alltagssituationen: Die Seele steht unter Druck, so dass sie ein Ventil braucht, und die Kultur übernimmt Polizeiaufgaben, um die asozialen Triebe im Es zu beherrschen. Kultur ist nach dieser Auffassung durch einen ungeheuren Triebverzicht erkauft. Daraus resultiert auch das Unbehagen in der Kultur, von dem man sich durch den Austritt aus der Kultur zu befreien sucht. Ich habe an anderer Stelle auf die Fragwürdigkeit dieser Auffassung hingewiesen (vgl. Beitrag II, Kapitel 1). Hier dient Freuds Auffassung nur dazu, zwei unterschiedliche Konzeptionen von Moral zu vergleichen. Nach Freud existieren Normen nur für das, was verboten ist. Deshalb gibt es keine Normen für Essen und Trinken, sondern nur für das, was "zur Unterdrückung der bösen Triebe nötig" ist. Für Freud ist daher die Existenz von Normen "geradezu ein Beweis für das Vorhandensein dieser Triebe" (Eibl: 2004: 163). Es muss das Inzestverbot geben, weil "zwischen Vater und Tochter und Mutter und Sohn eine starke sexuelle Beziehung besteht" (ibid.: 164). Das Gleiche gilt für die Tötungshemmung. Wir besitzen "einen tief verwurzelten Nächstentötungswunsch" (ibid.). Kultur und Moral sind deshalb mit Triebverzicht verbunden, weil sie uns verbieten, was wir tun wollen. Für Eibl greift dieser Ansatz für die Erklärung von Kultur und Moral zu kurz. Nach seiner Sicht besteht das Inzest- und Tötungsverbot nicht deshalb, weil wir den tiefsitzenden Wunsch zum Inzest und zum Töten besitzen, sondern weil wir mit diesen Verboten eine ganze Reihe weiterer nicht so selbstverständlicher Verbote und Verhaltensregeln begründen können. So werden auch Regeln für Heirat, Vorratshaltung und Erbfolge festgelegt, - "kurz, wenn kulturelle Insti- <?page no="63"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 63 tutionen errichtet werden, dann scheint es rationell, dass man für die Einübung und Begründung der Regeln bei natürlichen Neigungen anknüpft" (ibid.: 165). Hier kommt eine ganz andere Begründung der Moral ins Spiel als bei Freud. Moral dient nicht der Unterdrückung der Triebe, sondern entwickelt Normen, um unterschiedliche Bedürfnisse und Ziele so aufeinander abzustimmen, dass Kooperation möglich wird. Damit wird nicht gesagt, dass es wegen unserer Trieb-Polyphonie und Trieb-Konkurrenz nicht zu Konflikten kommt (vgl. ibid.: 197f.). Eibl betont, dass es nicht die Aufgabe der Vernunft ist, Triebe in Schach zu halten, sondern zwischen ihnen abzuwägen. Dabei bezieht er sich auf die Auffassung von William James: Die Vernunft kann keinen Trieb hemmen; das einzige, was einen Trieb aufheben kann, ist ein anderer Trieb. Die Vernunft kann jedoch eine Schlussfolgerung ziehen, welche die Einbildungskraft so erregt, dass der andere Trieb ausgelöst wird. (James zitiert in ibid.: 129) Der Mensch muss versuchen, physiologisch bedingte Triebe und kulturbedingte Normen aufeinander abzustimmen. Daher ist ein Ich notwendig, das zwischen ihnen vermitteln kann. Darin unterscheidet sich der Mensch vom Tier, dessen Verhaltensprogramme weitgehend "naturalisiert" sind; "d.h. sie sind so gefüllt, dass keine Alternativen aktuell werden" (ibid.: 139). Ein Ich wird dagegen notwendig, "wenn in einer Situation die wechselseitige Selektion mit Schwierigkeiten verbunden ist und der Ist-Soll-Vergleich eine Unstimmigkeit anzeigt" (ibid.). Moral ist deshalb nicht etwas, das uns von außen als biologischen Wesen übergestülpt wird, sondern sie gehört zu unserem Leben: Die Moral ist das Mittel, mit dem man die so entstandene Kontingenz wieder eindämmen kann. Durch Moral werden die Inhalte der offenen Stellen "fest" gemacht, zugleich aber locker genug gehalten, dass der Organismus auch auf schnelle Veränderungen der Lebensbedingungen reagieren kann, für die der phylogenetische Apparat viel zu träge wäre. (Ibid.: 174) Für Kooperation besteht ein zentrales Problem darin, dass wir voraussetzen müssen, dass Andere sich so verhalten werden, wie sie es versprochen haben und wie wir es erwarten. Dazu ist ein Ich notwendig, das Verantwortung übernehmen und sich rational verhalten kann: Vorausgesetzt sind z.B. ein gewisser Grad der Individualisierung der Beziehungen, ein angemessener Planungs- und Erinnerungsraum, eine angemessene Recheneinheit für den Wert der Leistung, mithin gewisse Fähigkeiten zur symbolischen Abstraktion, und irgendeine Form der (inneren oder äußeren) Hemmung, die der Versuchung zum Betrug entgegenstehen. (Ibid.: 177f.) <?page no="64"?> 64 Was geschieht jedoch, wenn der Versuchung zum Betrug nicht widerstanden wird? 8.2. "Altruistisches Bestrafen" Wie wir gesehen haben, sind Menschen auf Kooperation angewiesen, um zu überleben, aber sie wird immer auch bedroht. Daher hat sich die evolutionäre Biologie und Psychologie intensiv mit Betrügern ("defectors") und Trittbrett- und Schwarzfahrern ("free riders" und "freeloaders") beschäftigt, und sich dabei auf Geschichten bezogen, in denen die Störungen und Verletzungen der Kooperation in ihren Wirkungen und Auswirkungen erforscht werden. Dabei hat sie die Aufmerksamkeit auf das "altruistische Bestrafen", das bei der Rezeption von Geschichten eine wichtige Rolle spielt, gelenkt. Es entsteht, wenn Protagonistinnen und Protagonisten Betrug aufdecken und sich für die Wiederherstellung der Kooperation einsetzen, selbst wenn es ihnen persönliche Nachteile bringt. Deshalb spricht die evolutionäre Biologie und Psychologie von "altruistischem Bestrafen": "Altruistic punishment […] costs the punisher more than it can get him or her" (Flesch 2009: 4). In Comeuppance (auf Deutsch "gerechtes Bestrafen") zeigt William Flesch auf, wie wir uns als Leser und Zuschauer von Dramen und Romanen darüber freuen, dass Betrüger und Betrügerinnen entlarvt und bestraft werden. Dabei geht es nicht so sehr um die Bestrafung selbst, sondern um die Erwartung, dass sie bestraft werden. Es ist diese Erwartung, die zum Weiterlesen motiviert. Bei seiner Interpretation der Odyssee zeigt Boyd auf, wie Homer immer wieder den Blick der Leser auf die Bestrafung, die die rücksichtslosen und selbstgefälligen Freier bei der Rückkehr des Odysseus erhalten werden, lenkt: Homer has worked at the problem from both ends: the misery of the good, the prosperity of the evil. By having the deserving Odysseus enforce the severest penalties against the undeserving suitors, Homer and Zeus affirm cooperation and the power of punishment to uphold it, even when it seems to have been flouted as insolently as the suitors have done. (Boyd 2009: 307) Wie lässt sich dieses Bedürfnis nach Bestrafung erklären? Es ist auch außerhalb der Rezeption von Geschichten in einer Reihe von Experimenten erforscht worden. In einem dieser Experimente erhält einer der zwei Teilnehmer $100 mit dem Hinweis, dass er einen Teil dieses Geldes an den zweiten Teilnehmer abgeben soll und dass beide ihren jeweiligen Betrag behalten dürfen, wenn der zweite Teilnehmer mit dem Betrag zufrieden ist, den ihm der erste Teilnehmer anbietet. Ist er nicht damit zufrieden, gehen beide leer aus. Im Sinne strikter Rationalität müsste der zweite Teilnehmer auch das niedrigste Angebot akzeptieren, weil ein kleiner Betrag besser ist als gar <?page no="65"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 65 nichts. Doch in der Regel bietet der erste Teilnehmer einen Betrag zwischen $45 und $25 an. Sollte der Betrag niedriger sein, wird er in der Regel von dem zweiten Teilnehmer abgelehnt. Damit geht er zwar leer aus, aber er empfindet Genugtuung darüber, dass er dem ersten Teilnehmer sagen kann, was er von seinem unfairen und ungerechten Verhalten hält: Rejecting the ultimatum is an emotional and not a rational response. Unpacking the intention behind such a response can tell us something about the structure and function of emotion. By rejecting an ultimatum I am communicating something to you, even if I'll never see you again. I am communicating the intensity of my sense that your behavior is unfair. I want you to know that it's unfair, and I am willing to forego what would otherwise be a clear if unfairly small gain to make sure that you do know it. (Flesch 2007: 34f.) Wie erklärt sich, dass wir am "altruistischen Betrafen" interessiert sind, auch wenn es uns persönlich keinen Vorteil bringt? Aus Sicht der evolutionären Biologie und Psychologie hat sich unsere Motivationsstruktur im Pleistozän, in dem wir als Jäger und Sammler zwei Millionen Jahre lang lebten, entwickelt, bevor vor 10 000 Jahren der Ackerbau zu einer ganz anderen Lebensweise und einer veränderten Motivationsstruktur führte. Jäger und Sammler können nur durch Kooperation überleben. Sie müssen sich beim Sammeln von Nahrungsmitteln vor Gefahren warnen und sind beim Erlegen großer Tiere auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Die Evolution belohnt gleichsam das kooperative Verhalten, das das Überleben ermöglicht, indem es bei uns Freude auslöst. Der Evolutionspsychologe Ernst Fehr hat nachgewiesen, dass es für das altruistische Bestrafen eine neuronale Basis gibt: "Wenn A bestrafen kann, im Vergleich zu einer Situation, wo A nicht bestrafen kann, werden Belohnungsreale im Gehirn aktiviert" (Fehr 2004: 9). Wie Eibl ausführt, haben Leda Cosmides und John Tooby "im menschlichen Erbgut einen regelrechten Betrügerdetektor" nachgewiesen. Das erscheint für das Überleben der Menschen notwendig: "Eine Evolution, bei der die Betrüger freie Hand haben, führt schnell zu deren Überhandnehmen und damit zum Kollaps" (Eibl 2004: 183). Geschichten schärfen unser Bewusstsein und unsere Sensibilität für die zerstörerischen Folgen von Betrug für das Zusammenleben der Menschen. Wie aber muss die Strafe beschaffen sein, damit sie nicht selbstzerstörerisch wirkt? Diese Frage stellt uns vor große Herausforderungen. 8.3. Zum Verhältnis von Strafe und Rache Wenn wir bei der Rezeption von Geschichten erwarten, dass die Betrüger bestraft werden, stellt sich die Frage, wie sie bestraft werden sollen. Diejeni- <?page no="66"?> 66 gen, denen großes Unrecht zugefügt wird, suchen sich in der Regel zu rächen, indem sie Gleiches mit Gleichem vergelten wollen: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Das kann so weit gehen, dass das Opfer selbst seine eigene Zerstörung in Kauf nimmt, nur um denjenigen, der ihn verletzt und beleidigt hat, leiden zu sehen. Flesch zeigt in Shakespeares The Merchant of Venice auf, wie Shylock darauf pocht, das Pfund Fleisch, das ihm laut Vertrag zusteht, aus Antonio herauszuschneiden, selbst wenn er mehr Geld bekommt, als Antonio ihm schuldet (vgl.: Flesh 2007: 38f.). Die Rache kann damit in einen zerstörerischen Zirkel von Unrecht und Vergeltung geraten (vgl. Eibl 2004: 115). Am Ende der Odyssee kann dieser Zirkel nur durch ein Gebot der Götter verhindert werden, als sich die Verwandten der vernichteten Freier rächen wollen. Bei Säugetieren, die im Rudel leben, kommt es immer wieder zu Knurren und Fauchen, aber nicht zu Verletzungen. Mit Imponiergehabe und Drohgebärden wird demonstriert, wer der Stärkere ist und wer wahrscheinlich siegen würde, wenn es zum Kampf käme. Daher geben die Schwächeren in der Regel so lange nach, bis sie merken, dass das dominierende Tier geschwächt ist. Aber selbst wenn es zum Kampf kommt, gibt der Schwächere nach und der Stärkere verfolgt den Schwächeren nicht, um ihn zu töten. Nach Eibl liegt folgende Regel in unseren Genen: "Riskiere nicht mehr als nötig. Denn diejenigen, die zu viel riskiert haben, haben sich nicht fortgepflanzt" (ibid.: 112). Darin liegt eine Lebensklugheit, die beim Menschen von anderen Überlegungen verdrängt wird. Er besitzt ein Gedächtnis und fürchtet, dass er seine Ehre verliert, wenn er nachgibt und feige genannt wird: Beim Menschen steht in solchen Fällen die 'Ehre' auf dem Spiel. Wer kneift, fällt der Ächtung anheim und ist aus dem Spiel. Ein Duell im Morgengrauen, bei dem der eine stirbt und der andere das Land verlassen muss - eine solche Dummheit kann unter Tieren nicht passieren. (Ibid.: 112) Ferner fällt es Menschen schwer nachzugeben, weil sie ihre Niederlagen nicht vergessen können und Angst um ihren guten Ruf haben. Deshalb kann der Kampf bei der "Tit-for-Tat-Strategie" ("wie du mir, so ich dir") außer Kontrolle geraten. Kooperation bei Menschen ist zudem dadurch gefährdet, dass sie drohendes Unheil vorhersehen können. Das ermöglicht ihnen, feste Häuser zu bauen und Vorräte anzulegen, aber führt auch dazu, dass sie Präventivkriege führen. Sie antworten auf mögliche Aggressionen, bevor sie überhaupt stattgefunden haben. Insofern ist der Mensch nicht nur zur Kooperation, sondern auch zum Völkermord fähig. Zudem kann auch die Solidarität zur Blutrache führen, wenn die "Tit-for-Tat-Strategie" auf überindividuelle Einheiten angewendet wird: Was du meinem Verwandten tust, tu ich deinem Verwandten, was du meinem Dorfgenossen tust, tu ich deinem Dorfgenossen. 'Reziproker Altruismus' <?page no="67"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 67 und ' reziproke Schadensbegrenzung ' sind zwei Seiten derselben Medaille. (Ibid.: 115) Das Verlangen nach Rache wird auch durch das Sprachvermögen des Menschen gefördert, weil er sich damit an lange zurückliegende Niederlagen erinnern kann. So kann es "zur 'Erbfeindschaft' unter Nationen" (ibid.: 116) kommen, wenn man nicht fähig ist, den Zirkel von Unrecht und Vergeltung zu durchbrechen. Die hier angesprochenen Fragen kommen in Geschichten immer wieder zur Darstellung und zeigen an, dass die ästhetische Erfahrung nicht von ethischen Fragen abgekoppelt werden kann (vgl. Kapitel 4). Je sensibler wir für das Leiden werden, das Menschen durch Betrüger zugeführt wird, je schwerer fällt es uns auch, einfach über es hinwegzusehen. Wir haben aber auch erkannt, dass ein Übeltäter kein Monster, sondern ein Mitmensch mit bestimmten Rechten ist, dessen Wohl nicht zu Gunsten des Gemeinwohls geopfert werden darf. Das ist eine Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, wie Hans Joas in seinem Buch Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte aufzeigt. Er stellt sich die Frage, warum es am Ende des 18. Jahrhunderts zur Abschaffung der Folter wie auch der Sklaverei und zur Forderung nach Anerkennung der Menschenrechte kam. Er setzt sich mit zwei vorherrschenden Deutungen kritisch auseinander, bevor er seine eigene Deutung entwickelt. Aus Sicht des Aufklärers Cesare Beccara erfolgt die Transformation des Strafsystems dadurch, dass man die alten unlogischen und abergläubischen Regeln als "die Abfälle des barbarischsten Zeitalters" (Beccara in Joas 2011: 66) abschafft und sich allgemeinen Grundsätzen zuwendet. Nach diesen Grundsätzen bestehen die Gesetze "als Verträge freier Menschen", die "das größte Glück verteilt auf die größte Anzahl von Menschen" (in ibid.: 67) herbeiführen wollen. Aus diesen Grundsätzen lassen sich dann "in streng logischer Deduktion alle Prinzipien für eine angemessene Gestaltung der Gesetze und der Strafjustiz bis ins einzelne gewinnen" (ibid.). Bestraft werden soll nur, was sich aus dem Bruch des Gesellschaftsvertrages ergibt. Doch, wie Joas aufzeigt, wird Beccaras aufklärerische und utilitaristische Auffassung des Strafsystems wichtigen Aspekten der Strafe nicht gerecht, so dass sich auch die von ihm erhofften Wirkungen nicht einstellen. Ganz anders als Beccara deutet Michel Foucault die Abschaffung der Folter. In seinem Buch Überwachen und Bestrafen. Die Geburt des Gefängnisses sieht er in ihrer Abschaffung keine Humanisierung des Strafsystems, sondern nur den Versuch, "den einzelnen Gefangenen zu disziplinieren, ihn zuzurichten, seinen Körper und Geist zu drillen" (ibid.: 76). Für Foucault ist das moderne Gefängnis "nur ein Element in einem umfassenden Gefüge moderner Macht- und Disziplinierungstechniken" (ibid.). Er sieht in der Abschaffung der Folter keine Humanisierung des Strafvollzuges, sondern nur im Sinne Nietzsches einen Wandel in der Anwendung von Macht. Macht wird "immer stiller und <?page no="68"?> 68 unscheinbarer, dafür aber allgegenwärtig" (ibid.). Für viele Kulturwissenschaftler ist diese Deutung überzeugend. Doch Joas stellt sie infrage. Sie ist für ihn verfehlt, weil sie die Humanisierung, die in der Abschaffung der Folter liegt, nicht erfassen kann. Auch lässt sich in ihrem Rahmen das Bildungsziel Selbstbestimmung nicht entwickeln. Nach Joas kommt es im 18. Jahrhundert zur Forderung nach Abschaffung der Folter und Sklaverei und zur Entwicklung der Menschenrechte, weil die Person als 'sakral' verstanden wird. Als das schlimmste Verbrechen galt bisher das, "was sich gegen den sakralen Kern eines Gemeinwesens richtete". Deshalb konnten Menschen gefoltert und hingerichtet werden, wenn damit das Wohl des Gemeinwesens gesichert wurde. Im 18. Jahrhundert verschiebt sich für viele, wenn auch nicht für alle, die Bedeutung von Sakralität. Nicht das Gemeinwesen, sondern das einzelne Individuum ist sakral. Diese Auffassung wurde zum ersten Mal von dem französischen Soziologen Émile Durkheim explizit in dem Dreyfus-Skandal 1898 formuliert: "Wer auch immer einen Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht" (Durkheim in ibid.: 83). Die Gegner von Dreyfus halten an der alten Auffassung von Sakralität fest und fordern seine Verurteilung, weil die Autorität der Armee nicht infrage gestellt werden darf. Der Einzelne habe sich der sakral verstandenen Gemeinschaft unterzuordnen. Dieser Auffassung stellt Durkheim das Individuum und seine Rechte gegenüber, wobei er zwischen einem egoistischen Individualismus und einem Individualismus, wie er in der Moralphilosophie Kants und Rousseaus und den Menschenrechten zum Ausdruck kommt, unterscheidet. Auch Kant spricht von der "Heiligkeit" der Person, wenn er den Begriff der Menschenwürde entwickelt (vgl. ibid.: 84). Dabei spielt, wie Joas bei der Interpretation von Lynn Hunts Inventing Human Rights ausführt, die Entwicklung der Empathie eine zentrale Rolle: "Die Einfühlung in das Leiden imaginärer anderer setzt in dieser Sichtweise ein Potential frei, das sich im menschenrechtlichen Universalismus rechtlich artikuliert" (ibid.: 100). Die Bereitschaft zur Empathie wird durch das Bewusstsein von der Würde des Anderen angeregt. Dabei müssen wir damit rechnen, dass Ideologien Menschen davon abhalten, sich in Andere hineinzuversetzen: "Nur eine Motivation zur Empathie oder doch zumindest eine Bereitschaft zur Offenheit kann uns bewegen, die Anstrengungen des Verstehens zu erbringen, aber diese Anstrengung bleibt eine Leistung, die jeweils neu erbracht werden muß" (ibid.: 101). Dabei müssen wir immer wieder damit rechnen, dass das Wohl des Gemeinwesens über das des Individuums gestellt wird. In der Affäre Dreyfus erklärt der Faschist Charles Maurras, dass die Sache der Nation so heilig sei, "daß ihr die Individuen und ihre Rechte schlicht geopfert werden müssen" (ibid.: 102). Wie ein erreichter Stand <?page no="69"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 69 der Sakralisierung der Person wieder aufgegeben werden kann, zeigen die amerikanischen Gutachten zu Guantanamo. In ihnen werden Terrorverdächtige als Staatsfeinde betrachtet, die keine rechtsstaatlichen Verfahren erwarten dürfen (vgl. ibid. 103f.). Die Einsichten, die im 18. Jahrhundert über die "Sakralität der Person" gewonnen wurden und die verhindern, dass das Wohl des Einzelnen für das Wohl der Gemeinschaft geopfert wird, müssen wir beim Bestrafen beachten. Es ist sicherlich nicht zufällig, dass in Geschichten wiederholt kritisch dargestellt wird, wenn angebliche oder wirkliche Verbrecher als Monster betrachtet werden und zur Selbstjustiz aufgerufen wird. Wie die Kooperation immer wieder gestört wird, wird auch die Anerkennung des Anderen als Person immer wieder infrage gestellt. In Kapitel 1 habe ich aufgezeigt, dass Geschichten durch "trouble" gekennzeichnet sind. Sie stellen Störungen dar und verweisen auf das Außergewöhnliche, das sich dem vertrauten Zugriff entzieht. Wenn etwas normal abläuft, sprechen wir nicht von einer Geschichte. In Kapitel 4 habe ich darauf hingewiesen, dass Geschichten unsere moralische Sensibilität schärfen, nicht dadurch, dass sie bestimmte Normen vorschreiben, sondern dass sie uns anregen, sich auf ein komplexes Geschehen einzulassen und es zu bewerten. Das gilt sowohl für das "altruistische Bestrafen", das unseren Gerechtigkeitssinn stärkt und uns erfreut, wenn wir erwarten können, dass Betrüger bestraft werden, als auch für Geschichten, in denen Rache und Selbstjustiz zur Darstellung kommen. Diese Überlegungen lassen erkennen, dass fiktionale Geschichten nicht, wie oft behauptet wird, eine utopische Welt, sondern eine Welt darstellen, in der Charaktere mit Ungerechtigkeiten, Enttäuschungen und Widerständen, die sie an der Entfaltung ihrer Kräfte hindern, konfrontiert werden. Das gilt auch dann noch, wenn in Geschichten die verletzte Ordnung wiederhergestellt wird und es Charakteren gelingt, mit Anderen zu kooperieren. Deshalb kann Andreas Thies sagen: "Entgegen Blochs Ansicht ist die Kunst wohl kein Vorschein einer besseren Welt, aber als Erinnerung an eine schlechte ist sie unverzichtbar" (Thies 2001: 205). Fiktionale Geschichten halten uns den Spiegel vor. Das utopische Moment bei ihrer Rezeption liegt daher nicht so sehr in den Inhalten, sondern wohl eher darin, dass Ungerechtigkeiten und Kooperationsstörungen nicht verdrängt, sondern zur Sprache gebracht werden und dass in ihnen explizit oder implizit Orientierungen und Wertvorstellungen enthalten sind, die uns als Rezipienten zu differenzierten Stellungnahmen anregen. Dafür sind Empathie- und Urteilsfähigkeit zentrale Voraussetzungen. Ich habe in meinem Beitrag die Frage nach der Bildungsrelevanz von Geschichten zu beantworten gesucht. Ein solches Vorgehen unterscheidet sich von dem, wie es Konrad Schröder im Rahmen der Expertise für ein Kerncurriculum in der Oberstufe Englisch verfolgt. Er schlägt folgende Bausteine vor: <?page no="70"?> 70 "Soap Operas als angelsächsisches Phänomen", "Angloamerikanische Formen der Literaturkritik (New Criticism usw.)", "Das Phänomen Hollywood" und "Londoner Theaterleben heute" (Schröder 2001: 172). Schröder stellt nicht die Frage, ob die Rezeption von Soap Operas, Hollywood-Filmen oder englischen Theaterstücken im Englischunterricht bildungsrelevant ist, sondern strebt eine soziologische Analyse dieser Texte an. Worin liegt der Bildungssinn eines solchen Vorgehens? Und sind Schülerinnen und Schüler fähig, Soap Operas als ein angelsächsisches Phänomen und den New Criticism als eine Form angloamerikanischer Literaturkritik zu interpretieren? Für den Literaturdidaktiker ist die Frage relevant, ob wir literarische Texte im Sinne des New Criticism lesen sollen (vgl. Kapitel 1.1.). Welche Bedeutung hat jedoch diese Frage für Schülerinnen und Schüler, wenn sie den New Criticism als eine Form angloamerikanischer Literaturkritik interpretieren? Abschließend will ich stichpunktartig auf einige weitere bildungsrelevante Fähigkeiten, die mit der Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit eng zusammenhängen, hinweisen. 9. Bildungsrelevante Fähigkeiten bei der Rezeption von Geschichten 9.1. Die Bedeutung von Geschichten für das interkulturelle Verstehen Die Rezeption von Geschichten ist dadurch gekennzeichnet, dass wir als Rezipienten (Hörer, Leser und Zuschauer im Theater und Kino) nicht Handelnde, sondern Zuschauer sind. Als Zuschauer sind wir vom Handlungsdruck entlastet und können uns in Charaktere hineinversetzen und in einer Art Probehandeln nachvollziehen, was es bedeutet, an ihrer Stelle zu handeln. Es hängt von der jeweiligen Darstellung ab, wie wir als Rezipienten tätig werden müssen; aber Geschichten haben das Privileg, uns unmittelbar die Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Handlungsmotive der Charaktere zugänglich zu machen, was im alltäglichen Leben nicht möglich ist. Wir erfahren bei der Rezeption literarischer Texte mehr über Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Handlungsmotive von Anderen als in realen Begegnungen. Daher sind nach Martha Nussbaum literarische Texte für das interkulturelle Verstehen von großer Bedeutung: It is the political promise of literature that it can transport us, while remaining ourselves, into the life of another, revealing similarities but also profound dif- <?page no="71"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 71 ferences between the life and thought of that other and myself and making them comprehensible, or at least more nearly comprehensible. (Nussbaum 1998: 111) Die Rezeption von Geschichten kann dazu führen, dass wir für Menschen in anderen Kulturen mehr als nur ein touristisches Interesse aufbringen und an ihrem Schicksal Anteil nehmen und uns mit ihren Überzeugungen und Wertvorstellungen auseinander setzen: "Narrative art has the power to make us see the lives of the different with more than a casual tourist's interest - with involvement and sympathetic understanding" (ibid.: 88). Die Rezeptionssituation führt in der Regel dazu, dass die Empathiezur Sympathiefähigkeit führt: Literary texts cultivate in ourselves a capacity for sympathetic imagination that will enable us to comprehend the motives and choices of people different from ourselves, seeing them not as forbiddingly alien and other, but sharing many problems and possibilities with us. (Ibid.: 85) Sich in jemanden hineinversetzen bedeutet jedoch nicht, dass wir mit ihm identisch werden. Würden wir den Schmerz des Anderen genauso fühlen, wie er ihn selbst fühlt, würden wir gerade nicht den Schmerz eines Anderen fühlen (vgl. Nussbaum 2006: 327f.). Empathie umfasst, "what it is like to be in the sufferer's place" und "the awareness that one is not in that place" (ibid.: 328). In ähnlicher Weise argumentiert Gadamer, wenn er den Begriff des Sichversetzens näher bestimmt: Denn was heißt Sichversetzen? Gewiß nicht einfach: Von-sich-absehen. Natürlich bedarf es dessen insoweit, als man die andere Situation sich wirklich vor Augen stellen muß. Aber in diese andere Situation muß man sich selber gerade mitbringen. Das erst erfüllt den Sinn des Sichversetzens. (Gadamer 1960: 288) Es bleibt immer eine Differenz zwischen dem Anderen und dem eigenen Ich bestehen. Deshalb können wir uns als Rezipienten fragen, wie wir an Stelle des Anderen gehandelt hätten. Sichversetzen "ist eine relative Forderung, die nur in Bezug auf die eigenen Begriffe überhaupt einen Sinn hat" (ibid.: 374). 9.2. Wünsche "zweiter Ordnung" und Selbstbestimmung Harry Frankfurt zeigt auf, dass wir nicht nur bestimmte Wünsche haben, sondern dass wir uns auch wünschen, bestimmte Wünsche nicht zu haben. Wir haben somit Wünsche zweiter Ordnung, d.h. wir können uns beispielsweise wünschen, nicht eifersüchtig und neidisch zu sein, weil diese Emotionen mit unserem Selbstverständnis nicht vereinbar sind: <?page no="72"?> 72 Besides wanting and choosing and being moved to do this or that, men may also want to have (or not to have) certain desires and motives. They are capable of wanting to be different, in their preferences and purposes, from what they are. Many animals appear to have the capacity for what I shall call "firstorder desires" or "desires of the first order", which are simply desires to do or not to do one thing or another. No animal other than man, however, appears to have the capacity for reflective self-evaluation that is manifest in the formation of second-order desires. (Frankfurt 2007a: 12) Diese reflexive Fähigkeit wird durch die Rezeption von Geschichten angeregt. 9.3. Perspektiveneinnahme und Perspektivenkoordination Wir können Andere nur verstehen, wenn wir eine Innenperspektive einnehmen und die Welt mit ihren Augen sehen. Das ist ein konstitutives Moment des Verstehens von Geschichten. Bei ihrer Lektüre können wir diese Innenperspektive leichter einnehmen als in realen Begegnungen. Doch das Einnehmen der Innenperspektive allein reicht zum Verstehen nicht aus. Wir müssen auch eine Außenperspektive einnehmen und mit unseren eigenen Augen sehen. Insofern erfordert das Verstehen von Geschichten sowohl Empathieals auch Urteilsfähigkeit. Beide Perspektiven müssen bei der Rezeption von Geschichten ins Spiel kommen. 9.4. Die Weltsicht von Geschichten Obwohl Geschichten die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen, kommt in ihnen explizit oder implizit eine bestimmte Weltsicht zum Ausdruck. Diese Weltsicht kann tragisch, komisch, satirisch, zynisch, sentimental, absurd, inhuman oder human sein. Damit wird angezeigt, dass Geschichten die Welt nicht abbilden, sondern deuten und die Rezipienten von der Richtigkeit ihrer Deutung überzeugen wollen. Das gilt selbst dann noch, wenn ihre Weltsicht besagt, dass es keine richtige Deutung gibt. In der Regel bereitet es den Lesern Freude, die Weltsicht des literarischen Textes zu übernehmen, weil ihnen damit eine fremde Welt verständlich wird und sie ihren Erfahrungshorizont erweitern und differenzieren. Aber das schließt nicht aus, dass wir als Leser die Weltsicht von Geschichten zurückweisen, weil sie uns, um die Beispiele von Mieke Bal aufzugreifen, von einer frauenfeindlichen oder antisemitischen Weltsicht, die wir mit unserem Selbst- und Weltverständnis nicht vereinbaren können, zu überzeugen suchen (vgl. Kapitel 4). <?page no="73"?> Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? 73 9.5. Reflexion über Rezeptionsprozesse Wir sind, wie ich in Kapitel 6.3. aufgezeigt habe, bei der Rezeption literarischer Texte nicht Handelnde, sondern kognitiv, affektiv und moralisch engagierte Zuschauer. Diese Zuschauereinstellung ermöglicht es auch, sich den Erfahrungen beim Rezeptionsprozess zuzuwenden (vgl. Bredella 2002: 69-73, 170-173). Nach Wolfgang Iser gehört zu der ästhetischen Erfahrung, dass wir uns selbst beobachten können: "The ability to perceive oneself during the process of participation is an essential quality of the aesthetic experience; the observer finds himself in a strange, halfway position: he is involved, and he watches himself being involved" (Iser 1987: 134). Diese Einsicht in die Struktur ästhetischer Erfahrung hat zu Aufgaben wie dem Schreiben von Responsprotokollen geführt, die die Reflexions- und Urteilsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern besonders fördern. Ich habe in meinem Beitrag aufzuzeigen versucht, dass wir die Frage, ob wir Geschichten im Fremdsprachenunterricht lesen sollen, erst beantworten können, wenn wir bestimmen, was sie kennzeichnet und welche Kompetenzen bei ihrer Rezeption gefördert werden. Wie wir gesehen haben, gibt es gute Gründe, Geschichten im Fremdsprachenunterricht zu lesen, weil sie unsere Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit mit ihren komplexen ineinander greifenden Fähigkeiten entwickeln und damit zur Selbstbestimmung beitragen, zu der gehört, wie wir gesehen haben, dass wir uns von Anderen bestimmen lassen. <?page no="74"?> II. Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität In diesem Beitrag werde ich die Bedeutung des interkulturellen Verstehens in der Auseinandersetzung mit Trans- und Multikulturalität näher bestimmen. Das interkulturelle Verstehen erschien bis jetzt unproblematisch und erstrebenswert. Doch Transkulturalität betrachtet es als rassistisch, weil es an der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Kulturen mitwirkt. Multikulturalität betrachtet es mit Argwohn, weil es Menschen ihrer eigenen Kultur entfremdet und somit verhindert, dass sie sich deren Sicht- und Handlungsweisen vorbehaltlos unterordnen. Ich werde aufzeigen, dass die Forderungen von Trans- und Multikulturalität uns vor verhängnisvolle Alternativen stellen, aus denen wir uns durch das interkulturelle Verstehen befreien können. In Kapitel 1 werde ich mich mit dem Begriff der Transkulturalität bei Wolfgang Welsch auseinandersetzen, dessen Auffassung von Transkulturalität von einer Reihe von Kulturwissenschaftlern und Fremdsprachendidaktikern übernommen worden ist. Für ihn sind Kulturen und interkulturelles Verstehen, wie schon erwähnt, rassistisch, weil sie Grenzen errichten und damit ausgrenzen. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, ob wir in einer Welt ohne Grenzen leben können. In Kapitel 2 erörtere ich die Auffassung, ob es einen Ausgrenzungstrieb gibt. In Kapitel 3 lenke ich die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Transkulturalität und Globalisierung. Welsch begrüßt die Globalisierung, weil sie zu einer transkulturellen Welt führt. Dagegen steht die Auffassung, dass sie zu einer "gemeinschaftsfreien Zone" (Zygmunt Baumann) führt, in der sich die Gewinner der Globalisierung von Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft distanzieren. In Kapitel 4 geht es um Hybridität als Bildungsziel, wobei unter Hybridität verstanden wird, dass wir uns ständig neu entwerfen müssen, um uns nicht mehr Kulturen zuordnen zu können. Ich zeige auf, dass es sich hier um ein fragwürdiges Bildungsziel handelt, dem die meisten konkreten hybriden Menschen nicht entsprechen können und nicht entsprechen wollen. Wir können als Bildungsziel fordern, dass wir hybride Identitäten achten, aber wir können nicht fordern, dass Menschen sich in einem radikalen Sinne als hybrid entwerfen. In Kapitel 5 beziehe ich mich auf die Auffassung von Claire Kramsch, die interkulturelles Verstehen als "dritten Ort" begreift. Ein "dritter Ort" setzt einen ersten und zweiten Ort voraus, so dass es nicht darum gehen kann, Grenzen grundsätzlich abzuschaffen, sondern Grenzen zu überschreiten und mit ihnen zu leben. In Kapitel 6 geht es um die Forderung der Transkulturalität nach Abschaffung der <?page no="75"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 75 Begriffe Eigenes und Fremdes. Ich werde aufzeigen, dass diese Forderung verkennt, dass es sich bei den Begriffen Eigenes und Fremdes nicht um ontologische, sondern um relationale Begriffe handelt, die für das Verstehen Anderer unverzichtbar sind. In Kapitel 7 geht es um den Kampf um Anerkennung, bei dem Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Ethnie, Religion oder Nation als minderwertig angesehen werden, um die Aufwertung ihrer kollektiven Identität kämpfen. Transkulturalität hat wenig Verständnis für den Kampf um Anerkennung, weil es kollektive Identitäten, die zur Ausgrenzung führen können, grundsätzlich ablehnt. In Kapitel 8 konfrontiere ich Formen des moralischen Monismus, für den es nur eine einzige Form des 'guten Lebens' gibt, mit Formen des moralischen Relativismus, für den jede Kultur für sich bestimmt, was human ist, und zeige auf, dass das interkulturelle Verstehen uns aus dieser verhängnisvollen Alternative befreien kann. In Kapitel 9 erörtere ich die Auffassung, dass interkulturelles Verstehen Ideologie ist, weil es in Wirklichkeit Andere zu beherrschen sucht. In Kapitel 10 analysiere ich den Exotismus, der den Anspruch erhebt, Fremde wirklich zu respektieren, indem er sie nicht zu verstehen sucht, sondern sie in ihrer Fremdheit belässt. Doch eine genauere Analyse des Exotismus zeigt, dass er egozentrisch ist und Fremde nicht versteht. In Kapitel 11 stelle ich dar, wie Aspekte westlicher und asiatischer Kulturen miteinander vermittelt werden können. In Kapitel 12 zeige ich auf, dass Naturwissenschaften mit Recht einen Anspruch auf Transkulturalität erheben können, während er in den Kulturwissenschaften problematisch ist, weil er zu anti-humanistischen Einstellungen führt. In Kapitel 13 beziehe ich mich auf die von Aleida Assmann entwickelte Differenz zwischen Formen des "tyrannischen" und "aufgeklärten" Universalismus. Für den "tyrannischen Universalismus" besteht das Gute in der Einheit und das Böse in der Vielfalt der Kulturen und Sprachen. Der "aufgeklärte" Universalismus dagegen verzichtet auf Absolutheitsansprüche und erkennt die Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Religionen an. Nach Assmann sollen wir der Umarmung, die alle Unterschiede auflöst, zu Gunsten der Begegnung, in der Andere in ihrer Andersheit erhalten bleiben, widerstehen. In Kapitel 14 skizziere ich eine Ethik des interkulturellen Verstehens, die es ermöglicht, für die Lebensweisen Anderer Verständnis aufzubringen und mit kulturellen Unterschieden zu leben. <?page no="76"?> 76 1. Die Forderung nach Transkulturalität In dem Aufsatz "Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen" vertritt Wolfgang Welsch die Auffassung, dass Kulturen rassistisch seien: Ihm [dem Begriff der Kultur] ist eine Art von Rassismus eingebaut, der dort noch erhalten bleibt, wo man den biologisch-ethnischen Rassismus ablegt, wo man also die jeweilige Kultur nicht mehr auf ein Volkswesen hin definiert. Solange man nicht die Form des Kulturbegriffs verändert, sondern bloß seine völkisch-rassistische Fundierung abstreift, bleibt ein spezifisch kultureller Rassismus bestehen. (Welsch 1994: 152f.) Aus dieser Auffassung von Kultur ergibt sich die Konsequenz, dass auch das interkulturelle Verstehen rassistisch sei, weil es kulturelle Grenzen nicht abschaffe, sondern an ihrer Aufrechterhaltung mitwirke. Daher kann Welsch sagen: [E]s braucht eine Polizei nach innen wie nach außen: nach innen, um über die Authentizität der Kultur zu wachen, die nicht durch Importe verwässert, durch Einwanderung untergraben werden darf; nach außen, um die Grenzen dicht zu halten: kein freier Warenverkehr zwischen den Kulturen, hohe Schutzzölle und Kennzeichnungspflicht für jeden Kulturartikel. (Ibid.: 153) Diese Auffassung von Interkulturalität, die von einer Reihe von Kulturwissenschaftlern und Fremdsprachendidaktikern übernommen worden ist, wirft grundlegende Fragen auf. Doch zunächst zu der Auffassung von Welsch, dass sich die Welt aufgrund der Globalisierung zu einer transkulturellen Welt entwickelt. Er schreibt: Ob man an die Lebensform des Arbeiters oder des Intellektuellen, des Managers oder des Fremdenführers denkt: Sie sind weltweit und transkulturell gleich - was auch faktisch zunehmenden Austausch zur Folge hat. Nationale Prägungen werden eher als hinderlich betrachtet, als anachronistische Überstände, die es abzuschleifen gilt. (Ibid.: 159) Es stellt sich hier die empirisch überprüfbare Frage, ob wir in einer globalisierten Welt leben. Stimmt diese Auffassung? Für Jonathan Friedman stimmt sie nicht: "We are told that the world is one place now, but not in Eastern- Europe and the former Yugoslavia, in the Middle-East or Africa, or in our own inner cities" (Friedman 2000: 70). Thomas Bedorf verweist auf den palästinensisch-israelischen Konflikt und die Konflikte in Afghanistan und Irak sowie die Staatsneugründungen nach dem Zerfall des Ostblocks, um deutlich zu machen, dass kulturelle, religiöse, ethnische und nationale Grenzen nicht <?page no="77"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 77 obsolet geworden sind (vgl. Bedorf 2010: 9). Die Interpretation der Globalisierung übersieht, dass ständig neue Grenzen entstehen: "In a world of multiplying diasporas, one of the things that is not happening is that boundaries are disappearing" (Friedman 1999: 240). Ram Adhar Mall, der prominente Vertreter der interkulturellen Philosophie, betont in seiner Kritik an Welsch, dass wir zwischen der Hardware der Globalisierung, die in der technologischen und multimedialen Vereinheitlichung besteht, und der Software, dem Auseinanderdriften der Kulturen, Religionen und Nationalismen, unterscheiden müssen. Selbst wenn es an der Oberfläche zwischen Kulturen zu Angleichungen kommt, gibt es kulturelle Tiefenstrukturen, "die einer augenfälligen Globalisierung Widerstand leisten" (Mall 2006: 111). Für die Befürworter der Globalisierung sind kulturelle Unterschiede nur oberflächlich, so dass sie wie von selbst verschwinden werden. Dagegen wendet Heinz Kimmerle ein, dass kulturelle Prägungen eines Menschen "nicht als eine Äußerlichkeit oder Zufälligkeit aufgefasst, sondern als ein unveräußerliches Kennzeichen seines Menschseins" (Kimmerle 2000: 196) angesehen werden müssen. Peter Janich betont, dass wir nicht einfach aus unserer Kultur heraustreten können, weil wir "schon Teilnehmer einer Handlungs- und Sprachgemeinschaft sind, deren Formen eine lange Entstehungsgeschichte und zwar eine kultürliche hinter sich haben" (Janich 2000: 107). Kein noch so radikaler Aussteiger könnte ignorieren, "dass wir in einer kultürlich zugerichteten Welt unser Leben durch Handeln und Reden führen" (ibid.). Daher ist die Forderung nach Auflösung der kulturellen Identität, die zur Identität eines Menschen gehört, eine Verletzung menschlicher Rechte. Auch ist die Auflösung kultureller Unterschiede, wie wir noch genauer sehen werden, oft kein friedlicher Prozess, bei dem sie sich gleichsam von selbst auflösen, sondern ein gewalttätiger Prozess. Bevor wir uns weiter mit der Transkulturalität auseinandersetzen, will ich kurz die von Welsch getroffene Unterscheidung zwischen alten rassistischen und neuen rassismusfreien Kulturen erörtern. Er führt diese Unterscheidung ein, um dem Vorwurf zu begegnen, dass seine Forderung nach Abschaffung kultureller Unterschiede, weil sie rassistisch sind, zwangsläufig zu einer Einheitskultur führt, in der weltweit die gleichen Auffassungen herrschen. Er sucht diesen Vorwurf mit dem Hinweis zu entkräften, dass es neue rassismusfreie Kulturen gibt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie aus Elementen bestehen, die sich auch in anderen Kulturen finden: "So the new type of differentiation by its very structure favours coexistence rather than combat" (Welsch 1999: 204). Diese Unterscheidung zwischen alten rassistischen und rassismusfreien Kulturen ist wenig überzeugend. Erstens bestehen alle Kulturen aus Elementen, die sich auch in anderen Kulturen finden. Das ist von Ethnologen, Kultursoziologen und Philosophen immer wieder betont worden. Bei Lévi-Strauss heißt es: "All cultures are the result of mishmash, bor- <?page no="78"?> 78 rowing, mixtures that have occurred, though at different rates, ever since the beginning of time" (Lévi-Strauss in Friedman 2000: 81). Günter Figal schreibt: "Manche Aspekte der eigenen Lebensform sind fremde Einflüsse - von anderswo übernommen und darin noch kenntlich" (Figal 1996: 102). Kimmerle betont, dass Kulturen keine voneinander klar abgrenzbaren Gebilde sind: "Neue Gedanken, praktische Handlungsweisen und Gebräuche führen dazu, dass das Hergebrachte modifiziert, umgekrempelt oder gar revolutioniert wird. Das geschieht im Austausch mit anderen Kulturen, der mehr oder weniger intensiv sein kann" (Kimmerle 2000: 196). Das Wissen darüber, dass Kulturen Elemente gemeinsam haben, kann nicht den Rassismus aus der Welt schaffen. In einem Aufsatz mit dem Titel "Von 'inter' zu 'trans'" betont Frank Schulze-Engler, dass das interkulturelle Verstehen nicht den neuen hybriden Identitäten wie "Korean-Americans" oder "African-Americans" gerecht werden könne und deshalb durch den Begriff der Transkulturalität ersetzt werden müsse. Doch diese Schlussfolgerung ist nicht gerechtfertigt. Durch Vermischung von Kulturen entsteht keine transkulturelle Welt, sondern eine Welt mit mehr Kulturen, die weiteres interkulturelles Verstehen erfordern. Zudem sind "Korean-Americans" oder "African-Americans" keine transkulturellen, sondern multikulturelle Menschen, die miteinander in Konflikt geraten können. Schulze-Engler lehnt der Begriff der Interkulturalität nicht völlig als überholt ab. Er schreibt, dass der "Perspektivenwechsel von der 'Inter-' zur 'Transkulturalität' nicht so verstanden werden darf, als sei die Begriffswelt der 'Interkulturalität' gleichsam 'altmodisch' und somit obsolet geworden und müsse nunmehr in toto durch die angemessenere Begriffswelt der 'Transkulturalität' ersetzt werden" (Schulze-Engler 2006: 45), aber dennoch ist für ihn Transkulturalität der angemessenere und überlegenere Begriff. Aber mit welchen Gründen kann ein solcher Anspruch erhoben werden? Transkulturalität tritt mit dem ernormen ethischen und politischen Anspruch auf, dass in einer transkulturellen Welt Rassismus und Ausgrenzung für immer überwunden seien. Für Helmbrecht Breinig ist ein solches Versprechen eine "völlig fehlgeleitete Hoffnung" (Breinig 2006: 64), denn wie immer sich Menschen bestimmen, ihre Identitätskonstruktionen rufen Grenzen und Konflikte hervor. Daher ist Transkulturalität "ständig in Gefahr, zu einer verschleierten Theorie der Angleichung an die Kulturformen der Mächtigen zu werden" (ibid.). In Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft betont Bruno Latour die Unhintergehbarkeit von Grenzen: "Wenn irgendeine Bindung betont wird, so erfolgt stets ein Vergleich mit anderen konkurrierenden Bindungen. Für jede zu definierende Gruppe wird dementsprechend eine Liste von Anti-Gruppen <?page no="79"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 79 aufgestellt" (Latour 2007: 59). Grenzen sind für ihn unvermeidlich: "Die Gruppengrenzen werden markiert, vorgezeichnet und fest und dauerhaft gemacht. Jede Gruppe, wie klein oder groß auch immer, braucht einen limes wie den mythischen, den Romulus um das entstehende Rom zog" (ibid.: 60). Wenn wir sehen, wie fragwürdig die Forderung nach Transkulturalität ist, stellt sich die Frage, warum sie dennoch attraktiv und plausibel erscheint. In seinem Buch Abenteuer des Zusammenlebens: Versuch einer allgemeinen Anthropologie zeigt Zvetan Todorov auf, dass es eine ganze Reihe von Denkströmungen in westlichen Kulturen gibt, nach denen der Mensch zunächst ein asoziales Wesen ist, das erst mit seinem Eintritt in die Kultur sozialisiert und zivilisiert wird und dabei einen enormen Triebverzicht leisten muss. Diese Auffassung von Kultur als Triebverzicht, die vielen von uns ganz natürlich erscheint, findet wohl ihre überzeugendste Formulierung in Freuds einflussreicher Schrift Das Unbehagen in der Kultur. Ich kann hier nur auf ein Zitat aus dieser Schrift hinweisen, das die Bedeutung des Triebverzichts deutlich macht: "Es [ist] unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat" (Freud in Todorov 1998: 42). Wenn wir so unter Triebverzicht leiden, wird das Versprechen, uns von der Kultur zu befreien und einen transkulturellen Raum jenseits der Kulturen zu betreten, attraktiv. Doch die Vorstellung vom Eintritt und Austritt aus Kulturen ist aus anthropologischer Sicht unhaltbar. Karl Eibl weist in der Auseinandersetzung mit Freud darauf hin, dass Moral und Kultur nicht aus der Unterdrückung und Beherrschung der Triebe resultieren, sondern daraus, dass der Mensch nur überleben kann, wenn er Wege findet, die es ermöglichen, sich an gemeinsamen Regeln und Werten zu orientieren und miteinander zu kooperieren. Die Vorstellung, dass unsere Triebe von der Kultur in Schach gehalten werden, ist für ihn zwar plausibel, hält aber einer genaueren Betrachtung nicht stand: "Alle Triebe des Menschen können überhaupt nur unter Kulturbedingungen zu Handlungsantrieben werden" (Eibl 2004: 98). Wir können nicht jenseits der Kulturen, sondern nur in ihnen leben und sind auf Kooperation und gegenseitige Anerkennung angewiesen, wie Todorov betont: "Das Bedürfnis nach Anerkennung ist das konstitutive menschliche Faktum. In diesem Sinne existiert der Mensch nicht vor der Gesellschaft, sondern das Menschliche gründet im Zwischenmenschlichen" (Todorov 1998: 34). Es gibt nur Subjektivität, weil es Intersubjektivität gibt: "Unser Selbst lässt sich nicht trennen von unseren Beziehungen zu anderen und den Forderungen, die wir in ihrem Blick lesen" (ibid.: 160). Der Mensch ist nicht "nur zufällig in das gesellschaftliche Geflecht eingebunden" (ibid.: 166), sondern wesentlich durch es bestimmt. Wie Charles Taylor aufzeigt, existieren wir nicht als bloße Individuen, sondern <?page no="80"?> 80 nur in einer Gruppe, einem "Wir": "We can't understand human life merely in terms of individual subjects, who frame representations about and respond to others, because a great deal of human action only happens insofar as the agent understands and constitutes himself as integrally part of a 'we'" (Taylor 1995: 173). Wir können die Existenz von Kulturen genauso wenig mit dem Triebverzicht erklären, wie wir sie aus dem Bedürfnis nach Ausgrenzung erklären können. Die andere Denkfigur, die die Forderung nach Transkulturalität als attraktiv und plausibel erscheinen lässt, beruht auf Platons Höhlenmythos. Nach diesem Mythos wird der Mensch erst wirklich zum Menschen, indem er aus der Höhle seiner Kultur heraustritt und - von kulturellen Vorurteilen befreit - die Welt sieht, wie sie wirklich ist. Bruno Latour hat wiederholt auf die fatalen Konsequenzen dieses Mythos hingewiesen, da er die Menschen in zwei Klassen einteilt: Auf der einen Seite steht der fortschrittliche und moderne Mensch, der sich von kulturellen Vorurteilen befreit hat und zur wahren Erkenntnis fähig ist, und auf der anderen Seite stehen die zurückgebliebenen Menschen, die in ihren Höhlen bzw. Kulturen nur Schattenbilder sehen. Zwischen diesen beiden Gruppen kann es keinen Dialog geben, weil jene nur auf diese herabschauen und sie höchstens über ihre Zurückgebliebenheit aufklären wollen. An dieser Situation kann sich nichts ändern, solange die erste Gruppe nicht erkennt, dass sie gar nicht so modern und fortschrittlich ist, wie sie meint. Der Titel eines der Bücher von Latour lautet: Nous n'avons jamais été modernes. Erst wenn wir fähig sind, die Kulturbedingtheit unserer Sicht- und Handlungsweisen einzusehen, können wir die Anderen als gleichwertige Gesprächspartner anerkennen und mit ihnen in einen Dialog eintreten: [T]he others were "peoples" and "cultures," but "we", the Westerners were only "half" culture, as Roy Wagner has argued. For the first time in history, the West could occupy, alone, the position of undeniable center, without this center having a particular ethnic group as its origin. (Latour 2002: 13) Was Latour hier dem modernen Menschen zuschreibt, gilt auch für den postmodernen Menschen, der sich selbst erfindet, um damit die Unabhängigkeit von seiner Kultur zu demonstrieren. Doch wer glaubt, aus seiner Kultur heraustreten zu können, um zu sehen, wie die Welt wirklich ist, fällt hinter die hermeneutische Einsicht zurück, dass wir nicht voraussetzungslos verstehen können, so dass wir die Kulturbedingtheit unseres Denkens anerkennen müssen. Mall weist bei seiner Kritik an der Transkulturalität darauf hin, dass interkulturelle Kompetenz nicht auf einem rassistischen Kulturbegriff beruht: "Die interkulturelle Kompetenz mit dem Präfix "inter" orientiert sich nicht an irgendeinem klassischen (z.B. Herderschen) vereinheitlichenden, zentrischen, <?page no="81"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 81 homogenen, durch Abgrenzung bestimmten und fiktiv-puristischen Kulturbegriff" (Mall 2006: 111). In diesem Zusammenhang setzt sich Mall mit den beiden Vorsilben "trans" und "inter" auseinander. Die Vorsilbe "trans" deutet darauf hin, dass wir uns außerhalb oder oberhalb eines Bereichs positionieren. Die Vorsilbe "inter" dagegen orientiert sich am Gegenüber und am Dialog. Mall kommt bei seiner Analyse der beiden Vorsilben zu dem Ergebnis: "Die Vorsilbe 'trans' ist eigentlich philosophisch und theologisch überbesetzt, weil sie mit dem Anspruch eines alles überschauenden und oberhalb oder außerhalb der Kulturen liegenden Ortes verbunden ist" (ibid.: 112). Ich greife hier seine Überlegungen auf, um hervorzuheben, dass interkulturelles Verstehen nicht durch Exklusion, sondern durch Inklusion gekennzeichnet ist. Wer sich für einen Aufenthalt in der fremden Kultur vorbereitet, grenzt die Anderen nicht aus, sondern will im Gegenteil erreichen, dass er mit ihnen zusammenleben kann. Man kann sich die Bedeutung der Vorsilben "trans" an den Begriffen transhistorisch und transsprachlich verdeutlichen. Wer eine transhistorische Einstellung einnimmt, ist nicht an der Geschichte interessiert, sondern an einem Ort jenseits der Geschichte, und wer eine transsprachliche Einstellung einnimmt, ist nicht an Sprachen interessiert, sondern an einem Ort jenseits der Sprachen. Die Vorsilbe "inter" dagegen verweist auf Gegenseitigkeit, wie an dem Begriff der Intertextualität deutlich wird. Die Herausgeber des Bandes Transkulturalität und Pädagogik verweisen auf die Geschichte vom Turmbau zu Babel und die in ihr enthaltene Warnung vor dem Einheitsexperiment der Transkulturalisten: Wir sollten Gott dankbar dafür sein, dass er das Einheitsexperiment von Babel hat scheitern lassen und dass wir uns in aller Bescheidenheit darauf einrichten, dass nur das Leben mit der Differenz eine menschenverträgliche Aussicht bietet. (Göhlich / Liebau / Walter / Zirfas 2006: 10) Im Nachwort zu diesem Band wird vor der Illusion gewarnt, dass die Abschaffung kultureller, religiöser, ethnischer und nationaler Unterschiede zwangsläufig ein friedlicher Prozess ist, bei dem sich die kulturellen Unterschiede wie von selbst auflösen: Das Konzept der Transkulturalität kann auch dazu dienen, diverse Differenzen zwischen den Kulturen einzuebnen, weil es allzu optimistisch von einer durchgängigen Durchmischung ausgeht oder schlicht eine (homogene) Melting-pot-Kultur unterstellt oder diese lediglich vortäuscht und simuliert. Und es kann dazu benutzt werden, in geradezu fahrlässiger Weise Mehrheits- und Minderheits-, d.h. Machtverhältnisse auszublenden. (Zirfas, Göhlich und Liebau 2006: 189) <?page no="82"?> 82 Wir haben in Kapitel 1 gesehen, dass die Forderung nach Abschaffung kultureller Unterschiede wohl nicht leisten kann, was sie zu leisten verspricht, sondern dass sie eher totalitäre Einstellungen heraufbeschwört. 2. Gibt es einen Ausgrenzungstrieb? In seinem Buch Schmerzgrenzen. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt setzt sich Joachim Bauer mit der Frage auseinander, ob es einen Aggressionstrieb gibt, der den Menschen zwingt, aggressiv zu handeln. Diese Frage ist mit der vergleichbar, ob es einen Ausgrenzungstrieb gibt, der uns zwingt, Menschen auszugrenzen. Um das Ergebnis der Untersuchungen von Bauer vorweg zu nehmen: Aggression ist für ihn kein Trieb, sondern wir werden aggressiv, wenn uns körperliche oder seelische Schmerzen durch Demütigungen und Ausgrenzungen zugefügt werden. Aggression ist wie die Angst ein reaktives Verhalten, so dass Bauer verwundert fragen kann: "wer würde auf die Idee kommen einen 'Angsttrieb' zu postulieren? " (Bauer 2011: 17). Von einem Trieb können wir nur sprechen, wenn Verhaltensweisen vorliegen, "die eine Voraussetzung dafür sind, dass im Gehirn Motivationsbotenstoffe ausgeschieden werden und sich ein Lebewesen wohl, fit und vital fühlt" (ibid.: 32). Aus neurobiologischer Sicht lohnt es sich nicht aggressiv zu sein. Wenn wir diese Überlegungen auf die Ausgrenzung übertragen, können wir sagen, dass es keinen Ausgrenzungstrieb gibt, weil der Mensch "ein in seinen Grundmotivationen primär auf soziale Akzeptanz, Kooperation und Fairness ausgerichtetes Wesen ist" (ibid.: 27). 1 Bauer selbst weist darauf hin, dass wir mit der Ausgrenzung nicht einen Trieb befriedigen, sondern auf Verletzungen reagieren, so dass es darauf ankommt, wie wir zusammenleben: Nicht ausgegrenzt zu sein, sondern befriedigende Beziehungen zu anderen zu pflegen, zählt zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Wer Menschen von Beziehungen abschneidet, indem er sie ausgrenzt und demütigt, tangiert die 1 Es ist für Bauer nicht ohne Ironie, dass der Darwinismus das "Recht des Stärkeren" betont, während Darwin selbst das Bedürfnis des Menschen nach Bindung und Zugehörigkeit in den Mittelpunkt stellt: "Der Mensch findet, übereinstimmend mit dem Schiedsspruch aller Weisen, dass die höchste Befriedigung sich einstellt, wenn man ganz bestimmten Impulsen folgt, nämlich den sozialen Instinkten. Wenn er zum Besten anderer handelt, wird er die Anerkennung seiner Mitmenschen erfahren und die Liebe derer gewinnen, mit denen er zusammenlebt; und dieser Gewinn ist zweifellos die höchste Freude auf dieser Erde" (Darwin in Bauer 2011: 17). <?page no="83"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 83 physische und psychische Schmerzgrenze und wird Aggression ernten. (Ibid.: 192) Diese Einsicht spielt für das interkulturelle Verstehen eine zentrale Rolle, während Transkulturalität sich nicht der Frage stellt, wie wir befriedigende Beziehungen zu Anderen herstellen können, sondern nur darauf vertraut, dass die Ausgrenzung mit der Abschaffung kultureller Grenzen verschwindet. Nach Bauer stehen wir seit der neolitischen Revolution in einem ambivalenten zivilisatorischen Prozess, dessen Ambivalenz in der Globalisierung verstärkt wird. Auf der einen Seite wurde der Mensch durch seine Erfindungsgabe und Kreativität angeregt, neue technische, soziale und kulturelle Produkte herzustellen. Auf der anderen Seite geriet dadurch "die bisher als selbstverständlich vorausgesetzte Daseinsberechtigung unter den Vorbehalt des Leistungsprinzips" (ibid.: 158). Damit verstärken sich Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit, die mit unseren Bindungs- und Gemeinschaftsbedürfnissen in Konflikt geraten: Leistungsprinzip statt einer egalitär definierten Gerechtigkeit, Bindungsarmut und Individualisierung anstatt Gemeinschaft, Konkurrenzneid anstatt Kooperation, Ausgrenzungserfahrungen anstatt bedingungsloser Akzeptanz, der Mensch als Ware anstatt vorbehaltloser Daseinsberechtigung, Machtausübung anstatt Reziprozität. (Ibid.: 160) Dieser ambivalente Prozess kann, so Bauer, nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir können nicht aus ihm heraustreten, sondern müssen die Spannungen und Konflikte zwischen diesen beiden unterschiedlichen Ansprüchen zu einem befriedigenden Ausgleich bringen und dazu beitragen, dass ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht: Wer Lebensgewohnheiten miteinander teilt, miteinander Rituale und Feste feiert und gemeinsame Regeln des Zusammenlebens beachtet, befindet sich im unsichtbaren Geltungsbereich eines Moralsystems, auch dann, wenn sich innerhalb dieser Zone nicht alle persönlich kennen. (Ibid.: 187) Es ist nicht zu bestreiten, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl auch schädliche Folgen haben kann. So besteht die Gefahr, dass man es besonders, "wenn der Zusammenhalt einer 'ingroup' - sei es aus inneren oder aus äußeren Gründen - bedroht ist" (ibid.: 188), dadurch zu stärken sucht, dass man bestimmte Gruppen als Feinde ausgrenzt: "'Outgroups' werden also häufig erst erzeugt, damit sich diejenigen, denen es an Bindungen und gemeinsamen Zielen fehlt, in einer 'ingroup' zusammenfinden können" (ibid.: 190). Aber dieser Gefahr kann man nicht dadurch begegnen, dass man Unterschiede und Grenzen generell abschafft. Auch zeigen Erfahrungen, dass es nicht notwendigerweise zu Ausgrenzungen kommt, sondern nur unter ganz bestimmten <?page no="84"?> 84 Bedingungen, so dass es keinen Ausgrenzungstrieb gibt, dem wir unterworfen sind. Während Welsch die Globalisierung begrüßt, weil sie Grenzen abschafft, weisen andere Forscher daraufhin, dass sie Grenzen errichtet. Für Bauer verschärft sie die Grenzen zwischen Arm und Reich, die leicht zu Gewalttaten führen können. Er verweist auf Studien, die zeigen, dass "die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen innerhalb eines Landes mit der Gewaltbereitschaft seiner Bevölkerung" (ibid.: 198) korreliert: Armut bedeutet - vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind - nicht nur existenzielle Not, sondern ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grunde ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden für Gewalt. (Ibid: 66) Die Globalisierung führt zur Auflösung von Bindungen. Das ist jedoch kein eindimensionaler Prozess, weil Menschen auf Bindungen angewiesen sind, so dass die Auflösung auch Gegenreaktionen hervorruft: Sie [Moralsysteme bzw. Religionen] bilden aus der Sicht ihrer Anhänger und ihrer Repräsentanten einen Gegenpol zur entfesselten Dynamik des ökonomischen Prinzips. Je stärker dieses sich als eine Art Ersatzreligion aufführt und versucht, den Menschen und dessen Bedürfnisse bedingungslos seinen Ansprüchen unterzuordnen, desto massiver und radikaler wird sich eine Religion dieser Tendenz entgegenstellen. (Ibid.: 201) Die hier aufgeworfenen Fragen nach der "entfesselten Dynamik des ökonomischen Prinzips" und nach dem Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität werden im nächsten Kapitel im Mittelpunkt stehen. 3. Die transkulturelle Welt als "gemeinschaftsfreie Zone" In New Politics of Identity. Political Principles for an Interdependent World lenkt Bhikhu Parekh unseren Blick auf Vor- und Nachteile der Globalisierung und macht darauf aufmerksam, dass sie kein völlig neues Phänomen darstellt. Schon immer haben Kulturen und Gesellschaften miteinander Handel getrieben und schon immer hat es Wanderungsbewegungen gegeben. Doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich mit dem Ende der Kolonialisierung und dem Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationssysteme die Kontakte zwischen Kulturen und Gesellschaften vervielfältigt: <?page no="85"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 85 The global reach of the media brings us vivid images and events in other parts of the world and involves us in their lives. We feel addressed by stories of human suffering in distant lands, and translate our concern in programmes of humanitarian aid and acts of humanitarian intervention. (Parekh 2006b: 183) Wie alle Bewegungen hat die Globalisierung positive und negative Konsequenzen. Zu den negativen gehört, dass sowohl die Staaten der ersten, zweiten und dritten Welt von Finanzspekulationen abhängig sind und ihre Autorität und ihre demokratischen Institutionen geschwächt werden, so dass eine globale kosmopolitische Elite entsteht, die sich nicht für das Gemeinwohl interessiert: This fractures the community, weakens its sense of common belonging, and leads to deep and often irrevocable differences regarding the goals of public policy. Since the globalization weakens the state's capacity to plan and equitably distribute its resources, it renders the poor and disadvantaged groups political orphans. (Ibid.: 185) Die hier angedeuteten Schattenseiten der Globalisierung rückt Zygmunt Baumann in der Schrift Gemeinschaften: Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt in den Mittelpunkt und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Perspektive der Verlierer der Globalisierung. Um die besondere Situation, die durch die Globalisierung entstanden ist, in den Blick zu bekommen, erinnert er an Menenius Agrippa, der "einst die Plebejer in flammender Rede aufforderte, in Rom zu bleiben und ihr Vorhaben aufzugeben, die Patrizier sich selbst zu überlassen" (Baumann 2009: 64). Doch hat sich diese Situation ins Gegenteil verkehrt: " Die heutigen Patrizier benötigen die Dienste der Gemeinschaft nicht mehr, tatsächlich fällt ihnen nichts mehr ein, was das Leben in und mit der Gemeinschaft ihnen bieten könnte, […] während ihnen ziemlich viele Dinge einfallen, die ihnen entgehen würden, müssten sie den Erfordernissen gemeinschaftlicher Solidarität genügen" (ibid.: 64). Die globale Elite feiert die Auflösung von Grenzen, weil damit "eine gemeinschaftsfreie Zone" entsteht, in der sie von Verpflichtungen gegenüber Anderen befreit sind. Deshalb ist die Globalisierung aus der Sicht der Verlierer "in erster Linie eine Flucht vor der Gemeinschaft" (ibid.: 72). Bei einer Studie über Einstellungen der globalen Elite betont einer der leitenden Angestellten von AT&T, dass er sich als "Weltbürger" versteht und nur "zufällig einen amerikanischen Paß besitzt" (ibid.: 69). Die meisten der Befragten sind davon überzeugt, dass Staatsgrenzen und Nationalstaaten im 21. Jahrhundert völlig irrelevant werden. Einer von ihnen stellt fest: "Die einzigen Leute, die sich noch um Staatsgrenzen kümmern, werden die Politiker sein" (ibid.). Für die Forscher dieser Studie leben die Befragten "in einer soziokulturellen Blase, die von den Reibungsflächen der nationalen Kulturen <?page no="86"?> 86 isoliert ist" (zitiert in ibid.). Diese globale Elite, die nationale und kulturelle Grenzen als Begrenzungen ihrer individuellen Freiheit betrachtet, ist jedoch selbst auf Ordnungen angewiesen, die ein gewaltfreies Zusammenleben ermöglichen. Sie nimmt diese Ordnungen als selbstverständlich hin, ohne jedoch für sie Verpflichtungen zu übernehmen. Die globale Elite glaubt, dass sich diese Ordnungen aus der Abschaffung von Grenzen selbst ergeben. Dass der freie Handel zum Abbau von Grenzen und zu einer friedlicheren Welt führen kann, ist nicht zu bestreiten, aber diese stellt sich nicht von selbst ein. Was geschieht mit denen, die für diesen Wettbewerb nicht genügend vorbereitet sind und seine Verlierer sind? Die globale Elite kann problemlos staatliche Grenzen überschreiten, aber viele Flüchtlinge stoßen beim Überqueren von Grenzen "auf mürrische Einwanderungsbeamte" (ibid.: 70) und müssen erfahren, dass die Einwanderungsgesetze verschärft worden sind. Auch die Sozialempfänger gehören zu den Verlierern der Globalisierung und sehen mit Sorge, dass der geschwächte Staat nicht mehr über die Ressourcen für Sozialleistungen verfügt, die sie sich in den westlichen Staaten seit der Depression erkämpft haben. 4. Hybridität als Bildungsziel der "Cultural Studies" Der Begriff Transkulturalität ist aufs Engste mit dem der Hybridität verbunden. So betont Heinz Antor, dass das Konzept der Transkulturalität von Welsch "volle Gültigkeit beanspruchen" (Antor 2006: 36) kann, wenn es um den Begriff der Hybridität geht. Doch im Gegensatz zu Welsch will er das Konzept der Interkulturalität nicht gänzlich abschaffen, weil die Welt noch nicht überall transkulturell geworden ist, und er fügt hinzu: Darüber hinaus ist das Denken zahlloser Menschen auf der Erde nach wie vor von monokulturellen Kategorien und von der Vorstellung voneinander getrennter kultureller Traditionen geprägt. Man mag dies für einen Denkfehler und ein Auslaufmodell halten, darf es aber in seinen kulturwissenschaftlichen Ansätzen nicht ignorieren. (Ibid.) Wie aber geht man mit Menschen um, von deren Auffassungen man meint, dass sie auf einem Denkfehler beruhen und die man für ein Auslaufmodell hält? Latour hat darauf hingewiesen, dass eine solche Auffassung dazu führt, dass man auf andere Menschen mit Geringschätzung herabschaut und mit ihnen keinen Dialog führen kann. Im Rahmen der Globalisierung kommt es nach Bhikhu Parekh zu Konvergenzen in Institutionen wie Krankenhäusern, Universitäten, Flughäfen und <?page no="87"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 87 Bürokratien. Sie folgen alle dem gleichen organisatorischen Aufbau und erfüllen die gleichen Funktionen: "Despite their differences in cleanliness, efficiency, general ethos and professional competence, to walk into a hospital, a court, a factory or a university in New York, Kuwait or Timbuktu is to encounter a broadly familiar institutional and organizational culture" (Parekh 2006b: 186). Diese Konvergenzen ermöglichen es, dass wir uns in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften leicht orientieren können und dass sich Lebensformen angleichen: "Shopping malls, domestic gadgets, fast food outlets and consumer goods produced by Nike, Adidas, Rolex, Chanel and Levi-Strauss are almost universal, and carry their culture with them" (ibid.: 188). Gegenseitige Angleichung hat es immer gegeben, aber in unserer Zeit tritt sie verstärkt auf: "Every culture today carries elements of some others, and displays different degrees of multicultural orientation" (ibid.: 190). Ferner kommt es durch die Globalisierung dazu, dass wir in westlichen Gesellschaften kulturelle Produkte nicht-westlicher Gesellschaften rezipieren und dass die Mitglieder nicht-westlicher Gesellschaften die kulturellen Produkte westlicher Gesellschaften rezipieren, aber das bedeutet noch nicht, dass die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen verschwunden sind. So sind zwar Mitglieder westlicher Gesellschaften offen für künstlerische Produkte, Religionen und Speisen aus nicht-westlichen Kulturen, aber sie sind gleichzeitig von der Überlegenheit der moralischen und politischen Werte ihrer Kultur überzeugt. Ähnlich verhält es sich bei Mitgliedern nicht-westlicher Gesellschaften, die sich an kulturellen Produkten wie Filmen, Fernsehprogrammen, technischen Erfindungen, Kleidung und Speisen der westlichen Welt erfreuen, aber westliche Werte als materialistisch und oberflächlich ablehnen (vgl. ibid.: 192f.). Wenn wir der Auffassung der Transkulturalisten folgen, stehen uns die Produkte aus anderen Kulturen zur freien Verfügung. Damit wird eine wesentliche Funktion kultureller Produkte übersehen, die darin besteht, dass sie Ausdruck der existenziellen Situation von Menschen in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt sind: Every society seeks, and indeed needs, to develop a more or less coherent conception of the kind of society it is, how it came to be what it is, and what it wishes to become. This is particularly the case when it is undergoing profound changes, which is the case with all societies today. (Ibid.: 201) Deshalb können Menschen auch in der globalisierten Welt nicht auf kulturelle Leistungen verzichten, die Ausdruck ihrer Situation sind. Das wird an der postkolonialen Literatur besonders deutlich: "A society without a cultural realm remains a mass of opaque and undigested experiences, fragmented, confused, and devoid of human language in which to understand itself" (ibid.: <?page no="88"?> 88 202). Wenden wir uns nach diesen Vorüberlegungen der Forderung nach Transkulturalität bzw. Hybridität zu. Eine Reihe von Kulturwissenschaftlern fordert als Bildungsziel den hybriden Menschen, wobei Hybridität jedoch eine besondere Bedeutung gewinnt. Hybridität bedeutet im alltäglichen Sprachgebrauch, dass Menschen durch zwei oder mehrere Kulturen geprägt sind. So spricht man von türkischstämmigen Deutschen und von "Korean-Americans" oder "African-Americans". Hybride Identitäten in diesem Sinne sind Identitäten, die sich voneinander unterscheiden. Hybridität als Bildungsziel der "Cultural Studies" wird jedoch in einem radikalen Sinne verstanden: Der radikal hybride Mensch entzieht sich jeder kulturellen Festlegung und vertritt ein postmodernes Menschenbild, nach dem man sich ständig neu erfindet und sich damit jeder Festelegung entzieht. Der radikal hybride Mensch ist der transkulturelle Mensch, der sich keiner Kultur mehr zuordnen lässt und sich keiner Kultur mehr zugehörig fühlt. Nach Jonathan Friedman bedeutet radikale Hybridität als Bildungsziel: "we are all mixed, and we intellectuals are the representatives of the hybrid world" (Friedman 1999: 238). Der hybride Mensch im transkulturellen Sinne ist der vorbildliche Mensch, dem wir alle nachstreben sollen. Aus diesem Bildungsziel ergeben sich jedoch einige Schwierigkeiten. Wenn wir alle hybrid sind, warum ist dann, so fragt Pnina Werbner verwundert, die hybride Identität eine Auszeichnung? "The current fascination with cultural hybridity masks an elusive paradox. Hybridity is celebrated as powerfully interruptive and yet theorized as commonplace and pervasive" (Werbner 2000: 1). Vertreter der Hybridität werden darauf erwidern, dass Hybridität gefeiert werden müsse, weil sie den Glauben an homogene Kulturen unterminiere. Doch Friedman findet eine solche Antwort wenig befriedigend, weil die Auffassung, dass Kulturen heterogen seien, eine Selbstverständlichkeit ist (vgl. die Ausführungen in Kapitel 1 zur Kritik am homogenen Kulturbegriff). Nach Friedman erhebt die intellektuelle Elite die Hybridität zur Norm für alle, um ihre Macht zu demonstrieren, indem sie ihr Ideal allen Menschen aufzuzwingen sucht: "hybridism as a representation clearly harbours hegemonic intentions in so far as it translates a particular perception into a general interpretation" (Friedman 1999: 237). Wie Hybridität ganz unmittelbar als Machtmittel eingesetzt wird, zeigt Friedman an dem Verhalten der Mittel- und Oberschicht in Mittelamerika: Diese Schicht sichert sich ihre Macht gegenüber denjenigen, die für die Anerkennung einer Maya-Identität eintreten, mit dem Argument, dass es nur hybride Identitäten gäbe (vgl. Friedman 2000: 81). Ähnlich kritisch wie Friedman äußert sich Peter van der Veer gegenüber der Verherrlichung der Hybridität. Er erläutert seine Auffassung an der Rushdie-Affäre. Nach Homi Bhabha feiert der Roman The Satanic Verses den <?page no="89"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 89 hybriden Menschen, der sich durch Häresie und Blasphemie ständig verwandelt. Mit dieser Vorstellung von Hybridität haben die Mosleme und Hindus, die in den Provinzstädten Nordenglands gegen den Roman protestieren, wenig zu tun und erscheinen aus dieser Sicht nicht nur als "Islamic fundamentalists", sondern als "fundamentally immoral" (van der Veer 2000: 102). Parekh zeigt auf, warum es nicht in den USA, in denen ebenfalls viele Mosleme leben, sondern nur in England zu scharfen Protesten gegen den Roman kam, und macht darauf aufmerksam, dass Mosleme in England erfahren mussten, dass es zwar ein Gesetz gegen Gotteslästerung gibt, aber es nicht für den Islam, sondern nur für das Christentum gilt. Der Forderung der Mosleme nach Anwendung des Gesetzes wurde von Seiten der Konservativen mit dem Argument begegnet, dass die christliche Religion für England eine ganz andere Rolle spiele als der Islam und daher auch stärker geschützt werden müsse. Von den Liberalen wurde gefordert, dass die Mosleme die Trennung von Staat und Religion akzeptieren. Parekh zeigt auf, wie mangelndes interkulturelles Verstehen zur Eskalation des Konflikts führte und wie der Konflikt später durch interkulturelles Verstehen entschärft wurde (vgl. Parekh 2006a: 258-261, 310-313). Insofern können wir nicht von der Forderung nach Abschaffung kultureller, ethnischer und religiöser Unterschiede ein friedliches Zusammenleben erwarten, sondern sind auf interkulturelles Verstehen angewiesen. Parekh stellt sich die Frage, ob man überhaupt Loyalität und Verpflichtungen gegenüber einer Kultur haben kann, weil es sich bei einer Kultur um ein unpersönliches Gebilde handelt, und beantwortet sie dahingehend, dass wir uns auch der Wissenschaft und Kunst verpflichtet fühlen: "Loyalty to a culture is no different, and refers to loyalty to a way of life including its values, ideals, system of meaning and significance, and moral and spiritual sensibilities" (ibid.: 159). Loyalität zu seiner Kultur ist nach Parekh noch nicht das Böse, das es zu überwinden gilt, wobei sie ja nicht bedeutet, dass man sie glorifiziert und ihre Verfehlungen verdrängt: "No culture is perfect, and it is bound to include beliefs and practices that are perverse and sit ill at ease with its values and ideals. To love one's culture is to wish it well, and that involves criticizing and removing its blemishes" (ibid.: 160). Es kann auch Ausdruck der Loyalität zu seiner Kultur sein, dass man sie kritisiert: Obligations to one's community also include the duty to expose and fight against its injustices and repressions. Mahatma Gandhi expressed this well when he said that he so deeply loved his community that he could not bear to see it disfigured by such practices as untouchability, child marriages and caste oppression. (Ibid.: 161) <?page no="90"?> 90 Wir werden in Kulturen hineingeboren und werden durch sie geprägt. Daher können wir aus ihnen nicht wie aus einem Club heraustreten. Wir können uns selbstverständlich von unserer Kultur distanzieren und auswandern, aber damit werden wir nicht alle Bindungen und Prägungen hinter uns lassen: "We continue to retain some of its culture including the language, collective memories, ways of carrying ourselves, and at least some attachment to its rituals, music, food and so forth" (ibid.: 162). Die meisten Migranten und Einwanderer, die hybride Identitäten besitzen, verstehen Hybridität ganz anders als die intellektuelle Elite, die den radikal hybriden bzw. transkulturellen Menschen fordert, weil sie sich gerade zu ihrer Kultur bekennen. Es ist nach Parekh fraglich, ob wir den radikal-hybriden Menschen wirklich als den idealen Menschen betrachten sollten: Lacking historical depth and traditions, it cannot inspire and guide choices, fails to provide a moral compass and stability, and encourages the habit of hopping from culture to culture to avoid the rigour and discipline of any of them. (Ibid.: 150) Transkulturalität ist problematisch, weil sie ein bestimmtes Menschenbild, radikale Hybridität, allen vorschreibt, kulturelle Bindungen als ein Übel betrachtet und damit verhindert, dass wir Andere in ihrer kulturellen Andersheit zu verstehen suchen. 5. Interkulturelles Verstehen als dritter Ort Claire Kramsch hat den Begriff "third culture" und "third place" in die Fremdsprachendidaktik eingeführt. Der Begriff ist für sie "a metaphor for eschewing the traditional dualities on which language education is based: L1/ L2, C1/ C2, NS/ NNS, Us/ Them, Self/ Other" (Kramsch 2009: 199). An dem dritten Ort geht es nicht um die Abschaffung von Grenzen, sondern um "the search for an understanding of cultural boundaries and an attempt to come to terms with these boundaries" (Kramsch 1993: 12). Viele haben jedoch den dritten Ort - wohl unter dem Einfluss der Transkulturalität- als einen Ort gesehen, an dem Grenzen aufgelöst und zum Verschwinden gebracht werden. Kramsch weist diese Deutung entschieden zurück: "Third place did not propose to eliminate these dichotomies, but suggested focusing on the relation itself and on the heteroglossia within each of the poles" (Kramsch 2009: 199). Für Kramsch ist das multilinguale Subjekt weder translingual noch transkulturell, sondern "the multilingual subject is not defined by its boundless freedom and agency, but, on the contrary, by the linguistic and discursive boun- <?page no="91"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 91 daries it abides by in order to, now and then, transgress them” (ibid.: 185). Der dritte Ort macht nur Sinn, wenn es einen ersten und zweiten Ort gibt. Wie Kramsch an der Analyse von Sprachlernerfahrungen aufzeigt, bestehen sie im Gewahrwerden von Grenzen: The pleasures and pains we have encountered in the testimonies of multilingual authors and narrators come from their awareness of the boundaries between languages, experiences, cultures, and worldviews - and from their position at the boundary of the symbolic and the semiotic. (Ibid.: 184) In "From Communicative Competence to Symbolic Competence" fordert Kramsch, dass wir "kommunikative Kompetenz" als oberstes Erziehungs- und Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts durch "symbolische Kompetenz" ersetzen, weil kommunikative Kompetenz auf den Austausch von Informationen und auf einen sehr engen Begriff effizienter Verständigung reduziert worden ist und entscheidende Dimensionen des sprachlichen Lernens ignoriert: "Language learners are not just communicators and problem solvers but whole persons with bodies, and minds, with memories, fantasies, loyalties, identities" (Kramsch 2006: 251). Symbolische Kompetenz bedeutet, mit Grenzen zwischen Sprachen, Kulturen und Genres umgehen zu können. Das gilt auch für mehrsprachige und multikulturelle Menschen. Das Internet erscheint als eine transkulturelle Welt ohne Grenzen. Kramsch erkennt an, dass der Computer das Potenzial besitzt, "to enhance the multilingual subject's creativity, resourcefulness, and the ability to exploit the symbolic gaps between form and meaning" (Kramsch 2009: 183f.). Aber es ist für sie eine Illusion zu glauben, dass das Internet "a borderless space" sei: "Computer mediated communication entices us to assume that Self and Other are one, and that we all speak a common computerspeak" (ibid.: 184). Daher kann es nicht die Aufgabe der Fremdsprachendidaktik sein, Grenzen aufzulösen, sondern sie muss die Lernenden dazu befähigen, mit ihnen differenziert umzugehen (vgl. ibid.: 183). Platons Höhlengleichnis, das besagt, dass der Mensch aus der Höhle seiner Kultur heraustreten und sich transkulturell verstehen muss, ist irreführend. Angemessener wäre es, auf den Ethnologen zurückzugreifen, der nicht das Ziel verfolgt, fremde Kulturen aufzulösen, sondern zu verstehen. Das Verstehen Anderer beruht auf der Anerkennung von Grenzen. Das will ich an einem Beispiel illustrieren, das ich der Schrift Rückkehr ins Eigene von Heinz Kimmerle entnehme. Wenn wir als Monotheisten den Polytheismus verstehen wollen, müssen wir eine Innenperspektive einnehmen, um zu verstehen, was der Polytheismus für die bedeutet, die ihn praktizieren. Wenn wir den Unterschied zwischen Polytheismus und Monotheismus abschaffen, weil in seiner Anerkennung die Gefahr der Ausgrenzung liegt, verhindern <?page no="92"?> 92 wir, dass wir den Polytheismus überhaupt als Verschiedenes, von dem wir etwas lernen können, in den Blick bekommen. Daher kann Kimmerle mit Recht hervorheben: "Es kommt also hier nicht zu einer ' Synthese ' zwischen Eigenem und Fremdem, wie sie bei Hegel gedacht wird, und auch nicht zu einer ' Horizontverschmelzung ' im Sinne Gadamers" (Kimmerle 2006: 15). Wenn wir den Polytheismus in seiner Verschiedenheit vom Monotheismus verstehen, kann es zu folgenden Überlegungen kommen, die unsere Weltsicht verändern: Der strikte Monotheismus, Gott als Vatergestalt für die ganze Welt und alle Zeiten, hat aber genau betrachtet zwei extrem schwache Punkte gegenüber manchen anderen Religionen. Er ist ein Modell des Einheitsdenkens, das als Machtdenken gegenüber einer Vielfalt gelten muß, die sich nicht in eine Einheit fügen lässt. Der eine Gott findet auch in dem einen Kaiser, König, oder Machthaber und auch im Vater, der allein die Geschicke der Familie lenkt, sein irdisches Äquivalent. Und er vergißt die Göttinnen, was in der Unterdrückung des Weiblichen in den entsprechenden Kulturen zum Ausdruck kommt. (ibid.: 110) Interkulturalität verhindert nicht Grenzüberschreitungen, wie Welsch meint (vgl. Kapitel 1), sondern ermöglicht sie. Aber wir können unsere monotheistischen Sichtweisen nur überdenken, wenn wir die Differenz zwischen polytheistischen und monotheistischen Kulturen nicht zu Gunsten der Transkulturalität aus Angst vor Ausgrenzungen eingeebnet haben. Insofern ist das interkulturelle Verstehen nicht rassistisch und keine zweitrangige Erkenntnisform, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir unseren Horizont erweitern, differenzieren und verändern. 6. Zur Relation zwischen Eigenem und Fremdem Vertreter der Transkulturalität lehnen die Begriffe Eigenes und Fremdes entschieden ab. Wie wir schon in Kapitel 1 gesehen haben, will Welsch jenseits des Eigenen und Fremden operieren. So weist auch die transkulturelle Fremdsprachendidaktik den Begriff des Fremden entschieden zurück. Andreas Bonnet und Stephan Breidbach werfen der "Didaktik des Fremdverstehens" vor, dass sie eine "Dichotomie von Fremdem und Eigenem" errichte, dass sie den falschen Glauben an ein feststehendes Eigenes und an ein feststehendes Fremdes vertrete und dass mit den Begriffen Eigenes und Fremdes "einem latent essentialistischen Denken" Vorschub geleistet werde (Bonnet / Breid- <?page no="93"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 93 bach 2007: 259f.). 2 Diese Kritik verkennt völlig den hermeneutischen Prozess des Verstehens im Wechselspiel von Eigenem und Fremdem. Es handelt sich hier nicht um ontologische, sondern um relationale Begriffe. In einer der ersten Veröffentlichungen des Graduiertenkollegs "Didaktik des Fremdverstehens" heißt es: "Fremd ist etwas oder fremd ist jemand in Bezug auf uns selbst, nicht dagegen im ontologischen Sinne eines an sich" (Bredella / Christ 1995: 11, vgl. ferner Bredella / Christ 2007). Bei Figal, einem der prominenten Philosophen der Hermeneutik, heißt es, dass es sich bei den Begriffen Eigenes und Fremdes nicht um essentialistische oder ontologische, sondern um relationale Begriffe handele: Nichts ist "von Natur aus fremd oder gehört ein für allemal zum Eigenen" (Figal 1996: 112). Eine Formulierung von Georg Simmel über das Fremde ist wiederholt aufgegriffen worden, weil sie aufzeigt, dass sich das Fremde immer nur in Relation zum Eigenen bestimmen lässt: "Die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologischen in Betracht kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah" (Simmel 1992: 765). Herfried Münkler und Bernd Ladwig greifen die Formulierung von Simmel wie folgt auf: "Daß Fremdheit relational ist, bedeutet zunächst ganz trivial, daß wir etwas nur dann als fremd bezeichnen, wenn wir in irgendeiner angenommenen oder tatsächlichen Beziehung zu ihm stehen" (Münkler / Ladwig 1997: 14). Etwas, das gänzlich unbekannt wäre, bezeichnen wir nicht als fremd. Nach Welsch gibt es infolge "der Durchdringung der Kulturen […] nichts schlechthin Fremdes mehr". Breinig (2006: 63) kritisiert diese Auffassung. Es sind zwar kulturelle Unterschiede "gleichsam ins Schwimmen geraten und in ihrer Gültigkeit temporär suspendiert worden, ohne dass sie damit endgültig dekonstruiert werden" (ibid.), so dass nicht die Rede davon sein kann, dass sich Eigenes und Fremdes aufgelöst haben. Bernhard Waldenfels, der sich wie kaum ein Anderer intensiv mit dem Begriff des Fremden in den vier Bänden Studien zur Phänomenologie des Fremden und in einer Reihe weiterer Schriften beschäftigt hat, betont ebenfalls den relationalen Charakter von Eigenem und Fremdem: "x ist fremd für y, und es lässt sich nur okkasionell gebrauchen: etwas ist von Fall zu Fall fremd. Fremdes braucht schließlich den Kontrast zum Eigenen, das sich eingrenzt, indem es Anderes ausgrenzt" (Waldenfels 1999: 127f.). In Rückkehr ins Eigene betont Kimmerle, dass der Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem unerlässlich sei, wenn man eine Antwort auf die Fra- 2 Wenn Bonnet und Breidbach die Begriffe Eigenes und Fremdes strikt ablehnen, müssten sie auch die Begriffe Fremdsprachendidaktik und Fremdsprachenlehren und -lernen ablehnen. <?page no="94"?> 94 ge geben wolle, was das Verstehen des Fremden für das Eigene bedeute. Ohne Bezug auf das Fremde ließe sich das Eigene nicht bestimmen. Dabei werde deutlich, dass "die Grenze zwischen dem Eigenen, von dem auszugehen ist, und dem Fremden, dem man sich annähern will, niemals scharf zu ziehen ist" (Kimmerle 2006: 7). Nur indem wir uns auf das Fremde einlassen, kann das Eigene hervortreten und im Verstehen verändert werden. Nach Mall missversteht die Transkulturalität Eigenes und Fremdes, indem sie die Begriffe radikal voneinander trennt und die Dialektik zwischen ihnen nicht erfasst: Es gibt daher weder das radikal Fremde noch das radikal Eigene: Interkulturelle Kompetenz sieht in dem Fremden daher nicht das absolut Fremde, das das Eigene selbstverschuldet hervorbringt. Das Eigene und Fremde treffen und trennen sich als Ausgestaltungen eines unendlichen Reservoirs von Fragen und Antworten. (Mall 2006: 110) Straub betont, dass die relationale Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem für Erkennen und Verstehen in der Lebenspraxis und in der Wissenschaft konstitutiv ist: "What seems to be ' different ' and ' alien ' can only be seen from one's own perspective - and this applies to scientific research as well: otherness and alienness are relationally structured" (Straub 2006: 184). Für Kimmerle ist die Vorsilbe "Inter" durch drei Momente gekennzeichnet: a) Es gibt kein Eigenes ohne die Begegnung mit dem Fremden. Ein Eigenes, das sich nur als Eigenes begreift, ist "kein lebendiges, ernstzunehmendes, wirkliches Eigenes" (Kimmerle 2006: 14). b) Das Fremde ist die Herausforderung für das Eigene. c) Die Rückkehr ins Eigene bedeutet nicht die Auflösung der Differenz zwischen Eigenem und Fremdem, sondern eine Neubestimmung dieses Verhältnisses. Würden wir uns vom Fremden nicht ansprechen und herausfordern lassen, blieben wir im Eigenen gefangen. 7. Kampf um Anerkennung Anerkennung ist zu einem Schlüsselbegriff der Sozialphilosophie geworden. In dem Artikel "Anerkennung" im Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz weist Werner Nothdurft darauf hin, dass seit Rousseau das Bedürfnis nach Anerkennung, das bis dahin eher als eine Schwäche und als Ausdruck egoistischer Triebe angesehen wurde, zu einem konstitutiven Bestandteil des Menschen geworden ist: "Erst die Achtung durch Andere verleiht dem Individuum ein Gefühl seiner Existenz. Das Subjekt bedarf der Achtung durch Andere, um sich als Subjekt erleben zu können" (Nothdurft 2007: 111). Durch das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung <?page no="95"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 95 entsteht eine paradoxe Grundsituation: Der moderne Mensch versteht sich einerseits als ein autonomes Individuum, das sich nur aus sich selbst bestimmt, und bedarf andererseits für die Bildung seines Selbstverständnisses und seiner Selbstverwirklichung als einzigartiges autonomes Individuum der Anerkennung durch Andere. Seine Autonomie ist ‚existenziell’ auf Intersubjektivität angewiesen" (ibid.: 112). Diese Spannung lässt sich im Rahmen der Transkulturalität nicht lösen. Welsch lehnt den Kampf um Anerkennung, bei der es um die Aufwertung von Kulturen geht, die als minderwertig angesehen wurden, entschieden ab. Für ihn ist dieser Kampf nur "der Beginn neuer Schrecken. Dann entstehen durch sie unter Berufung auf nationale Identitäten reaktionäre, anti-pluralistische, der Tendenz nach totalitäre Staaten" (Welsch 1994: 155). Man wird nicht bestreiten, dass die von Welsch aufgezeigte Gefahr besteht, aber es ist selbst inhuman, Menschen zu verbieten, sich für die Anerkennung ihrer kulturellen Identität einzusetzen. Das wird auch von Jürgen Straub nachdrücklich betont: Es gibt legitime Kämpfe um Anerkennung und um gleiche Lebenschancen und Rechte. Es gibt berechtigte Interessen, sich mit Herrschaft, Macht, Repression und Ungleichheiten vielerlei Art nicht abzufinden und für all diese Zwecke ist eine Identitätspolitik, die ein politisch handlungsfähiges Kollektiv imaginiert, konstituiert und mobilisiert, [ein] womöglich strategisch geeignetes, effektives Mittel. (Straub 2004: 296) Wie komplex das Verhältnis von kollektiven und individuellen Identitäten ist, zeigt sich an dem folgenden Beispiel: Wer von Anderen als Jude oder Schwarzer gesehen wird und unter ihren Vorurteilen leidet, kann sich nicht einfach von seiner kollektiven Identität distanzieren und sich als transkulturell verstehen, selbst dann nicht, wenn er sich nicht mit seiner kollektiven Identität identifiziert: If others continue to see and despise me as a Jew or a black man when I no longer define myself in this way, both my sanity and self-interest require me to find a way of strategically aligning myself with the community while retaining a critical distance from it. (Parekh 2006a: 162) Wir sind auf gegenseitige Anerkennung angewiesen, so dass wir unter der Missachtung Anderer leiden. Deshalb können wir unsere kollektive Identität, die Teil unserer individuellen Identität ist, nicht einfach aufgeben: Human beings depend on each other for their sense of self-worth and allround development. When they are treated as inferior or of no worth, they tend to internalize these images, take a poor view of themselves, aim low, fail to develop their talents, and build up resentment against those subjecting them to such treatment. (Ibid.: 219) <?page no="96"?> 96 Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass man, wie wir in Kapitel 1 und 5 gesehen haben, Grenzen nicht grundsätzlich abschaffen kann, sondern mit ihnen leben muss. Auf die Bedeutung von Grenzen weist auch Parekh nachdrücklich hin, wenn er schreibt: Boundaries structure our lives, give us a sense of rootedness and identity, and provide a point of reference. Even when we rebel against them, we know what we are rebelling against and why. Since they tend to become restrictive, we need to challenge and stretch them; but we cannot reject them altogether for we then have no fixed point of reference with which to define ourselves and to decide what differences to cultivate. (Ibid.: 150) Für den Kampf um Anerkennung ist das interkulturelle Verstehen unerlässlich. In A New Politics of Identity. Political Principles for an Interdependent World zeigt Parekh auf, dass jede Gesellschaft Menschen mehr oder weniger deutlich vorschreibt, wie sie ihre individuellen und kollektiven Identitäten zu gestalten haben und dabei bestimmten Gruppen vorschreibt, die vorherrschenden Normen der Gesellschaft zu bejahen und andere zu unterdrücken. Daher kommt es zum Kampf um Anerkennung, wenn bestimmte Gruppen sich gegen die vorherrschenden Normen auflehnen. Das bedeutet beispielsweise für den Kampf der Schwarzen um Anerkennung: Black people argue that the dominant racist culture reduces them to their colour, overdetermines them from without, views them as inferior or not fully human, and expects them to pursue goals and lead lives that conform to norms set by white people as a precondition of equality. (Parekh 2006b: 31) Wenn Schwarze sich gegen die herabsetzenden Vorurteile auflehnen, können sie dies nicht dadurch erreichen, dass sie sich als transkulturell verstehen und kollektive Identitäten als obsolet erklären. Bei der Forderung nach Anerkennung sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Einmal wird gefordert, dass Menschen das Recht haben, darüber zu bestimmen, wie sie sich sehen und wie sie ihr Verhalten beurteilen. Insofern handelt es sich beim Kampf um Anerkennung um eine Emanzipationsbewegung. Man will selbst bestimmen, wie man zu leben hat. Andererseits ist man auch davon abhängig, wie einen die Anderen sehen: First, it is intended to reject the sense of inferiority and shame associated with the relevant identity, and to assert its equal legitimacy. Second, it is a way of identifying with others sharing the identity, and seeing their past and present struggle and achievements as those of people like oneself. (Ibid.: 32) Wie sich an der Frauenbewegung deutlich zeigt, geht es dabei jedoch nicht nur um eine Anerkennung unterdrückter Gruppen, sondern um eine Veränderung in den Einstellungen der dominanten Gruppe: <?page no="97"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 97 Women question not only the discriminatory treatment but also ideas on gender differences, rationality, emotions, human nature and forms of knowledge with which their treatment is closely bound up. Blacks challenge not only their inferiorization and subjugation, but also the wider views on race, rationality, history and progress in terms of which individuals are classified and their hierarchical gradation is justified. (Ibid.: 32) Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu kollektiven Identitäten können nicht dadurch aufgehoben werden, dass man die kollektiven Identitäten abschafft. While sharing a common humanity with men, the women express and experience it differently and should not be seen as uniform instantiations of an abstract human universality. Their differences are not secondary to a superstructure built on an identical base, rather they are part of their identity. (Ibid.: 33) Bei dem Kampf um Anerkennung besteht die Gefahr, und darauf hat Welsch mit Recht hingewiesen, dass kollektive Identitäten essentialisiert werden, wenn bestimmt wird, worin die 'wahre' Identität von Frauen, Schwarzen, Juden, Moslemen usw. besteht. Deshalb ist wichtig, dass Menschen nicht auf ihre kollektive und kulturelle Identität reduziert werden und dass sie selbst ihre kollektive Identität bestimmen (die Dialektik von individueller und kollektiver Identität wird in Beitrag III, Kapitel 1 näher erörtert). Menschen existieren nicht ohne kollektive Identitäten, weil sie in eine Kultur hineingeboren wurden und weil sie nur deshalb eine Individualität aufbauen konnten, indem sie von Anderen eine Sprache lernen und sich an deren Erwartungen orientieren. Die Vorstellung eines transkulturellen autonomen Menschen ist eine Illusion: Self-understanding and self-reflection do not take place in a social vacuum. They occur against the background of, and are structured by, the range of possibilities, ideals of life, forms of thought, and the intellectual and moral resources available in an individual's society. (Ibid.: 10) Bei Axel Honneth, der sich in mehreren Schriften intensiv mit dem Kampf um Anerkennung auseinandersetzt, heißt es: "In dem Bedürfnis, für die Fähigkeiten in einem Kreis von Gleichgesinnten eine direkt erfahrene Wertschätzung zu finden, liegt heute ein, wenn nicht das zentrale Motiv der Gruppenbildung" (Honneth 2010: 269). Nach Todorov sind wir auf Andere angewiesen, weil wir nicht aus uns selbst existieren: "Unser Selbst lässt sich nicht trennen von unseren Beziehungen zu anderen und den Forderungen, die wir in ihrem Blick lesen" (Todorov 1998: 160). Wenn wir einerseits uns den kollektiven Identitäten zuwenden müssen, dürfen wir sie andererseits nicht essentialisieren: <?page no="98"?> 98 Women, for example, belong to different economic, cultural, religious, ethnic and other groups, and have different interests, aspirations and views of their place in history. They articulate their gender identity differently, and give it different kinds and degrees of importance in their self-understanding. There is no inherently "womanly" or "feminine" essence that stays the same across religious, economic and other divisions. (Parekh 2006b: 37) Frauen schätzen ihre jeweiligen Identitäten unterschiedlich ein: "Some black woman place greater importance on their gender; others on their race" (ibid.: 38). Weiße und Schwarze, die sich in vieler Hinsicht in ihren Sichtweisen unterscheiden, können beispielsweise ein- und derselben Religion angehören: "Indeed, fiercely opposed in terms of one identity, they might be closely bound together in terms of some other. Given the commonalities at various levels, relations between groups rule out sharp distinctions and polarization" (ibid.: 39). Wir müssen beim interkulturellen Verstehen die Spannungen zwischen kollektiven und individuellen Identitäten in den Blick bekommen: "We are not homogeneous instantiations or specimen of the human species. We are French or American, Hindu or Christian, mothers or fathers, and thus human in our mediated and unique ways" (ibid.: 3). Insofern kommt es darauf an, beim interkulturellen Verstehen der Versuchung zu widerstehen, die Vermittlungen zu ignorieren und Menschen entweder nur als Individuen oder nur als Produkte ihrer kollektiven Identitäten zu sehen. Interkulturelles Verstehen kann sich an dem "humanistischen Individualismus", wie ihn Julian Nida-Rümelin entwickelt, ausrichten: "Für einen humanistischen Individualismus zählen Personen nicht erst qua Gruppenzughörigkeit, qua kultureller Identität. Träger gesellschaftlichen Handelns bleiben Einzelpersonen, die sich jedoch in wechselseitigen Handlungseinheiten organisieren können" (Nida-Rümelin 2006b: 138). 8. Interkulturelles Verstehen zwischen Monismus und Relativismus In Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and Political Theory kritisiert Bhikhu Parekh sowohl den moralischen Monismus, für den es eine absolute Wahrheit und nur eine Form des "guten Lebens" gibt, als auch den Pluralismus, der einen Relativismus vertritt, nach dem die Menschen als Produkte ihrer Kultur verstanden werden. Steht auf der einen Seite der Glaube an die absolute Wahrheit, gibt es auf der anderen Seite nur Wahrheiten, die für bestimmte Kultur gelten. Da für Parekh beide entgegengesetzten Auffassungen <?page no="99"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 99 falsch sind, entwickelt er aus der Kritik an ihnen einen "pluralist universalism", der weitgehend meinem Konzept des interkulturellen Verstehens entspricht. Die Bedeutung der Ausführungen von Parekh liegt darin, dass er unseren Blick für die Problematik des moralischen Monismus und moralischen Relativismus schärft. Im ersten Kapitel werde ich darauf hinweisen, wie Parekh den griechischen, christlichen und liberalen moralischen Monismus bestimmt, wobei wir erkennen können, dass auch Transkulturalität eine Form des moralischen Monismus darstellt. 8.1. Formen des moralischen Monismus Griechischer Monismus: Für Platon besitzen Menschen, wie Parekh aufzeigt, drei Fähigkeiten: "reason", "spirit" und "desire", wobei "reason", Vernunft und Verstand, die Fähigkeit ist, die den Menschen von den Tieren unterscheidet und die es uns ermöglicht, die ewigen Ideen zu erkennen. Alle Menschen haben Anteil an den drei Fähigkeiten, aber in unterschiedlichen Graden. Nur Philosophen und Wissenschaftler können jedoch ihr Leben der Erkenntnis um ihrer selbst willen und damit der Kontemplation widmen. Darin erfüllt sich das "gute Leben". Indem Erkenntnis um ihrer selbst willen gesucht wird, steht im griechischen moralischen Monismus die Theorie höher als die Praxis. Das 'reine' Wissen galt mehr als das angewandte Wissen. Das gilt auch für unsere Kultur, in der die angewandte Wissenschaften einen niedrigeren Status haben als 'reinen' Wissenschaften, obwohl sich diese Bewertung allmählich in ihr Gegenteil verändert. Nach der griechischen Vorstellung nimmt der Mensch eine Zwischenstellung zwischen Gott und den Tieren ein, wobei die Vernunft ihn in die Nähe Gottes und die Wünsche und Triebe ihn in die Nähe des Tieres rücken (vgl. Parekh 2006a: 22). Die Griechen sind von ihrer Kultur als der einzig wahren Kultur überzeugt und sehen in den Anderen die Barbaren. Missionierung und Bekehrung liegen ihnen fern, weil sie glauben, dass Menschen anderer Kulturen gar nicht in der Lage sind, ihre Vorstellung des "guten Lebens" zu verwirklichen. <?page no="100"?> 100 Christlicher Monismus: Im Gegensatz zum griechischen Monismus geht der christliche Monismus davon aus, dass alle Menschen zum "guten Leben" fähig sind; und daher versuchen die Christen die Heiden zu ihrer Form des "guten Lebens" zu bekehren. Doch das "gute Leben" besteht für die Christen nicht in der Kontemplation und in der Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern in dem Glauben an Gott: For Aquinas, as for Augustine, religion was the basis of the truly good life, Christianity was the only true religion, the Catholic Church was the only authorized custodian of it, and an unquestioning faith in it was the only way to salvation. (Ibid.: 29) Nach dem christlichen Monismus kann der Mensch aus seinem bisherigen sündigen Leben heraustreten und ein neues gottgefälliges Leben führen. Mit dem Anspruch, dass die christliche Vorstellung des "guten Lebens" für alle verpflichtend ist und die Heiden bekehrt werden müssen, kommt es zur Intoleranz gegen andere Religionen, die der griechische Monismus nicht kennt (vgl. ibid.: 25). Parekh erörtert die Frage, ob nicht jede Religion, die den Anspruch erhebt, die einzig wahre zu sein, zwangsläufig intolerant ist. Parekh beantwortet die Frage dahingehend, dass das Christentum den Anspruch erheben kann, die wahre Religion zu sein, aber dass es nicht den Anspruch erheben darf, dass es außerhalb des Christentums keine Erlösung gibt Hier wird deutlich, wie wir lernen müssen, mit Unterschieden zu leben. Liberaler Monismus: Der Liberalismus gleicht dem christlichen Monismus, indem er seine Werte wie die Würde, Freiheit und Gleichheit jedes Menschen weltweit verwirklicht sehen will. Er ist demnach auch missionarisch, aber er unterscheidet sich vom Christentum dadurch, dass er fordert, dass sich überall die Menschen von der Bevormundung durch die Religion befreien müssen. Den Wert, den der Liberalismus betont, ist die Autonomie des Individuums: Like pre-Christian Europe, preliberal Europe lived in 'dark ages'. And just as non-Christian religions were pagan and devoid of true religious sensibility, non-liberal societies were benighted, backward, unconsciously yearning for liberal truths, made up of anonymous liberals, and desperately in need of liberal missionaries. (Ibid.: 34) Der liberale Staat tritt für liberale Werte ein und verlangt von Einwanderern, dass sie seine Werte anerkennen und nach ihnen leben. Dabei stellt sich die Frage, wie man diese liberalen Werte interpretiert und wie sie sich zu Werten wie Solidarität und Gemeinschaftsbewusstsein verhalten (vgl. ibid.: 339). Der liberale Monismus beruht auf einer scharfen Trennung zwischen dem priva- <?page no="101"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 101 ten Leben, in dem Menschen die Freiheit haben, ihren religiösen und kulturellen Überzeugungen zu folgen, und dem öffentlichen Leben, das durch wissenschaftliche Objektivität, technische Effizienz, ökonomischen Nutzen und demokratische Institutionen gekennzeichnet ist, in denen alle gleich - unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Ethnie und Kultur - behandelt werden. Aber kann man den öffentlichen und privaten Bereich immer trennen? Wie verhält sich der liberale Staat, wenn es um das Tragen des Kopftuchs in öffentlichen Einrichtungen geht und wenn muslimische Mädchen nicht am Turnunterricht teilnehmen, weil das Tragen kurzer Hosen gegen die 'guten Sitten' verstößt? Für viele besteht das "gute Leben" gerade darin, dass man nicht zwischen öffentlichem und privatem Bereich trennt. Kann das "gute Leben" unabhängig von Kultur und Religion bestimmt werden? Wie es im liberalen Staat zu Konflikten zwischen individueller und kollektiver Identität kommt, werde ich in Beitrag III an "arranged marriages" aufzeigen. Transkultureller Monismus: Transkulturalität ist ebenfalls eine Form des Monismus, weil sie nur eine Form des guten Lebens kennt und daher die Abschaffung kultureller Unterschiede fordert. Solange wir in einer Welt mit kulturellen Unterschieden leben, sind wir rassistisch und grenzen Andere aus. Das ist jedoch, wie wir gesehen haben, selbst eine totalitäre Einstellung, die unfähig ist, Andere in ihrer Andersheit anzuerkennen. Nach Parekh ist der moralische Monismus verfehlt, weil er verhindert, dass wir anerkennen, dass es unterschiedliche Vorstellungen des "guten Lebens" gibt und dass wir lernen müssen, mit Unterschieden und den sich daraus ergebenden Konflikten zu leben: Justice and mercy, respect and pity, equality and excellence, love and impartiality, moral duties to humankind and to one' kith and kin, often point to different directions and are not easily reconciled. In short every way of life, however good it might be, entails a loss. (Ibid.: 48) Der moralische Monismus verhindert, dass wir die Unterschiede zwischen den Kulturen ernst nehmen. Es gibt transkulturelle Phänomene wie die Liebe, die wir in allen Kulturen finden, aber sie existieren, wie Todorov betont, immer nur in konkreten kulturell unterschiedlichen Ausprägungen: And just as one cannot learn "universal" love without passing through the stage of loving one's neighbours, one cannot gain access to the universal spirit except through knowledge of a particular culture: what is true for effect is also true for cognition. (Todorov 1993: 251) <?page no="102"?> 102 Parekh verweist auf die elementare Erfahrung des Todes, der jedoch in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben wird: Even something as basic and inevitable as death is viewed and experienced differently in different cultures. In some it is a brute fact of life, like the falling of leaves or the diurnal setting of the sun, and arouses no strong emotions; in some others it is a release from the world of sorrow and embraced with joy; in others it is a symbol of human weakness, a constant reminder of inadequate human mastery over nature, and accepted with such varied emotions as regret, puzzle, incomprehension and bitterness. (Parekh 2006a: 121) Für den moralischen Monismus gibt es nur eine einheitliche menschliche Natur, so dass die kulturellen Unterschiede nur oberflächlich sind. Wie attraktiv der moralische Monismus auch ist, er ist auch heftig kritisiert worden. 8.2. Formen des moralischen Relativismus Einflussreiche Denker wie Vico, Montesquieu und Herder haben den moralischen Monismus kritisiert und die Vielfalt menschlicher Kulturen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen "guten Lebens" hervorgehoben. Für Vico ist es ein rationalistischer Fehlschluss, wenn wir glauben, dass wir die Vorstellung des "guten Lebens" aus der menschlichen Natur ableiten können. Für ihn ist die menschliche Natur selbst ein Produkt der Geschichte und nicht eine transhistorische Substanz (vgl. ibid.: 51). Deshalb ist es auch notwendig, dass wir uns in eine fremde Kultur einfühlen: "We need to feel our way into its inner structure and grasp its ethos and complexity by means of emotional sympathy, self-transcendence and a historically attuned imagination" (ibid.). Für Montesquieu gibt es zwar eine menschliche Natur, aber jede Gesellschaft unterscheidet sich in ihren Familienstrukturen, Gesetzen und Werten. Deshalb fällt dem interkulturellen Verstehen die Aufgabe zu, die jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Praktiken nicht als irrational und absurd zu verurteilen, sondern ihre Bedeutungen zu erhellen: No social practice or belief shocked or offended him [Montesquieu] or was beyond his comprehension. He was convinced that since they were all human creations, they demanded and deserved sympathetic exploration and explanation. He rose above his own and his society's prejudices and tried to make sense of such practices as polygamy, polyandry, matriarchy and even incest. (Ibid.: 61) Herder wendete sich entschieden gegen die Vorstellung einer allen Menschen gemeinsamen Natur im Sinne des moralischen Monismus und betonte die Besonderheit der jeweiligen Kulturen und Sprachen: <?page no="103"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 103 To be human was to grow up within a particular cultural community and become a particular person. The abstract and universally shared human nature, which supposedly underlay and remained unchanged across cultures as the Enlightenment thinkers had argued, was a fiction. (Ibid.: 68) Der Einfluss einer Kultur durchdringt nach Herder das Denken und Fühlen der Menschen und bestimmt deren Kleidung und Nahrung: "Since no man could be human outside his cultural community, membership of it was a basic human need just as much as food and physical security" (ibid.: 69). Wir können Andere nicht dadurch verstehen, dass wir ihr Handeln nach universellen Prinzipien beurteilen, sondern dadurch, dass wir Empathie aufbringen und uns fragen, wie wir an ihrer Stelle gehandelt hätten. Herder verurteilte Sklaverei nicht, weil sie das universelle Prinzip der Gleichheit verletzt, sondern weil auch wir selbst nicht als Sklaven behandelt werden wollen: For Herder, we should respect other cultures not because some moral law or principle so requires, but because they mean as much to their members as ours do to us, and we should understand them in their own terms both because we cannot otherwise understand them at all, and because this is how we want others to treat us. (Ibid.: 70) Herder wie auch Vico und Montesquieu kritisieren die universellen Vorstellungen des 'guten Lebens' und setzen sich entschieden für die Anerkennung unterschiedlicher Vorstellungen des "guten Lebens" ein. Dennoch kritisiert Parekh den Relativismus. Auf einige Punkte seiner Kritik will ich hier kurz hinweisen: a) Die drei Denker sehen eine Kultur als eine integrierte organische Ganzheit und übersehen, dass sich Kulturen entwickeln und dass es in ihnen zu Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen unterschiedlichen Wert- und Zielvorstellungen kommt. Für das interkulturelle Verstehen ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir die Aufmerksamkeit auf diese Auseinandersetzungen und Konflikte lenken, um damit auch die geschichtliche Entwicklung einer Kultur in den Blick zu bekommen. b) Die drei Denker gehen davon aus, dass Kulturen klar voneinander abgrenzbar sind, weil sie sich aus einem einheitlichen Prinzip entwickeln. Ein solches Prinzip gibt es jedoch nicht, so dass sich Kulturen gegenseitig beeinflussen. Es kommt zu Überlagerungen und Überschneidungen zwischen ihnen. c) Geht man von der Vorstellung aus, dass Kulturen organische Einheiten darstellen, die sich aus einem inneren Prinzip entwickeln, sieht man sich gezwungen, Einwanderer als nicht assimilierbar und integrierbar anzusehen. Doch Kulturen können Menschen aus anderen Kulturen aufnehmen, ohne sich aufzulösen. Diese Einsicht wird auch von der Transkulturalität nicht <?page no="104"?> 104 beachtet, so dass sie vorschnell zu dem Schluss kommt, dass die Globalisierung Kulturen nicht verändert, sondern aufgelöst hat. d) Kultur als organische Einheit erweckt den Eindruck, dass die Kultur das Verhalten der Menschen determiniert, und erfasst nicht, dass Menschen ihre Kultur prägen und verändern. Kulturen existieren nicht jenseits der Menschen als eine Art platonischer Idee, sondern nur in den Handlungen ihrer Mitglieder. Erweckt Transkulturalität den Eindruck, dass Menschen als bloße Individuen jenseits der Kulturen leben, erweckt Multikulturalität den Eindruck, dass die Menschen die Produkte ihrer Kultur sind. e) Die drei Denker betrachten Kulturen als einen autonomen Bereich und übersehen, wie der kulturelle Bereich mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen zusammenhängt. Marx betont mit Recht, dass Kulturen nicht in einem sozialen und wirtschaftlichen Vakuum existieren, aber er irrt sich, wenn er meint, dass die Kultur nur einen Oberbau darstellt, der von der Basis determiniert wird und übersieht, wie kulturelle Werte den wirtschaftlichen Bereich sowohl legitimieren als auch infrage stellen können. Zwischen den verschiedenen Bereichen besteht eine Wechselwirkung (vgl. ibid.: 77-79). Vertritt Transkulturalität einen moralischen Monismus, vertritt Multikulturalität einen moralischen Relativismus. Jede Kultur bestimmt für sich, was human ist. Insofern sind alle Kulturen gleichwertig, so dass es unmöglich ist, eine Kultur zu kritisieren, die Gruppen von Menschen unterdrückt, weil diese Unterdrückung Teil ihrer Kultur ist und wir nicht das Recht haben, ihr Verhalten zu kritisieren. Aus der Sicht des Relativismus, so Todorov, müssen wir das Verhalten in einer Kultur unkritisch akzeptieren: A relativist, even a moderate one, cannot denounce any injustice, any violence, that may happen to be part of some tradition other than his own: clitoridectomy would not warrant condemnation, not would even human sacrifice. (Todorov 1993: 389) Der Relativist übersieht, dass Kulturen nicht so einheitlich sind, wie er sie sich vorstellt und dass sie unterschiedliche Wertvorstellungen enthalten und durch Konflikte gekennzeichnet sind. Wie Parekh aufzeigt, begründen orthodoxe Hindus das Kastensystem mit Aussagen aus den heiligen Schriften; aber auch die Kritiker des Kastensystems beziehen sich auf sie und verweisen auf Stellen, die mit dem Kastensystem unvereinbar sind. Für Liberale bedeutet Gleichheit, dass alle Menschen Träger gleicher Rechte sind. Daraus ziehen Sozialisten in liberalen Gesellschaften den Schluss, dass Menschen die Mittel besitzen müssen, um ihre Rechte praktizieren zu können, und fordern daher nicht nur Gleichheit, sondern soziale Gerechtigkeit. Liberale dagegen kritisieren, dass die Sozialisten in den Begriff der Gleichheit den der sozialen Gerechtigkeit einschmuggeln und ihn damit überziehen (vgl. Parekh 2006a: 174). <?page no="105"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 105 Relativisten übersehen ferner, dass Kulturen nicht für sich allein existieren, sondern sich gegenseitig beeinflussen (vgl. ibid.: 163). Ist die Transkulturalität problematisch, weil sie einen moralischen Monismus vertritt und kulturelle Unterschiede abschafft, ist die Multikulturalität problematisch, weil sie als moralischer Relativismus kulturelle Unterschiede verabsolutiert. Wie sehr sich beide Positionen aber auch unterscheiden, sie stimmen darin überein, dass sie das interkulturelle Verstehen ablehnen. 8.3. Zum Umgang mit kulturellen Unterschieden In A New Politics of Identity. Theoretical Principals of an Interdependent World zeigt Parekh in detaillierten Analysen auf, dass es nicht gelingen kann, eine Welt ohne Grenzen und unterschiedliche Identitäten herbeiführen zu wollen. Selbst nationale Identitäten können nicht einfach abgeschafft werden: It [national identity] provides a home, a place they call their own, and whole membership of it generally cannot be taken away from them. They grow up and are educated within it, and are deeply shaped by its values and ethos. Being territorially bounded, the political community also creates a structured space that gives intensity and depth to their relations with each other and forges common bonds. (Parekh 2006b: 56) Menschen identifizieren sich über ihre nationale Identität und werden von Anderen als Mitglieder einer bestimmten nationalen Identität identifiziert. Der Pass, der sie als Mitglieder eines bestimmten Staates ausweist, mag für die globale Elite (vgl. Kapitel 3 und 4) belanglos sein, für viele Menschen ist er es nicht. Für Parekh hat die nationale Zugehörigkeit für das Selbstverständnis und die Selbstachtung vieler Menschen nicht nur eine negative, sondern auch positive Wirkungen, wenn beispielsweise Menschen protestieren und sich schämen, wenn ihr Staat so handelt, dass er das Wohlergehen von Mitgliedern in anderen Staaten beeinträchtigt. Die Anerkennung nationaler Identität ist daher nicht mit Rassismus identisch, wie es von Transkulturalisten behauptet wird. Nationale Identität ist keine Substanz, sondern drückt die Bereitschaft der Bürger aus, sich für ihren Staat zu engagieren und ihn mitzugestalten: National identity is not a substance but rather a cluster of interrelated tendencies that sometimes pull in different directions, and each generation has to identify them and decides which one to build on. […] Being a product of history, it can and needs to be defined and revised periodically. To freeze history at a particular point in time is the surest way to render the national identity obsolete and irrelevant. (Ibid.: 60) <?page no="106"?> 106 Nationale Identitäten sind nicht bloße "imagined communities", die man nach Belieben umgestalten kann, sondern beziehen sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dabei besteht die Gefahr, dass die nationale Einheit einheitlicher gesehen wird, als sie in Wirklichkeit ist. Daher sind nationale Identitäten zwiespältig: "We are confronted with a paradox. Every political community needs and invokes some shared view of its collective identity, if not explicitly than implicitly, but the latter can also become exclusivist, authoritarian, repressive and narrowly nationalistic" (ibid.: 64). Aber die Einsicht aus dieser Situation kann nicht sein, eine transnationale und transkulturelle Welt zu fordern. Ethnische Minderheiten, die das Gefühl haben, in ihrem jeweiligen Staat benachteiligt zu sein, werden zu nationalen Freiheitsbewegungen, die ihren einen eigenen Staat fordern. Das ist eine gefährliche Forderung, weil nicht jede ethnische, kulturelle, sprachliche oder religiöse Gruppe einen eigenen Staat fordern kann, zumal dies leicht zu "ethnischen Säuberungen" führen kann. Doch es gibt auch Fälle, bei denen der Hass unterschiedlicher Gruppen so groß ist, dass ein Zusammenleben auf einem Gebiet nicht möglich erscheint und sich eine Zweistaatenlösung als Ausweg anbietet: The Israeli-Palestinian conflict shows that blanket condemnation of nationalism is sometimes worse than grudging acceptance of it. First, condemnation of nationalism sentences the Palestinians to an indefinite period of second class citizenship. There is little reason to believe that the Israelis will treat the Palestinians as equal citizens. Second, such condemnation is simply a formula for further bloodshed. (Ibid.: 162) Diese Überlegungen zur nationalen Identität lassen erkennen, dass die pauschale Forderung nach Abschaffung nationaler und kultureller Grenzen der Komplexität der Welt nicht gerecht wird. Deshalb ist das interkulturelle Verstehen von zentraler Bedeutung, weil es weder die kulturellen Unterschiede abschafft noch verabsolutiert: We approach them [human beings] on the assumption that they are similar enough to be intelligible and make a dialogue possible, and different enough to be puzzling and make a dialogue necessary. We therefore neither assimilate them to our conception of the human nature and deny their particularity, nor place them in a closed world of their own and deny the universality they share with us. (Parekh 2006a: 124) Wir dürfen nach Parekh das Universelle nicht gegen das Besondere und das Besondere nicht gegen das Universelle ausspielen. Für Transkulturalisten sind wir nur aufgeklärte Menschen, wenn wir kulturelle Bindungen als Vorurteile durchschaut haben und einen transkulturellen Raum wahrer Erkenntnis betreten haben. Gegen diese einseitige Bestimmung des Menschen erhebt Parekh Einspruch: <?page no="107"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 107 To be human is to belong both to a common species and to a distinct culture, and one only because of the other. Humans belong to a common species not directly but in a culturally mediated manner. And they belong to a cultural community by virtue of belonging to a common species. They are therefore human in very different ways, neither wholly alike nor wholly different, neither wholly transparent, nor wholly opaque to one another. The similarities and differences are both important and dialectically related. (Ibid.: 124) Anstatt eine transkulturelle Welt zu fordern, müssen wir lernen, mit Unterschieden zu leben. In der Vorrede zu The Boundaries of Citizenship. Race, Ethnicity, and Nationality in the Liberal State weist Jeff Spinner darauf hin, dass sein Leben in der Familie stark von dem jüdischen kulturellen Erbe geprägt war, während er in der Schule erfuhr, dass alle Menschen gleich seien: At home I was taught to distinguish between Jews and non-Jews, that there were differences between these two groups, differences that ought to play an important part in my life. Where I lived and went to school, whom I befriended and dated, were all supposed to be guided by questions of identity. At school, however, I was taught that everyone is equal. Distinctions based on cultural heritage, which is often hard to see, seemed in conflict with this idea of equality. (Spinner 1994: IX) Wir haben oben schon gesehen, dass der liberale Staat mit seiner Trennung in einen öffentlichen und privaten Bereich die Menschen in Schwierigkeiten bringt, weil sie sich nicht so aufspalten können, wie es diese Trennung verlangt. Die Antwort der Transkulturalität ist einfach. Kulturelle und ethnische Unterschiede müssen abgeschafft werden, aber ihre kulturellen und ethnischen Bindungen sind für die Menschen wichtig, so dass sie lernen müssen, Abgrenzungen vorzunehmen, die von den Einzelnen verlangt werden. Spinner fragt sich, "whether there was room in a liberal democracy for cultural differences" (ibid.: X), wobei ihm auch bewusst wird, dass kulturelle Unterschiede mit der Globalisierung nicht verschwunden sind: "People notice - and act on - cultural differences all the time" (ibid.: 1). Beim Umgang mit Unterschieden müssen wir beachten, dass sie uns auch aufgezwungen werden. Rassische Identitäten werden uns nach Spinner aufgezwungen. Was dies bedeutet, erläutert er an dem Schicksal von Cornelius May, der sich unter der ersten Welle der Kolonialisierung in Sierra Leone als gebildeter Gentleman völlig assimiliert hatte, aber am Ende des 19. Jahrhunderts, als der Rassismus aufkam, erfahren musste, dass sich Afrikaner gar nicht assimilieren können: "They were told that they were Black" (ibid.: 14f.). Der Rassismus zwingt den Menschen eine bestimmte Identität auf: "Racism […] strangles the efforts of some to define themselves. It puts limits on what people can and cannot do; it puts some identity out of reach, while offering up <?page no="108"?> 108 other, possibly undesirable alternatives" (ibid.: 16). Auch ethnische Identitäten können von außen verordnet werden, aber hier ist der Spielraum für eigene Entscheidungen größer. Spinner wird von der jüdischen Gemeinschaft angehalten, sein Leben nach jüdischen Werten auszurichten und seine Freunde unter Juden zu suchen; aber in der Schule und anderen öffentlichen Einrichtungen kommt er mit Nicht-Juden zusammen und wird von deren Verhalten beeinflusst. Spinner erfindet das jüdische Mädchen Lisa, um an ihr die Bedeutung ethnischer Identitäten zu erläutern. Lisa muss sich im liberalen Staat nicht anziehen und nicht die Nahrung essen, wie es von Juden verlangt wird, aber sie kann nach jüdischen Vorstellungen leben. Nach Karl Marx beruht der liberale Staat auf der Trennung zwischen dem öffentlichen Leben, in dem wir alle gleich sind, und dem privaten Leben, in dem wir nach unseren ethnischen, kulturellen und nationalen Vorstellungen leben, und verursacht damit die Entfremdung zwischen den Menschen, die darin besteht, dass sich die private Identität gegenüber der staatsbürgerlichen Identität immer durchsetzt. Erst der Kommunismus wird die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufheben. Spinner bezweifelt zunächst, dass sich die private Identität gegenüber der öffentlichen immer durchsetzt: "There is no reason to assume, with Marx, that the Jewish identity will always triumph over his or her identity as a citizen. Of, course, Lisa can also celebrate her Jewish identity if she chooses" (ibid.: 51). Spinner bezweifelt ferner, dass Revolutionen die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich aufheben und sieht in der Auffassung von Marx vielmehr die Gefahr, dass Menschen gezwungen werden, ihre ethnischen und kulturellen Identitäten als rückständig aufzugeben: "A program to force people to give up their different practices can only be accomplished by restricting people's lives in rather painful, draconian ways" (ibid.: 58). Die fortschrittlichen Liberalen glauben wie die Transkulturalisten, dass kulturelle und ethnische Bindungen als Reste einer zurückgebliebenen Zeit von selbst verschwinden. Nach Spinner dagegen verändert zwar der liberale Staat die Bedeutung der ethnischen und kulturellen Bindungen, aber er bringt sie nicht zum Verschwinden, sondern prägt sogar das Verhalten von Menschen, ohne dass es ihnen bewusst ist (vgl. ibid.: 58). Wir müssen den moralischen Monismus, der nur eine einzige Form des "guten Lebens" anerkennt, genauso überwinden wie den Pluralismus, der einen Relativismus impliziert und kulturübergreifende Werte ablehnt, weil jede Kultur für sich bestimmt, was rational und human ist. Beide Auffassungen ignorieren, dass wir lernen müssen, mit kulturellen, ethnischen, religiösen und nationalen Unterschieden zu leben, und dass dabei das interkulturelle Verstehen eine zentrale Rolle spielt. Aber das interkulturelle Verstehen wird nicht nur von der Trans- und Multikulturalität infrage gestellt. <?page no="109"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 109 9. Interkulturelles Verstehen als "Wille zur Macht" Für Ideologiekritiker ist das interkulturelle Verstehen naiv, weil es nicht erkennt, dass Menschen von Kräften und Motiven gesteuert werden, die hinter ihrem Rücken wirken. Wir glauben, Andere verstehen zu wollen, aber in Wirklichkeit sind wir nicht von dem Willen zum Verstehen, sondern von dem Willen zur Macht bestimmt. Das wohl einflussreichste Buch, das diese Auffassung vertritt, ist Edward Saids Orientalism. In ihm definiert er den Orientalismus wie folgt: "In short, Orientalism [is] a Western style for dominating, restructuring and having authority over the Orient" (Said 1987: 3). Der Mensch kann gar nicht anders, als sich in den Dienst seiner Kultur zu stellen. Davon sind die größten Schriftsteller nicht ausgenommen: Auch sie müssen nach Said sagen, was den Wert ihrer Kultur erhöht: "Even the most imaginative writers of an age, men like Flaubert, Nerval, or Scott, were constrained in what they could either experience or say about the Orient" (ibid.: 43). Mit diesem Determinismus wird ein rationaler Dialog unmöglich (vgl. die Ausführungen zur Kritik am Determinismus in Beitrag I Kapitel 5). In Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault betont Andreas Vasilache, wie der Titel seiner Schrift schon andeutet, dass wir nicht nur den Willen zum Verstehen (Gadamer), sondern auch den Willen zur Macht (Foucault) beim interkulturellen Verstehen beachten müssen. Aber die schwierige Frage, wie beide Positionen ineinander greifen, bleibt bei ihm offen. Vasilache ist sich dessen bewusst, dass wir, wenn wir den Willen zur Macht verabsolutieren, nicht mehr den Machtmissbrauch kritisieren können und dass interkulturelle Verstehen als Ziel aufgeben müssen. Diese Konsequenz ergibt sich, so Vasilache "schon aus dem einfachen Umstand, daß das Ziel der Enttarnung des Machtwillens ohne das korrespondierende Ideal einer interessierten und fragenden Haltung, in der der Machtwille zumindest nicht im Mittelpunkt steht, sinnentleert wäre" (Vasilache 2003: 104). Wenn wir den Willen zur Macht als absoluten Wert erheben, identifizieren wir uns mit dem Stärkeren und können Ausbeutung und Unterdrückung nicht mehr kritisieren. Für Latour führt die Auffassung, dass nicht unsere Verstehens- und Erkenntnisfähigkeiten, sondern der Wille zur Macht darüber entscheidet, was wir in wissenschaftlicher, moralischer, ökonomischer und politischer Hinsicht als wahr ansehen, in eine Sackgasse, weil wir dieses Prinzip auf unsere eigenen Erkenntnisse anwenden müssen. Deshalb schlägt er vor: Machtnüchtern sein! Mit anderen Worten: enthalte dich soweit wie möglich der Verwendung des Machtbegriffs, denn er könnte zurückschlagen und die eigenen Erklärungen treffen anstatt das Ziel, das du zerstören willst. Keine <?page no="110"?> 110 machtvollen Erklärungen ohne Kontrollen und Gegengewichte, ohne ' checks and balances. ' (Latour 2005: 72) Der Wille zur Macht kann nicht den Willen zum Verstehen und zur Erkenntnis ersetzen. Deshalb ist die Ideologiekritik fragwürdig, die vielfältigen Motive menschlichen Handelns auf "Macht, Gesellschaft und Diskurs" (Latour 2007a: 15) zurückzuführen sucht (vgl. Beitrag I Kapitel 2). Charles Taylor betont im Rahmen der "politics of recognition" (vgl. dazu ausführlich Beitrag III, Kapitel 1), dass wir fremde Kulturen verstehen müssen, um sie beurteilen zu können. Doch in Anlehnung an Vorstellungen von Nietzsche, Foucault und Derrida wird bestritten, dass wir sie verstehen können, weil wir von dem Willen zur Macht bestimmt werden. Es kommt somit nur darauf an, dass wir uns im Spiel der Macht engagieren. Doch mit einer solchen Argumentation werden wir der "politics of recognition" nicht gerecht, weil Anerkennung impliziert, dass der Andere in seiner Andersheit verstanden werden will. Die Frage nach der Erkenntnis kann daher nicht durch die Frage nach der Macht ersetzt werden, "because in taking sides they [the proponents of the neo-Nietzschean theories] miss the driving force of this kind of politics, which is precisely the search for recognition and respect" (Taylor 1994: 70). Der Wille zur Macht führt nach Taylor zudem zu der verhängnisvollen Konsequenz, dass das Vertrauen in rationale Diskurse und der Anspruch auf Anerkennung unterminiert werden. Wie Taylor kritisiert Gutmann die Reduktion des Verstehens auf Machtfragen. Gerade die Schwachen sind auf Erkenntnis angewiesen, um den Machtmissbrauch der Mächtigen kritisieren zu können (vgl. Gutmann 1994: 19). 10. Exotismus und interkulturelles Verstehen Der Exotismus ist für Victor Segalen eine Ästhetik der Vielfalt und der Differenz, die für ihn notwendig ist, um intensiv leben zu können. Todorov beschreibt ihn wie folgt: "Difference must be valorized, he believes, for only difference ensures intensity. Now feeling is living, or at least is the essential part of life" (Todorov 1993: 326). Das Vergnügen, das uns die Vielfalt gewährt, so der Exotismus, "is beyond justice, beyond good and evil" (ibid.: 327). Wir sollen uns daher an Anderen erfreuen, ohne sie verstehen zu wollen. Nur wenn sie fremd bleiben, können sie unsere Sinne reizen und irritieren. Ethische und ästhetische Perspektiven werden nicht aufeinander bezogen, sondern als Gegensätze gesehen. Fremdheit muss auf jeden Fall erhalten bleiben: <?page no="111"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 111 "the priceless alterity of the Other must be preserved" (ibid.: 328). In der Begegnung mit den Fremden gehen wir aus der Sicht des Exotismus unverändert hervor: "the encounter does not deprive either one of its freedom and identity" (ibid.: 329). Wir können uns nur an Chinesen erfreuen, wenn sie uns fremd bleiben und damit irritieren: "only those who do not feel they are Chinese can take pleasure in contact with Chinese society" (ibid.: 329). Wenn wir den Fremden verstehen, verliert er seinen Reiz und seine Bedeutung für uns. Während Transkulturalität die Differenzen zwischen Kulturen einebnen und auflösen will, weil sie zu Ausgrenzungen und Rassismus führen, wendet sich der Exotismus entschieden gegen Vermischung und Auflösung der Kulturen. Der Exot zieht jede fremde Kultur der eigenen vor, weil sie nicht die eigene ist: "the country with superior values is a country whose relevant characteristic is that it is not my own" (ibid.: 264). Der Exotismus nimmt für sich in Anspruch, dass er das Fremde nicht unter das Eigene subsumiert, sondern es in seiner Fremdheit unverändert bestehen lässt. Aber können wir etwas anerkennen und schätzen, wenn wir es gar nicht kennen? Kann uns ein Fremdes, das wir nicht verstehen wollen, überhaupt herausfordern und irritieren? Stellt der Fremde an uns nicht die Forderung, dass wir ihn verstehen und auf seine Sorgen und Nöte antworten? Hier zeigt sich, wie problematisch der Exotismus ist, der sich als eine ästhetische Einstellung im Gegensatz zu einer ethischen Einstellung begreift. Die Auffassung, die Fremde nicht verstehen will, um sich von ihnen irritieren und reizen zu lassen, erweist sich als in sich widersprüchlich und als egozentrisch. Die Fremden erscheinen als Mittel zur Intensivierung irritierender Gefühle: It is a decidedly ambiguous compliment to praise others simply because they are different from myself. Knowledge is compatible with exoticism, but lack of knowledge is in turn irreconcilable with praise of others; yet praise without knowledge is precisely what exoticism aspires to be. This is the constitutive paradox. (Ibid.: 265) Der Exotismus hält die Fremden auf Distanz: "In order to benefit from exotic experience, people need to remain as far apart as possible" (ibid.: 314). Der Exotismus begreift sich zwar als Gegensatz zum Ethnozentrismus, aber beide sind nicht am Verstehen der Fremden interessiert. Die chinesischamerikanische Schriftstellerin Maxine Hong Kingston hat bei der Lektüre der vielen Rezensionen zu ihrem Buch The Woman Warrior festgestellt, wie sehr die Rezensenten Bezüge zur chinesischen Kultur als dem ganz Anderen, das wir nicht verstehen können, preisen. Sie übersehen dabei nicht nur, dass die Erzählerin des Buches zwar von chinesischen Eltern abstammt, aber eine Amerikanerin ist und nie in China war, sondern bringen mit ihren Urteilen <?page no="112"?> 112 einen Exotismus zum Ausdruck, der Andere gar nicht verstehen will und sie damit als die ganz Anderen ausgrenzt: To say that we are inscrutable, mysterious, exotic denies us our common humanness, because it says that we are so different from a regular human being that we are by our nature intrinsically unknowable. Thus the stereotyper aggressively defends ignorance. (Kingston 1982: 57) Ähnlich wie Kingston argumentiert Claude Lévi-Strass: Diejenigen, die erklären, dass wir Andere nicht verstehen können, "are doing nothing but taking refuge to a new obscurantism" (Lévi-Strauss in Todorov 1993: 85). Wer das Verstehen Anderer als unmöglich ansieht, wendet sich von ihnen ab und negiert ihre Existenz. Der Exotismus ist eine unangemessene Antwort auf den Willen zur Macht. Wir können die Anderen nicht anerkennen, wenn wir nur ihre Fremdheit betonen. Hier wird Fremdheit essentialisiert, und es wird nicht erfasst, dass sie sich nur in der Relation zum Eigenen bestimmen lässt (vgl. Kapitel 7). Die vorbehaltlose Hinwendung zum Anderen kann sich als Form des Monismus enthüllen. Montaigne scheint auf den ersten Blick als radikaler Relativist, wenn er kritisiert, dass wir diejenigen, die nicht unseren Vorstellungen entsprechen, als Barbaren und Wilde verurteilen: "There is nothing barbarous and savage in that nation, from what I have been told, that each man calls barbarous whatever is not his own practice" (Montaigne zitiert in ibid.: 39). Für Montaigne kann es keine universellen Werte geben, weil die Unterschiede zwischen den Menschen größer sind als die zu den Tieren: "There is more distance from one given man to a given man than from given man to a given animal" (Montaigne zitiert in ibid.: 27). Doch Todorov zeigt auf, dass Montaigne gar nicht die Kannibalen zu verstehen sucht, sondern nur den Kannibalen die Werte zuschreibt, die er in seiner Kultur vermisst. Montaigne hält sich für einen Relativisten, der jedoch in Wirklichkeit ein Universalist ist, der im Gewande des Relativisten auftritt. 11. Zur Vermittlung westlicher und asiatischer Kultur Welsch begrüßt die Globalisierung, weil sie kulturelle Grenzen abschafft und eine transkulturelle Konsumkultur entstehen lässt, die er wie folgt beschreibt: "Indio-Lieder in unseren Hitparaden, Karibik-Studios in jeder Kleinstadt, Exotismus in der Mode und Ananas das ganze Jahr" (vgl. Kapitel 1). Im Gegensatz zu Welsch richtet Baumann, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, den Blick auf die Prinzipien und Wertvorstellungen, die die Globalisierung be- <?page no="113"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 113 stimmen, und kommt zu dem Ergebnis, dass sie zur Entsolidarisierung führen und eine "gemeinschaftsfreie Zone" entstehen lassen. In "Zugehörigkeit, Verschuldung und Vermittlung: Zur Ordnung wirtschaftlicher Beziehungen in Südkorea" zeigen Reiner Manstetten und Mi-Yong Lee auf, dass wirtschaftlichen Auffassungen bestimmte Menschenbilder mit ihren jeweiligen Wertvorstellungen zugrunde liegen, und stellen die Frage, ob Asiaten im wirtschaftlichen Bereich das westliche Menschenbild übernehmen sollen bzw. müssen. Ich übergehe ihre Ausführungen zur Bestimmung westlicher und konfuzianischer Werte und wende mich ihren Schlussfolgerungen zu. Westlich orientierte Koreaner betrachten die traditionellen Strukturen der koreanischen Gesellschaft als Hemmnis für eine gelungene Modernisierung: "In ihren Augen ist es nicht nur wahrscheinlich, sondern auch wünschenswert, dass das Korea der Zukunft zunehmend von Beziehungsmustern und Wertvorstellungen geprägt wird, wie sie im Westen üblich sind" (Manstetten / Lee 2006: 160). Eine solche Auffassung wird auch damit begründet, dass die Globalisierung, wie sie gegenwärtig praktiziert wird, alternativlos ist und sich gleichsam naturgesetzlich durchsetzen wird. Manstetten und Lee fragen jedoch unter einer ethischen Perspektive, ob es wünschenswert ist, dass sich der westliche Individualismus global durchsetzt. Sie betrachten diese Frage unter drei Gesichtspunkten: a) Der ethische Universalismus im Sinne Kants geht davon aus, dass es bestimmte Grundsätze und Normen gibt, die für alle Menschen gelten. Dazu gehört, dass nicht nur die Menschen der eigenen Gruppe, sondern alle Menschen die gleichen Rechte haben. Es gibt somit einen inneren Zusammenhang zwischen der Ethik Kants und der modernen Wirtschaft, wenn diese den Grundsatz vertritt, "prinzipiell in jedem anderen Menschen einen möglichen Partner für wie auch immer geartete Beziehungen zu sehen" (ibid.: 160). Daher sind aus der Sicht universalistischer Ethik die traditionellen koreanischen zwischenmenschlichen Beziehungen unzulänglich, weil bei ihnen nicht das Individuum Träger unveräußerlicher Rechte ist, sondern weil es vielmehr verpflichtet ist, das Ansehen der eigenen Gruppe zu fördern. b) Folgt man jedoch nicht der universellen Moral Kants, sondern fragt mit Aristoteles, ob die Beziehungsmuster der koreanischen Gesellschaft ein gutes Leben ermöglichen, lenkt man die Aufmerksamkeit auf die zwischenmenschlichen Beziehungsmuster und wird dabei zu dem Ergebnis kommen, "daß diese Beziehungsmuster dem Leben sehr vieler Koreaner einen Grundzug von Stabilität und das Gefühl fundamentaler Geborgenheit verleihen und ihnen die Möglichkeit geben, soziales Verhalten einzuüben" (ibid.: 161f.). Bedeutet dies, dass hier im Sinne des Kulturalismus und Relativismus zwei unvereinbare Menschenbilder und Kulturen einander gegenüber stehen, die zeigen, dass die Unterschiede zwischen Menschen größer sind als die Gemeinsamkeiten <?page no="114"?> 114 und dass Vermittlungen daher zum Scheitern verurteilt sind? Manstetten und Lee wollen sich mit dieser Alternative nicht zufrieden geben, denn sie sind überzeugt, "dass Kulturen voneinander lernen können" (ibid.: 162). c) Nach Manstetten und Lee schließen sich Kant und Aristoteles nicht aus, sondern können aufeinander bezogen werden: Denn solange ein Mensch die Achtung vor seinen Mitmenschen nur als Postulat kennen lernt, besteht die Gefahr, daß er dem konkreten Anderen gegenüber völlig gleichgültig bleibt. Achtung vor der Person des Anderen erfordert mehr, als ihn nur als Träger von Rechten und den möglichen Wirtschaftspartner zu sehen. Die Achtung muss vielmehr in konkreten sozialen Zusammenhängen eingeübt werden, in denen die Menschen füreinander ein Gesicht annehmen und ein Gesicht zu wahren haben. (Ibid.) Für Manstetten und Lee reicht der Individualismus nicht aus, den Menschen angemessen zu bestimmen. Er ist auch auf das Ur-Vertrauen, das mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gegeben ist, angewiesen: Wichtige ethische Gefühle wie der Sinn für eigene und fremde Schuld sowie das Gefühl der Scham bei unschicklichen Verhaltensweisen lassen sich nur in konkreten, langfristig angelegten Gemeinschaften erlernen. (Ibid.: 162f.) Aus der Sicht von Manstetten und Lee steht Korea vor der Aufgabe, zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Entfaltung des Individuums zu vermitteln. 12. Transkulturalität in Natur- und Kulturwissenschaften Nach dem Höhlenmythos von Platon beschäftigt sich das interkulturelle Verstehen mit Schattenbildern und Vorurteilen. Wer aus der Höhle seiner Kultur heraustritt und sieht, wie die Welt wirklich ist, erkennt, was alle Menschen gemeinsam haben: Alle "teilen eine gemeinsame Ausstattung an Genen, Neuronen, Muskeln, Skeletten, Ökosystemen und Evolution" (Latour 2002a: 12). Mit den Naturwissenschaften scheinen wir auf eine tiefere Ebene der Erkenntnis vorzustoßen, bei der kulturelle Unterschiede bedeutungslos werden: Es mag viele Arten und Weisen der Kindererziehung geben, doch es gibt nur eine Embryogenese. Wenn Streitpunkte auftauchen, brauchen wir daher nur den relativen Anteil von wissenschaftlicher Objektivität, technischer Effizienz, ökonomischem Nutzen und demokratischer Diskussion zu erhöhen, und bald werden sich die Streitpunkte in Nichts auflösen. (Ibid.: 14f.) <?page no="115"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 115 Wenn man den Naturwissenschaften folgt, scheint es, dass wir mit ihrer Hilfe eine transkulturelle Welt herbeiführen können. Sie lassen erkennen, dass wir alle in ein und derselben Welt leben, nämlich "die Welt der Wissenschaft, der Technologie, des Marktes, der Demokratie, der Menschheit, der Menschenrechte" (ibid.: 16). Wer aus der Höhle seiner Kultur heraustritt, verfügt "über einen privilegierten Zugang zur Natur und die von ihr bereits vollzogene Einigung" (ibid.: 17). Insofern konnte der moderne Mensch des Abendlandes schon immer davon ausgehen: "die anderen waren ' Völker ' und ' Kulturen ' ", doch wir Abendländer standen außerhalb von ihnen und standen vor der Aufgabe, "einige übriggebliebene, sich der Modernisierung widersetzende Widerspenstige zu überzeugen" (ibid.: 15). Der hier skizzierte Universalismus hat nach Latour einen entscheidenden Konstruktionsfehler. Die Natur im Sinne der Naturwissenschaften hat "den schwerwiegenden Nachteil, grundsätzlich bar jeder Bedeutung zu sein. Objektive Fakten in ihrer harschen Realität ließen sich weder schmecken noch tasten, noch konnten sie irgendeine wahrhaft menschliche Bedeutung gewinnen" (ibid.: 19). Auf die Frage, was die Dinge für uns bedeuten, gibt die Naturwissenschaft keine Antwort. Sie kann den Menschen nicht als ein sich Ziele und Werte setzendes Wesen, das verantwortlich urteilen und handeln kann, erfassen (vgl. Selbstbestimmung in Beitrag I Kapitel 5 und Urteilsfähigkeit Kapitel 7). Die Naturwissenschaften beschränken sich mit Recht auf determiniert ablaufende Prozesse, deren Erforschung Vorhersagen ermöglicht. Zu ihren großen Leistungen gehört, dass wir heute viele Krankheiten heilen können. Wenn jedoch der Wissenschaftsbegriff der Naturwissenschaften auf das menschliche Handeln angewendet wird, kommt es zu einer antihumanistischen Auffassung von Wissenschaft, weil menschliche Handlungen als Produkte determiniert ablaufender Prozesse betrachtet werden und Selbstbestimmung als Illusion angesehen wird. Eine Reihe strukturalistischer, dekonstruktivistischer und post-strukturalistischer Wissenschaftler versteht sich bewusst als Anti-Humanisten. Lévi-Strauss schreibt über die Aufgabe der Kulturwissenschaften: "I believe the ultimate goal of the human sciences to be not to constitute, but to dissolve man" (Lévi-Strauss in Todorov 1993: 76). Mythen sind für Lévi-Strauss nicht Erfindungen der Menschen, mit denen sie ihr Dasein deuten, sondern sie sind Produkte der Mythen: "We are not claiming to show how men think the myths, but rather how the myths think themselves out in men and without men's knowledge" (Lévi-Strauss in Tallis 1999: 253). Dieser Reduktionismus, der den Menschen als Produkt physiologischer, biologischer, diskursiver und sprachlicher Kräfte begreift, erfasst nicht den Menschen als ein sich selbstbestimmendes Wesen, das verantwortlich handeln kann, und verstrickt sich in einen performativen Widerspruch, weil Wissenschaft selbst rationale und sich selbst bestimmende Wesen voraussetzt. <?page no="116"?> 116 13. "Tyrannischer" und "aufgeklärter" Universalismus In "The Curse and Blessing of Babel, or looking Back on Universalisms" setzt sich Aleida Assmann mit bestimmten Formen des Universalismus auseinander. Dabei geht sie von der Geschichte über den Turmbau von Babel aus, deren Botschaft darin besteht, dass sich der Mensch nicht anmaßen darf, die Einheit der Sprachen und Kulturen herzustellen: "The One is reserved for God, while the Many is the proper dimension of man" (A. Assmann 1996: 85). 3 Einheit gibt es erst mit der messianischen Erlösung: "Messianic unity and unanimity overcome the separation of languages as well as the fatal split between the truth of the heart and lie of the mouth" (ibid.: 86). Es besteht die Sehnsucht nach Einheit, wie wir sie in der Forderung nach Transkulturalität gesehen haben. Im Neuen Testament wird die Geschichte vom Turmbau zu Babel durch die Geschichte vom Pfingstfest abgelöst. Sie beschreibt eine multikulturelle Situation, in der der Heilige Geist das gegenseitige Verstehen ermöglicht: "'Pneuma' like a rush of a mighty wind penetrates and transforms matter. Pneuma for a moment suspends the linguistic curse, not in returning to an original unified language but in achieving unified and immediate understanding via the different languages" (ibid.: 87). Assmann zeigt auf, dass im vierten Jahrhundert beide Geschichten so interpretiert werden, dass Vielfalt für das Böse und Einheit für das Gute steht. Bei Origines heißt es: "You will find that wherever you encounter in Scripture terms like plurality, chasm, division, dissonance or the like, they are evaluated as evil [kakias]. Where you meet unity and unanimousness, however, such terms are synonymous with goodness [aretes]" (ibid.: 88). Während nach der Geschichte von Babel Einheit allein Gott vorbehalten ist, wird durch das Pfingstfest die göttliche Einheit in die Welt getragen: "one god, one Christ, one Spirit, one bishop, one church" (ibid.: 88f.). Es entsteht "a translinguistic unity of the faith, the heart, and the spirit, the church" (ibid.: 89). Dieser einheitlichen Welt stehen nach Augustinus die vielen Sprachen der Heiden gegenüber. Wir stoßen hier auf eine Struktur, die uns schon in Formen des moralischen Monismus und in Platons Höhlengleichnis begegnet ist. Eine transkulturelle Welt steht für das Gute, und die Vielfalt der Kulturen und Sprachen steht für das Böse. Für die Kabbalisten enthüllt die Geschichte vom Turmbau zu Babel, dass die göttliche Sprache, die Verstehen ermöglicht, zerstört worden ist und wir sie erst wieder finden müssen: "Only the divine original language could provide a common heritage and a common frame for all nations of the world" 3 Vgl. die Überlegungen zum Turmbau von Babel in Kapitel 1. <?page no="117"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 117 (ibid.: 90). Immer wieder finden wir auch in der Dichtung Versuche, gleichsam zu einer Ursprache, in der Materialität und Sinn eine Einheit bilden, zurückzukehren. Eine solche Ursprache kann nicht übersetzt werden (vgl. dagegen in Beitrag I Kapitel 7.2 die Auffassung von Weinrich, dass Übersetzungen von Texten grundsätzlich möglich sind). Der Turmbau zu Babel und das Pfingstfest sowie die Vorstellung einer Ursprache, die verloren gegangen ist, verweisen auf einen eschatologischen Universalismus, in dem die Einheit das Gute und die Vielfalt den Zerfall und das Böse darstellen. Aus dieser Perspektive erscheint die Transkulturalität als Rückkehr zu einer verlorenen Einheit. Doch für Assmann handelt es sich hier um einen "tyrannischen Universalismus" bzw. um "the tyranny of the One" (ibid.: 92). Wir können hier auch auf den moralischen Monismus in Kapitel 8.1 verweisen, für den es nur eine einzige wahre Form des 'guten Lebens' gibt. Für die eschatologischen Universalisten gibt es nur das Eine: "they all worship the One. Whether as a political goal or as a spiritual event, whether as a hegemonic claim or as a hidden mystery, the One is the unrivaled hero of all universalisms" (ibid.: 98). Dagegen erkennt der "aufgeklärte Universalismus" die Vielheit an: "While eschatological universalism was based on the coming of the Messiah, enlightened universalism is based on the fact he stays away" (ibid.: 94). Aus den zerstörerischen Kämpfen um die eine absolute Wahrheit geht der "aufgeklärte" Universalismus hervor: "Its vision was not to restore a single faith or a single language but to accept the difference of creeds and languages on the basis of an underlying unity of truth" (ibid.: 92). Assmann beendet ihren Beitrag mit einer Überlegung zu Hugo von Hofmannsthal. Dieser betont nämlich, dass wir die Differenz zu Anderen nicht in einer umfassenden Umarmung auflösen dürfen, sondern dass wir die jeweiligen Verschiedenheiten anerkennen müssen: I think it is not the embrace but the encounter that is indeed the decisive erotic pantomime…. In the embrace, strangeness, estrangement are fatal, cruel paradox - in the encounter, each is shrouded in the eternal solitude as in a precious cloak. (Hofmannsthal in ibid.: 100) Die Überlegungen zum "tyrannischen" und "aufgeklärten" Universalismus führen uns noch einmal eindringlich vor Augen, dass wir mit dem Abschaffen von Unterschieden zu Gunsten einer transkulturellen Welt, in der wir zwischen Eigenem und Fremdem nicht mehr unterscheiden können, vorsichtig sein müssen. In dieser Auffassung sind totalitäre Auffassungen enthalten, die wir im interkulturellen Verstehen überwinden müssen. <?page no="118"?> 118 14. Zur Ethik des interkulturellen Verstehens Menschen werden von ihrer Kultur geprägt, und ihre kulturelle Identität ist für viele ein Teil ihrer individuellen Identität, so dass wir ihnen Leid zufügen, wenn wir sie wegen ihrer kulturellen Identität als minderwertig ansehen oder wenn wir fordern, dass sie ihre kulturelle Identität aufgeben und sich in einem radikalen Sinne als hybrid bzw. transkulturell verstehen. Parekh weist darauf hin, dass wir Menschen nicht auffordern können, aus ihrer Kultur wie aus einem Verein auszutreten: "Unlike voluntary associations, again, they [cultural communities] are not deliberate human creations but historical communities with long collective memories of struggles and achievements and well established traditions of behaviour" (Parekh 2006a: 161f.). Kulturen existieren bereits vor unserer Geburt: Wir werden in sie hineingeboren, was nicht bedeutet, dass wir nur ihre Produkte sind, aber wir können uns nicht einfach über sie hinwegsetzen und über sie verfügen: "culture exists prior to the individual, and we cannot change our culture from one day to the next (as we can change citizenship, by an act of naturalization)" (Todorov 1993: 386). In Out Of Our Heads beschreibt Alva Noë eine Szene mit seinem Vater in New York in den 1970er Jahren, als er ungefähr 11 oder 12 Jahre alt war, und von seinem Vater auf der Straße angeschrieen wurde: "'Stop acting that way immediately. You are behaving like…' He paused to find the right word: 'You are behaving like an American! '" (Noë 2009: 68). Sein Vater war Amerika dankbar, dass es ihn aufgenommen hatte, nachdem er Nazis und Sowjets entkommen war, und er genoss die Freiheit und die Anonymität in New York, aber ein Teil von ihm fühlte sich in Amerika nicht wohl : America, for my father, was brash, unmannered, loud, superficial, and above all foreign. Although he loved me, at that moment, at least, he was revolted - I don't think that is too strong a word - by his very son for being what he - that is, what I - could not help being: a native of this new place. (Ibid.) Interkulturelles Verstehen bedeutet für seinen Sohn, dass er nicht seinen Vater verurteilt, sondern versucht, sich dessen Verhalten verständlich zu machen. Dabei kommt er zu der Einsicht: "The revulsion he felt toward me and the place where he found himself showed just how displaced and indeed, in a way, disfigured he was" (ibid.: 69). Und er verallgemeinert, was er bei seinem Vater beobachtet, zu der Erkenntnis: What my father's plight illustrates is that, at a very basic level, we are involved - that is to say, tangled up - with the places we find ourselves. We are of them. A person is not a self-contained whole or autonomous whole. We are not like the berry that can be easily picked, but rather than the plant itself, rooted in <?page no="119"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 119 the earth, and enmeshed in the brambles. When we transplant ourselves as immigrants get transplanted, when we move from one town to another or one country to another, we suffer injury, however subtly or grotesquely or even painlessly, and so we are altered. (Ibid.: 69) Es mag Menschen geben, die sich freuen, in fremden Kulturen zu leben und ihre kulturellen Bindungen aufzugeben, aber No ë lenkt den Blick auf die Einschränkungen, die wir in einer fremden Kultur erfahren: No matter how good you are at breathing, you can't breathe under water, just as you can't swim where there is no water. And no matter how charming you may be, how wonderful a raconteur, if you find yourself in a strange land where a strange language is spoken, you can't tell a good story - that is, you can't be what you are. You yourself is changed. (Ibid.) Deutlich wird hier, dass interkulturelles Verstehen menschliches Verhalten nicht ausgrenzt, sondern integriert und verständlich macht. Salman Rushdie erforscht sowohl in seinen Romanen und Kurzgeschichten als auch in seinen Essays die Konflikte von Migranten und Einwanderern. In einem der Essays schreibt er: I am speaking now of those of us who have emigrated… and I suspect that there are times when the move seems wrong to us all, when we see, to ourselves, post-lapsarian men and women. We are Hindus who have crossed the black water; we are Muslims who eat pork. And as a result - as my use of the Christian notion of the Fall indicates - we are now partly of the West. Our identity is at once plural and partial. Sometimes we feel that we straddle two cultures; at other times, that we fall between two stools. (Rushdie 1992: 15) Was Rushdie hier andeutet, ist in vielen literarischen Texten eindringlich beschrieben worden, und daher sind sie für das interkulturelle Verstehen von zentraler Bedeutung. Sie bringen uns dazu, die Welt aus der Perspektive von Migranten, Einwanderern und Minderheiten zu sehen (vgl. die Beiträge I und III in diesem Band). Für Mall ist interkulturelle Kompetenz eine "normative Selbsttransformation" (Mall 2003: 197), die uns befähigt, auf Absolutheitsansprüche zu verzichten und uns ermutigt, "mit und in Differenzen zu leben und Diskurse zu führen" (Mall 2000: 344). Alexander Thomas, der wohl prominenteste Vertreter der interkulturellen Kompetenz im Bereich der Wirtschaft, hat Malls Auffassung scharf kritisiert. Für ihn ist interkulturelle Kompetenz eine Berufsqualifikation, die verhindert, dass der deutschen Wirtschaft Aufträge in Milliardenhöhe entgehen: Interkulturelle Kompetenz wird mit zunehmender Internationalisierung und Globalisierung vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens immer stärker zur <?page no="120"?> 120 Schlüsselqualifikation für Fach- und Führungskräfte innerhalb und außerhalb Deutschlands. (Thomas 2003: 137) Interkulturelle Kompetenz ist für Thomas frei von moralischen Ansprüchen und soll nur dem Vorteil des jeweils eigenen Unternehmens verpflichtet sein. Daher macht er sich über die Forderung von Mall, beim interkulturellen Verstehen auf Absolutheitsansprüche zu verzichten, lustig: Was bringt die 'Verzichtsleistung auf Absolutheitsansprüche' der Fach- und Führungskraft eines deutsch-chinesischen Gemeinschaftsunternehmens ein, die die Einhaltung quantifizierbarer Qualitätsmaßstäbe in der Produktion zu garantieren hat? (Thomas 2000: 407) Wenn wir interkulturelle Kompetenz unter strategischen Gesichtspunkten betrachten, sind auch Intoleranz und Gewalt nicht auszuschließen, wenn sie Erfolg versprechen, da, so Thomas, "in der Regel kommuniziert und sogar kooperiert wird, und das zum Nutzen beider Partner, unter Bedingungen intoleranter, einseitig dominierender und einseitig Macht ausübender Beziehungsverhältnisse, und das von Personen, die überzeugt sind, im Besitz der Wahrheit zu sein" (Thomas 2003: 146). Thomas versteht sich als Multikulturalist. Wir können gar nicht anders, als jeweils unsere eigene Kultur als die überlegenere anzusehen. Deshalb zitiert er zustimmend die Kritik von Elsayed Eshahed an Mall, die besagt, dass es absurd und unrealisierbar sei, auf Absolutheitsansprüche verzichten zu wollen: Denn dieses Selbstverständnis [von dem Überlegenheitsgefühl der eigenen Gruppe] ist tief im Unterbewusstsein jedes Menschen verwurzelt und würde, trotz aller auch ernst gemeinter Unterdrückungsbzw. Verdrängungsversuche, sein soziales Verhalten beeinflussen oder gar vorherbestimmen. Dies trotzdem zu erwarten, ist, meiner Ansicht nach, absurd und wird, jedenfalls im Diesseits, unrealisierbar bleiben. (Eshahed in ibid.: 145) Wir sind gleichsam psychologisch gezwungen, die eigene Kultur als die einzig wahre anzusehen. Daraus ergibt sich die Forderung, moralische Fragen aus der interkulturellen Kompetenz auszuklammern und sie als eine Berufsqualifikation zu verstehen. Interkulturelles Verstehen lässt sich jedoch nicht von moralischen Fragen trennen, wie wir in vielen Zusammenhängen gesehen haben. Besonders hervorheben möchte ich hier die in Beitrag I Kapitel 8.3 entwickelte Einsicht von Hans Joas zur "Sakralität der Person". Die Einsicht, dass die Person nicht nur als Mittel, sondern selbst als ein Zweck gesehen werden muss, hat zur Abschaffung von Folter und Sklaverei geführt. Diese Einsicht gilt auch für das interkulturelle Verstehen. Es geht bei ihm um das Verstehen der Sichtweisen Anderer, und daher spielt die Empathie eine kons- <?page no="121"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 121 titutive Rolle. Wir müssen die Bereitschaft mitbringen, uns in Andere hineinzuversetzen und die Welt mit deren Augen zu sehen. Das bedeutet nicht, dass wir das Handeln der Anderen vorbehaltlos akzeptieren, wie die Überlegungen zur Urteilsfähigkeit und zu Schuld und Strafe gezeigt haben. Interkulturelles Verstehen leistet zwei wichtige Funktionen. Es macht uns einerseits bewusst, dass Menschen eine gemeinsame menschliche Natur besitzen: They [human beings] share a common anatomy and physiological processes, stand erect, possess an identical set of sense organs which work in an identical matter, have common bodily-derived sense desires, and so forth. (Parekh 2006a: 116) Gemeinsam ist Menschen, so Parekh, die Fähigkeit zur Rationalität, zum Bilden von Konzepten und zum Sprachenlernen, sowie "the capacity to will, judge, fantasize, dream dreams, build theories, construct myths, feel nostalgic about the past, anticipate future events, make plans, and so on and on" (ibid.). Gemeinsam ist ihnen ferner der Bereich moralischer und nicht-moralischer Emotionen wie Liebe, Hass, Ärger, Wut, Traurigkeit, Mitleid, Großzügigkeit und Kleinlichkeit und die Fähigkeit zur Neugierde und zur Kooperation. Würden wir einem Wesen begegnen, das unsterblich wäre, ganz andere Sinnesorgane hätte und mit seiner Geburt bereits fließend sprechen könnte, würden wir wohl nicht von einem Menschen sprechen. Es gibt jedoch nicht nur die Merkmale und Fähigkeiten, die wir der menschlichen Natur zurechnen, sondern auch diejenigen, die sich aus der Interaktion mit unserer Umwelt ergeben. Dazu gehört, dass wir, um zu überleben, arbeiten müssen und dass wir von der geografischen und historischen Welt, in die wir hineingeboren werden und in denen wir aufwachsen, geprägt werden (vgl. ibid.: 118). Erst wenn wir diese Interaktion beachten, wird auch die historische Dimension der Evolution deutlich. Es wird oft zwischen Geschichte und Evolution in dem Sinne unterschieden, dass in der Geschichte die Menschen selbst über sich entscheiden, während sie in der Evolution von Kräften bestimmt werden, die sich hinter ihrem Rücken abspielen. Für Parekh lässt sich diese Unterscheidung nicht halten, weil Menschen schon immer mit ihrer Umwelt interagieren und sie nach ihren Bedürfnissen gestalten: "In the course of this dialectic with nature, they [human beings] change both themselves and their world, develop new forms of social organization, and acquire new capacities and dispositions" (ibid.: 119). Interkulturelles Verstehen macht uns aber nicht nur unserer Gemeinsamkeiten bewusst, sondern weist auch auf unsere Unterschiede hin. Seine Dynamik entsteht erst in der Wechselwirkung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Selbst wenn Menschen die gleichen Sinnesorgane besitzen, <?page no="122"?> 122 Sprachen lernen, Werkzeuge herstellen und Theorien entwerfen, so werden diesen Fähigkeiten in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Und da wir nicht alle Fähigkeiten gleichzeitig ausbilden können, nehmen Kulturen unterschiedliche Gewichtungen vor: Human beings are not only rational and moral, but also artistic, sensual, sexual, vulnerable, practical and needy beings, and the interplay of these and other dimensions constitutes and structures their humanity or human identity. (Ibid.: 216) Interkulturelles Verstehen kann deshalb dazu führen, dass wir unterschiedliche Lebensformen schätzen lernen und damit der Neigung zum moralischen Monismus begegnen können: Since human capacities and ideals cannot be combined harmoniously, every way of life is necessarily partial. In attaining its characteristic form of excellence, it misses out or marginalizes many a valuable human capacity, emotion and value. Different communities, capturing different dimensions of human existence and exploring it from different angles, complementing each other, and each can learn from a critical and creative engagement with others. (Ibid.: 226) Es gibt Kulturen, die die Unterschiede zwischen Mann und Frau betonen und ihnen eine kosmische Bedeutung zuschreiben, während andere diesem Unterschied nur geringe Bedeutung beimessen. Grundsätzlich können wir sagen, dass erst interkulturelles Verstehen es ermöglicht, unterschiedliche Auffassungen von Liebe, Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit usw. zu erkennen und dass wir in der Auseinandersetzung mit ihnen unsere eigenen Auffassungen klären können. Die unterschiedlichen Auffassungen sind nicht nur eine Art Überbau, sondern bestimmen, wie wir die Welt sehen und wie wir in ihr handeln. Deshalb ist die Forderung nach Abschaffung kultureller Unterschiede illusionär und verhindert die Reflexion über unterschiedliche Sicht- und Handlungsweisen. Bei dieser Reflexion können wir erkennen, dass es nicht nur eine Form des 'guten Lebens' gibt und dass in ihnen jeweils unterschiedliche Momente als wesentlich hervorgehoben werden. Wir erkennen auf diese Weise, dass die Wertvorstellungen einer Kultur ihre Geschichte haben und dass sie nicht von Natur aus existieren. Nach Nietzsche und Foucault verlieren Sichtweise und Werte ihre verpflichtende Bedeutung, wenn wir erkennen, dass sie geschichtlich entstanden sind und kontingente Produkte sind, die sich nicht ewigen Ideen verdanken. Doch zeigt Joas, dass die Menschenrechte nicht entwertet werden, wenn wir erkennen, dass sie geschichtlich entstanden sind (vgl. Joas in Beitrag I Kapitel 8.3.) <?page no="123"?> Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität 123 Nach Todorov müssen wir nicht zwischen Trans- und Multikulturalität wählen, weil die Anerkennung Anderer und die Bindungen an die eigene Kultur sich nicht gegenseitig ausschließen: Just as one need not be ashamed to love one's own family members more than others, without being thereby driven to practice injustice, one need not be ashamed of one's attachment to a language, a landscape, a custom: this is what makes us human. (Todorov 1993: 387) Wir lieben nach Todorov unsere Kinder mehr als die von anderen Eltern, aber das bedeutet nicht, dass wir sie nicht gleich behandeln, wenn sie unsere Kinder besuchen, und er fügt hinzu: "And after all, pity is no less natural than selfishness. It is a property of human beings to see beyond their own interests, and it is because of this that ethical feeling exists" (ibid.: 386). Interkulturelles Verstehen, das nach Mall zu einer "normativen Selbsttransformation", führt und nach Assmann einem "aufgeklärten Universalismus" verpflichtet ist, ermöglicht es, jenseits von Trans- und Multikulturalität mit Anderen zu leben.. <?page no="124"?> III. "Arranged marriages": Interkulturelles Verstehen zwischen Trans- und Multikulturalität: Der Roman (un)arranged marriage und die Autobiografie Shame "Arranged marriages" stellen für liberale multikulturelle Gesellschaften eine Herausforderung dar, weil sie einerseits Minderheiten das Recht gewähren, nach ihren kulturellen, religiösen, ethnischen und nationalen Vorstellungen zu leben, und weil sie andererseits das Recht des einzelnen Individuums auf Selbstbestimmung garantieren und dessen Rechte schützen. Um die damit angesprochene Herausforderung besser zu verstehen, skizziere ich in Kapitel 1 meiner Ausführungen die "politics of recognition", die sich zwischen Trans- und Multikulturalität bewegt. Im Rahmen der "politics of recognition" kämpfen Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Kultur, einer Ethnie, einer Religion oder einer Nation als minderwertig angesehen werden, um die Anerkennung ihrer kollektiven Identität. Das ist notwendig, weil sie ihre kollektive Identität als Teil ihrer Person begreifen. Bei dem Kampf um Anerkennung der kollektiven Identität kann es dazu kommen, dass das einzelne Individuum gegenüber seiner kollektiven Identität abgewertet wird und dass von ihm verlangt wird, dass es sich ihr unterordnet und dessen Werte vorbehaltlos akzeptiert. Es handelt sich dann um das Konzept der Multikulturalität, wie ich es in Beitrag II dargestellt habe. Kulturen werden als in sich geschlossene Gebilde aufgefasst, die für sich bestimmen, was als rational und human gilt, so dass sich das einzelne Individuum nicht kritisch zu den Werten und Normen seiner Kultur verhalten kann. Wie ich aufzeigen werde, lässt sich jedoch die "politics of recognition" nicht auf Multikulturalität reduzieren. Sie lässt sich aber auch nicht auf die entgegengesetzte Position der Transkulturalität reduzieren, die verlangt, dass wir uns von allen kulturellen Bindungen befreien und in einem Bereich jenseits kultureller Unterschiede leben. Genauso wenig wie wir beim Lernen mehrerer Sprachen transsprachlich werden, werden wir beim Verstehen mehrer Kulturen transkulturell. Es geht beim interkulturellen Verstehen, wie wir sehen werden, nicht um das Abschaffen von Grenzen, sondern um die Fähigkeit, uns zwischen und über Grenzen hinweg zu verständigen und uns gegenseitig anzuerkennen. Was diesen Prozess behindert und wie er gefördert werden kann, wird in Kapitel 2 an dem Jugendroman (un)arranged marriage und in Kapitel 3 an der Autobiografie Shame aufgezeigt. Dabei wird deutlich werden, wie Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit bei der Rezeption von Geschichten entwickelt werden können. Nach den sprachlichen Schwierigkeiten können beide Geschichten am Ende der <?page no="125"?> "Arranged marriages" 125 Mittelstufe und am Beginn der gymnasialen Oberstufe gelesen werden. Für (un)arranged marriage gibt es eine Schulausgabe. "Arranged marriages", bei denen Ehepartner vor der ihnen aufgezwungenen Ehe fliehen (in der Regel handelt es sich um Frauen), sind in den letzten Jahren in multikulturellen Gesellschaften wie Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland in den Massenmedien als spektakuläre Ereignisse diskutiert worden. An ihnen lassen sich aber auch grundsätzliche Probleme und Konflikte beim Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften darstellen. 1. "Politics of Recognition" Charles Taylor hat in seinem einflussreichen Essay "Politics of Recognition", der 1994 mit den Kommentaren von Kwame Anthony Appiah, Jürgen Habermas, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer und Susan Wolf unter dem Titel Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition von Amy Gutmann veröffentlicht wurde, überzeugend aufgezeigt, dass in unserer Zeit der Kampf um Anerkennung in einer ganzen Reihe von Emanzipationsbewegungen, angefangen vom Postkolonialismus bis hin zum Feminismus, eine entscheidende Rolle spielt. Diesen Bewegungen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Wertschätzung der eigenen Person von der Wertschätzung der kollektiven Identität, der man angehört, nicht getrennt werden kann, so dass man für die Anerkennung seiner kollektiven Identität kämpfen muss, wenn sie von Anderen herabgesetzt wird: The thesis is that our identity is partly shaped by recognition or its absence, often by the misrecognition of others, and so a person or group can suffer real damage, real distortion, if the people or society around them mirror back to them a confining or demeaning or contemptible picture of themselves. (Taylor 1994: 25). Wenn man als minderwertig angesehen wird, weil man einer bestimmten Kultur, Religion, Ethnie, Nation oder einem bestimmten Geschlecht angehört, und dieses Minderwertigkeitsgefühl verinnerlicht hat, kann man es nicht dadurch überwinden, dass man sich transkulturell, transreligiös, transethnisch, transnational und transgeschlechtlich versteht, sondern muss für die Aufwertung seiner kollektiven Identität kämpfen. So bedeutet der Slogan "Black is beautiful", dass sich Schwarze nicht wegen ihrer Hautfarbe schämen, sondern stolz auf sie sein sollen. Das aber setzt voraus, dass die Weißen ebenfalls ihr Bild von den Schwarzen verändern. Insofern ist die "politics of recog- <?page no="126"?> 126 nition" auf interkulturelles Verstehen und gegenseitige Anerkennung angewiesen. Wie Bedorf aufzeigt, ist unser Bild von uns selbst von dem Bild, das Andere von uns haben, abhängig: "Eine gelingende Identität beruht demnach wesentlich darauf, daß Andere dieses Selbst stützen und bestärken, anstatt durch den Gebrauch herabwürdigender und demütigender Bilder die Herausbildung dieser Identität zu blockieren suchen" (Bedorf 2010: 9). Wir können daher Andere nicht nur als Individuen, sondern müssen sie auch als Teil eines Kollektivs sehen. Das gilt auch dann noch, wenn sie sich von ihrer kollektiven Identität distanziert haben (vgl. Beitrag II Kapitel 7). In seinem Kommentar zu Taylors Essay weist Appiah darauf hin, wie wichtig es ist, dass Menschen lernen, "to see these collective identities not as sources of limitations and insult but as valuable part of what they really are" (Appiah 1994: 161). Deshalb genügt es nicht, dass wir einen Schwarzen, der wegen seiner Hautfarbe als minderwertig angesehen wird, auffordern, sich transethnisch und transkulturell zu verstehen, um sich von den demütigenden Zuschreibungen zu befreien. Es ist vielmehr notwendig, so Appiah, dass das Black Power Movement positive Bilder von Schwarzen entwickelt: "An African-American after the Black Power Movement takes the old script of self-hatred, the script in which he or she is a nigger, and works, in community with others, to construct a series of positive Black life-scripts" (ibid.). Es ist nicht zu bestreiten, dass in diesem Vorgehen die Gefahr liegt, dass die kollektive Identität der Schwarzen essentialistisch gefasst wird, so dass von ihnen ein ganz besonderes Verhalten verlangt wird und dass die Schwarzen, die ihm nicht entsprechen, als Verräter ihrer kollektiven Identität gesehen werden: It is at this point that someone who takes autonomy seriously will ask whether we have not replaced one kind of tyranny with another. If I had to choose between the world of the closet and the world of gay liberation or between the world of Uncle Tom's Cabin and Black Power, I would, of course, choose in each case the latter. But I would not like to have to choose: I would like other options. (Ibid.: 162) Kollektive Identitäten sind keine Wesenheiten, sondern sind das Produkt von Menschen, die an ihnen mitwirken, wobei noch einmal deutlich wird, dass Kulturen keine in sich geschlossenen Einheiten, sondern dynamische Gebilde sind. Daher ist die Multikulturalität, die die Menschen auf ihre Kultur festlegt, genauso problematisch wie die Transkulturalität, die von ihnen verlangt, dass sie sich von kulturellen Bindungen befreien. Wie Appiah wendet sich Steven C. Rockefeller in seinem Kommentar zu Taylors Essay gegen die Multikulturalität, indem er fordert, dass wir unsere individuelle Identitäten nicht kollektiven Identitäten unterordnen dürfen: "To elevate ethnic identity, which is secondary, to a position equal in significance to, or above, a person's uni- <?page no="127"?> "Arranged marriages" 127 versal identity is to weaken the foundations of liberalism and to open the door to intolerance" (Rockefeller 1994: 88). Rockefeller orientiert sich an den Werten des Liberalismus, so dass wir die Kulturen kritisieren müssen, die Werte vertreten, "that are inconsistent with the ideals of freedom, equality, and the ongoing cooperative experimental search for truth and wellbeing" (ibid.: 92). Es geht bei der "politics of recognition" um einen dialektischen Prozess, bei dem sich kollektive und individuelle Identitäten nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern auf einander bezogen sind. Daher kann Amy Gutmann in der Einleitung zu Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition schreiben: Part of the uniqueness of individuals results from the ways in which they integrate, reflect upon, and modify their own cultural heritage and that of other people with whom they come into contact. Human identity is created, as Taylor puts it, dialogically, including our actual dialogues with others." (Gutmann 1994: 7) Wir verhalten uns unterschiedlich zu unseren kollektiven Identitäten, aber wir existieren nicht unabhängig von ihnen. Wir sind nach Taylor Teil eines 'Wir', "because a great deal of human action only happens insofar as the agent understands and constitutes himself as integrally part of a 'we'" (Taylor 1995: 173). Daher kritisiert Appiah die romantische Auffassung der individuellen Identität, die besagt, dass wir uns aus einem inneren Kern in Opposition gegen Konventionen und kollektive Identitäten entwickeln: "my identity is crucially constituted through concepts and practices made available to me by religion, society, school, and state, and mediated to varying degrees by the family" (Appiah 1994: 154). Wir bilden somit unsere Identität nicht aus uns selbst, sondern in der Interaktion mit Anderen. Deshalb fordert Gutmann im Rahmen der "politics of recognition": (1) respect for the unique identities of each individual, regardless of gender, race, or ethnicity, and (2) respect for those activities, practices, and ways of viewing the world that are particularly valued, or associated with members of disadvantaged groups, including women, Asian-Americans, African- Americans, Native Americans, and a multitude of other groups in the United States. (Gutmann 1994: 8) In seinem Kommentar zu Taylors Essay betont Jürgen Habermas, dass wir kollektive und individuelle Identitäten nicht als Gegensätze konzipieren dürfen, da sie sich gegenseitig bedingen. Es gibt keine Subjektivität ohne Intersubjektivität: <?page no="128"?> 128 Denn die Integrität einer einzelnen Rechtsperson kann, normativ betrachtet, nicht ohne den Schutz der intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge garantiert werden, in denen sie sozialisiert worden ist und ihre Identität ausgebildet hat. Die Identität des Einzelnen ist mit kollektiven Identitäten verwoben und kann nur in einem kulturellen Netzwerk stabilisiert werden, das sowenig wie die Muttersprache selbst als ein privater Besitz angeeignet werden wird. (Habermas 1996: 258) 1 Indem Individuen an der Gestaltung ihrer kollektiven Identitäten mitwirken, können diese nicht im Sinne des Artenschutzes bewahrt werden: "Der ökologische Gesichtspunkt der Konservierung von Arten läßt sich nicht auf Kulturen übertragen" (ibid.: 259). Die garantierte Bewahrung einer kollektiven Identität würde ihren Mitgliedern das Recht rauben, sich mit ihnen kritisch auseinander zu setzen: Unter den Bedingungen einer reflexiv gewordenen Kultur können sich nur solche Traditionen und Lebensformen erhalten, die ihre Angehörigen binden, obwohl sie sich ihrer kritischen Prüfung aussetzen und den Nachwachsenden die Option belassen, von anderen Traditionen zu lernen oder zu konvertieren und zu neuen Ufern aufzubrechen. (Ibid.) Mit diesen Überlegungen gewinnen wir wichtige Kriterien für die Beurteilung von "arranged marriages". Doch muss der Begriff der Anerkennung kollektiver Identitäten noch etwas genauer bestimmt werden. Saul Bellow wird die Äußerung zugeschrieben: "When the Zulus produce a Tolstoy we will read it" (zitiert in Taylor 1994: 42). Diese Äußerung ist mit Recht heftig als Ausdruck einer ethnozentrischen Einstellung kritisiert worden. Doch dabei bleibt die Frage offen, wie wir fremde Kulturen verstehen und bewerten. Multikulturalisten werden betonen, dass alle Kulturen gleichwertig sind, weil jede für sich bestimmt, was rational und human ist. Insofern müssen wir sie als wertvoll betrachten und positiv bewerten. Für Taylor ist ein positives Urteil über eine fremde Kultur, das nicht auf Erkenntnis beruht, "an act of breathtaking condescension" (ibid.: 70). Poststrukturalistische Denker glauben, das Problem der Erkenntnis, das sich hier beim interkulturellen Verstehen stellt, dadurch lösen zu können, indem sie Fragen der Erkenntnis auf Fragen der Macht zurückführen. Wer die Macht hat, bestimmt, was wahr ist. "The proponents of the neo-Nietzschean theories hope to escape this whole nexus of hypocrisy by turning the entire issue into one of power and counterpower" (ibid.). Aber die Reduktion des Erkennens auf Fragen der Macht kann das Problem nicht lösen. Die "politics of recognition" wird von dem Bedürfnis nach Anerkennung 1 Ich beziehe mich auf die deutsche Fassung, die für die Veröffentlichung in Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition ins Englische übersetzt wurde. <?page no="129"?> "Arranged marriages" 129 motiviert, und Anerkennung ist ohne Erkennen nicht möglich. Zudem nimmt derjenige, der auf Erkenntnis verzichtet, eine irrationale Einstellung ein und verzichtet auf Argumente, auf die gerade Schwächere angewiesen sind, um den Machtmissbrauch der Mächtigen aufdecken und kritisieren zu können. Nach diesen Überlegungen stellt sich verstärkt die Frage, was Anerkennung für das interkulturelle Verstehen im Rahmen der "politics of recognition" bedeutet. Wie Wolf in ihrem Kommentar zu Taylors Essay nachdrücklich betont, dürfen wir die Anerkennung Anderer nicht davon abhängig machen, was ihre Kultur im Vergleich zu anderen Kulturen geleistet hat (vgl. Wolf 1994: 81). Habermas lenkt die Aufmerksamkeit in die gleiche Richtung, wenn er schreibt: "Das Recht auf gleichen Respekt, den jeder auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen beanspruchen darf, hat nichts mit der vermuteten Existenz seiner Herkunftskultur, also mit allgemein goutierten Leistungen zu tun" (Habermas 1996: 258). Diese Überlegungen zeigen, dass interkulturelles Verstehen Menschen in ihrem Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Identitäten erfassen muss. Deshalb spielen bei ihm Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit eine konstitutive Rolle (vgl. die Beiträge I und II). Wie ich schon in Beitrag II Kapitel 7 aufgezeigt habe, lehnt Welsch die "politics of recognition" entschieden ab, weil sie nur "den Beginn neuer Schrecken" darstellt und der Tendenz nach totalitär ist (vgl. Welsch 1994: 155). Wir haben aber auch gesehen, dass wir auf den Kampf um Anerkennung wie auch auf die "politics of recognition" nicht verzichten können. Das würde bedeuten, dass wir uns nicht gegen die herabsetzenden Urteile über unsere kollektiven Identitäten wehren können. Mit den hier skizzierten Überlegungen zum interkulturellen Verstehen habe ich einen Rahmen entworfen, in dem wir "arranged marriages" verstehen und bewerten können. Nach Appiah haben Eltern das Recht, ihre Nachkommen im Sinne ihrer Traditionen und Werte zu erziehen, doch müssen sie dabei anerkennen, dass es sich hier um dialogische Prozesse handelt, bei denen die Nachkommen das Recht haben, an der Gestaltung ihrer kollektiven Identität mitzuwirken, so dass der Staat einschreiten muss, wenn Eltern ihren Kindern dieses Recht verweigern (vgl. Appiah 1994: 157 und 159). Dieser Einsicht entspricht auch die Gesetzgebung in Großbritannien: "Arranged marriages" werden einerseits als legal akzeptiert und werden andererseits als illegal erklärt, wenn sie Frauen oder Männern aufgezwungen werden (vgl. Hall 2004: 214). In der Bundesrepublik Deutschland wurde 2002 die Zwangsheirat als ein Fall besonders schwerer Nötigung ins Strafrecht aufgenommen und kann mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis sechs Jahren belegt werden. <?page no="130"?> 130 Man kann gegen die Beschäftigung mit "arranged marriages" im Unterricht einwenden, dass sie ein negatives Bild von der fremden Kultur entwerfen, so dass zu befürchten ist, dass sich Schülerinnen und Schüler von dieser Kultur distanzieren und sich in ihren ethnozentrischen Einstellungen von der Überlegenheit der eigenen Kultur bestärkt fühlen, und dass "arranged marriages" dafür eingesetzt werden, um fremde Kulturen abzuwerten. Dagegen lässt sich einwenden, dass die in den Texten dargestellten Kulturen nicht einheitlich sind und dass schon die Protagonisten zeigen, dass sie sich gegen die vorherrschenden Normen ihrer Kultur auflehnen, so dass Kulturen als dynamische Gebilde ins Blickfeld treten. Ferner regen die beiden ausgewählten Texte Schülerinnen und Schüler an, sich mit den Protagonisten über kulturelle Grenzen hinweg zu identifizieren und sich in moralischer und emotionaler Hinsicht zu engagieren. Es geht bei ihrer Rezeption um "starke Wertungen" ("strong evaluations") (Taylor 1999: 16), bei denen Werte wie Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Gehorsam, Ehre, das Recht auf individuelles Glück und Verpflichtungen gegenüber der Familie angesprochen werden. Ein Unterricht, der zur Werterziehung beitragen will, muss Situationen schaffen, in denen Werte zur Diskussion stehen (vgl. Bredella 2010: 3-11). 2. (un)arranged marriage von Bali Rai Der Jugendroman (un)arranged marriage von Bali Rai ist insofern außergewöhnlich, als dass das Opfer der "enforced marriage" nicht weiblich, sondern männlich ist. Der Roman beginnt mit einem Prolog, in dem der Protagonist und Ich-Erzähler Manny das Ende des Romans vorwegnimmt. Er befindet sich in der Autobahnraststätte Leicester Forest East, um sich seines Hochzeitsanzuges zu entledigen, während draußen im Auto seine beiden Brüder Ranjit und Harry auf ihn warten, um ihn zu seiner Hochzeit zu bringen, "that I hadn't asked for, that I didn't want, to a girl who I didn't know" (6) 2 . Er hat diese spektakuläre Flucht für den Tag seiner Hochzeit geplant, um Rache an seiner Familie zu nehmen. Mit Genugtuung und Verbitterung stellt er fest, dass sie jetzt einsehen werden, wie wenig sie ihn als Person respektiert haben: You see, if they had bothered to open their own eyes they would have seen me: seventeen, angry, upset but determined. Determined to do my own thing, to choose my own path of life. They would have seen the marker left in those toi- 2 Alle Seitenzahlen in diesem Kapitel beziehen sich auf Rai 2001. <?page no="131"?> "Arranged marriages" 131 lets at Leicester Forest East and realized that, under my ill-fitting suit, I had on my real clothes. (6) Der Prolog endet mit den Worten: "It's kind of hard to explain the journey that I've made over the last few years, but I'll try because I believe that it's a story worth telling" (7). Ob es sich um eine Geschichte handelt, die wert ist, erzählt zu werden, wird der Leser am Ende des Romans beantworten können. Wenden wir uns zunächst dem zu, was erzählt wird, um zu verstehen, wie es zu der spektakulären Auflösung der "arranged marriage" kommt. Mannys Eltern sind aus dem Punjab nach England gekommen, um in Großbritannien ein besseres Leben führen zu können, aber sein Vater macht in den Gesprächen mit seinem Sohn immer wieder deutlich, dass er die englische Kultur bzw. die der Weißen verachtet: "We are Punjabis. Manjit. Punjabis. Not bloody gore […]. We are Punjabis and proud of it. Good Jat Sikhs from a good family" (18). Seine punjabische Kultur sieht Mannys Vater in England bedroht. Daher betrachtet er es als seine Aufgabe, die punjabische Kultur vor dem Zugriff und dem Schmutz der Weißen zu retten und gibt seinem Sohn den Rat, dass er darauf achten müsse, "not to become too white for your own family" (18). Das Bedürfnis, die eigene Kultur und Tradition in der Fremde zu bewahren, nimmt hier rassistische Züge an. Manny selbst wirft seinem Vater vor, ein Rassist zu sein, wenn er von ihm verlangt, dass er sich von seinem schwarzen Freund Ady trennt: "That kalah will lead you into drugs. I watch the news, boy, I know what these kaleh are bloody doing, taking bastard drugs. Bad society. You'll be stealing and smokin" (13). Mannys Vater nimmt Ady nicht als Person wahr, sondern sieht in ihm nur einen Schwarzen. Mannys Bruder Harry lässt keine Gelegenheit aus, um Ady als Schwarzen herabzusetzen. Als Manny ihm vorwirft, dass er sich rassistisch verhalte, entgegnet er ihm: "No, I ain't. I'm just proud to be Punjabi. At least I ain't ashamed, innit, of what I am and that. You always trying to be white, that's your problem" (16). Die Aufwertung der eigenen Kultur ist für Mannys Vater und seinen Bruder Harry mit Abwertung der Kultur der Anderen verbunden. Frauen spielen bei der Bewahrung der eigenen Kultur eine zentrale Rolle. Deshalb gilt es, ihre Reinheit zu beschützen, während Frauen der anderen Kultur als Huren verachtet werden, um deren Kultur herabzusetzen. Ich werde auf diesen Mechanismus bei der Interpretation von Shame noch etwas genauer hinweisen. Während Mannys Vater und seine Brüder sich von anderen Kulturen abgrenzen, bejaht Manny die multikulturelle Gesellschaft in Großbritannien und fühlt sich in ihr zu Hause. Grenzen sind für ihn nicht absolut, und er fühlt sich daher nicht ausgegrenzt: <?page no="132"?> 132 I mean, I was born in England. I liked being born in England. It was my home. If you struck me on the streets of Delhi or Mumbai I wouldn't have a clue what to do or where to go. In England I knew how things worked. Man, England was my country and Ady's. Ours. (22) Eine für das Verstehen des Romans zentrale Aufgabenstellung könnte darin bestehen, dass Schüler Mannys Englandbild mit dem seines Vaters und seiner Brüder vergleichen. Dabei könnte auch deutlich werden, dass Mannys Vater zwar den Anspruch erhebt, die punjabische Kultur zu verkörpern, aber dass es in der punjabischen Kultur auch andere Sicht- und Handlungsweisen gibt: Ekbal's old man was a doctor and he was the exact opposite of my old man, really forward-thinking and chilled out. Ekbal was allowed to do what he wanted within reason as long as he studied hard and made sure he went to university. (14) Es gehört zum interkulturellen Verstehen, dass die Mitglieder einer Kultur unterschiedlich positioniert sind und dass sie unterschiedliche Aspekte ihrer Kultur betonen. Dabei spielen Bildungsunterschiede eine wichtige Rolle. Für Ekbals Vater sind Erziehung und Bildung wichtig, während Mannys Vater und seine Brüder sie verachten: "They thought that school was a waste of time" (12). Manny beneidet Ekbal um seine Familie: "Eky was so lucky. My whole family life - it just seemed so claustrophobic, so unnatural. I couldn't imagine having to live like that" (14). Der Konflikt zwischen Manny und seinem Vater bricht offen aus, als dieser ihm, als er 13 Jahre alt ist, eröffnet, dass er an seinem 17. Geburtstag heiraten wird: "Good. I have a friend whose daughter is only a few months older than you. She will be coming here on a visitor's visa and he needs to find her a husband so that she can stay in England" (19). Manny begreift nach einigen Auseinandersetzungen mit seinem Vater, dass er ihn nicht von seiner Entscheidung abbringen kann, weil er von einem guten punjabischen Sohn Gehorsam erwartet und weil die Auflösung einer "arranged marriage" mit dem Verlust seiner Ehre in der punjabischen Gemeinde verbunden wäre: "I mean, they weren't going to lose face over it, not their precious izzat (honour). And if they were deadly serious then I was in big trouble" (36f.). Zudem wird sein Vater die Entscheidung über die "arranged marriage" schon deshalb nicht zurücknehmen, weil es um einen Sieg der punjabischen Kultur über die englische Kultur geht: "his beloved Punjabi culture had won out against the dirty, corruptive, white culture of the country which he had chosen to make his home" (6). Indem Manny realisiert, dass er seinen Vater nicht umstimmen kann, stellt sich für ihn die Frage, wie er die "arranged marriage" verhindern könne. Dabei kommt er auf die Idee, dass er sich so schlecht benehmen müsse, dass <?page no="133"?> "Arranged marriages" 133 er als Schwiegersohn nicht mehr akzeptabel sei: "There was only one thing for it. I'd have to make myself as unsuitable as possible. What father-in-law in his right mind would want a thief and a smoker for a son-in-law" (37). Hier wird sich der Leser fragen, ob Mannys Entscheidung erfolgsversprechend oder selbstzerstörerisch ist. Eine Folge seines Verhaltens ist, dass er immer wieder in Situationen kommt, in denen er von seinem Vater und seinen Brüdern bestraft wird, und dass diese Bestrafungen seine Empörung und seinen Hass gegen die eigene Familie steigern. Als sein Vater realisiert, dass er Mannys Widerstand nicht brechen kann, wendet er eine List an. Er überredet ihn, mit der ganzen Familie ihre Verwandten im Punjab zu besuchen, und verspricht ihm, dass er danach entscheiden könne, ob er die "arranged marriage" eingehen wolle oder nicht. Doch die Familie kehrt nach England zurück und lässt ihn in Indien zurück, wo er, so erhofft sein Vater, ein ' guter Punjabi' werden wird, der die "arranged marriage" akzeptiert. Hier bietet sich die Aufgabe an, dass Schülerinnen und Schüler das Indienbild, das Manny bei seinem Besuch gewinnt, mit dem seines Vaters vergleichen. Mit Hilfe von Jag, einem Onkel der Familie, gelingt es Manny, nach England zurückzukehren. Nach seiner Rückkehr gibt Manny vor, in die "arranged marriage" einzuwilligen, um sich dann an dem Tag der Hochzeit an seiner Familie zu rächen. Wie beurteilen wir als Leser seine Rache? Manny selbst blickt am Ende des Romans kritisch auf sie zurück. Er wollte mit seiner Rache die punjabische Kultur und die Religion der Sikhs, die beide zur Rechtfertigung von "arranged marriages" herangezogen werden, bloßstellen. Jetzt stellt sich jedoch die Situation für ihn anders dar: "I confused all the hate that I felt for my family and their stupid traditions with being Sikh or being a Punjabi. It was all one big whole to me, maybe because I was too young to see the difference" (174). Zudem wird ihm bewusst, dass sein Racheakt unschuldige Menschen verletzt: "I also disrespected the girl's family and it wasn't their fault. And I disrespected the temple and Sikh religion and I never meant to do that" (174f.). Manny glaubt, dass man zwischen Religion auf der einen Seite und Kultur, Politik und sozialen Normen auf der anderen Seite trennen müsse, während sein Vater diese Bereiche vermischt habe: The problem is that my old man tied in all these old traditions to the religion - arranged marriages, all that racist shit, the caste system stuff, things which are nothing to do with religion and more to do with culture and politics and social norms. (175) Hier stellt sich die Frage, ob man diese Bereiche so trennen kann, wie es Manny vornimmt. <?page no="134"?> 134 In dem Jugendroman Them and Us beschäftigt sich Rai mit Fragen des Rassismus aus der Perspektive der Weißen und aus der der Einwanderer. Wenn in (un)arranged marriage der punjabische Vater von seinem Sohn verlangt, sich von seinem schwarzen Freund zu trennen, so fordert in Them and Us der weiße Vater von seinem Sohn David, sich von seinem asiatischen Freund zu trennen: "My best mate back then was an Asian lad called Binny and dad hated him. He hates anyone that ain't white and English" (Rai 2009: 3). David erfährt aber nicht nur den Rassismus seines weißen Vaters, sondern auch den von jugendlichen asiatischen Einwanderern, als er eine Schule besucht, deren Schüler fast ausschließlich junge Asiaten sind. Tahier, einer dieser Jugendlichen, rät ihm, die Schule zu verlassen: "Best you just go back to white man land, innit" (ibid.: 19). Tahier setzt sich entschieden von der Kultur der Weißen ab. Als ein Lehrer über die religiöse Bedeutung von Weihnachten spricht, betont er, dass er nichts über Weihnachten wissen wolle: "It's a white man ting and there ain't many of them around here" (ibid.: 23). Als David ihm entgegen hält, dass Weihnachten das wichtigste Fest in England sei und dass er in England lebe, erwidert er: "I ain't no white boy and I ain't no Christian. We shouldn't even celebrate white people tings at this school … that's what my dad says" (ibid.: 26). David weist ihn darauf hin, dass er in Großbritannien geboren und daher britisch sei. Doch Tahier bestreitet, britisch zu sein: "Being born here don't mean nutting to me. I ain't British" (ibid.: 27). Das ist die Parallele zu einer Szene in dem Jugendroman Smash von Robert Swindells, in der ein rassistischer Weißer einen Jugendlichen als Paki beschimpft. Als er darauf hingewiesen wird, dass dieser Jugendliche in England geboren sei, erwidert er: "Don't matter where he's born, a Paki's a Paki. Even if his bleedin' granny was born here, he's still a Paki" (Swindells 1997: 16; vgl. dazu Bredella / Burwitz-Melzer 2004: 159-164).). Rassisten ontologisieren ethnische und kulturelle Unterschiede und verhindern damit die Einsicht in den dialogischen Charakter zwischen individuellen und kollektiven Identitäten, wie er in Kapitel 1 bei der "politics of recognition" beschrieben worden ist. 3 3 Ähnlich wie Tahier verhält sich der Islamist Hassan Butt, den Bhikhu Parekh in A New Politics of Identity. Political Principles for an Interdependent World zitiert. Er erkennt keine Verpflichtungen gegenüber der englischen Gesellschaft an: "My allegiance is to Allah, his Sharia, his way of life. Whatever he dictates as good is good, whatever as bad is bad" (in Parekh 2006b: 138). Auf die Frage, ob er sich nicht zu den britischen Gesetzen bekenne, antwortet er, dass diejenigen Mosleme, die in England geboren sind, sich nicht an die britischen Gesetze halten müssen: "They did not ask to be born here, neither did they ask to be protected by Britain" (ibid.). Parekh hält dieser Argumentation entgegen, dass er nicht seine Eltern gewählt habe und dass er dennoch Ver- <?page no="135"?> "Arranged marriages" 135 Tahier findet in Faz einen Gegenspieler, der den Rassismus, wie ihn Tahier und seine Freunde vertreten, entschieden ablehnt. Nach seiner Auffassung werden Menschen zu Rassisten, um Schuldige für ihr eigenes Versagen zu finden: "Always blaming every one for their problems. Half the family are like Yusuf and them [Tahier's friends]. Everything is the fault of white people, although they create that crap for themselves, you get me? " (Rai 2009: 45). Dieser Rassismus beruht auf einem Fundamentalismus, der nach Bhikhu Parekh darauf zurückzuführen ist, dass Menschen, die moralisch, ökonomisch und politisch verunsichert sind und eine Identitätskrise erleiden, sich daher nach einer verlässlichen Ordnung sehnen. Dafür eignen sich Religionen, wenn sie auf "the so-called fundamentals" reduziert werden: "he [the fundamentalist] aims to provide a neat, unambiguous, exclusive and easily intelligible definition of religion" (Parekh 2006b: 143). Dabei liest der Fundamentalist die heiligen Texte so, dass aus ihnen unmittelbar Taten folgen. Man will sich nicht mit unterschiedlichen Interpretationen auseinandersetzen, sondern das Böse in der Welt bekämpfen, wobei man sich als "God's humble soldier" (ibid.: 194) versteht. Daher die Bereitschaft zum bedingungslosen Einsatz und zur Gewalt und die mangelnde Bereitschaft zur Anerkennung Anderer. In seinem Buch Abenteuer des Zusammenlebens zeigt Zvetan Todorov auf, dass sich Menschen vorbehaltlos in den Dienst von Rassismus und Fundamentalismus stellen, weil sie dadurch glauben, die Anerkennung, die ihnen sonst versagt ist, durch die Gruppe zu gewinnen und damit ihre Unsicherheiten und Identitätskrisen überwinden zu können: Ich gebe dann meine ganze Kraft, um den Sieg meiner Gruppe zu sichern, bin sogar bereit, zum Märtyrer zu werden und kämpfe gegen alle rivalisierenden Gruppen; diese Identifizierung mit dem Interesse der Gruppe sichert mir eine dauerhafte, gefestigte Anerkennung. Man könnte diese übertriebene Form des sozialen Konformismus als Fanatismus bezeichnen. (Todorov 1998: 117) Die Unterordnung unter die kollektive Identität wird zur Tugend erhoben und die kollektive Identität idealisiert. Wie Parekh weist auch Habermas darpflichtungen ihnen gegenüber anerkenne. Daher ist es nur logisch und konsequent, die jeweiligen Gesetze, in die man hineingeboren worden ist, zu befolgen. Auch fordert der Koran, dass man Gutes mit Gutem vergelte. "Since the Qur'ān requires that he should do good to those who have done good to him, he owes the 'Islamic' duty of reciprocity to his fellow citizens, including to respect the law" (ibid.: 138). Doch der Rassist akzeptiert nicht die gegenseitigen Verpflichtungen, weil er dogmatisch die Überlegenheit seiner Kultur behauptet. <?page no="136"?> 136 auf hin, dass der Fundamentalismus eine Antwort auf erfahrene Unsicherheiten darstellt und dadurch gekennzeichnet ist, dass man es entschieden ablehnt, sich mit konkurrierenden Geltungsansprüchen auseinanderzusetzen: "Sie [fundamentalistische Weltbilder] lassen keinen Platz für 'reasonable disagreement " (Habermas 1996: 262). Vor diesem Hintergrund kann eindringlich deutlich werden, wie wichtig interkulturelles Verstehen ist, bei dem Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit entwickelt werden. Wenn Fundamentalismus eine Antwort auf Unsicherheit ist, wird auch deutlich, dass er in der modernen Welt nicht von selbst verschwinden wird. Er ist nach Parekh selbst ein Produkt der Moderne: "Fundamentalism does, no doubt, revolt against parts of modernity, but with modernist weapons, in a modernist spirit, and in the interests of modernist view of religion. It is at bottom an illegitimate child of modernity, inconceivable outside it" (Parekh 2006b: 145). Ich habe bei der Interpretation von (un)arranged marriage nur auf einige Aufgaben, die mir für das Verstehen des Romans wesentlich erscheinen, hingewiesen. Detaillierte Aufgaben und zusätzliche Texte finden sich in dem von Mechthild Hesse und Miriam Bögel (2008) herausgegebenen Teacher's Guide zu (un)arranged marriage. 3. Shame von Jasvinder Sanghera In der "politics of recognition" spielt der Feminismus eine entscheidende Rolle. Es handelt sich bei ihm, wie Habermas bemerkt, zwar nicht um eine Minderheit, "aber er richtet sich gegen eine herrschende Kultur, die das Verhältnis der Geschlechter auf eine asymmetrische Weise interpretiert, welche Gleichberechtigung ausschließt" (Habermas 1996: 246). Im Unterschied zum Kampf unterdrückter ethnischer und kultureller Minderheiten kann sich der Kampf der Frauen um Anerkennung nicht auf überkommene Traditionen berufen, sondern muss vielmehr erst neue Frauenbilder schaffen. Zudem strebt er nicht nur die Veränderung der Sicht- und Handlungsweisen der Mitglieder einer anderen Kultur, sondern auch die Veränderung des Selbstverständnisses der Männer in der eigenen Kultur an. Susan Wolf sieht den Unterschied zwischen Multikulturalismus und Feminismus darin, dass Multikulturalismus dafür eintritt, dass die kulturellen Unterschiede von Gruppen nicht zu Gunsten universalistischer Auffassungen eingeebnet, sondern anerkannt werden, während der Feminismus im Gegensatz dazu, mit dem Problem konfrontiert wird, dass Männer die Unterschiede <?page no="137"?> "Arranged marriages" 137 zu Frauen verabsolutieren, so dass Frauen dafür kämpfen müssen, als Individuen gesehen zu werden: The failures of recognition most evident in this context are, first, a failure to recognize women as individuals, with minds, interests, and talents of their own, who may be more or less uncomfortable with or indifferent to the roles their gender has assigned them, and second, the failure to recognize the values and skills involved in the activities traditionally associated with women. (Wolf 1994: 77) Diese Einsicht gilt es zu beachten, wenn es um das Verstehen von "arranged marriages" in Shame geht, und sie kann auch schon erkennen lassen, warum es in bestimmten Kulturen zu heftigen Auseinandersetzungen um "arranged marriages" kommt. Für Minderheiten, die um die Anerkennung ihrer Lebensformen kämpfen, spielt das Frauenbild eine zentrale Rolle. In Shame erwartet die Mutter der Protagonistin Jas von ihren Töchtern, dass sie als gute Ehefrauen die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Ehemänner erfüllen und die Ehre ihrer Familie beschützen. Als Ginda sich bei ihrer Mutter über das Verhalten ihres Ehemanns beschwert, erwidert ihre Mutter: "It's your duty to look after your husband and to please him" (21). 4 Als sie ihr entgegenhält, dass er sie nicht respektiere und wie einen Dienstboten behandele, betont sie, dass er als Herr des Hauses zu einem solchen Verhalten berechtigt sei: "This is his house, he can behave as he wishes. Stop that crying, crying does no good. You must learn how to calm him" (21). Nach ihrer Sicht sollen ihre Töchter den Sinn ihres Lebens darin sehen, dass sie auf die Familienehre achten: "It is your duty to have a respectful marriage and to uphold the good name of your family. That is the very least that your father and I expect" (22). Es wird von Frauen erwartet, dass sie sich dem vorherrschenden Frauenbild in ihrer Kultur unterordnen. Eine wesentliche Aufgabe für das Verstehen von Shame besteht darin, dass Schüler dieses Frauenbild näher bestimmen, weil nur vor seinem Hintergrund "enforced marriages" verständlich werden. Im Prolog von Shame erfahren wir als Leser, dass Jas vor ihrer Familie geflohen ist, weil sie den Gedanken an eine "arranged marriage" nicht ertragen konnte, und dass sie es nach ihrer Flucht nicht ertragen kann, den Kontakt zu ihrer Familie verloren zu haben: "I couldn't go another day without speaking to someone from my family. I wanted to talk to my mum, to hear her voice ring with pleasure and relief when she said my name, to know that she and Dad were missing me" (1). Aber ihre Mutter ist nicht bereit, mit ihr zu sprechen, und verstößt sie, weil sie Schande, "shame", über ihre Familie gebracht habe: "Shame and dishonour were what Mum dreaded more than anything. I 4 Alle Seitenzahlen in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf Sanghera 2007. <?page no="138"?> 138 should have known she wouldn't forgive me" (3). Die Flucht vor der "arranged marriage" stürzt Jas in einen Konflikt, der sie zu zerstören droht: "Sometimes my homesickness and guilt and fear and loneliness would chase each other round my mind so furiously that I felt possessed" (82). Jas hat aus der Perspektive ihrer Familie ein doppeltes Verbrechen begangen. Sie hat nicht nur die "arranged marriage" gebrochen, sondern ist auch noch mit dem Mitglied einer niedrigen Kaste geflohen: My mum always told me that chamars are the lowest caste, they are the people who pick up the dung in the fields, some people call them untouchables. My family are jats; back in India jats are landowners and no matter that the only land my dad owns in Derby is the patch of grass behind the terraced house, being high caste was a very big thing for us. (3) Als Jas es schließlich gelingt, mir ihrer Mutter zu sprechen, wird sie von ihr beschimpft: "I hope you give birth to a daughter who does to you what you have done to me, then you'll know what it feels like to raise a prostitute" (3). Die Bedeutung der kulturellen Normen, unter denen Jas aufgewachsen ist, sind so stark, dass sie für einige Jahre glaubt, dass sie mit ihrer Flucht vor der "arranged marriage" ein Verbrechen begangen habe: "For years that's how I saw our escape; I felt I was the baddy and my family were the goodies and that didn't feel nice" (75). Auch wenn nach Jahren ihre Mutter bereit ist, sich mit ihrer Tochter zu treffen und mit ihr zu sprechen, muss es im Geheimen geschehen, weil die Gemeinde erwartet, dass sie sich von ihr, die die Ehre der Familie befleckt hat, distanziert. Wie sehr Jas an ihre Eltern gebunden ist, zeigt sich auch darin, dass sie ihre Autobiografie nicht nur ihrer Schwester Robina, die an den Qualen einer "arranged marriage" zerbricht, sondern auch ihren Eltern, "who I now know wanted what they thought was best for me", widmet. Für ihre Eltern gibt es keinen höheren Wert als die Ehre der Familie. Jas sagt von ihrer Mutter: "Her main concern was always that we maintain the family's good name and grow up to be good daughters-in-law who were respectful, subservient and knew how to cook" (10). Die Familie müsse um jeden Preis geschützt werden: Keeping a good face in the community was a very big thing for her. From when we were little she taught that no matter what was going on in your life you kept your head high and presented a perfect front. (11) Wie wichtig das Verhalten von Mädchen und Frauen für die Ehre der Gemeinschaft gerade in der Fremde ist, wird deutlich, als sich Jas mit 14 Jahren ihre Zöpfe abschneiden lässt. Sie wird dafür schwer bestraft, weil sie sich damit wie ein weißes Mädchen verhält und Schande über ihre Familie bringt: "Do you want to look cheap like the white girls? Do you want them talking about you in the gurdwara? Was it your plan to bring shame on your family? " <?page no="139"?> "Arranged marriages" 139 (37). Um zu verhindern, dass es in der Gemeinde bekannt wird, was Jas getan hat, muss sie für einige Zeit, bis ihre Haare nachgewachsen sind, bei ihrer Schwester Prakash in London leben: "Here you are dishonouring your family, picking up western ways. I can't control you and Prakash needs some help in the home" (38). Wie Nira Yuval-Davis aufzeigt, wird Frauen eine zentrale Funktion bei der Bewahrung der ethnischen Identität zugeschrieben: "Women need not only to bear, biologically, children for the collectivity, but also to reproduce it culturally" (Yuval-Davis 2000: 195). Für die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen "them" und "us" sind Frauen die symbolischen Wächter ihrer "imagined community". Das muss Jas schmerzhaft erfahren: "The worst thing you can say to an Asian girl is that she is behaving like a white girl" (7). Die Auffassung, dass Frauen die Hüter der symbolischen Ordnung sind, kann erklären, warum bei Konflikten zwischen feindlichen ethnischen und kulturellen Gruppen Frauen der anderen Gruppe erniedrigt werden. Man will damit demonstrieren, dass deren Lebensordnung zerstört ist. Frauen als Hüter der jeweiligen Lebensform kann auch erklären, warum Mädchen viel strenger als Jungen erzogen werden: "Women's distinctive ways of dressing and behaving very often - especially in minority situations - come to symbolize the group's cultural identity and its boundaries" (Yuval-Davis 2000: 196). Jas erfährt mit Verbitterung, dass ihr Bruder Freiheiten erhält, die ihr verwehrt sind. Jas gelingt es durch ihre enorme Kraft zur Selbstbehauptung, dass sie sich nicht durch das, was ihr durch die Flucht vor der "arranged marriage" widerfährt, zerstören lässt, sondern für ihre Selbstbestimmung und die anderer Frauen kämpft. Mit einem erfolgreichen Studium unter schwersten Bedingungen schafft sie die Voraussetzung für die Gründung der Hilfsorganisation Karma Nirwana, die Frauen nach ihrer Flucht vor "arranged marriages" beim Aufbau einer neuen Identität unterstützt. Diese Unterstützung ist notwendig, weil mit der Flucht vor "arranged marriages" Frauen ihre bisherige Identität verlieren. Shazia, eine der Frauen, die in der Hilfsorganisation Schutz findet, stellt fest: "I ran away because I could not be the person Mum wanted, but I don't know how to be anybody else" (277). Wie in Kapitel 1 dargestellt, existieren wir nicht allein aus uns selbst, sondern sind auf die Interaktion mit Anderen angewiesen. Ohne Unterstützung geraten die Frauen, die vor einer "arranged marriage" fliehen, wie Shazia berichtet, in neue Abhängigkeiten: "I ran away to be free, but now I feel I've swapped one prison for another" (277). Für Jas ist es wichtig, dass Frauen "enforced marriages" nicht als Ausdruck ihrer asiatischen Identität sehen, sondern für die Veränderung ihrer kollektiven Identität kämpfen: Running away mustn't mean you have to shrug off your whole identity. Pullback to the culture you grew up with is very strong. I'd learnt by then that <?page no="140"?> 140 turning your back on bits of it doesn't mean that you reject it altogether. I'm proud to be an Asian woman and I wanted Shazia to be able to come through her trauma and feel the same. (277) Eine solche Zielsetzung ist möglich, wenn kollektive Identitäten nicht als essentialistische, sondern als dynamische Gebilde verstanden werden. Wie schwierig und leidvoll solche Prozesse sein können, zeigen (un)arranged marriage und Shame, aber sie lassen ihre Leser auch erfahren, dass die Protagonisten den Mut und die Kraft aufbringen, sich vorgegebenen kollektiven Identitäten zu widersetzen und an ihrer Umgestaltung mitzuwirken. <?page no="141"?> Literaturverzeichnis Antor, Heinz (2006). "Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität. Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre." In: Antor 2006, 25-39. Antor, Heinz (Hrsg.) (2006). Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische und interdisziplinäre Praxis. Winter: Heidelberg. Appiah, Kwame Anthony (1994). "Identity, Authenticity, Survival: Multicultural Societies and Social Reproduction." In: Amy Gutmann 1994, 149-163. Assmann, Aleida (1996). "The Curse and Blessing of Babel, or looking back on Universalism." In: Budick / Iser 1996, 85-100. Aristoteles (2001). Poetik. Übers. u. Hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam. Baier, Annette C. 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